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German Pages 379 [380] Year 2018
Robert Vogt Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 63
Robert Vogt
Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur
ISBN 978-3-11-054852-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055761-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055679-7 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Vogt, Robert, author. Title: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlassigkeit am Beispiel Englischsprachiger Erzahlliteratur / Robert Vogt. Description: 1 | Boston : De Gruyter, 2018. | Series: Narratologia ; 63 | Includes bibliographical references and index. Identifiers: LCCN 2018025239 (print) | LCCN 2018030092 (ebook) | ISBN 9783110557619 (electronic Portable Document Format (pdf) | ISBN 9783110548525 (hardback) | ISBN 9783110556797 (e-book epub) | ISBN 9783110557619 (e-book pdf) Subjects: LCSH: English fiction--History and criticism. | Narration (Rhetoric). | Deception in literature. | Reality in literature. | BISAC: LITERARY CRITICISM / European / English, Irish, Scottish, Welsh. | LITERARY CRITICISM / General. Classification: LCC PR826 (ebook) | LCC PR826 .V64 2018 (print) | DDC 823.009--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018025239 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für Ronja
Inhaltsverzeichnis Vorwort XIII Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit 1 Unzuverlässiges Erzählen als Schlüsselkonzept und 1 Schlüsselproblem der Narratologie und Literaturwissenschaft 1 „Was stimmt denn jetzt?“ Zentrale Problemfelder unzuverlässigen 2 Erzählens in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie 2 Semantik des Begriffs „Unzuverlässigkeit“ in der 2.1 Literaturwissenschaft 3 Typologien des unzuverlässigen Erzählens 4 2.2 Unzuverlässiges Erzählen und die Frage des Maßstabes 6 2.3 Anwendungsbereich unzuverlässigen Erzählens 7 2.4 Erklärungsmodelle für unzuverlässiges Erzählen 8 2.5 3 Forschungsüberblick 11 Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit: 4 Zielsetzung, Methodik und Struktur der Arbeit 13 I
Grundriss einer Konzeptualisierung und Typologisierung narrativer Unzuverlässigkeit 20 Entwurf einer Konzeptualisierung narrativer 1 Unzuverlässigkeit 20 Semantiken des Begriffs der Unzuverlässigkeit in der 1.1 Erzähltheorie 21 „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal eines kognitiven Zentrums: 1.2 ironische Unzuverlässigkeit 29 „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal des narrativen Aktes: ambige 1.3 Unzuverlässigkeit 32 „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal des narrativen Aktes: Alterierte 1.4 Unzuverlässigkeit 35 1.5 Zwischenfazit 38 Typologien narrativer Unzuverlässigkeit: Kategorien zur 2 Unterscheidung und Untersuchung ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit 39 Typologien der narrativen Unzuverlässigkeit: eine kritische 2.1 Bestandsaufnahme 40 Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ironisch2.2 unzuverlässiger Werke 43
II
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Inhaltsverzeichnis
2.3
Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ambigunzuverlässiger Werke 47 2.4 Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung alteriertunzuverlässiger Werke 49 3 Fazit 53 Probleme und Herausforderungen von Beschreibungs- und Erklärungsmodellen narrativer Unzuverlässigkeit 55 Maßstab und Erklärungsmodelle narrativer 1 Unzuverlässigkeit 55 2 „Unreliable, compared to what?“ Die Frage nach dem Maßstab zur Bewertung von Unzuverlässigkeit 56 3 Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit 61 3.1 Textzentrierte Erklärungsmodelle: Unzuverlässigkeit als textinternes Phänomen 61 3.2 Leserzentrierte Erklärungsmodelle: Unzuverlässigkeit als Interpretationshypothese 63 3.3 Autor-, text- und leserzentrierte Erklärungsmodelle: rhetorischpragmatische, kognitv-pragmatische und linguistisch-pragmatische Ansätze 66 4 Fazit 71 III
Possible-Worlds Theory als Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit 73 Grundannahmen der literaturwissenschaftlichen possible-worlds 1 theory 73 Zum Potenzial intrauniverser Relationen als Beschreibungsmodell 2 narrativer Unzuverlässigkeit 76 3 Konzeption eines Beschreibungsmodells narrativer Unzuverlässigkeit auf der Grundlage intrauniverser Relationen 81 4 Intrauniverse Relationen als Grundlage für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit 92 5 Fazit 95 IV
V 1
„Wie aus Sätzen fiktionale Welten werden“: Annahmen der kognitiven Rezeptionstheorie 98 Überlegungen zur Vereinbarkeit der possible-worlds theory und der kognitiven Rezeptionstheorie 98
Inhaltsverzeichnis
IX
2
Prämissen der Textverstehensforschung: Ebenen der mentalen Repräsentation beim Textverstehen – Oberflächenstruktur, Textbasis und mentale Modelle 103 Zum Zusammenspiel von Wissen und textuellen Daten bei der 3 Bildung mentaler Modelle 111 3.1 Zur Konstruktion des Situationsmodells und des mentalen Modells einer TAW, einer Figurenwelt und einer Fokalisererwelt 114 3.2 Zur Konstruktion des intratextuellen Kontextmodells und des mentalen Modells einer Erzählerwelt 124 3.3 Zur Konstruktion des extratextuellen Kontextmodells und des mentalen Modells des Autors 126 Informationsverarbeitung und die Zuordnung und Bewertung der 4 Quelle 128 Zur Dynamik der Informationsverarbeitung bei der Rekonstruktion 5 eines fiktionalen Universums 133 Elaboration, Modifikation und Revision mentaler Modelle 133 5.1 Zum Zusammenspiel von Informationsvergabe und Emotionen: 5.2 Spannung und Neugier 137 6 Fazit 142 Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells ironischer Unzuverlässigkeit 147 Zur Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei ironischer 1 Unzuverlässigkeit 147 1.1 Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt 148 Erkennen von expliziten und impliziten Weltkonflikten 149 1.2 Hierarchisieren von Weltkonflikten 150 1.3 Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Welten 152 1.4 1.5 Ausblick 154 Ironische Unzuverlässigkeit in Charles Dickens’ David Copperfield 2 (1849/50) 154 Von der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanz zum 2.1 zuverlässigen Erzähler. Zur narrativen Inszenierung der Entwicklung des Protagonisten in David Copperfield 156 Hinweise auf die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung: 2.2 das Erkennen von impliziten Weltkonflikten in David Copperfield 158 Weltkonflikte in Plot-irrelevanten Episoden: ironisch-unzuverlässige 2.3 Fokalisierung in Davids Kindheit und Jugend 162 VI
X
Inhaltsverzeichnis
2.4
Weltkonflikte in Plot-relevanten Episoden: ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids Adoleszenz und Erwachsenenalter 164 2.5 Der Held des eigenen Lebens? Zur Etablierung der Zuverlässigkeit der Erzählerfigur 171 3 Ironische Unzuverlässigkeit in Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989) 176 3.1 Zur Komplexität der Zeitstruktur in The Remains of the Day 177 3.2 „What makes a great butler?“ Stevens Konzepte von dignity und von moralisch integren Arbeitgebern 178 3.3 Zur Unterminierung von Stevens’ Konzept der dignity durch explizite Weltkonflikte 182 3.4 Zur Unterminierung des positiven Bildes von Lord Darlington als moralisch integren Arbeitgeber durch explizite Weltkonflikte 189 3.5 Zusammenspiel der Weltkonflikte als Indikator für Stevens’ Verdrängungsprozesse 192 4 Fazit 197 Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells ambiger Unzuverlässigkeit 200 1 Zur Unmöglichkeit der Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei ambiger Unzuverlässigkeit 200 1.1 Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt 200 1.2 Erkennen von expliziten und impliziten Weltkonflikten 200 1.3 Hierarchisieren von Weltkonflikten 202 1.4 Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Welten 203 1.5 Ausblick 203 2 Ambige Unzuverlässigkeit in Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) 204 2.1 Dowells Dekonstruktion und Rekonstruktion des vergangenen Geschehens durch explizite Weltkonflikte 206 2.2 Zur Problematik des Hierarchisierens von expliziten Weltkonflikten in The Good Soldier 218 3 Ambige Unzuverlässigkeit in Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) 229 3.1 Zur Problematik der Hierarchisierung expliziter Weltkonflikte 231 3.2 Zur Problematik der Rekonstruktion von Figurenwelten und dem Erkennen von impliziten Weltkonflikten 235 VII
Inhaltsverzeichnis
XI
Zur Problematik der Bestimmung der storyworld logic und dem Erkennen von impliziten Weltkonflikten 243 4 Fazit 249 3.3
Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells alterierter Unzuverlässigkeit 252 Zur fehlerhaften Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei 1 alterierter Unzuverlässigkeit 252 Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt 252 1.1 1.2 Erkennen von expliziten und impliziten Weltkonflikten 254 1.3 Hierarchisieren von Weltkonflikten 254 1.4 Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den Welten 255 1.5 Ausblick 256 2 Alterierte Unzuverlässigkeit in Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890) 257 Explizite und implizite Weltkonflikte als Hinweise auf die 2.1 Traumhaftigkeit der Flucht? 259 Auswirkungen von Spannung und Empathie auf die Rekonstruktion 2.2 des Geschehens im fiktionalen Universum 262 Zum Nicht-Erkennen von impliziten Weltkonflikten und falschen 2.3 Erklärungsannahmen bzgl. der expliziten Weltkonflikte 267 Zur Revision des mentalen Modells der TAW und des 2.4 Protagonisten 271 3 Alterierte Unzuverlässigkeit in Chuck Palahniuks Fight Club (1996) 272 Zum Zusammenwirken von Spannung und Neugier bei der 3.1 Rekonstruktion des fiktionalen Universums 274 Zur Komplexität der Rekonstruktion des fiktionalen 3.2 Universums 276 Zum fehlerhaften mind-reading und Nicht-Erkennen von impliziten 3.3 Weltkonflikten 280 Zur Revision des fiktionalen Universums und der Erklärungen für die 3.4 Diskrepanzen zwischen den Welten 284 Zum Erkennen der impliziten Weltkonflikte im letzten Kapitel und 3.5 der Unterminierung des happy ending 288 4 Fazit 289 VIII
XII
Inhaltsverzeichnis
IX
Metakognitive Funktionspotenziale narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel von Ian McEwans Atonement (2001) 292 1 Metakognitives Funktionspotenzial ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit 292 2 Zum metakognitiven Funktionspotenzial narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel von Ian McEwans Atonement (2001) 297 2.1 Zum metakognitiven Funktionspotenzial ironischer Unzuverlässigkeit 298 2.2 Zum metakognitiven Funktionspotenzial alterierter Unzuverlässigkeit 306 2.3 Zum Zusammenspiel ironischer und alterierter Unzuverlässigkeit 322 3 Fazit 325 X
Zusammenfassung und Ausblick 327
Literaturverzeichnis 339 Register 361
Vorwort Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, welche im Januar 2015 an der Universität Helsinki und im Juni 2015 an der JustusLiebig-Universität Gießen im Fachbereich 05: Sprache, Literatur, Kultur im Rahmen eines Cotutelle-Abkommens eingereicht wurde. Die Disputation fand am 15. Dezember 2015 statt. Die Studie ist im Rahmen des vom DAAD geförderten PhDnet „Literary and Cultural Studies“ erwachsen. All denjenigen, die ein Zustandekommen dieser Schrift ermöglicht haben und die den Entstehungsprozess unterstützt haben, möchte ich herzlich danken. Der größte Dank gebührt zweifelsohne meinem Doktorvater, Prof. Dr. Ansgar Nünning, ohne den diese Arbeit nie entstanden wäre. Bereits in meinem Studium an der Universität Göttingen haben mich seine Arbeiten zum unzuverlässigen Erzählen beeindruckt und inspiriert. In vorbildlicher Weise hat er mich stets motiviert und mich durch eine Mitarbeiterstelle sowie Publikations- und Vortragsmöglichkeiten vielfach unterstützt. Der Zweitgutachterin der Arbeit, Prof. Dr. Pirjo Lyytikäinen, bin ich ebenfalls für ihr großes Engagement und ihre fortwährende Unterstützung verpflichtet. Ebenso danke ich Prof. Dr. Roy Sommer und Prof. Dr. Ralf Schneider, die als externe Gutachter hilfreiche Kritik angebracht haben, die in die vorliegende Fassung eingegangen ist. Darüber hinaus gebührt Prof. Dr. Vera Nünning für ihren unschätzbaren fachlichen Rat genauso wie den Herausgebern der „Narratologia“ für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe mein Dank. Bedanken möchte ich mich weiter bei meinen Mitstreiter(inne)n des PhDnet Elisa Antz, Teresa Ferreira, Diana Gonçalves, Linda Karlsson, Sabrina Kusche, Kerstin Lundström, Vincenzo Martella, Eleonora Ravizza und Anna Reitberg sowie Prof. Dr. Isabel Capeloa Gil, Prof. Dr. Angela Locatelli sowie Prof. Dr. Elisabeth Wåghäll Nivre sowie die Koordinatoren Dr. Kai Sicks und Dr. Nora Berning. Besonders hervorheben möchte ich Lieven Ameel und Hanna Mäkelä, die fantastische Gastgeber während meiner Forschungsaufenthalte in Finnland waren. Spezieller Dank gebührt Rose Lawson und meinen Kollegen am Lehrstuhl für Literary and Cultural Studies an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Simon Cook, Jutta Weingarten, Mirjam Horn, Christina Mohr und Alexander Scherr, sowie meinen Kollegen beim IPP, Farzad Boobani und Claudia Weber. Danken möchte ich auch meinen Mitstreitern aus dem GCSC, Katharina Zilles und Alexander Matschi sowie Patrick Lange. Besonders hervorheben möchte ich Dr. habil. Michael Basseler, von dem ich fachlich wie menschlich viel gelernt habe. Für viele inspirierende Gespräche, moralische Unterstützung und seinen kritischen Blick beim Korrekturlesen möchte ich Rein Zondergeld danken. Am https://doi.org/10.1515/9783110557619-001
XIV
Vorwort
meisten verdanke ich meinen Eltern, Vera und Dr. Hans-Günter Vogt, auf die ich mich immer verlassen konnte, und natürlich Ronja, die mir immer wieder aufs Neue vor Augen führt, was wirklich wichtig ist. Ihr ist die Arbeit gewidmet. Göttingen, im Januar 2017
Robert Vogt
I Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit 1 Unzuverlässiges Erzählen als Schlüsselkonzept und Schlüsselproblem der Narratologie und Literaturwissenschaft Wenn wir eine fiktionale Erzählung lesen, ist uns bewusst, dass die Geschichte erdacht ist und nicht mit den tatsächlichen Fakten unserer Realität übereinstimmen muss. Obwohl es in fiktionalen Geschichten Fabelwesen oder Zauberei geben kann, tauchen wir in die fiktionale Welt ein und nehmen Anteil am Schicksal der Figuren. Interessant wird es aus narratologischer Sicht, wenn die Informationen, die über die fiktionale Welt gegeben werden, dort nicht den Tatsachen entsprechen. Wenn beispielsweise die Erzählerin aus Charlotte Gilman Perkins’ „The Yellow Wallpaper“ (1892) davon überzeugt ist, dass sich in der gelben Tapete eines Zimmers eine Frau bewegt, zweifelt der Leser instinktiv ihre Beobachtung an (vgl. Fludernik 1999). Auch stimmen wohl die wenigsten Leser der Einschätzung des namensgebenden Erzählers aus Mark Twains The Adventures of H uckleberry Finn (1884) zu, eine schlechte Tat zu begehen, wenn er den Sklaven Jim bei dessen Flucht unterstützt (vgl. Riggan 1981). In solchen, durchaus unterschiedlichen Fällen ist in der Literaturwissenschaft gemeinhin von unzuverlässigem Erzählen bzw. unreliable narration die Rede. Als eines der wenigen narratologischen Konzepte ist das unzuverlässige Erzählen auch jenseits des akademischen Elfenbeinturms bekannt und erfreut sich großer Beliebtheit. Wenn der Journalist Henry Sutton (2010) vom The Guardian ein Ranking der „top 10 unreliable narrators“ aufstellt, die Huffington Post eine Liste „our favorite unreliable narrators“ (o.V. 2013)1 veröffentlicht und Leser in Blogs oder Foren ihre Favoriten unzuverlässig erzählter literarischer2 und filmischer Werke3 austauschen, unterstreicht dies die Popularität des unzuverlässigen Erzählens fernab aller akademischer Diskurse. Es lässt sich folglich als ein „Kulturthema ersten Ranges“ (Nünning 2013: 135) bezeichnen.
1 http://www.huffingtonpost.com/2013/02/20/unreliable-narrators-literature_n_2726969.html# slide=2128850 (01. 12. 2014). 2 https://www.goodreads.com/shelf/show/unreliable-narrator (01. 12. 2014). 3 http://www.andsoitbeginsfilms.com/2014/06/top-15-unreliable-narrators-in-cinema.html (01. 12. 2014). https://doi.org/10.1515/9783110557619-002
2
I Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit
Während unzuverlässiges Erzählen offensichtlich eine große Faszination auf Leser und Zuschauer ausübt, stellt die Erfassung und Erklärung dieser narrativen Strategie Literaturwissenschaftler vor Probleme. So erkennt Ansgar Nünning (1998: 3) ein „Mißverhältnis […] zwischen der weitgehend intuitiven Fähigkeit der meisten Leser, unglaubwürdige Erzähler zu erkennen, und dem Mangel an theoretischer und analytischer Durchdringung des Phänomens“. Schwierigkeiten rühren besonders daher, da es sich beim unzuverlässigen Erzählen um ein vielschichtiges Phänomen handelt: „Unzuverlässigkeit ist gerade deshalb ein so faszinierendes Thema, weil es sich dabei nicht um ein rein narratologisches Problem handelt, sondern um einen Komplex, der eng mit allgemeinen Fragen der Bedeutungskonstitution in Texten, der Interpretation und der Sinndoppelung verwoben ist.“ (Fludernik 2005: 57) Aus diesem Grund handelt es sich beim unzuverlässigen Erzählen nach Vera Nünning (2013: 156) nicht nur um eines „der Schlüsselkonzepte der Narratologie, sondern gleichfalls um [eines der] Schlüsselprobleme der Literaturwissenschaft.“
2 „Was stimmt denn jetzt?“ Zentrale Problemfelder unzuverlässigen Erzählens in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie Manfred Jahn (1998: 81) konstatiert, dass „[i]n kaum einer erzähltheoretischen Frage die Meinungen der literaturwissenschaftlichen Gemeinschaft so sehr auseinander[gehen] wie in der der Unverlässigkeit“, und spricht daher von „einem verschwommenen Phänomen“, während Felicitas Menhard (2009: 34) unreliable narration gar als „als literaturwissenschaftliches Enigma“ deklariert. Die Probleme der theoretischen Auseinandersetzung mit unzuverlässigem Erzählen lassen sich exemplarisch an dem von Liptay und Wolf herausgegebenen Sammelband Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film (2005) aufzeigen. Der Sammelband beleuchtet das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens aus transmedialer Perspektive. Die einzelnen Beiträge sind, für sich genommen, ergiebig und aufschlussreich. Allerdings gehen die Autoren in ihren Aufsätzen mitunter von unterschiedlichen Konzepten des unzuverlässigen Erzählens aus, was zur Folge hat, dass sich die Artikel teilweise in ihren theoretischen Annahmen widersprechen. Dies lässt am Ende offen, was unzuverlässiges Erzählen eigentlich ist (vgl. Menhard 2009: 34). Die titelgebende Frage des Bandes „Was stimmt denn jetzt?“ kann also nicht nur auf die Rezeptionserfahrung bei unzuverlässigem Erzählen bezogen, sondern auch als (metatheoretischer) Kommentar auf die Pluralität der differierenden Konzepte verstanden werden, die in der Erzähltheorie kursieren.
2 „Was stimmt denn jetzt?“ Zentrale Problemfelder unzuverlässigen Erzählens
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Im folgenden Überblick sollen die zentralen Problem- bzw. Diskussionsfelder der Unzuverlässigkeitsforschung skizziert werden. Als Ausgangspunkt für die Identifizierung der zahlreichen Diskussionsfelder dient Wayne C. Booths Definition, mit der er den Begriff des unreliable narrator prägt: “For the lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts with the norms of the work (which is to say the implied author’s norms), unreliable when he does not.” (1983 [1961]): 158–159; Hervorhebung im Original) Aus dieser Definition sollen im Folgenden die zentralen Problemfelder der Unzuverlässigkeitsforschung abgeleitet werden: – Semantik des Begriffes der Unzuverlässigkeit: Was bedeutet Unzuverlässigkeit in der Erzähltheorie? – Differenzierungskriterien: Welche Kriterien erscheinen sinnvoll, um verschiedene Typen von unreliable narration zu unterscheiden? – Maßstab für eine Unzuverlässigkeitszuschreibung: Richtet sich die Zuschreibung nach den Werten und Normen des Werkes/des Lesers oder nach den Geschehnissen in der erzählten Welt? – Explikation des Konzepts: Wie kann unzuverlässiges Erzählen erklärt werden? – Reichweite des Konzepts: Greift das Konzept lediglich bei homodiegetischen oder auch bei heterodiegetischen Erzählern? Ist es darüber hinaus auf Fokalisierungsinstanzen4 anwendbar?
2.1 Semantik des Begriffs „Unzuverlässigkeit“ in der Literaturwissenschaft Eine entscheidende Ursache für die Offenheit des Konzepts (oder besser: die Vagheit der verschiedenen Konzepte) liegt in der Tatsache begründet, dass die Semantik des Begriffs der Unzuverlässigkeit in Definitionen häufig nicht hinreichend erläutert wird. So sind seit Booths Begriffsprägung die meisten erzähltheoretischen Definitionen der narrativen Unzuverlässigkeit als „unzuverlässig, wenn …“5-Konstruktionen aufgebaut, die zwar das Anwendungsfeld und den
4 Da die Terminologie hinsichtlich des Konzepts von Fokalisierung in der Narratologie nicht einheitlich gebraucht wird, sei kurz auf die spezifische Verwendung in dieser Arbeit eingegangen. Im Falle einer internen Fokalisierung wird mit Bezug auf die wahrnehmende Figur im Folgenden synonym von fokalisierender Figur bzw. Fokalisierungsinstanz gesprochen. 5 Examplarisch sei auf die Definitionen von Heyd (2006: 225) (“A narrator is unreliable if he violates the CP [= Cooperation Principle] without intending an implicature”), Phelan (2004: 49) (“[A] homodiegetic narrator is ‘unreliable’ when he or she offers an account of some event, person, thought, thing, or other object in the narrative world that deviates from the account the implied author would offer”) oder Martinez/Scheffel (2007 [1999]: 100) („Es gibt auch Erzähler,
4
I Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit
Maßstab für die Unzuverlässigkeitszuschreibung festlegen, aber offenlassen, was Unzuverlässigkeit eigentlich bedeutet. Für eine Präzisierung des Konzepts ist es jedoch unerlässlich, die verschiedenen Semantiken des Wortes im literaturwissenschaftlichen Kontext genauer zu bestimmen.
2.2 Typologien des unzuverlässigen Erzählens Eng mit diesem Problemfeld verbunden ist die Frage, in welchen Erscheinungsformen unzuverlässiges Erzählen auftreten kann. Auch hinsichtlich der Frage, nach welchen Kriterien sich unzuverlässig erzählte Texte kategorisieren lassen, gehen die Meinungen auseinander. Dabei können verschiedene Arten von Typologisierungen unterschieden werden: rhetorische, phänomenologische und narratologische. Erste Anzeichen einer Typologie unzuverlässiger Erzähler finden sich bereits bei Booth (1983 [1961]). Dieser gebraucht (scheinbar unsystematisch) verschiedene Termini, um unzuverlässige Erzählerfiguren zu unterscheiden: Er spricht von „unreliable“ (158), „untrustworthy“ (159), „inconscience“ (159) und „fallible“ (160).6 Diese Terminologie greift z. T. die rhetorische Typologie auf, um Erzählertypen auf Basis der Intentionalität der fragwürdigen Darstellung zu differenzieren. Während fehlbare Erzähler („fallible narrators“) unabsichtlich verzerrt oder falsch erzählen, beruhen die Täuschungen und Manipulationen eines unglaubwürdigen Erzählers („untrustworthy narrator“) auf Intentionalität (vgl. Olson 2003: 100–104). Phänomenologische Typologien dagegen unterteilen unzuverlässige Erzähler in sozial-kognitive Typen – wie Pikaros, Verrückte, Clowns und Naive (vgl. Riggan 1981).7 Eine dritte Art der Typologisierung unterscheidet nach narratologischen Gesichtspunkten und nach der Art und Weise des unzuverlässigen Erzählens. Im Falle strukturalistisch-geprägter Typologisierungen wird die Unzuverlässigkeit einer Erzählung danach unterschieden, ob diese die faktische Darstellung oder die moralisch-interpretative Bewertung des Geschehens betrifft, wobei es eine Vielzahl unterschiedlicher Terminologien gibt. Ein Großteil der Forscher trennt zwei Arten der Unzuverlässigkeit: Unzuverlässigkeit in Bezug auf Fakten (je nach Forscher als „faktuale Unzuverlässigkeit“
deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist. In solchen Fällen liegt ein unzuverlässiger Erzähler vor“) verwiesen (jeweils eigene Hervorhebungen). 6 Siehe dazu genauer Olson (2003). 7 Andere und detailliertere Typologien nach sozio-kognitiven Typen finden sich bei Fludernik (2005) und Jahn (1998).
2 „Was stimmt denn jetzt?“ Zentrale Problemfelder unzuverlässigen Erzählens
5
[Neumann/Nünning 2008], „mimetische Unzuverlässigkeit“ [Kindt 2008a/b] oder „unzuverlässiges Erzählen“ [Cohn 2000] bezeichnet) sowie Unzuverlässigkeit in Bezug auf das proklamierte Wertesystem (in einem solchen Fall wird von „normativer Unzuverlässigkeit“ [Neumann/Nünning 2008], „axiologischer Unzuverlässigkeit“ [Kindt 2008a/b] oder „diskordantem Erzählen“ [Cohn 2000] gesprochen). Martinez/Scheffel (2007 [1999]) differenzieren gar drei Formen: Während theoretisch-unzuverlässiges Erzählen die fragwürdigen (moralischen) Bewertungen des Geschehens durch eine Erzählerfigur bezeichnet,8 umfasst mimetisch-unzuverlässiges Erzählen Fälle, in denen der Erzähler die Fakten „falsch oder zumindest irreführend“ (Martinez/Scheffel 2007 [1999]: 102) wiedergibt.9 Ein dritter Typus stellt das mimetisch-unentscheidbare Erzählen dar, bei dem der Rezipient nicht entscheiden kann, was in der erzählten Welt der Fall ist (vgl. Martinez/ Scheffel 2007 [1999]: 103). Phelan/Martin (1999) gehen über solche Taxonomien hinaus und differenzieren drei Achsen, auf denen ein Erzähler jeweils auf zwei verschiedene Weisen unzuverlässig sein kann: die Achse der Fakten/Ereignisse, die Achse der Werte/Bewertungen sowie die Achse von Wissen/Perzeption. Auf dieser Grundlage unterscheiden sie sechs Arten von Unzuverlässigkeit: die unzureichende oder falsche Darstellung von Fakten oder Ereignissen (underreporting bzw. misreporting), die unzulängliche oder falsche ethische Bewertung (underregarding bzw. misregarding) sowie die unzureichende oder falsche Interpretation (underreading bzw. misreading). Von diesen strukturalistisch-narratologischen Taxonomien ist die von Hansen (2007) entwickelte, stärker kognitiv ausgerichtete Typologie abzugrenzen. Hansen kategorisiert Arten der Unzuverlässigkeit danach, auf welcher Ebene Signale für Unzuverlässigkeit zu finden sind. Dabei differenziert er vier Typen: Bei intranarrationaler Unzuverlässigkeit wird die Unzuverlässigkeit durch textuelle Signale im Erzählerdiskurs angezeigt (Hansen 2007: 298), während internarrationale Unzuverlässigkeit vorliegt, wenn die Darstellung eines Erzählers durch die einer anderen Erzählerfigur infrage gestellt wird (Hansen 2007: 299). Intertextuelle Unzuverlässigkeit verweist auf das Auftreten literarischer Stereotypen oder paratextueller Hinweise, die dem Rezipienten als Signale für die Unzuverlässigkeit des Erzählers dienen (Hansen 2007: 300). Während die genannten drei Typen auf textuelle Marker hindeuten, ist extratextuelle Unzuverlässigkeit von den Wissensstrukturen des Rezipienten abhängig, die er an den Text heranträgt, um die Unzuverlässigkeit einer Erzählinstanz zu
8 Theoretische Sätze stellen nach Martinez/Scheffel (2007 [1999]: 99) „kommentierende Stellungsnahme[n] des Erzählers über die Welt“ dar, z. B. „allgemeine moralische Sentenz[en]“. 9 Mimetische Sätze dagegen enthalten „elementare Informationen über die konkrete Beschaffenheit und das Geschehen in der erzählten Welt“ (Martinez/Scheffel 2007 [1999]: 99).
6
I Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit
erkennen. Eine weitere Typologie narrativer Unzuverlässigkeit, die den Leser stärker mit einbezieht, stammt ebenfalls von Phelan (2008). Er unterscheidet die Funktionspotenziale von unreliable narration. Bei bonding unreliability werden die affektive, intellektuelle und ethische Distanz sowie die Distanz zwischen dem Erzähler und dem impliziten Leser verringert, während estranging unreliability diese vergrößert (Phelan 2008: 11). Ebenfalls auf den Leser fokussieren solche Typologien, die Formen von unreliable narration danach unterscheiden, ob der Rezipient während der Lektüre erkennt, dass der Erzähler das Geschehen in der erzählten Welt falsch darstellt, oder ob er erst durch einen plot twist darauf aufmerksam gemacht wird (vgl. Köppe/Kindt 2011; Stühring 2011; Vogt 2009).
2.3 Unzuverlässiges Erzählen und die Frage des Maßstabes Ein weiteres Problem stellt der Maßstab für die Unzuverlässigkeitszuschreibung dar.10 Auch diese Kontroverse findet ihren Anfang bei Booth (1983 [1961]). Während laut eigener Definition des unreliable narrator das ethisch-moralische Wertesystem des Textes bzw. des impliziten Autors den Maßstab für die (Un-) Zuverlässigkeit der Erzählerfigur bildet, lassen einzelne Analysen in The Rhetoric of Fiction jedoch Zweifel aufkommen, ob er nicht auch die erzählte Welt als Gradmesser begreift (vgl. auch Kindt 2008a: 46–47). Nachfolgende Definitionen verzichten häufig auf die ethisch-moralische Dimension und nehmen ausschließlich die Geschehnisse in der erzählten Welt zum Maßstab, um die Zuverlässigkeit des Erzählers zu beurteilen (Àlvarez Amorós 1991; Bortolussi/Dixon 2003; Chatman 1990, 1993 [1978]; Gutenberg 2000; Herman 2009; Martinez/Scheffel 2007 [1999]; Menhard 2009; Ryan 1991). Andere Wissenschaftler dagegen greifen auf beide Maßstäbe zurück und trennen die verschiedenen Arten terminologisch. Dorrit Cohn (2000: 307) etwa spricht von „unzuverlässigem“ (betrifft die erzählte Welt) und „diskordantem“ (betrifft die Werte und Normen) Erzählen, Ansgar Nünning (1998: 13) unterscheidet zwischen „faktualer“ und „normativer“ Unzuverlässigkeit, Tom Kindt (2008a: 48–52) zwischen „mimetischer“ und „axiologischer“ Unzuverlässigkeit.11
10 Ansgar Nünning (1998: 20) weist sehr treffend auf diese zentrale Problematik hin: „Die entscheidende Frage, um die sämtliche Debatten über unreliable narration (wenn auch leider meist nur stillschweigend) kreisen, lässt sich so formulieren: ‚Unreliable, compared to what?‘ Mit anderen Worten: Welche Maßstäbe werden eigentlich herangezogen, um die Frage der Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit zu beantworten?“ 11 James Phelan und Monika Fludernik unterscheiden drei Arten von Unzuverlässigkeit, wobei sich diese ebenfalls auf die beiden Maßstäbe beziehen. Phelan (2004: 50) unterscheidet „unre-
2 „Was stimmt denn jetzt?“ Zentrale Problemfelder unzuverlässigen Erzählens
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2.4 Anwendungsbereich unzuverlässigen Erzählens Neben dem Problemfeld des Maßstabes herrscht ein Dissens über die Reichweite des unzuverlässigen Erzählens. Dabei wird diskutiert, ob nur homodiegetische oder auch heterodiegetische Erzähler unzuverlässig sein können. Während Booth (1983 [1961]) sich in seinen Überlegungen auf homodiegetische Erzähler beschränkt (er selbst spricht von einem „dramatized narrator“), gibt es zunehmend Stimmen, die diesen restriktiven Gebrauch infrage stellen. So plädieren Yacobi (1981, 2000), Cohn (2000) und Martens (2008) für die Ausweitung des Konzepts auf heterodiegetische Erzählinstanzen in solchen Fällen, in denen die Werte und Normen des Textes als Unzuverlässigkeitsmaßstab dienen. Ist dagegen die erzählte Welt der Maßstab für die Unzuverlässigkeit des Erzählers, wird eine Ausweitung abgelehnt (vgl. Jahn 1998; Ryan 1981). Jahn und Ryan argumentieren, dass die Schilderungen eines heterodiegetischen Erzählers performative Kraft besitzen, da diese die erzählte Welt konstituieren („world creating utterances“). Aus diesem Grund, so Jahn und Ryan, könne ein heterodiegetischer Erzähler nicht falsch erzählen, da es bei einem expliziten Widerspruch zwischen world creating utterances für den Rezipienten unmöglich sei, eine konsistente erzählte Welt zu konstruieren, die jedoch die Basis für ein Unzuverlässigkeitsurteil darstellt. Allerdings wird dieser Standpunkt vereinzelt infrage gestellt, weil eine solche Argumentation nicht hinreichend beachtet, dass für die narrative Darstellung der erzählten Welt nicht ausschließlich die Informationen relevant sind, die gegeben werden, sondern auch die, die dem Leser vorenthalten werden (vgl. Köppe/Kindt 2011; Vogt 2009). Darüber hinaus ist die Frage, ob Unzuverlässigkeit nur auf Erzähl- oder auch auf Fokalisierungsinstanzen anzuwenden ist, Gegenstand von Kontroversen. Kann das Konzept der unreliability auf fokalisierende Figuren wie etwa Stephen Dedalus in James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) oder den heranwachsenden Pip in Charles Dickens Great Expectations (1861) übertragen werden (vgl. Fludernik 1999)? Ausgangspunkt dieser Diskussion ist Booths prob-
liable reporting“ (betrifft die Achse der Fakten/Ereignisse, „the axis of facts/events“) von „unreliable reading“ (die Achse des Wissensstandes bzw. der Wahrnehmung, „the axis of knowledge/ perception“) und schließlich „unreliable evaluating“ (die ethisch-moralische Achse, „the axis of ethics and evaluation“). In ähnlicher Weise differenziert Fludernik (2005b: 43) zwischen einer „falsche[n] Darstellung von Fakten“, einem „Mangel an Objektivität“ und „ideologischer Verfremdung“. Während die ersten beiden Kategorien von Phelan und Fludernik das Geschehen in der erzählten Welt als Maßstab nehmen (denn das Wissen bezieht sich auf das spezifische Geschehen in der erzählten Welt), betrifft ihre dritte Kategorie das Wertesystem des jeweiligen Werkes.
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I Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit
lematische Annahme, Fokalisierungsinstanzen mit Erzählerfiguren gleichstellen zu können: We should remind ourselves that any sustained inside view, of whatever depth, temporarily turns the character whose mind is shown into a narrator; inside views are thus subject to variations in all the qualities we have described above, and most importantly in the degree of unreliability. (Booth 1983 [1961]: 164)
Auch wenn in der Erzählforschung weitestgehend Einigkeit darüber herrscht, dass Fokalisierungs- und Erzählerinstanzen aufgrund der story/discourseDistinktion nicht gleichzusetzen sind (vgl. etwa Chatman 1990; Genette 1994 [1972]),12 stimmen einige Wissenschaftler einer Übertragung des Konzepts auf Fokalisierungsinstanzen dennoch zu, da die verzerrte Weltsicht einer Fokalisierungsinstanz zur Charakterisierung des jeweiligen kognitiven Zentrums beiträgt und die narrative Strategie ebenfalls mit dem Rückgriff auf (dramatische) Ironie erklärt werden kann (vgl. Diengott 1995; Fludernik 2005; Nünning/Nünning 2007; Shen 1989). Chatman (1990) und Stanzel (2002 [1979]) lehnen eine Ausweitung der Terminologie dagegen ab und verweisen auf die unterschiedlichen Ebenen der literarischen Kommunikation, auf denen sich Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen bewegen. Daher schlagen sie eine terminologische Trennung der Phänomene vor. Während Chatman (1990: 149–154) den Terminus „fallible filter“ für unzuverlässige Fokalisierungsinstanzen bevorzugt, spricht Stanzel (2002 [1979]: 203) von „trüben Reflektoren“. Aufgrund dieser Kontroverse stellt eine systematische Untersuchung „zur Relevanz der Kategorie der Unzuverlässigkeit bzw. der Unglaubwürdigkeit für die Fokalisierung“ ein Desiderat in der Erzähltheorie dar (Nünning 2013: 157).
2.5 Erklärungsmodelle für unzuverlässiges Erzählen Die größte Kontroverse in Bezug auf unzuverlässiges Erzählen herrscht jedoch hinsichtlich der Frage, wie das Phänomen zu erklären ist. Booth (1983 [1961]: 304) versteht unreliable narration als besondere Form des ironischen Erzählens, als eine „geheime“ Kommunikation zwischen implizitem Autor und Leser. Diese Theorie überträgt Seymour Chatman (1990: 151) auf das narrative Kommunikationsmodell und definiert unreliability als textimmanentes Phänomen. Dabei wird
12 Kritisch zu einer kategorischen Trennung zwischen Erzähler und Fokalisierungsinstanz dagegen Phelan (2004: 110–119).
2 „Was stimmt denn jetzt?“ Zentrale Problemfelder unzuverlässigen Erzählens
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die Unzuverlässigkeit des Erzählers vom impliziten Autor „hinter dem Rücken des Erzählers“ kommuniziert. Dem Leser wird auf diese Weise eine alternative Sicht auf das tatsächliche Geschehen präsentiert. Diese Theorie des unreliable narration wird von Vertretern des kognitiven Ansatzes abgelehnt, da sie sowohl theoretische als auch methodologische Probleme in sich trägt (vgl. Nünning 1998: 14–16). Aus theoretischer Sicht wird kritisiert, dass dieses Erklärungsmodell mit dem impliziten Autor ein problematisches Konzept beinhaltet, das von vielen Narratologen abgelehnt wird (vgl. Jahn 1998; Nünning 1997a, 1997b, 1998). 13 Aus methodologischer Sicht ist eine solche Theorie unbefriedigend, „weil [sie] entweder keine Antworten auf die Frage liefer[t], wie der Eindruck mangelnder Glaubwürdigkeit im Leseprozess entsteht, oder weil sie sehr vage und metaphorische Erklärungen [gibt]“ (Nünning 1998: 15). Stattdessen schlägt Nünning vor, die (Un-)Zuverlässigkeit eines Erzählers nicht mehr als textimmanentes Merkmal zu begreifen, sondern als Zuschreibung des Rezipienten und damit als Ergebnis einer Interpretationsstrategie. Danach löst der Rezipient textuelle Inkonsistenzen auf, indem er diese auf eine unzuverlässige Erzählerfigur projiziert: Ob ein Erzähler als unglaubwürdig eingestuft wird oder nicht, hängt somit nicht von der Distanz zwischen den Werten und Normen des Erzählers und denen des implied author ab, sondern davon, inwiefern die Weltsicht des Erzählers mit dem Wirklichkeitsmodell des Rezipienten zu vereinbaren ist. (Nünning 1998: 25)
Der kognitive Ansatz benennt eine Reihe verschiedener textueller Signale, die potenziell auf die Unzuverlässigkeit von Erzählerfiguren verweisen, 14 sowie außertextuelle bzw. kontextuelle Bezugsrahmen, die ein Leser bei der Beurteilung eines Erzählers heranzieht (vgl. Nünning 1998: 27–32).15 Die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur lässt sich aus kognitiver Perspektive mit Rückgriff auf dramatische
13 Vgl. zu den Kontroversen bzgl. des Konzepts Kindt/Müller (2006a, 2006b). 14 Textuelle Signale können „explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeit innerhalb des narrativen Diskurses; Diskrepanzen zwischen den Aussagen und Handlungen eines Erzählers; Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und Fremdcharakterisierungen durch andere Figuren; Unstimmigkeiten zwischen den expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung bzw. unfreiwilligen Selbstentlarvung“ (Nünning 1998: 27–28) sein. 15 Darunter fallen real-world frames wie „allgemeines Weltwissen; das jeweilige historische Wirklichkeitsmodell […]; explizite oder implizite Persönlichkeitstheorien sowie gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen von psychologischer Normalität oder Kohärenz; moralische und ethische Maßstäbe […]; das individuelle Werte- und Normensystem […]“ und literary frames wie „allgemeine literarische Konventionen; Konventionen einzelner Gattungen oder Genres; intertextuelle Bezugsrahmen, d. h. Referenzen auf spezifische Prätexte; stereotype Modelle literarischer
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Ironie erklären, die „aus einer Diskrepanz zwischen den Wertvorstellungen und Absichten des Erzählers und den Normen und dem Wissensstand des realen (nicht eines impliziten) Lesers“ (Nünning 1998: 17) resultiert. Trotz der überaus positiven Resonanz über die Grenzen der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie16 hinaus, wurde auch der kognitive Ansatz kritisiert (Olson 2003; Phelan 2004). So setzt sich ein solcher Ansatz dem Vorwurf aus, zu stark den Leser und den Text zu fokussieren und den Autor weitgehend auszuschließen (vgl. Phelan 2004). Als direkte Antwort auf das kognitiv ausgerichtete Erklärungsmodell modifiziert der Booth-Schüler James Phelan den rhetorischethischen Ansatz, indem er den impliziten Autor als textexterne (und nicht mehr als textinterne) Kommunikationsinstanz konzeptualisiert (2004: 45). In Phelans Augen streut der implizite Autor intentional Hinweise auf die Unzuverlässigkeit. Der Leser wiederum erkennt nach diesem Modell die Unzuverlässigkeit des Erzählers, indem er die Intention des impliziten Autors nachzuvollziehen versucht.17 In neueren Publikationen modifiziert Nünning (2005a, 2008) das kognitive Modell und synthetisiert es mit Phelans rhetorischem Ansatz. Danach wird die Rolle des Lesers relativiert und die des (impliziten) Autors entsprechend aufgewertet. So erkennt Nünning an, dass der Leser die hypothetische Intention eines impliziten Autors in seiner Interpretation berücksichtigen muss. Dabei handelt es sich beim impliziten Autor im kognitiven Sinne allerdings stärker „um ein textuell vermitteltes Konstrukt, das von Lesern im Lektüreprozess entworfen wird, so dass von einem Zusammenspiel von Textphänomen, Rezeptionsprozessen und unterstellten bzw. per Inferenz erschlossenen Intentionen auszugehen ist“ (Nünning 2013: 147). Ein weiteres vielversprechendes Erklärungsmodell wird von Heyd (2006, 2011) und Kindt (2008a, 2008b) aus pragmatischer Perspektive entworfen. Danach liegt unzuverlässiges Erzählen immer dann vor, wenn der Erzähler gegen die Grice’sche Konversationsmaxime, genauer das Kooperations-Prinzip, verstößt. Nach diesem Modell offenbart sich die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur, wenn diese sich widerspricht (Verstoß gegen die Maxime der Qualität), redundant oder ungeordnet berichtet (Verstoß gegen die Maxime der Quantität bzw. der Modalität) oder triviale Informationen liefert (Verstoß gegen die Maxime der Relation).
Figuren; das vom Leser konstruierte Werte- und Normensystem des jeweiligen Textes.“ (Nünning 1998: 30–31) 16 So ist der kognitive Ansatz zum unzuverlässigen Erzählen etwa von Ferenz (2005, 2006) oder Laass (2006, 2008) höchst produktiv für die Analyse von Filmen fruchtbar gemacht worden. 17 Dies gelingt ihm nach Phelan (2004: 19), indem er die hypothetische Leserschaft, die authorial audience, rekonstruiert.
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3 Forschungsüberblick Aufgrund der aufgeführten Problemfelder ist es nicht verwunderlich, dass unzuverlässiges Erzählen zu einem der meist diskutierten Konzepte der Erzähltheorie avanciert ist. Zahlreiche Monographien, Sammelbände und Artikel zeugen von der Bedeutung des Konzepts in den Literaturwissenschaften als auch in anderen Disziplinen.18 D’hoker und Martens (2008: 2) halten daher fest: “[U]nreliability has acquired an almost uncanny centrality and importance.” Das Interesse am Konzept des unzuverlässigen Erzählens ist jedoch noch ein relativ neues Phänomen in der Narratologie. In den 1970er und 1980er Jahren – also in den Jahrzehnten nach Booths The Rhetoric of Fiction – spielte unzuverlässiges Erzählen zunächst eine eher untergeordnete Rolle im narratologischen Diskurs, was auch daran abzulesen ist, dass das wohl bedeutendste Werk der strukturalistischen Narratologie – Gérard Genettes Die Erzählung (1994 [1972]) – sich nicht mit dem Konzept auseinandersetzt. Mit Ausnahme von William Riggans Picaros, Madmen, Naīfs, and Clowns. The Unreliable First-Person Narrator (1981) und Seymour Chatmans Monographien Story and Discourse (1978) und Coming to Terms (1990) finden sich wenige Studien, die sich intensiver mit dem Konzept befassen. Trotzdem nahm es in dieser Zeit einen festen Platz in der Erzähltheorie ein, wie an den (kurzen) Einträgen in Einführungswerken wie Rimmon-Kenans Klassiker Narrative Fiction: Contemporary Poetics (2002 [1983]) oder in narratologsichen Lexika wie Princes A Dictionary of Narratology (2003 [1987]) abzulesen ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit Booths Konzept begann erst Ende der 1990er Jahre. Dies ist besonders auf die Studien von Ansgar Nünning zurückzuführen, der sich in ähnlicher Weise wie Booth um das Konzept des unzuverlässigen Erzählens verdient macht. Besondere Strahlkraft hat der von Nünning, Surkamp und Zerweck herausgegebene Sammelband Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur (1998). Dieser erschließt das Konzept systematisch und legt mit wegweisenden Aufsätzen den Finger in Wunden bestehender Theorien rhetorisch-ethischer und strukturalistischer Provenienz, proklamiert eine kognitive Rekonzeptualisierung und illustriert darüber hinaus anhand von verschiedenen Fallbeispielen die zentrale Bedeutung des Konzepts für die Analyse fiktionaler Literatur. Die Resonanz auf die kognitive Theorie von unreliable narration und auf weitere Publikationen von Nünning (1999, 2005a) war groß und kann in zwei Lager unterteilt werden. Auf der einen Seite zeigen Arbeiten von Bruno Zerweck
18 Siehe etwa die Sammelbände von Dernbach/Meyer (2005) oder Nünning (2015), die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit aus transdisziplinärer Perspektive beleuchten.
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(2001) und Vera Nünning (1998, 2004) das Potenzial des kognitiven Ansatzes für die Analyse unzuverlässiger Erzähltexte aus diachroner Perspektive auf. Auf der anderen Seite weisen Vertreter des rhetorischen Ansatzes (Olson 2003; Phelan 2004) auf Widersprüchlichkeiten im kognitiven Erklärungsmodell hin und setzen damit einen produktiven Dialog über Erklärungsmodelle von unreliable narration in Gang. Als direkte Antwort auf Nünnings kognitiven Ansatz ist daher James Phelans Living to Tell About It. A Rhetoric and Ethics of Character Narration (2004) zu begreifen, in welchem der Booth-Schüler sich explizit Nünnings Kritik annimmt und das Konzept des impliziten Autors als textexterne Kommunikationsinstanz neu konzeptualisiert (s. o.). In der Folgezeit entwickelte sich die Theorie des unzuverlässigen Erzählens zu einem der „current boom-sectors“ (Kindt 2008b: 129) der Narratologie. Eine Flut von Aufsätzen, in denen unzuverlässiges Erzählen „‚refigured‘ (Currie), ‚reexamined‘ (Phelan), ‚reconceptualized‘ (Nünning), ‚rethought‘ (Baah), and ‚reconsidered‘ (Olson)“ (Kindt 2008b: 130) wird, zeugt von der Popularität. Daneben finden sich zahlreiche Sammelbände, die sich dem Thema – auch aus transmedialer oder filmwissenschaftlicher Perspektive – annehmen.19 Die jüngsten Aufsatzsammlungen sind D’hokers und Martens’ Narrative Unreliability in the Twentieth-Century Fiction (2008), welche trotz einiger grundlegender Aufsätze zu theoretischen Fragestellungen primär die „historical evolution of unreliability“ (D’hoker/Martens 2008: 1) fokussieren, sowie das von Köppe/Kindt herausgegebene Themenheft des Journal of Narrative Theory zum Unreliable Narration (2011), welches sich weitgehend den oben skizzierten Problemfeldern widmet.20 Wenngleich unzuverlässiges Erzählen ein populärer Gegenstand von Aufsätzen und Sammelbänden ist, widmen sich die meisten einschlägigen Monographien dem Thema nur am Rande, wie ein Blick auf die wesentlichen Veröffentlichungen des letzten Jahrzehnts deutlich macht. Wie bereits die einzelnen Titel implizieren, wird das Konzept in den Studien mit gender-spezifischen, literaturhistorischen, erzähltheoretischen oder gattungstypischen Fragen verknüpft. Allraths wegweisende Untersuchung A Feminist-Narratological Theory and Analysis of Unreliability in Contemporary Women’s Novels (2005) betrachtet beispielsweise
19 Unzuverlässigen Erzählens wird in der Folgezeit nicht nur aus transmedialer Perspektive untersucht – wie etwa in Liptay/Wolfs bereits zitiertem Sammelband Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film (2005) –, sondern entwickelt sich auch zu einem produktiven Untersuchungsfeld in der filmwissenschaftlichen Narratologie, wie die Sammelbände von Helbig (2006), Kaul/Palmier/Skrandies (2009) sowie die Monographie von Laass (2008) demonstrieren. 20 Mit einem „Outline“ zur Untersuchung emotionaler Funktionspotenziale von unzuverlässigen Erzähltexten erschließt Hillebrandt (2011) allerdings theoretisches Neuland.
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unreliable narration im Kontext einer feministisch ausgerichteten Erzähltheorie. In seiner Studie Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß (2008a) analysiert Kindt die Bedeutung unzuverlässigen Erzählens primär aus literaturhistorischer Perspektive und mit Bezug auf einen spezifischen Autor, während Menhards Conflicting Reports. Multiperspektivität und unzuverlässiges Erzählen im englischsprachigen Roman seit 1800 (2009) das Zusammenspiel der im Titel genannten Erzählverfahren in seiner literaturhistorischen Dimension untersucht. Marcus’ Self-Deception in Literature and Philosophy (2008) greift das Konzept des unzuverlässigen Erzählens im Kontext der Selbsttäuschungen von Erzählerfiguren auf. Rohwer-Happes Unreliable Narration im dramatischen Monolog des Viktorianismus (2011) dagegen fokussiert ihre Untersuchungen zum unzuverlässigen Erzählen auf ein spezifisches Genre und einen spezifischen historischen Kontext. Wie dieser Überblick aber auch zeigt, beschränken sich die verschiedenen Studien ausschließlich auf unzuverlässiges Erzählen mit homodiegetischen Erzählerfiguren. Andere Formen der narrativen Unzuverlässigkeit wie unzuverlässige Fokalisierung oder unzuverlässiges Erzählen mit heterodiegetischen Erzählinstanzen bleiben in den genannten Werken außen vor oder werden nur am Rande erwähnt.21
4 Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit: Zielsetzung, Methodik und Struktur der Arbeit Die Aufzählung bedeutender Monographien des letzten Jahrzehnts macht deutlich, dass es bislang an einer Studie fehlt, die sich der oben skizzierten Problemfelder systematisch annimmt und eine umfassende Theorie und Typologie der narrativen Unzuverlässigkeit entwirft. Diese Lücke soll die vorliegende Arbeit schließen. Wie bereits das zentrale Konzept der „narrativen Unzuverlässigkeit“ im Titel impliziert, geht die Arbeit über eine Untersuchung des „unzuverlässigen Erzählens“ hinaus. Sie schließt neben verschiedenen Typen des unzuverlässigen Erzählens auch unzuverlässige Fokalisierung mit ein. Somit stellt die vorliegende Arbeit gleichzeitig die erste Untersuchung dar, die systematisch das Feld der narrativen Unzuverlässigkeit in seiner Breite erschließt. Kapitel II konzeptualisiert und typologisiert verschiedene Formen narrativer Unzuverlässigkeit. Auch wenn Allrath (2005: 84) der Entwicklung „of a fully-
21 Menhard (2009) z. B. geht in ihrer Untersuchung zum multiperspektivischen Erzählen auch auf Fälle unzuverlässiger Fokalisierung ein.
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fledged typology“ aufgrund der Vielzahl von Möglichkeiten skeptisch gegenübersteht, stellt ein solches Unterfangenen einen notwendigen ersten Schritt für eine Theorie narrativer Unzuverlässigkeit dar. Denn nur auf diese Weise kann der Gegenstandsbereich narrativer Unzuverlässigkeit bestimmt und von anderen narrativen Strategien abgegrenzt werden: “[W]e should not underestimate the usefulness of ‘mere’ typology. Before a phenomenon can be explained it must first exist for those who would explain it, which means that it must be constituted as a category with boundaries and a name.” (McHale 1981: 185) Aus diesem Grund wird in Kapitel II.1 zunächst der Frage nachgegangen, was Unzuverlässigkeit im Kontext der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie eigentlich bezeichnet. Dabei wird gezeigt, dass Unzuverlässigkeit als Oberbegriff für drei verschiedene Phänomene fungiert. So kann es erstens das Merkmal eines kognitiven Zentrums bezeichnen, welches sich in einer falschen Darstellung oder Bewertung des Geschehens offenbart (ironische Unzuverlässigkeit). Zweitens kann es ein Merkmal des narrativen Diskurses bezeichnen, welches bewirkt, dass der Leser nicht entscheiden kann, ob das kognitive Zentrum das Geschehen adäquat darstellt, wahrnimmt oder bewertet (ambige Unzuverlässigkeit). Drittens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal des narrativen Diskurses darstellen, welches den Leser durch manipulative Informationsvergabe über das Geschehen in der fiktionalen Welt in die Irre führt (alterierte Unzuverlässigkeit). Eine bloße Aufteilung in ironische, ambige und alterierte Unzuverlässigkeit erscheint aber nicht ausreichend, um die Heterogenität unzuverlässig erzählter Texte systematisch abzubilden. Daher werden in Kapitel II.2 weitere Beschreibungskategorien entwickelt, die es ermöglichen, Erscheinungsformen ironisch-unzuverlässiger, ambig-unzuverlässiger und alteriert-unzuverlässiger Texte herauszuarbeiten. Sinn und Zweck der Typologie ist aber nicht die klare Grenzziehung bei der Klassifikation einzelner Werke, sondern sie ist vielmehr ein heuristisches Werkzeug, um das Feld der narrativen Unzuverlässigkeit abzustecken. Nach der Skizzierung des Gegenstandsbereichs widmen sich die Kapitel III bis VIII der Frage, wie die verschiedenen Arten der narrativen Unzuverlässigkeit beschrieben und erklärt werden können. Bevor ein Beschreibungs- und ein Erklärungsmodell entwickelt werden kann, bedarf es jedoch der Klärung zweier kontroverser Punkte: Erstens stellt sich die Frage, was der Maßstab für Unzuverlässigkeit ist – die erzählte Welt oder die Werte und Normen des Werkes bzw. des impliziten Autors? Dabei wird in Kapitel III gezeigt, dass das Geschehen in der erzählten Welt in jeder Theorie einen notwendigen (oftmals impliziten) Maßstab für ein Unzuverlässigkeitsurteil darstellt, während die Werte und Normen lediglich eine optionale Bezugsgröße (primär für ethisch-rhetorische Ansätze) sind. Daraus ergibt sich für ein Erklärungsmodell – zweitens – die grundsätzliche Frage, wie ein Rezipient erkennen kann, dass das kognitive Zentrum (als Erzäh-
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ler und/oder Fokalisierungsinstanz) das Geschehen in der erzählten Welt falsch darstellt, wenn dieses doch den alleinigen Zugang zur erzählten Welt bildet? Es werden verschiedene Modelle vorgestellt und es wird gezeigt, dass diese die Frage nicht hinreichend zu beantworten vermögen. Im Gegensatz zu bestehenden Modellen wird in der vorliegenden Arbeit zwischen einem Beschreibungs- und einem Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit unterschieden. Ein Blick auf zwei Definitionen unterstreicht die Notwendigkeit einer solchen Trennung. Martinez/Scheffel (2007: 100) etwa begreifen einen Erzähler dann als unzuverlässig, wenn dessen „Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist.“ Rimmon-Kenan (2002 [1983]: 101) hingegen begreift einen unzuverlässigen Erzähler folgendermaßen: “An unreliable narrator […] is one whose rendering of the story and/or commentary the reader has reason to suspect.” Vergleicht man diese Definitionen zeigt sich, dass Martinez/Scheffel in ihrer Definition eine intratextuelle Dimension der narrativen Unzuverlässigkeit hervorheben – nämlich das Verhältnis der Darstellung des Erzählers zu den Vorgängen in der erzählten Welt. Rimmon-Kenan hingegen hebt eine extratextuelle Dimension der narrativen Unzuverlässigkeit hervor, welche das Verhältnis des Lesers zur textuellen Welt umfasst. Um diese zwei Dimensionen zu berücksichtigen, wird in dieser Arbeit auf Grundlage der literaturwissenschaftlichen possible-worlds theory zunächst ein Modell entwickelt, um die intratextuelle Dimension narrativer Unzuverlässigkeit – nämlich das Verhältnis von Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz zur erzählten Welt – terminologisch differenziert abbilden zu können. Da mithilfe des Modells die intratextuellen Relationen deskriptiv erfasst werden sollen, wird dieses als Beschreibungsmodell bezeichnet. Darauf aufbauend wird in einem weiteren Schritt ein rezeptionstheoretisches Modell entwickelt, welches die extratextuelle Dimension narrativer Unzuverlässigkeit in den Fokus rückt. Da das Modell die Funktion hat, das Rezeptionsverhalten des Lesers auf kognitionspsychologischer Grundlage zu explizieren, wird dieses als Erklärungsmodell bezeichnet. Kapitel IV entwirft ein Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit. Ausgehend von der Annahme, dass Wirklichkeit aus einer Vielzahl verschiedener Weltmodelle besteht, gibt die possible-worlds theory ein differenziertes terminologisches Instrumentarium an die Hand, um fiktionale Welten aus zweierlei Perspektive zu untersuchen. Erstens erlaubt sie eine Beschreibung der Beziehungen zwischen der erzählten Welt (textual actual world) zu den subjektiven Weltentwürfen der verschiedenen Figuren (den sogenannten Figurenwelten) innerhalb des fiktionalen Universums. Narrative Unzuverlässigkeit – so die These – tritt auf, wenn es Konflikte zwischen verschiedenen Welten in Bezug auf das Geschehen in der textual actual world gibt. Zweitens können diese Weltkonflikte auch
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für die Untersuchung der Beziehungen zwischen der tatsächlichen Welt (actual world) und dem fiktionalen Universum herangezogen werden und bieten daher ein Fundament für ein Erklärungsmodell. Danach stellen Weltkonflikte wesentliche Anhaltspunkte für den Leser dafür dar, dass den Darstellungen der Erzählerfigur oder der Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz nicht zu trauen ist. Auf dieser Grundlage werden die Rezeptionsprozesse bei ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit unterschieden. Bei ironischer Unzuverlässigkeit – so die These – kann der Leser eine Erzähler- oder Fokalisiererwelt erkennen, Weltkonflikte identifizieren, diese hierarchisieren und Erklärungen für die Diskrepanzen zwischen den Welten finden. Bei ambiger Unzuverlässigkeit dagegen kann der Leser nicht entscheiden, ob er der Darstellung des Erzählers oder der Fokalisierungsinstanz glauben kann, da er sich entweder nicht sicher ist, ob tatsächlich Weltkonflikte vorliegen, oder wie er diese hierarchisieren kann. Im Falle alterierter Unzuverlässigkeit dagegen kann sich der Leser aus verschiedenen Gründen über das Geschehen im fiktionalen Universum täuschen. So ist denkbar, dass er zunächst irrtümlicherweise nicht erkennt, dass das Geschehen durch eine Erzähler- oder Fokalisiererwelt gefiltert ist. Weitere mögliche Gründe sind, dass der Rezipient Weltkonflikte nicht erkennt, er diese falsch hierarchisiert oder er fehlerhafte Erklärungen für die Diskrepanzen zwischen den Welten findet. Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, wie ein Rezipient fiktionale Universen mitsamt der textual actual world sowie den verschiedenen Erzähler-, Fokalisierer-, Figuren- und Adressatenwelten (re-)konstruiert. Da die possible-worlds theory darauf jedoch nur oberflächliche Antworten geben kann, wird in Kapitel V auf Einsichten der kognitiven Narratologie rekurriert. Dabei werden grundlegende Prozesse des Textverstehens ebenso erläutert wie „allgemeine kognitive Mechanismen der Bedeutungsbildung“ (Hartner 2012: 10). Die zentrale Annahme ist, dass das Verstehen von (narrativen) Texten die Bildung von sogenannten mentalen Modellen voraussetzt. Bei der Rezeption von fiktionalen Texten bildet der Leser mentale Repräsentationen vom Geschehen im fiktionalen Universum, also mentale Modelle der erzählten Welt, der beteiligten Figuren, der Fokalisierungsinstanzen, der Erzählerfiguren sowie des Autors. Für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit werden drei wesentliche Aspekte bei der Bildung mentaler Modelle identifiziert. Erstens geht es um die grundsätzliche Frage, aufgrund welcher Informationen der Rezipient mentale Modelle entwickelt. Dabei wird das Zusammenspiel von textuellen Daten und eigenem Wissen bei der Bildung von mentalen Repräsentationen des Geschehens in der erzählten Welt, der nicht-fokalisierenden Figuren, der Fokalisierungsinstanzen, Erzählerfiguren und des Autors skizziert. Dieser Aspekt ist notwendig, um beispielsweise zu erläutern, wie der Leser bei ironischer Unzuverlässigkeit eine Vorstellung vom Geschehen in der erzählten Welt entwickeln kann, die über
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die (verbale) Darstellung einer Erzählerfigur hinausgeht bzw. dieser widerspricht. Wie zweitens gezeigt wird, integriert der Leser jedoch nicht einfach jedwede textuelle Information in ein mentales Modell, sondern er bewertet ihren Wahrheitsgehalt nach der Glaubwürdigkeit der Quelle. Dieser Aspekt bei der Bildung mentaler Modelle ist für eine Theorie narrativer Unzuverlässigkeit augenscheinlich essenziell. So kann beispielsweise genauer erläutert werden, wie ein Leser bei ironischer Unzuverlässigkeit textuelle Widersprüche auflöst und trotzdem ein kohärentes Bild vom Geschehen in der erzählten Welt konstruiert. Ein dritter wesentlicher Aspekt bei der Bildung mentaler Modelle stellt die Sukzessivität der Informationsvergabe dar. Dass der Leser textuelle Informationen Stück für Stück bekommt, wirkt sich sowohl auf die Bildung mentaler Modelle als auch auf das Rezeptionserleben im Allgemeinen aus. So werden mentale Modelle im Lichte neuer Informationen elaboriert, modifiziert oder gar revidiert. Gleichzeitig kann die Informationsvergabe auch strategisch eingesetzt werden, um beim Rezipienten Emotionen wie Spannung oder Neugier hervorzurufen. Spannung und Neugier wiederrum wirken sich auf die Bildung mentaler Modelle aus. Eine Betrachtung der Dynamik der Informationsvergabe und -verarbeitung erscheint besonders in Bezug auf alterierte Unzuverlässigkeit notwendig, da der Rezipient zunächst ein falsches Bild des Geschehens in der erzählten Welt konstruiert, welches er im Lichte neuer Informationen revidieren muss. Auf dieser Grundlage werden in Kapitel VI bis VIII rezeptionstheoretische Erklärungsmodelle zur ironischen, ambigen und alterierten Unzuverlässigkeit entworfen. Um die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede dieser Formen der narrativen Unzuverlässigkeit hervorzuheben, werden vier Schritte bei der Rezeption aus kognitionswissenschaftlicher Sicht betrachtet: das Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt, das Erkennen von expliziten oder impliziten Weltkonflikten, das Hierarchisieren von Weltkonflikten sowie die Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den Welten. Diese allgemeinen Überlegungen werden jeweils anhand von Analysen zweier Werke veranschaulicht. Der historische Rahmen der Texte reicht vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Maßgeblichen Einfluss auf die Textauswahl hatte das in der kognitiven Narratologie nicht unproblematische Konzept des „Lesers“. Ein grundsätzliches Problem für kognitiv-narratologische Ansätze stellt das Bestreben dar, „den“ oder „die“ Leser zu bestimmen. Da tatsächliche Leser höchst unterschiedliche Voraussetzungssysteme mitbringen, gibt es aus kognitiver Sicht weder „den Leser“ noch „die eine Lesart“ eines Textes: „Eine rezeptionsorientierte Textanalyse führt somit zwangsläufig zu einer Textinterpretation, die Raum für die Pluralität möglicher Lesarten gibt.“ (Schneider 2000: 211) Um der Heterogenität möglicher Lesarten gerecht zu werden, stellen die ausgewählten Werke kanonisierte Klassiker der Unzuverlässigkeitsforschung dar, so dass auf einen großen Korpus von Interpretationen bzw. Rezeptionen
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I Einleitung: Vom unzuverlässigen Erzählen zur narrativen Unzuverlässigkeit
zurückgegriffen werden kann. Dies hat den Vorteil, dass sich anhand der Interpretationen spezifische, z. T. konträre Rezeptionsleistungen nachvollziehen lassen, so dass die Analyse möglicher Interpretationsprozesse des Lesers zumindest ein gewisses Maß an empirischer Fundierung erfährt. Das dieser Arbeit zu Grunde liegende Konzept des Lesers ist daher das des „informierten Lesers“ nach Groeben (1977) – auf das Schneider (2000) bereits in seiner kognitiven Theorie der Figurenzepetion zurückgegriffen hat. Ein solcher Leser besitzt die „literaturästhetischen Bewertungen, literaturtheoretischen Einstellungen, literaturhistorisch bedingten Erwartungen des Lesers der thematisierten historischen Epoche entweder selbst“ oder kann diese „zumindest simulieren“ (Groeben 1977: 192). Als besonders hilfreich erweist sich dieses Vorgehen bei ambig-unzuverlässigen Erzähltexten, bei denen die Meinungen bezüglich der (Un-)Zuverlässigkeit der Erzähl- oder Fokalisierungsinstanzen erheblich voneinander abweichen. Insofern bieten sich die konträren Interpretationen desselben Textes als Anhaltspunkte an, um auf dieser Basis mögliche Rezeptionsprozesse von Lesern zu rekonstruieren. In Kapitel VI stehen bei der Untersuchung der ironisch-unzuverlässigen Werke – nämlich Charles Dickens David Copperfield (1849/50) und Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989) – die grundsätzlichen Fragen im Vordergrund, wie der Leser Weltkonflikte erkennt, wie er diese hierarchisiert und inwieweit die falsche Bewertung und Darstellung des Geschehens Einfluss auf die Charakterisierung des kognitiven Zentrums hat. Anhand von Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) und Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) wird in Kapitel VII gezeigt, warum der Rezipient bei ambig-unzuverlässigen Werken nicht bestimmen kann, ob der Erzähler bzw. im zweiten Fall auch die Fokalisierungsinstanz das Geschehen adäquat bewertet bzw. wahrnimmt. The Good Soldier dient als Beispiel für ambig-unzuverlässige Werke, in welchen der Rezipient Weltkonflikte nicht eindeutig hierarchisieren kann. Die Ambiguität bzgl. der Zuverlässigkeit des kognitiven Zentrums in American Psycho dagegen resultiert daraus – so die These –, dass der Leser nicht bestimmen kann, ob Weltkonflikte bzgl. des Geschehens in der erzählten Welt vorliegen oder nicht. Kapitel VIII thematisiert alteriert-unzuverlässige Erzähltexte, um zu zeigen, warum ein Rezipient zunächst ein falsches Bild des fiktionalen Universums rekonstruiert. Dabei wird anhand von Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890) gezeigt, wie der Spannungsaufbau und die hervorgerufene Empathie am Schicksal des Protagonisten dazu beitragen, dass der Leser spezifische Weltkonflikte nicht wahrnimmt oder falsch auflöst. Die Untersuchung von Chuck Palahniuks Fight Club (1996) dagegen veranschaulicht, wie die manipulative Informationsvergabe Neugier hervorruft und dazu beiträgt, dass der Leser Wissen bei der Bildung mentaler Modelle aktiviert. Diese steuern in erheblichem Maße die weitere Rezeption und haben maßgeblichen Einfluss darauf, dass der Leser Weltkonflikte nicht erkennt
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und daher die Wahrnehmung der schizophrenen Fokalisierungsinstanz nicht anzweifelt. Kapitel IX wendet sich dem metakognitiven Funktionspotenzial narrativer Unzuverlässigkeit zu. Dabei wird die These aufgestellt, dass die in der Arbeit unterschiedenen Formen narrativer Unzuverlässigkeit in verschiedener Weise kognitive Prozesse der Sinngenerierung hervorheben. So lenken ironisch-unzuverlässige Texte die Aufmerksamkeit auf die Sinngenierungsprozesse eines im Text verorteten kognitiven Zentrums (sei es der Erzähler oder die Fokalisierungsinstanz). Bei ambig-unzuverlässigen Texten dagegen stehen die Reflektionen über die Sinngenerierungsprozesse des kognitiven Zentrums und des Lesers in einem dynamischen Abhängigkeitsverhältnis. Alteriert-unzuverlässige Erzähltexte dagegen stimulieren in hohem Maße die Reflektion über die Interpretationsprozesse des Lesers. Um diese These zu belegen, wird das metakognitive Potenzial narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel von Ian McEwans Atonement (2001) genauer betrachtet. Der Roman eignet sich als Beispiel, da sich sowohl ironische als auch alterierte Unzuverlässigkeit darin finden. Abgeschlossen wird die Arbeit in Kapitel X mittels einer Zusammenfassung sowie eines Ausblicks auf weitere Forschungsmöglichkeiten im Feld der narrativen Unzuverlässigkeit.
Hinweise zur Gestaltung des Textes und zum Berichtszeitraum Aus Gründen der Einfachheit werden Begriffe wie Leser, Erzähler, Autor etc. generisch neutral begriffen und umfassen sowohl weibliche als auch männliche Formen. Der Berichtszeitraum der zitierten Primär- und Sekundärliteratur erstreckt sich bis Juli 2014.
II Grundriss einer Konzeptualisierung und Typologisierung narrativer Unzuverlässigkeit 1 Entwurf einer Konzeptualisierung narrativer Unzuverlässigkeit22 Die fehlende Präzision des Konzepts der narrativen Unzuverlässigkeit lässt sich an einer Vielzahl höchst heterogener Erzähltexte ablesen, die von der literaturwissenschaftlichen Forschung als „unzuverlässig“ klassifiziert werden. So werden heterogene Werke wie Ian McEwans Kurzgeschichte „Dead as They Come“ (1978) (vgl. Nünning 1990, 1998, 2005a), sein Roman Atonement (2001) (vgl. Menhard 2009: 266–279, Kiefer 2005: 74–75), Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn (1884) (vgl. Chatman 1993 [1978]: 233, Olson 2003: 101), William Faulkners The Sound and the Fury (1929) (vgl. Chatman 1993 [1978]: 233, Rimmon-Kenan 2002 [1983]: 102), Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) (vgl. Allrath 2005: 79, Fludernik 1999: 77, Wall 1994: 21), Henry James’ The Turn of the Screw (1898) (vgl. Àlvarez Amorós 1991, Zerweck 2001: 162) oder Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890) (vgl. Bläß 2005: 201, Koebner 2005: 22, Martinez/Scheffel 2007 [1999]: 102) unter dem Etikett unreliable narration subsumiert, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine solche Bandbreite verschiedenartiger Erzähltexte und eine fehlende präzise Typologie machen eine umfassende Erklärung des Phänomens äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich (vgl. Allrath 2005: 84). Ziel dieses Kapitels ist daher eine genauere Unterscheidung verschiedener Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit. In einem ersten Schritt wird gezeigt, dass die Narratologie bislang nicht hinreichend zwischen verschiedenen Unzuverlässigkeitskonzepten differenziert. Narrative Unzuverlässigkeit kann nämlich verschiedene Phänomene bezeichnen, so die These. Entweder stellt sie ein Merkmal einer Figur dar, welche als Erzähler oder Fokalisierungsinstanz das kognitive Zentrum einer Erzählung bildet, oder sie bezieht sich auf ein Merkmal des narrativen Aktes. Dabei kann Unzuverlässigkeit entweder eine Ambiguität im erzählerischen Diskurs benennen, bei der nicht aufgelöst wird, ob das kognitive Zentrum die erzählte Welt adäquat darstellt bzw. bewertet, oder sie bezeichnet eine narrative Strategie, die den Rezipienten dazu bringt, zunächst ein falsches Bild der erzählten Welt zu rekonstruieren, welches er zu einem späteren Zeitpunkt der
22 Dieses Kapitel beruht auf einem Artikel über die Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit in Literatur- und Filmwissenschaft (Vogt 2009). https://doi.org/10.1515/9783110557619-003
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Erzählung revidieren muss. Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Unzuverlässigkeitskonzepten in der Literaturwissenschaft bietet den Vorteil gegenüber bestehenden Typologien, den Anwendungsbereich der verschiedenen Konzepte genauer zu bestimmen und damit die Fragen präziser zu beantworten, ob auch Fokalisierungsinstanzen oder heterodiegetische Erzähler „unzuverlässig“ sein können.
1.1 Semantiken des Begriffs der Unzuverlässigkeit in der Erzähltheorie Zunächst soll überlegt werden, welche konkreten Phänomene mit dem Begriff der Unzuverlässigkeit im narratologischen Diskurs bezeichnet werden. Definitionen narrativer Unzuverlässigkeit zielen lediglich auf die Frage ab, in welchen Fällen ein Erzähler oder eine Erzählung unzuverlässig ist. Stellvertretend sei an dieser Stelle auf Rimmon-Kenans Definition (2002 [1983]: 101) verwiesen: “An unreliable narrator is one whose rendering of the story and/or commentary on it the reader has reason to suspect.” Die Frage dagegen, was „Unzuverlässigkeit“ im konkreten Erzähltext meint, ist bislang vernachlässigt worden. Diese fehlende Begriffsdefinition hat dazu geführt, dass der Terminus unreliability als umbrella term für verschiedene narrative Phänomene verwendet wird, wie im Folgenden zu zeigen ist.23 Um die verschiedenen Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit voneinander abzugrenzen, soll zunächst das in der Narratologie gängige Konzept betrachtet werden. Wie bereits in der Einleitung skizziert wurde, bildet der Rückgriff auf Ironie die gemeinsame Basis sämtlicher Erklärungsmodelle.24 Unreliable narration wird danach als ein Sonderfall ironischer Kommunikation verstanden. Kennzeichnend für ironische Kommunikation ist die Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungsebenen – einer expliziten und einer impliziten. Dabei gilt die implizite Bedeutungsebene als die „eigentlich gemeinte“ (Martinez/Scheffel 2007 [1999]: 101). Ironische Kommunikation setzt darüber hinaus einerseits das Bewusstsein des Senders über die Doppelbödigkeit der Nachricht und andererseits die Inten-
23 Zum undifferenzierten Gebrauch hat sicherlich auch die Tatsache beigetragen, dass Wayne C. Booth, der den Terminus geprägt hat, „unreliable“ synonym mit anderen Begriffen wie „fallible“, „untrustworthy“ und „inconscient“ verwendet (vgl. Olson 2003). 24 Vgl. etwa Booth (1983 [1961]: 304–307), Chatman (1990: 153), Fludernik (2005: 40), Jahn (1998: 86–87), Martinez/Scheffel (2007 [1999]: 100–101), Nünning (1998: 17), Nünning/Nünning (2007), Riggan (1981: 36), Zerweck (2001: 157). Umstritten dagegen ist, wie diese Form ironischer Kommunikation zu erklären ist (vgl. dazu die verschiedenen Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit in Kapitel III).
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tion voraus, diese doppelte Bedeutung zu senden (vgl. Martinez/Scheffel 2007 [1999]: 100). Genau in diesem Punkt treten Unterschiede zwischen einem ironischen und einem unzuverlässigen Erzähler zu Tage: [Unreliable narration] is “speaker-unconscious”: that is the narrator is the butt [of irony], not the objects and events narrated. The unreliable narrator cannot know the disparity between the two messages presented by his own message. He delivers what he understands to be a straightforward message, but the implied reader must infer that the ostensible message is being cancelled or at least called into question by an underlying message that the narrator does not understand. The narrator is being ironized by the act of narrating. (Chatman 1990: 153–154; Hervorhebung im Original)
Aus diesem Grund wird in der Erzähltheorie häufig von einer Kommunikation „hinter dem Rücken“ des Erzählers gesprochen.25 Die für die Erzählerfigur verborgene Textebene ermöglicht dem Leser, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Erzählers aufzustellen, wie Nünning (1998: 18) ausführt: Im Falle von unreliable narration können Rezipienten den Äußerungen des Erzählers zumeist zwei Informationen zugleich entnehmen: Zunächst einmal werden [die Rezipienten] mit jener Geschichte konfrontiert, die dem Erzähler bewusst ist und die dieser zu erzählen beabsichtigt; dadurch erhalten die Rezipienten Informationen über „Fakten“ der fiktionalen Welt. Zugleich enthalten die Äußerungen eines unglaubwürdigen Erzählers eine Vielzahl von impliziten Zusatzinformationen. Unfreiwillig und unbeabsichtigt gibt ein unreliable narrator dem Rezipienten dadurch Einblick in seine oft sehr idiosynkratische Perspektive.
Unreliable narration ist folglich dann anzunehmen, wenn die Darstellungen eines Erzählers zweifelhaft erscheinen und dem Rezipienten dadurch Einblicke in die verzerrte Weltsicht der Erzählerfigur offenbart werden. Aus diesem Grund hält Kathleen Wall (1994: 21) fest: “[T]he purpose of unreliable narration […] is to foreground certain elements of the narrator’s psychology.” Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, dass diese Art der narrativen Unzuverlässigkeit einen homodiegetischen, psychologisierbaren Erzähler voraussetzt, der „selbst als Charakter an der Handlung in der fiktiven Welt teilnimmt“ (Nünning 1990: 38).26
25 Vgl. etwa Booth (1983 [1961]: 304), Cohn (2000: 307), Riggan (1981: 13) oder Wall (1994: 19). Kritik an dieser metaphorischen Umschreibung äußert Nünning (1998: 15–16). In Kapitel III wird genauer auf den heuristischen Wert einer solchen Umschreibung für ein Erklärungsmodell eingegangen. 26 Ähnliche Meinungen vertreten auch Allrath (2005), Chatman (1993 [1978]: 234), Olson (2003), Riggan (1981: 20) und Zerweck (2001).
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Ian McEwans Kurzgeschichte „Dead as They Come“ (1978) eignet sich als vorzügliches Beispiel, um dieses Konzept der narrativen Unzuverlässigkeit zu illustrieren (vgl. etwa Nünning 1990, 2005). Die makabre Geschichte handelt von der Liebe eines homodiegetischen Erzählers zu einer Schaufensterpuppe. Nach mehreren gescheiterten Ehen verliebt sich der homodiegetische Erzähler in eine Schaufensterpuppe, die er schließlich kauft. Schnell avanciert Helen – diesen Namen gibt der Erzähler der Puppe – zu seiner Liebhaberin und einzigen Vertrauten. Die glückliche „Beziehung“ findet jedoch ein jähes Ende, als der Erzähler Veränderungen in Helens Verhalten zu erkennen glaubt und diese auf eine heimliche Affäre Helens mit seinem Chauffeur zurückführt. Als der Erzähler Helen schließlich mit seinen Anschuldigungen konfrontiert, begreift er ihr Schweigen als Eingeständnis ihrer Untreue. Vor Wut erstickt der Erzähler Helen – so zumindest die eigene Schilderung. Die Wirkung der Geschichte – wie bereits diese Zusammenfassung andeutet – ergibt sich in erster Linie aus der Diskrepanz zwischen der Version, die der Erzähler formuliert, und jener, die sich der Leser aus den gegebenen Informationen schafft. Exemplarisch für die daraus resultierende Ironie zulasten der Erzählerfigur und die damit verbundene unfreiwillige Selbstcharakterisierung soll die Schilderung der ersten „Liebesnacht“ betrachtet werden: She stroked my hand, she gazed wonderingly into my eyes. I undressed her […]. I drew her close to me, her naked body against mine, and as I did so I saw her wide-eyed look of fear … she was a virgin. I murmured in her ear. […] “Do not be afraid,” I whispered, “do not be afraid.” I slid in her easily […]. The quick flame of pain I saw in her face was snuffed by long agile fingers of pleasure. I have never known such pleasure, such total accord … almost total, for I must confess there was a shadow I could not dispel. She had been a virgin, now she was a demanding lover. She demanded the orgasm I could not give her, she would not let me go, she would not permit me to rest. […] [B]ut nothing I did, and I did everything, I gave everything, could bring her to it. At last […] I broke away from her, delirious with fatigue, anguished and hurt by my failure. […] I took her hand. It was stiff and unfriendly. It came to me in a panic stricken moment that Helen might leave me. […] “Helen,” I said urgently. “Helen …” She lay perfectly still, seeming to hold her breath. “It will come, you see, it will come” […]. (McEwan 1997 [1978]: 65–66)
Anstatt die Darstellung des Erzählers von Helen als unersättliche, leidenschaftliche Liebhaberin zu übernehmen, wird sich der Leser Helen aufgrund seines Wissens als leblose Plastikfigur vorstellen, die starr im Bett des Erzählers liegt.27 Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen der Version, die der Erzähler schildert,
27 Dass Helen eine Schaufensterpuppe ist, wird spätestens nach wenigen Seiten für den Leser ersichtlich, als der Erzähler diese kauft.
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und jener, die der Leser konstruiert, wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die verzerrte Weltsicht der Erzählerfigur gelenkt. Dabei stechen vor allen die verschiedenen emotionalen Veränderungen, die der Erzähler an der regungslosen Puppe zu erkennen glaubt, ins Auge: von anfänglicher Angst über Leidenschaft bis hin zu Resignation. Gleichzeitig illustrieren diese Zuschreibungen die Veränderungen seines Selbstvertrauens. Sein Gefühl der Überlegenheit hält nur so lange an, wie Helen (in seinen Augen) noch „Jungfrau“ ist. Bald darauf fühlt er sich ihren Wünschen und Bedürfnissen nicht mehr gewachsen. Bereits anhand dieser kurzen Analyse der Passage wird somit deutlich, dass die Schilderungen des Erzählers seine paranoide Angst vor sexuellem Versagen offenbaren, welche er auf die Schaufensterpuppe projiziert.28 Als Zwischenfazit lässt sich folglich festhalten, dass unzuverlässiges Erzählen eine besondere Form ironischen Erzählens darstellt, welche sich hinter dem Rücken eines Erzählers vollzieht. „Unzuverlässigkeit“ steht in diesem Zusammenhang für einen Makel in der psychischen Konstitution eines Sprechers, den er durch sein Erzählen unfreiwillig offenlegt. Folglich geht es nicht darum, den Erzähler im Sinne einer Sendeinstanz zu hinterfragen, sondern die psychische Konstitution einer fiktionalen Figur, welcher der Rezipient die Verantwortung für den erzählerischen Diskurs zuweist. Aus diesem Grund konstatiert Tamar Yacobi (2000: 712): “[…] ‘(un)reliability’ has been accepted by most scholars as a character trait that attaches to the figure of the narrator […]. ”29 Unzuverlässigkeit entsteht in narrativen Texten jedoch keinesfalls ausschließlich infolge eines defizitären Persönlichkeitsmerkmals eines kognitiven Zentrums. Betrachtet man Texte, die ebenfalls unter die Kategorie unreliable narration subsumiert werden, wie Henry James’ The Turn of Screw (1898)30, M.P. Shiels The
28 Eine detaillierte Analyse von „Dead as They Come“ findet sich bei Nünning (2005). 29 Anders dagegen Chatman (1993 [1978]: 234): “What precisely is the domain of unreliability? It is the discourse, that is the view of what happens or what the existents are like, not the personality.” Allerdings räumt auch er ein, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem unzuverlässigen Diskurs und der Erzählerpersönlichkeit besteht: ”The butt of unreliable narration is the narrator himself, not the characters, about whom we form our own conclusions. Thus not only is his presence marked indelibly, but so is the presupposition that he bears in relation to the story. Otherwise what interest would he have in giving us a distorted account? His motive can by no means be the sheer joy of storytelling. He may be a minor or peripheral character rather than a protagonist, but he cannot be ‘nobody’. His suspicious recitation of events may, of course, jibe, with his character as otherwise evoked. We associate Jason Compson’s unreliability as a narrator with his bigotry, penny-pinching, and salaciousness as a character.“ 30 Siehe etwa Koebner (2005), McHale (1987), Phelan (2008: 10), Zerweck (2001).
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Purple Cloud (1901)31, Vladimir Nabokovs Pale Fire (1962)32 oder Kazuo Ishiguros A Pale View of Hills (1982)33, erwachsen daran Zweifel. Ein klassisches und oft diskutiertes Beispiel für diese Art narrativer Unzuverlässigkeit stellt Henry James’ The Turn of the Screw dar. In der Novelle erzählt eine junge Gouvernante von den Erlebnissen auf dem abgelegenen Landsitz Bly, wo sie zwei aus einer wohlhabenden Familie stammende Waisenkinder, Flora und Miles, betreuen soll. Bald mehren sich seltsame Ereignisse, so dass die Erzählerin schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass die Geister zweier Bediensteter, die unter nicht genauer genannten Umständen ums Leben gekommen sind, dort ihr Unwesen treiben und Besitz von den Kindern ergreifen wollen. Nach anfänglicher Unterstützung wendet sich auch die einzige Bezugsperson, Mrs. Grose, von der Erzählerin ab und stellt immer stärker deren Wahrnehmungen in Zweifel. Schließlich kommt es zur Tragödie, als Flora nach einer Geistererscheinung und einem hysterischen Anfall der Gouvernante an Nervenfieber erkrankt und nach London reisen muss. Die homodiegetische Erzählerin bleibt mit Miles zurück und sieht sich schließlich ein weiteres Mal mit einer Erscheinung konfrontiert. Schützend umklammert sie den Jungen, der schließlich in ihren Armen stirbt. Im Gegensatz zu McEwans Kurzgeschichte „Dead as They Come“, in welcher der Leser eindeutige Hinweise darauf erhält, dass Helen keine Frau, sondern eine Schaufensterpuppe ist, und Einblicke in die Psyche des homodiegetischen Erzählers erlangt, gestaltet sich die Rekonstruktion des Geschehens in The Turn of the Screw (1898) wesentlich schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. So kann der Rezipient nicht sicher sein, ob die Geister tatsächlich Bestandteile der erzählten Welt sind, und daher eine Gefahr für die Kinder darstellen, oder ob sie lediglich Hirngespinste der Erzählerin sind und die eigentliche Gefahr daher von der von Wahnvorstellungen geplagten Erzählerin ausgeht.34 Demzufolge lässt die Novelle verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Hypothesen über das Geschehen und den geistigen Zustand der Erzählerin zu. Folglich kann der Rezipient in The Turn of the Screw, im Unterschied zu McEwans Kurzgeschichte, aufgrund dieser Ambiguität bzgl. der Verfassung des kognitiven Zentrums nicht mit Sicherheit entscheiden, ob es Ironie zulasten der Erzählerin gibt oder nicht. Aus diesem Grund soll diese Form der Unzuverlässigkeit, die in der Ambiguität bzgl. der (Un-) Zuverlässigkeit des kognitiven Zentrums begründet liegt, von der zuvor vorgestell-
31 Siehe Morgan (2009). 32 Siehe etwa McHale (1987), Menhard (2009). 33 Vgl. D’hoker (2008). 34 Entsprechend heterogen und mannigfaltig sind die Interpretationen des Werkes in Bezug auf die (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerin (vgl. Rimmon-Kenan 1977).
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ten abgegrenzt werden. Die Rezeptionsprozesse unterscheiden sich signifikant voneinander, wie auch Rimmon-Kenan (1977: 15) ausführt: Irony is incompatible with ambiguity because its drift is unequivocally implied by the discourse. The very fact that we can identify a narrative as ironic implies a foregone choice of the correct reading, in the light of which we subvert every detail of the “false” version. The moment we can assert that a narrator or a character in a given narrative is unreliable and that our reading should proceed in direct opposition to his account, we have abandoned the realm of “ambiguity” for that of “irony”. Ambiguity exists in the in-between land of hesitation – a land where we cannot know whether the narrator is reliable or not and whether the events he records are to be taken on trust or to be treated with ironic disbelief.
Nun lässt sich, wie Phelan (2008: 10) es handhabt, auf die Unzuverlässigkeit der Erzählerin in einer spezifischen Lesart der Novelle verweisen. Dies reduziert das Werk aber auf eine spezifische Interpretation und ignoriert somit seine Komplexität, die gerade aus der Ambiguität bzgl. der Unzuverlässigkeit der Erzählerin seine Wirkung erzielt. Gerade weil die Rezeptionsprozesse unterschiedlich sind, erscheint es im Hinblick auf eine differenzierte Theorie der narrativen Unzuverlässigkeit sinnvoll, narrative Strategien in Werken wie McEwans „Dead as They Come“ und The Turn of the Screw konzeptionell zu trennen. Diese zwei Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit vermögen nicht alle Fälle abzudecken, die in der Forschung unter dem umbrella term narrativer Unzuverlässigkeit subsumiert werden. Betrachtet man eine dritte Gruppe weiterer Erzähltexte, die als unzuverlässig bezeichnet werden, wie Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926)35, Chuck Palahniuks Fight Club (1996)36, Ian McEwans Atonement (2001)37 oder Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890)38, wird deutlich, dass die bislang differenzierten Konzepte noch nicht ausreichen, um unzuverlässig erzählte Texte zu kategorisieren. Um dies herauszustellen, soll Christies The Murder of Roger Ackroyd, ein weiterer Klassiker der Unzuverlässigkeitsforschung, herangezogen werden.39 Die Handlung des Romans verläuft wie folgt: Der homodiegetische Erzähler Dr. Sheppard, ein Landarzt aus einem kleinen Dorf, lebt ein ereignisloses Leben, bis er die Leiche des reichen Geschäftsmannes Roger Ackroyd entdeckt. Fortan assistiert Dr. Sheppard dem
35 Siehe etwa Fludernik (1999: 77), Heyd (2006: 226–227), Riggan (1981: 176). 36 Siehe etwa Allrath (2005: 198), Däwes (2008), Wald (2009). 37 Siehe etwa Menhard (2009: 266–279) und Kiefer (2005: 74–75). 38 Siehe etwa Bläß (2005: 201) und Koebner (2005: 22). 39 Wie Vogt (2009) greifen auch Köppe/Kindt (2011) und Stühring (2011) auf Agathas Christies Roman zurück, um zu zeigen, dass Unzuverlässigkeit nicht zwangsläufig eine Ironie zu Lasten der Erzählerfigur voraussetzt.
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Meisterdetektiv Hercule Poirot bei seiner Suche nach dem Täter und schreibt als Chronist das Geschehen nieder. Zur Überraschung des Rezipienten entlarvt der belgische Detektiv am Ende des Romans den Erzähler Dr. Sheppard als den gesuchten Mörder. Es folgt ein reumütiges Geständnis der Tat. Dr. Sheppard hat demnach nicht nur vor Poirot einen ahnungslosen Unbeteiligten gemimt, sondern zugleich auch vor dem Leser. Der Erzähler hat die Handlung folglich nicht adäquat wiedergegeben, da er zentrale Aspekte des Geschehens sowie der eigenen Gedanken unterschlägt, weshalb viele Erzähltheoretiker in Dr. Sheppard einen unreliable narrator sehen (vgl. Fludernik 1999: 77, Heyd 2006: 226 f, Riggan 1981: 176). Genauer kann dieser Fall – mit Phelans Terminologie – als „misreporting“ bezeichnet werden, d. h., eine Erzählerfigur schildert weniger als sie weiß und führt den Leser dadurch in die Irre (vgl. Phelan 2004: 52). Ein Motiv – also ein psychologischer Beweggrund – für die unzureichende Wiedergabe lässt sich ebenfalls leicht erkennen. Dr. Sheppard möchte nicht seiner Tat überführt werden. Und doch unterscheidet sich die Unzuverlässigkeit in The Murder of Roger Ackroyd signifikant von den in „Dead as They Come“ und The Turn of the Screw identifizierten Formen. So ist die Unzuverlässigkeit der Schilderung zum einen vom Erzähler beabsichtigt. Seine metanarrative Reflexion am Ende des Romans verdeutlicht die Sorgfalt, mit der Dr. Sheppard jedes Wort gewählt hat, um den Leser hinters Licht zu führen: I am rather pleased with myself as a writer. What could be neater, for instance, than the following: “The letters were brought in at twenty minutes to nine. It was just on ten minutes to nine when I left him [Roger Ackroyd], the letter still unread. I hesitated with my hand on the door handle, looking back and wondering if there was anything I had left undone.” All true, you see. But suppose I had put a row of stars after the first sentence! Would somebody then have wondered what exactly happened in that blank ten minutes? (Christie 2006 [1926]: 286; Hervorhebung im Original)
Zum anderen gibt es im Gegensatz zu den anfangs diskutierten Texten im Falle von Roger Ackroyd keine Inkonsistenzen im erzählerischen Diskurs, die die Glaubwürdigkeit der Erzählerfigur in Zweifel ziehen würden. An Dr. Sheppard ist daher auch kein psychischer Makel zu erkennen, welcher durch die Art der Schilderung für den Leser zu Tage treten würde. Es fehlt somit in Christies Roman an einer Ironie zulasten des Erzählers. Es findet sich auch keine Ambiguität bzgl. der (Un-) Zuverlässigkeit des Erzählers. Der Leser vertraut bis zur Auflösung Dr. Sheppard als Erzählinstanz. Er vertraut darauf, dass der Erzähler ihm die Geschehnisse vollständig und adäquat berichtet – gerade weil Dr. Sheppard ohne Widersprüchlichkeiten oder Inkonsistenzen erzählt.
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II Konzeptualisierung und Typologisierung narrativer Unzuverlässigkeit
Daher kann man folgern, dass Unzuverlässigkeit im Falle von The Murder of Roger Ackroyd weder einen psychischen Makel der Erzählerfigur (außer den, dass er lügt, wenn dies als charakterlicher Makel gilt) noch eine Ambiguität bzgl. der (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerfigur deklariert. Vielmehr bezeichnet Unzuverlässigkeit nach dem vorliegenden Verständnis einen „Makel“ bzw. ein Merkmal des Erzählvorganges, initiiert von der Erzählinstanz. Allein der kausale Zusammenhang zwischen dem Erzähler als Sender und einem unzuverlässigen Erzählvorgang als Botschaft rechtfertigt es, bei diesem Beispiel dennoch von einem „unzuverlässigen“ Erzähler zu sprechen. Es ließe sich argumentieren, dass der Fall konträr zur dramatischen Ironie steht, die aus einem Wissensvorsprung des Rezipienten gegenüber der Erzählerfigur resultiert. Hier ist genau das Gegenteil der Fall: Der Rezipient weiß weniger als der Erzähler, weil Letzterer sein vollständiges Wissen für sich behält. Aus den genannten Gründen erscheint es daher sinnvoll, drei Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit zu unterscheiden. Erstens bezeichnet Unzuverlässigkeit ein Merkmal einer Erzählerfigur, das sich in einer fragwürdigen Art der Darstellung oder Bewertung eines Geschehens äußert. In einem solchen Fall liegt eine besondere Art der Ironie vor, indem der Erzähler unfreiwillige Einsichten in sein Seelenleben offenbart. Zweitens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal des Diskurses darstellen, bei dem ein Leser nicht abschließend entscheiden kann, ob der Erzähler das Geschehen adäquat darstellt oder nicht. Es finden sich ambige, sich einander ausschließende Hinweise, die es dem Rezipienten je nach Lesart erlauben, die Glaubwürdigkeit der Erzählerfigur anzuerkennen oder diese in Frage zu stellen. Drittens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal des narrativen Diskurses bezeichnen, durch den ein Leser in die Irre geführt wird und ein falsches Bild vom Geschehen konstruiert, das er rückwirkend revidieren muss. Im Gegensatz zu den anderen Formen zweifelt der Rezipient zunächst nicht an den Darstellungen, bis er den Fehler bemerkt. Anders als beim zweiten Unzuverlässigkeitstypus ist die Bewertung des Geschehens im dritten Fall aber letztlich eindeutig. Nach dieser Distinktion verschiedener Unzuverlässigkeitskonzepte erscheint es notwendig, diese weiter zu präzisieren und den Anwendungsbereich zu bestimmen. Dies ist insofern von immenser Bedeutung, da die Fragen, ob Unzuverlässigkeit auch auf heterodiegetische Erzähler anzuwenden ist und ob Fokalisierungsinstanzen unter das Etikett unreliabilty subsumiert werden können, bislang nicht hinreichend in der Erzähltheorie geklärt wurden.
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1.2 „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal eines kognitiven Zentrums: ironische Unzuverlässigkeit Begreift man „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal einer anthropomorphisierbaren Erzählerfigur, das sich in einer Ironie hinter dem Rücken des Erzählers offenbart, dann scheint es sinnvoll, von einem ironisch-unzuverlässigen Erzähler zu sprechen. Da davon ausgegangen wird, dass ein ironisch-unzuverlässiger Erzähler unfreiwillige Einblicke in seine Psyche offenbart, leiten sich daraus Konsequenzen für den Anwendungsbereich ab. So ist dieses Konzept von „ironischer Unzuverlässigkeit“ auf discourse-Ebene ausschließlich auf homodiegetische Erzählinstanzen beschränkt, also auf solche Erzählerfiguren, denen menschliche Wahrnehmung und Bewusstsein zugesprochen werden können. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein heterodiegetischer Erzähler, da dieser weder psychologisierbar noch epistemologischen Beschränkungen unterworfen ist, nicht als ironisch-unzuverlässig kategorisierbar ist.40 Zwar argumentieren Cohn (2000) und Martens (2008), dass auch heterodiegetische Erzähler (ironisch-)unzuverlässig sein könnten, allerdings spricht einiges dafür, dass der Rezipient dies nicht auf ein Merkmal der Erzählerpersönlichkeit projiziert, sondern Inkohärenzen unter Zuhilfenahme anderer Naturalisierungsstrategien auflöst (vgl. Jahn 1998: 95–99.; Walsh 2007: 79–80). An diese Feststellung schließt sich jedoch die Frage an, ob dieses Konzept von Unzuverlässigkeit – verstanden als Merkmal einer Figur – nicht ebenso auf Fokalisierungsinstanzen anwendbar ist, die das kognitive Zentrum auf story-Ebene bilden. Diese Frage ist innerhalb der Forschung umstritten. Während Chatman (1990) und Stanzel (2002 [1979]) sich gegen eine Ausweitung des Terminus unreliability auf Fokalisierungsinstanzen aussprechen, wird diese ablehnende Haltung zunehmend in Frage gestellt (vgl. etwa Diengott 1995; Fludernik 2005; Nünning/Nünning 2007; Shen 1989). Aufgrund einiger Differenzen zwischen Erzähl- und Fokalisierungsinstanz, die primär aus der Tatsache resultieren, dass beide Instanzen auf verschiedenen narrativen Ebenen situiert sind, leiten Chatman und Stanzel ab, dass der Begriff der unreliability lediglich auf Erzählerfiguren beschränkt bleiben solle, während sie für den Fall der fragwürdigen Wahrnehmung oder Bewertung durch Fokalisierungsinstanzen mit „fallible filter“/
40 Vgl. dazu auch Walsh (2007: 79): “To be interpreted unreliable, a narrative must provide some logic by which its inconsistencies can be self-explained – some means by accounting for the narrator’s self-contradictions or manifest distortions. That is, unreliability cannot be simply attributed to an impersonal narrator: it must be motivated in terms of the psychology of a narrating character.”
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II Konzeptualisierung und Typologisierung narrativer Unzuverlässigkeit
„fallible filtration“ (Chatman 1990: 149) bzw. „trübe Reflektoren“ (Stanzel 2002 [1979]: 203) eine neue Terminologie prägen. In ihrer Argumentation scheinen folgende Punkte wesentlich: Während sich ein homodiegetischer unzuverlässiger Erzähler in einer Kommunikationssituation befindet und dadurch bestimmen kann, welche Informationen er in welcher Form preisgeben und welches Bild er von sich und anderen präsentieren will, ist eine Fokalisierungsinstanz Teil der Handlung. Der Leser erlebt die Welt mit dem Bewusstsein der Figur. Aus diesem Umstand leitet Chatman (1990: 150) verschiedene Grade an Verantwortlichkeit in Bezug auf die Unzuverlässigkeit für Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen ab: After all, the character [= die Fokalisierungsinstanz] has not asked that her mind be entered or her conversation overheard by a narrator and reported to a narratee. She communicates only intradiegetically, with other characters in the story. She is normally not aware of being in a story monitored by a discourse. As long as she is a character and not the narrator of the main story or of a story-within-a-story, she does not purport to be giving an account of that story. She cannot misrepresent it, because she is not attempting to represent it; rather she is living it. So she can hardly be responsible to the narrative in the way that a narrator is. […] The milder characterization “fallible” – “liable to mistake or to error” – seems preferable to the stronger term “unreliable,” since it does not connote a knowledge of textual intention or the intent to deceive some narrate. (Hervorhebung im Original)
Eine weitere Differenz ergibt sich Chatman zufolge aus der Möglichkeit zur Entlarvung der Unzuverlässigkeit. Während bei unreliable narration die Ironie durch den impliziten Autor hinter dem Rücken des Erzählers verläuft, ist im Falle der fehlbaren Fokalisierungsinstanz der Erzähler der Sender der Ironie.41 Dadurch habe die Erzählinstanz die Möglichkeit, so Chatman (1990: 153), die Fehlbarkeit der fokalisierenden Figur jederzeit aufzudecken, während eine solche Auflösung im Falle des unzuverlässigen Erzählers dagegen ausgeschlossen sei: Though a character can be shown by the narrator to be fallible either explicitly or implicitly, a narrator can be unreliable only implicitly, since the narrator is the unique source of the story. The implied reader can only infer the real purport of an unreliably narrated story. In fallible filtration, on the other hand, there is always the possibility of an explication. The reliable narrator is free to explain and comment on the character’s misapprehensions, though in many cases she (“covertly”) elects to let them reveal themselves.
So einleuchtend diese Argumente auf den ersten Blick erscheinen, sind sie doch in ihrer Gedankenführung nicht zwingend. In Bezug auf die Sprecherrolle
41 Eine genauere Betrachtung der verschiedenen Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit findet sich in Kapitel III.
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und die rhetorischen Möglichkeiten sei gesagt, dass sowohl Chatman als auch Stanzel offensichtlich von der Prämisse ausgehen, dass jeder unzuverlässige Erzähler intentional falsch erzählt, um den fiktiven Adressaten zu manipulieren (vgl. Chatman 1990: 150). Dass dies jedoch nicht zwingend der Fall sein muss, wird von Olson (2003) eindrucksvoll gezeigt. Einer Erzählerfigur wie Huck Finn kann keine Absicht in Bezug auf ihre falschen Bewertungen unterstellt werden (Olson 2003: 101–103). Allrath (2005: 79) geht noch weiter und behauptet, dass Intentionalität die Ausnahme bei einem unzuverlässigen Erzähler darstelle. Auch wenn hier Olsons vermittelnder Position zuzustimmen ist, zeigt sich doch, dass die rhetorische Manipulation eines unzuverlässigen Erzählers lediglich eine potenzielle Größe, aber keine zwingende Voraussetzung darstellt. Auch der Hinweis auf die Differenzen in der ironischen Kommunikation, die sich aus den verschiedenen Erzählebenen ergeben, erscheint aus strukturalistischer Sicht einleuchtend, kann aus rezeptionstheoretischer Sicht aber relativiert werden. Für den Rezeptionsprozess ist es unerheblich, auf welcher narrativen Ebene sich die jeweilige Figur befindet (vgl. Nünning/Nünning 2007). Sowohl im Falle der Erzähl- als auch der Fokalisierungsinstanz muss der Rezipient eine Diskrepanz zwischen den Wertungen und Wahrnehmungen einer Figur vom Geschehen in der fiktionalen Welt und eigenen Schemata erkennen, um die Unzuverlässigkeit der Figur zu identifizieren (vgl. Nünning/Nünning 2007). Charakteristisch für diese Form der narrativen Unzuverlässigkeit ist daher – folgt man dem kognitiven Ansatz – das Auftreten von dramatischer Ironie, die aus einer „Diskrepanz zwischen den Wahrnehmungen, Informationsstand und Wertvorstellungen“ (Nünning/Nünning 2007: 66) des Erzählers bzw. der Fokalisierungsinstanz und denen des Lesers resultiert.42 Auch das Argument, dass die Unzuverlässigkeit eines Erzählers im Gegensatz zu einer Fokalisierungsinstanz immer implizit bleiben müsse, kann insofern hinterfragt werden, da sich Chatman ausschließlich auf monoperspektivisch erzählte Texte bezieht. In multiperspektivisch erzählten Werken mit wechselnden Erzählerfiguren ist es durchaus nicht ungewöhnlich, dass sich Erzählerfiguren gegenseitig korrigieren oder sich zumindest in Frage stellen (vgl. Suhrkamp 1998,
42 Genau diese vergleichbare Wirkung scheint Booth (1983 [1961]: 164) zu umschreiben, wenn er – ein wenig missverständlich – unzuverlässige Erzählinstanzen und Fokalisierungsinstanzen gleichsetzt: “We should remind ourselves that sustained inside view, or whatever depth, temporarily turns the character whose mind is shown into a narrator; inside views are thus subject to variations in all the qualities we have described above, and most importantly in the degree of unreliability.”
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2000, 2002, 2003; Menhard 2009). Man denke an so prominente Beispiele wie Nabokovs Roman Lolita (1955), in dem der fiktive Herausgeber John Ray, Jr. im Vorwort den Erzähler als „maniac“ deklariert und die nachfolgende Erzählung als Fallstudie für psychiatrische Lehrbücher ansieht, oder an Fowles Roman The Collector (1963), in dem auf die Schilderungen des Soziopathen Frederick Clegg die Tagebucheinträge seines Entführungsopfers Miranda Greys folgen, welche die Darstellungen und Bewertungen des „Sammlers“ in expliziter Weise hinterfragen und Cleggs Psyche zu ergründen versuchen. Insofern kann festgehalten werden, dass sich Erzähltexte mit Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen nicht so stark unterscheiden, wie es Chatmans und Stanzels Argumente zunächst nahelegen. Aus den genannten Gründen ist es daher nicht zwingend notwendig, die beiden narrativen Phänomene terminologisch zu trennen. Vielmehr ist das Konzept der Unzuverlässigkeit, wenn es ein Merkmal einer Figur bezeichnet, sowohl auf Erzähl- als auch auf Fokalisierungsinstanzen anwendbar. Insofern kann zwischen ironisch-unzuverlässigen Erzählern und ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanzen unterschieden werden. Eine eigene Terminologie für die fragwürdigen Wahrnehmungen und Bewertungen einer Fokalisierungsinstanz, wie Chatman oder Stanzel es vorschlagen, bedarf es nicht, da bereits durch die Distinktion „Erzählinstanz“ und „Fokalisierungsinstanz“ auf die narratologischen Differenzen hinreichend hingewiesen ist. Stattdessen können beide Fälle unter den Oberbegriff der ironischen Unzuverlässigkeit subsumiert werden.
1.3 „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal des narrativen Aktes: ambige Unzuverlässigkeit Im Gegensatz zu ironisch-unzuverlässigen Erzählern bzw. Fokalisierungsinstanzen bezeichnet Unzuverlässigkeit in Fällen wie The Turn of the Screw (1898) kein Merkmal eines kognitiven Zentrums, sondern stattdessen ein Merkmal des Diskurses, aus dem sich die Ambiguität bzgl. des kognitiven Zentrums ergibt. Um diesen Unterschied terminologisch zu manifestieren, soll diese Form als ambige Unzuverlässigkeit bezeichnet werden. Ambig-unzuverlässige Werke zeichnen sich durch verschiedene Merkmale aus. Zum einen ist „the existence of a central permanent gap and of mutually exclusive systems of clues designed to fill it in“ (Rimmon-Kenan 1977: 126) kennzeichnend für diese Form der Unzuverlässigkeit. Der narrative Diskurs ist aufgrund textueller Widersprüche und einer zentralen Leerstelle (im Gegensatz zu ironischer Unzuverlässigkeit) so gestaltet, dass der Leser zu höchst unterschiedlichen Interpretationen bzgl. des Geschehens in der erzählten Welt gelangen und keine der dargebotenen Versionen endgültig veri-
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fizieren kann. Zum anderen setzt ambige Unzuverlässigkeit – ähnlich wie ironische Unzuverlässigkeit – auch ein kognitives Zentrum voraus. Dabei ist es wie bei ironischer Unzuverlässigkeit aus rezeptionstheoretischer Sicht unerheblich, ob das kognitive Zentrum auf discourse-Ebene als homodiegetischer Erzähler oder als Fokalisierungsinstanz auf story-Ebene fungiert. So macht es keinen Unterschied, ob der Leser wie bei The Turn of the Screw nicht entscheiden kann, ob die homodiegetische Erzählerin das Geschehen richtig darstellt oder nicht, oder wie bei Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1967), ob die Fokalisierungsinstanz Oedipa Maas das Geschehen zuverlässig wahrnimmt oder nicht.43 Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, analog zu ironischer Unzuverlässigkeit zwischen ambig-unzuverlässigem Erzählen und ambig-unzuverlässiger Fokalisierung zu unterscheiden. Mithilfe der genannten Voraussetzungen – der Existenz von textuellen Widersprüchen, einer zentralen Leerstelle sowie eines kognitiven Zentrums – lässt sich das hier vorgeschlagene Konzept der ambigen Unzuverlässigkeit von anderen, ähnlichen Konzepten abgrenzen – nämlich Martinez‘/Scheffels Konzept des mimetisch-unentscheidbaren Erzählens sowie Rimmon-Kenans Konzept der ambiguous narration. Martinez/Scheffel (2007 [1999]: 103) verstehen unter „mimetisch unentscheidbarem Erzählen“ solche Texte, in denen der Leser keine kohärente erzählte Welt kreieren kann, „so daß der Eindruck der Unzuverlässigkeit hier nicht nur teilweise oder vorübergehend entsteht, sondern unaufgelöst bestehen bleibt und sich in einer Unentscheidbarkeit dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist, verwandelt“. Im Gegensatz zum hier vorgeschlagenen Konzept der ambigen Unzuverlässigkeit ist es bei mimetisch-unentscheidbarem Erzählen irrelevant, ob es ein kognitives Zentrum innerhalb eines Textes gibt oder nicht, wie ihr exemplarischer Rückgriff auf Alain Robbe-Grillets Die Blaue Villa von Hongkong (1965) nahelegt: Die erzählte Welt löst sich auf in eine Serie alternativer Versionen. […] Robbe-Grillets Erzähler verzichtet auf jegliches mentale Vokabular und beschränkt sich auf die Darstellung von sinnlich Wahrnehmbarem im neutralen Erzählmodus einer externen Fokalisierung, also ohne die Ereignisse durch das wahrnehmende Bewußtsein einer Figur zu filtern. (Martinez/ Scheffel 2007 [1999]: 103–104)
Im Gegensatz zu ambiger Unzuverlässigkeit, welche lediglich Fälle umfasst, in denen der Rezipient nicht entscheiden kann, ob das kognitive Zentrum die erzählte Wirklichkeit zuverlässig darstellt oder eben nicht, bezeichnet mimetisch-
43 Siehe dazu die vergleichenden Untersuchungen der Werke bei Brandt (2005) oder Serpell (2008).
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unentscheidbares Erzählen daher ganz allgemein Texte, in denen der Leser keine kohärente erzählte Welt rekonstruieren kann.44 Ein anderes Konzept, von dem ambige Unzuverlässigkeit abzugrenzen ist, stellt Rimmon-Kenans Konzept der ambiguous narration dar. Narrative Ambiguität definiert Rimmon-Kenan (1977: 10) als interpretatorisches Dilemma des Rezipienten, zwischen verschiedenen sich widersprechenden, jedoch ähnlich plausiblen Interpretationshypothesen zu wählen: When the two hypotheses are mutually exclusive, and yet each is equally coherent, equally consistent, equally plenary and convincing, so that we cannot choose between them, we are confronted with narrative ambiguity.
Rimmon-Kenans Konzept der ambiguous narration geht folglich noch weiter als das des mimetisch-unentscheidbaren Erzählens, da es neben experimentellen Texten wie Robbe-Grillets Die Blaue Villa von Hongkong auch extern-fokalisierte Texte einschließt, in denen der Leser eine kohärente erzählte Welt rekonstruieren kann, aber über einzelne Aspekte wie etwa die spezifischen Intentionen von Figuren im Unklaren gelassen wird. Auch hierbei ist die Ambiguität nicht an ein kognitives Zentrum wie einen homodiegetischen Erzähler oder eine Fokalisierungsinstanz gebunden.45 In Abgrenzung zu den genannten Konzepten hebt der
44 So scheint es problematisch, Texte wie James’ Turn of the Screw (1898) oder Nabokovs Pale Fire (1962), in denen die (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerfiguren in der Schwebe bleibt, mit Romanen wie Robbe-Grillets Die Blaue Villa in Hongkong (1965) zu vergleichen, in denen ein kognitives Zentrum fehlt und eine Pluralität von verschiedenen Weltentwürfen vorliegt, um den metanarrativen bzw. metafiktionalen Charakter des Werkes hervorzuheben. Insofern unterscheiden sich die Werke in der Rezeption erheblich von den zuvor genannten Beispielen und es ist zweifelhaft, ob diese unter den umbrella term der narrativen Unzuverlässigkeit zu subsumieren sind. Damit ist Zerweck (2001: 166–167) zuzustimmen, wenn er schreibt: “Radical metafictional texts […] cannot be naturalized by positing an unreliable narrator because […] they make no problematic claims about the narrated domains: they do not create an illusionist story world mediated by a homodiegetic narrator that readers then would have to bring into accord with their real-world models. Instead they foreground the production of the text and its inventiveness. […] If the act of narration and the inventedness of the whole project are radically foregrounded and the narrated itself plays a minor part within a novel, the question of narrative reliability – or unreliability – is hardly relevant in the process of naturalization. […] [R]adical postmodernist texts, for instance, Joyce’s Finnegan’s Wake (1939) or works by Alain Robbe-Grillet, avoid the necessary preconditions for unreliable narration and force readers to revert to other naturalizing strategies. Because such radical experimental writing refuses consistent story patterns, radically focuses on metafictionality, or otherwise deconstructs illusionist techniques of story telling and their effects, it arguably marks the ‘end’ of unreliable narration.” 45 Vgl. dazu auch Rimmon-Kenans hilfreiche Ausführungen zu Henry James’ „The Lesson of
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Terminus ambige Unzuverlässigkeit folglich hervor, dass die Ambiguität sich ausschließlich auf die (Un-)Zuverlässigkeit eines kognitiven Zentrums bezieht. Wie bei ironischer Unzuverlässigkeit kann man auch bei ambiger Unzuverlässigkeit differenzieren, ob sich die Ambiguität auf die (Un-)Zuverlässigkeit einer homodiegetischen Erzählerfigur (ambig-unzuverlässiges Erzählen) oder einer Fokalisierungsinstanz bezieht (ambig-unzuverlässige Fokalisierung).
1.4 „Unzuverlässigkeit“ als Merkmal des narrativen Aktes: Alterierte Unzuverlässigkeit Bezeichnet Unzuverlässigkeit ein Merkmal des narrativen Aktes, bei dem der Leser in die Irre geführt wird, stellt sich ebenfalls die Frage nach dem Anwendungsbereich: Wenn es keine Ironie zulasten der Erzählerfigur (wie im Falle von Roger Ackroyd) und – damit verbunden – keine implizite Selbstcharakterisierung des homodiegetischen Erzählers gibt, die „Unzuverlässigkeit“ vielmehr in einem irreführenden Diskurs begründet liegt, inwieweit ist das Konzept der Unzuverlässigkeit dann noch an eine homodiegetische Erzählerfigur gekoppelt? Kann der Anwendungsbereich dann nicht auch auf heterodiegetische Erzähler ausgeweitet werden? Natürlich bietet ein Rückbezug auf eine homodiegetische Erzählerfigur dem Rezipienten wie im Falle von The Murder of Roger Ackroyd (1926) die Möglichkeit, die psychologischen Motive der Erzählerfigur für den irreführenden Erzählvorgang zu rekonstruieren. So will Dr. Sheppard als Mörder unerkannt bleiben. Trotzdem scheint das Auslassen der narrativen Informationen ein primär dramaturgisches Mittel zu sein, das nicht zwangsläufig an eine personalisierbare Erzählerfigur gebunden ist. Ähnlich argumentiert auch Genette, der in einer kurzen Analyse der Erzählstrategie von Roger Ackroyd – die er als Paralipse bezeichnet – zu dem Ergebnis kommt, dass die Täuschung auch im Falle einer impersonalen, heterodiegetischen Erzählinstanz zu erzielen sei (vgl. Genette 1994 [1972]: 236–237).
the Master“ (1888): “‘The Lesson of the Master’ is told by an undramatized narrator, and its ambiguity turns on the motives behind St. George’s surprising action, not on the reliability of the narrator. ‘The Figure in the Carpet,’ on the other hand, is told in the first person by a dramatized narrator, but nevertheless the reliability questioned by the ambiguity is not that of the narrator, but that of Vereker and Corvick. It is in The Turn of the Screw that the reliability of the first-person narrator becomes a central issue. Take the governess as a reliable interpreter of events, and you have one story. Take her as an unreliable neurotic fabricator of non-existent ‘ghost of the mind’ and you are reading a diametrically opposed narrative.” (Rimmon-Kenan 1977: 119)
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Um dies zu belegen, soll ein Beispiel betrachtet werden, in dem der Rezipient von einer nicht personalisierbaren, heterodiegetischen Erzählinstanz in die Irre geführt wird. Dennis Lehanes Shutter Island (2003) schildert die Nachforschungen des fokalisierenden US-Marshalls Teddy Daniels in einer Psychiatrie für Schwerstkriminelle auf der titelgebenden Insel, in der eine Patientin auf rätselhafte Weise verschwindet. Im Laufe des Romans stößt der Ermittler auf immer neue Ungereimtheiten; so vermutet er, dass der Massenmörder Andrew Laeddis sich auf der Insel versteckt hält. Es stellt sich – zur Überraschung des Lesers – heraus, dass Teddy Daniels in Wirklichkeit der von ihm gesuchte Mörder Andrew Laeddis ist (Namen basieren auf einem Anagramm). Teddy/Andrew leidet aufgrund von verschiedenen traumatischen Erlebnissen, die ihn zum Mörder werden ließen, unter einer Persönlichkeitsstörung. Die Gründe, aus denen der Rezipient von der Auflösung überrascht wird, sind vielfältig: Der Rezipient wird durch eine geschickte Dramaturgie trotz vieler entgegenstehender Hinweise angehalten, falsche Inferenzen über das Geschehen in der erzählten Welt aufzustellen und einen falschen Handlungskonflikt zu konstruieren. Darüber hinaus – und dieses erscheint das zentrale Kriterium für die Überraschung des Rezipienten – werden zentrale narrative Informationen von der heterodiegetischen Erzählinstanz unterschlagen. In Lehanes Roman wird nicht erwähnt, dass sich Teddys Wahrnehmung nicht mit der Realität deckt, d. h., es wird nicht erwähnt, dass er in Wirklichkeit Patient in der Anstalt und der von ihm gesuchte Mörder ist. Insofern ähnelt der Erzähltext in seiner manipulativen Informationsvergabe Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd, der auch zentrale Informationen unterschlägt und den Rezipienten damit in die Irre führt, obwohl das Geschehen von einer nicht personalisierbaren, heterodiegetischen Erzählerinstanz wiedergegeben wird. Shutter Island dient gleichzeitig als geeignetes Beispiel, um Jahns (1998) und Ryans (1981) Annahme zu hinterfragen, ein heterodiegetischer Erzähler könne nicht unzuverlässig erzählen. Jahn und Ryan argumentieren, dass die Schilderungen eines heterodiegetischen Erzählers performative Kraft besitzen, weil diese die erzählte Welt konstituieren („world creating utterances“). Aus diesem Grund, so Jahn und Ryan, könne ein heterodiegetischer Erzähler nicht falsch erzählen, da es bei einem expliziten Widerspruch zwischen world creating utterances für den Rezipienten unmöglich sei, eine konsistente erzählte Welt zu konstruieren, die jedoch die Basis für ein Unzuverlässigkeitsurteil darstellt.46 Trotz dieser überzeugenden Argumentation erscheint die Gedankenführung nicht zwingend. Zunächst muss
46 Um den befremdlichen Effekt zu veranschaulichen, konstruiert Ryan (1981: 531) folgendes Beispiel: “Once upon a time there was a woman called Emily. One day she murdered her lover,
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bedacht werden, dass ein Leser eine erzählte Welt nicht ausschließlich aufgrund von Erzähleräußerungen (d. h. textuellen Daten) (re-)konstruiert, sondern auch aufgrund von aktivierten Wissensstrukturen. Es ist folglich nicht nur entscheidend für die Rekonstruktion einer fiktionalen Welt, welche Informationen ein Erzähler gibt, sondern es erscheint genauso bedeutsam, welche dieser zu geben unterlässt. Somit kann ein Erzähler auch dann „unzuverlässig“ erzählen, wenn er für die Rekonstruktion der erzählten Welt relevante Informationen unterschlägt (vgl. Köppe/ Kindt 2011: 85; Phelan 2004: 52; Vogt 2009: 43–48). Das irreführende Bild, das ein heterodiegetischer Erzähler von der fiktionalen Wirklichkeit vermittelt, muss also nicht zwangsläufig zu einem expliziten Widerspruch von world creating utterances führen. Insofern kann auch ein heterodiegetischer Erzähler falsch erzählen. In Abgrenzung zu den anderen Konzepten narrativer Unzuverlässigkeit soll dieser Fall als alteriert-unzuverlässig bezeichnet werden. Nach Genette ist Alteration „als momentane[r] Verstoß gegen den Code [= Art der Fokalisierung]“ zu verstehen, „der diesen Kontext beherrscht, ohne daß die Existenz des Codes in Frage gestellt würde“ (Genette 1994 [1972]: 138). Auch wenn der Begriff der alterierten Unzuverlässigkeit von Genettes Konzept insofern abweicht, dass er im Kontext dieser Arbeit sehr restriktiv gebraucht wird und darunter ausschließlich Verstöße gegen Erzählkonventionen durch zurückgehaltene oder falsche Informationen verstanden werden, scheint er sinnvoller als terminologische Alternativen wie „irreführende“ Unzuverlässigkeit – ein Begriff, den Stühring (2011) verwendet.47 Das Problem am Begriff der Irreführung ist die mitschwingende Implikation, jede Form der Täuschung – etwa in einem Kriminalroman – sei auf Unzuverlässigkeit zurückzuführen. Dem ist jedoch nicht so. Zentral für die Rezeption bei alteriertunzuverlässigen Werken scheinen zwei Aspekte, welche die Filmwissenschaftlerin Britta Hartman in Bezug auf plot twist movies herausgestellt hat. Zum einen betrifft dies die Erwartungshaltung des Rezipienten. Hartman (2005: 156) geht davon aus, dass der Rezipient die Auflösung nicht kommen sieht, da er diese (beispielsweise aufgrund von Gattungskonventionen) nicht erwarte: Es macht einen Unterschied, ob ich Kenntnis davon habe oder zumindest ahne (weil der Text entsprechende Hinweise sät), dass ich mich auf unsicherem Boden oder im Labyrinth bewege – Whodunits folgen solchen Vereinbarungen und regen zu rezeptiven Strategien des Ratens, spielerischen Ausprobierens und Sich-Vortastens an –, oder, ob es um eine Geschichte geht, die nicht diesen Spielregeln zu unterliegen scheint und meine Hypothesenbildung daher nicht in diesem Sinne herausfordert.
and she hid his body for thirty years under her bed. The previous declarations are either a lie or an error. Emily married her lover, and they lived happily ever after.” 47 Stühring (2011) spricht von „deceptive unreliability“.
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Ein weiteres Merkmal alterierter Unzuverlässigkeit ist, dass der plot twist (also die Auflösung, dass das zuvor Gelesene oder Gesehene neu bewertet werden muss) nicht nur einzelne Elemente der Handlung betrifft, „sondern nahezu alles, was wir gesehen, gehört und geglaubt verstanden zu haben, […] unversehens im neuen Licht“ (Hartmann 2007: 48) erscheint.
1.5 Zwischenfazit Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Aussage, dass ein Erzähltext „unzuverlässig“ ist, nichts über die Art der Unzuverlässigkeit aussagt. Aus diesem Grund ist es notwendig, verschiedene Unzuverlässigkeitskonzepte voneinander zu unterscheiden. Unzuverlässigkeit kann in einer ersten Bedeutung als ein Makel einer Erzähl- oder Fokalisierungsinstanz aufgefasst werden, der sich für den Rezipienten in einer zweifelhaften, unglaubwürdigen Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung der erzählten Wirklichkeit offenbart. Kennzeichnend für diese Form der Unzuverlässigkeit ist das Auftreten dramatischer Ironie, welche aus einem Wissensvorsprung des Rezipienten gegenüber der Erzähl- bzw. Fokalisierungsinstanz resultiert – einer Ironie zulasten der jeweiligen Figur, die das bzw. ein kognitive(s) Zentrum der Erzählung bildet. Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen Unzuverlässigkeit ein Merkmal des narrativen Diskurses bezeichnet, der zu einer Ambiguität bzgl. der Unzuverlässigkeit eines kognitiven Zentrums führt. Da der Leser aufgrund widerstreitender Indizien nicht entscheiden kann, ob er der Darstellung oder Bewertung der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz vertrauen kann, bleibt eine Unsicherheit bzgl. des Geschehens in der erzählten Welt sowie der Bewertung des kognitiven Zentrums. Kann man der Darstellung, Interpretation oder Bewertung der Erzähloder Fokalisierungsinstanz trauen oder nicht? Drittens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal im Erzählvorgang bezeichnen, welches den Leser in die Irre führt. Da die Unzuverlässigkeit in einem manipulativen Diskurs begründet liegt, also primär eine narrative Strategie ist, den Rezipienten zu täuschen, kann diese Art des unzuverlässigen Erzählens auch auf literarische Erzähltexte ausgeweitet werden, in denen keine personalisierbare Erzählerfigur auftritt. In einem solchen Fall der Unzuverlässigkeit hat der Rezipient gegenüber der Erzählinstanz kein überlegenes Wissen – somit fehlt es an einer Ironie zulasten der Erzählinstanz. Die folgende Tabelle fasst zentrale Merkmale der verschiedenen Konzepte der narrativen Unzuverlässigkeit noch einmal übersichtlich zusammen.
2 Typologien narrativer Unzuverlässigkeit
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Tab. 1: Typologie narrativer Unzuverlässigkeit Ironische Unzuverlässigkeit
Ambige Unzuverlässigkeit
Alterierte Unzuverlässigkeit
Unzuverlässig- – Merkmal eines keit kognitiven Zentrums
– Merkmal des Erzählvorgangs
– Merkmal des Erzählvorgangs
Anwendungsbereich
– Homodiegetischer Erzähler – Fokalisierungs instanz
– Homodiegetischer Erzähler – Fokalisierungsinstanz
– Homodiegetischer Erzähler – Heterodiegetische Erzählinstanz
Form des Erzählens
– Ironie zulasten der Erzählerfigur – Ironie zulasten der Fokalisierungs instanz
– Ambiguität bzgl. eines Defizits des kognitiven Zentrums
– Irreführung des Rezipienten
Rezeption
– Rezipient erkennt, – Rezipient misstraut/ – Rezipient vertraut dass die vom Erzähvertraut der Schildeder Schilderung ler dargebotene oder rung des Erzählers der Erzählinstanz, die von der Fokalisiebzw. misstraut/ wird von der Erzähl instanz enttäuscht rungsinstanz wahrvertraut der Wahr nehmung/Bewertung genommene erzählte Welt nicht der „fiktider Fokalisierungsinonalen Wirklichkeit“ stanz entspricht – Rezipient misstraut der Schilderung/ Bewert-ung des Erzählers bzw. misstraut der Wahrnehmung/Bewertung der Fokalisierungs instanz
– Rezipient misstraut/ – Rezipient vertraut vertraut der Schildeder Schilderung rung des Erzählers der Erzählinstanz, bzw. misstraut/ wird von der Erzähl instanz enttäuscht vertraut der Wahrnehmung/Bewertung der Fokalisierungsinstanz
2 Typologien narrativer Unzuverlässigkeit: Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit Nachdem mit ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit verschiedene Konzepte von unreliability unterschieden wurden, bedarf es einer weiteren Präzision der einzelnen Konzepte. Es sollte leicht ersichtlich sein, dass die naivunschuldige Erzählerfigur aus Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn
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(1884) schwerlich mit dem perversen, soziopathischen Erzähler aus „Dead as They Come“ (1978) gleichzusetzen ist, obwohl beide einen ironisch-unzuverlässigen Erzähler darstellen. Insofern sind weitere Kategorien notwendig, um die spezifischen Konzepte zu präzisieren. Dazu sollen in einem ersten Schritt bestehende Typologien der narrativen Unzuverlässigkeit vorgestellt und in Hinblick auf ihre Anwendbarkeit überprüft werden, bevor in einem zweiten Schritt verschiedene Kategorien zur Beschreibung der differenten Formen narrativer Unzuverlässigkeit dargelegt werden.
2.1 Typologien der narrativen Unzuverlässigkeit: eine kritische Bestandsaufnahme In der Literaturwissenschaft lassen sich drei dominante Arten der Kategorisierung narrativer Unzuverlässigkeit trennen: phänomenologische, rhetorische und narratologische Typologien. Während phänomenologische und rhetorische Typologien die Erzählerfigur in den Mittelpunkt stellen und als Differenzierungskriterien die psychische Disposition bzw. die Ursachen oder Motive der Erzählerfiguren anführen, differenzieren narratologische Typologien – losgelöst von anthropomorphen Erzählinstanzen – verschiedene Arten der narrativen Unzuverlässigkeit. Phänomenologische Typologisierungen tragen in ihrer Klassifikation dem Umstand Rechnung, dass Rezipienten fiktionaler Texte Erzählerfiguren nicht als bloße „paper beings“ wahrnehmen, sondern sie durch Übertragung von lebensweltlichen Persönlichkeitsmodellen wie ein menschliches Gegenüber betrachten (vgl. Grabes 1978; Schneider 2000; Zerweck 2001). Fludernik (2005), Jahn (1998) und Riggan (1981) unterscheiden daher unzuverlässige Erzähler nach sozialkognitiven Typen. Jahn (1998: 82) etwa kategorisiert unzuverlässige Erzähler als „Lügner, Heuchler, Angeber, Aufschneider, Täuscher, Getäuschte, Träumer, Naive, Engstirnige, Besessene, Unverbesserliche, Irre, Irrende, Verwirrte, Ignorante, Blender, Blinde, Verblendete, Neurotiker (usw.)“48. Der Versuch, die in Kapitel II.1.1 analysierten Werke nach diesen Typen voneinander abzugrenzen, führt zu einem paradoxen Ergebnis. So kann man den namenlosen Erzähler aus „Dead as They Come“ als „Irren“ oder „Besessenen“ und Dr. Sheppard aus Roger Ackroyd als „Lügner“ klassifizieren, der heterodiegetische Erzähler aus Shutter Island wird dagegen nicht von der Typologie erfasst, da ihm kein menschliches
48 Kritik an einer solchen Typologie findet sich etwa bei Marcus (2008: 78, Anm. 10), der bemängelt, dass eine solche Typologisierung Prototypen benennt, die es in den wenigsten Fällen in solch reiner Ausprägung gebe.
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Bewusstsein zugeschrieben werden kann. Obwohl sich die narrativen Strategien in „Dead as They Come“ auf der einen Seite sowie Roger Ackroyd und Shutter Island auf der anderen Seite grundlegend unterscheiden, suggeriert eine solche Typologie stattdessen eine Ähnlichkeit von McEwans und Christies Werken. Auch bei ambig-unzuverlässigen Erzähltexten ist eine solche Typologisierung nicht möglich, da sich die Erzählerfigur aufgrund der Ambiguität einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. So ist etwa die Frage, ob die Erzählerin aus The Turn of the Screw als „Irre“ kategorisiert werden kann, nicht eindeutig zu beantworten. Eine rhetorische Typologie unterscheidet Erzählertypen auf der Basis der Intentionalität der fragwürdigen Darstellung: Während fehlbare Erzähler („fallible narrators“) unabsichtlich verzerrt oder falsch erzählen, beruhen die Täuschungen und Manipulationen eines unglaubwürdigen Erzählers („untrustworthy narrator“) auf Intentionalität (vgl. Olson 2003: 101–104). Allerdings kann auch eine solche Typologie nicht zwischen den in dieser Arbeit vorgestellten Konzepten der narrativen Unzuverlässigkeit unterscheiden. So erzählt etwa der unglaubwürdige Erzähler aus Edgar Allan Poes „The Tell-Tale Heart“ (1843) genauso intentional falsch wie der Erzähler aus The Murder of Roger Ackroyd (1926). Während in Poes Kurzgeschichte die Glaubwürdigkeit des Erzählers bereits implizit im ersten Satz der Geschichte in Frage gestellt wird49 und seine weiteren Schilderungen ihn unfreiwillig als „verrückt“ entlarven, findet sich in Christies Werk – wie oben dargelegt – eine andere Art von Unzuverlässigkeit. Insofern scheint auch ein Rückgriff auf Ursachen und Motive kein hinreichendes Differenzierungskriterium. In ambigunzuverlässig erzählten Texten ist diese Frage nicht zu beantworten, da offenbleibt, ob der Darstellung einer Erzählerfigur geglaubt werden kann oder nicht. Darüber hinaus basieren weitere Typologien auf narratologischen Aspekten.50 Oftmals wird zwischen normativer und faktischer Unzuverlässigkeit differenziert (vgl. Nünning 1998: 11–12).51 Während der Erzähler im Falle normativer Unzuverlässigkeit das Geschehen auf adäquate Weise schildert, erscheinen seine ethischmoralischen Bewertungen und Interpretationen des Geschehens fragwürdig. So berichtet etwa der homodiegetische Erzähler in Ambrose Bierces „Oil of Dog“ (1911) freimütig von den Praktiken seiner Eltern, aus abgetriebenen Babys und ermordeten Nachbarn Öle zu gewinnen, ohne etwas moralisch Verwerfliches daran zu
49 “TRUE! ―nervous―very, very dreadfully nervous I had been and am; but why will you say that I am mad?” (Poe 2004 [1843): 317) 50 In der folgenden Übersicht wird auf Hansens (2007) kognitiv-narratologische Typologie verzichtet. Eine Kritik an Hansen Typologie findet sich bei Shen (2013). 51 Obwohl sich seine Definition von unreliable narration ausschließlich auf normative Aspekte bezieht, interessiert sich Booth in seinen Analysen primär dafür, inwieweit der Erzähler die erzählte Wirklichkeit adäquat wiedergibt (vgl. dazu Nünning 1998: 11).
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finden.52 Davon abzugrenzen sind Fälle faktischer Unzuverlässigkeit, bei denen die Darstellung der erzählten Welt fragwürdig erscheint.53 James Phelan und Patricia Martin (1999) differenzieren die Arten der narrativen Unzuverlässigkeit noch weiter und beziehen die Leserperspektive mit ein. Sie entwerfen drei Achsen, auf denen der Erzähler unzuverlässig sein kann: eine faktuale Achse („unreliable reporting“), eine ideologische Achse („unreliable evaluating“) und eine interpretative Achse („unreliable reading“). Weiter differenzieren sie danach, wie sich die verschiedenen Arten des unzuverlässigen Erzählens auf das Leseverhalten auswirken. Entweder stellt der Erzähler etwas falsch dar („misreporting“, „misregarding“, „misreading“), so dass der Leser eine andere Sichtweise des Geschehens konstruieren muss, oder der Erzähler stellt etwas ungenügend dar, so dass der Rezipient die gegebenen Informationen ergänzen muss, um ein adäquates Bild der narrativen Wirklichkeit zu erlangen (im Falle von „underreporting“, „underregarding“, „underreading“). Allerdings ist fraglich, inwieweit eine solch detaillierte Differenzierung wirklich gewinnbringend ist. So ist von verschiedenen Seiten zu Recht kritisiert wurden, dass die ideologische und die interpretative Achse kaum voneinander zu trennen sind (vgl. Allrath 2005: 83; Petterson 2005: 85). Daher erscheint es ausreichend, zwischen normativer und faktualer Unzuverlässigkeit zu unterscheiden. So sinnvoll und detailliert eine solche narratologische Typologie nach Arten der narrativen Unzuverlässigkeit ist, so offenbart sie bei genauerem Hinsehen eine ähnliche Problematik, wie die oben vorgestellte, da auch sie die verschiedenen Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit nicht in hinreichendem Maße differenziert. So können beispielsweise sowohl „Dead as They Come“ als auch Roger Ackroyd als Fälle faktualer Unzuverlässigkeit klassifiziert werden, ohne jedoch die zentralen Unterschiede – also Ironie zulasten der Erzählinstanz sowie Irreführung des Rezipienten – typologisch zu reflektieren. Die einzigen Arbeiten, die diese Unterschiede in ihren Typologien zum Ausdruck bringen, haben mit konzeptionellen Problemen zu kämpfen. James Phelan (2004: 52) thematisiert beim Typus des misreporting diese zwei Möglichkeiten, indem er einräumt, dass die falsche oder manipulative Informationsvergabe dazu führen kann, dass der Rezipient ein falsches Bild der erzählten Wirklichkeit kreiert.54 Inwieweit diese Phänomene jedoch zu trennen sind, lässt auch er offen.
52 Die Terminologie gestaltet sich für diesen Fall der narrativen Unzuverlässigkeit als wenig einheitlich: So verwendet Cohn (2000: 307) für einen solchen Fall den Terminus diskordantes Erzählen („discordant narration“), während Kindt (2008: 49) von „axiologischer Unzuverlässigkeit“ spricht und Martinez/Scheffel (2007: 101) von „theoretisch unzuverlässigem Erzählen“ berichten. 53 Cohn (2000: 49), Kindt (2008a: 49) und Martinez/Scheffel (2007 [1999]: 102) sprechen von „mimetischer“ Unzuverlässigkeit. 54 Interessanterweise subsumiert Phelan (2004: 52) den Fall unterschlagener Information unter
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Auch Martinez’/Scheffels (2007: 108) Typologie theoretisch-unzuverlässigen, mimetisch-unzuverlässigen und mimetisch-unentscheidbaren Erzählens, die auf den ersten Blick an die in dieser Arbeit getroffene Kategorisierung erinnern mag, hat mit verschiedenen theoretischen Hindernissen zu kämpfen. Während theoretisch-unzuverlässiges Erzählen Fälle bezeichnet, in denen eine Erzählerfigur ein Geschehen falsch bewertet, begreifen die Autoren unter dem Typus des „mimetisch teilweise unzuverlässigen Erzählen[s]“ solche Fälle, in denen eine Erzählinstanz entweder ein falsches oder ein irreführendes Bild von der erzählten Wirklichkeit vermittelt. „Mimetisch unentscheidbares Erzählen“ dagegen bezeichnet Fälle, in denen der Rezipient kein kohärentes Bild von der erzählten Welt konstruieren kann. Problematisch an Martinez’/Scheffels Theorie ist, dass unzuverlässiges Erzählen (mitsamt den von ihnen unterschiedenen Typen) als Form des ironischen Erzählens begriffen wird. Wie in dieser Arbeit bereits gezeigt wurde, findet sich Ironie zulasten einer Erzählerfigur allerdings nicht in jeder Form narrativer Unzuverlässigkeit. Die Autoren können nicht erklären, wie „mimetisch teilweise unzuverlässiges Erzählen“ und „mimetisch unentscheidbares Erzählen“ mit Bezug auf eine ironische Kommunikation erklärt werden können.55 Nach dieser Übersicht bestehender Typologien narrativer Unzuverlässigkeit soll im Folgenden überlegt werden, inwieweit diese sich als hilfreich erweisen, um ironisch-unzuverlässige, ambig-unzuverlässige und alteriert-unzuverlässige Werke genauer zu unterscheiden.
2.2 Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ironischunzuverlässiger Werke Nachdem der Anwendungsbereich des Konzepts von ironischer Unzuverlässigkeit bereits in Kapitel II.1.2 bestimmt wurde, bedarf es nun der systematischen Formulierung von Kategorien, um die Komplexität ironisch-unzuverlässiger Erzähl-
misreporting und nicht unter underreporting, wie zunächst intuitiv angenommen werden könnte: “Elliptical narration can of course be unreliable, as for example, when the narrator deliberately guides the narrate to fill in the gap inaccurately; in this case, the elliptical narration would fall under the rubric of misreporting.” 55 Andere Probleme bei Martinez’/Scheffels Typologie ähneln den zuvor geschilderten: Während „mimetisch teilweise unzuverlässiges Erzählen“ Fälle umfasst, in denen ein Erzähler etwas falsch erzählt oder den Rezipienten täuscht, können sich dahinter unterschiedliche Rezeptionen verbergen. Während die Erzählerfiguren in „Dead as They Come“ und Roger Ackroyd beide als mimetisch teilweise unzuverlässig kategorisiert werden können, gibt es im ersten Fall eine Ironie zu Lasten der Erzählerfigur, im zweiten Fall eine Irreführung des Rezipienten.
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texte zu erfassen. Das wichtigste Differenzierungskriterium betrifft zunächst die Frage, auf welcher Ebene oder welchen Ebenen die Unzuverlässigkeit angesiedelt ist. Befindet sie sich auf der Ebene des discourse oder auf der Ebene der story? Bezeichnet Unzuverlässigkeit also ein Merkmal einer Erzähl- oder einer Fokalisierungsinstanz?56 Auch wenn sich eine eindeutige Bestimmung im individuellen Text als problematisch gestalten kann,57 ist eine Differenzierung schon deshalb notwendig, da sich die Kriterien zur Bestimmung ironisch-unzuverlässiger Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen teilweise voneinander unterscheiden (s. u.). Ein weiteres zentrales Differenzierungskriterium ist die Art der Unzuverlässigkeit: Betrifft die Unzuverlässigkeit normative oder faktuale Aspekte? Darüber hinaus erscheint es weiterhin sinnvoll, eine phänomenologische Kategorisierung vorzunehmen, um die ironisch-unzuverlässigen Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen in sozio-kognitive Typen wie Naive, Verblendete, Blender, Täuscher, Getäuschte etc. einzuteilen. Nicht minder wichtig für die Analyse ironisch-unzuverlässiger Erzähltexte ist die Statik bzw. Dynamik der narrativen Unzuverlässigkeit im Verlauf einer Erzählung. So können sich die Bewertungen oder die Wahrnehmung des Geschehens durch den Erzähler bzw. die Fokalisierungsinstanz im Laufe einer Erzählung wandeln und damit eine Entwicklung der entsprechenden Figur dokumentieren (vgl. Jahn 1998: 85; Wall 1994: 171). Stevens, der Erzähler aus Ishiguros The Remains of the Day (1989), kommt demnach am Ende des Romans (zumindest teilweise) zu der bitteren Erkenntnis, dass sein Leben nicht so würdevoll verlaufen ist, wie er gehofft hatte. Ebenso durchschaut die fokalisierende Protagonistin aus James’ What Maisie Knew (1897) mit zunehmendem Alter die perfiden Machtspiele ihrer Eltern und legt ihre kindliche Naivität im Zuge dieses Reifungsprozesses ab. Figuren wie der fokalisierende Protagonist Lyon aus James’ „The Liar“ (1889) dagegen verweigern sich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem
56 Häufig kommt es bei homodiegetischen Erzähltexten vor, dass die Erzählerfigur (das erzählende Ich) und die Fokalisierungsinstanz (das erlebende Ich) ironisch-unzuverlässig sind. In diesem Fall findet sich die Unzuverlässigkeit auf story- und discourse-Ebene. 57 Besondere Schwierigkeiten erwachsen bei theoretischen Grauzonen wie bei der Abgrenzung zwischen homodiegetischen Erzähltexten und innerem Monolog, die Dorrit Cohn als semi-narrative terrain bezeichnet (vgl. Cohn 1978: 173–216). Wie problematisch die Unterscheidung im Einzelfall sein kann, verdeutlichen divergierende Klassifizierungen von Benjy aus Faulkners The Sound and the Fury (1929). Während Chatman (1993 [1978]: 233) und Fludernik (2005: 41) ihn als (ironisch-)unzuverlässigen Erzähler deklarieren, betrachten Stanzel (2002 [1979]: 203) und Jahn (1998: 94) ihn als eine (ironisch-)unzuverlässige Fokalisierungsinstanz.
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Geschehenen und den eigenen Werten und bleiben im gleichen, d. h. statischen Maße unzuverlässig. Ein weiteres Unterscheidungskriterium betrifft die Frage der expliziten Korrektivinformationen: Konfrontiert der Text eine ironisch-unzuverlässige Erzähloder Fokalisierungsinstanz mit einer expliziten Erzählinstanz, welche die Unzuverlässigkeit der jeweiligen Figur thematisiert, kommentiert bzw. reflektiert, oder ist der Rezipient bei der Bewertung der Unzuverlässigkeit auf sich allein gestellt? So kommentiert die homodiegetische Erzählerfigur in Dickens’ David Copperfield (1849/50) oder der heterodiegetische Erzähler aus Austens Emma (1815) die falschen bzw. fragwürdigen Ansichten bzw. Bewertungen der Fokalisierungsinstanzen, während die verdeckte Erzählinstanz die Unzuverlässigkeit des fokalisierenden Stephen Dedalus aus Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) nicht korrigiert. Bislang wurde ausschließlich auf die Gemeinsamkeiten ironisch-unzuverlässiger Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen eingegangen. Es erscheint notwendig, den von Chatman und Stanzel herausgestellten Unterschieden Rechnung zu tragen (vgl. Kap. II.1.2). Da Erzähler sich im Gegensatz zu Fokalisierungsinstanzen in einer sprachlichen Kommunikationssituation befinden und sich dieser bewusst sind, können die Erzähler versuchen, den fiktionalen Adressaten mit rhetorischen Mitteln von ihrer spezifischen Sichtweise zu überzeugen (vgl. Chatman 1990: 150). Dieser Unterschied muss sich notwendigerweise in den Beschreibungskriterien niederschlagen. Aus diesem Grund ist das Kriterium der Intentionalität für eine Kategorisierung eines ironisch-unzuverlässigen Erzählers einzubeziehen. Ist sich der Erzähler der Unzuverlässigkeit seiner Schilderungen bewusst wie Humbert Humbert aus Lolita (1955) und versucht infolgedessen, auf den fiktiven Adressateneinzuwirken, oder erkennt der Erzähler seine eigene Fehlbarkeit gar nicht wie Boffer Bings, der Erzähler aus Bierces Kurzgeschichte „Oil of Dog“ (1911)? Ein weiteres Differenzierungskriterium für Erzähler, welches seiner Sprecherrolle Rechnung trägt, ist die Beanspruchung oder Infragestellung der eigenen Autorität. Das hier vorgeschlagene Konzept narrativer Autorität orientiert sich an Susan Sniader Lansers Konzept der mimetischen Autorität. Diese wird von Sniader Lanser als ein spezifischer Status definiert, den der Leser dem Erzähler in Bezug auf Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz zuschreibt (Sniader Lanser 1981: 170–171). Faktoren wie Geschlecht, Rasse, Alter und auch narratologische Kategorien wie die Art der Erzählinstanz sind Determinanten für die Zuschreibung des Rezipienten.58 Analog dazu erscheint es notwendig, auch
58 Siehe in Bezug auf den Zusammenhang zwischen der sozialen Identität einer homodiegetischen Erzählerfigur und ihrer (mimetischen) Autorität (Sniader Lanser 1981: 165–174).
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die narrative Thematisierung mimetischer Autorität als Unterscheidungskriterium für ironisch-unzuverlässige Erzähler heranzuziehen – diese soll als narrative Autorität bezeichnet werden. So beschreibt Christopher Boone, der autistische Erzähler aus Mark Haddons The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (2003), zu Beginn des Romans seine Defizite, menschliche Emotionen zu erkennen und nachzuvollziehen (Haddon 2003: 2–3), womit er die eigene narrative Autorität in Bezug auf seine Evaluationen in Frage stellt und dem Leser gleichzeitig eine Gebrauchsanweisung an die Hand gibt, wie er die Wertungen im weiteren Verlauf der Geschichte einzuordnen hat. Der konträre Fall findet sich etwa in Poes Kurzgeschichte „The Tell-Tale Heart“ (1843), in welcher der schizophrene Erzähler sein fiktionales Gegenüber davon überzeugen will, dass er nicht verrückt ist. Der Erzähler beansprucht somit eine narrative Autorität in Bezug auf die Darstellung des Geschehens für sich, welcher er für den Leser jedoch nicht gerecht wird. Das folgende Modell gibt einen zusammenfassenden Überblick über die wichtigsten Parameter zur Analyse ironisch-unzuverlässiger Erzähltexte. Die Kategorien ermöglichen eine differenzierte Betrachtungsweise und erlauben so ein genaueres Beschreibungsmodell für die Analyse verschiedener Grundtypen ironisch-unzuverlässigen Erzählens. Tab. 2: Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ironisch-unzuverlässiger Werke Ebene der Unzuverlässigkeit
– discourse-Ebene (Ironie zulasten des homodiegetischen Erzählers = ironisch-unzuverlässiges Erzählen)
– story-Ebene (Ironie zulasten der Fokalisierungsinstanz = ironisch-unzuverlässige Fokalisierung)
Art der Unzuverlässigkeit (Diskrepanzen in Bezug auf …)
– Faktuale – Darstellung des Geschehens
– Evaluative/Normative – Bewertung des Geschehens
Unzuverlässigkeit im Verlauf der Erzählung
– Statisch (unterliegt keinem Wandel)
– Dynamisch (unterliegt einem Wandel)
Sozio-kognitiver Typ
– Lügner, Träumer, Naive, Besessene, Verrückte …
Techniken der erzählerischen – Explizite Korrektivinforma- – Fehlen von expliziten KorVermittlung tionen durch eine Erzählrektivinformationen durch instanz eine Erzählinstanz Erzählinstanz: Grad der Intentionalität
– Intentional
– Nicht-intentional
Erzählinstanz: Narrative Autorität
– Beanspruchung narrativer Autorität
– Infragestellung narrativer Autorität
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2.3 Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ambig-unzuverlässiger Werke Aufgrund der Nähe zum ironisch-unzuverlässigen Erzählen können für den zweiten Typus narrativer Unzuverlässigkeit viele der Kategorien übernommen werden. Da allerdings die Ambiguität ein Merkmal des Diskurses bezeichnet, in dem nicht abschließend aufgelöst wird, ob die Schilderungen oder Bewertungen des Erzählers oder einer Fokalisierungsinstanz zutreffen, können die Kategorien nicht identisch sein. Ambig-unzuverlässig erzählte Texte können danach unterschieden werden, ob das kognitive Zentrum, dessen (Un-)Zuverlässigkeit ambig bleibt, auf discourse-Ebene als Erzähler oder auf story-Ebene als Fokalisierungsinstanz angesiedelt ist, ob also ambig-unzuverlässiges Erzählen und/oder ambig-unzuverlässige Fokalisierung vorliegt. Während etwa in Nabokovs Lolita (1955) oder Fords The Good Soldier (1915) ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanzen (das erlebende Ich) auftreten, bleibt in den Werken unklar, ob die homodiegetischen Erzählinstanzen (das erzählende Ich) tatsächlich gereift sind und das Geschehen adäquat bewerten bzw. darstellen. Im Fall von Henry James’ Daisy Miller (1878) oder Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1967) kann der Rezipient dagegen nicht entscheiden, ob die fokalisierenden Protagonisten das Geschehen richtig wahrnehmen bzw. es adäquat bewerten. In anderen Fällen wie etwa Lionel Shrivers We Need to Talk about Kevin (2003) ist nicht entscheidbar, ob die Erzählinstanz (das erzählende Ich) und die interne Fokalisierungsinstanz (das erlebende Ich) das Geschehen richtig bewerten. Hier bilden das erzählende Ich und das erlebende Ich eine Einheit in der Wahrnehmung und Bewertung der erzählten Welt.59 Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob sich die Ambiguität bzgl. des kognitiven Zentrums auf die Darstellung des Geschehens in der erzählten Welt (i. S. einer faktualen Unzuverlässigkeit) oder auf die Bewertung/Interpretation dieser bezieht (i. S. einer normativen Unzuverlässigkeit). In James’ The Turn of the Screw (1898), Ishiguros A Pale View of Hills (1982), Shiels The Purple Cloud (1901) oder Nabokovs Pale Fire (1962) kann der Rezipient nicht eindeutig bestimmen, ob sich die Darstellungen der Erzählerfiguren mit dem Geschehen in der erzählten Welt decken oder ob es sich dabei um Fantasien der Erzählerfigur handelt. In anderen Fällen – wie etwa Nabokovs Lolita (1955) oder Schrivers We Need to Talk about
59 Ähnliches gilt auch für die seltenen Fälle des ambig-unzuverlässigen Erzählens beim simultanen Erzählen, bei denen Erzähl- und Fokalisierungsinstanz in Personalunion wie in Ellis’ American Psycho (1991) auftreten.
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Kevin (2003) – kann der Rezipient das Geschehen zwar rekonstruieren, allerdings bleibt unentscheidbar, ob die Bewertungen und Interpretationen des Geschehens (und damit verbunden die Bewertung der eigenen Rolle) durch die Erzählerfigur zutreffend sind oder nicht. Damit verbunden bleibt auch die Frage offen, ob sie ironisch-unzuverlässig ist oder nicht. Ein weiteres Unterscheidungskriterium für ambig-unzuverlässige Erzähltexte stellt das Ausmaß der narrativen Strategie im jeweiligen Werk dar. Handelt es sich beim ambig-unzuverlässigen Erzählen um eine globale Strategie, die sich auf die Interpretation eines gesamten Werkes auswirkt wie in The Turn of the Screw? Oder stellt es eine lokale Strategie dar, die sich nur auf einzelne Passagen des Werkes auswirkt? Ein Beispiel für ambig-unzuverlässiges Erzählen als lokale Strategie findet sich in Ambrose Bierces Kurzgeschichte „The Famous Gilson Bequest“ (1893), in der sich die Ambiguität bzgl. der Zuverlässigkeit der Fokalisierungsinstanz nur auf das Ende der Geschichte beschränkt. Dort erblickt der fokalisierende Protagonist einen Geist und stirbt. Ob die Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz allerdings richtig war, lässt sogar die heterodiegetische Erzählinstanz offen.60 Der Grad der Selbstreflexivität stellt für die Untersuchung von ambig-unzuverlässigem Erzählen eine weitere wichtige Kategorie dar: Wie stark problematisiert ein Text explizit die Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit des kognitiven Zentrums? So entwickelt Oedipa Maas in The Crying of Lot 49 zunehmend Zweifel an den eigenen Wahrnehmungen und Interpretationen, während Eva – die Erzählerin in We Need to Talk about Kevin – mögliche Fehler in ihrer Wahrnehmung nicht reflektiert.
60 “Perhaps it was a phantasm of a disordered mind in a fevered body. Perhaps it was a solemn farce enacted by pranking existences that throng the shadows lying along the border of another world. God knows: to us is permitted only the knowledge that when the sun of another day touched with a grace of gold the ruined cemetery of Mammon Hill his kindliest beam fell upon the white, still face of Henry Brentshaw, dead among the dead.” (Bierce 1984 [1893]: 242– 243)
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Tab. 3: Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung ambig-unzuverlässiger Werke Ambiguität bzgl. der (Un-) Zuverlässigkeit der
– homodiegetischen Erzählerfigur (ambig-unzuverlässiges Erzählen)
Ambiguität bzgl. der
– Darstellung/Wahrnehmung – Bewertung des Geschedes Geschehens durch das hens durch das kognitive kognitive Zentrum Zentrum
Umfang des ambig-unzuverlässigen Erzählens
– Lokale Strategie
– Globale Strategie
Grad der Selbstreflexivität
– Hoch
Niedrig
↔
– Fokalisierungsinstanz (ambig-unzuverlässige Fokalisierung)
2.4 Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung alteriert-unzuverlässiger Werke Nachdem der Anwendungsbereich des Konzepts des alterierten Erzählens bereits in Kapitel II.1.4 bestimmt wurde, werden auch für diesen Typus im Folgenden Beschreibungskategorien für alteriert-unzuverlässige Erzähltexte formuliert. Zunächst erscheint es sinnvoll, zu bestimmen, ob die Erzählinstanz homodiegetisch oder heterodiegetisch ist. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als dass im Falle eines homodiegetischen Erzählers die Ursachen für die falsche Repräsentation der diegetischen Welt vielfältig sein können. So ist zu unterscheiden, ob die Erzählerfigur entweder intentional einen Adressaten in die Irre führen will (z. B. Dr. Sheppard im Falle von The Murder of Roger Ackroyd [1926]) oder ob sie unwissentlich, etwa aufgrund der psychischen Konstitution (z. B. Adam in Robert Cormiers I am the Cheese [1977]) das Geschehen in der erzählten Welt irreführend wiedergibt.61 Ein weiteres Differenzierungskriterium, das ausschließlich auf homodiegetisch erzählte Texte anwendbar ist, ist die Art und Weise der Irreführung auf discourse-Ebene.62 So ist zu unterscheiden, ob eine homodiegetische Erzählinstanz
61 An dieser Stelle lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen ironischer und alterierter Unzuverlässigkeit erkennen. Entscheidend für alteriert-unzuverlässige Werke wie Cormiers I am the Cheese ist jedoch, dass der Leser durch die zurückgehaltene Information sein Bild vom Geschehen in der erzählten Welt und des kognitiven Zentrums revidieren muss. 62 Wie bereits festgestellt, kann ein heterodiegetischer Erzähler die erzählte Welt nicht falsch schildern, da es dem Rezipienten im Falle eines Widerspruchs von world-creating utterances nicht möglich ist, eine kohärente erzählte Welt zu konstruieren.
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die Geschehnisse in der diegetischen Welt falsch schildert oder ob sie für die Konstituierung der erzählten Welt zentrale Informationen unterschlägt.63 Während Adam in I am the Cheese (1977) von einer Fahrradreise durch mehrere Kleinstädte berichtet, die – wie sich am Ende des Romans auflöst – lediglich auf dem Gelände der psychiatrischen Anstalt stattfindet, unterlässt es der Erzähler Michael Rogers in Agatha Christies Endless Night (1967), den Mord an seiner Frau zu schildern. Im ersten Fall stellt der Erzähler die erzählte Welt explizit falsch dar, während der Erzähler im zweiten Fall die Morde und das Treffen mit einer anderen Figur, die als Komplizin seiner Morde fungiert, verschweigt. Alteriert-unzuverlässiges Erzählen kann den Leser in Bezug auf verschiedene Aspekte der story- oder der discourse-Ebene in die Irre führen. Für die Analyse alteriert-unzuverlässigen Erzählens bedeutsam ist außerdem die Frage, welche Aspekte der erzählten Welt auf story-Ebene von der inadäquaten Darstellung betroffen sind. Da eine erzählte Welt als Ablauf verschiedener Zustände in einem zeitlichen System verstanden werden kann (vgl. Ryan 1991: 113), erscheint es sinnvoll, zwischen Täuschungen über die Konstitution der erzählten Welt und Täuschungen über spezifische Ereignisse innerhalb der erzählten Welt zu differenzieren, obwohl sich diese Kategorien häufig bedingen. Im Falle der Täuschung über die Konstitution der diegetischen Welt kann differenziert werden, ob der Rezipient über deren ontologischen Status64 oder lediglich über einzelne Komponenten der erzählten Welt getäuscht wird. In Laura Kasischkes The Life Before Her Eyes (2002) erfährt der Rezipient am Ende, dass Dianas Leben als Ehefrau lediglich ein Wunschtraum der sterbenden Protagonistin ist. Im Falle von Chuck Palahniuks Fight Club (1996)
63 Eine ähnliche Unterscheidung trifft Hartmann (2007: 44), wenn sie bei filmischen Erzählungen zwischen semantischer Lüge und pragmatischer Lüge unterscheidet. So sinnvoll diese Unterscheidung ist, so irreführend scheint die Terminologie aus zweierlei Gründen: zum einen impliziert der Begriff „Lügen“ eine Intention des Sprechers, die – wie dargelegt – bei homodiegetischen Erzählerfiguren nicht in jedem Fall vorliegt. Darüber hinaus erscheint eine solche Begriffsverwendung auch in den Fällen problematisch, in denen heterodiegetische Erzählinstanzen zentrale Informationen für die Rekonstruktion der erzählten Welt unterschlagen. Als Beispiel sei „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ angeführt: In Bierces Kurzgeschichte verschweigt die heterodiegetische Erzählinstanz bis zur überraschenden Auflösung die Tatsache, dass die Flucht von Farquhar nur imaginiert war. Da der Protagonist dieser Illusion erlegen ist, erscheint es problematisch, von einer pragmatischen Lüge zu sprechen, da die Erzählinstanz die falsche Wahrnehmung des Protagonisten wahrheitsgetreu wiedergibt. 64 Brian McHale (1987: 115–116) bezeichnet einen solchen Fall als trompe-l’œil: “Postmodernist texts […] tend to encourage trompe-l’œil, deliberately misleading the reader into regarding an embedded, secondary world as the primary, diegetic world. Typically, such deliberate ‘mystification’ is followed by ‘demystification,’ in which the true ontological status of the supposed ‘reality’ is revealed and the entire ontological structure of the text consequently laid bare.”
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dagegen betrifft die Irreführung lediglich die physische Existenz von Tyler Durden in der erzählten Welt. Bei der Täuschung über Ereignisse in der erzählten Welt ist zwischen der Irreführung über den Konflikt und der Irreführung über den Ausgang des Konflikts zu unterscheiden. In Endless Night (1967) etwa nimmt der Rezipient an, der Erzähler und seine Frau werden von einem Unbekannten bedroht, während die Gefahr in Wirklichkeit ausschließlich von der schizophrenen Erzählerfigur ausgeht. Davon zu unterscheiden sind Fälle, in denen der Leser zwar den zentralen Konflikt in der erzählten Welt richtig erfasst, aber eine falsche Hypothese über den Ausgang aufstellt. Bei der Lektüre von „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890) etwa geht der Rezipient zu Recht von der lebensbedrohlichen Lage des Protagonisten aus, nimmt dann jedoch bis zum Ende der Geschichte fälschlicherweise an, der Protagonist sei dem Tod am Strick entkommen. Auch in Bezug auf Aspekte der discourse-Ebene kann der Rezipient auf mannigfaltige Weise getäuscht werden, die es zu unterscheiden gilt. So kann der Rezipient über die Art der Erzählinstanz, die Identität der Erzählerfigur oder die Kommunikationssituation getäuscht werden. In Nabokovs Pnin (1957) und Murdochs The Philosopher’s Pupil (1983) scheint ein heterodiegetischer Erzähler das Geschehen darzustellen. Später offenbart sich jedoch, dass die Erzähler in Wirklichkeit selbst Figuren in der erzählten Welt sind, so dass der Rezipient das zuvor Geschilderte in Hinblick auf die Fakten und Bewertungen neu überprüfen muss (vgl. Richardson 2006: 11). McEwans Sweet Tooth (2012) dagegen täuscht den Rezipienten über die Identität der homodiegetischen Erzählerfigur. So scheint die MI5-Agentin Serena Frome die Erzählerin ihrer eigenen Lebensgeschichte zu sein, bis im letzten Kapitel deutlich wird, dass der homodiegetische Erzähler in Wirklichkeit Tom Haley ist, der Schriftsteller und ehemalige Liebhaber von Serena, der sich in die Frau hineinversetzt, um ihr Handeln zu begreifen. Neben dem Erzählertypus oder der Identität einer Erzählerfigur kann der Rezipient aber auch über den narrativen Kontext und damit über die beteiligten Figuren getäuscht werden. In Lionel Shrivers Roman We Need to Talk about Kevin (2003) etwa schreibt die Erzählerin Eva Briefe an ihren (scheinbar geschiedenen) Mann Franklin und reflektiert darin die Verantwortung der beiden Eheleute für den Amoklauf ihres Sohnes Kevin. Am Ende des Romans erfährt der Leser jedoch, dass der Adressat der Briefe – Evas Mann Franklin – unmittelbar vor dem Amoklauf ebenfalls von Kevin getötet wurde und sie die Briefe nicht abschickt. Diese Information zwingt den Rezipienten nicht nur, zentrale Annahmen über das Geschehen in der erzählten Welt zu revidieren (z. B. dass die Eheleute sich nach dem Amoklauf scheiden ließen), sondern auch sein Bild von der Erzählerin Eva. Anstatt einer Frau, die ihren Mann davon überzeugen möchte, dass ihre negative Sicht auf Kevin schon immer zutraf, ist Eva eine einsame, gebrochene Frau, die sich niemandem als ihrem toten Mann anvertrauen kann.
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II Konzeptualisierung und Typologisierung narrativer Unzuverlässigkeit
Ein weiteres wichtiges Unterscheidungskriterium ist die Frage, ob das alterierte Erzählen eine globale oder eine lokale Strategie ist. So stellen die oben genannten Beispiele alle globale Fälle dar, die den Rezipienten über einen Großteil des Werkes in die Irre führen. Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen das alterierte Erzählen eine Strategie darstellt, die den Leser nur für einen kurzen Zeitraum täuscht. Zu denken wäre dabei an Ernest Hemingways Kurzgeschichte „The Snows of Kilimanjaro“ (1936), in welcher der an einer Blutvergiftung leidende Protagonist von einem Flugzeug gerettet wird, bevor der Erzähler offenbart, dass es sich dabei um eine letzte Fantasie gehandelt hat. Im Gegensatz zu „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ nimmt die Fluchtfantasie am Ende der Geschichte jedoch nur einen Absatz ein und kann daher als lokale Strategie betrachtet werden. Ähnliches gilt für James Thurbers „The Secret Life of Walter Mitty“ (1939). Die Kurzgeschichte setzt im ersten Absatz mit dem waghalsigen Manöver eines Commanders ein, der ein Navy Hydroplane durch einen schweren Sturm steuert. Bereits im zweiten Absatz wird jedoch deutlich, dass es sich um einen Tagtraum eines frustrierten Mannes handelt, der unter den Launen seiner Frau leidet (vgl. Jahn 1999: 181). Auch in Thurbers Kurzgeschichte wird alterierte Unzuverlässigkeit als lokale Strategie eingesetzt. Die folgende Matrix fasst die wichtigsten Aspekte zur Beschreibung alterierter Erzählungen zusammen. Tab. 4: Kategorien zur Unterscheidung und Untersuchung alteriert-unzuverlässiger Werke Anwesenheit der Erzählinstanz auf Ebene der Figuren
– Homodiegetisch
– Heterodiegetisch
Grad der Intentionalität der Irreführung (Homodiegetische Erzähl instanz)
– Intentional
– Nicht-intentional
Irreführung durch …
– Falsche Informationen – Unterschlagene Informationen
Discourse-Ebene: Täuschung über die
– Art der Erzählinstanz – Identität der homodiegeti(homodiegetisch statt schen Erzählinstanz heterodiegetisch)
Story-Ebene: – Ontologischer Status Misrepräsentation der der erzählten Welt Konstitution der erzählten Welt
– Ontologischer Status einzelner Komponenten der erzählten Welt
Story-Ebene: Misrepräsentation der Ereignisse in der erzählten Welt
– Misrepräsentation – Misrepräsentation der Auf eines zentralen Handlösung eines zentralen lungskonfliktes Handlungskonflikts
Umfang der Irreführung
– Lokale Strategie
– Globale Strategie
3 Fazit
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3 Fazit Ziel des Kapitels war eine Gegenstandsbestimmung narrativer Unzuverlässigkeit. Aufgrund einer Vielzahl heterogener Texte, die von Literaturwissenschaftlern als unzuverlässig klassifiziert werden, wurde erstens der Frage nachgegangen, was Unzuverlässigkeit im Kontext literaturwissenschaftlicher Narratologie bedeutet. Dabei wurden drei Konzepte narrativer Unzuverlässigkeit voneinander unterschieden, die bislang unsystematisch in der Literaturwissenschaft unter das Label unreliable narration subsumiert wurden: Unzuverlässigkeit kann erstens ein Merkmal einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz bezeichnen, das in einer zweifelhaften Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung des Geschehens in der fiktionalen Welt zum Ausdruck kommt (ironische Unzuverlässigkeit). Zweitens kann Unzuverlässigkeit als Merkmal des Erzähldiskurses verstanden werden, der den Leser darüber im Unklaren lässt, ob der Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung einer Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz zu trauen ist oder nicht (ambige Unzuverlässigkeit). Drittens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal des Erzähldiskurses bezeichnen, das den Leser in die Irre führt (alterierte Unzuverlässigkeit). Da diese Typologie allgemein gehalten ist und nicht die Vielfalt ironisch-unzuverlässiger, ambig-unzuverlässiger sowie alteriert-unzuverlässiger Erzählungen erfasst, wurden in einem zweiten Schritt mit Rückgriff auf phänomenologische, rhetorische und narratologische Typologien Merkmalsmatrizen erstellt, um die Heterogenität von Texten innerhalb eines Typus besser zu erfassen. Abschließend ist hervorzuheben, dass diese Typologie nicht implizieren soll, dass die verschiedenen Konzepte der narrativen Unzuverlässigkeit sich gegenseitig ausschließen. Das Gegenteil ist der Fall. So finden sich häufig verschiedene Typen der narrativen Unzuverlässigkeit innerhalb eines Werkes. Diese beziehen sich jedoch auf verschiedene Aspekte innerhalb der Erzählung. In Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) beispielsweise findet sich auf der story-Ebene die ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz Dowell, die das Geschehen konstant falsch bewertet, während auf der discourse-Ebene ambig-unzuverlässiges Erzählen vorherrscht, so dass der Leser nicht sagen kann, ob die Erzählerfigur Dowell das Geschehene adäquat darstellt oder nicht (vgl. genauer Kapitel VII.2). In Lionel Shrivers We Need to Talk about Kevin (2003) findet sich ambige Unzuverlässigkeit bzgl. der Bewertung von Kevin. Das heißt, der Leser kann nicht entscheiden, ob die Beurteilungen der Erzählerin Eva bzgl. ihres Sohnes zutreffen oder nicht. Daneben findet sich aber auch alterierte Unzuverlässigkeit, da der Rezipient erst im letzten Kapitel erfährt, dass der Adressat von Evas Briefen – ihr Mann Franklin – ebenfalls von Kevin getötet wurde, was rückblickend eine Revision zentraler Annahmen über das Geschehen in der fiktionalen Welt erfordert.
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II Konzeptualisierung und Typologisierung narrativer Unzuverlässigkeit
In Ian McEwans Atonement (2001) dagegen finden sich im ersten Teil des Romans mehrere ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanzen, die das Geschehen in der erzählten Welt falsch wahrnehmen bzw. bewerten. Darüber hinaus gibt es aber auch alteriert-unzuverlässiges Erzählen. Dieses äußert sich darin, dass dem Leser im letzten Teil des Romans offenbart wird, dass er einen Roman im Roman gelesen hat und dass die Liebenden Cecilia und Robbie entgegen zuvor gegebener Informationen nicht wieder zusammengefunden haben, sondern beide im Krieg starben, und dass der Roman von einer der zentralen Figuren verfasst wurde (vgl. Kap. IX.2). Darüber hinaus muss betont werden, dass die hier vorgestellte Typologie keine festen Grenzen zwischen den verschiedenen Formen etablieren soll. Ein Blick in die Sekundärliteratur zeigt, wie schwierig es im Einzelfall sein kann, die Konzepte voneinander zu trennen.65 Die Tatsache jedoch, dass die Grenzen zwischen den Konzepten mitunter schwierig zu bestimmen sind und auch die Zuordnung von der individuellen Leseerfahrung abhängen kann, weist bereits auf Herausforderungen für ein Beschreibungs- und Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit hin. Wieso erkennt der Leser bei ironisch-unzuverlässig erzählten oder fokalisierten Texten eine Diskrepanz zwischen dem Geschehen in der fiktionalen Welt und der Darstellung der Erzählerfigur bzw. Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz? Wieso kommen Leser bei ambig-unzuverlässigen Texten – wie etwa bei James’ The Turn of the Screw oder Fords’ The Good Soldier – zu unterschiedlichen Bewertungen hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Erzählinstanz? Wieso sind manche Leser bei alteriert-unzuverlässigen Texten nicht von der Auflösung überrascht, sondern zweifeln schon vorher die Darstellung der Erzählerfigur oder die Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz an?
65 Gerade bei ambig-unzuverlässigem Erzählen wird diese Problematik sichtbar – man denke an die unzähligen Arbeiten, die sich mit der Frage auseinandersetzen, ob die Erzählerin in The Turn of the Screw (1898) oder der Erzähler in Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) nun ironisch-unzuverlässig ist oder nicht. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Diskussion um alteriert-unzuverlässige Erzähltexte. So gibt es bei der Untersuchung der narrativen Strategien häufig Meinungsverschiedenheiten darüber, ob ein Rezipient von der Auflösung wirklich überrascht werden kann oder nicht. In Bezug auf Ambrose Bierces Kurzgeschichte „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890) geht eine Mehrzahl von Literaturwissenschaftlern davon aus, dass ein Leser bei der ersten Lektüre der Geschichte von der Auflösung überrascht sein wird, dass der Gefangene seine Flucht nur imaginiert hat. Andere dagegen verweisen auf zahlreiche Hinweise in der Geschichte und argumentieren, dass nur ein achtloser Leser dies nicht erkennen könne und die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz erkennen müsste. Nach dieser Meinung wäre der Protagonist eine ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz, da der Leser die Traumhaftigkeit der Ereignisse im Gegensatz zur Fokalisierungsinstanz durchschaut, so dass der Leser demzufolge einen Wissensvorsprung gegenüber der Fokalisierungsinstanz hat.
III Probleme und Herausforderungen von Beschreibungs- und Erklärungsmodellen narrativer Unzuverlässigkeit 1 Maßstab und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit Bevor ein Erklärungsmodell entwickelt werden kann, ist es zunächst sinnvoll, notwendige Grundpfeiler vorzustellen, die in jedem Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit notwendig sind. Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit haben – wie bereits in der Einleitung dargelegt – Hochkonjunktur in der Erzähltheorie. Allerdings beschränken sich solche Modelle bislang fast ausschließlich auf den Fall der ironischen Unzuverlässigkeit. Studien zur ambigen und alterierten Unzuverlässigkeit sind dagegen rar gesät.66 Dennoch bietet eine kritische Bestandsaufnahme der Erklärungsmodelle ironischer Unzuverlässigkeit einen geeigneten Ausgangspunkt, um spezifische Fragestellungen und Probleme hervorzuheben, die ebenso in Fällen von ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit beachtet werden müssen. Um die unübersichtliche Menge konkurrierender Erklärungsmodelle ironischer Unzuverlässigkeit zu systematisieren, sollen zwei zentrale Aspekte unterschieden werden, die in den Diskussionen zur narrativen Unzuverlässigkeit oftmals miteinander vermischt werden: zum einen die Frage, was den Maßstab für die (Un-)Zuverlässigkeit darstellt; zum anderen das Problem, wie narrative Unzuverlässigkeit erklärt werden kann. Auch wenn die Trennung dieser Fragestellungen selbstverständlich sein sollte, werden die Aspekte in der narratologischen Praxis oftmals nicht hinreichend unterschieden. Dieses Problem lässt sich auf den Klassiker der Unzuverlässigkeitsforschung – Booths The Rhetoric of Fiction – zurückführen. Auf der einen Seite stellt der implizite Autor für Booth den Maßstab für die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur dar.67 Auf der anderen Seite erhebt Booth den impliziten Autor zu einer Instanz, mit der er ironische Unzu-
66 In Bezug auf ambige Unzuverlässigkeit sei auf die Studien von Àlvarez Amorós (1991) und in Teilen auf Rimmon-Kenan (1977) verwiesen, in Bezug auf alterierte Unzuverlässigkeit auf Stühring (2011) und Vogt (2009, 2015). 67 Vgl. dazu seine bereits mehrfach in dieser Arbeit zitierte Definition: “I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.” (Booth 1983 [1961]: 158–159) https://doi.org/10.1515/9783110557619-004
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
verlässigkeit erklären kann. Laut Booth kommuniziert der implizite Autor „hinter dem Rücken“ des Erzählers über dessen Unzuverlässigkeit.68 Eine solch undifferenzierte Vermischung von Maßstab und Erklärungsmodell ist kein Einzelfall in der Narratologie. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass häufig Erklärungsmodelle gleichgesetzt werden, denen zwar ein ähnlicher (textzentrierter, leserzentrierter oder text- und leserzentrierter) Ansatz zugrunde liegt, die aber auf unterschiedlichen Maßstäben für Unzuverlässigkeit basieren. So werden Booths und Chatmans Theorien zur ironischen Unzuverlässigkeit häufig in einem Atemzug genannt (vgl. Jahn 1998), da beide davon ausgehen, dass der implizite Autor als textinterne Instanz dem impliziten Leser die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur nahelegt. Dennoch – und dies wird häufig übersehen – unterscheiden sich beide Theorien signifikant durch den Gradmesser für Unzuverlässigkeit. Während Booth die ethisch-moralischen Werte und Normen des impliziten Autors als Maßstab ansetzt, bildet für Chatman (1993 [1978]: 233) das Geschehen in der erzählten Welt den Gradmesser für Unzuverlässigkeit. Derartige Unterschiede lassen sich auch bei Theorien finden, die als leserzentrierte oder kognitive Erklärungsmodelle bezeichnet werden. So begreifen Yacobi (1981, 2000, 2001) und Nünning (1998, 1999, 2005a) die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit als eine Interpretationshypothese des Lesers. Trotzdem gibt es erhebliche Differenzen in ihren Theorien, da sie voneinander abweichende Maßstäbe bei der Bewertung von Unzuverlässigkeit anlegen. Während für Yacobi (1981: 121) die Normen und Werte des impliziten Autors den Maßstab bilden, stellen die Werte und Normen des Lesers den Maßstab für Nünning (1998: 25) dar.69 Wie diese Beispiele gezeigt haben, ist es folglich zunächst essenziell, den Maßstab festzulegen, bevor in einem zweiten Schritt ein Ansatz für ein Erklärungsmodell bestimmt wird.
2 „Unreliable, compared to what?“ Die Frage nach dem Maßstab zur Bewertung von Unzuverlässigkeit Lange Zeit wurde die Bedeutung des Maßstabs für Erklärungsmodelle ironischer Unzuverlässigkeit nicht reflektiert, bis Nünning (1998: 20) die wegweisende Frage stellte: “Unreliable, compared to what?” In der Literaturwissenschaft lassen sich
68 “The author and reader are secretly in collusion, behind the speaker’s back, agreeing upon the standard by which he is found wanting.” (Booth 1983 [1961]: 304) 69 In späteren Arbeiten erweitert Nünning (2008: 38) den Maßstab um die Normen des (impliziten) Autors.
2 „Unreliable, compared to what?“
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zwei Positionen identifizieren. So gibt es erstens diejenigen, welche die Normen des impliziten Autors als Maßstab heranziehen, um die Zuverlässigkeit der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz zu bestimmen (Booth 1983 [1961]; Riggan 1981; Diengott 1993, 1995; Yacobi 1981, 2000, 2001). Uneinigkeit besteht allerdings darin, welche Art von Normen darunter fallen. So spricht Yacobi (2000: 715) von „ideological, actional, psychological, grammatical norms“, Heyd (2006) dagegen von pragmatischen Normen. Des Weiteren bezieht sich Riggan (1981: 36) auf moralische und intellektuelle Normen, während Fludernik (1999: 76) „aesthetic, reallife related, ideological, moral values-related norms“ unterscheidet. Ein Großteil der Forscher begreift die Normen in Anlehnung an Booth jedoch in erster Linie als ethisch-moralische Größe (vgl. Wall 1994). Daraus ergibt sich für die Bewertung einer Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz Folgendes: Bei der Beurteilung der Unzuverlässigkeit ist nicht nur die Narration einer Erzählerfigur oder die Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz zu betrachten, sondern auch ihr ethischmoralisches Verhalten auf der Handlungsebene (vgl. Booth 1983 [1961]; Phelan 2004).70 Es geht also primär um die Frage, ob sich die moralischen Normen und Werte einer Figur (die gleichsam als homodiegetischer Erzähler und/oder als Fokalisierungsinstanz auftritt) mit denen des impliziten Autors vertragen. Diese ethisch-moralische Dimension ist für andere Narratologen von untergeordnetem Interesse bei der Bestimmung von Unzuverlässigkeit. Stattdessen stellt für sie ausschließlich das Geschehen in der erzählten Welt den Maßstab für die (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers dar (vgl. Àlvarez Amorós 1991; Bortolussi/ Dixon 2003; Chatman 1990, 1993 [1978]; Gutenberg 2000; Martinez/Scheffel 2007 [1999]; Menhard 2009; Rimmon-Kenan 2002 [1983]; Ryan 1991).71 Die wesentliche Frage dieser Position ist folglich, ob der Erzähler das Geschehen in der erzählten Welt adäquat wiedergibt oder bewertet. Exemplarisch dafür sei auf Hermans Definition der narrativen Unzuverlässigkeit verwiesen:
70 Dieser Aspekt wird auch in Booths Definition des unreliable narrator deutlich: “I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.” (Booth 1983 [1961]: 158–159) Besonders auffällig wird diese Dimension im Aufsatz von Phelan und Martin (1999), in dem die Autoren diskutieren, ob der Erzähler Stevens aus The Remains of the Day den Normen und Werten des impliziten Autors entsprechend handelt, als er im Kapitel „Weymouth“ Miss Kenton seine Gefühle verheimlicht. 71 Dabei muss allerdings darauf aufmerksam gemacht werden, dass viele Erzähltheoretiker das Konzept der erzählten Welt nicht explizit machen, sondern stattdessen von „facts and events“ (Chatman 1993 [1978]: 233) sprechen.
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
[In unreliable narration] the teller of a story cannot be taken by his or her word, compelling the AUDIENCE to “read between the lines” – in other words, to scan the text for clues about how the STORYWORLD really is, as opposed to how the NARRATOR says it is. (Herman 2009: 194)
Für diesen Ansatz ist nicht die ethisch-moralische Bewertung der Handlungen der Erzählerfigur auf story-Ebene von Belang, sondern ausschließlich die Darstellung oder Bewertung des Geschehens durch die Erzählinstanz im Verhältnis zum Geschehen in der erzählten Welt. Damit bezieht sich die Bewertung der Unzuverlässigkeit in erster Linie auf den Aspekt der erzählerischen Vermittlung. Diese Unterschiede können gravierende Auswirkungen auf die Beurteilung ashevis der Unzuverlässigkeit einer Erzählerfigur haben, wie ein Blick auf Isaac B Singers Kurzgeschichte „Gimpel the Fool“ (1953) zeigt (vgl. Yacobi 2001). Darin durchschaut der namensgebende Erzähler aufgrund seiner Gutherzigkeit und Naivität die bösen Streiche nicht, die ihm seine Mitmenschen spielen. So heiratet Gimpel beispielsweise eine Frau, die nur wenige Wochen später ein Kind bekommt. Obwohl für den Leser klar ist, dass Gimpel unmöglich der biologische Vater sein kann, da Gimpel die Frau noch keine neun Monate kennt, ist der Erzähler der festen Überzeugung, dass es sich um sein Kind handelt, weil er den Worten seiner Frau Glauben schenkt (vgl. Yacobi 2001).72 Wird das Geschehen in der erzählten Welt als Maßstab herangezogen, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der Erzähler ironisch-unzuverlässig ist (vgl. Yacobi 2001: 225). Aufgrund von dramatischer Ironie konstruiert der Leser eine zweite Version des Geschehens, wonach Gimpel ein Kuckuckskind untergeschoben wurde. Ein anderes Ergebnis bzgl. der (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers wird jedoch erzeugt, wenn die ethisch-moralischen Werte des impliziten Autors den Gradmesser bilden.73 So weist Yacobi (2001: 226) zu Recht darauf hin, dass das Wertesystem Gimpels
72 Erst als seine Frau vor ihrem Tod ihre Lüge beichtet, werden dem Erzähler die Augen geöffnet. 73 Ähnlich unterschiedlich fällt das Urteil über die Unzuverlässigkeit von Dr. Sheppard in The Murder of Roger Ackroyd aus – je nach angelegtem Maßstab. So ist relativ eindeutig, dass der Erzähler in Christies Roman unzuverlässig ist, wenn das Geschehen in der erzählten Welt als Maßstab genommen wird. Wesentlich schwieriger ist die Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers zu beantworten, wenn die Werte und Normen des impliziten Autors herangezogen werden – es stellt sich hier darüber hinaus die Frage, wie der Erzähler ethisch-moralisch bewertet werden kann. So geht etwa Heyd (2006: 228) davon aus, dass Dr. Sheppards Lüge (d. h. das Unterschlagen relevanter Fakten) „morally unacceptable“ sei, während dagegen Yacobi (2001) die Frage aufwirft, ob der implizite Autor nicht doch Dr. Sheppards Werte teilt, da dieser sich am Ende reumütig zeigt. Der Streit nach den Werten und Normen am Beispiel von The Murder of Roger Ackroyd macht aber auch deutlich, wie schwer das Normen-und Wertesysteme einer Erzählerfigur im Einzelfall in Abgrenzung zum impliziten Autor zu bestimmen ist.
2 „Unreliable, compared to what?“
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(seine Gutherzigkeit und sein Vertrauen in die Mitmenschen) über denen der anderen, durchgängig negativ gezeichneten Figuren steht.74 Insofern kann das Fazit gezogen werden, dass Gimpel ein zuverlässiger Erzähler ist (obwohl er das Geschehen in der erzählten Welt falsch bewertet), da seine Werte den Werten des impliziten Autors entsprechen (vgl. Yacobi 2001: 226).75 Neben der Tatsache, dass die verschiedenen Maßstäbe in Einzelfällen zu unterschiedlichen Ergebnissen bzgl. der (Un-)Zuverlässigkeit einer Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz gelangen, hat die Wahl des Maßstabs auch Auswirkungen auf ein Erklärungsmodell. Während bei der ersten Position nämlich die Frage im Mittelpunkt steht, wie der Leser erkennen kann, dass die Darstellung oder Bewertung der Erzählerfigur nicht mit der fiktionalen Wirklichkeit übereinstimmt, muss sich die zweite Position mit der Frage auseinandersetzen, wie der Leser eine Diskrepanz zwischen den Normen und Werten des Erzählers und des impliziten Autors erkennen kann. Trotz der aufgezeigten Unterschiede scheint eine Entscheidung für einen der beiden Maßstäbe mehr als eine Glaubensfrage zu sein. Vielmehr ist die Kategorie der erzählten Welt auch für solche Ansätze von Belang, welche die ethisch-moralischen Normen und Werte des impliziten Autors als Gradmesser für die Unzuverlässigkeit heranziehen. Die zentrale Bedeutung der erzählten Welt für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit verrät ein Blick auf Booths Analyse von Henry James’ The Turn of the Screw. James’ Novelle, welche in dieser Arbeit bereits als Beispiel für ambige Unzuverlässigkeit diskutiert wurde, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen (vgl. Rimmon-Kenan 1977). Dabei geht es um die Frage, ob die Geister tatsächlich existieren oder Einbildung der Erzählerin sind. Für Booth (1983 [1961]: 314) ist die Sache eindeutig: “[For] me James’s conscious intentions are fully realized: the ghosts are real, the governess sees what she says she sees.” Die Annahme über diese Fakten bildet das Fundament für Booths Beurteilung der
74 Dabei muss beachtet werden, dass die unterschiedlichen Maßstäbe (erzählte Welt und die Werte des impliziten Autors) nicht mit der Unterscheidung von faktualer Unzuverlässigkeit (falsche Darstellung der Fakten) und normativer Unzuverlässigkeit (falsche Bewertung der Fakten) gleichgesetzt werden können. So kann ein Erzähler – wie der in Bashevis Singers „Gimpel the Fool“ – das Geschehen fragwürdig bewerten, aber dennoch mit den Werten und Normen des impliziten Autors übereinstimmen. 75 “For all his limitations, you cannot reduce him [= Gimpel] to the main butt of irony without reducing yourself to the town’s level of cheap, wicked smartness. Where we laugh at him – and who can help it? – we feel guilty ourselves by association. Since the narrative as a whole implies the priority of moral fiber over wit and access to data, Gimpel’s narration is better integrated within a hypothesis of ultimate reliability – despite appearances – than in terms of apparent folly.” (Yacobi 2001: 226)
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
Zuverlässigkeit der Erzählerin. Weil die Geister in der erzählten Welt existieren, betrachtet Booth die Erzählerin als Heldin, welche die Kinder vor bösen Mächten beschützen möchte. Die Erzählerin vertritt in Booths Augen die ethischen Werte und Normen des impliziten Autors und ist daher zuverlässig (vgl. Booth 1983 [1961]: 314). Genau an diesem Punkt zeigt sich die Bedeutung der erzählten Welt für die Bestimmung der Werte und Normen. Die Feststellung, ob die Werte und Normen einer Erzählinstanz mit denen des impliziten Autors übereinstimmen, ist von der Vorstellung des Lesers vom Geschehen in der erzählten Welt abhängig. Wäre Booth bei seiner Analyse von The Turn of the Screw zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine Geister in der erzählten Welt gibt – wie viele andere Literaturwissenschaftler argumentieren –, dann müsste er eine Diskrepanz zwischen den Werten der Erzählerin und des impliziten Autors annehmen. In diesem Fall wäre die Erzählerin nicht die Beschützerin und Heldin der Geschichte, sondern würde durch ihre Wahnvorstellungen die eigentliche Gefahr für die Kinder darstellen. Eine moralische Bewertung einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz ist demnach nur möglich, wenn das Geschehen in der erzählten Welt rekonstruiert werden kann. Folglich schwingt die Frage nach der Rekonstruierbarkeit des Geschehens in der erzählten Welt auch mit, wenn die ethisch-moralischen Werte und Normen des impliziten Autors als Maßstab herangezogen werden. In Anbetracht der Tatsache, wie bedeutsam die erzählte Welt für jedes Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit ist, scheint es umso überraschender, dass diese Kategorie bislang kaum explizit reflektiert wird. Ein möglicher Grund dafür mag ein argumentativer Zirkelschluss sein. So gehen viele Narratologen auf der einen Seite davon aus, dass der Erzähler „the unique source“ (Chatman 1990: 153) zu den Geschehnissen in der fiktionalen Welt darstellt.76 Auf der anderen Seite stellt jedoch jene vom Erzähler vermittelte erzählte Welt den Maßstab dar, um die Adäquatheit der Erzähleraussagen zu bewerten. Ryan (1981: 530) bringt dieses theoretische Dilemma auf den Punkt: As natural as the possibility of unreliable discourse may be in narrative fiction, it conceals a rather paradoxical situation. In natural communication, the hearer is able to detect lies, errors and other faulty declarations because he has other ways of access to the frame of reference. He can either compare the speaker’s representation of facts to his own experience, or to the content of another discourse. But in fictional narration, the text constitutes the reader’s sole source of information about the represented state of affairs. How then can he test the accuracy of the narrator’s declarations?
76 Siehe auch Walton (1976: 50): “Moreover, the narrator has a key position vis-a-vis the reader. He mediates the reader’s access to the rest of the fictional world; we know what happens in the fictional world only from his reports about it.”
3 Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
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Um dieses Problem zu lösen, wurde eine Vielzahl von konkurrierenden Erklärungsmodellen entworfen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.
3 Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit 3.1 Textzentrierte Erklärungsmodelle: Unzuverlässigkeit als textinternes Phänomen Über Jahrzehnte galten Erklärungsmodelle als unangefochten, die einseitig auf den impliziten Autor als textinterne Korrektivinstanz verweisen, um ironischunzuverlässiges Erzählen zu erklären. Ausgehend von Booths rhetorischem Ansatz ist Prämisse eines solchen Modells, dass Literatur im Sinne Janiks als „kommunizierte Kommunikation“ (Kindt/Müller 2006b: 91) begriffen wird. Neben dem empirischen Autor und Leser auf textexterner Ebene finden sich auf textinterner Ebene der implizite Autor und implizite Leser sowie der Erzähler und der Adressat, wie die folgende Grafik von Chatman (1993 [1978]: 151) verdeutlicht.77
Abb. 1: Kommunikationsmodell in fiktionalen Texten (nach Chatman 1993 [1978]: 151)78
Ironisch-unzuverlässiges Erzählen kommt nach diesem Modell dann zustande, wenn der (implizite) Autor heimlich mit dem impliziten Leser auf Kosten des Erzählers kommuniziert: “The implied author has established a secret communication with the implied reader.” (Chatman 1993 [1978]: 233)79 Aufgrund dieser geheimen Kommunikation ist es dem Leser möglich, zwischen den Zeilen eine
77 Die Klammern im Modell zeigen Chatmans Annahme an, dass impliziter Autor und impliziter Leser notwendige Bestandteile eines jeden Textes sind, während Erzähler und Adressat optional sind (vgl. Chatman 1993 [1978]: 150). Diese Annahme revidiert er jedoch in späteren Studien und erachtet auch Erzählinstanzen und Adressaten als notwendig (vgl. Chatman 1990: 109–123). 78 Die Abbildung wird mit Genehmigung der Cornell University Press gedruckt. 79 Bereits Booth (1983 [1961]: 304) verwendet eine ähnliche Metaphorik (“The author and reader are secretly in collusion, behind the speaker’s back, agreeing upon the standard by which he is found wanting”), die von vielen Forschern in ähnlicher Weise übernommen wird. So schreibt
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
andere Version vom Geschehen in der erzählten Welt zu erkennen als die, die der Erzähler schildert (Chatman 1993 [1978]: 233). Das folgende von Chatman (1990: 151) entwickelte Schaubild illustriert die textinterne Kommunikation, wobei die gestrichelte Linie die geheime Kommunikation hinter dem Rücken des Erzählers darstellt.
Abb. 2: Kommunikationsmodell bei unreliable narration in fiktionalen Texten (nach Chatman 1990: 151)80
Die Vorteile eines solchen Modells liegen auf der Hand. Auf der einen Seite macht der Verweis auf den impliziten Autor deutlich, dass die Werkbedeutung hypothetisch ist, da der empirische Autor nicht befragt werden kann (vgl. Kindt/Müller 2006b: 93). Auf der anderen Seite hebt ein solches Modell die Trennung der Aussagen des Erzählers und die Bedeutung des Werkes hervor (vgl. Kindt/Müller 2006b: 91). Zwei Aspekte werden jedoch an einem solchen Modell kritisiert: Erstens wird bemängelt, dass die Kategorie des impliziten Autors unklar, wenn nicht gar widersprüchlich definiert ist. Wie Nünning (1997b: 98) und Diengott (1993: 70–72) zeigen, versteht Chatman unter dem Konzept höchst verschiedene Dinge. So setzt Chatman (1990) den impliziten Autor mit dem Text gleich, dann bezeichnet er die Kategorie als Leitfaden für die Rezeption („the reader’s source about how to read the text“ [Chatman 1990: 83]), als Erfinder des Textes („the inventor“ [Chatman 1990: 85]), als textuelle Muster („the patterns in the text which the reader negotiates“ [Chatman 1990: 87]), als Textinstanz („text instance“ [Chatman 1990: 86]) oder Textintention („text intent“ [Chatman 1990: 86]). Aus diesem Grund folgert Diengott (1993: 72): “The problem of the term hinges on two issues: is the implied author an entity, a fictional ‘person’ or not? Is he a character, an agent in the transmission of narrative similar to a narrator, or conversely something depersonified, the image of the real author, a set of attitudes, the whole meaning of the text?”
etwa Riggan (1981: 13): “A secret communion of implied author and reader is thereby created behind the narrators’ backs, so to say.” 80 Die Abbildung wird mit Genehmigung der Cornell University Press gedruckt.
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Diese Vagheit in der Definition führt zu einer Diskrepanz zwischen Chatmans Konzept des impliziten Autors und der ihm zugedachten Rolle im Kommunikationsmodell (vgl. Jahn 1998: 90; Nünning 1997b: 101–102; Rimmon-Kenan 2002 [1983]: 89). Es erscheint widersprüchlich, dass Chatman dem impliziten Autor auf der einen Seite eine zentrale Rolle im literarischen Kommunikationsmodell zuweist, auf der anderen Seite aber davon ausgeht, dass der implizite Autor eine Instanz ist, die laut eigener Definition nicht kommunizieren kann (vgl. Jahn 1998: 90).81 Zweitens wird kritisiert, dass ironisch-unzuverlässiges Erzählen als ein textinternes Phänomen verstanden wird. Diese Kritik rückt den Leser stärker in den Fokus und führt zu der Frage, wie der empirische Leser ironisch-unzuverlässiges Erzählen eigentlich erkennen kann (vgl. Jahn 1998: 91). An dieser Stelle bleiben Chatmans Ausführungen (1993 [1978]: 233) jedoch vage: In “unreliable narration” the narrator’s account is at odds with the implied reader’s surmises about the story’s real intentions. The story undermines the discourse. We conclude, by “reading out,” between the lines, that the events and existents could not have been “like that,” and so we hold the narrator suspect.
Augenscheinlich sind Chatmans Erklärungen genauso metaphorisch wie das Bild der geheimen Kommunikation. Der Verweis auf unspezifische Lesestrategien („reading out, between the lines“) erscheint wenig erhellend für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit (vgl. Allrath 2005; Nünning 1998; Jahn 1998).
3.2 Leserzentrierte Erklärungsmodelle: Unzuverlässigkeit als Interpretationshypothese Leserzentrierte Ansätze versuchen, die dargelegten Probleme eines rein textzentrierten Modells zu beseitigen, indem sie auf die Kategorie des impliziten Autors als Korrektivinstanz verzichten. Sie begreifen narrative Unzuverlässigkeit stattdessen als Interpretationsstrategie des empirischen Rezipienten und fokussieren damit das Verhältnis zwischen Text und Leser (vgl. Allrath 2005; Nünning 1998, 1999; Rimmon-Kenan 2002 [1983]; Wall 1994; Yacobi 1981; Zerweck 2001). Pionierarbeiten für einen solchen Ansatz stellen die Arbeiten von Rimmon-Kenan (2002 [1983]) und Yacobi (1981) dar. Rimmon-Kenan untersucht, welche textuellen Hin-
81 “The implied author has no ‘voice.’ The implied author only empowers others to ‘speak.’ The implied author (unlike the delegated speaker, the narrator) is a silent source of information. The implied author ‘says’ nothing.” (Chatman 1990: 85)
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
weise es geben kann, die den Leser dazu bringen, den Erzähler als unzuverlässig zu begreifen.82 Dabei zählt sie folgende Fälle auf: [W]hen the facts contradict the narrator’s views, the latter is judged to be unreliable (but how does one establish the “real facts” behind the narrator’s back?); when the outcome of the action proves to be wrong, a doubt is retrospectively cast over his reliability in reporting earlier events; when the views of other characters consistently clash with the narrator’s, suspicion may arise in the reader’s mind; and when the narrator’s language contains internal contradiction, double-edged images, and the like, it may have a boomerang effect, undermining the reliability of its user. (Rimmon-Kenan 2002 [1983]: 102)
Im Gegensatz zu Rimmon-Kenan, die textuelle Signale betrachtet, die den Rezipienten veranlassen, einen Erzähler als ironisch-unzuverlässig zu klassifizieren, fokussiert Yacobi (1981, 2000, 2001) das spezifische Rezeptionsverhalten und grenzt die Unzuverlässigkeitshypothese von anderen Interpretationsstrategien des Rezipienten ab. Wenn ein Leser auf textuelle Inkonsistenzen stößt, dann ist die Unzuverlässigkeitshypothese lediglich eine von verschiedenen Möglichkeiten, diese aufzulösen. Yacobi (1981: 114–119) unterscheidet daher zwischen fünf verschiedenen Integrationsmechanismen, die Leser anwenden, um textuelle Inkonsistenzen aufzulösen: – Nach dem genetischen Mechanismus („genetic mechanism“) führt der Rezipient Inkohärenzen auf die Entstehung des Textes zurück (z. B. Fehler des empirischen Autors). – Mit Bezug auf generische Bezugsrahmen („generic framework“) löst der Leser Inkonsistenzen auf, indem er diese auf spezifische Gattungskonventionen schiebt. – Darüber hinaus kann der Rezipient diese auf die Konstitution der spezifischen fiktionalen Welt zurückführen („existential mechanism“), wie im Falle von futuristischen Weltentwürfen im Science-Fiction. – Inkonsistenzen können des Weiteren auf spezifische Funktionen („functional principle“) zurückzuführen sein. So können ausgelassene Informationen etwa der Generierung von Neugier oder Spannung dienen. – Ein weiterer Mechanismus ist der perspektivische („perspectival mechanism“ oder „unreliability hypothesis“), wonach die Inkonsistenzen auf das kognitive Zentrum als Perspektivträger geschoben werden.
82 Vgl. dazu Rimmon-Kenan (2002 [1983]: 101): “But how can the reader know whether he is supposed to trust or distrust the narrator’s account? What indications does the text give him one way or the other? Signs of unreliability are perhaps easier to specify, and reliability can then be negatively defined by its absence.”
3 Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
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Eine Weiterentwicklung von Rimmon-Kenans und Yacobis Überlegungen stellen die Modelle von Nünning (1998) und Wall (1994) dar, die einerseits textuelle Signale für narrative Unzuverlässigkeit systematisieren und andererseits das Rezeptionsverhalten bei narrativer Unzuverlässigkeit mit Rückgriff auf kognitionswissenschaftliche Theorien – besonders der frame theory – erläutern. Danach löst ein Rezipient textuelle Widersprüche und Diskrepanzen auf, indem er diese mit Hilfe von Wissen auf einen Makel des kognitiven Zentrums zurückführt (vgl. Nünning 1998: 23–26). Aus diesem Grund geht Nünning nicht von einer geheimen, ironischen Kommunikation zwischen implizitem Autor und implizitem Leser aus, sondern expliziert ironische Unzuverlässigkeit mit Pfisters Konzept der dramatischen Ironie. Danach resultiert diese aus einer Diskrepanz zwischen den Wertvorstellungen und Absichten eines Erzählers und den Normen und dem Wissensstand des realen (nicht eines impliziten) Lesers. Hat der Leser die mangelnde Zuverlässigkeit anhand bestimmter textueller Signale einmal durchschaut, dann erhalten aufgrund dieses Informationsvorsprungs die Aussagen des Erzählers eine diesem nicht bewußte und von ihm nicht beabsichtigte Zusatzbedeutung. (Nünning 1998: 17)
Diese kognitive Neukonzeption der narrativen Unzuverlässigkeit erlaubt es, „textuelle Signale und […] kontextuelle Bezugsrahmen […], die bei der Beurteilung der mangelnden Glaubwürdigkeit eines Erzählers eine Rolle spielen“ (Nünning 1998: 27), zu systematisieren. So entwickelt Nünning eine ausführliche Liste textueller Signale für narrative Unzuverlässigkeit und stellt dieser als außertextliche Kategorie das individuelle Voraussetzungssystem des Rezipienten entgegen (Nünning 1998: 27–32). An dieser Stelle offenbaren sich zwei Vorzüge leserzentrierter Ansätze, besonders des von Nünning entwickelten kognitiven Ansatzes, der in der Literatur- und Filmwissenschaft eine hohe Wertschätzung genießt.83 Zum einen formuliert er klare textuelle Hinweise, auf deren Grundlage der Rezipient der Erzählinstanz ironische Unzuverlässigkeit unterstellen kann. Zum anderen ermöglicht der kognitive Ansatz plausibel zu erklären, warum die Zuschreibung der Unglaubwürdigkeit von Erzählern in unterschiedlichen historischen und/oder kulturellen Kontexten variieren kann. So demonstriert Vera Nünning überzeugend, wie sich „die
83 Nünnings Ansatz wird u. a. von Allrath (1998, 2005), Bode (2011 [2005]), Menhard (2009) und Zerweck (2001) in ihren Studien aufgegriffen. Darüber hinaus hat Nünnings kognitive Theorie auch eine große Strahlkraft auf filmwissenschaftliche Konzepte der narrativen Unzuverlässigkeit (exemplarisch sei auf Laass [2008] sowie beinahe sämtliche filmwissenschaftlichen Aufsätze in Liptay/Wolf [2005] verwiesen).
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
historische Variabilität von Werten und Normen“ (1998: 257) auf die Rezeption ironisch-unzuverlässiger Erzähler auswirken kann. Auch Bruno Zerweck (2001) weist auf das Potenzial des Ansatzes für eine diachrone Untersuchung des Phänomens hin. Auch wenn die kognitive Konzeption des ironisch-unzuverlässigen Erzählens viele theoretische und methodologische Probleme lösen kann, offenbaren sich neue. Hauptsächlich zwei Kritikpunkte werden leserzentrierten Ansätzen entgegengebracht. Ein Kritikpunkt betrifft die Liste textueller Signale. Für Olson (2003: 97) besteht ein Widerspruch zwischen der Tatsache, dass die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit auf der einen Seite zwar vom individuellen Leser abhängt, es auf der anderen Seite aber einen Katalog von definierten textuellen Merkmalen gibt, die auf Unzuverlässigkeit schließen lassen.84 Als zweiter Kritikpunkt am kognitiven Ansatz wird angebracht, dass er den Fokus zu stark auf den individuellen Leser und Text lenkt und die Kategorie des Autors (und dessen mögliche Intention) ausblendet. So stellt Phelan (2004: 48) fest, dass das Unzuverlässigkeitsurteil eines Lesers nicht willkürlich getroffen werde: “[T]he interpretive move to read an inconsistency as a sign of unreliability rests on the assumption that someone designed the inconsistency as a signal of unreliability.”
3.3 Autor-, text- und leserzentrierte Erklärungsmodelle: rhetorischpragmatische, kognitv-pragmatische und linguistisch-pragmatische Ansätze Aufgrund dieser Problematik versuchen neuere Ansätze sowohl den Autor, den Text als auch den Leser in ein Erklärungsmodell zu integrieren. Diese sollen im Folgenden als rhetorisch-pragmatische, kognitiv-pragmatische und linguistischpragmatische Ansätze bezeichnet werden. James Phelan entwickelt in seiner 2004 erschienenen Studie Living to Tell about It ein modifiziertes rhetorisches Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit, das sowohl den (impliziten) Autor, den
84 Vgl. dazu die Kritik Diengotts (1990: 374) an Yacobis Überlegungen (“[F]or one who emphasizes a reader-oriented approach, it is interesting to note that Yacobi’s discussion suggests that the tensions to be resolved are completely text based. In other words, whereas the resolution of tensions is totally reader dependent, the components leading to this activity seem to be objectively there, in the text”) sowie Olsons Einwände an Nünnings kognitvem Ansatz: “For if detecting unreliability functions as a quality of individual reader response, how can stable signals exist to typify the phenomenon of unreliability?” (Olson 2003: 97) Diese Kritik scheint insofern unberechtigt, als dass Nünning (1998: 29) selbst zu bedenken gibt, dass den textuellen Merkmalen lediglich „Signalwirkung“ zukomme.
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Text und den Leser in den Blick nimmt85 und das (ähnlich den Modellen von Booth und Chatman) die doppelte Kommunikationssituation bei fiktionalem Erzählen hervorhebt.86 Größter Unterschied zu anderen Modellen, die den impliziten Autor als Korrektivinstanz sehen, ist, dass Phelan den impliziten Autor nicht mehr als textinterne, sondern als textexterne Instanz begreift: “[T]he implied author is a streamlined version of the real author, an actual or purported subset of the real author’s capacities, traits, attitudes, beliefs, values, and other properties that can play an active role in the construction of the particular text.” (Phelan 2004: 45; Hervorhebung im Original) Nach Phelans Konzeption ist der implizite Autor für die Konstruktion des Textes genauso verantwortlich wie der empirische Autor: “In my account, the implied author is not a product of the text but rather the agent responsible for bringing the text into existence.” (Phelan 2004: 45) Weiter geht er von der Annahme aus, dass auf der einen Seite der Autor und der implizite Autor den Text für einen spezifischen Modell-Leser oder impliziten Leser entwerfen (Phelan spricht von „authorial audience“).87 Auf der anderen Seite versucht der empirische Leser, den Textsinn zu rekonstruieren, indem er bestrebt ist, die Textintention nachzuvollziehen (und somit eine hypothetische Leserschaft zu rekonstruiert): “[T]his conception of the recursive relationship among authorial agency, textual phenomena, and reader response entails the possibiliy of shared readings among different flesh-and-blood readers. The author designs the textual phenomena for a hypothetical audience (what I call the authorial audience), and the individual rhetorical reader seeks to become part of that audience.” (Phelan 2004: 19) Trotz dieser auf den ersten Blick überzeugenden Argumentation unterscheidet sich Phelans Modell auf den zweiten Blick nicht so stark von Booths und Chatmans Modellen, wie es zunächst den Anschein hat. So beseitigt Phelan zwar einen zentralen Kritikpunkt am textzentrierten Ansatz, indem er die Problematik des impliziten Autors als textinterne Instanz beseitigt. Den zweiten Kritikpunkt an Booths und Chatmans Modell jedoch, zu klären, wie der implizite Autor dem Rezipienten bzw. der hypothetischen Leserschaft die Unzuverlässigkeit kommuniziert und der reale Leser diese erkennen kann, löst Phelan nicht. Vielmehr belässt
85 “[T]his model views meaning as arising from the feedback loop among authorial agency, textual phenomena, and reader response.” (Phelan 2004: 47) 86 “[T]he narrator tells her story to her narratee for her purposes, while the author communicates to her audience for her own purposes both the story and the narrator’s telling of it.” (Phelan 2004: 18) 87 “implied reader: The audience for whom the implied author writes; synonymous with the authorial audience.” (Phelan 2004: 216; Hervorhebung im Original)
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
Phelan es bei metaphorischen Umschreibungen, die stark an die von Booth und Chatman gebrauchte Metaphorik erinnern: “[The] authorial audience will recognize a communication from the implied author beyond the awareness of the narrator.” (Phelan 2004: 50) Ein zweites Modell, das sowohl Autor, Text und Leser in den Blick nimmt, ist der rhetorisch-kognitive Ansatz von Nünning (2005a, 2008). Nünning modifiziert das kognitive Erklärungsmodell, indem er anerkennt, dass textuelle Signale nicht willkürlich im Text stehen, sondern dass diese vielmehr auf eine höher stehende Instanz – entweder auf den empirischen oder den impliziten Autor ― zurückgeführt werden müssen (vgl. Nünning 2008: 51). Insofern muss der Leser immer die Intention des impliziten oder empirischen Autors in seine Interpretation einbeziehen. Auch wenn Nünning folglich nur an den Schrauben des kognitiven Ansatzes dreht, scheint sein Modell überzeugender als das Phelans, da gerade der kognitive Ansatz stärker auf textuelle Signale eingeht sowie die Informationsverarbeitung des Rezipienten besser erklären kann als Phelans vager Verweis auf den impliziten Autor als Korrektivinstanz. Trotzdem gibt es auch hier kritische Stimmen. So reflektiert Shen (2013) kritisch die Vereinbarkeit von rhetorischen und kognitiven Ansätzen88 und in Marcus’ Augen (2008: 84) ist Nünnings Neukonzeption nicht frei von Widersprüchen: […] Nünning’s current position seems to me unclear, since he simultaneously criticizes Booth’s conception of the implied author for being anthropomorphic and complies with Phelan’s explicitly personalized revised definition.
Aus diesem Grund stellt sich die Frage, inwieweit auf die Kategorie des impliziten Autors als textexterne Kommunikationsinstanz nicht doch verzichtet werden kann. Ein drittes von Heyd (2006, 2011) und Kindt (2008a, 2008b) vorgeschlagenes Erklärungsmodell, das sowohl Autor, Text und Leser berücksichtigt, beruht auf linguistisch-pragmatischen Prämissen. Ausgangspunkt ist die Überlegung – wie
88 So schreibt Shen (2013): “Nünning’s synthetic ‘cognitive-rhetorical’ approach asks questions such as: ‘What textual and contextual signals suggest to the reader that the narrator’s reliability may be suspect? How does an implied author (as redefined by Phelan) manage to furnish the narrator’s discourse and the text with clues that allow the critic to recognize an unreliable narrator when he or she sees one?’ […] These questions, however, come only from the rhetorical side of Nünning’s ‘synthesis.’ The constructivist/cognitivist approach will ask very different questions such as: When faced with the same textual features, what different interpretations might readers come up with? What different conceptual frameworks or cultural contexts underlie the divergent readings?” (Hervorhebung im Original)
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beim rhetorischen Ansatz –, dass bei fiktionalem Erzählen immer eine doppelte Kommunikation vorliegt.89 Diese doppelte Kommunikation wird von Heyd mit Rückgriff auf Sperber und Wilson als Form echoartiger Äußerungen („echoic utterances“) konzeptualisiert.90 Nach diesem Modell sind Signale für ironische Unzuverlässigkeit nicht auf stilistischer Ebene, sondern auf pragmatischer Ebene zu finden (vgl. Heyd 2006: 223). Ironische Unzuverlässigkeit wird danach vom Rezipienten immer dann angenommen, wenn er einen Verstoß gegen die Grice’schen Konversationsmaxime bzw. gegen das Kooperationsprinzip feststellt: [One] needs to identify utterances that are either manifestly false, or which explicitly correct, clarify or contradict utterances made earlier in the discourse, or else which belat edly convey information that would have been salient at an earlier stage in the narration. (Heyd 2006: 226)91
89 “Through the double sendership of author and narrator, literary narratives are of an essentially dualistic nature: they are part of the fictional world, as the enunciation of a narrator; simultaneously, they are part of the real world, where they are produced as the utterance of a real author. Crucially, the reader of fiction is always more or less aware of this duality: while we do not have access to the author’s inner life (in the way biographical literary studies would have had it), we are not totally unaware of an extrafictional text producer, either (as New Criticism claimed). Instead, readers of literary narrative are conscious of a shaping force with a certain communicative intention. This duality, and its awareness in the reader, is the fundamental mechanism that creates fictionality.” (Heyd 2006: 221) 90 “I would like to suggest that narrative fiction constitutes an echoic utterance per defini tionem: through its dual nature, it is a case of simultaneous use and mention. An author mentions a discourse that someone could have made in a fictional (that is, possible) world. At the same time, narrative utterance is used by the narrator on a fictional level.” (Heyd 2006: 222) Nach Heyds Auffassung erwähnt ein Autor auf außertextlicher Ebene lediglich echoartig Propositionen, um eine bestimmte Haltung zum Geschehen einzunehmen, während der Erzähler die Propositionen innerhalb der fiktionalen Welt tatsächlich gebraucht. Durch die echoartige Erwähnung bringt der Autor im Falle des ironisch-unzuverlässigen Erzählens eine ironisch-distanzierende Einstellung zum Erzähler zum Ausdruck. “They [unreliable narratives] are echoic utterances with a distancing attitude. In most cases this results in an ironic mode, produced by the author and detected by the reader – since unreliability has been closely associated with irony ever since Wayne Booth, it is no surprise that Sperber and Wilson’s account is such a perfect fit.” (Heyd 2006: 223) 91 Ähnlich vage bleibt Kindt (2008b: 134): “[T]he communicative shapeliness of a fictive utter ance can as a matter of course not be determined with reference to any extratextual context of communication; to check whether a narrator reports in accordance with the principle of cooperation and the accordant maxims of conversation we have to consider his general narrative situation as well as the individual purpose and the particular stage of this report.”
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
Wenn der Leser annimmt, dass der Verstoß vom Erzähler nicht beabsichtigt war, dann wird er die Implikatur auf extratextueller Ebene dem Autor zuschreiben und den Erzähler für unzuverlässig erachten.92 Das pragmatische Erklärungsmodell muss sich verschiedenen Kritikpunkten aussetzen. Problematisch ist erstens der Anwendungsbereich. Aufgrund der sprachwissenschaftlichen Prämissen ist das Erklärungsmodell ausschließlich auf Erzählerfiguren beschränkt, die sich in einer Kommunikationssituation befinden. Die Unzuverlässigkeit von Fokalisierungsinstanzen dagegen, welche die Welt lediglich wahrnehmen, das Geschehen aber nicht auf Diskursebene einem Gegenüber mitteilen, kann mit diesem Ansatz nicht erklärt werden. Zweitens stellt sich die Frage, ob das Erklärungsmodell tatsächlich auf alle homodiegetischen Erzähler gleichermaßen anwendbar ist. Wie sind beispielsweise homodiegetische Erzähler zu behandeln, die sich nicht an ein Gegenüber wenden? Können diese ebenfalls gegen die Konversationsmaxime verstoßen, obwohl sie keine Konversation mit einer anderen Figur führen? In Ford Madox Fords Roman The Good Soldier (1915) – welcher in Kapitel VIII.2 noch genauer analysiert werden wird – versucht der Erzähler ein Narrativ über die vergangenen Geschehnisse zu konstruieren, nachdem er erfahren hat, dass er jahrelang von anderen Figuren belogen wurde. Die Erzählerfigur versucht durch den Akt des Erzählens Sinnzusammenhänge herzustellen. Dabei schreibt er ausschließlich für sich. Der Erzähler schweift während dieses Prozesses jedoch immer ab und revidiert fortwährend seine Eindrücke im Verlauf der Narration. Insofern würde der linguistisch-pragmatische Ansatz eine Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur bejahen, da diese fortwährend gegen die Maxime der Modalität verstößt. Dies würde aber nicht hinreichend den Kontext seiner Erzählung berücksichtigen und die Tatsache vernachlässigen, dass sich der Erzähler nicht in einer Kommunikationssituation mit einer anderen Figur befindet. Daher stellt sich die Frage, ob der Erzähler aus diesen Gründen überhaupt gegen Konversationsmaximen verstoßen kann.
92 “Yet what these violations have in common is that they are not meant as implicatures on the fictional level. […] Of course, fictional narrators can make implicatures, and do so constantly – by exaggerating, making allusions, speaking figuratively, etc. But in such cases, narrators want their narratees to be ‘in the know.’ This is not the case with UN [unreliable narration]: here, the implicaturial force cannot be attributed to the narrator, and is instead transferred to the extrafictional level – in short, the echoic distancing described earlier sets in.” (Heyd 2006: 225) Ähnlich auch Kindt (2008a, 2008b) sowie Bortolussi und Dixon (2003).
4 Fazit
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4 Fazit Die erste Weichenstellung für eine Theorie der narrativen Unzuverlässigkeit besteht im Lichte der obigen Ausführungen also in der Frage, was den Maßstab für narrative Unzuverlässigkeit darstellt. Wie gezeigt wurde, ist die erzählte Welt zen traler Maßstab für jedes Zuverlässigkeitsurteil, während der Einbezug des Normenund Wertesystems optional und primär für Ansätze von Bedeutung ist, welche die ethisch-moralische Dimension von Erzählungen untersuchen. Problematisch ist die Kategorie der erzählten Welt als Maßstab für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit, da auf der einen Seite angenommen wird, dass der Erzähler den einzigen Zugang zur fiktionalen Welt darstellt. Auf der anderen Seite stellt eben diese vom Erzähler geschilderte Welt gleichzeitig den Maßstab dar, die Adäquatheit der Schilderung (und damit die Zuverlässigkeit des kognitiven Zentrums) zu beurteilen. Vergegenwärtigt man sich dieses theoretische Dilemma, dann zeigt sich schnell, dass Erklärungsmodelle, die auf den impliziten Autor als Korrektivinstanz bauen, zu vage und metaphorisch bleiben, wenn sie von einer Kommunikation „hinter dem Rücken des Erzählers“ sprechen. Insofern sind diese genauso abzulehnen wie der von Heyd und Kindt vorgeschlagene linguistisch-pragmatische Ansatz, da auch Letzterer (neben den anderen genannten Problemen) nicht hinreichend erklärt, wie der Rezipient erkennen kann, dass die Darstellung des Erzählers von der erzählten Welt gegen Grices Konversationsmaxime verstößt. Stattdessen scheint Nünnings kognitiver Ansatz am gewinnbringendsten für eine Theorie narrativer Unzuverlässigkeit. Dieser Ansatz bietet den Vorteil, dass er den individuellen Leser fokussiert und dessen Rezeptionsverhalten in den Blick nimmt. Die zentrale Annahme, dass der Leser durch ein Zusammenspiel von textuellen Daten und der Aktivierung von Wissensstrukturen das Geschehen in der erzählten Welt konstruiert, kann erklären, warum ein Leser potenziell ein anderes Bild von den Ereignissen in der erzählten Welt konstruiert, als der Erzähler – obwohl einzelne Fragen dazu, wie diese Rezeptionsprozesse konkret ablaufen, noch zu präzisieren sind, wie Nünning (2008: 68) hervorhebt: “What is needed, therefore, is a more systematic exploration between readers’ identification of elements in the narrative discourse (including decisions about the narrator’s unreliability) and the ‘story’ or represented world that readers project.” Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll – wie Nünning (2008: 68) vorschlägt –, die possible-worlds theory, die sich dezidiert mit fiktionalen Welten auseinandersetzt, mit Einsichten der kognitiven Narratologie bzw. der Kognitionswissenschaften zu verbinden.93 Dazu soll zunächst ein semantisches Beschreibungsmodell
93 „An alliance between narratology and possible worlds theory could thus be an important
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III Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit
auf Grundlage der possible-worlds theory entwickelt werden, um die Relation von Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz zur erzählten Welt differenziert zu beschreiben. Im Gegensatz zu bestehenden Beschreibungs- und Erklärungsmodellen in der Literaturwissenschaft, die fast ausschließlich auf ironische Unzuverlässigkeit fokussiert sind, werden die hier vorgeschlagenen Beschreibungs- und Erklärungsmodelle darüber hinaus auch ambige und alterierte Unzuverlässigkeit umfassen und sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen diesen Typen aufzeigen.
force in the current reconceptualization of narrative theory, opening up productive new possibilities for the relation between indeterminacies on the level of discourse and the represented worlds of the level of the story, which are projected by the reader.“ (Nünning 2008: 68)
IV Possible-Worlds Theory als Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit 1 Grundannahmen der literaturwissenschaftlichen possibleworlds theory Die literaturwissenschaftliche possible-worlds theory hat ihre Wurzeln in der analytischen Philosophie, der Modallogik sowie der formalen Semantik (vgl. Surkamp 2003: 53). Zentrale Prämisse ist die Annahme, „daß in der Vergangenheit liegende Ereignisse und Zustandsveränderungen einen anderen Verlauf hätten nehmen können.“ (Gutenberg 2000: 43) Die Welt, so wie wir sie kennen, ist lediglich eine mögliche Welt unter vielen: „Wirklichkeit wird infolgedessen als modales System angesehen, das aus einer Vielzahl von Welten besteht: aus einer tatsächlichen Welt (actual world), d. h. der Welt, in der wir leben, und nicht-aktualisierten, d. h. virtuellen Welten (possible worlds), welche die tatsächliche Welt als mögliche Alternativen ‚umkreisen‘.“ (Surkamp 2002: 154) Die von Leibniz stammende Theorie der möglichen Welten wurde in den 1960er Jahren vom Logiker Saul Kripke aufgegriffen, um mit diesem Modell (M-Model) den Wahrheitsgehalt kontrafaktischer Bedingungssätze zu bestimmen, ohne an die Grenzen der tatsächlichen Welt gebunden zu sein (vgl. Surkamp 2002: 154–155). Auf der Grundlage des Modalsystems, das aus verschiedenen Welten besteht, unterscheidet er zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit. Möglichkeit wird mit epistemologischer Zugänglichkeit gleichgesetzt: “[P]ossibility is synonymous with accessibility: a world is possible in a system of reality if it accessible from the world at the center of the system.” (Ryan 1991: 31) Danach ist eine Welt möglich bzw. von unserer Welt aus epistemologisch zugänglich, d. h. vorstellbar, wenn sie nicht gegen die logischen Gesetze der Widersprüchlichkeit und der ausgeschlossenen Mitte verstößt (vgl. Ryan 1991: 31; Semino 1997: 60).94 Kripkes Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit bezieht sich auf den Wahrheitsgehalt von Propositionen in verschiedenen Welten. Nach Kripkes Weltmodell ist eine Proposition dann notwendigerweise wahr, wenn diese „in allen Welten des Systems wahr ist“ (Surkamp 2002: 155; Hervorhebung im Original), sie
94 “The law of non-contradiction states that, given a proposition p (e. g. Shakespeare was born in 1564), it is not possible that both p and its opposite non-p (e. g. It is not the case that Shakespeare was born in 1564) are true in a given world. The law of excluded middle states that, given a proposition p, either p or its opposite non-p must apply in a given world; in other words, the ‘middle’ option whereby neither p nor not-p is ruled out.” (Semino 1997: 69) https://doi.org/10.1515/9783110557619-005
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IV Possible-Worlds Theory als Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit
ist möglich, wenn sie „in einer der möglichen Welten des Modalsystems wahr ist.“ (Surkamp 2002: 155; Hervorhebung im Original) Unmöglich dagegen ist folglich eine Proposition, wenn sie in keiner der Welten wahr ist. Um den Vorteil eines Systems mit verschiedenen Welten zur Bestimmung von Wahrheitsgehalten zu veranschaulichen, soll das folgende von Semino (2009: 39) entliehene Beispiel herangezogen werden: So sind die folgenden Propositionen „(a) Human beings are routinely cloned to act as organ donors“ und „(b) [t]he earth is round and the earth is not round“ aus Sicht unserer Welt (also der actual world) beide falsch, da sie in der uns bekannten Welt nicht zutreffen. Dennoch unterscheiden sie sich nach Kripkes Modell im Wahrheitsgehalt voneinander. Während Satz (a) in einer alternativen Welt möglich ist, wie man etwa an Ishiguros Roman Never Let Me Go (2005) sieht, erscheint Satz (b) in allen denkbaren Welten unmöglich, da er mit den logischen Gesetzen der Widersprüchlichkeit sowie dem Prinzip der ausgeschlossenen Mitte nicht zu vereinbaren ist (Semino 2009: 39).95 In der Literaturwissenschaft wird die possible-worlds theory auf verschiedene Arten genutzt, etwa zur Abgrenzung von fiktionalem und faktualem Erzählen (Pavel 1986, Ryan 1991), für eine Typologie narrativer Welten (Maître 1983; Ryan 1991), zur Bestimmung des Wahrheitsgehalts narrativer Aussagen (Doležel 1980, 1998; Ryan 1981), für ein semantisches Plot-Modell (Ryan 1991, Gutenberg 2000) und als semantisches Modell multiperspektivischen Erzählens (Surkamp 2000, 2002, 2003). Auch wenn die possible-worlds theory eine anerkannte Theorie in der postklassischen Narratologie ist (vgl. Nünning/Nünning 2002), darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um eine höchst heterogene Theorie handelt.96 Im Folgenden wird primär auf die von Eco und Ryan entwickelte und später von Gutenberg und Surkamp erweiterte Theorie der möglichen Welten rekurriert. Diese bedient sich drei zentraler Prämissen der philosophischen possible-worlds theory: Erstens übernimmt sie die Vorstellung eines Systems, das aus einer Vielzahl von Welten besteht. Zweitens unterscheidet sie Welten nach ihrem
95 Wichtig ist festzuhalten, dass es sich bei „Möglichkeit“ nach der possible-worlds theory um eine logische Kategorie handelt: “The set of logically possible worlds […] embraces worlds that are impossible according to different criteria, such as physical, technological or psychological possibility. A world where animals can talk and people can undertake intergalactic travel is phys ically and technologically impossible, but still within the boundaries of logical possibility […].” (Semino 1997: 60) 96 Ryan (2001: 99) merkt daher an: “The applications of possible-world [sic] […] theory to liter ary criticism have been as diverse as the interpretations given to the concept by philosophers and literary scholars.” Eine genauere Übersicht über die verschiedenen Ansätze innerhalb der possible-worlds theory bieten Ronen (1994) und Ryan (1992, 2013).
1 Grundannahmen der literaturwissenschaftlichen possible-worlds theory
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ontologischen Status. Drittens greift sie das Konzept der Zugänglichkeitsrelationen (accessibility) zwischen den verschiedenen Welten auf (vgl. Ryan 1992: 530). Das zuletzt genannte Konzept der Zugangsrelationen erweist sich als Ausgangspunkt für eine Theorie narrativer Unzuverlässigkeit, da es erlaubt, sowohl die fiktionale/semantische als auch die rezeptionstheoretische/pragmatische Dimension des Phänomens unter dem Deckmantel eines theoretischen Ansatzes zu vereinen. Für die Untersuchung fiktionaler Welten können zwei Arten von Zugänglichkeitsrelationen unterschieden werden, die Ryan als intra- und transunivers bezeichnet. Intrauniverse Relationen bezeichnen die Relation zwischen den Wirklichkeitsmodellen der Figuren (possible worlds; PW) zu der erzählten Welt (textual actual world; TAW) innerhalb des fiktionalen Universums: “[I] ntrauniverse relations make it possible for the members of TAW to travel mentally within their own system of reality.” (Ryan 1991: 32) Transuniverse Relationen dagegen bezeichnen das Verhältnis der tatsächlichen Welt (actual world; AW) zur fiktionalen Welt: “[T]ransuniverse relations function as the airline through which the participants in the fictional game reach the world at the center of the textual universe.” (Ryan 1991: 32) Dabei gehen die Vertreter der PWT davon aus, dass der Rezipient beim Akt des Lesens in diese Welt hinabtaucht und diese für die Zeit der Rezeption als real begreift – daher sprechen sie von „Rezentrierung“.
Abb. 3: Trans- und intrauniverse Relationen nach der possible-worlds theory
Diese Unterscheidung soll die Grundlage für die Entwicklung eines Beschreibungs- und Erklärungsmodells narrativer Unzuverlässigkeit sein. Mithilfe des Konzepts der intrauniversen Relationen soll ein Beschreibungsmodell narrativer
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Unzuverlässigkeit entwickelt werden, das es erlaubt, das fiktionale Universum mitsamt der TAW und den verschiedenen Figurenwelten differenziert zu beschreiben. Darüber hinaus stellt ein solches Beschreibungsmodell auch die Grundlage für das Erklärungsmodell dar, da das fiktionale Universum als das Ergebnis einer Interpretationsleistung verstanden wird. Für ein Erklärungsmodell werden hingegen die transuniversen Relationen betrachtet, wobei mit Rückgriff auf Konzepte der Kognitionspsychologie die Frage beantwortet werden soll, wie der Rezipient ein fiktionales Universum rekonstruiert (vgl. Kap. V).
2 Zum Potenzial intrauniverser Relationen als Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit Intrauniverse Relationen bezeichnen die Beziehungen zwischen verschiedenen Welten innerhalb eines fiktionalen Universums. Nach Ryan (1992: 535) fungieren fiktionale Universen als eigene Modalsysteme, die aus einer Vielzahl verschiedener Welten bestehen: einer tatsächlichen Welt und verschiedenen möglichen Welten. Während Erstere das faktuale Zentrum des fiktionalen Universums darstellt und als textual actual world (TAW) bezeichnet wird, sind die von den Figuren entworfenen mentalen Welten lediglich mögliche Welten innerhalb des fiktionalen Universums.97 Die textual actual world, das Zentrum des fiktionalen Universums, umfasst einen Korpus von Figuren und Handlungsplätzen sowie spezifische moralische Wertesysteme. Als in der Zeit realisierte Entität setzt sich die textual actual world aus verschiedenen, bereits aktualisierten Zuständen zusammen, welche die Historie der TAW konstituieren: “As an entity existing in time, TAW is a succession of different states and events which together form a history.” (Ryan 1991: 113) Darüber hinaus bestimmt die spezifische Konstitution einer TAW (inklusive ihrer physikalischen Gesetzmäßigkeiten) mögliche zukünftige Handlungsverläufe: “This world is comprised of the current state of affairs, its predecessors, and the general law which define the range of possible future developments from the current situation.” (Ryan 1985: 720)
97 “Just as we manipulate possible worlds through mental operations, so do the inhabitants of fictional universes: their actual world is reflected in their knowledge, their beliefs corrected in their wishes, replaced by a new reality in their dreams and hallucinations. Through counterfactual thinking they reflect on how things might have been, through plans and projections they contemplate things that still have a chance to be, and through the act of making the fictional stories they recenter their universe into what is for them a second-order, and for us a third-order of reality.” (Ryan 1991: 22)
2 Zum Potenzial intrauniverser Relationen als Beschreibungsmodell
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In Abgrenzung zu der textual actual world bezeichnet eine Figurendomäne (character’s domain) bzw. eine Figurenwelt „die subjektive Welt der individuellen Figur, wobei jede Domäne von den unterschiedlichen Regeln der individuellen Figurenperspektive der textual actual world bestimmt wird“ (Dannenberg 1995: 63). Diese „subjektive[n] Wirklichkeitsmodell[e]“ (Surkamp 2002: 175) besitzen als mentale Produkte einen anderen ontologischen Status als die TAW und stellen im fiktionalen Universum lediglich mögliche Welten dar. Eine besondere Figurenwelt ist die Erzählerwelt (narratorial actual world; NAW), die als subjektiver Filter zwischen Leser und textual actual world geschaltet ist (Ryan 1991: 113). Figurenwelten lassen sich nach Ryan (1991: 114–119) in verschiedene Subwelten unterteilen: – Wissenswelten („k-worlds“) betreffen epistemische Komponenten der Figurenwelten und lassen sich nach Ryan in Wissen, Glauben und Nichtwissen unterteilen. – Hypothetische Extensionen von Wissenswelten („prospective extensions of knowledge worlds“) meinen Vorstellungen der Figuren über mögliche zukünftige Verläufe des Geschehens in der TAW.98 – Intentionswelten („intention-worlds“) umfassen die Handlungsziele sowie die Pläne einer Figur. – Wunschwelten („wish-worlds“) schließen Wünsche, Bedürfnisse und Triebe einer Figur ein. – Pflichtenwelten („obligation-worlds“) repräsentieren das Werte- und Normensystem bzw. Moral- und Ethiksystem einer Figur. – Bei Fantasieuniversen („fantasy-universes“) handelt es sich um mentale Konstrukte wie Träume, Fantasien oder intradiegetisch-fiktionale Erzählungen (beispielsweise ein fiktionaler Roman innerhalb des fiktionalen Universums). Fantasieuniversen unterscheiden sich insofern signifikant von den anderen Welten, da sie eigene autonome Modalsysteme darstellen, die aus einer eigenen TAW mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und possible worlds bestehen (vgl. Gutenberg 2000: 53). Wenn sich die Protagonistin aus Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) in das Fantasieland träumt, dann bildet das Wunderland ein neues Modalsystem mit einer eigenständigen TAW, in der eigene Gesetzmäßigkeiten herrschen (in der TAW von Alices Fantasie universum können beispielsweise Figuren durch Zaubertränke wachsen und schrumpfen oder Tiere mit Menschen reden) und eigene possible worlds der Figuren (z. B. Alices Wunschwelt, aus dem Wunderland zu entkommen). Da
98 “Just as TAW contains a domain of the actualizable, the K-world of characters includes a prospective domain, representing their apprehension of the tree of possible developments out of the present situation.” (Ryan 1991: 116)
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Fantasieuniversen eigene Modalsysteme konstituieren, erfordern diese von den Figuren und Leser eine (weitere) Rezentrierung. Das folgende Schaubild (Abb. 4) ist eine Synthese verschiedener Grafiken von Ryan (2001: 102; 2006: 648) und illustriert exemplarisch die vorangegangenen Ausführungen. Wie beschrieben, stellt die textual actual world das Zentrum des fiktionalen Universums dar, das von verschiedenen Figurenwelten umgeben wird.
Abb. 4: Aufbau eines fiktionalen Universums aus Sicht von intrauniversen Relationen
2 Zum Potenzial intrauniverser Relationen als Beschreibungsmodell
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Diese setzen sich aus verschiedenen Subwelten zusammen. Die Relationen der Figurenwelten zur textual actual world variieren danach, wie weit sie sich mit den Tatsachen in der TAW decken. Darüber hinaus stehen die Subwelten innerhalb der Figurendomänen in einem spezifischen Verhältnis zueinander. Einen Sonderfall der Subwelten stellen Träume und Fantasien dar, weil sie ein eigenes Modalsystem (ein Fantasieuniversum) generieren, das eine weitere Rezentrierung erfordert.99 Auf der Grundlage intrauniverser Relationen entwirft Ryan (1991) ein Plotmodell, welches von Gutenberg (2000) später modifiziert und präzisiert wird. Da das fiktionale Universum und damit das Verhältnis der verschiedenen Welten zueinander nicht statisch, sondern dynamisch ist und sich fortwährend verändert, kommt es zu Konflikten zwischen den Welten (Ryan 1991: 119–120). Diese Weltkonflikte wiederrum sind für Ryans und Gutenbergs semantische Theorie konstitutiv für einen Plot: Entscheidend für das Zustandekommen eines Plots ist dabei die Entstehung eines Konflikts innerhalb des Erzähluniversums […]. Aus der Perspektive der Figuren […] ist das Ziel eine möglichst große Übereinstimmung ihrer privaten Welten mit der TAW (mit Ausnahme der F-Universen). Wenn alle Propositionen sämtlicher Welten miteinander zu vereinbaren sind, ist das zwar ein Idealzustand für jede reale Gesellschaft, aber alles andere als eine Voraussetzung für einen gelungenen Plot. Sobald sich jedoch eine Welt nicht mehr mit der TAW deckt, sondern ihre bisherige Umlaufbahn verläßt, entsteht im Erzähluniversum ein Konflikt. (Gutenberg 2000: 64–65)
Konflikte zwischen Welten führen dazu, dass Figuren handeln, um „die TAW möglichst in Einklang mit den privaten Weltvorstellungen zu bringen“ (Dannenberg 1995: 64).100 Ryan unterscheidet zwischen vier Arten von Weltkonflikten: erstens können „Konflikte zwischen der TAW und Figurenwelten“ (Gutenberg 2000: 65) auftreten. So ist ein Konflikt zwischen der Wissenswelt einer Figur und der TAW etwa typisch für Kriminalgeschichten. Dort fehlt dem Detektiv das Wissen über den Täter eines Verbrechens und dessen Hintergründe (Ryan 1991: 121). Eine
99 Es muss darauf hingewiesen werden, dass viele postmoderne Erzählungen sich einer solch klaren Trennung ontologischer Grenzen entziehen, wie McHale (1987) zeigt. 100 Ryan (1991: 119–120) begreift Plot als ein „Spiel“ und die Handlungen der Figuren als Spielzüge: “From the viewpoint of its participants, the goal of the narrative game – which is for them the game of life – is to make TAW coincide with as many as possible of their private worlds (F-universes excepted). The moves of the game are the actions through which the characters attempt to alter relations between worlds.”
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zweite Gruppe umfasst Konflikte innerhalb einer Figurenwelt. Diese treten dann auf, wenn verschiedene Einzelwelten miteinander in Konflikt geraten. Wenn eine Figur beispielsweise etwas haben möchte, was sie nur durch Diebstahl erlangen kann, kommt es unter Umständen zu einem Konflikt zwischen der Wunschwelt und der Obligationswelt einer Figur (Ryan 1991: 121). Einen dritten Typus bilden Konflikte innerhalb einer Einzelwelt. So ist etwa denkbar, dass eine Figur von Wünschen getrieben ist, die sich gegenseitig ausschließen (Ryan 1991: 122). „Konflikte zwischen den privaten Welten verschiedener Figuren“ (Gutenberg 2000: 67) stellen einen vierten Typus dar. Ein solcher Konflikt liegt beispielsweise vor, wenn die Befriedigung der Wunschwelt einer Figur die Nicht-Befriedigung der Wunsch welt einer anderen Figur zur Folge hat. Dieser Konflikt charakterisiert etwa üblicherweise das Verhältnis zwischen Held und Bösewicht im Märchen (Ryan 1991: 122). Darüber hinaus differenziert Ryan zwischen objektiven und subjektiven Konflikten, d. h., sie unterscheidet, ob ein Konflikt objektiv (im fiktionalen Universum) vorliegt oder auf eine fälschliche Annahme einer Figur zurückgeht. Ein subjektiver Konflikt liegt beispielsweise in Shakespeares Othello (1603) vor, in dem der titelgebende Held fälschlicherweise annimmt, dass Desdemona ihn betrügt (vgl. Ryan 1991: 122). Letzteres Beispiel weist aufgrund der Diskrepanz zwischen der Figurenwelt und der TAW darauf hin, dass sich ein Modell intrauniverser Relationen nicht nur als Grundlage für eine semantische Plottheorie, sondern auch als ein Beschreibungsmodell für narrative Unzuverlässigkeit eignet.101 Als ein solches bietet sich dieses aus verschiedenen Gründen an: Erstens geht es von einer objektivierbaren Wirklichkeit aus – in Form der TAW – und stellt daher den Maßstab für narrative Unzuverlässigkeit in das Zentrum der Theorie.102 Zweitens bietet es eine terminologische Grundlage, um verschiedene Weltenmodelle zu differenzieren und in Relation zueinander zu setzen: „[Die] Unterscheidung zwischen einer tatsächlichen (wenngleich freilich fiktiven) Welt im Text und den subjektiven Figurenwelten berücksichtigt die Möglichkeit, daß die Welt fiktionaler Fakten in den verbalen und mentalen Repräsentationen der Figuren oftmals nicht adäquat
101 Auch wenn Othello freilich ein Drama und keine Erzählung ist. 102 Dies heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die possible-worlds theory nicht auf experimentelle Texte anwendbar wäre, die sich der Rekonstruktion einer kohärenten TAW verweigern (Ryan 1998: 139). Anders dagegen Eco (1998 [1987]).
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wiedergegeben werden.“ (Surkamp 2000: 117)103 Drittens können durch die Unterteilung in Subwelten, anders als mit den strukturalistischen Konzepten des Erzählens und Fokalisierens, „auch die konzeptuell-ideologischen Standpunkte von Erzählern und Figuren“ (Surkamp 2000: 119) erfasst werden. Viertens hebt das intrauniverse Modell die Tatsache hervor, dass ein fiktionales Universum dynamisch ist. Insofern kann das Modell der Tatsache Rechnung tragen, dass sich bei ironisch-unzuverlässigen Erzählerfiguren und ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanzen der Grad der (Un-)Zuverlässigkeit verändern kann (vgl. Kap. II.2.2).104
3 Konzeption eines Beschreibungsmodells narrativer Unzuverlässigkeit auf der Grundlage intrauniverser Relationen105 Aufgrund der genannten Vorzüge der intrauniversen Relationen verwundert es, dass es bislang an einem adäquaten Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit mangelt. So beschränken sich bisherige Betrachtungen der narrativen Unzuverlässigkeit im Rahmen der intrauniversen Relationen hauptsächlich auf das Verhältnis von der TAW zur NAW.106 Danach wird narrative Unzuverlässigkeit als Diskrepanz zwischen der Erzählerwelt und der TAW begriffen (Zipfel 2011). Das Phänomen der narrativen Unzuverlässigkeit jedoch ausschließlich auf einen Konflikt zwischen NAW und TAW zu limitieren, scheint allerdings undifferenziert, da in den wenigsten Texten ein Konflikt zwischen TAW und NAW explizit gemacht wird, sondern dieser eher durch andere Weltkonflikte impliziert wird. Daher soll auf Àlvarez Amorós (1991) Annahme zurückgegriffen werden, narrative Unzuverlässigkeit nicht nur auf das Verhältnis von NAW und TAW zu beschränken, sondern vielmehr auch die anderen Figurenwelten mit in das Beschreibungsmo-
103 Ähnlich formuliert es Ryan (2006: 649): “From the reader’s point of view, the epistemic world of characters contains a potential inaccurate image of the actual world of the narrative universe, but from the character’s point of view, this image is the actual world itself.” 104 Surkamp (2000: 119) hebt diesen Aspekt in Bezug auf multiperspektivisches Erzählen ebenfalls hervor. 105 Dieses Kapitel deckt sich in weiten Teilen mit Vogt (2015). Einige Passagen wurden übersetzt übernommen. 106 Während Álvarez Amorós (1991) und Jedličková (2008) auf diese Problematik im Falle des ambig-unzuverlässigen Erzählens hinweisen, untersucht Surkamp (2000, 2002, 2003) diese in Bezug auf multiperspektivisches Erzählen.
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dell einzubeziehen.107 In dem hier vorgeschlagenen Modell sollen Konflikte zwischen Weltmodellen konstitutiv für narrative Unzuverlässigkeit sein, da diese auf eine mögliche Diskrepanz von Erzählerwelt zu TAW deuten.108 Wenn Weltkonflikte ein konstitutives Merkmal narrativer Unzuverlässigkeit darstellen, ist es sinnvoll, zwischen verschiedenen Arten von Konflikten zu differenzieren. Dafür ist es notwendig, die bestehende Terminologie mit Rückgriff auf strukturalistisch-narratologische Terminologie zu präzisieren. Dies ist deshalb geboten, da sich Vertreter der possible-worlds theory in erster Linie mit semantischen Aspekten – also mit Elementen der story-Ebene (also mit dem „Was“) – auseinandersetzen, d. h. mit folgenden Fragen: Wie ist die TAW beschaffen? Was passiert tatsächlich innerhalb der TAW, was bleibt virtuell? Was kann innerhalb der TAW passieren, was dagegen nicht? Welche Konflikte gibt es zwischen der TAW und Figurenwelten bzw. zwischen den Figurenwelten oder innerhalb einer Figurenwelt? Das „Wie“ – also die narrative Vermittlung und damit einhergehend die Auswirkungen auf die Rezeption – (also die discourse-Ebene) wird dagegen vernachlässigt.109 Daher spielen Fragen, wie dieses fiktionale Universum mit seinen verschiedenen Weltmodellen narrativ inszeniert ist, ob und welche spezifischen Weltmodelle in dem fiktionalen Universum durch die Art der narrativen Inszenierung hervorgehoben werden, kaum eine Rolle.110 Die Vernachlässigung der narrativen Inszenierung bei intrauniversen Relationen wird besonders dadurch deutlich, dass die Rolle der Erzählinstanz in der possible-worlds theory einseitig aufgewertet wird, während andere Kategorien
107 Álvarez Amorós (1991: 63) schreibt: “If the characters’ real subworlds present contradictions, their logical union cannot constitute the articulatory world for the simple reason that it cannot tolerate internal contradictions.” 108 Durch diese Vielfalt von Welten hebt die possible-worlds theory die Stimmenvielfalt i. S. Bachtins in Form von Polyphonie und Dialogismus hervor: “Though the text should be regarded as the highest authority in establishing the facts of the fictional world, this authority does not derive from a monolithic power but is distributed – in accordance with Mikhail Bakhtin’s idea of dialogism – among a plurality of narrative voices. Since these voices may contradict each other, fictional truths cannot be automatically derived from textual statements.” (Ryan 1992: 533) Diese Stimmenvielfalt ist auch für Wayne Booth (1983 [1961]: 409) konstitutiv für unreliable narration: “In self-defense I would say only that critical terms are not fixed concepts and that a great deal of what I discuss under irony and the unreliable narrator is the equivalent of what others discuss under terms like erlebte Rede or under Bakhtin’s terms ‘polyphony’ and ‘heteroglossia.’” (Hervorhebung im Original) 109 Semino (2003: 89) stellt fest: “[In possible worlds approaches, there] is no systematic consideration of how worlds are constructed in the action between the reader’s mind and linguistic stimuli, and no attention for the role of linguistic choices and patterns in the text.” 110 Siehe dazu etwa Gutenbergs Kritik (2000: 53) an Ryans Modell.
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des Diskurses terminologisch ausgeblendet werden.111 So spricht Ryan (1991: 113) bei der mentalen Projektion der TAW durch einen Erzähler von der narratorial actual world: “[A] personal narrator is a mind interposed between the facts and the reader, and the discourse reflects the contents of his or her mind. The reader does not perceive the narrative actual world directly, but apprehends it through its reflection in a subjective world.” Interessanterweise könnte Ryans Definition der narratorial actual world auch für eine Fokalisierungsinstanz gelten, da statt der erzählerischen Vermittlung eine subjektiv gefärbte Sichtweise das zentrale Element der NAW darstellt.112 Aus diesem Grund sollen die Welten mithilfe narratologisch-strukturalistischer Terminologie differenziert werden. Dabei lassen sich vier verschiedene Arten von Welten unterscheiden: Erzählerwelten, Fokalisiererwelten, Adressatenwelten und Figurenwelten. Erzählerwelten (narratorial actual world) werden durch homodiegetische Erzähler generiert, welche als Figur selbst Teil der erzählten Welt sind. Einer heterodiegetischen Erzählinstanz kann laut Ryan dagegen keine Erzählerwelt zugeschrieben werden, weil ihr die dafür notwendige „human dimension“ fehlt (Ryan 1991: 71). Neben homodiegetischen Erzählern können zudem Figuren, die als interne Fokalisierungsinstanzen fungieren, als subjektiver Filter zwischen Leser und Geschehen in der TAW geschaltet sein. Aus diesem Grund ist es aus terminologischer Sicht in einem solchen Fall geboten, anstatt undifferenziert von einer Figurenwelt von einer Fokalisiererwelt zu sprechen.
111 Eine Ausnahme bildet Gutenberg (2000: 55–64), die zumindest das Verhältnis von externer und interner Fokalisierung bei homodiegetischen Erzählinstanzen im Rahmen der possibleworlds theory diskutiert (sie spricht von erzählendem und erlebendem Ich). Das Verhältnis von heterodiegetischen Erzählinstanzen zu Fokalisierungsinstanzen blendet sie dagegen aus. 112 Problematisch ist die Vernachlässigung der Fokalisierungsinstanzen auch deshalb, weil Ryans Beschreibung der fiktionalen Universen dadurch irreführend wird. So nimmt Ryan (1991: 113) an, dass sich im Falle eines impliziten, unpersönlichen Erzählers die NAW und die TAW überschneiden, während bei einem persönlichen Erzähler die NAW von der TAW abweichen kann. Dies impliziert, dass der Leser im Falle eines impliziten, unpersönlichen Erzählers einen „ungefilterten“ Blick auf die TAW hätte. Ob dies jedoch der Fall ist, hängt davon ab, ob das Geschehen extern fokalisiert ist oder ob eine Figur als interne Fokalisierungsinstanz fungiert, aus deren Sicht der Rezipient die TAW wahrnimmt. So bekommt der Rezipient bei einem extern-fokalisierten Text wie etwa Hemingways Kurzgeschichte „Hills like White Elephants“ (1927) tatsächlich einen ungefilterten Blick auf das Geschehen in der TAW und muss anhand des Verhaltens und der Aussagen der Figuren deren Figurenwelten rekonstruieren. Im Falle von Henry James’ Erzählung „The Liar“ (1889), deren Welt ebenfalls von einer heterodiegetischen Erzählinstanz erzählt wird, fungiert jedoch eine Figur konstant als interne Fokalisierungsinstanz, weshalb der Rezipient das Geschehen in der TAW ausschließlich aus deren subjektiv gefärbten Sichtweise wahrnimmt.
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Als Kontrastpaar zu den Kategorien der Erzählerwelten und Fokalisiererwelten, in die der Rezipient direkten Einblick hat, fehlt dem Rezipienten ein solcher bei Adressatenwelten und (nicht-fokalisierten) Figurenwelten. Vielmehr müssen diese Weltenmodelle vom Leser erschlossen werden. Im Falle einer Adressatenwelt wird eine spezifische Figurenwelt impliziert, wenn ein Erzähler einen mehr oder minder genau identifizierbaren Adressaten anspricht (vgl. Nünning/Nünning 2000: 50–51; Surkamp 2003: 45). Von der Erzählinstanz werden dem fiktionalen Adressaten – als Teil der Wertegemeinschaft der erzählten Welt – ein spezifisches Wissen sowie ein spezifisches Normensystem und damit gleichzeitig eine spezifische Sicht auf das Geschehen zugeschrieben (vgl. Surkamp 2003: 45; Wolf 2000: 83). Neben den Weltmodellen von Adressaten stellen die spezifischen Wirklichkeitsmodelle nicht-fokalisierender Figuren den letzten Fall dar. Ebenso wie zu den Adressatenwelten hat der Rezipient keinen direkten Einblick in diese, so dass er das individuelle Weltmodell anhand des Verhaltens sowie der Äußerungen der jeweiligen Figuren ableiten muss. Aus Gründen der Einfachheit sollen nicht-fokalisierte Figurenwelten im Folgenden als Figurenwelten bezeichnet werden. Auf dieser terminologischen Grundlage können – analog zu Ryans und Gutenbergs plot-Modell – verschiedene Formen von Konflikten zwischen Weltmodellen bei narrativer Unzuverlässigkeit unterschieden werden.113 Die gewählten Beispiele sollen nur exemplarisch die verschiedenen Arten von Konflikten illustrieren, sie geben die Komplexität der Konflikte in den individuellen Romanen und Erzähltexten nur partiell wieder. – Konflikte zwischen der Erzählerwelt und der TAW Ein solcher Konflikt liegt dann vor, wenn ein Erzähler sich bei seiner Darstellung widerspricht, so dass diese Aussagen in Bezug auf die TAW fraglich werden, oder wenn der Erzähler etwas als Tatsache schildert, was in der TAW unmöglich ist.114 Ein Beispiel für einen Konflikt zwischen Erzählerwelt und TAW findet sich in Kazuo Ishiguros A Pale View of Hills (1982). Hier erzählt die Erzählerin Etsuko zunächst von einem Ausflug mit ihrer Freundin und deren Tochter. Später gibt sie ihrer eigenen Tochter Niki ein Foto, das während des Ausflugs entstanden ist. Das Foto hat für die Erzählerin besondere Bedeu-
113 Die hier vorgeschlagenen Konflikte orientieren und decken sich in vielen Aspekten mit den von Allrath (1998), Nünning (1998), Rimmon-Kenan (2002 [1983]) und Wall (1994) aufgeführten Katalogen für textuelle Hinweise auf narrative Unzuverlässigkeit, überführen diese aber in den theoretischen Rahmen der possible-worlds theory. 114 Dies korrespondiert mit Nünnings textuellem Merkmal für Unzuverlässigkeit: „Explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Handlungen eines Erzählers.“ (Nünning 1998: 27)
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tung, weil ihre zweite, verstorbene Tochter Keiko bei diesem Ausflug glücklich war. Allerdings hat Keiko nach den vorausgehenden Darstellungen der Erzählerin gar nicht an dem Ausflug teilgenommen (da sie zum Zeitpunkt des Ausflugs noch gar nicht geboren war), weshalb es einen Widerspruch zu der zuvor etablierten TAW gibt.115 In Patrick McGraths Spider (1990) schildert der homodiegetische Erzähler Dinge, die innerhalb der TAW epistemologisch unmöglich für ihn scheinen. So beschreibt er in einem Kapitel, wie sein Vater seine Geliebte und spätere Ehefrau kennenlernt, und stellt dabei das Geschehen aus der Sicht (und damit aus der Fokalisiererwelt) des Vaters dar. Während der Erzähler nichts von dem Abend wissen kann, da er, wie er selbst sagt, zu Hause am Fenster wartet, und sein Vater ihm nichts von dem Abend erzählt, erscheint die Darstellung des Erzählers fragwürdig.116
– Konflikte zwischen einer Fokalisiererwelt und der TAW Analog dazu kann es Konflikte zwischen einer Fokalisiererwelt und der TAW geben. Im Gegensatz zu Konflikten zwischen Erzählerwelten und der TAW zeichnen sich diese in der Regel dadurch aus, dass die subjektive Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz durch die Darstellung der TAW durch eine heterodiegetische Erzählinstanz korrigiert werden kann. John Irvings Roman A Widow For One Year (1998: 17–19) beginnt etwa damit, dass das fokalisierende vierjährige Mädchen Ruth durch Geräusche aus dem Schlafzimmer der Eltern geweckt wird. Als es die Schlafzimmertür öffnet, sieht Ruth ihre Mutter und den Geist einer ihrer toten Brüder. Dieser Fokalisiererwelt wird die von der Erzählinstanz etablierte TAW gegenübergestellt, in der die Erscheinung
115 Dieser Weltkonflikt kann nicht einfach als fehlerhafte Erinnerung der Erzählerin gelesen werden, sondern lässt verschiedene Interpretationen zu, weshalb der Text als ambig-unzuverlässiges Erzählen qualifiziert werden kann: “The competing interpretative possibilities keep shifting, like the coloured shapes in a kaleidoskope. Either: (a) Etsuko is confusing different sets of memories; or (b) Etsuko is merging memory and fantasy; or (c) Etsuko is projecting her guilt about forcing Keiko to leave Japan on to her memories of Sachiko in a similar situation; or (d) Etsuko is projecting her guilt about the above on a fantasy of a woman called Sachiko and her child.” (Lewis 2000: 36) Ähnlich auch Wong (2005: 30), die aufgrund verschiedener Weltenkonflikte argumentiert: “As the friendship between the two women unfolds from Etsuko’s memory, the reader begins to suspect that Sachiko may be a figment of Etsuko’s imagination and that the death of her own grown daughter Keiko may have inspired the creation of a fictive friendship from the past.” 116 Später stellt sich heraus, dass der Vater weder eine Geliebte hatte noch seine Ehefrau ermordete, um seine neue Liebe zu heiraten. Vielmehr handelt es sich dabei um die Annahmen des schizophrenen Erzählers, der sich von seiner Mutter entfremdet und in ihr eine Rivalin erkennt.
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nicht übernatürlicher Art ist, sondern lediglich Edward, Ruths jugendlicher Babysitter. Ähnliche Konflikte finden sich in Ambrose Bierces Kurzgeschichte „Chickamauga“ (1889), in der ein fokalisierendes Kind das Grauen des Krieges nicht begreift. – Konflikte innerhalb einer Erzählerwelt Ein solcher Konflikt tritt dann auf, wenn es widerstreitende Subwelten innerhalb der Erzählerwelt gibt. Dies ist dann der Fall, wenn die Erzählinstanz die eigene Wahrnehmung infrage stellt, wie es etwa die homodiegetische Erzählerin in Henry James’ The Turn of the Screw (1898) an verschiedenen Stellen tut, die im Verlauf der Novelle immer wieder hinterfragt, ob die Geister wirklich existieren oder Teil ihrer Einbildung sind – hier stehen sich verschiedene Wissenswelten gegenüber. Ein ähnlich berühmtes Beispiel für einen Konflikt innerhalb einer Erzählerwelt in Bezug auf Werte und Normen bietet Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn (1884), in dem der homodiegetische Erzähler fortwährend die ethische Dimension seines Handelns reflektiert und unschlüssig ist, ob er den entlaufenen Sklaven Jim verraten sollte (wie es das Gesetz vorsieht) oder nicht (da er Jim nicht als Objekt im Sinne des Gesetzes, sondern als Individuum wahrnimmt). Hier findet sich ein Konflikt zwischen zwei Pflichtenwelten. – Konflikte innerhalb einer Fokalisiererwelt Ebenso wie bei Erzählinstanzen kann aber auch eine Fokalisierungsinstanz selbst die eigene Wahrnehmung bzw. die Bewertung des Geschehens infrage stellen und damit einen Konflikt zwischen der von ihr generierten Welt und der TAW explizit machen. So zweifelt die Fokalisierungsinstanz Oedipa Maas im Verlauf von Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1967) in zunehmendem Maße daran, ob das von ihr entdeckte Untergrundpostsystem Tristero wirklich existiert oder ob dieses nicht lediglich ein Produkt ihrer möglichen Paranoia ist.117
117 Der Gedankenfluss der Fokalisierungsinstanz Oedipa Maas wird in einem inneren Monolog wiedergegeben: “Either you have stumbled indeed, without the aid of LSD or other indole alkaloids, on a secret richness and concealed density of dream; on to a network by which X number of Americans are truly communicating whilst reserving their lies, recitations of routine, arid betrayals of spiritual poverty, for the official government delivery system; maybe even on to a real alternative to the exitlessness, to the absence of surprise of life, that harrows the head of everybody American you know, and you too, sweetie. Or you are hallucinating it. Or a plot has been mounted against you, so expensive and elaborate, involving items like the forging of stamps and ancient books, constant surveillance of your movements, planting of post horn images all
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– Konflikte zwischen einer Erzählerwelt und einer Fokalisiererwelt Ein Konflikt zwischen Erzählerwelten und Fokalisiererwelten tritt auf, wenn die Wahrnehmung oder Bewertung einer Fokalisierungsinstanz von einem homodiegetischen Erzähler berichtigt wird. In Charles Dickens’ Romanen David Copperfield (1849/50) und Great Expectations (1861) finden sich für autobiografisches Erzählen typische Konflikte zwischen der Erzählerwelt (dem erzählenden Ich) und einer Fokalisiererwelt (dem erlebenden Ich), in denen der Erzähler seine früheren Annahmen und Bewertungen revidiert (vgl. Kap. VI.2). – Konflikte zwischen Erzählerwelten Konflikte zwischen Erzählerwelten treten auf, wenn verschiedene Erzählerwelten dasselbe Geschehen in der TAW unterschiedlich darstellen oder bewerten. In Ambrose Bierces „The Moonlit Road“ (1893) werden die Hintergründe über den tragischen Tod einer Frau aus der Sicht des Sohnes, des Ehemannes und der getöteten Frau geschildert. Die verschiedenen Erzählerwelten geraten in Konflikt miteinander, weil ihre Wissenswelten voneinander abweichen. Im Vorwort von Nabokovs Lolita (1955) warnt der fiktive Herausgeber John Ray vor der Moral und den Manipulationsversuchen des Erzählers Humbert Humbert und kontrastiert damit sein Weltmodell mit Humberts, der sich als geläuterter Verbrecher präsentieren will. – Konflikte zwischen Fokalisiererwelten Zu einem Konflikt zwischen verschiedenen Fokalisererwelten kommt es, wenn diese sich in Bezug auf die Wahrnehmung der Fakten oder die Bewertung des Geschehens widersprechen. In Ian McEwans Novelle On Chesil Beach (2007) beispielsweise wird das Geschehen einer Hochzeitsnacht aus der Sicht der Fokalisierungsinstanzen Edward und Florence alternierend dargestellt. Dabei entpuppen sich die Fokalisiererwelten als nicht miteinander vereinbar. In ähnlicher Weise geschieht dies in Virginia Woolfs Mrs Dalloway (1996 [1925]). Am deutlichsten wird die Diskrepanz zwischen Fokalisiererwelten in einer Szene, in der verschiedene Fokalisierungsinstanzen ein Flugzeug
over San Francisco, bribing the librarians, hiring of professional actors and Pierce Inverarity only knows what-all besides, all financed out of the estate in a way either too secret or too involved for your non-legal mind to know about even though you are co-executor, so labyrinthine that it must have meaning beyond just a practical joke. Or you are fantasying some such plot, in which case you are a nut, Oedipa, out of your skull. Those, now that she was looking at them, she saw to be the alternatives.” (Pynchon 1996 [1967]: 117–118)
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beobachten (Woolf 1996 [1925]: 23–26). Während verschiedene fokalisierende Figuren die Werbenachricht, die das Flugzeug an den Himmel über den Hyde Park schreibt, zu entziffern versuchen, glaubt der traumatisierte Kriegsveteran Septimus Warren Smith, dass seine gefallenen Kameraden mit ihm kommunizieren. – Konflikte zwischen einer Erzählerwelt und einer Figurenwelt Konflikte zwischen Erzählerwelten und Figurenwelten können sich auf die Darstellung des Geschehens in der TAW oder auf die Bewertung beziehen. Sie können auftreten, weil eine Figur der Darstellung oder Bewertung des Erzählers widerspricht. Ein Beispiel für den ersten Fall lässt sich in Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) finden. Dort schildert der homodiegetische Erzähler Patrick Bateman, wie er Paul Owen in dessen Wohnung tötet. Allerdings haben andere Figuren im Verlauf der Erzählung Kontakt zu jenem Paul Owen und stellen damit die Erzählerwelt in Zweifel (vgl. Kap. VII.3). Neben Aussagen von Figuren können aber auch „die Reaktionen anderer Figuren als Korrektiv“ (Nünning 1998: 27) fungieren und einen Konflikt zwischen einer Erzähler- und einer Figurenwelt indizieren. In Ring Lardners „Haircut“ (1984 [1925]) schwärmt der homodiegetische Erzähler Whitey von dem Rowdy Jim Kendall. Während dessen Streiche von Whitey für ihren Einfallsreichtum gepriesen werden, stellen die Reaktionen anderer Figuren diese Bewertung infrage. So verspricht beispielsweise Jim eines Tages seiner Exfrau und seinen Kindern, dass er ihnen Zirkustickets kauft, lässt sie dann aber vor dem Zirkuszelt vergeblich warten. Während Whitey diese Episode als Zeichen für Jims Gerissenheit preist, stellen die Reaktionen der weinenden Kinder und der erniedrigten Frau, die versucht, Fassung zu wahren, die positiven Bewertungen des Erzählers infrage.118 – Konflikte zwischen einer Fokalisiererwelt und einer Figurenwelt In ähnlicher Weise manifestieren sich Konflikte zwischen Fokalisierer- und Figurenwelten. Entweder wird der Wahrnehmung oder Bewertung explizit widersprochen oder der Konflikt wird durch das Verhalten der anderen Figur deutlich. Der erste Fall findet sich in Lionel Shrivers We Need to Talk About Kevin (2003). In dem Roman wird die Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz, welche im Handeln ihres Sohnes Kevin fortwährend Bösar-
118 “His wife and the kids waited and waited and of course he didn’t show up. His wife didn’t have a dime with her, or nowhere else, I guess. So she finally had to tell the kids it was all off and they cried like they wasn’t never goin’ to stop.” (Lardner 1984 [1925]: 12)
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tigkeit erkennt, durch die Interpretationen ihres Mannes Franklin in Zweifel gezogen. Als Beispiel eines Konflikts zwischen Fokalisierer- und Figurenwelt, der sich aufgrund des Verhaltens einer Figur offenbart, dient die folgende Passage aus Stephen Cranes Maggie: Girl of the Streets (1893). Darin bewundert die fokalisierende Protagonistin den zwielichtigen Aufschneider Pete. Während dieser in Maggies Fokalisiererwelt ein kultivierter Mann der gehobenen Gesellschaft ist, wird diese Einschätzung u. a. bei einer Abendveranstaltung in Zweifel gezogen, bei der Petes pöbelhaftes Verhalten von einem Kellner als Unverschämtheit empfunden wird. In den Augen des Kellners (und wohl auch des Lesers) ist Pete kein kultivierter Mann.119 – Konflikte zwischen einer Erzählerwelt und einer Adressatenwelt Ausschließlich Erzählinstanzen betreffend ist dagegen der Konflikt zwischen einer Erzählerwelt und einer Adressatenwelt. Ein solcher Konflikt wird dadurch erkennbar, dass ein Erzähler sich explizit an einen Adressaten wendet und versucht, seine Handlungen oder Bewertungen zu rechtfertigen.120 Damit impliziert der Erzähler, dass auch eine alternative Sichtweise auf das Geschehen möglich wäre. In Carolyn Jess-Cookes The Boy Who Could See Demons (2012) wendet sich der zehnjährige Erzähler Alex direkt an einen Adressaten und versucht diesen zu überzeugen, dass das Monster Ruen real sei und kein Produkt seiner Einbildung: “I know what you’re thinking: I’m crazy and Ruen is all in my head, not just his voice. That I watch too many horror movies. That Ruen’s an imaginary friend I’ve dreamed up because I’m lonely. Well, you’d be incredibly wrong if you thought any of that.” (JessCooke 2012: 13)
119 “He was extremely gracious and attentive. He displayed the consideration of a cultural gentleman who knew what was due. ‘Say, what deh hell? Bring deh lady a big glass! What deh hell use is dat pony?’ ‘Don’t be fresh, now,’ said the waiter, with some warmth, as he departed. ‘Ah, git off deh eart’,’ said Pete, after the other’s retreating form. Maggie perceived that Pete brought forth all his elegance and all his knowledge of high-class customs for her benefit.” (Crane 1979 [1893]: 22–23) 120 Dies korrespondiert mit Nünnings textuellem Merkmal für Unzuverlässigkeit: „Häufung von Leseranreden und bewußte Versuche der Rezeptionslenkung“ (Nünning 1998: 27).
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– SONDERFALL: Konflikte zwischen Erzählerwelten/Fokalisiererwelten und aus anderen Textsorten generierten Welten121 Einen Sonderfall stellen Konflikte zwischen Erzählerwelten und Welten dar, die aus anderen Textsorten generiert sind.122 In Sebastian Faulks’ Engleby (2007: 266–274) findet sich gegen Ende ein Gutachten, in dem ein Gerichtspsychologe den vom homodiegetischen Erzähler entworfenen Text unter medizinischen Gesichtspunkten analysiert und der Erzählerwelt in verschiedenen Aspekten widerspricht und zudem deren psychologischen Eigenarten aufzeigt. In Dennis Lehanes Shutter Island (2003) führen der fokalisierende Polizist Teddy Daniels (der in Wirklichkeit der schizophrene Mörder Andrew Laeddis ist, den er auf der Gefängnisinsel sucht) und ein Insasse ein Gespräch. Dieser warnt Teddy auf ominöse Weise: “This is about you. And Laeddis. This is all it’s ever been about. I was incidental. I was a way in.” (Lehane 2004 [2003]: 236) Später zitiert Dr Cawley, der leitende Arzt der psychiatrischen Anstalt, aus einem Transkript jenes Gesprächs. Darin heißt es: “I’m quoting here – ‘This is about you. And, Laeddis, this is all it’s ever been about. I was incidental. I was a way in.’” (Lehane 2004 [2003]: 347) Dieses widerspricht der Fokalisierungswelt, in welcher der Insasse Daniels und Laeddis als zwei verschiedene Figuren voneinander unterscheidet. In Mordecai Richlers Roman Barney’s Version (1997) werden die Aufzeichnungen des namensgebenden Erzählers durch Fußnoten korrigiert (die sich seinem Sohn Michael zuordnen lassen). Typischerweise finden sich unterschiedliche Arten von Weltkonflikten in einem Werk mit narrativer Unzuverlässigkeit. In Edgar Allan Poes „The Tell-Tale Heart“ (1843) beispielsweise werden an verschiedenen Stellen Konflikte zwischen der Erzähler- und der Adressatenwelt bzgl. der psychischen Verfassung des Erzählers transparent. Während der Erzähler sich für psychisch gefestigt hält, unterstellt er seinem Gegenüber, dass dieser in ihm einen Wahnsinnigen sieht.123 Darüber
121 Im Rahmen ihrer Untersuchung zum multiperspektivischen Erzählen weisen Ansgar und Vera Nünning (2000: 18) auf einen solchen möglichen Konflikt hin. 122 Da sie in der Regel anderen Figuren innerhalb des fiktionalen Universums zugeordnet werden können, lassen sie sich auch als Unterform anderer Konflikte verstehen. 123 “True! – nervous – very, very dreadfully nervous I had been, and am; but why will you say that I am mad? The disease had sharpened my senses – not destroyed – not dulled them. Above all was the sense of hearing acute. I heard all things in heaven and in the earth. I heard many things in hell. How, then, am I mad? Hearken! and observe how healthily – how calmly I can tell the whole story. […] You fancy me mad. Madmen know nothing. But you should have seen me.
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hinaus zeigen sich Konflikte zwischen der Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten. So berichtet der Erzähler davon, wie er (als Fokalisierungsinstanz) seinen Mitbewohner kaltblütig ermordet, dessen Leiche zerstückelt und unter den Dielenbrettern versteckt. Als er von drei Polizisten Besuch erhält (die von Nachbarn gerufen wurden), bittet er sie in die Wohnung. Während des Gesprächs mit den Gesetzeshütern beginnt die Fokalisierungsinstanz den lauten Herzschlag seines Opfers zu hören. Während die Fokalisierungsinstanz sich aufgrund des Lärms überführt sieht, scheinen die Polizisten nichts zu hören – es gibt folglich einen Konflikt zwischen der Fokalisierungsinstanz und anderen Figurenwelten bzgl. des Schlagens des Herzens. Die terminologische Erweiterung der intrauniversen Relationen und die hier vorgeschlagene Typologie denkbarer Weltkonflikte bieten verschiedene Vorteile für ein Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit: Zum einen erlaubt die modifizierte Terminologie auch Aspekte der narrativen Vermittlung in das Modell mit einzubeziehen. Dieses ermöglicht – wie anhand von Poes Kurzgeschichte illustriert – ein differenzierteres Instrumentarium zur Beschreibung des fiktionalen Universums bei narrativer Unzuverlässigkeit, so dass verschiedene Arten von Konflikten terminologisch unterschieden werden können. Zum anderen ermöglicht ein Beschreibungsmodell auf Grundlage von Weltkonflikten eine präzisere Analyse von Texten mit narrativer Unzuverlässigkeit. So lässt sich beispielsweise fragen, welche Arten von Weltkonflikten in einem Text auftreten. Betreffen die Weltkonflikte Fakten in der TAW oder die moralische Bewertung des Geschehens oder anderer Figuren? Wann tauchen Weltkonflikte innerhalb eines Textes auf? Nimmt die Anzahl der Weltkonflikte im Laufe eines Textes zu oder ab? Die Antwort auf die letzte Frage kann Aufschlüsse über die Entwicklung eines Erzählers oder einer Fokalisierungsinstanz liefern. So geht in Gilmans „The Yellow Wallpaper“ (1892) die Zunahme von Weltkonflikten mit dem Abdriften der Erzählerin in den Wahnsinn einher. Das Abnehmen von Weltkonflikten kann dagegen eine Reifung des kognitiven Zentrums indizieren, wie etwa in Dickens’ David Copperfield (1849/50), wenn die zunächst ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz zunehmend zuverlässiger ihre Umgebung zu beurteilen lernt (siehe dazu genauer Kap. VI.2).
You should have seen how wisely I proceeded – with what caution – with what foresight – with what dissimulation I went to work! […] And have I not told you that what mistake for madness is but over acuteness of the senses?” (Poe 2004 [1843): 317–319.; Hervorhebung im Original)
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4 Intrauniverse Relationen als Grundlage für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit Darüber hinaus bietet ein solches Beschreibungsmodell die Grundlage für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit, da ein fiktionales Universum mitsamt der intrauniversen Weltrelationen nicht autonom existiert, sondern vielmehr das Produkt von Interpretationsprozessen darstellt, wie Semino (2003: 89) hervorhebt: “Overall, however, a possible-world approach to fiction focuses on what we may call the ‘product’ of comprehension: the structure and characteristics of fictional worlds as the result of complex interpretative processes.” Wie bereits erwähnt wurde, bildet ein zentrales Problem für bestehende Erklärungsmodelle das Paradox, dass auf der einen Seite die erzählte Welt Maßstab für die Unzuverlässigkeit des Erzählers ist, welche auf der anderen Seite erst durch die Darstellungen einer Erzählinstanz oder die Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz vom Rezipienten rekonstruiert werden kann. Ryan (1991: 113) bringt dieses Dilemma in Bezug auf homodiegetische Erzählinstanzen auf den Punkt. How can we decide what the text establishes to be the case? In impersonal narration, […] the speaker has absolute authority, and his or her discourse yields directly what is to be taken as the actual world. But a personal narrator is a mind interposed between the facts and the reader, and the discourse reflects the contents of his or her mind. The reader does not perceive the narrative actual world directly, but apprehends it through its reflection in a subjective world. […] This leads us to a pair of opposite observations: in nonfiction, the narrative actual world is what the speaker tells us to be the case, regardless of whether the narrator is right or wrong; but in fiction, the actual facts potentially conflict with the narrator’s declarations. Who then guarantees the facts of the narrative universe?
Einen Ausweg aus diesem Dilemma, wenn nicht auf den impliziten Autor als Korrektivinstanz zurückgegriffen werden soll,124 bietet das hier vorgestellte Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit. So hilft es der Annahme entgegenzuwirken, dass die Darstellung einer Erzählinstanz oder die Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz für den Rezipienten den alleinigen Zugang zur TAW bildet und dass der Rezipient daher ausschließlich auf diese bei der Rekonstruktion und Bewertung der TAW angewiesen ist. Da Weltkonflikte unterschiedliche Sicht-
124 Ryan (1991: 113) beantwortet die Frage wenig erhellend mit Verweis auf die Intention des impliziten Autors (“In fiction, the narrative actual world is determined by what the author wants the reader to take as fact [or rather, the implied author, since the authorial intent is always in ferred on the basis of the text]”) sowie mit Bezug auf unspezifische Interpretationsstrategien des Rezipienten (“The reader must sort out, among narrator’s assertions, those which yield objective facts and those which yield only the narrator’s believe”).
4 Intrauniverse Relationen als Grundlage für ein Erklärungsmodell
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weisen auf ein Geschehen erlauben, veranschaulicht das Beschreibungsmodell, dass der Leser auch auf andere Quellen bei der Rekonstruktion der TAW zurückgreifen kann. Folglich sind Weltkonflikte nicht nur ein hilfreiches Werkzeug, um fiktionale Universen bei narrativer Unzuverlässigkeit zu untersuchen, sondern fungieren auch als Signale für den Leser, dass der Erzähl- oder Fokalisierungsinstanz möglicherweise nicht zu trauen ist, da nur eine der widersprechenden Welten mit der TAW in Übereinstimmung sein kann (vgl. Àlvarez Amorós 1991: 62–63). Diese Annahme verschiebt den Fokus auf die transuniversen Relationen (also die Relationen zwischen Leser und fiktionalem Universum) und damit auf die Frage, wie der Leser ein fiktionales Universum bei ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit rekonstruiert. Wenn angenommen wird, Weltkonflikte seien konstitutiv für narrative Unzuverlässigkeit, dann kann gefolgert werden, dass der Unterschied zwischen den in dieser Arbeit unterschiedenen Arten der narrativen Unzuverlässigkeit im Umgang des Lesers mit Weltkonflikten liegt. Vier Schritte scheinen erforderlich: Erstens muss der Leser verschiedene Welten unterscheiden, zweitens muss er Konflikte zwischen den verschiedenen Welten erkennen, drittens muss er die Weltkonflikte auflösen und viertens muss er Erklärungen für die Diskrepanzen zwischen den Welten finden. Bei ironischer Unzuverlässigkeit kann der Leser unterschiedliche Welten voneinander unterscheiden, er erkennt Weltkonflikte und löst diese zulasten des kognitiven Zentrums (also entweder zulasten des Erzählers oder der Fokalisierungsinstanz) auf. Diese Hierarchisierung kann der Leser damit erklären, dass er der Erzählerfigur und/oder der Fokalisierungsinstanz einen moralischen oder kognitiven Makel zuschreibt, zum Beispiel wie bei „The Tell-Tale Heart“, in dem er den Erzähler als schizophren charakterisiert. Gleichzeitig wirkt sich die Auflösung von Weltkonflikten auf die Rekonstruktion des gesamten fiktionalen Universums und damit auf die Rekonstruktion der Handlung aus, wie Ansgar Nünning (1998: 19) hervorhebt: Die besonderen Wirkungseffekte dieser Erzählform resultieren aus der Diskrepanz zwischen dem, was der Erzähler zu erzählen beabsichtigt, und dieser zweiten Version des Geschehens. Im Gegensatz zu der vom Erzähler tatsächlich geschilderten Version wird diese zweite Geschichte nicht direkt erzählt, sondern nur durch bruchstückhafte Andeutungen erkennbar, die vom Rezipienten erschlossen und zu einer kohärenten Sinnebene zusammengefügt werden müssen.
Gerade das Konzept der intrauniversen Relationen respektive Weltkonflikte erweist sich hier als hilfreich, da dieses veranschaulicht, dass dem Rezipienten durch die Weltkonflikte Hinweise für eine alternative Perspektive auf das Geschehen geboten werden.
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IV Possible-Worlds Theory als Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit
Im Falle von ambiger Unzuverlässigkeit kann der Leser nicht eindeutig entscheiden, ob den Darstellungen des Erzählers oder der Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz zu trauen ist oder nicht. Mit Bezug auf Weltkonflikte lassen sich zwei Erklärungen dafür finden. Zwar kann der Leser verschiedene Welten innerhalb des fiktionalen Universums unterscheiden, Probleme ergeben sich aber beim Erkennen von Weltkonflikten und beim Auflösen von Weltkonflikten. So mag der Leser im Unklaren bleiben, ob es Weltkonflikte im fiktionalen Universum gibt oder nicht. Genauso problematisch kann das Auflösen von Weltkonflikten sein und es lässt sich aus diesem Grund nicht abschließend bewerten, was Fakt in der TAW ist oder wie ein Geschehen oder eine Figur zu bewerten ist. Dieses hat zur Folge, dass der Rezipient sich mit verschiedenen, sich ausschließenden fiktionalen Universen und somit verschiedenen Handlungen konfrontiert sieht, aber nicht entscheiden kann, welche Version der Realität in der TAW entspricht, wie auch Marie-Laure Ryan (1991: 127) bemerkt: [An] ambiguous narrative text may project different plots, depending on the interpretation of the facts. Each of these plots presupposes a separate narrative universe, since a different configuration of facts means a different system of reality.
Gleichzeitig wirkt sich die Unsicherheit des Lesers auf die Beurteilung der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz aus. Bei alterierter Unzuverlässigkeit dagegen wird der Leser zunächst über das tatsächliche Geschehen in der TAW in die Irre geführt. Betrachtet man dies im Kontext von Weltkonflikten, lassen sich die fälschlichen Annahmen des Lesers über das Geschehen im fiktionalen Universum auf vier mögliche Ursachen zurückführen. Entweder ist es dem Leser nicht möglich, zwischen verschiedenen Welten zu unterscheiden. In einem solchen Fall hält der Leser irrtümlicherweise die mentale Welt eines kognitiven Zentrums für die TAW. Eine zweite Möglichkeit für die fälschliche Rekonstruktion des fiktionalen Universums ist, dass der Leser zwar die verschiedenen Welten voneinander trennen kann, er aber die Konflikte zwischen diesen nicht erkennt. Drittens ist denkbar, dass der Leser verschiedene Welten unterscheidet, Weltkonflikte erkennt, diese aber falsch auflöst. Viertens ist denkbar, dass der Leser die Weltkonflikte erkennt und richtig hierarchisiert, aber falsche Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den Welten findet. In allen vier Fällen rekonstruiert der Leser zunächst ein falsches Bild vom fiktionalen Universum. Meist findet sich in alteriert-unzuverlässigen Werken gegen Ende ein deutlicher Weltkonflikt, der dem Leser seinen vorangegangenen Fehler vor Augen führt, so dass er das gesamte fiktionale Universum retrospektiv mitsamt den Figurenwelten neu rekonstruieren muss (vgl. Bernaets 2009; Vogt 2011a; Zipfel 2011).
5 Fazit
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Die folgende Tabelle fasst noch einmal die Unterschiede der Rezeption von Weltkonflikten bei narrativer Unzuverlässigkeit zusammen. Das (+) markiert Fälle, bei denen die Interpretation des Rezipienten mit den Geschehnissen des fiktionalen Universums übereinstimmt. Das (-) bezeichnet Fälle, bei denen die Interpretation des Lesers zunächst falsch ist (der Fehler im Laufe der Rezeption allerdings vom Leser bemerkt und revidiert wird). Das (?) drückt die Unsicherheit des Lesers über die eigene Interpretation aus. Tab. 5: Rezeption von Weltkonflikten bei narrativer Unzuverlässigkeit Ironische Unzuverlässigkeit
– – – –
Erkennen und unterscheiden von Welten (+) Erkennen von Weltkonflikten (+) Auflösen von Weltkonflikten (+) Erklärungen für Diskrepanzen zwischen Welten (+)
Ambige Unzuverlässigkeit
– – – –
Erkennen und unterscheiden von Welten (+) Erkennen von Weltkonflikten (?) Auflösen von Weltkonflikten (?) Erklärungen für Diskrepanzen zwischen Welten (?)
Alterierte Unzuverlässigkeit
– – – –
Erkennen und unterscheiden von Welten (-) Erkennen von Weltkonflikten (-) Auflösen von Weltkonflikten (-) Erklärungen für Diskrepanzen zwischen Welten (-)
5 Fazit Um narrative Unzuverlässigkeit auf semantischer Ebene präziser darstellen zu können, wurde auf Grundlage der possible-worlds theory ein Beschreibungsmodell entwickelt. Ausgehend von der Annahme, dass ein fiktionaler Text eine Vielzahl unterschiedlicher Welten entwirft, welche in spezifischen intrauniversen Relationen zueinander stehen, wurde ein terminologisches Instrumentarium entwickelt, welches es ermöglicht, das Phänomen der narrativen Unzuverlässigkeit in fiktionalen Texten genauer zu beschreiben. Zentrale Prämisse ist die Annahme von Vertretern der possible-worlds theory, dass narrative Unzuverlässigkeit als ein Konflikt zwischen der erzählten Welt und der Erzählerwelt verstanden werden kann. Während bestehende Arbeiten narrative Unzuverlässigkeit aus diesem Grund vorwiegend auf das Verhältnis von erzählter Welt (TAW) zur Erzählerwelt reduzieren, wurde die Terminologie der possible-worlds theory mithilfe von strukturalistisch-narratologischen Konzepten erweitert, um die Komplexität der verschiedenen Erscheinungsformen narrativer Unzuverlässigkeit besser abbilden
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IV Possible-Worlds Theory als Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit
zu können und auch die discourse-Ebene stärker zu berücksichtigen. Aus diesem Grund wurde vorgeschlagen, zwischen einer erzählten Welt (TAW), einer Erzählerwelt, einer Fokalisiererwelt, einer Adressatenwelt und einer Figurenwelt zu differenzieren. Durch diese terminologische Erweiterung ist es möglich, präziser zu bestimmen, welche Welten konkret miteinander in Konflikt stehen. Darüber hinaus erlaubt die possible-worlds theory, zu unterscheiden, ob sich der spezifische Konflikt auf Fakten (i. S. von Wissenswelten) oder auf Werte und Normen (i. S. von Obligationswelten) bezieht. Eine Betrachtung des Auftretens von Weltkonflikten kann darüber hinaus Anhaltspunkte über eine Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz geben – so kann etwa die Zunahme von Weltkonflikten im Laufe eines Werkes auf eine wachsende Unzuverlässigkeit des erzählenden oder wahrnehmenden Subjekts deuten. Das skizzierte Beschreibungsmodell fungiert gleichzeitig als Basis für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit, da die intrauniversen Relationen zwischen den verschiedenen Welten als Ergebnis von Interpretationsprozessen angesehen werden können. Diese Betrachtung ermöglicht es, Weltkonflikte nicht nur als konstitutives Merkmal für narrative Unzuverlässigkeit auf semantischer Ebene zu betrachten, sondern gleichzeitig als Signale für den Leser, die Zuverlässigkeit einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz in Zweifel zu ziehen. Von dieser Annahme ausgehend wurden ironische, ambige und alterierte Unzuverlässigkeit danach unterschieden, ob der Rezipient die verschiedenen Welten im fiktionalen Universum identifizieren kann, ob er Konflikte zwischen den Welten erkennen kann, wie er die Weltkonflikte auflöst und wie er die Diskrepanzen zwischen den in Konflikt stehenden Welten auflöst. Aus diesen Überlegungen wurden folgende Fragen abgeleitet: – Wie kann der Leser im Falle ironischer Unzuverlässigkeit verschiedene Welten unterscheiden sowie Konflikte zwischen der Erzähler-/Fokalisierungswelt und einer anderen Welt erkennen? Aus welchem Grund hierarchisiert der Rezipient den Weltkonflikt zulasten der Erzähler- oder Fokalisiererwelt? Wie erklärt der Leser die Diskrepanzen zwischen den verschiedenen, in Konflikt stehenden Welten? – Warum kann der Rezipient bei ambiger Unzuverlässigkeit nicht eindeutig entscheiden, ob es Konflikte zwischen einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt und anderen Welten gibt oder nicht? Warum kann der Rezipient bei ambiger Unzuverlässigkeit in anderen Fällen die zueinander in Konflikt stehenden Weltmodelle nicht hierarchisieren? – Aus welchem Grund kann der Rezipient bei alterierter Unzuverlässigkeit verschiedene Welten nicht unterscheiden? Warum erkennt er in anderen Fällen spezifische Weltkonflikte nicht? Warum hierarchisiert er erkannte Weltkonflikte in wiederum anderen Fällen zunächst falsch? Worin liegen die Gründe,
5 Fazit
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wenn ein Leser zunächst falsche Erklärungen für die Diskrepanzen zwischen den Welten findet? Was zeichnet den Konflikt aus, der den Rezipienten dazu bringt, schließlich das gesamte von ihm zuvor kreierte Bild des fiktionalen Universums zu revidieren und ein neues zu rekonstruieren?
V „Wie aus Sätzen fiktionale Welten werden“: Annahmen der kognitiven Rezeptionstheorie 1 Überlegungen zur Vereinbarkeit der possible-worlds theory und der kognitiven Rezeptionstheorie Um die in Kapitel IV aufgeworfenen Fragen zu beantworten und auf dieser Grundlage ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit zu entwickeln, soll zunächst geklärt werden, wie – um mit Hallet (2008: 233) zu sprechen – aus Sätzen (fiktionale) Welten werden. Ziel dieses Kapitels ist es daher, grundlegende Annahmen und Konzepte der kognitiven Narratologie vorzustellen und zu erläutern, wie ein Leser mentale Repräsentationen der TAW, einer Erzähler-, Adressaten-, Fokalisierer- und einer Figurenwelt bildet. Dieses theoretische Gerüst bildet das Fundament für die kognitiven Erklärungsmodelle ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit, welche in den folgenden Kapiteln VI bis VIII vorgestellt werden. Weil die possible-worlds theory den theoretischen Rahmen für das Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit bildet, soll kurz erläutert werden, welche Bedenken sich gegen ein Erkläungsmodell auf Grundlage dieses Ansatzes erheben, welche Vorteile ein kognitiver Ansatz bietet und wie sich die possibleworlds theory und die kognitive Narratologie miteinander verbinden lassen, so dass die Terminologie des Beschreibungsmodells samt TAW, Erzähler-, Adressaten-, Fokalisierer- und Figurenwelt beibehalten bzw. übernommen werden kann. Da die possible-worlds theory nicht nur die intrauniversen Beziehungen zwischen Welten innerhalb eines fiktionalen Universums, sondern auch die transuniversen Relationen zwischen dem Leser und der TAW in den Blick nimmt, widmet sich die possible-worlds theory auch rezeptionstheoretischen Fragen (vgl. Kap. IV).125 Ausgangspunkt ist die Annahme, dass ein Text für den Leser „a set of instructions according to which the fictional world is to be recovered and reas-
125 Im Kontext der literaturwissenschaftlichen possible-worlds theory können zwei Arten von transuniversen Zugangsrelationen unterschieden werden (vgl. Ronen 1994: 93–95). Erstens werden transuniverse Relationen zur Analyse des Verhältnisses der actual world zur textual actual world herangezogen. Eine solche Betrachtung erweist sich bei einer gattungstypologischen Kategorisierung von fiktionalen Welten als äußerst produktiv (vgl. Ryan 1991). Zweitens – und dieser Aspekt erscheint wesentlicher für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit – untersuchen Vertreter der possible-worlds theory bei transuniversen Relationen das Verhältnis vom Leser zur TAW. https://doi.org/10.1515/9783110557619-006
1 Vereinbarkeit von possible-worlds theory und kognitiver Rezeptionstheorie
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sembled“ (Doležel 1988: 489) darstellt.126 Bei der Rekonstruktion von fiktionalen Universen auf Grundlage eines Textes hat ein Leser aus Sicht der possible-worlds theory mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen. Erstens ist die textuelle Repräsentation eines fiktionalen Universums immer unvollständig.127 Wie kann der Leser unter diesen Umständen bestimmen, was im fiktionalen Universum der Fall ist? Ryan (1991: 53) beantwortet diese Frage mit Verweis auf das principle of minimal departure128. Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass ein Leser die Leerstellen in der textuellen Repräsentation eines fiktionalen Universums nicht als ontologische Defizite, sondern als zurückgehaltene Information erachtet.129 Diese Leerstellen füllt der Leser, indem er eine Ähnlichkeit von TAW und der eigenen Erfahrungswelt annimmt und sein „Wissen über die tatsächliche Welt“ nutzt, „um Unbestimmtheitsstellen der von fiktionalen Welten entworfenen Wirklichkeiten aufzulösen“ (Surkamp 2002: 163). Nur, wenn der Text explizit etwas sagt, das nicht mit der eigenen Erfahrungswelt übereinstimmt, passt der Rezipient seine Vorstellung von der TAW entsprechend an: “We will project upon these worlds everything we know about reality, and we will only make adjustments dictated by the text.” (Ryan 1991: 52) Neben der Unvollständigkeit textueller Informationen ist die Rekonstruktion des fiktionalen Universums für den Leser immer dann schwierig, wenn er unvereinbare Informationen über Fakten in der TAW erhält und sich die Anleitung für die Rekonstruktion eines fiktionalen Universums als widersprüchlich erweist.130 Vertreter der possible-worlds theory lösen dieses Problem mit Rückgriff auf sprechakttheoretische Erwägungen. Zentral ist dabei die Annahme, dass ein fiktionales Universum nicht autonom existiert, sondern erst durch performative Sprechakte
126 Siehe auch Ryan (1981: 521). 127 In der Tat ist dies nicht nur ein praktisches oder ökonomisches Problem, sondern ein theoretisches, wie Umberto Eco (1998 [1987]: 165) argumentiert: „Nicht nur ist es unmöglich, eine vollständige alternative [fiktive] Welt zu bestimmen; es ist auch unmöglich, die reale Welt als vollständig zu beschreiben. Auch von einem formalen Standpunkt ist es schwierig, eine erschöpfende Beschreibung eines maximalen und vollständigen Zustands von Dingen zu liefern […]. “ 128 Ein ähnliches Konzept ist das von Walton vorgeschlagene Konzept des reality principle. Eine gute Übersicht zum reality principle und principle of minimal departure sowie eine kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten findet sich bei Zipfel (2011). 129 “The gaps in the representation of the textual universe are regarded as withdrawn information, and not as ontological deficiencies of this universe itself.” (Ryan 1991: 53) 130 Vgl. Ryan (1992: 533): “Though the text should be regarded as the highest authority in estab lishing the facts of the fictional world, this authority does not derive from a monolithic power but is distributed – in accordance with Mikhail Bakhtin’s idea of dialogism – among a plurality of narrative voices. Since these voices may contradict each other, fictional truths cannot be automatically derived from textual statements.”
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geschaffen wird (vgl. Doležel 1980, 1998; Hof 1984: 49–52). Ob Aussagen jedoch performative Kraft besitzen und damit Fakten in der TAW konstituieren, richtet sich nach der textuellen Autorität (Ryan 1981, 2001) bzw. nach der Authentizitätsfunktion („authentification function“) (Doležel 1980, 1998) des jeweiligen Sprechers.131 Die textuelle Autorität bzw. die Authentizitätsfunktion eines Sprechers bemisst sich nach narratologischen Erwägungen. So haben heterodiegetische Erzählinstanzen132 die höchste Autorität, so dass ihre Äußerungen fik tionale Fakten schaffen und vom Leser als wahr angesehen werden müssen.133 Im Gegensatz zu heterodiegetischen Erzählinstanzen sind die Äußerungen von homodiegetischen Erzählerfiguren dagegen nicht zwingend wahr und grundsätzlich nicht gegenüber denen anderer Figuren privilegiert (Ryan 1981: 530).134 Ob der Leser die Aussagen einer Erzählerfigur als wahr erachtet und damit als Fakt in der TAW, hängt für Doležel (1998: 150) von drei Faktoren ab: “[F]irst, the speaker has to be trustworthy, (‘reliable’); second, there has to be consensus among the persons of the world with respect to the entity in question; third, the virtual must never be disauthenticated in the authoritative narrative.”135 Auch wenn die possible-worlds theory – wie gezeigt – wichtige Probleme bei der Rekonstruktion fiktionaler Universen umschreibt, fehlt es dem Ansatz an Differenziertheit, da das Leserverhalten „aufgrund unterschiedlicher philosophischer Begründungen als nicht-psychischer, quasi objektiver Ablauf“ (Jannidis 2004: 180) konzeptualisiert wird. Deutlich wird dies daran, dass das Konzept des Lesers nicht problematisiert wird. So berücksichtigt beispielsweise das principle of minimal departure nicht hinreichend, dass Leser „aufgrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungssysteme auf ganz verschiedene außertextuelle Bezugsrah-
131 Vgl. Ronen (1994: 176): “[In fiction] the authority of fictional speakers and narrators deter mines the factual or nonfactual nature of propositions about the fictional universe; that is, as readers of fiction we follow the authoritative say-so of a speaker in establishing the facts of fiction.” 132 Dabei sei angemerkt, dass Ryan und Doležel eine etwas missverständliche Terminologie hinsichtlich der Unterscheidung von Erzählinstanzen gebrauchen. So spricht Ryan (1981) von „impersonal narrators“ und „personal narrators“ und meint damit heterodiegetische und homodiegetische Erzähler (siehe auch die Kritik von Gutenberg 2000: 53). Doležel (1998: 148–159) unterscheidet „anonymous, impersonal narrators“, „personal Ich-form“ und „subjectivized Erform“, wobei die ersten beiden Fälle heterodiegetische bzw. homodiegetische Erzähler meinen, während der letzte Fall eine interne Fokalisierung im Sinn hat. 133 Ryan (1981: 530) bezeichnet Aussagen von heterodiegetischen Erzählinstanzen daher als „world-creating utterances“. 134 In Abgrenzung zu heterodiegetischen Erzählinstanzen bezeichnet Ryan (1981: 530) die Aussagen von Erzählerfiguren als „world-reflecting utterances“. 135 Der letzte Punkt bedeutet, dass die Aussagen einer homodiegetischen Erzählerfigur nicht von einer heterodiegetischen Erzählinstanz in Zweifel gezogen werden dürfen.
1 Vereinbarkeit von possible-worlds theory und kognitiver Rezeptionstheorie
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men – wie z. B. ihr individuelles Weltwissen, psychologische Schemata, kulturell und historisch bestimmte Persönlichkeitstheorien usw. – als Referenzwelt“ (Surkamp 2002: 163) zurückgreifen, so dass Leser, wie gerade am Beispiel von ambig-unzuverlässigen Werken wie The Turn of the Screw (1898) oder American Psycho (1991) deutlich wird, zu höchst unterschiedlichen Rekonstruktionen der TAW kommen können. Des Weiteren bleibt unklar, wie viel Wissen der Leser tatsächlich in die Rekonstruktion des fiktionalen Universums einbringt (vgl. Jannidis 2004: 72). Einwände können auch gegen das Konzept der textuellen Autorität vorgebracht werden. Die sprechakttheoretischen Überlegungen zu Hierarchisierungen von sich als unvereinbar gegenüberstehenden Welten fußen letztendlich auf strukturalistisch-narratologischen Erwägungen – können aber nicht die kognitiven Prozesse explizieren, mit denen der Leser Weltkonflikte hierarchisiert (vgl. Surkamp 2003: 63). Obwohl Vertreter der possible-worlds theory sich rezeptionstheoretischen Fragen widmen, lässt sich zusammenfassend mit Semino (2003: 89) resümieren: “[P]ossible-world approaches do not ultimately treat fictional worlds as cognitive products and do not deal with cognitive processing.” Um „Aussagen über die möglichen Rezeptionseffekte zu machen, die zuverlässiger und differenzierter sind als bisherige Aussagen über die Wirkung des Textes auf den Leser“ (Schneider 2013a: 38), erweist sich die kognitive Narratologie (bzw. die kognitive Rezeptionstheorie) als geeigneter Ansatz.136 Diese geht davon aus, dass „der Sinn eines Textes aus den Signalen eines Textes einerseits und den mentalen Sinnstiftungsaktivitäten des Lesers andererseits entsteht“ (Schneider 2013a: 37). Zwar handelt es sich auch bei der kognitiven Rezeptionstheorie bei „dem Leser“ und dessen Rezeptionsaktivitäten letztlich um hypothetische Konstrukte bzw. Annahmen (Schneider 2013a: 38), ein Rückgriff auf „kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse über die mentalen Operationen des Textverstehens“ (Schneider 2013a: 38) ermöglicht jedoch relativ fundierte Annahmen darüber aufzustellen, „welche Textstrukturen in welchen Teilbereichen der Rezeption […] unter welchen Bedingungen wahrscheinlich bestimmte Wirkungen hervorrufen“ (Schneider 2013a: 49). Dabei bedient sich die kognitive Erzähltheorie zweier Teilgebiete der Kognitionswissenschaften, die Schneider (2013a: 40, 2013b: 119–130) als discourse processing paradigm bzw. information processing paradigm (Textverstehens-Paradigma) und mental disposition paradigm (Paradigma mentaler Dispositionen) bezeichnet. Unter das Textverstehensparadigma fallen Ansätze,
136 Genauer zur kognitiven Rezeptionstheorie bzw. kognitiven Narratologie vgl. Eder (2003), Freißmann (2010), Hartner (2012), Herman (2003), Huber/Winko (2009), Schneider (2000, 2001, 2013a, 2013b), Stockwell (2002) sowie Zerweck (2002).
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die auf kognitiv linguistischen Theorien und Modellen beruhen und Textverstehen als komplexes Informationsverarbeitungsgeschehen auffassen. Teiloperationen der Informationsverarbeitung werden in diesen Ansätzen zumeist in diesen Modellen des Textverstehens zusammengefasst und im Einzelnen mittels empirischer Methoden, wie sie in der (kognitiven) Psychologie Anwendung finden, erforscht. (Schneider 2013a: 40)
Das Paradigma mentaler Disposition umfasst dagegen solche Ansätze, die sich mentalen Operationen der Sinnkonstitution [widmen], die nicht ausschließlich beim Textverstehen zu beobachten sind, sondern eher allgemeine Dispositionen des menschlichen Geistes erfassen, in bestimmten Situationen bestimmte Leistungen zu erbringen. Diese können zumeist wegen ihrer Komplexität nicht im Sinne psychologischer Versuchsordnungen empirisch überprüft werden. (Schneider 2013a: 40)
Nachdem für ein Erklärungsmodell der narrativen Unzuverlässigkeit auf Grundlage der kognitiven Narratologie argumentiert wurde, das zuvor entwickelte Beschreibungsmodell aber auf Annahmen der possible-worlds theory beruht, ist abschließend zu klären, inwieweit die beiden Ansätze kompatibel sind. Tatsächlich gibt es einige Überschneidungspunkte in den Annahmen der Kognitionswissenschaften mit denen der possible-worlds theory. Ähnlich wie Vertreter der possible-worlds theory nehmen auch Kognitionswissenschaftler an, dass Sprache als Anleitung zur Rekonstruktion mentaler Repräsentationen eines Geschehens diene: “[L]anguage can be regarded as a set of processing instructions on how to construct a mental representation of the described situation.” (Zwaan/Radvansky 1998: 177) Die mentale Repräsentation des fiktionalen Geschehens umfasst wiederum das, was Vertreter der possible-worlds theory als fiktionales Universum bezeichnen, wie aus Graessers und Wiemer-Hastings (1999: 77) Erläuterung des Textverstehens deutlich wird: When a reader comprehends a story, the reader constructs a mental microworld. The microworld includes the core plot that sustains the interest of the reader: the characters who perform actions in pursuit of goals, events that present obstacles to goals, conflicts between characters, clever methods of resolving conflicts, and emotional reactions to events and conflicts. […] The microworld might also have content that refers to the mental states of characters (i. e., what they believe, know, see, want, and feel) and the pragmatic agents who tell the story (i. e., the imaginary narrator and the camera operator).
Wie Vertreter der possible-worlds theory unterscheiden Textverstehensforscher zwischen der mentalen Repräsentation des Geschehens auf der Handlungsebene (dem Geschehen in der TAW, hier „microworld“) sowie den mentalen Zuständen der Figuren („the mental states of characters [i. e., what they believe, know, see, want, and feel]“) und denen eines homodiegetischen Erzählers – was Vertreter
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der possible-worlds theory als Figuren- bzw. Erzählerwelten bezeichnen.137 Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten erscheint es legitim, die in Kapitel IV entwickelte Terminologie in den Kontext der kognitiven Narratologie zu übertragen. Nach diesen theoretischen und methodologischen Vorüberlegungen sollen in einem nächsten Schritt Prämissen der Textverstehensforschung vorgestellt werden.
2 Prämissen der Textverstehensforschung: Ebenen der mentalen Repräsentation beim Textverstehen – Oberflächenstruktur, Textbasis und mentale Modelle In der kognitiven Textverstehensforschung herrscht Einigkeit darüber, dass ein Leser während der Rezeption verschiedene Arten der mentalen Repräsentation bildet (vgl. Zwaan 1993; Claassen 2012). Dabei bildet der Leser eine mentale Repräsentation „des physischen Textes“ (Strasen 2008: 30), d. h. der Wortwahl und der Syntax des Textes.138 Kognitionswissenschaftler bezeichnen diese mentale Repräsentation als Oberflächenstruktur (surface structure) und gehen davon aus, dass diese nur kurz im Arbeitsgedächtnis gespeichert wird (vgl. Culpeper 2001: 29; Graesser/Olde/Klettke 2002: 233; Strasen 2008: 30). Die Oberflächenstruktur wird hinsichtlich ihrer semantischen Bedeutung interpretiert und in eine zweite Ebene der mentalen Repräsentation – die sogenannte Textbasis (text base) – überführt. Es wird angenommen, dass der semantische Gehalt des Textes in der Textbasis in Form von Propositionen repräsentiert wird.139 Dabei werden vom Leser „Mikro propositionen zu Textabschnitten von der Länge von Sätzen gebildet“ (Schneider 2000: 36) als auch „Makropropositionen, die übergeordnete semantische Strukturen des Textes repräsentieren“ (Schneider 2000: 36). Im Laufe der Lektüre werden
137 Aus diesem Grund nimmt Jannidis (2004: 74, 179–180) an, dass beide Ansätze denselben Untersuchungsgegenstand haben. Während die possible-worlds theory das Rezeptionsverhalten jedoch stärker mit „philosophischen Begründungen“ (Jannidis 2004: 180) explizieren, wird in der kognitionswissenschaftlichen Narratologie der „psychische Prozeß“ (Jannidis 2004: 180) des Textverstehens erläutert. 138 Strasen (2008: 30) macht darauf aufmerksam, „daß die Repräsentation der Oberflächenstruktur nicht immer ein getreues Abbild des Textes ist. So werden etwa Tippfehler häufig einfach übersehen, weil das so entstehende Wort im Rahmen der Textbasis keinen Sinn ergibt.“ 139 „In einer Proposition stellt ein allgemeines Relationskonzept (das Prädikat) eine Verbindung zwischen spezifischeren Inhaltskonzepten (den Argumenten) her und konstituiert somit eine Sinneinheit. Beispielsweise stellt in der Proposition (LIEBTEN, agent: GRIECHEN, objekt: KUNSTWERKE) das Prädikat LIEBTEN eine Relation zwischen den Argumenten GRIECHEN (als Agent) und KUNSTWERKE (als Objekt) her. Die Proposition repräsentiert somit den Sachverhalt, daß die Griechen Kunstwerke liebten.“ (Schnotz 1988: 300)
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die Sinneinheiten additiv zu einem „hierarchisch gegliederten Propositionsnetz“ (Schneider 2000: 36) zusammengefügt. Im Gegensatz zur Oberflächenstruktur wird die Textbasis etwas länger im Arbeitsgedächtnis gespeichert (vgl. Graesser/ Olde/Klettke 2002: 233; Hartner 2012: 83; Culpeper 2001: 29). Kognitionswissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass die mentalen Repräsentationen von Oberflächenstruktur und Textbasis nicht ausreichen, um das Textverstehen zu erklären. Stattdessen wird seit den einflussreichen Studien von Johnson-Laird (1983) und van Dijk/Kintsch (1983) angenommen, dass der Leser ein mentales Modell des im Text beschriebenen Sachverhalts konstruieren muss, um den Textsinn nachvollziehen zu können: “If we are unable to imagine a situation in which certain individuals have the properties or relations indicated by the text, we fail to understand the text itself.” (van Dijk/Kintsch 1983: 337) Im Gegensatz zur Textbasis, welche „eine relative Nähe zur linguistischen Struktur des Textes“ (Schnotz 1988: 311) aufweist, zeichnet sich ein mentales Modell durch „eine größere Nähe zur Struktur des repräsentierten Sachverhalts aus“ (Schnotz 1988: 311). Studien haben gezeigt, dass ein mentales Modell vom Geschehen wesentlich länger als Textbasis und Oberflächenstruktur im Arbeitsgedächtnis gespeichert wird (vgl. Hartner 2012: 84).140 So mögen sich Leser nicht mehr an den genauen Wortlaut eines Textes erinnern, aber das Geschehen noch vor dem geistigen Auge haben.141 Gleichwohl – und dies ist wichtig festzuhalten – kann ein Leser mentale Modelle nur dann bilden, wenn er zuvor eine mentale Repräsentation der Oberflächenstruktur und der Textbasis gebildet hat (vgl. Schnotz 1988: 316). Wie neuere Forschungen zum Textverstehen nahelegen, konstruiert ein Leser unterschiedliche Arten mentaler Modelle während der Rezeption fiktionaler Texte (vgl. Claassen 2012). Zum einen entwirft der Leser ein mentales Modell des im
140 Ein weiterer Unterschied zwischen der semantischen Textbasis und dem mentalen Modell vom Geschehen besteht darin, dass bei der Textbasis in additiver Weise sukzessive Propositionen zusammengefügt werden und das „Propositionsnetz“ im Laufe der Lektüre wächst. Mentale Modelle hingegen sind holistisch, weisen „von vornherein [einen] ganzheitlichen Charakter“ (Schnotz 1988: 308) auf und werden „im Laufe des Verarbeitungsprozesses zunehmend differenziert und elaboriert“ (Schnotz 1988: 308). 141 Gleichwohl wird angenommen, dass die verschiedenen Repräsentationen beim Textverstehen – Oberflächenstruktur, Textbasis und mentales Modell – in ständiger Interaktion miteinander stehen (vgl. Strasen 2008: 30). Um ein mentales Modell von der im Text beschriebenen Situation zu bilden, ist es beispielsweise nötig, die Worte und Sätze wahrzunehmen und den propositionalen Gehalt der Worte zu konstruieren. Andersherum kann das mentale Modell helfen, Ambiguitäten auf der Ebene der Oberflächenstruktur oder der Textbasis aufzulösen – z. B. dann, wenn ein Pronomen einer Figur im mentalen Modell zugeordnet wird.
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Text dargestellten Geschehens. Dieses mentale Modell wird als Situationsmodell (situation model) bezeichnet: The situation model for a story is a microworld with characters who perform actions in pursuit of goals, events that present obstacles to goals, conflicts between characters, emotional reactions to characters, spatial setting, the style and procedure of actions, objects, properties of objects, traits of characters, and mental states of characters. (Graesser/Olde/ Klettke 2002: 230–231)
Wie aus der Definition ersichtlich wird, bezeichnet das Situationsmodell ein mentales Modell vom Geschehen auf der story-Ebene. Darüber hinaus lässt sich aus dem Zitat ablesen, dass das Situationsmodell sich in verschiedene mentale Teilmodelle aufspaltet (vgl. Schneider 2000: 68–69). So konstruiert der Leser mentale Repräsentationen der TAW („microworld“ sowie „spatial setting“), der Figuren samt ihrer Charaktereigenschaften („traits“) und Innenwelten („mental states“) sowie der Beziehungen zwischen den Figuren. Obwohl sich die meisten kognitionspsychologischen Textverstehensmodelle ausschließlich mit Fragen nach der Konstruktion des Situationsmodells sowie der einzelnen Teilmodelle beschäftigen,142 scheint diese Fokussierung auf die mentale Repräsentation der Handlungsebene einseitig und kann – folgt man einer narratologischen Sichtweise von story und discourse – den Leseprozess nur unzureichend wiedergeben. So erinnert Nünning (2001: 22) zu Recht daran, dass „Erzähltexte nicht in erster Linie Repräsentationen von (außersprachlicher oder erzählter) Welt, sondern zunächst einmal vom Erzählen selbst“ sind.143 Gerade ironisch-unzuverlässiges Erzählen und ambig-unzuverlässiges Erzählen, bei denen die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Erzählvorgang und die Erzählerfigur gelenkt wird, lassen sich mit einem einseitigen Rückgriff auf das Situationsmodell nicht hinreichend erklären.
142 Zur Bedeutung des Situationsmodells in der Textverstehensforschung siehe Zwaan/ Radvansky (1998: 163): “Over the past fifteen years, many researchers have argued that the construction of a coherent situation model is tantamount to the successful comprehension of a text. […] This change in the definition of the notion comprehension shifts the research problem from the general, ‘How do readers comprehend a text?’ to the more specific ‘How do readers construct a coherent situation model?’“ Graesser/Olde/Klettke (2002: 236) beklagen daher die Vernachlässigung der mentalen Repräsentation des kommunikativen Kontexts: “[The] level of narrative representation is considerably less salient in the minds of most comprehenders. Because of low salience, many researchers miss some important distinctions and mechanisms.” 143 Vgl. auch Bortolussi/Dixon (2003: 64).
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Wichtige Anregungen für ein kognitives Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit liefern daher neuere Studien144, die zeigen, dass ein Rezipient nicht nur mentale Modelle des Geschehens konstruiert, sondern auch von dem spezifischen pragmatischen Kontext, in dem die Erzählung stattfindet: [I]n understanding a story, a comprehender not only constructs a representation of that story, but also matches this with a representation of what the teller of the story intends the comprehender to understand. […] In addition, the interaction between the story teller and the comprehender is part of a social situation, and so the comprehender will also bring a representation of the situation (containing the general norms for participation and discourse in that situation) into play. Thus […] a car crash story would be interpreted differ ently in the informal context of a chat between friends, from when it is told in the court room. (Culpeper 2001: 31)
Ein solches mentales Modell der Kommunikationssituation wird Kontextmodell (context model) genannt (vgl. Culpeper 2001: 31; van Dijk/Kintsch 1983: 338; van Dijk 1999, 2006; Claassen 2012).145 Analog zum Situationsmodell lässt sich auch ein Kontextmodell in verschiedene Teilmodelle untergliedern, etwa in die mentale Repräsentation des Sprechers („teller“) sowie seiner Intentionen, des Adressaten und des allgemeinen situativen Kontextes der Erzählung. Da beim fiktionalen Erzählen – folgt man dem klassischen literaturwissenschaftlichen Kommunikationsmodell – verschiedene Kommunikationsebenen zu differenzieren sind (zwischen Erzähler und Adressat einerseits und zwischen Autor und Leser andererseits), schlägt Claassen (2012: 48–50; 57–59) vor, eine solche terminologische und ontologische Trennung auch auf Kontextmodelle zu übertragen. Danach konstruiert der Rezipient eine mentale Repräsentation der Kommunikationssituation innerhalb des fiktionalen Universums, also ein mentales Modell der Kommunikation zwischen Erzähler und Adressat (vgl. Claassen 2012: 57). Diese soll im Folgenden als intratextuelles Kontextmodell bezeichnet werden und ähnelt in groben Zügen dem, was in der strukturalistischen Narratologie als discourse-Ebene verstanden wird. Das intratextuelle Kontextmodell umfasst eine Vorstellung von der konkreten Erzählsituation einschließlich der
144 Vgl. Claassen (2012), van Dijk (1999, 2006). 145 Eine nützliche Definition von Kontextmodellen findet sich bei van Dijk (2006: 170): “[…] contexts are the participants’ mental models of communicative situations. They have the same gen eral properties as other mental models: They are representations in Episodic Memory (and hence may be used for later recall and storytelling just like other experiences; and they are subjective, and organized by a handy schema that allows language users to quickly understand the vast amount of possible communication situations in their everyday lives.”
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mentalen Modelle der fiktionalen Erzählerfigur mitsamt ihren Absichten, vom Adressaten sowie dem Ort und dem Zeitpunkt des Erzählens. Davon abzugrenzen ist das mentale Modell vom pragmatischen Kontext, welches das Bewusstsein des Lesers darüber umfasst, einen fiktionalen Text zu lesen (vgl. Claassen 2012: 58). Dieses soll im Folgenden als extratextuelles Kontextmodell146 bezeichnet werden und beinhaltet Wissen und Annahmen über den Autor, über den sozio-historischen Kontext der Entstehungszeit des Werkes sowie über allgemeine Konventionen fiktionaler Literatur – wie etwa das Wissen, dass der Autor nicht mit dem homodiegetischen Erzähler gleichzusetzen ist (vgl. Claassen 2012: 58).147 Legt die Unterteilung in ein mentales Modell vom Geschehen (Situationsmodell), von der intratextuellen Erzählsituation (intratextuelles Kontextmodell) und der extratextuellen Erzählsituation eine Nähe zum strukturalistischen Kommunikationsmodell nahe, sei ein kurzer Exkurs erlaubt, um die Unterschiede zu diesem zu skizzieren. Differenzen zwischen der kognitionspsychologischen und strukturalistischen Betrachtung lassen sich am anschaulichsten anhand eines Vergleichs der discourse-Ebene und des intratextuellen Kontextmodells illustrieren. Strukturalistische Narratologen gehen davon aus, dass in jedem fiktionalen Text eine Kommunikation zwischen einem Erzähler und einem Adressaten stattfindet. Dies gilt auch dann, wenn ein Erzähler implizit und dem Leser damit verborgen bleibt: “[E]very narrative is by definition narrated – that is, narratively presented – and that narration, narrative presentation, entails an agent even when the agent bears no sign of human personality.” (Chatman 1990: 115) Im Gegensatz zum Universalitätsanspruch des strukturalistischen Kommunikationsmodells kann davon ausgegangen werden, dass ein intratextuelles Kontextmodell
146 Claassen subsumiert die mentale Repräsentation der Kommunikation zwischen Erzähler und Adressat unter das Situationsmodell, während sie lediglich die mentale Repräsentation der Kommunikation zwischen Autor und Leser als Kontextmodel bezeichnet (vgl. Claassen 2012: 61). Eine solche Terminologie hat allerdings den Nachteil, dass dadurch die mentale Repräsentation des Geschehens auf story-Ebene (d. h. die mentale Repräsentation des Geschehens im Situationsmodell) sowie die mentale Repräsentation der discourse-Ebene (d. h. die mentale Repräsentation der Kommunikation zwischen Erzähler und Adressat) nicht hinreichend begrifflich unterschieden werden. Aus diesem Grund soll zwischen einem intratextuell-pragmatischen Kontextmodell (Erzähler – Adressat) und einem extratextuell-pragmatischen Kontextmodell (Autor – Leser) unterschieden werden. 147 Umstritten ist, ob das pragmatische Modell bzw. die pragmatischen Modelle Teil des Situationsmodells sind oder nicht. Van Dijk/Kintsch (1983) betrachten es als Teil des Situationsmodells, während Zwaan (1996: 152) es als autonome mentale Repräsentation begreift. Claassen (2012: 61) dagegen, die zwischen dem pragmatischen Modell in Bezug auf Erzähler-Adressaten- und AutorLeser-Kommunikation differenziert, begreift den ersten Fall als Teil des Situationsmodells, den zweiten als eigenständige mentale Repräsentation.
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je nach Text und Leser unterschiedlich stark ausgeprägt sein bzw. im Einzelfall sogar ganz wegfallen kann.148 Empirische Studien legen nahe, dass der Leser ein intratextuelles Kontextmodell vorrangig dann bildet, wenn es eine homodiege tische Erzählerfigur gibt, die sich in einer Kommunikationssituation befindet (vgl. Graesser/Wiemer-Hastings 1999: 85–86). Im Falle eines impliziten, heterodiegetischen Erzählers konstruiert der Rezipient dagegen weder ein mentales Modell der Erzählinstanz noch des intratextuellen Kontextmodells (vgl. Graesser/Bowers/ Olde/White/Person 1999; Graesser/Bower/Bayen/Hu 2001). Dies lässt sich damit begründen, dass die Erzählinstanz weder räumlich noch zeitlich greifbar ist und ihr keine spezifische Intention zum Erzählen unterstellt werden kann: “Since anonymous speakers are deprived of human dimension, […] the readers may dispense with the reconstruction of their personality, beliefs, and judgments as an autonomous domain.” (Ryan 1991: 71)149 Stattdessen scheint ein Leser die Bewertungen und Kommentare einer heterodiegetischen Erzählinstanz vielmehr dem Autor zuzuschreiben, d. h., die heterodiegetische Erzählinstanz wird als unmittelbares Sprachrohr der Überzeugungen des Autors betrachtet (vgl. Claassen 2012: 232).150 Eine Unterscheidung der drei mentalen Modelle (Situationsmodell, intra- und extratextuelles Kontextmodell) bietet verschiedene Vorteile für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit: Erstens ermöglicht es, stärker die mentale Repräsentation der discourse-Ebene mit in ein Textverstehensmodell einzubeziehen. Wenn Nünning (2005b: 496) in Bezug auf ironisch-unzuverlässiges Erzählen annimmt, dass „[t]he general effect of unreliable narration consists in redirecting
148 Als Gradmesser könnte Nünnings Liste textueller Merkmale und Signale hilfreich sein, die den Eindruck einer Erzählillusion bzw. einer „Mimesis des Erzählens“ hervorrufen (vgl. Nünning: 2001: 27–32). Dazu gehören u. a. die Anthropomorphisierbarkeit der Erzählinstanz, so dass der Leser „eine Vorstellung von ihr als (fiktiver) Person“ (Nünning: 2001: 29) konstruieren kann, phatische und appellative Äußerungen an den Adressaten (Nünning: 2001: 29), „Digressionen und Assoziationen der Erzählinstanz“ und „kolloquiale Elemente und Merkmale des mündlichen Erzählens“ (Nünning: 2001: 30) in der Erzählerrede, „textuelle Merkmale, die eine subjektive und evaluative Färbung des Erzählten erkennen lassen“ (Nünning: 2001: 30), „Generalisierungen und Sentenzen“ (Nünning: 2001: 31) sowie metanarrative Äußerungen (Nünning: 2001: 31). 149 Ähnlich auch Bortolussi/Dixon (2003: 64): “Typically, extradiegetic narrators are impersonal; that is, there is no identifiable individual to whom one can ascribe the views and beliefs of the narrator […]. ” 150 Eine ähnliche Meinung vertritt auch Walsh (2007: 78), der das klassische narratologische Kommunikationsmodell und im Besonderen die Unterscheidung von heterodiegetischer Erzählinstanz und Autor in Frage stellt: “The answer I am proposing to my original question, ‘who is the narrator?’ is this: the narrator is always either a character who narrates, or the author. There is no intermediate position. The author of a fiction can adopt one of two strategies: to narrate a representation, or to represent a narration.”
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the reader’s attention from the level of the story to the discourse level occupied by the speaker, and in foregrounding peculiarities of the narrator’s psychology“, zeigt dies, dass gerade bei Texten mit ironisch-unzuverlässigen Erzählerfiguren der mentalen Repräsentation der erzählerischen Vermittlung eine besondere Bedeutung zukommt. Zweitens ermöglicht die Einbeziehung des intratextuellen Kontextmodells genauer zu erläutern, welche Faktoren (wie Ort, Zeit, Adressat sowie Intention) der Rezipient mit einbezieht, um ein mentales Modell einer Erzählerfigur zu rekonstruieren. Ein dritter Vorteil dieses Modells besteht darin, dass es durch Einbeziehung des extratextuellen Kontextmodells ebenso wie neuere Theorien der narrativen Unzuverlässigkeit (vgl. Kap. III.3.3) die Kategorie des Autors berücksichtigen kann. Im Gegensatz zu diesen stellt der Autor im kognitiven Textverstehensmodell jedoch keine Kommunikationsinstanz dar, sondern vielmehr eine mentale Repräsentation, die der Leser bildet.151 Das folgende Schaubild soll die Ebenen des Textverstehens noch einmal demonstrieren.152
Abb. 5: Ebenen der mentalen Repräsentation bei der Rezeption fiktionaler Texte
151 Ähnlich auch Nünning (2005, 2008). 152 Das Schaubild orientiert sich an ähnlichen Grafiken in Schneider (2000) sowie Strasen (2008).
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Nachdem verschiedene mentale Modelle und ihre Teilmodelle unterschieden wurden, sollen in den folgenden Abschnitten grundlegende Prozesse der Informationsverarbeitung und der Bildung von mentalen Modellen skizziert werden. Statt eine allumfassende kognitive Rezeptionstheorie vorzustellen, sollen drei Aspekte der Informationsverarbeitung ausgeführt werden, die für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit als wesentlich betrachtet werden. Dabei stehen drei W-Fragen im Mittelpunkt: Erstens ist die grundsätzliche Frage zu klären, welche Informationen zur Bildung eines mentalen Modells herangezogen werden. Dazu soll zunächst ganz allgemein das Zusammenspiel von textuellen Daten auf der einen Seite und Wissensstrukturen des Lesers auf der anderen Seite bei der Konstruktion mentaler Modelle erläutert werden. Dieser Aspekt der Informationsverarbeitung ist wichtig für eine Theorie der narrativen Unzuverlässigkeit, weil der Leser vielfach Hypothesen über den Erzähler oder die Handlung aufstellt, die nicht explizit im Text genannt werden. Danach soll genauer auf die Besonderheiten bei der Bildung von Situationsmodellen, intratextuellen und extratextuellen Kontextmodellen eingegangen werden, wobei der Fokus auf der Konstruktion von mentalen Repräsentationen der TAW, von Figuren-, Fokalisierer- und Erzählerwelten sowie von dem mentalen Bild des Autors liegt. In einem zweiten Schritt soll erläutert werden, wie sich textuelle Widersprüche auf die Bildung mentaler Modelle auswirken. Dabei sollen die kognitiven Fähigkeiten des Lesers vorgestellt werden, die es ihm erlauben, zwischen Informationen und der Informationsquelle zu differenzieren und auf dieser Basis zu entscheiden, welche textuellen Informationen in ein mentales Modell integriert werden und welche nicht. Es geht folglich um die Frage, welchen Einfluss es auf die Bildung mentaler Modelle hat, welcher Quelle der Leser eine Information zuordnet. Dass dieser Aspekt der Informationsverarbeitung für das Verständnis narrativer Unzuverlässigkeit bedeutsam ist, liegt auf der Hand: bei ironischer Unzuverlässigkeit beispielsweise misstraut der Leser den Darstellungen einer Erzählerfigur oder der Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz, so dass er entgegen den textuellen Informationen ein anderes Bild der TAW entwirft. Drittens müssen bei der Bildung mentaler Modelle die sukzessive Informationsvergabe und damit die Dynamik der Informationsverarbeitung berücksichtigt werden. Es geht also um die Frage, wie es sich auf die Bildung mentaler Modelle auswirkt, wann der Leser eine Information erhält. Da der Leser einen Text Stück für Stück liest, bildet er mentale Modelle, die er im Lichte neuer Informationen modifizieren oder revidieren muss. Ferner soll erläutert werden, welchen Einfluss Affekte wie Spannung oder Neugier, die aus der sukzessiven Informationsvergabe resultieren, auf die Konstruktion mentaler Modelle haben. Die Bedeutung der Dynamik von Informationsverarbeitungsprozessen wird besonders im Falle alteriert-unzuverlässiger Werke evident, bei denen der Leser zunächst ein Situa-
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tionsmodell oder ein intratextuelles Kontextmodell konstruiert, welches er retrospektiv revidieren muss.
3 Zum Zusammenspiel von Wissen und textuellen Daten bei der Bildung mentaler Modelle Mentale Modelle haben eine zentrale Rolle beim Verstehen von Texten. Sie dienen – metaphorisch gesprochen – als „Ort“ (Margolin 2007: 76) oder als „Container“ (Schneider 2013b: 122 Fußnote 22) im Arbeitsgedächtnis,153 an bzw. in dem während der Rezeption alle Informationen über ein Ereignis oder eine Figur etc. zusammengetragen und gespeichert werden (vgl. Hartner 2012: 94; Margolin 2007: 76; Strasen 2008: 34; Zwaan 1996: 244). Vertreter der kognitiven Textverstehensforschung gehen davon aus, dass die Bildung mentaler Modelle das Resultat „einer Interaktion von textuellen Informationen und bereits vorhandenen Wissensstrukturen im Gedächtnis“ (Hartner 2012: 85) ist.154 In diesem Kontext unterscheiden sie zwischen daten- und wissensgesteuerter Informationsverarbeitung (vgl. Hartner 2012: 85; Schneider 2000: 37–39; Strasen 2008: 30; Zwaan 1993: 20–21). Datengesteuerte Informationsverarbeitung (bottom-up processing) bezeichnet „die Aufnahme von [textuellen] Informationen“ (Schneider 2013a: 41) und ist dadurch charakterisiert, dass „einzelne Informationen oder kleinere Gruppen zunächst isoliert verarbeitet“ (Schneider 2000: 38) und „erst sukzessive oder retrospektiv zu einem Gesamtbild integriert“ (Schneider 2000: 403) werden. Dies ist dann der Fall, „wenn das psychische System auf noch unbekannte oder unvollständige Daten trifft, die es (zunächst) nicht einordnen kann“ (Schneider 2000: 38). Im Gegensatz dazu bezeichnet wissensgesteuerte Informationsverarbeitung (top-down processing) „die Aktivierung von bereits gespeicherten Wissensbeständen, in die eingehende Informationen eingepasst werden“ (Schneider 2013a: 41). Forschungen zur künstlichen Intelligenz haben gezeigt, dass Wissen im Lang-
153 Schneider (2013b: 122, Fußnote 22) reflektiert die Nützlichkeit einer solchen Metapher für mentale Modelle: “[T]he mental model is not really a ‘thing’ ‘into’ which information can be ‘put.’ In the light of recent neurobiology we perhaps need to understand the mental model as a co-activation of particular neural networks; however, in view of the fact that no direct correlations between neurophysiological processes and the more complex operations of the mind can be established at this point, the container metaphor may still be a helpful one.” 154 Ein solches Zusammenspiel von Wissen und textuellen Daten findet sich auf allen Ebenen des Textverstehens (Schneider 2013a: 43).
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zeitgedächtnis in Form von organisierten Einheiten – sogenannten Schemata155 – gespeichert wird. Schemata werden durch neu eintreffende Informationen aktiviert und leiten und vereinfachen das Verstehen, da sie ein ganzes Netz von Informationen zu einem Wirklichkeitsausschnitt für den weiteren Verstehensvorgang bereitstellen. Sie lassen außerdem die Bildung von Hypothesen bezüglich zukünftiger Informationen zu und sind daher ein grundlegendes Phänomen menschlicher Welterfahrung. (Schneider 2000: 39–40)
Schemata haben eine skelettartige Struktur und sind hierarchisch aufgebaut (vgl. Schneider 2000: 41). Dabei ist die oberste Ebene eines Schemas abstrakt und allgemein gehalten und repräsentiert einen default-Wert, welcher allgemeingültige Annahmen über ein Konzept, ein Objekt oder eine Person enthält. Die niedrigeren Ebenen eines Schemas bestehen dagegen aus „ungebundenen Leerstellen, auch ‚slots‘ genannt“ (Schneider 2000: 41), die durch neu eintreffende textuelle Daten präzisiert werden können. Das allgemeine Schema „Restaurant“ – um ein häufig genanntes Beispiel aufzugreifen – beinhaltet beispielsweise grundlegendes Wissen über beteiligte Personen sowie ihre Rollen (Gast, Kellner, Koch), Ausstattungsgegenstände (Tische, Speisekarten, Essen) oder bestimmte Handlungsabläufe (Restaurant betreten, Bestellung aufgeben, essen, bezahlen) (vgl. Semino 1997: 135). Wenn das Schema „Restaurant“ jedoch durch textuelle Informationen präzisiert wird – wie „Fast-Food-Restaurant“ oder „Chinesisches Restaurant“ –, modifizieren sich die einzelnen slots, die Annahmen über die beteiligten Personen, Ausstattungsgegenstände und Handlungsabläufe verändern sich (vgl. Semino 1997: 135). Wie das Beispiel zeigt, können durch die Aktivierung von Schemata „viele zusätzliche Informationen aus dem Wissensbestand hinzugezogen werden, ohne dass sie im Text explizit erwähnt werden müssten“ (Schneider 2013a: 41).156 Der Prozess des bewussten oder unbewussten Hinzuziehens von Wissen wird als Inferenzbildung bezeichnet (vgl. Schneider 2013a: 41).
155 In den Kognitionswissenschaften herrscht eine Begriffsvielfalt. So wird zwischen schema, script und frame unterschieden, wobei, wie Hartner (2012: 90) zu Recht bemerkt, „die unterschiedlichen Bezeichnungen […] zwar unterschiedliche Nuancen und Schwerpunkte aufweisen, letztlich jedoch weitgehend Variationen derselben Grundannahmen darstellen“. Während frames Wissen über Zustände und Situationen beinhalten, stellen scripts Wissensstrukturen über stereotype Handlungssequenzen bereit (vgl. Jahn 1999: 174). Wie schon bei Schneider (2000: 41), Semino (1997: 128) und Strasen (2008: 199) soll in dieser Arbeit allgemein von Schema „als Oberbegriff für speziellere Termini wie frames und scripts“ (Strasen 2008: 199) gesprochen werden. Vgl. Semino (1997) und Strasen (2008) zur Entwicklung und Annahmen der Schematheorie. 156 Zu den Unterschieden von mentalen Modellen und Schemata siehe Schneider (2000: 62): „Während Schemata gespeicherte, aktivierbare Datenstrukturen im Gedächtnis sind, stellen
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Über die Ursachen und den Umfang von Inferenzbildungsprozessen herrscht in der Kognitionspsychologie Uneinigkeit.157 Nach der sogenannten construc tionist theory, die als einzige Theorie auch das extratextuelle Kontextmodell mit einbezieht (vgl. Claassen 2012: 30) und sich aus diesem Grund für diese Arbeit anbietet, wird die Inferenzbildung des Rezipienten von zwei vorrangigen Zielen bestimmt. Zum einen wird nach der coherence assumption Wissen aktiviert, um lokale und globale Kohärenz herzustellen (vgl. Graesser/Olde/Klettke 2002: 245). Neben der Etablierung von Kohärenz bildet der Rezipient nach der constructionist theory zum anderen Inferenzen, um Erklärungen für textuelle Phänomene zu finden (explanation assumption): Comprehenders attempt to explain why the explicit actions, events, and states occur in the narrative. Comprehenders also attempt to explain why the author bothers to mention explicit information and why any unusual surface features are expressed in the text. Thus, comprehension is driven by why questions to a much greater extent than other text-type questions (when, where, how, what-happens-next). The causal explanation of an intentional action includes the motives (superordinate goals) for performing the action and events/states that initiate these motives. In the language of attribution theory, these are motives, dispositions, traits, and situational events that explain why agents perform actions […]. (Graesser/Olde/Klettke 2002: 247)
Wie aus dem Zitat ersichtlich wird, umfassen die Inferenzen die verschiedenen Ebenen der mentalen Modelle. Sie können Aspekte des extratextuellen Kontextmodells betreffen (“Comprehenders also attempt to explain why the author bothers to mention explicit information and why any unusual surface features are expressed in the text”). Ähnliches gilt auch für die Inferenzbildung im intratextuellen Kontextmodell. Gerade im Falle von ironischer Unzuverlässigkeit versucht ein Leser bei der Rezeption für die Widersprüche im Diskurs Erklärungen zu finden (vgl. Kap. II). Genauso gut können sich die Erklärungshypothesen auf Elemente des Situationsmodells beziehen – beispielsweise kann Wissen herangezogen werden, um das Verhalten von Figuren zu verstehen (“The causal explanation of an intentional action includes the motives [superordinate goals] for performing the action and event/states that initiate these motives”).
mentale Modelle die dynamische Nutzung solcher Strukturen im Moment der Verarbeitung neu eintreffender Informationen dar.“ 157 Eine Übersicht über die verschiedenen Modelle zu Inferenzbildungsprozessen findet sich bei Graesser/Gernsbacher/Goldman (1997: 309–312). Zur constructionist theory siehe genauer Graesser/Singer/Trabasso (1994), Graesser/Wiemer-Hastings (1999) sowie Graesser/Olde/Klettke (2002).
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Nachdem diese allgemeinen Annahmen über daten- und wissensgesteuerte Informationsverarbeitungsprozesse vorgestellt wurden, wird im nächsten Schritt skizziert, wie der Leser mentale Modelle der TAW, der Figuren-, Fokalisierer-, Erzähler- sowie Adressatenwelten und des Autors bildet. Dabei werden im Besonderen die wissensgesteuerten Informationsverarbeitungsprozesse in den Fokus gestellt und es wird der Frage nachgegangen, welche spezifischen Wissensbestände bei der Bildung der jeweiligen mentalen Modelle von Bedeutung sind.158
3.1 Zur Konstruktion des Situationsmodells und des mentalen Modells einer TAW, einer Figurenwelt und einer Fokalisererwelt Textverstehensforscher gehen davon aus, dass „Situationsmodelle aus einer Aneinanderreihung von einzelnen events aufgebaut sind, die durch eine Reihe situativer Aspekte verknüpft werden“ (Hartner 2012: 84). Zu diesen zählen nach dem sogenannten event-indexing model Zeit, Raum, Kausalität sowie Figuren und ihre Intentionen bzw. Motivationen (vgl. Zwaan/Radvansky 1998).159 Während die ersten drei Dimensionen (Zeit, Raum, Kausalität) sich zur mentalen Repräsentation der TAW zurechnen lassen, umfassen die weiteren Dimensionen das mentale Modell einer Figur.160 Obwohl alle Dimensionen für die Konstruktion eines Situationsmodells wichtig sind, gehen Zwaan und Radvansky davon aus,
158 Grundsätzlich ist zwischen zwei Arten der Bildung mentaler Modelle zu unterscheiden: „Es kann Modelle geben, die bereits zu Beginn der Rezeption ausführliche Informationen enthalten, so daß zuverlässig vorwärtsgerichtete Inferenzen gebildet werden können. Im Gegensatz dazu kann es aber auch Modelle geben, die weniger schnell mittels gespeicherter Wissensstrukturen ausgestaltet werden können, so daß der Rezipient verstärkt auf die textuellen Informationen zurückgreifen muß.“ (Schneider 2000: 76) 159 “The end result of successful story comprehension is a coherent mental representation in long-term memory. According to the event-indexing model, the long-term memory representation of the situation model is a network of nodes that code the events described in and inferred from the story. Two event nodes may be connected through a given number of situational links [time, space, causation, intentionality, and characters]. For example, if two events share a temporal or an agent index, they are connected through a temporal or agent link.” (Zwaan/Radvansky 1998: 179) 160 Dies stimmt mit den Annahmen von Literaturwissenschaftlern überein. So schreibt Meir Sternberg (1978: 1): “There are some pieces of information, varying in number and nature from one work to another, that the reader cannot do without. He must usually be informed of the time and place of the action; of the nature of the fictive world peculiar to the work or, in other words, of the canons of probability operating in it; of the history, appearance, traits and habitual behavior of the dramatis personae; and of the relations between them.”
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dass der mentalen Repräsentation kausaler Beziehungen in der TAW und den Innenwelten der Figuren die größte Bedeutung zukommt: “[T]he moviational and causal dimensions form the backbone of situations during narrative comprehension.” (Zwaan/Radvansky 1998: 78) Aus diesem Grund sollen Annahmen über die kausale Konfiguration einer TAW sowie die Zuschreibung mentaler Zustände bei nicht-fokalisierenden Figuren, Fokalisierungsinstanzen, Erzählern, Adressaten betrachtet werden. Da bei der Rezeption fiktionaler Literatur – und im besonderen Fall der narrativen Unzuverlässigkeit – die Vorstellung des Lesers von der Autorintention wichtig ist, soll auch die Bildung mentaler Autorenmodelle skizziert werden. Zur Konstruktion des mentalen Modells einer TAW Als wesentliches Element des Situationsmodells und des intratextuellen Kontextmodells fungiert das mentale Modell der TAW, also das, was Textverstehensforscher oftmals als „microworld“ (Graesser/Wiemer-Hastings 1999: 77) bezeichnen. Ein Rückgriff auf Johnson-Lairds Unterscheidung verschiedener Arten mentaler Modelle hilft, die verschiedenen Dimensionen der mentalen Repräsentation einer TAW zu beschreiben. Nach Johnson-Laird können mentale Modelle konkreter oder abstrakter Natur sein. Er spricht in diesem Zusammenhang von physical models und conceptual models: “Physical models represent the physical world; conceptual models represent more abstract matters.” (Johnson-Laird 1983: 422)161 Auf Grundlage dieser Unterscheidung kann angenommen werden, dass ein mentales Modell einer TAW eine Vorstellung von den konkreten Ereignissen in der TAW mitsamt ihren Figuren und ihrer räumlichen Ausgestaltung umfasst – also ein physical model, bei dem „physisch-physikalische, räumliche und bildliche Aspekte“ (Schneider 2000: 66) hervortreten. Darüber hinaus beinhaltet ein mentales Modell einer TAW auch abstrakte Annahmen und weist somit Züge eines conceptual model auf. Mit Rückgriff auf Segal (1995) können diese abstrakten Annahmen als storyworld logic bezeichnet werden. Diese umfassen a set of implicit constraints, rules, or principles which dictate what can or what cannot be the case within that world. These constraints serve as a storyworld logic, that specifies what the possible properties of objects are and what relations can exist among them. Knowledge of the storyworld logic constrains the interpretation and experience of the story. (Segal 1995: 72)
161 Dabei sind mentale Modelle „bei der Literaturrezeption vorrangig als konzeptuelle Modelle zu klassifizieren“ (Schneider 2000: 67).
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Die storyworld logic hat demnach wesentlichen Einfluss auf die Bildung eines mentalen Modells der TAW: “The reader approaches a new story presupposing that it has a storyworld logic to help structure the incoming text.” (Segal 1995: 72) Annahmen über die storyworld logic einer TAW dienen dazu, Ereignisse in eine kausale und temporale Beziehung162 zu setzen oder zukünftige Handlungsverläufe vorauszusehen. Da die physikalischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten in fiktionalen Universen nicht mit denen der Erfahrungswelt des Lesers übereinstimmen müssen, kann die Kausalität in fiktionalen Welten höchst unterschiedlicher Natur sein. Richardson (1997, 2005) etwa differenziert vier Grundtypen kausaler Konfigurationen fiktionaler Welten: Erstens einen Kausalitätsrahmen, welcher an der Erfahrungswelt des Lesers orientiert ist („naturalistic causality“): “[A]ll transformations are caused by natural laws and recognisable human traits and actions.” (Richardson 2005: 51) Zweitens eine durch übernatürliche Kräfte beeinflusste Kausalität („supernatural causality“), welche sich dadurch auszeichnet, dass Götter, Fabelwesen und Zauberer Einfluss auf die Ereignisse und Geschehnisse nehmen können (Richardson 2005: 51). Drittens eine auf Zufall aufbauende Kausalität („chance worlds“): “[O]rdinary or improbable causal progressions are interrupted or absent. Coincidences proliferate implausibly, familiar causes fail to produce their invariable effects, and statistically unlikely events abound.” (Richardson 2005: 51) Und viertens eine Form von (Meta-)Kausalität („metafictional systems of causations“), bei der die Ereignisse in einer fiktionalen Welt von ihrem Erschaffer mittels einer Metalepse geändert werden und somit die Konstrukthaftigkeit des Textes hervorgehoben wird (Richardson 2005: 51). Wie aber bestimmt der Leser die storyworld logic einer TAW? Segal (1995: 72) geht davon aus, dass besonders zu Beginn der Lektüre der wissensgesteuerte Modus der Informationsverarbeitung dominant ist und der Leser eine Ähnlichkeit der TAW zur eigenen Erfahrungswelt vermutet. Aus diesem Grund nimmt er an, dass der Leser zunächst grundsätzlich alles, was er über die AW weiß, in das mentale Modell der TAW einfließen lässt. Erst wenn er Hinweise hat, dass die storyworld logic der TAW nicht mit den physikalischen, kausalen, temporalen oder psychologischen Gesetzmäßigkeiten der eigenen Erfahrungswelt identisch ist, wird er Änderungen in seinem mentalen Modell vornehmen.163 Diese Annahmen lassen sich aus der Schematheorie ableiten, wonach der Rezipient
162 Wie Hartner (2012: 87) anmerkt, sind „kausale Inferenzen zumeist auch temporaler Natur“, weil „Ursache und Wirkung in einem unidirektionalen temporalen Verhältnis zueinander stehen“. 163 “The default condition is verisimilitude. If there are no reasons to believe otherwise, the reader presumes the relationships are what they are in the real world.” (Segal 1995: 72)
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als default-Wert eine Ähnlichkeit zur eigenen Erfahrungswirklichkeit annimmt und einzelne slots erst verändert, wenn er entgegenstehende Informationen hat.164 Neben der Aktivierung von Weltwissen kann auch literarisches Wissen bei der Bildung eines mentalen Modells der TAW hinzugezogen werden. Besonders das Wissen über gattungstypische Ausgestaltungen fiktionaler Welten spielt dabei eine gewichtige Rolle (vgl. Gavins 2007: 38; Seibel 2007: 140–141). So kann beispielsweise die Phrase „Once upon a time“ beim Leser das Schema der Gattung „Märchen“ aktivieren und damit Annahmen über eine spezifische storyworld logic evozieren (vgl. Richardson 1997: 61), wonach in der TAW beispielsweise Tiere sprechen können oder Figuren über Zauberkräfte verfügen. Kann der Leser jedoch kein Wissen heranziehen, um ein kohärentes mentales Modell der TAW zu bilden – etwa weil er den Text keiner Gattung zuordnen kann, er mit den Gattungskonventionen nicht vertraut ist (vgl. Segal 1995: 72) oder er widersprüchliche Informationen über die storyworld logic der TAW bekommt (vgl. Zwaan 1996: 248–249; Richardson 1997: 43) –, wird die Bildung des mentalen Modells der TAW in höherem Maße durch datengesteuerte Informationsverarbeitung vorangetrieben und erfordert nach Zwaan (1996: 248) daher größere kognitive Anstrengungen: “[The] more that fictional settings and events deviate from real world setting and events, the harder it will be for the reader to construct a situation model.”165 Zur Konstruktion des mentalen Modells einer Figurenwelt Mentale Figurenmodelle stellen die wohl wichtigsten mentalen Repräsentationen innerhalb des Situationsmodells bzw. des intratextuellen Kontextmodells dar (vgl. Hartner 2012: 88; Schneider 2000: 67–68). Wie bei einer mentalen Repräsentation der TAW ist bei mentalen Figurenmodellen zwischen „konkrete[n], physischen und handlungsbezogenen“ sowie „abstrakten Vorstellungen von der Figur (z. B. von den psychischen Dispositionen, motivationalen und emotiona-
164 Aus diesem Grund lässt sich erklären, warum ein Leser, wenn er erkennt, dass einzelne Aspekte der TAW nicht mit seiner Erfahrungswirklichkeit übereinstimmen, trotzdem weiterhin sein Weltwissen aktiviert: „Solche Texte [Märchen oder phantastische Geschichten] etablieren eine fiktionale Welt, die nicht an jeder Stelle in allgemein gesellschaftliche Wissensbestände von der Lebenswelt integriert werden kann. Wissen aus der alltäglichen Lebenserfahrung muß dann aber nicht suspendiert werden, sondern wird unterstützend hinzugezogen, um analoge Strukturen und Prozeduren des Verstehens bereitzustellen.“ (Schneider 2000: 45) 165 Gleichwohl kann Wissen über Gattungskonventionen bei der Rezeption erworben werden (vgl. Segal 1995: 72).
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len Eigenschaften)“ (Schneider 2000: 69) zu unterscheiden.166 Abstrakte Vorstellungen von einer Figur lassen sich nach Jannidis (2004) darüber hinaus in langfristige Persönlichkeitsmerkmale („traits“) und in kurzfristige mentale Zustände („mental states“) unterteilen. Langfristige Persönlichkeitsmerkmale bezeichnen Charaktereigenschaften, die einer Figur über einen längeren Zeitraum zugeschrieben werden können. Kurzfristige mentale Zustände dagegen umfassen das „Wissen, die Annahmen, die Voraussetzungen, die Ideen, die Meinungen, sowie [die] Wünsche, also [die] Bestrebungen, Begierden, Vorlieben, Ziele, Hoffnungen, Selbstverpflichtungen und Werte“ (Jannidis 2004: 190) einer Figur in spezifischen Situationen und bezeichnen das, was Vertreter der possible-worlds theory Figurenwelten nennen.
Abb. 6: Konstituenten eines mentalen Figurenmodells
166 “Comprehenders potentially construct multiple agents in their cognitive representations when they read narrative […]. Each agent has human qualities, such as speaking, perceiving, believing, knowing, wanting, liking, acting, and experiencing emotions. […] Each character views the storyworld from his or her point of view, or what is sometimes called character perspective […]. ” (Graesser/Brent/Klettke 2002: 236)
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Obwohl aus diesem Grund die Konstruktion der mentalen Zustände von Figuren für diese Arbeit als wesentlich erscheint, ist es dennoch sinnvoll, auch auf die Konstruktionsprozesse langfristiger Figureneigenschaften einzugehen, da sich diese Prozesse bedingen und nicht voneinander zu trennen sind (vgl. Jannidis 2004: 190). So kann der Rezipient von kurzfristigen mentalen Zuständen auf langfristige Figureneigenschaften schließen (vgl. Bruner 1990: 39; Jannidis 2004: 190). Hat beispielsweise eine Figur den „Wunsch wenig Geld auszugeben, die Überzeugung, daß die meisten Dinge überteuert sind, oder die Annahme, nur wenig anderes sei so wichtig, wie sein Geld zusammenzuhalten“ (Jannidis 2004: 190), dann kann der Rezipient aus diesem „Bündel“ mentaler Zustände das Persönlichkeitsmerkmal „geizig“ ableiten (Jannidis 2004: 190). Umgekehrt ist es aber auch denkbar, dass der Rezipient von langfristigen Persönlichkeitsmerkmalen Rückschlüsse auf spezifische mentale Zustände zieht (vgl. Schneider 2000: 144). Schreibt ein Leser einer Figur das langfristige Persönlichkeitsmerkmal „geizig“ zu, kann er diese Annahme heranziehen, um das Verhalten dieser Figur in einer konkreten Situation zu erklären und ihre mentalen Zustände zu rekonstruieren. Für die Konstruktion langfristiger Eigenschaften und kurzfristiger mentaler Zustände einer Figur sind auf Leserseite besonders solche Wissensstrukturen von Bedeutung, die Schneider (2000: 83) als „allgemeine Persönlichkeitstheorien“ bezeichnet. Darunter subsumiert er alle schematischen Strukturen (Wissen über Ereignis- und Verhaltenssequenzen, Überzeugungen und Einstellungen) und kategoriale Strukturen (Wissen über Personen, Personengruppen und Selbstkonzepte […]) […], welche die Vorhersage und die Erklärung menschlichen Verhaltens ermöglichen und somit soziale Interaktionen in einer Gesellschaft regulieren. Solches Wissen kann in einer Gesellschaft sprachlich manifest werden in abstrakteren, theoretischen Konzepten, die auf eine Person angewandt werden können („Workaholic“, „Ödipus-Komplex“), aber auch in Bezeichnungen für Rollen und Berufe. (Schneider 2000: 83)
Wie in diesem Zitat mitschwingt, gehen Kognitionspsychologen (Bortolussi/Dixon 2003; Gerrig/Allbritton 1990) und Narratologen rezeptionstheoretischer Provenienz (vgl. Culpeper 2001; Grabes 1978; Margolin 2005; Schneider 2000) davon aus, dass die Bildung mentaler Modelle von realen Personen und fiktionalen Figuren auf ähnlichen kognitiven Prozessen und Wissensstrukturen beruht. Bei der Konstruktion langfristiger Persönlichkeitsmerkmale von Figuren spielen besonders wissensgesteuerte Informationsverarbeitungsprozesse eine Rolle, die von Schneider (2000, 2001, 2013a, 2013b) und Culpeper (2001, 2009) mit Rückgriff auf Einsichten der kognitiven Sozialpsychologie als Kategorisierung bezeichnet werden. Danach teilt der Leser Figuren zunächst in Katego-
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rien167 ein, auf deren Grundlage er ihnen spezifische Persönlichkeitsmerkmale zuschreibt. Kategorisierung spielt bei der Konstruktion von mentalen Figurenmodellen insofern eine zentrale Rolle, als dass diese Form der wissensgesteuerten Informationsverarbeitung dem Leser bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Rezeption ermöglicht, einer Figur bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zuzuschreiben und „implizite Verhaltenserwartungen und Verhaltenserklärungen“ (Schneider 2000: 143) zu generieren. In Bezug auf die Figurenrezeption lassen sich nach Schneider (2000: 142–155) verschiedene Arten der Kategorisierung unterscheiden. Bei sozialer Kategorisierung erfolgt die wissensgesteuerte Informationsverarbeitung durch Aktivierung lebensweltlicher Personenkategorien (also durch Nennung des Alters, des Geschlechts, des Berufs etc.).168 So wird beispielsweise Personen, die Richter sind, aufgrund der Kategorisierung nach ihrer sozialen Rolle eine moralische Grundhaltung unterstellt (vgl. Culpeper 2009: 137). Kategorisierung kann aber auch auf Grundlage literarischen Wissens erfolgen. Sie tritt dann auf, wenn ein Leser aufgrund seiner Kenntnis über literarische Figurenkonzeptionen Annahmen über Persönlichkeitsmerkmale aufstellt (vgl. Schneider 2000: 146–148). So kann Wissen über spezifische literarische Typen wie die femme fatale oder den verrückten Wissenschaftler (vgl. Jannidis 2009: 19) herangezogen werden, um den Figuren spezifische Persönlichkeitsmerkmale zuzuschreiben.169 Kategorisierungsprozesse ermöglichen dem Leser nicht nur, einer Figur aufgrund von Wissen langfristige Persönlichkeitsmerkmale zuzuschreiben, sondern sie haben gleichzeitig Einfluss auf die moralische Bewertung der Figur (vgl. Schneider 2000: 152). So kann ein Leser aufgrund der Kategorisierung einer Figur spezifische positive oder negative Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Kategorisiert ein Leser mittels literarischer Schemata eine Figur als Held, wird seine moralische Bewertung der Figur positiver ausfallen, als wenn er die Figur als Bösewicht identifiziert. Nachdem bislang mit Kategorisierungsprozessen primär die wissensgesteuerte Informationsverarbeitung bei der Zuschreibung langfristiger Persönlichkeitsmerkmale beschrieben wurde, soll kurz auf datengesteuerte Informationsverarbeitungsprozesse eingegangen werden. Diese treten vor allem dann auf, wenn eine Figur sich gängigen Kategorien entzieht oder dem Leser das Wissen fehlt, um
167 Zu den Unterschieden von Schemata und Kategorien siehe Schneider (2000: 47). 168 Diese Kategorisierung kann beispielsweise nach sozialen Rollen (z. B. berufliche oder familiäre Rollen) oder nach Zugehörigkeit zu spezifischen Gruppen (die nach Alter, Geschlecht, Ethnie, Nationalität oder Religionszugehörigkeit unterschieden werden) stattfinden (vgl. Culpeper 2009: 135). 169 Eine dritte Form der Kategorisierung ist die textspezifische Kategorisierung. Im Gegensatz zu den anderen von Schneider genannten ist diese Form der Figurenkonstruktion stärker datengesteuert (vgl. Schneider 2000: 148–149).
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die Figur zu kategorisieren (vgl. Schneider 2000: 155–160). Im Gegensatz zu den primär wissensgesteuerten Informationsprozessen bei der Kategorisierung einer Figur zeichnet sich diese Art der Bildung des mentalen Figurenmodells durch eine „hohe Bereitschaft zu Modellelaboration und -modifikation“ (Schneider 2000: 156) aus. Neben langfristigen Persönlichkeitsmerkmalen stellt die Zuschreibung von kurzfristigen mentalen Zuständen ein wesentliches Element der Figurenrezeption dar. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass die Rekonstruktion mentaler Zustände den Schlüssel zum Verstehen von Narrativen darstellt: “[N]arrative comprehension requires situating participants within networks of beliefs, desires, and intentions.” (Herman 2003: 169) Im Gegensatz zu langfristigen Persönlichkeitsmerkmalen gibt es bei der Zuschreibung von mentalen Zuständen jedoch Unterschiede bei nicht-fokalisierenden Figuren, Fokalisierungsinstanzen und Erzählerfiguren, die im Folgenden erläutert werden sollen.170 Im Gegensatz zur Rekonstruktion langfristiger Persönlichkeitsmerkmale leitet der Rezipient kurzfristige mentale Zustände aus dem situativen Verhalten und der äußeren Erscheinung einer nicht-fokalisierenden Figur ab. Dafür sind Fähigkeiten des Lesers notwendig, die als theory of mind, folk psychology oder ganz allgemein als mind-reading171 bezeichnet werden: [Mind-reading] is a term used by cognitive psychologists […] to describe our ability to explain people’s behavior in terms of their thoughts, feelings, beliefs, desires. Thus we engage in mind-reading when we ascribe to a person a certain mental state on the basis of her observable action […]. (Zunshine 2006: 6)172
170 Bei Kategorisierungsprozessen werden einer Figur bestimmte Eigenschaften aufgrund ihrer Zuordnung zu einer sozialen oder literarischen Kategorie zugeschrieben. Insofern kann angenommen werden, dass es für den Leser keinen Unterschied macht, ob die Figur als Fokalisierungsin stanz oder als nicht-fokalisierende Figur textuell in Erscheinung tritt (s. o.). Erfährt der Leser – um das Beispiel von Culpeper noch einmal aufzugreifen –, dass es sich bei einer Erzählerfigur, einer Fokalisierungsinstanz oder einer nicht-fokalisierenden Figur um einen Richter handelt, dann wird der Leser der Figur dieselben Attribute (etwa das Merkmal „moralisch“) zuschreiben, unabhängig davon, ob sie Erzählerfigur, Fokalisierungsinstanz oder nicht-fokalisierende Figur ist. 171 Während diese Fähigkeit des Menschen von Philosophen als folk psychology bezeichnet wird, wird dieselbe Fähigkeit in der (Entwicklungs-)Psychologie theory of mind genannt (vgl. Sperber 1999: 541). Auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten herrscht keine einheitliche Terminologie. So sprechen Zunshine (2006) und Hartner (2012) von theory of mind, während Jannidis (2004) oder Herman (2011) den Ausdruck folk psychology verwenden. Im Rahmen dieser Arbeit wird aus Gründen der Einfachheit von mind-reading gesprochen. 172 Zur Frage, inwieweit die theory of mind auch die Zuschreibung von Emotionen umfasst, vgl. Vogt Wehrli/Modestin (2009).
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Um die kognitiven Funktionsweisen von mind-reading zu veranschaulichen, erweist sich das Modell des Kognitionspsychologen Bertram Malle (1999) als besonders hilfreich.173 Nach diesem Modell entscheidet der Mensch beim mindreading zunächst, ob die Handlung der anderen Person intentional ausgeführt wurde oder nicht (Malle 1999: 23).174 Wenn ein Verhalten als nicht-intentional interpretiert wird, wird es laut Malle (1999: 24) auf Ursachen („causes“) zurückgeführt.175 Um ein Beispiel zu geben: Wenn jemand auf glatter Straße ausrutscht (Handlung), führt man diese Handlung auf äußere Ursachen (z. B. Nässe oder Eis) und nicht auf mentale Zustände zurück. Wird das Verhalten der anderen Person dagegen als intentional begriffen, werden Gründe („reasons“) gesucht, warum die Person die Handlung (intentional) ausgeführt hat. „Gründe“ in diesem Kontext bezeichnen alle mentalen Zustände (wie Wissen, Annahmen, Hoffnungen oder Wünsche), die zur Intention führen, in dem spezifischen Kontext die Handlung auszuführen (Malle 1999: 27). Um diese Gründe nachzuvollziehen, kann es notwendig sein, einen narrativen Kontext zu generieren, in dem das Verhalten der Mitmenschen plausibel und rational erscheint.176 Dieser narrative Kontext wird von Malle (1999: 32) als Kausalgeschichte bezeichnet: “[C]ausal history factors offer the context, background, and origin of reasons.” Eine Kausalgeschichte kann beispielsweise auf biographische Hintergründe oder Persönlichkeitsmerkmale rekurrieren, die das Verhalten der Figur verständlich machen (vgl. Malle 1999: 32). Malles hier knapp umrissenes und etwas vereinfachtes Modell177 des mindreading ist im Kontext dieser Arbeit auch deshalb fruchtbar, weil es eine Brücke
173 Dieses Modell wurde von Jannidis (2004: 190) in die Literaturwissenschaft eingeführt. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Malle statt von mind-reading von folk psychology spricht. 174 Graesser/Olde/Klettke (2002: 247) heben die Unterscheidung des Lesers beim Verstehen von Texten und der Inferenzbildung hervor: “The causal explanation of an intentional action includes the motives (superordinate goals) for performing the action and event/states that initiate these motives. In the language of attribution theory, these are motives, dispositions, traits, and situational events that explain why agents perform actions […]. It is important to distinguish the intentional actions of agents from unintentional events that occur in the material world. The causal explanation of an unintentional event includes the causal antecedents that lead up to the event.” 175 Die Grafik ist entnommen aus Malle (1999: 36). 176 Auch Bruner (1990: 42–43) hebt die narrative Dimension von mind-reading bzw. folk psychol ogy hervor: “[T]he organizing principle of folk psychology [is] narrative in nature rather than logical or categorical. Folk psychology is about human agents doing things on the basis of their beliefs and desires, striving for goals, meeting obstacles which they best or which best of them, all of this extended time.” 177 Ein weiteres Element in Malles Modell sind sogenannte „enabling factors“ (Malle 1999: 31–32).
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schlägt zwischen mind-reading und der ethisch-moralischen Beurteilung einer Figur. So nehmen Guglielmo, Monroe und Malle (2009) an, dass mind-reading bzw. folk psychology die Grundlage für die moralische Bewertung anderer Menschen darstellt: “[F]olk psychology lies at the heart of moral judgement.” (Guglielmo/ Monroe/Malle 2009: 449) Fügt beispielsweise eine Figur einer anderen Figur Schaden zu, dann hängt die moralische Einschätzung davon ab, welche mentalen Zustände der Leser dem Handelnden zuschreibt. Um ein kurzes Beispiel zu geben: Figur A schlägt Figur B. Wie der Rezipient das Verhalten von Figur A ethisch-moralisch bewertet, hängt davon ab, welche mentalen Zustände dieser zugeschrieben werden. Hat Figur A intentional gehandelt oder stellte der Schlag eine ungeschickte Bewegung dar? Wenn Figur A Intention unterstellt wird, dann fließen auch die Gründe für das Verhalten – also die Generierung eines narrativen Kontexts – in die ethisch-moralische Bewertung mit ein. Angenommen, dass Figur A glaubte, sie befände sich in einer Notwehrsituation und müsse sich verteidigen, dann ist die Bewertung des Verhaltens eine andere, als wenn beispielsweise der Leser davon ausgeht, dass Spaß an Gewalt der Grund sei. Insofern dient mindreading nicht nur der Zuschreibung mentaler Zustände, sondern es beeinflusst gleichzeitig die ethisch-moralische Bewertung einer Figur. Zur Konstruktion des mentalen Modells einer Fokalisiererwelt Da der Leser bei einer Fokalisierungsinstanz das Geschehen und die anderen Figuren in der TAW durch ihre Augen wahrnimmt, hat er unmittelbaren Zugang zu den Gedanken der fokalisierenden Figur (vgl. Margolin 2003: 282).178 Folglich gestaltet sich das mind-reading bei Fokalisierungsinstanzen anders als bei (nichtfokalisierenden) Figuren, wie im Folgenden erläutert werden soll.179 Im Vordergrund bei Texten mit Fokalisierungsinstanzen steht daher „a storyworld’s mind in action, as it perceives, categorizes, represents internally (creates a mental image), and judges any object in the storyworld“ (Margolin 2003: 282). Aus diesem Grund gestaltet sich die Zuschreibung von mentalen Zuständen – und damit die Konstruktion von Fokalisiererwelten – anders als bei nicht-fokalisierenden Figuren. Da der Leser bei Fokalisierungsinstanzen bei der Rekonstruktion mentaler Zustände nicht auf das Verhalten und die äußere Erscheinung der spezifischen
178 Genauer zur Bedeutung von Fokalisierung und zu den Auswirkungen auf die Konstruktion von Situationsmodellen siehe Millis (1995). 179 Aus diesem Grund definiert Margolin eine Fokalisierungsinstanz als „an individual storyworld participant whose mental activity in constructing a mental representation of some object or event in his or her world and the resultant product of this activity are both displayed in the narrative“ (Margolin 2003: 282).
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Figur angewiesen ist, sondern stattdessen direkten Einblick in ihre Psyche hat, besitzt mind-reading eine andere Qualität und kann daher fast wörtlich verstanden werden. Mind-reading bei Fokalisierungsinstanzen beinhaltet das Nachvollziehen der kognitiven Prozesse, mit denen die fokalisierende Figur ihr Bild der fiktionalen Wirklichkeit konstruiert: As we know, from cognitive studies, perception […] is far from being an innocent, simple recording of external input stimuli. It involves rather active selection, organization, and interpretation of data. In addition, each act of perception is carried out by a mind which has previous knowledge, memories, and expectations, all of which play a decisive role in shaping the inner representation of the input data. (Margolin 2003: 282)180
So kann der Leser etwa rekonstruieren, wie eine Fokalisierungsinstanz anderen Figuren mentale Zustände zuschreibt und auf dieser Grundlage deren Handeln erklärt: “[M]ind-reading […] involves readers trying to follow characters’ attempts to read other characters’ minds.” (Palmer 2008: 166) Dabei mag die Art und Weise wichtig sein, wie eine fokalisierende Figur eine Kausalgeschichte bzw. einen narrativen Kontext generiert, um das Verhalten der anderen Figur mit Sinn zu füllen. Ähnlich bedeutsam scheint die Art und Weise, wie eine Fokalisierungsinstanz anderen Figuren in der TAW durch Kategorisierungsprozesse langfristige Persönlichkeitsmerkmale zuschreibt. So kann etwa der Rassismus oder Sexismus einer Fokalisierunsginstanz dadurch zum Ausdruck kommen, dass sie anderen Figuren auf Grundlage sozialer Kategorien (wie Ethnie oder Geschlecht) spezifische negative Persönlichkeitsmerkmale zuschreibt. Insofern ermöglicht eine Analyse von Mind-reading- und Kategorisierungs-Prozessen Rückschlüsse auf das Normenund Wertesystem der Fokalisierungsinstanz (vgl. Margolin 2005: 56).
3.2 Zur Konstruktion des intratextuellen Kontextmodells und des mentalen Modells einer Erzählerwelt Die Zuschreibung von mentalen Zuständen einer Erzählerfigur (und damit die Konstruktion von Erzählerwelten) gestaltet sich anders als bei nicht-fokalisierenden Figuren und Fokalisierungsinstanzen. Auf der einen Seite wird das Geschehen aus der subjektiven Sicht eines homodiegetischen Erzählers präsentiert. Aus diesem Grund kann die Erzählung als Produkt kognitiver Prozesse einer homodiegetischen Erzählerfigur begriffen werden: “[W]hen reading a fictional narrative,
180 “This unique ability is part of the postulate of unrestricted mental access to the minds, which is in turn one of the constitutive conventions of literary narrative.” (Margolin 2003: 282)
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we are ultimately processing external verbal information produced by this narrator as a result of his or her own processing of all sorts.” (Margolin 2003: 281)181 Wie bei Fokalisierungsinstanzen kann daher analysiert werden, durch welche Kategorisierungsprozesse ein homodiegetischer Erzähler anderen Figuren spezifische Persönlichkeitsmerkmale zuschreibt oder welche mentalen Zustände er ihnen aufgrund von mind-reading attestiert. Auf der anderen Seite muss jedoch bedacht werden, dass ein homodiegetischer Erzähler seine Geschichte in der Regel einem Adressaten mitteilt und dabei spezifische Ziele verfolgt. Während die subjektive Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz ein quasi-automatisch ablaufender Prozess ist, stellt die Narration eines homodiegetischen Erzählers in der Regel einen stärker reflektierten Prozess dar.182 Daher hat der Leser im Gegensatz zu Fokalisierungsinstanzen „no direct access to the narrator’s mind“ (Margolin 2003: 281). Aus diesem Grund muss der Leser bei der Konstruktion einer Erzählerwelt den situativen Kontext mit einbeziehen, in dem die Erzählerfigur kommuniziert,183 denn „[c]ontexts […] influence what people say and especially how they do so“ (van Dijk 2006: 165; Hervorhebung im Original). Um den Kontext der „Erzählsituation“ zu bestimmen (bzw. das intratextuelle Kontextmodell zu bilden) und um Rückschlüsse auf die mentalen Zustände des Erzählers ziehen zu können, sind Aspekte wie Ort, Zeit und Adressat zu berücksichtigen. Ein spezifischer Ort, an dem eine Erzählung generiert wird, z. B. eine Gefängniszelle wie in Nabokovs Lolita (1955) oder eine psychiatrische Anstalt wie in Keseys One Flew Over The Cukoo’s Nest (1963), mag bereits Inferenzen über Persönlichkeitsmerkmale oder mentale Zustände einer Erzählerfigur zulassen. Auch der Zeitpunkt des Erzählens kann Einfluss darauf haben, welche mentalen Zustände einer Erzählerfigur zugeschrieben werden. Liegt beispielsweise nur wenig Zeit zwischen den geschilderten Geschehnissen und dem Zeitpunkt des Erzählens, kann der Leser eine emotionale Nähe des Erzählers zum Geschehen
181 Darunter fallen „selection, chunking of information, its categorization, the use of prototypes or exemplars for sense-making of the category members, temporal and causal sequencing, inferencing, judgement, and generalization“ (Margolin 2003: 279; Hervorhebung im Original). 182 Eine terminologisch sinnvolle Unterscheidung trifft Chatman (1990: 143), der zwischen der subjektiven Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz und der subjektiven Darstellung eines homodiegetischen Erzählers differenziert: “I propose slant to name the narrator’s attitudes and other mental nuances appropriate to the report function of discourse, and filter to name a much wider range of mental activity experienced by characters in the story world – perceptions, cognitions, attitudes, emotions, memories, fantasies, and the like.” 183 Freilich ist dies nicht bei jedem homodiegetisch erzählten Text möglich.
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annehmen, während ein bereits lang vergangenes Geschehen häufig mit einer emotionalen Distanz einhergeht. Den bedeutendsten Faktor für die Bildung der Erzählerwelt stellt in der Regel jedoch der Adressat dar. Wer ist der Adressat? Ist die Erzählung an einen individualisierten Adressaten gerichtet, den die Erzählerfigur kennt und dem sie vertraut? Oder kennt die Erzählinstanz den Adressatenkreis womöglich gar nicht (vgl. Sniader Lanser 1981: 179)? Dabei ist zu bedenken, dass der Adressat selbst ein mentales Modell der Erzählerfigur ist, welches dieser von seinem Kommunikationspartner gebildet hat. Die Erzählerfigur schreibt ihrem Gegenüber langfristige Persönlichkeitsmerkmale und mentale Zustände (z. B. ein bestimmtes Wissen bzw. ein bestimmtes Wertesystem) zu und richtet ihre Erzählung entsprechend auf den Adressaten ein. Wenn der Leser versucht, den Adressaten zu rekonstruieren, dann versucht er zu erfassen, wie die Erzählerfigur sein Gegenüber interpretiert und warum er in der spezifischen Weise mit diesem kommuniziert. Wenn der Leser erfährt, dass der in Haft sitzende Humbert Humbert aus Nabokovs Lolita (1955) seine Worte an die Geschworenen in seinem Gerichtsverfahren richtet, nimmt der Leser eine vorsichtigere Haltung gegenüber der Erzählerfigur ein, da er annehmen mag, dass der Erzähler die Intention verfolgt, sich seiner Leserschaft in einem besonders guten Licht zu präsentieren. Im Falle von Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) führt die Erzählerfigur Dowell dagegen innere Zwiegespräche mit sich selbst. In einem solchen Fall kann davon ausgegangen werden, dass die Erzählerfigur ihre Gefühle und das Geschehen offen und ehrlich schildert (was wiederum nicht bedeutet, dass der Rezipient zwangsläufig mit der Bewertung oder der Rekonstruktion des Geschehens übereinstimmen muss).
3.3 Zur Konstruktion des extratextuellen Kontextmodells und des mentalen Modells des Autors Das extratextuelle Kontextmodell kann Annahmen des Lesers über den Autor, den sozio-historischen und biographischen Kontext der Entstehung des Werkes und über fiktionales Erzählen im Allgemeinen enthalten. Eine herausragende Stellung im extratextuellen Kontext nimmt das mentale Modell des Lesers vom Autor ein, welches Toolan (2001 [1988]: 65) und Claassen (2012: 220) als impliziten Autor bezeichnen.184
184 Eine differenzierte Abgrenzung des kognitionspsychologischen Konzepts des impliziten Autors vom narratologischen findet sich bei Claassen (2012: 220).
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Wie bei den anderen mentalen Repräsentationen wird angenommen, dass ein Rezipient das mentale Modell des Autors durch ein Zusammenspiel aus Topdown- und Bottom-up-Prozessen bildet (vgl. Claassen 2012: 54). Er kreiert aufgrund der Lektüre eine mentale Repräsentation des Autors durch datengesteuerte Prozesse. Dazu tragen die im Werk behandelten Themen, der sprachliche Stil sowie der Gebrauch von Ironie oder Metaphern bei (vgl. Claassen 2012: 54). Wenn der Leser Wissen über den empirischen Autor und die Entstehungszeit des Werkes hat, fließt dieses ebenfalls in die mentale Repräsentation des Autors ein (vgl. Claassen 2012: 211).185 Ein wesentlicher Aspekt der mentalen Repräsentation ist die Intention, die der Leser dem Autor unterstellt: “In the case of literary narratives, the account of an implied author that a reader develops tends in practice to have much to do with authorial intention and meaning.” (Toolan 2001 [1988]: 65) Insofern kann gefolgert werden, dass Mind-reading-Prozesse auch bei der Bildung eines mentalen Autormodells bedeutsam sind (vgl. Zunshine 2006). Um erneut auf Malles Modell des mind-reading zurückzugreifen, ist anzunehmen, dass ein Leser mit Rückgriff auf den sozio-kulturellen Hintergrund und das Wissen über die Biographie eines Autors einen narrativen Kontext generiert, indem er dem Autor spezifische Intentionen zuschreibt. Daraus folgt, dass ein Leser – wenn er über entsprechendes Wissen verfügt – seine Annahmen über den Autor auf ein festeres Fundament stellen kann als ein Leser, dem dieses fehlt. Da ein Leser konzeptionell zwischen Erzählerfigur und Autor unterscheiden kann, wird die Frage nach der Intention des Autors nach Claassen besonders dann relevant, wenn ein homodiegetischer Erzähler einen moralisch fragwürdigen Standpunkt vertritt (vgl. Claassen 2012: 215). In diesem Fall muss sich der Leser mit der Frage auseinandersetzen, ob der Autor mit dieser Position übereinstimmt oder nicht: “What are the intentions of the author? What is his moral position? Is the author still pretending, or is he putting his own ideas into the mouths of his fictional characters/narrator?” (Claassen 2012: 215) Claassen geht davon aus, dass ein Leser grundsätzlich annimmt, dass der Autor „morally acceptable“ (2012: 215) sei, solange er kein gegenteiliges Wissen habe. Claassen spricht in diesem Kontext vom „default assumption of good behavior“ (2012: 215).
185 Claassen vertritt die Meinung, dass der Leser zwei verschiedene mentale Modelle des Autors entwirft (2012: 213). Die erste mentale Repräsentation ist das Bild des Autors, welches der Leser durch die Textlektüre gewinnt (Claassen spricht hier vom implied author). Davon unterscheidet Claassen das mentale Modell des Autors, welches der Leser auf Grundlage seines Wissens über dessen Biographie entwirft (vgl. Claassen 2012: 213). Es erscheint aber fraglich, ob der gewöhnliche Leser ein solches Abstraktionsniveau während der Rezeption entwickelt.
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Ferner ist die Bestimmung der Autorenintentionen in Hinblick auf narrative Unzuverlässigkeit immer dann wichtig, wenn es widersprüchliche Informationen im Text gibt. Hier mag sich die Frage stellen, ob der Autor diese absichtlich in den Text – etwa als Weltkonflikte – integriert hat oder ob sich unabsichtlich Fehler in den Text geschlichen haben. Auch in einem solchen Fall kann Wissen über den empirischen Autor und die Entstehungsgeschichte des Werkes dazu beitragen, dieses Problem aufzulösen.
4 Informationsverarbeitung und die Zuordnung und Bewertung der Quelle Die Bildung mentaler Modelle wurde bislang als Interaktion zwischen textuellen Daten einerseits und dem Hinzuziehen von Wissen andererseits definiert. In den bisherigen Ausführungen wurde besonders die wissensgesteuerte Informationsverarbeitung fokussiert. Allerdings gestaltet sich auch die Verarbeitung textueller Daten als ein komplexer Vorgang, da nicht jede textuelle Information unreflektiert vom Leser in ein mentales Modell überführt wird. Wenn es in einem Text heißt, dass Figur X geizig ist oder es in der TAW Geister gibt, bedeutet dies nicht, dass der Leser automatisch das Attribut „geizig“ in das mentale Modell von Figur X übernimmt oder annimmt, dass es in der TAW tatsächlich Geister gibt. Entscheidend dafür, ob er die textuelle Information in das mentale Modell integriert, ist, welcher Quelle er die Information zurechnet und als wie glaubwürdig er diese erachtet (vgl. Margolin 2005: 56; Schneider 2000: 92).186 Die Bedeutung der Quellenzuschreibung für das Verständnis eines fiktionalen Textes wird auch von der strukturalistischen Narratologie mit Genettes berühmten Fragen nach Erzählinstanz („wer spricht?“) und Fokalisierungsinstanz („wer nimmt wahr?“) hervorgehoben, ohne allerdings direkt auf Fragen der Informationsverarbeitung einzugehen.187 Voraussetzung, um den Inhalt einer Information und deren Quellen zu unterscheiden, ist die menschliche Fähigkeit, Repräsentationen von Repräsentationen – sogenannte Metarepräsentationen – zu bilden (vgl. Zunshine 2006: 47–54.). Metarepräsentationen bestehen aus einer Repräsentation („Figur X ist
186 „Die Leserin ordnet also zunächst einmal das Wahrgenommene bzw. Erzählte verschiedenen wahrnehmenden bzw. erzählenden Ichs und identifiziert auf diese Weise unterschiedliche Figuren und Erzählinstanzen als Im bereichperspektivische Orientierungszentren im Text.“ (Surkamp 2003: 74) 187 Vgl. dazu auch Iversen (2011).
4 Informationsverarbeitung und die Zuordnung und Bewertung der Quelle
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geizig“ oder „Es gibt Geister in der TAW“) sowie mindestens einer Metaebene der Repräsentation („Y sagt/glaubt, dass Figur X geizig ist“ bzw. „Y sagt/glaubt, dass es Geister in der TAW gibt“) (vgl. Zunshine 2006: 50).188 Diese trivial anmutende Fähigkeit fehlt Kindern unter vier Jahren oder Menschen, die an Schizophrenie oder Autismus leiden (vgl. Cosmides/Tooby 2006: 222; Zunshine 2006: 54). Metarepräsentationale Fähigkeiten sind aus verschiedenen Gründen eine wesentliche Voraussetzung für die Informationsverarbeitung fiktionaler Texte. Erstens ermöglichen sie, die verschiedenen Ebenen der mentalen Modelle zu unterscheiden, die Informationen verschiedenen Quellen zuzuschreiben und somit Erzähler-, Adressaten-, Fokalisierer- und Figurenwelten zu bilden (vgl. Hartner 2012: 119). Wenn der Leser einen fiktionalen Text liest, bildet er eine Metarepräsentation, welche die Ebene des extratextuellen Kontextmodells vom intratextuellen Kontextmodell und Situationsmodell abgrenzt („Autor X erzählt, dass in einem fiktionalen Universum …“). Gibt es in dem Text einen oder mehrere homodiegetische Erzähler, erhält die Metarepräsentation eine weitere Ebene, die das extra- und intratextuelle Kontextmodell vom Situationsmodell abgrenzt („Autor X erzählt, dass in einem fiktionalen Universum Erzählerfigur Y erzählt, dass …“). Gedanken von Fokalisierungsinstanzen oder Aussagen von anderen nicht-fokalisierenden Figuren stellen weitere Metarepräsentationen auf Ebene des Situationsmodells dar und sind entsprechend komplex („Autor X erzählt, dass in einem fiktionalen Universum Erzählerfigur Y erzählt, dass Fokalisierungsinstanz Z meint, dass …“ oder „Autor X erzählt, dass in einem fiktionalen Universum Erzählerfigur Y erzählt, dass Figur Z sagt, dass …“). Wie diese Ausführungen deutlich machen, werden Erzähler-, Adressaten-, Fokalisierer- und Figurenwelten folglich immer als Metarepräsentationen abgebildet. Zweitens sind metarepräsentationale Fähigkeiten wichtig für die Rekon struktion eines fiktionalen Universums, da sie es dem Leser ermöglichen, Informationen nach unterschiedlichen Wahrheitsgehalten zu speichern. Kognitionswissenschaftler gehen davon aus, dass der menschliche Geist Informationen je
188 Grundsätzlich lassen sich nach Sperber zwei verschiedene Arten von Repräsentationen voneinander abgrenzen – Aussagen über Repräsentationen („public representations“) und mentale Repräsentationen („mental representations“). Aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten ergeben sich vier Arten der Metarepräsentation: “Mental representations of mental representations (e. g., the thought ‘John believes that it will rain’), mental representations of public representations (e. g., the thought ‘John said that it will rain’), public representations of mental representations (e. g., the utterance ‘John believes that it will rain’), and public representations of public representations (e. g., the utterance ‘John said that it will rain’).” (Sperber 2000: 3) Metarepräsentationen können verschachtelt sein und mehrere Ebenen umfassen: „X glaubt, dass Y gesagt hat, dass es regnet.“
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nach Wahrheitsgehalt an unterschiedlichen Orten abspeichert und auf diese in unterschiedlicher Weise zurückgreifen kann. Wahre Informationen189 werden im semantischen Gedächtnis als einfache Repräsentation abgespeichert (vgl. Iversen 2011:131; Zunshine 2006: 51) und können mit anderen Daten im kognitiven System frei interagieren und zur Bildung von Inferenzen herangezogen werden (vgl. Cosmides/Tooby 2000: 62–63; MacMahon 2009: 523).190 Die Evolutionspsychologen Cosmides/Tooby (2000) gehen jedoch davon aus, dass der menschliche Geist darüber hinaus – und hier unterscheidet sich der Mensch von den meisten anderen Spezies – Informationen auch als kontingent wahr abspeichern und sie trotzdem zur Bildung von Inferenzen heranziehen kann. Kontingent wahr ist eine Information, die nur in einem bestimmten Kontext wahr oder deren Wahrheitsgehalt (noch) nicht verifizierbar ist (vgl. Iversen 2011: 131). Kontingent wahre Informationen werden als Metarepräsentation gewissermaßen mit einer spezifischen Markierung (einem sogenannten „tag“) im episodischen Gedächtnis gespeichert, die den Kontext (z. B. time-and-place tag oder source tag) beschreibt, in dem sie wahr sind (Cosmides/Tooby 2000: 59). Durch das tag werden kontingent wahre Informationen vom semantischen Gedächtnis entkoppelt („decou pled“). Auf diese Weise können kontingent wahre Informationen zwar auch mit anderen Daten im kognitiven System interagieren (obwohl ihr Wahrheitsgehalt nicht bestätigt ist), durch das tag ist ihr Anwendungsbereich jedoch beschränkt (Cosmides/Tooby 2000: 63). Aufgrund dieser Fähigkeiten speichert ein Rezipient, wenn er ein fiktionales Werk rezipiert, sämtliche Informationen als kontingent wahre Informationen ab – d. h. als Informationen, die in Bezug auf ein fiktionales Universum wahr sind, aber nicht zwangsläufig in Bezug auf die eigene Erfahrungswelt (vgl. Gerrig/Rapp 2004: 267–271). Aus diesem Grund werden alle Informationen im episodischen Gedächtnis abgespeichert und mit einem source tag versehen („Autor X erzählt,
189 Architektonische Wahrheit wird von Cosmides/Tooby (2000: 60–61) folgendermaßen begriffen: “With this as background, and leaving aside the many controversies in epistemology over how to conceptualize what truth ‘really’ is, we can define what we will call architectural truth: information is treated by an architecture as true when it is allowed to migrate (or be reproduced) in an unrestricted or scope-free fashion throughout an architecture, and is allowed to interact with any other data in the system that it is capable of interacting with. All data in semantic memory, for example, is architecturally true. The simplest and most economical way to engineer data use is for ‘true’ information to be unmarked, and for unmarked information to be given whatever freedom of movement is possible by the computational architecture.” 190 Cosmides/Tooby (2000: 60) sprechen in diesem Kontext von einem naiven Realismus: “For the naive realist, the world as it is mentally represented is taken for the world as it really is, and no distinction is drawn between the two.”
4 Informationsverarbeitung und die Zuordnung und Bewertung der Quelle
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dass in einem fiktionalen Universum …“). Die Bewertung, ob eine Information innerhalb eines fiktionalen Universums wahr oder kontingent wahr ist, ist diffiziler und hängt einerseits davon ab, welcher Quelle der Leser die Information zuordnet, und andererseits, welche Glaubwürdigkeit er der Quelle zuspricht: “[W]ith contingent information, one may not have direct evidence about its truth, but may acquire information about the reliability of its source.” (Cosmides/Tooby 2000: 69) Die Glaubwürdigkeit der Quelle wiederum hängt folglich vom mentalen Modell ab, welches der Leser von dieser gebildet hat. Wenn eine Information einer heterodiegetischen Erzählinstanz zugeschrieben wird, dann wird der Leser die Information automatisch als wahr innerhalb des fiktionalen Universums begreifen. Zwar kann der Leser diesen Aussagen eine Quelle zuweisen, allerdings konstruiert der Leser kein eigenes mentales Modell einer heterodiegetischen Erzählinstanz (s. o.). Im Falle eines homodiegetischen Erzählers, einer Fokalisierungsinstanz oder einer nicht-fokalisierenden Figur dagegen werden die Informationen einer spezifischen Figur in der TAW zugeordnet, mit einem source tag versehen (z. B. „Erzählerfigur X berichtet …“, „Fokalisierungsinstanz Y sieht/glaubt/ meint …“) und zunächst als kontingent wahre Information gespeichert. Da das kognitive System jedoch flexibel ist und die Bestimmung des Wahrheitsgehaltes von Informationen nicht als ein einmaliger, abgeschlossener Vorgang, sondern vielmehr als dynamischer Akt zu begreifen ist, überprüft das kognitive System den Wahrheitsgehalt der Informationen und die Glaubwürdigkeit der Quelle fortwährend – ein Vorgang, der als source-monitoring bezeichnet wird (vgl. Zunshine 2006). Dadurch ist das kognitive Zentrum in der Lage, den Wahrheitsgehalt einer Information neu zu bewerten. Wenn der Wahrheitsgehalt einer zunächst als kontingent wahr abgespeicherten Information bestätigt wird, verschwindet der source tag („untagging“) und die Information wird als wahr im semantischen Gedächtnis gespeichert (vgl. Cosmides/Tooby 2000: 63). Umgekehrt ist es aber genauso gut möglich, dass eine zuvor als wahr abgespeicherte Information durch einen source tag beschränkt wird, wenn ihr Wahrheitsgehalt hinterfragt wird („retagging“).191 Das folgende Schaubild veranschaulicht noch einmal die Ausführungen. Dabei werden die einzelnen Ebenen der mentalen Repräsentation unterschieden. Auf der obersten Ebene im Modell – dem extratexuellen Kontextmodell (1) – identifiziert der Leser den Text als Fiktion. Erkennt der Leser einen homodiegetischen Erzähler, rekonstruiert er ein intratextuelles Kontextmodell (2) und versieht alle gegebenen Informationen mit einem weiteren source tag. Auf der Ebene des Situationsmodells (3) ordnet der Rezipient die Informationen weiteren Quellen wie
191 Vgl. zu der Terminologie des „tagging“, „untagging“ und „retagging“ Iversen (2011: 131).
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Fokalisierungsinstanzen oder Figuren zu.192 Da Figuren und Fokalisierungsinstanzen selbst Metarepräsentationen bilden, lassen sich potenziell unendlich viele weitere Ebenen einzeichnen, wie durch die Einbeziehung von Ebene (4) angedeutet wird. Die Dynamik von decoupling wird in der Grafik dadurch hervorgehoben, dass zwischen den Ebenen (2) und (3) bzw. (3) und (4) weitere Kästen das sourcemonitoring andeuten und zeigen, dass die Ebenen sich verschieben können, wenn eine Information neu bewertet wurde.
Abb. 7: Informationsverarbeitung und die Zuordnung und Bewertung der Quelle
192 Die gestrichelte Linie soll hervorheben, dass das intratextuelle Kontextmodell optional ist und nur im Falle eines homodiegetischen Erzählers gebildet wird.
5 Zur Dynamik der Informationsverarbeitung
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5 Zur Dynamik der Informationsverarbeitung bei der Rekonstruktion eines fiktionalen Universums Da Sinnstiftung „ein in der Zeit verlaufender und ständigen Veränderungen unterliegender Vorgang“ (Schneider 2013a: 44) ist, sollen im Folgenden die Dynamik der Informationsvergabe und die Auswirkungen auf die Informationsverarbeitung erläutert werden. Es sollte evident sein, dass die „Qualität des Rezeptionserlebnisses“, wie Schneider (Schneider 2013a: 44) betont, „nicht unerheblich davon abhäng[t], welche Schemata der Rezipient aktivieren kann und will, wann und wie sie ihm das Verstehen erleichtern oder ihn in Missverständnisse leiten“. Dabei geht es zum einen darum zu illustrieren, wie sich die sukzessive Informationsvergabe auf die Bildung mentaler Modelle auswirkt. Zum anderen soll betrachtet werden, wie durch Informationsvergabe Affekte wie Spannung und Neugier hervorgerufen werden.
5.1 Elaboration, Modifikation und Revision mentaler Modelle Durch Aktivierung von Wissensbeständen ist es dem Rezipienten möglich, bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Lektüre mentale Modelle zu bilden. Da „mentale Modelle holistische gedankliche Konstrukte sind“ (Schneider 2000: 72), wird angenommen, dass diese „bereits zu Beginn des Textes und selbst in Anbetracht geringer Informationsmengen möglichst umfassende, wenn auch möglicherweise tentative Vorstellungen sind.“ (Schneider 2000: 72) Einen besonderen Einfluss auf die Bildung mentaler Modelle haben daher die ersten Informationen, auf deren Grundlage der Rezipient ein mentales Modell entwirft. Forschungen der künstlichen Intelligenz haben gezeigt, dass „die ersten kognitiven Schemata, auf deren Grundlage der Leser ein mentales Modell […] aufbaut, sehr langlebig“ (Freißmann 2010: 353) sind.193 Dieser sogenannte primacy effect umfasst sämtliche Aspekte des Situationsmodells und der Kontextmodelle – also beispielsweise Annahmen über die storyworld logic, über Ort, Zeitpunkt der Handlung, über Figuren, Fokalisierungsinstanzen, Erzählerfiguren und Adressaten.194 Auf textueller Seite kommt der Exposition einer Erzählung bei der Bildung mentaler Modelle folglich eine besondere Bedeutung zu, da sie den Leser durch „die Angabe von Zeit und Ort
193 Siehe zum primacy effect auch Jahn (1997, 2005) und Perry (1979). 194 Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass der Prozessaufwand sehr hoch ist, ein mentales Modell zu revidieren, so dass der Leser so lange wie möglichst versucht, an den zunächst getroffenen Hypothesen festzuhalten (Strasen 2008: 195).
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der Handlung, die Einführung des Personals, die Charakterisierung der einzelnen Figuren und ihre Beziehung zueinander“ (Hartmann 1995: 107) auf „eine ‚vorgesehene‘ Spur“ (Hartmann 1995: 104) lenkt, die seine weitere Rezeption prägt.195 Im Laufe der Rezeption und im Kontext immer neuer Informationen werden mentale Modelle immer elaborierter und können sich verfestigen (Schneider 2000: 72).196 Sehr anschaulich wird dieser Prozess von Schneider (2000, 2001, 2013a, 2013b) am Beispiel mentaler Figurenmodelle beschrieben. Wenn einer Figur etwa mithilfe von Kategorisierungsprozessen zu Beginn eines Textes langfristige Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben werden, wird der Leser das mentale Modell bei neuen, möglicherweise unerwarteten Informationen elaborieren, so dass das mentale Modell der Figur differenzierter und damit „individualisierter“ (Schneider 2000: 143) wird. Dieser Eindruck einer differenzierten Persönlichkeit, die sich einer eindeutigen Kategorisierung immer mehr entzieht, entspricht aus kognitiver Sicht dem, was in der strukturalistischen Narratologie als round character bezeichnet wird (vgl. Schneider 2013b: 123). Werden die durch Kategorisierung zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmale im Verlauf des Textes lediglich bestätigt, aber nicht durch neue Merkmale ergänzt, dann entsteht der Eindruck eines flat characters (vgl. Schneider 2013b: 123). Obwohl Schneiders Ausführungen sich primär auf Figuren im Situationsmodell beziehen, können seine Annahmen auch auf die Bildung von mentalen Modellen von Erzählerfiguren ausgeweitet werden. Ähnliches gilt wohl auch für das mentale Bild des Autors, welches im Laufe der Lektüre (in der Regel) immer differenzierter und elaborierter werden dürfte. Neue Informationen werden jedoch nicht einfach unreflektiert in das mentale Modell überführt, sondern das bislang konstruierte mentale Modell wird im Lichte der neuen Information auf Kohärenz geprüft. Möglich ist, dass sich die neuen Informationen problemlos in das Modell integrieren lassen und sich die zu Beginn aufgestellten Annahmen bestätigen. Denkbar ist aber auch, dass sie sich nicht in das mentale Modell integrieren lassen, ohne jedoch dabei dessen Kohärenz zu gefährden. In einem solchen Fall muss der Leser einzelne Aspekte des mentalen Modells modifizieren (vgl. Schneider 2000: 77). Im Extremfall kann der Leser jedoch auch mit Informationen konfrontiert werden, die sich gar nicht in das bislang konstruierte mentale Modell integrieren lassen und eine Revision des gesamten Modells notwendig machen:197
195 Vgl. dazu auch Hartmann (2005). 196 Allerdings bedeutet dies nicht, dass mentale Modelle immer „nicht in ihrer Gänze präsent“ sind, wie Schneider (2000: 72) zu Recht einschränkt. 197 Bilandzic und Busselle (2008: 257–258) erklären die vor- und rückwärtsgewandten Aspekte
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Revision is a specific form of updating – a particularly demanding one, arguably, requiring readers to substantially modify their existing mental representations. Revision therefore involves the activation of representations for what has previously been read, the evaluation of new, possibly contradictory information, and, most importantly, the modification or replacement of those earlier activated representations with the new information. (Rapp/ Kendeou 2007: 2020)
Aufgrund dieses hohen kognitiven Aufwands sind eindeutige Widersprüche notwendig, bevor der Leser ein bereits etabliertes mentales Modell revidiert. Revisionen können sowohl das Situationsmodell, das intratextuelle als auch das extratexuelle Kontextmodell betreffen.198 Eine Revision des Situationsmodells ist dann notwendig, wenn ein Leser zunächst falsche Vorstellungen über die TAW oder die mentalen Zustände einer Figur hat. Viele alteriert-unzuverlässige Werke täuschen beispielsweise hinsichtlich des ontologischen Status in der TAW. In William Goldings Pincher Martin (1956) beispielsweise erfährt der Rezipient am Ende, dass der Protagonist bereits zu Beginn des Romans in den Fluten des Meeres starb und dass sein Überlebenskampf auf dem Felsen, der den weiteren Romanverlauf ausmacht, tatsächlich nur in seiner Fantasie stattgefunden hat. Diese Information über den ontologischen Status der TAW macht eine Revision des Situationsmodells notwendig. Da die Zuschreibung mentaler Zustände von Figuren ein wesentlicher Baustein zum Nachvollziehen der Handlung ist (vgl. Palmer 2008), können aber auch
der Informationsverarbeitung sehr anschaulich anhand des Situationsmodells (also des mentalen Modells des Geschehens): “We might visualize a situation model as a mechanism in which information is assembled. This mechanism is in motion as the narrative progresses. Before it lie bits of information that are yet unknown – events, behaviors, or facts that have not yet encountered in the narrative. Behind it lies a coherent and logical assemblage of information that has been encountered so far in the narrative, albeit the questions and uncertainties that may provide suspense or require resolution. Within the situation model, at what would be the present moment in the narrative’s progression, the mechanism assembles new information with information that the reader has already encountered (e. g., setting, characters, and events). It also refers back to the extent that incoming information can be incorporated into the story as it exists up to that point. That is, new information can be comprehended in light of that which is already known. It is unsuccessful when the reader or viewer has difficulty incorporating new information into the extant mental model.” 198 Bislang gibt es wenig Arbeiten zu Revisionen mentaler Modelle während der Rezeption. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass sich diese ausschließlich auf das Situationsmodell beziehen und zwischen zwei Polen schwanken: Entweder beschränken sie sich auf spezifische mentale Teilmodelle – wie auf die Revision von mentalen Figurenmodellen (Schneider 2000, 2001, 2013a) – oder sie beziehen sich auf sehr allgemeiner Ebene auf die Revision von Situationsmodellen (vgl. Gavins 2007; Stockwell 2000, 2002).
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falsche Annahmen über die Intentionen, das Wissen oder die Wünsche einer für den plot wesentlichen Figur zu einer retrospektiven Revision des Situationsmodells führen (vgl. Rapp/Kendeou 2007: 2019).199 In Rowlings Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (1999) beispielsweise muss der Leser am Ende des Romans nicht nur sein mentales Modell von Sirius Black – des Gefangenen von Ascaban – und dessen Intentionen revidieren, sondern damit auch sein mentales Modell der Handlung: Sirius Black, over the course of the novel, is similarly portrayed as a villainous scoundrel, and Harry takes pains to avoid him. However, Sirius turns out to be Harry’s compassionate benefactor; his earlier “evil” behaviors are explained away as critical to Harry’s survival. To fully comprehend the plot of the story, readers must revise what they know about Sirius and his actions. (Rapp/Kendeou 2007: 2019)
Gänzlich unbeachtet sowohl von der Textverstehensforschung als auch von der kognitiven Erzählforschung sind Revisionen des intratextuellen Kontextmodells. Um nicht die detaillierten Ausführungen des Kapitels über alterierte Unzuverlässigkeit vorwegzunehmen, soll an dieser Stelle nur kurz auf mögliche Fehlerquellen eingegangen werden, die zu einer Revision des intratextuellen Kontextmodells führen können. So kann ein Leser zunächst falsche Annahmen über die Existenz, die Identität oder die Intention der Erzählerfigur oder über den Adressaten aufstellen, die später eine Revision des intratextuellen Kontextmodells nötig machen (siehe dazu genauer Kap. VIII). Auch eine Revision des extratextuellen Kontextmodells kann unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen. Beispielsweise ist denkbar, dass sich der Leser über die Identität eines Autors täuscht. Ein Leser von Robert Galbraiths The Cukoo’s Calling (2013) muss beispielsweise das extratextuelle Kontextmodell revidieren, wenn er (nach der Lektüre) erfährt, dass der Kriminalroman unter einem Pseudonym geschrieben wurde und tatsächlich aus der Feder von J. K. Rowling stammt. Ein ähnliches, wenn auch wesentlich skandalreicheres Beispiel, in dem Rezipienten ihr extratextuelles Kontextmodell revidieren mussten, ist Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke (1995). Der mehrfach ausgezeichnete, autobiogra phische Roman schien die Kindheit des Autors in Konzentrationslagern zu behandeln. Jahre nach der Veröffentlichung stellte sich jedoch heraus, dass der Autor weder im Konzentrationslager war noch ein Jude ist. Diese Erkenntnis zwingt die Leser, ihr extratextuelles Kontextmodell zu revidieren und Wilkomirskis Geschichte als Fiktion und nicht als Tatsachenbericht zu lesen.
199 Häufig wird dem Leser eine Information vorenthalten, die notwendig ist, um die Kausalgeschichte zu rekonstruieren, durch die das Verhalten der Figur verständlich wird.
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5.2 Zum Zusammenspiel von Informationsvergabe und Emotionen: Spannung und Neugier Bislang wurden vor allem zwei Aspekte der Informationsvergabe und -verarbeitung betrachtet. Zum einen wurde dargelegt, dass ein Text nicht jede Information explizit gibt, sondern der Leser auch eigenes Wissen zur Bildung mentaler Modelle heranzieht. Zum anderen wurde erläutert, dass der Leser aufgrund der sukzessiven Informationsvergabe mentale Modelle im Laufe der Lektüre anpasst. Diese Aspekte der Informationsvergabe sind, so lässt sich argumentieren, medial bedingt. Textuelle Information muss notwendigerweise in ihrem Umfang beschränkt sein und kann nicht jedes Detail über das fiktionale Universum umfassen (Eco 1998 [1987]: 165–166). Da Informationen im „Monokanal der Sprache“ (Schweinitz 2005: 93) gegeben werden, müssen sie in einer zeitlichen Reihenfolge rezipiert werden (vgl. Chatman 1990: 7). Chatman (1990: 7) spricht daher bei narrativen Texten von „temporal media“. Neben diesen medial bedingten Aspekten der Informationsvergabe kann diese aber auch strategisch bzw. narrativ eingesetzt sein, um beim Rezipienten Spannung und Neugier hervorzurufen (vgl. Brewer/Lichtenstein 1982; Gerrig 1993; Hillebrandt 2011; Kneepkens/Zwaan 1994). In der Tat werden die bisherigen Ausführungen zum Textverstehen einer tatsächlichen Leseerfahrung kaum gerecht, wenn sie nicht um die emotionalen Komponenten des Textverstehens erweitert werden. Wenn wir einen Text lesen, verarbeiten wir nicht nur Informationen und bilden mentale Vorstellungen vom Geschehen, sondern wir reagieren auch affektiv auf dieses Geschehen – ein Leser fiebert etwa mit dem Schicksal des Protagonisten mit oder er nimmt in Kriminalgeschichten die Rolle des Ermittlers ein und versucht, die vergangenen Geschehnisse aufzulösen und den Täter zu enttarnen. Auch wenn die Textverstehensforschung in erster Linie auf die kognitiven und weniger auf die emotionalen Prozesse bei der Konstruktion mentaler Modelle fokussiert ist, wird angenommen, dass Emotionen eine große Bedeutung bei der Rezeption zukommt. Kneepkens und Zwaan (1994: 126) sind der Ansicht, dass sich kognitive Prozesse und emotionale Erfahrung bei der Rezeption in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden: We assume that an emotional experience in a certain situation is a result of the way a person assigns meaning to that situation. […] Consequently, the cognitive processing of a situation precedes and determines the emotional experience. The emotional experience itself may in turn influence cognitive processing.
Emotionen können beispielsweise Einfluss auf die Inferenzbildung und auf die Lesegeschwindigkeit haben (vgl. Cupchik 1996: 191), die Aufmerksamkeit des
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Lesers lenken und damit beeinflussen, welche Informationen ein Leser als relevant erachtet und welche nicht (vgl. Keepkens/Zwaan 1994).200 Innerhalb der Textverstehensforschung werden zwei Arten von Emotionen unterschieden, sogenannte fiction-based emotions (F-emotions) und artefactbased emotions (A-emotions). A-Emotionen bezeichnen Emotionen, die ein Rezipient dem Werk als solchem entgegenbringt (vgl. Kneepkens/Zwaan 1994: 130; Tan 1994: 13) wie „ästhetischen Genuß oder Ärger über die Gestaltung des Textes“ (Schneider 2000: 103). Aus diesem Grund sind A-Emotionen primär auf der Ebene des extratextuellen Kontextmodells zu verorten (vgl. Kneepkens/Zwaan 1994: 133– 134). F-Emotionen dagegen bezeichnen die Affekte, die das Geschehen im fiktionalen Universum im Leser auslöst – wie etwa Spannung und Neugier (vgl. Kneepkens/Zwaan 1994: 132). Folglich betreffen sie in erster Linie das Situationsmodell (vgl. Kneepkens/Zwaan 1994: 132).201 Im Folgenden sollen Spannung und Neugier und ihre Auswirkungen auf die Bildung des Situationsmodells skizziert werden. Nach Sternbergs Definition ist Spannung „the lack of desired information concerning the outcome of a conflict that is to take place in the narrative future, a lack that involves a clash of hope and fear“ (Sternberg 1978: 65). Das Entstehen und die Intensität des Spannungsgefühls hängen von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst muss der Rezipient einen Handlungskonflikt identifizieren, dessen Ausgang eine wesentliche Veränderung in der TAW herbeiführen und Folgen für (mindestens) eine der beteiligten Figuren haben kann (vgl. Gerrig 1993: 77; Sanford/Emmottt 2012: 224). Ferner muss der Handlungskonflikt verschiedene Ausgänge zulassen, wobei in der Regel zwei Alternativen bestehen, beispielsweise „Figur A wird sterben oder nicht“ (vgl. Ryan 2001: 143). Die Annahmen über mögliche Handlungsverläufe werden durch die vom Leser unterstellte storyworld logic der TAW bestimmt.202 Die möglichen Handlungsverläufe werden vom Leser
200 Vgl. auch Sanford/Emmot (2012: 191), die für das Zusammenspiel von Emotionen und kognitiven Prozessen den Terminus hot cognition prägen: “Cognition refers to acts of perceiving, understanding and thinking. This category of mental activity was classically considered separate from emotion and motivation (or ‘conation’). We use the expression hot cognition to refer to the way emotion and feeling interact with cognitive activities, that is, how cognition is coloured and modified by feelings.” 201 Natürlich können sich F-Emotionen und A-Emotionen einander bedingen: “A- and F-emotions are interrelated. When readers experience fear as a consequence of events in the fictional world (F-emotions), they may convert these to admiration for the author’s skill in creating suspense (A-emotions).” (Kneepkens/Zwaan 1994: 130) 202 Eco (1998 [1987]: 154) schreibt dazu: „Vorhersagen was in der Fabel geschehen wird, bedeutet jedoch, eine Hypothese darüber aufzustellen, was ‚möglich‘ ist.“ Um ein kurzes Beispiel zu geben: In einer Erzählung stürzt eine Figur eine dreißig Meter hohe Klippe herab. Nimmt der Leser eine storyworld logic an, die mit der eigenen Lebenswirklichkeit übereinstimmt, wird der
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einerseits nach Wahrscheinlichkeitskriterien gegeneinander abgewogen, wobei häufig ein negativer Ausgang für die Figur als wahrscheinlicher erscheint (vgl. Sanford/Emmott 2012: 224). Andererseits entwickelt der Rezipient eine Präferenz für den weiteren Handlungsverlauf (Gerrig 1993: 69),203 welche durch den Grad der empathischen Anteilnahme am Schicksal der Figur bestimmt wird.204 Je größer das Empathieempfinden des Lesers, umso größer der Wunsch nach einem positiven Handlungsverlauf für die Figur (vgl. Gerrig 1993: 80–82).205 Die Intensität der Spannung bemisst sich folglich nach der Diskrepanz zwischen der Wahrschein-
Leser es als unwahrscheinlich bzw. als unmöglich erachten, dass die Figur den Sturz überlebt. Er kann also nur einen Handlungsverlauf konstruieren, in dem die Figur stirbt. Findet dasselbe Geschehen dagegen in einem fiktionalen Universum statt, in dem die storyworld logic von der tatsächlichen Welt (actual world) abweicht und der Leser annimmt, dass es dort möglich ist, dass Figuren fliegen können oder Zauberkräfte besitzen, dann kann der Rezipient verschiedene mögliche Welten generieren: z. B. eine, in der die Figur stirbt; eine, in der die Figur sich aufgrund eigener Zauberkräfte retten kann oder sie von einer anderen Figur mit Zauberkräften gerettet wird. 203 Das Erkennen einer Konfliktsituation löst nach Gerrig sogenannte participatory-responses aus. Nach Gerrig (1993: 69) bringt ein Rezipient spezifische Hoffnungen und Präferenzen zum Ausdruck, wenn ein Charakter sich in einem Handlungskonflikt befindet: “[P]articipatory re sponses are mental representations of the content of readers’ preferences, such as ‘Don’t die’ or ‘Let her die!’” (Gerrig/Rapp 2006: 55) 204 Empathie kann mit Schneider „als Reaktion eines Betrachters auf die Vergabe von Informationen über eine Situation“ verstanden werden, „die bei einer anderen Person akute Emotionen auslöst“ (Schneider 2000: 107). 205 Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Spannung und Empathie stellt sich die Frage, welche Aspekte bestimmen, wann und in welchem Maße ein Leser einer Figur Empathie entgegenbringt. Dieses ist einerseits durch textuelle Inszenierung gestehen, kann aber auch in individuellen Dispositionen des Lesers begründet liegen. Auf textueller Ebene können sowohl Elemente auf Handlungs- als auch auf Diskursebene dazu beitragen, Mitgefühl für eine spezifische Figur (oder Figurengruppe) aufzubringen. Es wird vielfach als zentral angesehen, dass der Leser die Emotionen der anderen Figur nachvollziehen kann (vgl. Sanford/Emmot 2012: 211). Insofern wird angenommen, dass interne Fokalisierung eine narrative Technik ist, welche Empathie gegenüber der fokalisierenden Figur begünstigt (vgl. Keen 2006: 219). Ob ein Leser Empathie empfindet, kann nach Hogan (2003: 213) darüber hinaus von verschiedenen situationellen Faktoren abhängen. Nach seinem Konzept der situationalen Empathie empfinden Leser mehr Empathie für eine Figur, wenn das von ihr erfahrene Leid unverdient ist. Andere Parameter sind die Strenge der Bestrafung, die Unmittelbarkeit der Bedrohung, der Grad der Reue einer Figur in Bezug auf ein eigenes mögliches Fehlverhalten, das Ausmaß des Schmerzes und die Intensität des Leidens. Neben diesen textuellen Faktoren spielen auch individuelle Leserdispositionen eine Rolle. So können autobiographische Übereinstimmungen mit einer Figur sowie kategoriale Aspekte wie dasselbe Geschlecht, Alter, dieselbe Religion, soziale Klasse oder ethnische Zugehörigkeit dazu beitragen, Empathie für eine spezifische Figur zu empfinden (vgl. Sanford/Emmot 2012: 211). Auch moralische Bewertungen über eine Figur haben Einfluss auf die Empathiebereitschaft des Lesers (Sanford/Emmot 2012: 212).
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lichkeit eines negativen Ausgangs auf der einen Seite und dem Wunsch des Lesers nach einem positiven Ausgang auf der anderen Seite. Aus dieser Diskrepanz lässt sich auch das Entstehen spezifischer Affekte wie Hoffnungen und Befürchtungen über das Schicksal der Figur erklären (vgl. Gerrig 1993: 77). Gesteigert wird das Spannungsgefühl, je länger der Leser über die Auflösung des Konflikts im Unklaren gelassen wird (vgl. Gerrig 1993: 86). Das Gefühl der Spannung führt dazu, dass der Leser versucht, Problemlösungen zu entwerfen, mit denen der negative Ausgang verhindert werden kann (vgl. Gerrig 1993: 82–86).206 Das Spannungsgefühl lässt erst nach, wenn der Leser erfährt, wie der Handlungskonflikt ausgeht. Je nachdem, ob die vom Leser präferierte Lösung eingetreten ist, können unterschiedliche Emotionen beim Leser hervorgerufen werden. Dies können Freude bzw. Erleichterung, aber auch Enttäuschung oder Ärger sein (vgl. Schneider 2000: 114).207
Abb. 8: Spannung aus rezeptionstheoretischer Sicht
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Im Gegensatz zur Spannung, bei der dem Leser eine Information über ein zukünftiges Geschehen vorenthalten bleibt, entsteht Neugier durch eine zurückgehaltene Information über ein bereits vergangenes Ereignis: “[C]uriosity is produced by a lack of information that relates to the narrative past.” (Sternberg 1978: 65) Folglich verschiebt sich auch die Aufmerksamkeit des Lesers: “[T]he focus of attention is not the future but the prehistory of a certain state.” (Ryan 2001: 144)206207 Damit beim Rezipienten Neugier hervorgerufen werden kann, muss es implizite und explizite Hinweise auf ein zurückliegendes Ereignis geben (vgl. Brewer 1996: 122), welches relevant für das Verständnis des (gegenwärtigen) Geschehens – und für das Verständnis des Verhaltens einzelner Figuren – ist. Im Unterschied zur Spannung ruft Neugier keine Emotionen wie Furcht oder Hoffnung hervor, da der Ausgang des Geschehens sowie die Konsequenzen für die einzelnen Figuren dem Leser bereits bekannt sind (vgl. Sternberg 1978: 65; Ryan 2001: 144). Im Gegensatz zur Spannung entsteht Neugier demzufolge auch nicht aufgrund einer empathischen Bindung zu einer Figur, sondern vielmehr aus dem generellen Bedürfnis, Erklärungen für das (gegenwärtige) Verhalten von Figuren zu finden.208 Häufig kann der Leser mentale Zustände von Figuren durch mind-reading nicht nachvollziehen, weil ihm wesentliche Informationen aus der Vergangenheit der Figur fehlen, auf deren Grundlage er eine Kausalgeschichte konstruieren und das Verhalten der Figuren plausibel erklären könnte. So ist die typische Neugierfrage „Was ist geschehen?“ häufig indirekt mit Fragen nach den mentalen Zuständen von Figuren verknüpft. Folglich ließe sich die Frage auch folgendermaßen ausformulieren: „Was ist in der Vergangenheit geschehen, dass sich Figur X auf diese Weise verhält?“ Selbst im Falle von Kriminalgeschichten, deren plots meist um die zentrale Neugierfrage „Wer ist der Täter?“ aufgebaut sind, hat die Rekonstruktion einer Kausalgeschichte eine wichtige Funktion inne. Der Leser möchte nämlich nicht nur die Identität des Täters erfahren, sondern auch, warum dieser das Verbrechen begangen hat. Daher stellt der Leser während der Lektüre Inferenzen über verschiedene, zuvor möglicherweise geschehene Ereignisse auf. Im Rezeptionsprozess werden aufgrund neuer Information Hypothesen verworfen und neue aufgestellt, bis die Neugier des Lesers durch das Nachreichen der Information schließlich gestillt wird.
206 Kognitionspsychologische Studien haben darüber hinaus gezeigt, dass umso weniger Lösungsmöglichkeiten es zu geben scheint, umso größer das Spannungsgefühl ist (vgl. Gerrig 1993: 83). 207 Empirische Studien legen dar, dass die Präferenzen des Lesers Auswirkungen auf das Erkennen des tatsächlichen Ausgangs haben (vgl. Gerrig 1993: 71 ff) . 208 Vgl. dazu die Annahmen der constructionst theory in Kapitel V.3.
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Abb. 9: Neugier aus rezeptionstheoretischer Sicht
6 Fazit Ausgehend von der Frage, wie der Leser ein fiktionales Universum bei der Rezeption eines Textes rekonstruiert, wurden zunächst Potenziale, aber auch Schwachpunkte der possible-worlds theory für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit aus rezeptionstheoretischer Sicht beleuchtet. Da die possible-worlds theory in Bezug auf das Rezeptionsverhalten des Lesers oft vage bleibt, wurde vorgeschlagen, Konzepte der possible-worlds theory mit solchen der kognitiven Rezeptionstheorien zu verknüpfen. Ein solcher Schritt war deshalb möglich, da beide Ansätze einen ähnlichen Untersuchungsgegenstand haben, was durch eine unterschiedliche Terminologie verschleiert wird. Im Zentrum der kognitiven Textverstehensforschung steht die Frage, wie ein Leser eine im Text beschriebene „microworld“ mitsamt ihren Figuren mental repräsentiert – also das, was Vertreter der possible-worlds theory als fiktionales Universum bezeichnen. Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht lassen sich fiktionale Universen (samt TAW, Erzähler-, Adressaten-, Fokalisierer- und Figurenwelten) daher als mentale Modelle begreifen, welche der Leser bei der Rezeption bildet. Um die Komplexität mentaler Repräsentationen bei der Rezeption fiktionaler Werke widerzuspiegeln, wurden verschiedene Arten mentaler Modelle unterschieden. Zum einen bildet ein Leser ein mentales Modell des geschilderten Gesche-
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hens, das sogenannte Situationsmodell. Zum anderen gehen Kognitionswissenschaftler davon aus, dass ein Rezipient zugleich auch ein mentales Modell der Situation bildet, in dem das Geschehen geschildert wird. Daher kann angenommen werden, dass der Leser im Falle des Vorhandenseins einer homodiegetischen Erzählerfigur eine mentale Repräsentation des fiktionalen Erzählkontextes konstruiert, das sogenannte intratextuelle Kontextmodell. Bei fiktionaler Literatur bildet der Leser darüber hinaus jedoch auch ein extratextuelles Kontextmodell, welches etwa das Wissen umfasst, einen fiktionalen Text zu lesen, sowie Annahmen über den Autor und den sozio-kulturellen Kontext der Entstehungszeit. Der Rest des Kapitels widmete sich verschiedenen Aspekten der Informationsverarbeitung bzw. der Bildung mentaler Modelle, welche im Hinblick auf ein rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit relevant erscheinen. Als Erstes wurde der allgemeinen Frage nachgegangen, welche Art von Informationen Eingang in ein mentales Modell finden. Dabei wurde grundsätzlich zwischen Informationen unterschieden, die der Rezipient direkt dem Text entnimmt (sogenannte datengesteuerte Informationsverarbeitung), sowie Informationen, die aus aktivierten Wissensstrukturen des Lesers stammen (sogenannte wissensgesteuerte Informationsverarbeitung). Dabei ist in den Kognitionswissenschaften umstritten, in welchem Umfang und in welchen Fällen der Leser eigenes Wissen heranzieht. Auf Basis der sogenannten constructionist theory, die für diese Arbeit herangezogen wird, wird die Inferenzbildung von zwei primären Zielen bestimmt: zum einen zieht der Leser Wissen heran, um Kohärenz herzustellen, zum anderen, um Erklärungen für formale und inhaltliche Besonderheiten zu finden. Auf der Basis dieser Annahmen wurden Besonderheiten bei der Bildung mentaler Repräsentationen der TAW, von Figuren und Fokalisierungsinstanzen als mentale Teilmodelle des Situationsmodells, von Erzählerfiguren als mentales Teilmodell des intratextuellen Kontextmodells sowie des Autors als mentales Teilmodell des extratextuellen Kontextmodells hervorgehoben. Bei der mentalen Repräsentation der TAW wurde die vom Leser unterstellte storyworld logic als zentrales Element für die Rezeption identifiziert, weil diese bestimmt, was innerhalb des fiktionalen Universums möglich ist und was nicht. Die storyworld logic bemisst sich nach der Vorstellung des Lesers, wie stark die TAW von der Erfahrungswelt abweicht. Bei der Bildung mentaler Modelle von Figuren wurde zwischen Zuschreibungen langfristiger Figureneigenschaften und kurzfristiger mentaler Zustände unterschieden. Obwohl die kurzfristigen mentalen Zustände von Figuren das bezeichnen, was Vertreter der possible-worlds theory als Figurenwelten verstehen, wurde auch die Konstruktion langfristiger Persönlichkeitsmerkmale betrachtet, da beide Arten der Zuschreibung untrennbar miteinander verbunden sind. Als wesentlicher wissensgesteuerter Prozess bei der Zuschrei-
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bung langfristiger Persönlichkeitsmerkmale wurde die sogenannte Kategorisierung identifiziert, als datengesteuerter Prozess die sogenannte Personalisierung. Für die Zuschreibung kurzfristiger mentaler Zustände (und damit für die Konstruktion von Figurenwelten) dagegen ist diejenige Fähigkeit des Lesers bedeutsam, die von Kognitionswissenschaftlern als mind-reading bezeichnet wird. Dabei schließt der Leser vom Verhalten auf die mentalen Zustände der Figuren. Dabei kann es notwendig sein, einen narrativen Kontext bzw. eine Kausalgeschichte zu bilden, innerhalb derer die Handlung plausibel und nachvollziehbar erscheint. In einem weiteren Schritt wurden Unterschiede bei der Zuschreibung von mentalen Zuständen bei Figuren und Fokalisierungsinstanzen herausgearbeitet. Während der Leser bei Figuren aufgrund des äußeren Verhaltens auf deren mentale Zustände schließen kann, beinhaltet mind-reading bei Fokalisierungsinstanzen primär das Nachvollziehen der kognitiven Prozesse, mit denen die Fokalisierungsinstanz ihr Bild der Wirklichkeit kreiert. So kann der Leser nachvollziehen, wie eine Fokalisierungsinstanz eigene mentale Modelle von den anderen Figuren aufgrund von Kategorisierungsprozessen oder mind-reading entwirft. Obwohl auch im Falle einer homodiegetischen Erzählerfigur das Geschehen in der TAW ebenfalls aus einer subjektiven Perspektive präsentiert wird, unterscheiden sich die Rezeption und die Zuschreibung von mentalen Zuständen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass eine Erzählerfigur ihre Sicht auf das Geschehen einem Adressaten mitteilt und ihr dabei bestimmte Intentionen unterstellt werden können. Um die mentalen Zustände einer Erzählerfigur zu rekonstruieren, müssen daher verschiedene Elemente des intratextuellen Kontextmodells miteinbezogen werden (wie der Ort des Erzählens, der Zeitpunkt sowie der Adressat). Da der Leser Erzählerfigur und Autor trennen kann, wurde abschließend skizziert, wie der Leser ein extratextuelles Kontextmodell konstruiert, auf dessen Grundlage er ein mentales Modell des Autors mitsamt seinen Intentionen generiert. Diese konzeptionelle Unterscheidung des Lesers zwischen verschiedenen mentalen Modellen (etwa vom Autor und von der Erzählerfigur) beruht auf seinen metarepräsentationalen Fähigkeiten. Der Leser kann nämlich nicht nur mentale Repräsentationen bilden, sondern auch Repräsentationen von Repräsentationen. Metarepräsentationen helfen dem Leser zwischen Tatsachen in der TAW und den subjektiven Weltentwürfen von Erzählerfiguren, Adressaten, Fokalisierungsinstanzen und Figuren zu unterscheiden. Diese Fähigkeiten helfen ihm auch dabei, trotz widersprüchlicher Informationen kohärente mentale Modelle zu bilden, wie in einem zweiten Schritt gezeigt wurde. Kognitionswissenschaftliche Studien legen nahe, dass der Leser textuelle Informationen nicht unreflektiert in ein mentales Modell integriert, sondern ihren Wahrheitsgehalt auf Grundlage einer Quellenzuschreibung bestimmt. Während der Rezeption überwacht und (re-)evaluiert der Rezipient seine Quellen (source-monitoring) und kann zuvor als
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wahr erachtete Informationen als kontingent wahre Informationen begreifen oder umgekehrt. In einem letzten Schritt wurden die Auswirkungen von sukzessiver Informationsvergabe auf die Bildung mentaler Modelle erläutert. Da mentale Modelle holistische Produkte sind, ist es dem Leser möglich, bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Rezeption (zumindest vorläufige) Annahmen und Hypothesen über die TAW, Erzähler-, Fokalisierer- und Figurenwelten aufzustellen. Da der Rezipient aber im Verlauf immer neue Informationen erhält, muss er die mentalen Modelle gegebenenfalls modifizieren oder gar revidieren, wobei es unterschiedliche Gründe für die Revisionen von Situationsmodellen, intra- und extratextuellen Kontextmodellen geben kann. Die sukzessive Informationsvergabe kann darüber hinaus auch strategisch als narratives Mittel eingesetzt werden, um beim Leser Spannung oder Neugier hervorzurufen und um damit die Rezeption zu beeinflussen. Empirische Forschungen haben gezeigt, dass Spannung und Neugier Auswirkungen auf die Rezeption haben, indem sie etwa die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein in der Zukunft stattfindendes oder in der Vergangenheit zurückliegendes Ereignis lenken und im Falle von Spannung sogar Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit haben. Auf Grundlage dieser kognitionswissenschaftlichen Annahmen über Informationsverarbeitungsprozesse und die Bildung mentaler Modelle ist es möglich, ein rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit zu konzipieren. Um sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede von ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit hervorzuheben, sollen vier Aspekte der Rezeption unterschieden werden. Erstens das Erkennen und Unterscheiden von Welten, zweitens das Erkennen von Weltkonflikten, drittens das Hierarchisieren von Weltkonflikten zulasten des kognitiven Zentrums und viertens die Erklärungen, die ein Leser bildet, warum das kognitive Zentrum ein falsches Bild vom Geschehen in der TAW hat. Abgeschlossen werden die Kapitel zur ironischen, ambigen und alterierten Unzuverlässigkeit jeweils mit Analysen zweier Werke. Gemäß rezeptionstheoretischen Ansätzen stehen „Aspekte der Informationsvergabe durch den Text und der möglichen Informationsverarbeitung des Rezipienten“ (Schneider 2000: 211) im Mittelpunkt der Untersuchung. Dabei haben die Analysen nicht nur die Funktion, die theoretischen Annahmen zu unterfüttern, sondern sie sollen gleichzeitig veranschaulichen, wie sie für die Auswertung und Interpretation unzuverlässig erzählter Texte fruchtbar gemacht werden können. Zuvor muss allerdings ein theoretisches bzw. methodologisches Problem des rezeptionstheoretischen Ansatzes erörtert werden, welches bislang ausgeklammert wurde. Ein Vorteil eines rezeptionstheoretischen Ansatzes besteht darin, dass er aufgrund von kognitionswissenschaftlichen Studien hilft, mögliche oder gar wahrscheinliche Annahmen über das Rezeptionsverhalten aufzustellen (vgl.
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Schneider 2000: 211; 2013a: 39). Allerdings muss bedacht werden, dass die eigentlichen Werkanalysen nicht auf empirischer Leserforschung beruhen. Insofern stellt „der Leser“ – von dem in dieser Arbeit die Rede ist – ein hypothetisches und damit ein durchaus nicht unproblematisches Konstrukt dar (vgl. Schneider 2013a: 38–39). Selbstverständlich gibt es nicht den Leser. Rezipienten unterscheiden sich unter anderem in ihren Wissensbeständen, was höchst „unterschiedliche Rezeptionsweisen“ (Schneider 2000: 211) zur Folge haben kann. Am deutlichsten wird dies bei den unterschiedlichen Rezeptionen von ambig-unzuverlässigen Werken bzgl. der Frage, ob die entsprechende Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz unzuverlässig ist oder nicht. Auch stellt sich die Frage, ob tatsächlich jeder Leser über die plot twists in alteriert-unzuverlässigen Werken überrascht ist. Eine Lösung für dieses Dilemma kann daher nur gefunden werden, indem das dieser Arbeit zugrunde liegende Konzept des Lesers präzisiert wird. Als hilfreich erscheint Groebens Unterscheidung zwischen einem „informierten“ und einem „uninformierten Leser“, die Schneider (2000) mit Gewinn für seine kognitive Theorie der Figurenrezeption anwendet. Im Gegensatz zu einem „uninformierten Leser“ besitzt ein informierter Leser die „literaturästhetischen Bewertungen, literaturtheoretischen Einstellungen, literaturhistorisch bedingten Erwartungen […] der thematisierten historischen Epoche entweder selbst“ oder er kann diese „zumindest simulieren“ (Groeben 1977: 192). Um der Bandbreite möglichen Rezeptionsverhaltens von informierten Lesern gerecht zu werden, werden in den Analysen daher ausschließlich Werke untersucht, die häufig im Kontext narrativer Unzuverlässigkeit diskutiert werden. Durch die Auswahl der Werke können die möglichen und wahrscheinlichen Rezeptionen auf eine gewisse empirische Basis gestellt werden. Gleichwohl kann aus den Argumentationen der Literaturwissenschaftler gefolgert werden, aufgrund welcher kognitiven Prozesse sie zu ihren Annahmen gelangt sind.
VI Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells ironischer Unzuverlässigkeit
VI Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell ironischer Unzuverlässigkeit
In Kapitel IV wurde ein semantisches Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit auf Grundlage der possible-worlds theory skizziert. Dabei wurde die These aufgestellt, dass ein konstitutives Merkmal narrativer Unzuverlässigkeit das Auftreten von Weltkonflikten sei. Des Weiteren wurde die These formuliert, dass sich die drei Arten der narrativen Unzuverlässigkeit in Bezug auf das Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt, auf das Erkennen und das Hierarchisieren von Weltkonflikten sowie in Bezug auf das Erklären der Diskrepanzen zwischen den Welten unterscheiden. In Kapitel V wurden daraufhin allgemeine Rezeptionsprozesse skizziert, mit denen der Leser mentale Modelle fiktionaler Welten entwirft. Auf dieser Grundlage ist es nun möglich, ein rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit zu entwerfen.
1 Zur Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei ironischer Unzuverlässigkeit Im Gegensatz zu rhetorischen oder strukturalistischen Erklärungsmodellen verzichtet das hier vorgeschlagene auf metaphorische Umschreibungen wie „eine Kommunikation hinter dem Rücken des Erzählers bzw. der Fokalisierungsinstanz“ und auf die Annahme, dass der Leser zwischen den Zeilen die Unzuverlässigkeit der Erzähl- oder Fokalisierungsinstanz erkennt (vgl. Kap. III). Anders als andere kognitive Modelle zur narrativen Unzuverlässigkeit bezieht sich das hier zur Anwendung kommende nicht nur auf die frame theory, sondern deckt mit den in Kapitel V vorgestellten kognitiven Prozessen ein breiteres Spektrum des Rezeptionsverhaltens ab. Damit ironische Unzuverlässigkeit vorliegt, müssen nach dem hier vorgeschlagenen rezeptionstheoretischen Modell vier Voraussetzungen gegeben sein.209 Erstens muss der Leser erkennen, dass das Geschehen aus der Sicht eines kognitiven Zentrums – sei es ein homodiegetischer Erzähler oder eine Fokalisierungsinstanz – gefiltert wird. Zweifel an der Darstellung oder Bewertung erwa-
209 Um die verschiedenen Arten der narrativen Unzuverlässigkeit zu unterscheiden, reichen die drei ersten Aspekte. Dennoch erscheint es aus rezeptionstheoretischer Sicht sinnvoll, auch darzulegen, wie der Rezipient die Diskrepanz zwischen den Welten erklärt. https://doi.org/10.1515/9783110557619-007
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chen zweitens, wenn der Leser einen oder mehrere Weltkonflikte erkennt, die eine alternative Sicht auf das Geschehen aufzeigen – wobei zwischen expliziten und impliziten Weltkonflikten zu unterscheiden ist. Drittens hierarchisiert der Leser die in Konflikt stehenden Welten zulasten der Erzähler- oder Fokalisiererwelt und entwickelt ein davon unabhängiges Bild der TAW. Viertens muss der Leser eine Erklärung finden, warum die Erzähler- oder die Fokalisiererwelt nicht dem Geschehen in der TAW entspricht.
1.1 Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt Voraussetzung für ironische Unzuverlässigkeit ist – wie in Kapitel II dargelegt – das Vorliegen eines kognitiven Zentrums, aus dessen Sicht das Geschehen geschildert wird. Dem Leser muss also bewusst sein, dass das Geschehen in der TAW durch eine Erzählerwelt oder eine Fokalisiererwelt subjektiv gefiltert ist, damit er entsprechende Metarepräsentationen bilden kann (vgl. Surkamp 2003: 74). Dafür bedarf es textueller Markierungen. Die Existenz einer homodiegetischen Erzählerfigur wird vom Leser angenommen, wenn ein Pronomen der ersten Person Singular einer Figur in der TAW zugeschrieben werden kann, die über einen Namen und eine spezifische soziale Identität in der TAW verfügt (vgl. Bortolussi/Dixon 2003: 65). Dass ein Geschehen aus der Sicht einer Fokalisierungsinstanz gefiltert ist, kann durch Pronomen, unbestimmte und bestimmte Artikel, Verben der Perzeption, Kognition und Emotion, Tempus und Modus textuell markiert sein (vgl. Herman 2004: 305–309). Wie bereits in Kapitel V.4 erläutert, werden Informationen, die homodiegetischen Erzählern oder Fokalisierungsinstanzen zugeschrieben werden, mit einem entsprechenden source tag versehen (Erzählerfigur A nimmt an, dass X …; Fokalisierungsinstanz A nimmt X wahr) und zunächst als kontingent wahr behandelt. Es scheint aber der allgemeinen Leseerfahrung zu entsprechen, dass ein Leser den Darstellungen bzw. Wahrnehmungen von Erzählerfiguren und Fokalisierungsinstanzen so lange Glauben schenkt und die Informationen als wahr innerhalb des fiktionalen Universums begreift, bis er Gegenteiliges erfährt oder inferiert. Aus diesem Grund ist Wall (1994: 20) zuzustimmen, die in Bezug auf homodiegetische Erzähler Folgendes annimmt: “In the practice of reading, after all, we consider every narrator innocent until proven guilty.”
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1.2 Erkennen von expliziten und impliziten Weltkonflikten Der Wahrheitsgehalt von Informationen, die Erzählerfiguren oder Fokalisierungsinstanzen zugeordnet werden, wird daher erst infrage gestellt, wenn der Rezipient Widersprüche erkennt, die er als Weltkonflikte interpretiert. Dabei kann aus rezeptionstheoretischer Perspektive zwischen expliziten und impliziten Weltkonflikten unterschieden werden.210 Explizit ist ein Weltkonflikt dann, wenn einer zuvor gegebenen textuellen Information expressis verbis widersprochen wird. Dass der Rezipient explizite textuelle Widersprüche als Weltkonflikte im fiktionalen Universum interpretiert, ist allerdings keinesfalls zwingend. Dies hängt davon ab, ob der Leser davon ausgeht, dass der Autor die Widersprüche intentional gesetzt hat oder nicht (vgl. Nünning 2005a: 100).211 Ein Beispiel für einen Fall findet sich in Cervantes’ Don Quijote (1605), welches Martinez/Scheffel (2007 [1999]: 104–105) anschaulich beschreiben: Im 23. Kapitel des ersten Teils wird erzählt, wie Sancho Pansa der Esel geraubt wird. Im 30. Kapitel, wie Sancho ihn zurück erhält. In den dazwischenliegenden Kapiteln werden nun aber Episoden erzählt, in denen Sancho wie selbstverständlich auf seinem Esel reitet. Wir verfügen über keinerlei Indizien, daß dieser Widerspruch im Gesamtaufbau des Romans eine Funktion hätte. Vielmehr widerspricht eine solche Aufhebung kausaler Folgerichtigkeit den generellen erzählerischen Konventionen des Romans […] Es handelt sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach schlicht um ein Versehen von Cervantes, das, so vermuten die Experten, durch eine Veränderung der Kapitel- und Episodenfolge im Manuskript im Verlauf der Drucklegung verursacht worden ist.
Da der Leser im Falle von Don Quijote den textuellen Widerspruch auf der Ebene des extratextuellen Kontextmodells verortet und ihn als Unachtsamkeit des Autors interpretiert, wird die widersprüchliche Information bei der Bildung des Situationsmodells ausgeblendet und nicht als Weltkonflikt innerhalb des fiktionalen Universums interpretiert. Von expliziten Weltkonflikten sind implizite zu unterscheiden. Implizit ist ein Konflikt zwischen Erzähler- oder Fokalisiererwelt und einer anderen Figurenwelt
210 In der Regel gibt es bei ironisch-unzuverlässigen Werken eine Mischung aus expliziten und impliziten Weltkonflikten. 211 Nünning (2005a: 100) bringt den Zusammenhang ironischer Unzuverlässigkeit und (hypothetischer) Autorintention folgendermaßen auf den Punkt: “[T]he narrator’s unintentional self-incrimination in turn presupposes an intentional act by some sort of higher-level authorial agency, though it may be open to debate whether we should attribute the constructive and intentional acts to ‘the implied author’ or ‘the real author.’”
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dann, wenn der Leser durch mind-reading auf Grundlage des Verhaltens oder der äußeren Erscheinung einer Figur zu dem Schluss kommt, dass ihre subjektive Welt nicht mit der des kognitiven Zentrums übereinstimmt (vgl. dazu auch die Analyse von David Copperfield). In Jess-Cookes The Boy Who Could See Demons (2012) schildert der Protagonist, wie er im Klassenraum ein Monster sieht, erschaudert und so die Aufmerksamkeit seiner Lehrerin auf sich zieht: “Miss Holland came over to my desk and asked what was wrong. I told her about the monsters in the corner. She took off her glasses very slowly and pushed them into her hair, then asked if I was feeling all right.” (Jess-Cooke 2012: 2) Auch wenn die Lehrerin nicht explizit sagt, dass sie die Monster nicht sieht, kann der Rezipient dies aufgrund ihres Verhaltens folgern, so dass er einen Konflikt zwischen Erzähler- und Figurenwelt bzgl. der Existenz des Ungeheuers erkennen wird. Aufgrund des Weltkonflikts hinterfragt der Leser die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz in Bezug auf die Monster. Ein impliziter Weltkonflikt zwischen Erzähler- oder Fokalisiererwelt und der TAW tritt auch dann auf, wenn die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz ein Geschehen darstellt bzw. wahrnimmt, welches dem vom Leser gebildeten mentalen Modell der TAW widerspricht. Wenn die Erzählerin in Charlotte Perkins Gilmans „The Yellow Wallpaper“ (1892) eine Frau beschreibt, die sich in der Tapete ihres Zimmers bewegt, dann wird der Leser diese Darstellung anzweifeln, wenn er ein mentales Modell der TAW mit einer storyworld logic konstruiert hat, die mit der eigenen Erfahrungswelt übereinstimmt.212
1.3 Hierarchisieren von Weltkonflikten Da die Bildung eines kohärenten Situationsmodells eines der vorrangigen Ziele des Textverstehens ist, muss der Rezipient die Glaubwürdigkeit der Quellen und die Validität der Informationen abwägen und hierarchisieren. Dass bei ironischer Unzuverlässigkeit neben der Darstellung des Erzählers bzw. der Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz eine „zweite Version des Geschehens“ (Nünning 1998: 19) sichtbar wird, lässt sich folglich damit erklären, dass der Leser die Weltkonflikte zulasten des Erzählers bzw. der Fokalisierungsinstanz auflöst. Aus rezeptionstheoretischer Sicht können verschiedene Faktoren eine Rolle dabei spielen, dass der Leser ein anderes Weltmodell dem einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt vorzieht. Einen Faktor bei der Hierarchisierung von Weltkonflik-
212 Bestärkt wird diese Annahme freilich durch verschiedene explizite Weltkonflikte in der Kurzgeschichte.
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ten stellen die individuellen mentalen Modelle der Figuren dar, die der Rezipient den verschiedenen Welten zuordnet. So argumentiert Surkamp (2000: 127): Wird den Urteilen oder Anschauungen einzelner Figuren durch ihren überlegenen Verstand und Weitblick, ihr Alter, ihre Würde, ihre außerordentlichen Eigenschaften oder ihr diagnostisches Vermögen ein hoher Grad an Autorität oder Zuverlässigkeit beigemessen, dann werden die von diesen Figuren entworfenen Welten eher als ‚tatsächliche Welten‘ angesehen als solche Figuren, die sich durch begrenzten Informationsstand, eine normabweichende psychologische Disposition, ein deviantes bzw. problematisches Werte- und Normensystem, ihre emotionale Involviertheit in die Ereignisse, interne Widersprüche innerhalb ihres Diskurses oder Diskrepanzen zwischen ihren Aussagen und ihren Handlungen als unzuverlässige Vermittler, Betrachter oder Kommentatoren des Geschehens erweisen.213
Während der Leser also grundsätzlich aufgrund der genannten Faktoren jeweils im Einzelfall abzuwägen hat, welches Weltmodell er präferiert, sei kurz auf eine Ausnahme bei der Hierarchisierung von Welten hingewiesen: Gibt es einen Konflikt zwischen Erzählerwelt und Fokalisiererwelt, dann wird Erstere grundsätzlich privilegiert (vgl. Gutenberg 2000: 55). Da beide Welten derselben Figur (im Sinne von erzählendem und erlebendem Ich) zugeordnet werden können, wird der Leser einer Erzählerfigur aufgrund des höheren Wissens den Vorzug geben (vgl. Gutenberg 2000: 55–56). Ein weiterer Faktor für das Hierarchisieren von Weltkonflikten kann das Vorliegen einer „gemeinsame[n], intersubjektive[n] Vorstellung von der fiktionalen Wirklichkeit“ (Surkamp 2003: 63) – eine sogenannte shared actual world – sein. Wenn ein Großteil der Figurenwelten etwas als Tatsache ansieht, dann erscheint es naheliegend, dass der Rezipient diese shared actual world als TAW begreift (vgl. Surkamp 2003: 63). Daneben kann bei der Hierarchisierung von Weltkonflikten – gerade wenn nicht die Fakten, sondern stärker Werte und Normen betroffen sind – auch das extratextuelle Kontextmodell des Lesers eine Rolle spielen. Nach Claassens Konzept der default assumption of good behaviour nimmt der Leser grundsätzlich an, „that the author is sincere, trustworthy, and has morals and values that are not questionable“ (Claassen 2012: 103). Aus diesem Grund scheint es naheliegend, dass der Leser bei einem Weltkonflikt Partei für jenes Weltmodell ergreift, welches seinem mentalen Modell der moralischen Werte und Normen des Autors oder des kulturellen Kontexts der Entstehung entspricht.
213 Ähnlich stellt auch Walton (1976: 54) in Bezug auf die homodiegetische Erzählerfigur fest: “The narrator’s personality is often a crucial consideration in deciding whether or not he is to be believed. This is not surprising since whether it is reasonable to accept what a real person says depends very considerably on what we can gather about what sort of person he is, about his intelligence, sensitivity, attitudes, motives, prejudices, etc.”
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Da die Informationsvergabe und -verarbeitung jedoch sukzessive verläuft, gilt es zu bedenken, dass es auch Weltkonflikte geben kann, die ein Leser nicht im Moment ihres Auftretens auflösen kann, weil es ihm an hinreichendem Wissen über Ereignisse, Zusammenhänge oder Figuren in der TAW fehlt. Anzunehmen ist jedoch, dass die zunächst unauflösbaren Weltkonflikte die Aufmerksamkeit des Lesers lenken, da sie die Kohärenzbildung bedrohen (vgl. dazu die Analyse von The Remains of the Day). Aus diesem Grund wird der Leser bei der weiteren Lektüre nach Hinweisen suchen, die es ihm ermöglichen, den Weltkonflikt zu hierarchisieren. Ironische Unzuverlässigkeit ist (im Gegensatz zu ambiger Unzuverlässigkeit) dadurch gekennzeichnet, dass sich im Laufe der Lektüre immer eindeutige Hinweise finden.
1.4 Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Welten Wenn die Weltkonflikte zulasten der Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz aufgelöst werden, versucht der Leser nach der constructionist theory Erklärungen dafür zu finden. Der Rezipient sucht eine „textinterne, diegetische Motivation“ (Bode 2011 [2005]: 269), warum die Erzähler- oder die Fokalisiererwelt von der TAW abweicht. Dabei steht für den Leser bei homodiegetischen Erzählerfiguren zunächst die Frage im Raum, ob dieser intentional oder unabsichtlich das Geschehen falsch wiedergibt – ob der Erzähler also „untrustworthy“ oder „fallible“ ist, um Olsons (2003) Unterscheidung aufzugreifen. In einem zweiten Schritt muss der Leser Gründe finden, warum die Erzählerfigur absichtlich falsch erzählt, oder – wenn dies unabsichtlich geschieht – welche Ursachen die verzerrte Wahrnehmung hat. Dieses Bedürfnis nach Erklärungen kommt besonders deutlich in Typologien zum Ausdruck, die narrative Unzuverlässigkeit hinsichtlich der Ursachen differenzieren. Chatman (1993 [1978]: 233) beispielsweise präsentiert einen Katalog von Erklärungen: The narrator’s unreliability may stem from cupidity (Jason Compson), cretinism (Benjy), gullibility (Dowling [sic], the narrator of The Good Soldier), psychological and moral obtuseness (Marcher in “The Beast in the Jungle”), perplexity and lack of information (Marlow in Lord Jim), innocence (Huck Finn), or a whole host of other causes, including some “baffling mixtures.”
Rimmon-Kenan (2002 [1983]: 100) hingegen erkennt „limited knowledge, his personal involvement, and his problematic value-scheme“ als Hauptursachen für die Unglaubwürdigkeit einer Erzählerfigur. Mit Rückgriff auf Schneiders Modell der Figurenrezeption (2000, 2001) lassen sich daten- und wissensgesteuerte Prozesse unterscheiden, mit denen der Rezipi-
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ent Erklärungen für die Diskrepanz zwischen der erzählten Welt und der Darstellung einer Erzählerfigur oder Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz finden kann. Primär wissensgesteuert ist die Informationsverarbeitung, wenn der Leser die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz kategorisieren und ihr auf dieser Grundlage Eigenschaften und mentale Zustände zuschreiben kann, die als Erklärung für die Unzuverlässigkeit herangezogen werden können. Wenn der Leser beispielsweise erfährt, dass der Erzähler Chief Bromden aus Keseys One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1962) Insasse einer psychiatrischen Anstalt ist, wird er aufgrund dessen diesen als psychisch Kranken kategorisieren und ihm auf dieser Grundlage spezifische Eigenschaften zuschreiben, die erklären, warum Chief Bromden das Geschehen verzerrt wiedergibt. Stärker datengesteuert ist die Informationsverarbeitung, wenn eine Erzählerfigur oder eine Fokalisierungsinstanz zunächst nicht kategorisierbar ist und deren fragwürdige Darstellung oder Bewertung des Geschehens durch Weltkonflikte zu Tage tritt. Wenn der Rezipient aufgrund der shared actual world oder der eigenen Bewertung des Geschehens den Weltkonflikt zulasten der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz hierarchisiert, scheint die Informationsvergabe stärker datengesteuert zu sein: „Das Interesse der Informationsverarbeitung richtet sich [dabei] nicht auf die schnelle Einordnung der Figur in eine Kategorie, sondern auf ein umfassendes Verständnis der Figur, wozu oft aufwendig nach Erklärungen gesucht werden muss.“ (Schneider 2000: 156) Bei diesen datengesteuerten Informationsverarbeitungsprozessen kommt den in Kapitel V.3.1 skizzierten Mind-reading-Prozessen eine besondere Bedeutung zu. Da eine Kategorisierung nicht möglich ist, wird der Leser reflektieren, auf welcher Grundlage die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz ihre Vorstellung des Geschehens konstruiert. Dabei können sowohl die eigenen Kategorisierungsprozesse der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz als auch deren Mind-readingProzesse von Bedeutung sein. Folgende Fragen können für den Leser in diesem Zusammenhang relevant sein: Wie kategorisiert die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz die anderen Figuren? Welche positiven oder negativen Eigenschaften schreibt sie den anderen Figuren aufgrund der Kategorisierung zu? Welche mentalen Zustände schreibt sie anderen Figuren zu? Auf welcher Grundlage geschieht dies? Eng damit verknüpft ist auch die Frage nach moralischen Bewertungen der Fokalisierungsinstanz oder der Erzählerfigur (vgl. Kap. V.3.1 und Kap. V.3.2). Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass der Rezipient die verschiedenen Weltkonflikte nicht isoliert betrachtet, sondern diese auch miteinander vergleicht. Gibt es gemeinsame Muster bei den Weltkonflikten, die spezifische Idiosynkrasien des kognitiven Zentrums hervorheben? Lassen sich diese auf gemeinsame oder unterschiedliche Ursachen/Gründe zurückführen? Wie bereits
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in Kapitel IV.4 erläutert, können Weltkonflikte im Laufe eines Werkes zu- oder abnehmen und auf eine Entwicklung des kognitiven Zentrums hindeuten.
1.5 Ausblick Als Beispiele für ironische Unzuverlässigkeit sollen in den folgenden Kapiteln Charles Dickens’ David Copperfield (1849/50) und Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989) detailliert analysiert werden. Aus inhaltlicher Sicht bieten sich die Werke an, da in beiden die Erzähler ein Resümee über ihr Leben ziehen und den Adressaten davon überzeugen wollen, dass sie Helden ihres eigenen Lebens sind. Während in David Copperfield die ironische Unzuverlässigkeit eingesetzt wird, um dem Leser die Entwicklung des Protagonisten durch die Abnahme von Weltkonflikten vor Augen zu führen, zeigen die im Laufe von The Remains of the Day immer häufiger auftretenden Weltkonflikte, dass der Erzähler Stevens sich nicht weiterentwickelt und spezifische Wahrheiten seines Lebens auch nach Jahren nicht akzeptieren kann. Die beiden Analysen sollen einerseits die hier skizzierten Aspekte noch einmal veranschaulichen. Darüber hinaus soll exemplarisch gezeigt werden, wie das semantische Beschreibungs- und das kognitive Erklärungsmodell zur Analyse ironisch-unzuverlässiger Werke fruchtbar gemacht werden können.
2 Ironische Unzuverlässigkeit in Charles Dickens’ David Copperfield (1849/50)214 Wie bereits der Titel The Personal History and Experience of David Copperfield the Younger (DC) deutlich macht, ist der Roman eine (fiktionale) Autobiographie und ein Entwicklungsroman, in dem die titelgebende Erzählerfigur niederschreibt, wie sie nach den Leiden ihrer Kindheit und Jugend zu einem erfolgreichen Schriftsteller avanciert. Den Konventionen einer klassischen Autobiographie des 19. Jahrhunderts entsprechend ist der Roman chronologisch aufgebaut und folgt den verschiedenen Lebensphasen des Protagonisten: Kapitel 2 bis 18 umfassen Davids Kindheit und Jugend (sein Leben bis zum siebzehnten Lebensjahr), Kapitel 19 bis 43 seine Adoleszenz (die Lebensphase zwischen dem siebzehnten und einundzwanzigsten Lebensjahr), während die Kapitel 44 bis 64 Davids Leben
214 In Teilen basiert die Analyse von David Copperfield auf meiner Magisterarbeit (Vogt 2008).
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als Erwachsener darstellen (bis zu seinem 37. Lebensjahr).215 Da sich der Roman mit Nebenplots ausufernd gibt, sollen aus Gründen der Übersicht nur Davids Lebensstationen skizziert werden. Davids Kindheit (Kap. 2 bis 18) ist von Isolation und Einsamkeit geprägt. Zunächst wächst der Halbwaise David wohlbehütet bei seiner Mutter und der Haushälterin Peggotty auf. Die unbeschwerten Zeiten der Kindheit enden jedoch schnell: Davids Mutter heiratet den tyrannischen Mr. Murdstone, der mit seiner boshaften Schwester in das Haus der Copperfields zieht. Von diesem Zeitpunkt an beginnt für den Jungen und seine Mutter eine Zeit des Leidens. Physisch und psychisch von seinem Stiefvater misshandelt, wird der kleine David zusehends von seiner Mutter entfremdet, bis er sich der Prügeleien von Mr. Murdstone mit einem Biss erwehrt und auf das Internat des sadistischen Mr. Creakle nach Salem geschickt wird, um gezüchtigt zu werden. Dort findet David in dem tollpatschigen Thomas Traddles und dem scheinbar unfehlbaren James Steerforth Freunde. Als jedoch Davids Mutter stirbt, wird er von seinem Stiefvater vom Internat genommen und muss fortan in einer Fabrik in London arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. David will sich jedoch nicht mit diesem Schicksal abfinden und flieht zu seiner Tante Betsey Trotwood nach Dover. Diese ermöglicht ihm eine Ausbildung an einer Privatschule in Canterbury, wo er im Hause des Advokaten Mr. Wickfield untergebracht ist und sich mit dessen Tochter Agnes anfreundet. In den Kapiteln 19 bis 43 wird Davids Zeit als Heranwachsender beschrieben: Nach der Schulzeit beginnt David eine Ausbildung als Schreibstubengehilfe in der Anwaltskanzlei Spenlow und Jorkins in London. Wie es der Zufall will, trifft David auch seine alten Schulfreunde Traddles und Steerforth wieder. In dieser Zeit verliebt sich David in Dora, die Tochter des Kanzleichefs Spenlow. Da Davids Tante jedoch unvermittelt in Geldsorgen gerät und fortan nicht mehr für die Ausbildung ihres Neffen in der Kanzlei aufkommen kann, muss David diese abbrechen und notgedrungen eine Karriere als Parlamentsreporter einschlagen. Doch David quälen andere Sorgen. Sein Freund und Vorbild Steerforth brennt mit der bereits anderweitig verlobten Emily Peggotty durch und stürzt damit die Peggottys – eine Art Ersatzfamilie für David – ins Unglück. Davids Leben als Erwachsener (Kap. 44 bis 64) stellt sich zunächst positiv dar. David heiratet Dora und wird ein erfolgreicher Schriftsteller. David muss jedoch erkennen, dass die Ehe ihm nicht das geben kann, was er sich gewünscht hatte. Dora erleidet eine Fehlgeburt, von der sie sich nicht erholt. Schließlich stirbt seine Frau. Um seine Trauer zu verarbeiten und um zu sich selbst zu finden, verbringt der Witwer drei Jahre auf dem europäischen Festland. Als er nach England
215 Vgl. zu Davids Alter Birke (2008: 96).
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zurückkehrt, erkennt er in seiner Jugendfreundin Agnes die wahre Liebe seines Lebens, heiratet sie und wird glücklicher Vater von drei Kindern. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie das Zusammenspiel von ironischunzuverlässiger Fokalisierung und zuverlässigem Erzählen die Entwicklung des Protagonisten narrativ inszeniert und damit dem Rezipienten vor Augen führt. In einem ersten Schritt werden die Aufspaltung des Ichs in Fokalisierungsinstanz und Erzählerfigur und die sukzessive Annäherung der beiden Instanzen in David Copperfield kurz skizziert. Darauf folgend wird anhand einer exemplarischen Szene verdeutlicht, wie der Rezipient aufgrund von Weltkonflikten die falsche Bewertung der Fokalisierungsinstanz erkennt. Nach diesen allgemeineren Überlegungen wird die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids Kindheit und Jugend sowie in seiner Adoleszenz und in seiner Zeit als Erwachsener untersucht. Es wird gezeigt, dass die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in den ersten Kapiteln dazu beiträgt, die kindliche Naivität und Unschuld darzustellen, während die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids späteren Lebensjahren die Funktion hat, dem Leser die zunächst falschen Werte des Protagonisten vor Augen zu führen. Abgeschlossen wird die Untersuchung mit der Frage, ob nicht auch der Erzähler als ironisch-unzuverlässig zu klassifizieren ist. Dabei wird gezeigt, dass auf der einen Seite eine solche Interpretation zwar grundsätzlich möglich ist, das Fehlen von Weltkonflikten sowie die Heranziehung des extratextuellen Kontextmodells eine solche Lesart aber unwahrscheinlich erscheinen lassen.
2.1 Von der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanz zum zuverlässigen Erzähler. Zur narrativen Inszenierung der Entwicklung des Protagonisten in David Copperfield David Copperfield ist als fiktionale Autobiographie geschrieben, d. h., die Lebensgeschichte wird aus der Perspektive des titelgebenden Protagonisten erzählt. Was das Werk aus narratologischer und rezeptionstheoretischer Sicht höchst komplex macht, ist die Tatsache, dass der Leser es mit zwei verschiedenen Ichs innerhalb des Textes zu tun hat.216 Auf der einen Seite findet sich das erzählende Ich bzw. das Ich als Erzähler, also der 37-jährige David, der aus der Retrospektive seine Lebensgeschichte niederschreibt. Diese Erzählstimme manifestiert sich einerseits durch metanarrative Kommentare (“I feel as if it were not for me to record, even though this manuscript is intended for no eyes but mine, how hard I worked at that tremendous short-hand, and all improvement appertaining to it, in my sense
216 Diese Aussagen gelten grundsätzlich für alle homodiegetischen Erzähltexte.
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of responsibility to Dora and her aunts”, DC 511), andererseits durch eine klare zeitliche Abgrenzung zu den Geschehnissen auf der Handlungsebene (“I had little doubt then, and I have less doubt now […]”, DC 46; eigene Hervorhebung).217 Aus der Rückschau auf sein Leben hat das erzählende Ich die Fähigkeit, vergangene Ereignisse mit distanziertem Blick zu bewerten. So drückt der Erzähler beispielsweise zu Beginn von Kapitel 6 sein Unverständnis darüber aus, dass er als Kind nach dem Tod seiner Mutter aus der Schule genommen wurde und seinen Lebensunterhalt in einer Fabrik verdienen musste: I know enough of the world now, to have almost lost the capacity of being much surprised by anything; but it is matter of some surprise to me, even now, that I can have been so easily thrown away at such an age. A child of excellent abilities, and with strong powers of observation, quick, eager, delicate, and soon hurt bodily or mentally, it seems wonderful to me that nobody should have made any sign in my behalf. But none was made […]. (DC 136)
Auf der anderen Seite findet sich das erlebende Ich bzw. das fokalisierende Ich, das direkt in die geschilderten Ereignisse involviert ist und deren Ausgang es im Gegensatz zur Erzählinstanz nicht kennt.218 Die Passagen des fokalisierenden David nimmt der Leser aus dessen Augen und dessen begrenztem Wissen wahr.219 Ein anschauliches Beispiel bietet eine Szene, in der die adoleszente und betrunkene Fokalisierungsinstanz von seinen Freunden überredet wird, ins Theater zu gehen: Somebody said to me, “Let us go to the theatre, Copperfield!” There was no bedroom before me, but again the jingling table covered with glasses; the lamp; Grainger on my right hand, Markham on my left, and Steerforth opposite—all sitting in a mist, and a long way off. The theatre? To be sure. The very thing. Come along! But they must excuse me if I saw everybody out first, and turned the lamp off—in case of fire. (DC 308)
217 Siehe dazu genauer Jochum (1986: 48–49). 218 Für eine wesentlich genauere Betrachtung des Verhältnisses von Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen, die auch einzelne Probleme bei der Unterscheidung dieser Instanzen in David Copperfield aufzeigt, siehe Löschnigg (1999) und Birke (2008). Aufgrund dieser komplexen Relation schlägt Birke (2008: 99) vor, von einer Doppelfokalisierung zu sprechen. 219 Gerade anhand des unterschiedlichen Wissensstandes lassen sich die zwei Ichs (Ich als Erzähler und Ich als Fokalisierungsinstanz) voneinander unterscheiden. Zur Unterscheidung von Erzähler und Fokalisierungsinstanz in Autobiographien führt Genette (1994 [1972]: 138) aus: „Auch wenn er selbst der Held ist, ‚weiß‘ der Erzähler [in der Rückschau] fast immer mehr als der Held, und folglich bedeutet die Fokalisierung auf den Helden auch immer eine künstliche Einschränkung des Feldes […]. “
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Diese „Dialektik von Einst und Jetzt“ (Vogt 1998 [1972]: 72), das Wechselspiel zwischen dem Ich als Erzähler und dem Ich als Fokalisierungsinstanz, durchzieht den gesamten Roman. Zwischen den beiden Ichs besteht ein „Alters- und Erfahrungsunterschied“ (Genette 1994 [1972]: 182) und daraus resultierend ein Wissensunterschied, der ursächlich dafür ist, dass einzelne Figuren und Episoden von dem Erzähler und der Fokalisierungsinstanz unterschiedlich bewertet werden.220 Diese daraus resultierende „Doppelperspektivität“ (Löschnigg 1999: 195) lässt sich – wie im Folgenden gezeigt werden wird – in eine ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz (David als Protagonist) und einen zuverlässigen Erzähler (David als Erzähler) aufteilen. Im Laufe des Romans wird die zeitliche Schere zwischen dem fokalisierenden David und dem Erzähler David immer kleiner, bis sie sich am Ende schließt und die beiden Ichs miteinander verschmelzen.221 Die Entwicklung des Protagonisten wird folglich narrativ inszeniert, indem die ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz – wie im Folgenden gezeigt werden wird – stetig zuverlässiger wird und am Ende des Romans mit dem zuverlässigen Erzähler verschmilzt.
2.2 Hinweise auf die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung: das Erkennen von impliziten Weltkonflikten in David Copperfield Bevor die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in David Copperfield detaillierter untersucht wird, soll anhand eines Beispiels erläutert werden, wie der Leser diese aufgrund von Weltkonflikten erkennt. Das Erkennen von Weltkonflikten ist für einen Rezipienten am einfachsten, wenn zwei verschiedene Weltentwürfe explizit gegenübergestellt werden – wenn beispielsweise eine andere Figur die Bewertung des kognitiven Zentrums explizit infrage stellt. Ein komplexerer, wenn auch
220 Vgl. auch Albow (2012: 280), für die eine solche Doppelperspektivität paradigmatisch für die (fiktionale) Autobiographie im 19.Jahrhundert ist: “The autobiographical voice proved appealing for considering questions of development at least in part because it makes it possible to convey the experience of the child alongside that of the adult remembering that experience. As a result, we are continually reminded of the relationships and discrepancies between the two perspectives.” 221 Vgl. dazu auch den Psychologen Bruner (1991a: 69), der diesen Prozess der Identitätskon struktion in Autobiographien im nicht-narratologischen Jargon folgendermaßen umschreibt: “A narrator, in the here and now, takes upon himself or herself the task of describing the progress of a protagonist in the there and then, one who happens to share his name. He must by convention bring that protagonist from the past into the present in such a way that the protagonist and the narrator eventually fuse and become one person with a shared consciousness.”
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intuitiver Prozess stellt das Erkennen von impliziten Weltkonflikten zwischen einem kognitiven Zentrum und der TAW dar, da der Leser in höherem Maße auf eigene Sinngenerierungsprozesse zurückgreifen muss. Ein anschauliches Beispiel für einen impliziten Konflikt zwischen der Fokalisiererwelt und der TAW findet sich im fünften Kapitel des Romans. Als es der kleine David wagt, sich gegen die Schläge seines Stiefvaters Mr. Murdstone mit einem Biss zur Wehr zu setzen, wird er auf ein Internat in das ferne Salem geschickt. Auf seiner Reise dorthin hält die Kutsche an einem Gasthaus, wo bereits Essen und Trinken für das Kind bestellt sind. Ein Kellner bedient den fokalisierenden David. After watching me into the second chop, he [= the waiter] said: “There’s half a pint of ale for you. Will you have it now?” I thanked him and said, “Yes.” Upon which he poured it out of a jug into a large tumbler, and held it up against the light, and made it look beautiful. “My eye!” he said. “It seems a good deal, don’t it?” “It does seem a good deal,” I answered with a smile. For it was quite delightful to me, to find him so pleasant. He was a twinkling-eyed, pimple-faced man, with his hair standing upright all over his head; and as he stood with one arm a-kimbo, holding up the glass to the light with the other hand, he looked quite friendly. “There was a gentleman here, yesterday,” he said—“a stout gentleman, by the name of Topsawyer—perhaps you know him?” “No,” I said, “I don’t think—” “In breeches and gaiters, broad-brimmed hat, grey coat, speckled choker,” said the waiter. “No,” I said bashfully, “I haven’t the pleasure—” “He came in here,” said the waiter, looking at the light through the tumbler, “ordered a glass of this ale—would order it—I told him not—drank it, and fell dead. It was too old for him. It oughtn’t to be drawn; that’s the fact.” I was very much shocked to hear of this melancholy accident, and said I thought I had better have some water. “Why you see,” said the waiter, still looking at the light through the tumbler, with one of his eyes shut up, “our people don’t like things being ordered and left. It offends’em. But I’ll drink it, if you like. I’m used to it, and use is everything. I don’t think it’ll hurt me, if I throw my head back, and take it off quick. Shall I?” I replied that he would much oblige me by drinking it, if he thought he could do it safely, but by no means otherwise. When he did throw his head back, and take it off quick, I had a horrible fear, I confess, of seeing him meet the fate of the lamented Mr. Topsawyer, and fall lifeless on the carpet. But it didn’t hurt him. On the contrary, I thought he seemed the fresher for it. “What have we got here?” he said, putting a fork into my dish. “Not chops?” “Chops,” I said. “Lord bless my soul!” he exclaimed, “I didn’t know they were chops. Why, a chop’s the very thing to take off the bad effects of that beer! Ain’t it lucky?” So he took a chop by the bone in one hand, and a potato in the other, and ate away with a very good appetite, to my extreme satisfaction. He afterwards took another chop, and another potato; and after that, another chop and another potato. When we had done, he
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brought me a pudding, and having set it before me, seemed to ruminate, and to become absent in his mind for some moments. “How’s the pie?” he said, rousing himself. “It’s a pudding,” I made answer. “Pudding!” he exclaimed. “Why, bless me, so it is! What!” looking at it nearer. “You don’t mean to say it’s a batter-pudding!” “Yes, it is indeed.” “Why, a batter-pudding,” he said, taking up a table-spoon, “is my favourite pudding! Ain’t that lucky? Come on, little ’un, and let’s see who’ll get most.” The waiter certainly got most. He entreated me more than once to come in and win, but what with his table-spoon to my tea-spoon, his dispatch to my dispatch, and his appetite to my appetite, I was left far behind at the first mouthful, and had no chance with him. I never saw anyone enjoy a pudding so much, I think; and he laughed, when it was all gone, as if his enjoyment of it lasted still. Finding him so very friendly and companionable, it was then that I asked for the pen and ink and paper, to write to Peggotty. He not only brought it immediately, but was good enough to look over me while I wrote the letter. (DC 62–65)
Beim Lesen der Passage dürfte schnell deutlich werden, dass die positive Bewertung des Kellners durch den fokalisierenden David mehr als fragwürdig ist. Wie stellt sich dieser Eindruck ein? Denn es gilt zu bedenken, dass die Passage intern fokalisiert ist und der Leser das Geschehen scheinbar ausschließlich mit den Augen des kleinen Davids wahrnimmt. Betrachtet man die Passage, fällt zunächst die szenische Darstellung des Geschehens auf. So werden das Aussehen und das Verhalten des Kellners detailliert beschrieben (“He was a twinkling-eyed, pimple-faced man, with his hair standing upright all over his head”). Das Gespräch zwischen David und dem Kellner wird in direkter Rede wiedergegeben, was den Eindruck des Lesers verstärkt, „ein vor seinen Augen ablaufendes Geschehen zu betrachten, sich auf dem Schauplatz des Geschehens selbst zu befinden“ (Vogt 1998 [1972]: 49). Neben der szenischen Darstellung des Geschehens finden sich Aussagen, die Davids Gedanken und Emotionen widerspiegeln und somit der Fokalisiererwelt zugeordnet werden können.222 Diese narrative Inszenierung ermöglicht es dem Leser auf der einen Seite, das wahrnehmbare Geschehen im Gasthof zu rekonstruieren. Auf der anderen Seite bekommt der Leser Einblicke in die Fokalisiererwelt und kann die Prozesse nachvollziehen, mit denen der kleine David seine Wirklichkeit rekon-
222 “For it was delightful to me to find him so pleasant.” “I was very much shocked by this melancholy accident and said that I better have some water.” “When he did throw his head back, and take it off quick, I had a horrible fear […] of seeing him meet the fate of the lamented Mr. Topsawyer, and fall lifeless on the carpet.” “On the contrary, I thought he seemed the fresher for it.” “Finding him so friendly …”(Eigene Hervorhebung)
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struiert. Auf diese Weise wird der Leser in die Lage versetzt, das eigene Bild des Geschehens im Gasthof mit dem der Fokalisierungsinstanz zu vergleichen. Der fokalisierende David glaubt den Worten des Kellners und konstruiert daher einen Kontext, in dem das Verhalten des Kellners höchst nobel und selbstlos erscheint. Die Annahme des jungen David, dass das Ale giftig ist, sowie sein Glaube, dass das Zurückgeben von Essen und Trinken im Gasthaus jedoch gegen soziale Konventionen verstößt, bringen ihn in eine schwierige Situation. In seinen Augen befreit ihn der Kellner aus dieser Situation. Der Kellner riskiert das eigene Leben, indem er das Ale trinkt. Aufgrund dieser Annahmen zeichnet der intenfokalisierende David ein positives Bild des Kellners, wonach Letzterer ein höchst hilfsbereiter Geselle ist, der nicht nur sein Leben aufs Spiel setzt, sondern David sogar aus Freundlichkeit über die Schulter schaut, als er Peggotty einen Brief schreibt. Der unerschütterliche Glaube an die aufrechten Worte des Kellners zeigen sich durch Davids rührende Sorge um das Wohlergehen seines Gegenübers (“I had a horrible fear, I confess, of seeing him meet the fate of the lamented Mr. Topsawyer, and fall lifeless on the carpet”). Der Leser hingegen wird ein anderes Situationsmodell rekonstruieren als die Fokalisierungsinstanz. Bei der Lektüre des Romans wird der Leser eine TAW mit einer storyworld logic konstruieren, die der eigenen Erfahrungswirklichkeit ähnlich ist. Der Leser wird aus diesem Grund annehmen, dass in keinem Gasthaus, in dem es bereits einen Todesfall gegeben hat, verdorbenes Ale weiter angeboten werden würde. Des Weiteren erscheint es zweifelhaft, dass ein Mensch so selbstlos wie der Kellner ist, sein eigenes Leben für jemand anderes aufs Spiel zu setzen, nur um einer (angeblichen) gesellschaftlichen Norm zu genügen („man gibt nichts Bestelltes zurück“). Spätestens die Aussage des Kellners, das Kotelett des Jungen fungiere als Gegengift, entlarvt diesen als Lügner. Aufgrund dieses Kontextes wird der Leser mittels mind-reading zum Schluss kommen, dass der Kellner dem kleinen Jungen diese Lügen auftischt, um an dessen Essen und Trinken zu kommen. Dass der Kellner David über die Schulter schaut, interpretiert der Leser somit nicht als Ausdruck von Freundlichkeit – wie es die Fokalisierungsinstanz tut –, sondern vielmehr als Ausdruck der Sorge, David könne ihn in dem Brief verraten. Aus diesem Grund konstruiert der Leser ein diametral entgegengesetztes Bild des Kellners – ein skrupelloser Betrüger, der nicht davor zurückschreckt, ein argloses Kind um seine Mahlzeit zu bringen. Diese Diskrepanz zwischen der Bewertung der Fokalisierungsinstanz und der eigenen veranlasst den Leser gemäß der Erklärungsannahme nach Gründen zu suchen, warum die Fokalisierungsinstanz den Kellner so positiv bewertet. Dieses liegt in der ausgewählten Szene auf der Hand – der fokalisierende David ist zu diesem Zeitpunkt noch keine zehn Jahre alt und ihm fehlen das entsprechende Wissen und die Erfahrung, die Absichten des Kellners zu durchschauen. Auffäl-
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lig – und durchaus typisch für die Fokalisierung zu Beginn des Romans – ist, dass David den Worten des Kellners mehr Autorität zuweist als seinen eigenen (instinktiv richtigen) Beobachtungen. Dies zeigt sich auch daran, dass sich immer wieder Momente in der Wahrnehmung des fokalisierenden David finden, die nicht mit den Worten des Kellners in Einklang zu bringen sind. So stellt er überrascht fest, dass das Ale dem Kellner nicht geschadet hat, sondern er – im Gegenteil – erfrischt wirkt: “But it didn’t hurt him. On the contrary, I thought he seemed the fresher for it.” Der Leser kann die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung mit der Naivität des kleinen David erklären und der Autorität, die er den Worten von Erwachsenen beimisst.
2.3 Weltkonflikte in Plot-irrelevanten Episoden: ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids Kindheit und Jugend Die Episode mit dem Kellner ist typisch für ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids Kindheit und Jugend, da die narrative Strategie sich in Davids Kindheitsjahren fast ausschließlich in Einzelepisoden zeigt, die nicht unmittelbar den Plot vorantreiben – also das, was Chatman (1993 [1978]: 54) als satellite bezeichnet.223 Vergleichbare Episoden, in denen die Bewertung der Fokalisierungsinstanz in Zweifel gezogen wird, finden sich gerade in den ersten Kapiteln des Romans vielfach. Etwa, als David von Mr. Murdstone vor dessen Bekannten verspottet wird, ohne dass die Fokalisierungsinstanz dies durchschaut (DC 27–28), oder als die Fokalisierungsinstanz mit Peggotty den Plan schmiedet, die Familie der Haushälterin zu besuchen. Dabei ist dem jungen David nicht bewusst, dass der kurze Urlaub bereits arrangiert ist, damit seine Mutter und Mr. Murdstone in seiner Abwesenheit heiraten können (DC 30). Auf dem Weg zu einer Tante wird David von einem Händler, dem er seine Weste verkauft, um Geld betrogen, ohne dass er dies merkt (DC 159). Auf einer Fahrt nach London gibt sich David vor dem Kutscher als Adliger aus, merkt aber nicht, dass sein Gegenüber ihn durchschaut und ihn um seinen Sitzplatz bringt (DC 243–245). Dass der Protagonist jedoch mit dem Fortschreiten des Romans eine Entwicklung durchlebt, wird dem Leser auf zwei verschiedene Arten vor Augen geführt. Zum einen finden sich immer wieder Konflikte zwischen der Erzähler- und der
223 “[A satellite] can be deleted without disturbing the logic of the plot, though its omission will, of course, impoverish the narrative aesthetically. Satellites entail no choice, but are solely the workings-out of the choices made at the kernels. […] Their function is that of filling in, elab orating, completing the kernel; they form the flesh of the skeleton.” (Chatman 1993 [1978]: 54)
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Fokalisiererwelt. So kommentiert etwa der Erzähler die Episode mit dem Kellner retrospektiv folgendermaßen: If I had any doubt of him [= the waiter], I suppose this half awakened it; but I am inclined to believe that with the simple confidence of a child, and the natural reliance of a child upon superior years (qualities I am very sorry any children should prematurely change for worldly wisdom), I had no serious mistrust of him on the whole, even then. (DC 66)
Dem Erzähler ist demnach im Gegensatz zur Fokalisierungsinstanz bewusst, dass ihn der Kellner um seine Mahlzeit betrogen hat. Durch den expliziten Konflikt zwischen der Erzählerwelt und der Fokalisiererwelt zeigt sich, dass der erzählende David gereift ist und die Fähigkeit erlangt hat, mit mind-reading die Intentionen anderer Figuren zu durchschauen. Gleichsam zeigt sich seine Überlegenheit gegenüber der Fokalisierungsinstanz darin, dass der Erzähler die Gründe für die falsche Wahrnehmung benennen kann („the natural reliance of a child upon superior years“). Auch wenn eine solche explizite Offenlegung der fragwürdigen Wahrnehmung des jungen David durch den Erzähler nicht durchgängig zu finden ist, dienen die Weltkonflikte als Indiz für den Rezipienten, dass die Erzählerfigur David die Welt offensichtlich mit anderen Augen wahrnimmt als sein jüngeres Ich. Ein weiterer Indikator für Davids Entwicklung ist zum anderen die Abnahme von Weltkonflikten. Wird berücksichtigt, wo Weltkonflikte in Bezug auf abgeschlossene Einzelepisoden auftreten, lassen sich zwei Aspekte erkennen: Erstens finden sich Weltkonflikte mit für den Plot irrelevanten Episoden ausschließlich in den Kapiteln, die in Davids Kindheit und Jugend angesiedelt sind, und zweitens ist die Anzahl der Weltkonflikte in den Kapiteln in Davids früher Kindheit am höchsten und verringert sich in späteren Kapiteln. Dies kann der Rezipient darauf zurückführen, dass der junge David (wie jedes andere Kind auch) die Welt erst kennenlernen, Zusammenhänge verstehen und seine Naivität ablegen muss. Dies wird im Falle von David Copperfield jedoch dadurch erschwert, dass er sich als Kind und Jugendlicher immer wieder in neue Umfelder integrieren muss. Zunächst lebt er bei seiner Mutter, dann wird er auf das Internat in Salem geschickt, nach dem Tod muss er in einer Fabrik in London arbeiten, bevor ihm schließlich die Flucht zu seiner Tante nach Dover gelingt. Gerade weil der Junge sich wiederholt auf neue Menschen einstellen muss, ihm lange Zeit eine Bezugsperson fehlt, vertraut der kleine David immer wieder anderen Figuren, die aus seiner kindlicher Gutgläubigkeit Kapital schlagen. Die Funktion der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierung in Einzelepisoden allerdings ausschließlich auf die narrative Inszenierung kindlicher Naivität bzw. Unschuld und die spätere Entwicklung zu reduzieren, greift zu kurz und berücksichtigt nicht, dass der Rezipient durch die Hierarchisierung der verschiedenen
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Welten ein anderes Bild vom Geschehen in der TAW konstruiert als die Fokalisierungsinstanz. So zeigt sich in der Episode mit dem Kellner dessen Skrupellosigkeit, einen kleinen Jungen, der sich auf einer Reise befindet, um sein Essen zu bringen. Die Passage ist insofern exemplarisch, da in den meisten für den Fortgang der Handlung nicht relevanten Episoden, in denen ironisch-unzuverlässige Fokalisierung auftritt, Davids naiv-unschuldige Wahrnehmung von anderen erbarmungslos ausgenutzt wird (vgl. Bandelin 1976: 602). Insofern wird in den Einzelepisoden nicht nur die Naivität des Kindes aufgezeigt, sondern das Erkennen der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierung offenbart dem Leser gleichzeitig die Skrupellosigkeit der „Welt, die diese Unschuld ausnützt“ (Löschnigg 1999: 196).
2.4 Weltkonflikte in Plot-relevanten Episoden: ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids Adoleszenz und Erwachsenenalter Während die Weltkonflikte in Davids Kindheit und Jugend ausschließlich in für den Handlungsverlauf irrelevanten, kurzen und in sich abgeschlossenen Einzelepisoden auftreten, hat die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in den Kapiteln, die seine Adoleszenz und sein Erwachsenenalter umfassen, eine andere Qualität. Dies äußert sich erstens darin, dass sich die fragwürdige Bewertung der Fokalisierungsinstanz in Bezug auf spezifische Figuren über einen längeren Zeitraum im Roman erstreckt. Dabei zeichnet der fokalisierende David ein fragwürdiges Bild von zwei zentralen Personen in seinem Leben: zum einen von seinem Freund Steerforth, der schließlich die verlobte Fischerstochter Emily Peggotty überredet, mit ihm durchzuberennen, und damit ihre Familie ins Verderben stürzt. Zum anderen erscheint sein Bild von Dora, seiner ersten Frau, und die daraus resultierende fälschliche Annahme, er könne mit ihr ein erfülltes Leben führen, zweifelhaft. Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass die ironischunzuverlässige Fokalisierung und das daraus resultierende Verhalten Davids in den Kapiteln zentralen Einfluss auf den Plot haben, so dass diese Episoden kernels im Sinne Chatmans (1993 [1978]: 53) darstellen.224 Steerforth nimmt demzufolge eine wichtige Rolle für David ein, weil er die erste männliche Bezugsperson in Davids Leben ist und fast eine Vaterfigur für ihn wird (vgl. Andrade 1988: 68). Der Protagonist lernt Steerforth zu seiner Zeit in
224 “[Each kernel] advances the plot by raising and satisfying questions. Kernels are narrative moments that give rise to cruxes in the direction taken by events. […] Kernels cannot be deleted without destroying the narrative logic.” (Chatman 1993 [1978]: 53)
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Salem kennen, wo dieser eine privilegierte Stellung unter den Schülern innehat. Zunächst trennen sich ihre Wege, als David vom Internat genommen wird, führen aber wieder zusammen, als sie sich Jahre später zufällig in London treffen. Sie setzen ihre Freundschaft fort, bis Steerforth zur Überraschung und zum Entsetzen Davids mit Emily durchbrennt und damit die Familie der Peggottys ins Unglück reißt. Steerforth stirbt schließlich bei einem Sturm auf hoher See. Steerforth avanciert durch sein gewinnendes Wesen schnell zum Vorbild und zur Autoritätsperson für den Protagonisten. In den Augen des fokalisierenden David ist Steerforth „a generous, fine, noble fellow“ (DC 126) und er preist dessen positives Wesen: [H]is easy, spirited good humour; his genial manner, his handsome looks, his natural gift of adapting himself to whomsoever he pleased, and making direct, when he cared to do it, to the main point of interest in anybody’s heart […]. (DC 264)
Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob der Leser wie die Fokalisierungsinstanz Steerforth ebenfalls als einen makellosen Menschen begreift, da der Text verschiedene Anhaltspunkte gibt, welche die Bewertung der Fokalisierungsinstanz infrage stellen (vgl. Needham 1954: 90–91). Zum einen gibt es Konflikte zwischen der Fokalisierungsinstanz und der TAW, da Steerforths Verhalten in der TAW im Widerspruch zu Davids ausnahmslos positiver Bewertung steht. Steerforth erniedrigt den Lehrer Mr. Mell vor der versammelten Klasse, indem er den Mitschülern und dem anwesenden Direktor das Geheimnis verrät, dass Mr. Mells Mutter in einem Armenhaus lebt, und führt damit die Entlassung des Lehrers herbei. Obwohl die Fokalisierungsinstanz das Verhalten seines Vorbilds zunächst befremdlich findet, steigt Steerforth im Ansehen von David, als dieser erklärt, er werde seine Mutter bitten, Mr. Mell finanziell zu unterstützen: “We thought this intention very noble in Steerforth, whose mother was a widow, and rich, and would do almost anything, it was said, that he asked her.” (DC 92) Weitere Anhaltspunkte auf das wenig noble Wesen von Steerforth finden sich in einer Episode, in der der junge David das Zuhause von Steerforth besucht. Dort erfährt er, dass Steerforth als Junge während eines Streits einen Hammer nach seiner Cousine Rosa Dartle geworfen und sie verletzt hatte (DC 253). Doch auch gegenüber David verhält sich Steerforth alles andere als edel. Bei seiner ersten Begegnung mit David nimmt Steerforth ihm sein Taschengeld ab (DC 78–79), um davon Essen und Trinken für den Schlafsaal zu kaufen. An anderer Stelle spricht Steerforth in hohem Maße abfällig über die Peggottys – eine Art Ersatzfamilie für David. Steerforth, der Aristokrat, bezeichnet die Peggottys, eine einfache Fischerfamilie, als Eingeborene („natives in their aboriginal condition“,
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DC 258) und bringt damit seine Arroganz gegenüber anderen sozialen Klassen zum Ausdruck (wie bereits bei Mr. Mell). Bezeichnend für Steerforths Haltung ist sein Ausspruch: “‘[T]hey have not very fine natures, and they may be thankful that, like their coarse rough skins, they are not easily wounded.’” (DC 252) Die Fokalisierungsinstanz interpretiert diesen Ausspruch zugunsten seines Freundes als Spaß und verkennt damit dessen herablassendes Wesen. Zum anderen finden sich auch Konflikte zwischen Davids Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten, die eine alternative Sichtweise auf Steerforths Wesen offenbaren und Davids positive Bewertung hinterfragen. So verurteilt Davids Schulfreund Traddles Steerforths Verhalten gegenüber Mr. Mell, anstatt es wie David und die anderen Kinder zu preisen (DC 92). Im Gegensatz zu David deutet Rosa Dartle Steerforths abfällige Bemerkung über die Peggottys als Zeichen seiner Arroganz (“‘Are they really animals and clods, and beings of another sort?’”, DC 252). Außerdem macht sie David auf „an inscrutable falsehood in [Steerforth’s] eyes“ (DC 367) aufmerksam, kurz bevor Steerforth mit Emily durchbrennt. Am meisten Gewicht hat aber die Warnung von Agnes, Davids Jugendfreundin und späteren Ehefrau, die Steerforth als „bad Angel“ (DC 312) bezeichnet: “‘I judge him, partly from your account of him, Trodwood, and your character, and the influence he has over you.’” (DC 312) Die Autorität von Agnes’ Worten spiegelt sich auch darin, dass diese (auch wenn sie Davids Bewertung seines Freundes nicht grundsätzlich ändern kann) Spuren bei der Fokalisierungsinstanz hinterlassen.225 Die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung führt dazu, dass der Leser nicht in dem Maße über Steerforths Flucht mit Emily (und seine darin zum Vorschein kommende Persönlichkeit) überrascht ist wie der fokalisierende David. Nach der Tat erkennt auch die Fokalisierungsinstanz die Fehler seines Freundes an, seine emotionale Haltung zu Steerforth verbietet ihm aber, ein moralisches Urteil über seinen Freund zu fällen: In the keen distress of the discovery of his unworthiness, I thought more of all that was brilliant in him, I softened more towards all that was good in him, I did more justice to the qualities that might have made him a man of a noble nature and a great name, than ever I had done in the height of my devotion to him. (DC 385)
Neben der fragwürdigen Bewertung von Steerforth offenbart sich die ironischunzuverlässige Fokalisierung bei einem weiteren zentralen Menschen in Davids Leben: seiner ersten Frau Dora. Wieder verschließen eine idealisierte Wahrneh-
225 “I sat looking at her as she cast her eyes down on her work; I sat seeming still to listen to her; and Steerforth, in spite of all my attachment to him, darkened in that tone.” (DC 312)
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mung David die Augen vor der Realität. Als Heranwachsender lernt er Dora kennen und ist augenblicklich hingerissen – für David ist es Liebe auf den ersten Blick: “She was more than human to me. She was a Fairy, a Sylph, […] anything that everybody ever wanted.” (DC 331) Davids Liebe zu Dora drückt sich in Beschreibungen aus, die in Superlativen münden: “She had the most delightful voice, the gayest little laugh, the pleasantest and most fascinating little ways […].” (DC 333) Schnell entscheiden sich Dora und David zu heiraten, weil sie glauben, dass sie füreinander geschaffen sind. Wie im Falle von Steerforth werden die Bewertungen der Fokalisierungs instanz durch verschiedene Weltkonflikte in Zweifel gezogen. So finden sich verschiedene Figuren, die einer Eheschließung skeptisch gegenüberstehen und damit ein anderes Bild von der Realität zeichnen. So meint etwa Mr. Spenlow über die Hochzeitspläne: “‘[Y]ou are both very young. It’s all nonsense. Let there be an end of the nonsense.’” (DC 466) Besonderes Gewicht hat die Sicht von Davids Tante Betsey Trotwood, die ein ernstes Gespräch mit David führt. Sie möchte wissen, ob Dora nicht dumm („silly“) oder naiv („light-headed“) sei (DC 425). Als David dann noch von Hochzeit mit Dora spricht, murmelt sie „blind, blind, blind!“ (DC 426) und bittet ihren Neffen, die Pläne aufzuschieben. Auch wenn David den Rat nicht befolgt, hinterlassen die Worte Betseys einen ähnlichen Eindruck bei David wie Agnes’ Warnung vor Steerforth (“[A]nd without knowing why, I felt a vague unhappy loss or want of something overshadow me like a cloud“, DC 426).226 Auch bemerkt der fokalisierende David, dass sein gesamtes Umfeld Dora wie ein Kleinkind und nicht wie eine erwachsene Frau behandelt (DC 509–510). Während Dora dies nicht stört (weil sie sich selbst als eines sieht), ist David entrüstet, weil es nicht seiner Wahrnehmung seiner großen Liebe entspricht (“‘[Y]ou are not a child’”, DC 510). Dass der fokalisierende David tatsächlich „blind“ vor Liebe ist und er ein idealisiertes Bild von Dora und ihnen beiden als Paar hat, offenbart sich außerdem durch Konflikte zwischen der Fokalisiererwelt und der TAW.227 In Kapitel 37, das
226 Dabei haben die Worte der Tante auch für den Leser eine hohe Autorität, zeichnet sich die Figur doch durch ihren Weitblick und ihre Fähigkeit aus, andere Figuren richtig einzuschätzen. Vgl. dazu auch Flint (2009 [2001]: 45), der Betsey Trotwoods herausgehobene Stellung unter den Figuren in Dickens’ Ouevre hervorhebt: “Age and experience have certainly given David’s aunt, Betsey Trotwood, a feistiness and a wisdom which combine to make her one of the strongest, most independent-minded of all Dickens’s fictional characters. Despite her idiosyncracies, she exemplifies sound judgment, common sense, and social compassion, knowing when to speak out, when to bide her time.” 227 Interessanterweise scheint sich Dora – im Gegensatz zu David – bereits bei der Eheschließung der Diskrepanzen zwischen ihnen bewusst zu sein (vgl. Hager 1996: 998). So fragt
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zeitlich vor der Hochzeit der beiden angesiedelt ist und in dem das junge Paar seine erste Krise meistern muss, gesteht David seiner Angebeteten, dass er seine Ausbildung in der Anwaltskanzlei abbrechen muss, da ihn seine Tante nicht mehr finanziell unterstützen kann. Während David ihr verspricht, hart zu arbeiten, um ihr ein gutes Leben bieten zu können (und damit das viktorianische Ideal des self-help proklamiert, das ihn in späteren Jahren zu einem erfolgreichen Gerichtsschreiber und Schriftsteller avancieren lässt), schreckt Dora bei der Vorstellung zurück, dass das Leben aus Arbeit bestehen könnte. Ihre Bemerkung, dass ihr Schoßhündchen Jip sterben müsse, wenn es nicht jeden Tag sein Kotelett kriege (“‘And Jip must have a mutton-chop every day at twelve, or he’ll die’”, DC 456), dokumentiert nicht nur ihre Einfältigkeit, sondern auch ihre Unfähigkeit, sich neuen Umständen anzupassen.228 Mehrfach bittet sie David das Thema fallen zu lassen, weil es schrecklich sei, von Armut und harter Arbeit zu reden (“‘Oh, please don’t be practical!’ said Dora, coaxingly. ‘Because it frightens me so!’”, DC 457). Stattdessen macht sie dem verdutzten David den Vorschlag, ganz auf Arbeit zu verzichten. Auf Davids Nachfrage, wie sie davon leben sollten, ist Doras trotzige Antwort: “How? Any how!” said Dora. She seemed to think she had quite settled the question, and gave me such a triumphant little kiss, direct from her innocent heart, that I would hardly have put her out of conceit with her answer, for a fortune. (DC 460)
Bereits in dieser Episode treten die Unterschiede zwischen Dora und David zutage: Während David das Problem pragmatisch angeht, illustriert Doras Verhalten ihre kindlich-naive Weltfremdheit und eine daraus resultierende Hilflosigkeit, sich mit Geldsorgen auseinanderzusetzen. Dem Leser wird damit deutlich gemacht, dass Davids Tante mit ihrer Charakterisierung von Dora („silly“ und „light-headed“) durchaus recht hat und dass ihre Warnung vor einer übereilten Hochzeit legitim ist. Gleichzeitig zeigt sich jedoch auch, wie sehr Davids Gefühle für Dora seine Sicht auf die Realität verschließen. Statt sich einzugestehen, dass sie zu unterschiedliche Wesen haben, die sich niemals ergänzen können, flammt Davids Liebe nach Doras Kuss am Ende der Unterhaltung sogar noch weiter auf (DC 460). Die narrative Komplexität der Episode besteht folglich darin, dass sie dem Rezipienten auf der einen Seite die Makel von Dora aufzeigt, diese negativen
Dora ihren Angetrauten: “Are you happy now, you foolish boy? […] and sure you don’t repent?” (DC 534) 228 Damit steht sie im Gegensatz zu David, der aufgrund seiner Lebensumstände gelernt hat, sich kontinuierlich neu zu erfinden.
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Eigenschaften auf der anderen Seite aber von der Fokalisierungsinstanz in den Himmel gepriesen werden (vgl. Crawford 1986: 49). Während im Falle von Steerforth die Fokalisierungsinstanz die eigene fragwürdige Wahrnehmung durch ein spezifisches Ereignis erkennt (durch Steerforths Flucht mit Emily), ist diese Erkenntnis im Falle von Dora ein langsamer und schmerzhafter Prozess. Kurz nach der Hochzeit tritt Doras naiv-dümmliches (aber doch liebenswertes) Wesen auch für den fokalisierenden David immer stärker zutage. Sie ist überfordert mit dem Haushalt und wird dem viktorianischen Frauenideal des angel in the house nicht gerecht (vgl. Langland 1992: 298–299). Erst als Dora von David verlangt, sie ebenfalls „child-wife“ (DC 543) zu nennen, beginnt auch er seine Frau mit anderen Augen zu sehen.229 Mit der (zu späten) Erkenntnis, dass Dora und er grundverschieden sind, versucht er zunächst, Dora nach seinen Vorstellungen zu „erziehen“ („to form her mind“, DC 585). Er erkennt aber schnell, dass dies weder möglich noch moralisch vertretbar ist.230 Aus diesem Grund versucht er „sein eigenes Herz zu disziplinieren“ (DC 588)231 und sich Dora anzupassen. Auf diese Weise lernt der fokalisierende David, sich mit den Schwächen seiner Frau zu arrangieren, ohne allerdings die Erfüllung in seiner Ehe zu finden, die er sich erträumt hatte. Auf ihrem Sterbebett – unmittelbar vor ihrem Tod – spricht Dora dann die Wahrheit aus, welche die Fokalisierungsinstanz sich bis dahin nicht eingestehen wollte: “‘[As] years went on, my dear boy would have wearied of his child-wife. She would have been more and more sensible of what was wanting in his home. She wouldn’t have improved. It is better as it is.’” (DC 645) Bei dem Verhältnis von Erzähler- und Fokalisiererwelt fällt auf, dass der Erzähler die Sichtweise der Fokalisierungsinstanz in Bezug auf Steerforth und Dora nicht explizit korrigiert. Aus diesem Grund ist für den Rezipienten über lange Zeit unklar, ob die Erzählerfigur die idealisierten Bilder teilt oder nicht. Die Überlegenheit des Erzählers gegenüber der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanz kommt vielmehr in dem Bemühen zum Ausdruck, die Erkenntnisse und Gefühle des jüngeren Ichs zu artikulieren und zu analysieren (vgl. Flint 2009 [2001]: 46). In Bezug auf Steerforth beispielsweise hebt der Erzähler kognitive Verdrängungsprozesse bei der Fokalisierungsinstanz hervor, die bewirken, dass
229 “[…] David has what seems to be a revelation, that Dora will always be a child and that he must accept and love her as such. This insight is followed by another- revelation, however, for David now sees that he can never be fully satisfied with a child-wife.” (Bandelin 1976: 607) 230 “Finding at last, however, that, although I had been all this time a very porcupine or hedgehog, bristling all over with determination, I had effected nothing, it began to occur to me that perhaps Dora’s mind was already formed.” (DC 585–586; eigene Hervorhebung) 231 “This was the discipline to which I tried to bring my heart […]. ” (DC 588)
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alle Informationen, die das positive Bild des Freundes infrage stellen könnten, systematisch ausgeblendet werden. Diese metakognitiven Kommentare implizieren eine Reifung des Erzählers gegenüber dem jungen David, der sich dieser Prozesse bzw. ihrer Implikationen nicht bewusst ist. So bemerkt die Erzählinstanz im Anschluss an die Episode, in der Steerforth Mr. Mell erniedrigt, dass sein jüngeres Ich das Ereignis bei der Konstruktion des mentalen Modells von Steerforth ausblendet: “I soon forgot him [Mr. Mell] in the contemplation of Steerforth …” (DC 93) Ein ähnlicher Mechanismus lässt sich erkennen, als die Fokalisierungsinstanz davon erfährt, dass Steerforth Miss Dartle als Kind mit einem Hammer verletzt hat: “I was deeply sorry to have touched on such a painful theme …” (DC 253) Dabei impliziert die Aussage, dass das Thema auch für die Fokalisierungsinstanz schmerzvoll ist, da es das positive Bild von Steerforth in Frage stellt. In ähnlicher Weise untersucht der Erzähler die Reflexionen des fokalisierenden David über seine Ehe mit Dora und zeigt die Unfähigkeit des jüngeren Ichs auf, die Ursachen für die innere Leere zu begreifen: The old unhappy feeling pervaded my life. It was deepened, if it were changed at all; but it was as undefined as ever, and addressed me like a strain of sorrowful music faintly heard in the night. I loved my wife dearly, and I was happy; but the happiness I had vaguely anticipated, once, was not the happiness I enjoyed, and there was always something wanting. (DC 587)
Zwar erkennt der fokalisierende David, was er sich von einer (Ehe-)Frau wünscht bzw. was ihm in der Ehe mit Dora fehlt,232 doch er ist – im Gegensatz zum Erzähler – unfähig, zu begreifen, dass seine Kindheitsfreundin Agnes diesem Idealbild einer Frau entspricht. Dies wird besonders deutlich, als der fokalisierende David nach einem Besuch bei Agnes, bei dem er mit ihr über seine Pläne spricht, Dora zu heiraten, zu ihrem Fenster hoch schaut. In diesem Moment spricht ein Bettler dieselben Worte, die seine Tante Betsey gebraucht, um ihn vor der Hochzeit mit Dora zu warnen: “‘Blind! Blind! Blind!’” (DC 439) Während der fokalisierende David keine Verbindung zu den Worten der Tante herstellen kann und somit nicht erkennt, dass seine wahre Liebe bereits ganz nah ist, stellt der Erzähler fest: “Oh, Agnes, sister of my boyhood, if I had known then, what I knew long afterwards!―” (DC 439) Die erst nach dem Tod Doras kommende Erkenntnis des fokalisierenden
232 “I did feel, sometimes, for a little while, that I could have wished my wife had been my counsellor; had had more character and purpose, to sustain me and improve me by; had been endowed with power to fill up the void which somewhere seemed to be about me; but I felt as if this were an unearthly consummation of my happiness, that never had been meant to be, and never could have been.” (DC 545)
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David, dass Agnes die wahre Liebe seines Lebens ist, und damit einhergehend das Bemühen, sein Herz zu disziplinieren,233 stellen die letzte und wichtigste Stufe in seiner Entwicklung dar – mit welcher der Roman schließt: “Dickens brought David into conformity with his society, the values of that society being represented by Agnes […]. ” (Sell 1983: 19)
2.5 Der Held des eigenen Lebens? Zur Etablierung der Zuverlässigkeit der Erzählerfigur Während die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung in Davids Kindheit in für den Plot irrelevanten Einzelepisoden auftritt, haben die falsche Bewertung von Steerforth und Dora und sein daraus resultierendes Verhalten Auswirkungen auf den Handlungsverlauf. Die falsche Wahrnehmung lässt den fokalisierenden David in den Kindheits- und Jugendkapiteln zu einem Opfer seiner skrupellosen Umwelt werden. In den Kapiteln, in denen Davids Adoleszenz und Erwachsenenalter im Fokus stehen, hat die ironisch-unzuverlässige Fokalisierung jedoch auch erhebliche negative Konsequenzen für das Leben anderer Figuren: “David is to some extent responsible for the misery of innocent people.” (Birke 2008: 102) Da die Erzählerfigur die vermeintliche Schuld jedoch kaum reflektiert, stellt sich die Frage, ob David tatsächlich der strahlende Held seines Lebens ist, wie er es selbst darstellt. Oder ist auch der Erzähler ironisch-unzuverlässig, da er sich positiver darstellt, als er tatsächlich ist? Betrachtet man die Rezeption von David Copperfield, wird schnell klar, dass fast alle Leser David als gereiften und zuverlässigen Erzähler begreifen. Insofern eignet sich der Roman als aussagekräftiges Beispiel, um zu illustrieren, wie Weltkonflikte auf textueller Ebene und die Berücksichtigung des extratextuellen Kontextmodells dazu beitragen, die (Un-)Zuverlässigkeit eines kognitiven Zentrums zu bestimmen. David trägt mit seinem Verhalten auf verschiedene Weise zur Emily-SteerforthTragödie bei. Zum einen erweckt David in früher Kindheit bei Emily den Wunsch, eine „lady“ zu werden und ihrer sozialen Klasse zu entfliehen (vgl. Sell 1983: 24). Somit ist Davids Verhalten ursächlich dafür, dass sich Emily für den aristokratischen Steerforth entscheidet.234 Zum anderen trägt Davids Unfähigkeit,
233 “[He] must ‘discipline’ his ‘undisciplined heart’ by renouncing any claim on Agnes, and through that renunciation, become worthy of possessing her at last as his wife.” (Miller 1973: 157) 234 Dabei wird die Frage nach Davids Schuld durch Miss Mowcher gespiegelt, die ebenfalls aufgrund einer falschen Wahrnehmung maßgeblich zur Steerforth-Emily-Tragödie beiträgt. Sie ist es, die Emily heimlich einen Brief von Steerforth übergibt, in dem er die gemeinsame Flucht
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teerforths wahres Wesen trotz aller Warnungen und Hinweise zu erkennen, S dazu bei, dass er in seiner Naivität seinen Freund mit Emily bekannt macht (vgl. Sell 1983: 24). Die Folgen von Davids Verhalten stellen sich als verheerend dar: Steerforth brennt mit Emily durch, was das Leben ihres Verlobten Ham und der Peggottys zerstört. Schließlich endet der Handlungsstrang mit Steerforths und Hams Ableben und Emilys und Mr. Peggottys Emigration nach Australien. Zwar fühlt der Erzähler „my own unconscious part in his pollution of an honest home“ (DC 385) – doch erwartet der Leser vom sensiblen David nicht eine explizitere Reflexion über die eigene Schuld? Auch in Bezug auf Dora hat die falsche Wahrnehmung verheerende Auswirkungen. Neben dem Unglück, das David selbst mit seiner Ehefrau empfindet, gibt es verschiedene Anhaltspunkte darauf, dass Davids idealisiertes Bild von Dora und sein Verhalten mitursächlich für den Tod Doras sind (vgl. Lankford 1979). Aufgrund der idealisierten Wahrnehmung von Doras Wesen ist er gegenüber ihren Schwächen zunächst blind. Besonders offen tritt dieses Problem zutage, als die Fokalisierungsinstanz Dora dafür kritisiert, dass alle anderen Figuren sie wie ein Kind behandeln. Dora gave me a reproachful look—the prettiest look!—and then began to sob, saying, if I didn’t like her, why had I ever wanted so much to be engaged to her? And why didn’t I go away, now, if I couldn’t bear her? What could I do, but kiss away her tears, and tell her how I doted on her, after that! “I am sure I am very affectionate,” said Dora; “you oughtn’t to be cruel to me, Doady!” “Cruel, my precious love! As if I would—or could—be cruel to you, for the world!” “Then don’t find fault with me,” said Dora, making a rosebud of her mouth; “and I’ll be good.” (DC 510)
Dieser Dialog, der noch vor der Hochzeit stattfindet, gewährt Einblicke in Doras Psyche und weist auf die Konsequenzen von Davids falscher Einschätzung hin. Zum einen zeigt die kurze Passage, wie verletzend Davids Äußerungen für Dora sind. Dora bittet David daher, sie so zu akzeptieren, wie sie ist, und keine Maßstäbe anzulegen, die sie nicht erfüllen kann (“‘Then don’t find fault with me …’”, DC 510) – eine Bitte, der David erst kurz vor ihrem Tod nachkommt. Zum anderen
plant. Ähnlich wie David handelt sie, weil sie von anderen Tatsachen ausgeht. Miss Mowcher nimmt aufgrund ihres mind-readings fälschlicherweise an, dass David ein heimlicher Verehrer von Emily und der Verfasser des Briefes ist (DC 392). Wie David wird sie sich ihres Fehlers bewusst, allerdings geht sie wesentlicher härter mit sich ins Gericht: “‘I am ill here, I am very ill. To think that it should come to this, when I might have known it and perhaps prevented it, if I hadn’t been a thoughtless fool!’” (DC 390) Miss Mowcher schwört, dass sie alles tun werde, um ihren Fehler wieder gutzumachen (DC 393).
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wird in dem Gespräch deutlich, dass Dora nicht kritikfähig ist. Aus diesem Grund empfindet Dora auch jedes offene Gespräch über die Probleme im Haushalt als Angriff auf die eigene Person.235 Aufgrund von Davids andauernder Kritik fühlt sie sich in der Ehe ungeliebt (“‘No, I am not your darling. Because you must be sorry that you married me, or else you wouldn’t reason with me!’ returned Dora”, DC 536). Wie sehr Dora unter der Ehe leidet, zeigt sich auch daran, dass sie in fast jedem Gespräch mit David, welches szenisch wiedergegeben wird, in Tränen ausbricht. Aus diesem Grund erscheinen Davids Versuche, Dora zu verändern, fragwürdig und spiegeln Mr. Murdstones Verhalten gegenüber Davids eigener Mutter (vgl. Sell 1983: 23; Crawford 1986: 52).236 Die Parallelen treten besonders deutlich zutage, als David seine Tante bittet, Dora zu erziehen. Davids Tante weist die Bitte zurück, indem sie David daran erinnert, welche Auswirkungen es hatte, als Mr. Murdstones Schwester die Erziehung seiner Mutter übernommen hatte: “Remember your own home, in that second marriage; and never do both me and her the injury you have hinted at.” (DC 538). David versucht fortan selbst, seine Frau zu „formen“, erkennt jedoch bald sein fragwürdiges Verhalten (“I found myself in the condition of a schoolmaster, a trap, a pitfall; of always playing spider to Dora’s fly, and always pouncing out of my hole to her infinite disturbance”, DC 585). Schließlich erkrankt und stirbt Dora, nachdem sie – wie Davids Mutter vor ihrem Tod – eine Fehlgeburt erlitten hat. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob David durch sein über lange Zeit uneinsichtiges Verhalten nicht mitverantwortlich für Doras Tod ist. Wenn diese Frage mit Ja beantwortet wird, wie es Lankford (1979: 465) tut, muss dann nicht gleichwohl nachfragt werden, warum der Erzäh-
235 Ein typisches Beispiel findet sich in Kapitel 44, welches treffenderweise „Our Housekeeping“ heißt: “‘Oh, you cruel, cruel boy, to say I am a disagreeable wife!’ cried Dora. ‘Now, my dear Dora, you must know that I never said that!’ ‘You said, I wasn’t comfortable!’ cried Dora. ‘I said the housekeeping was not comfortable!’ ‘It’s exactly the same thing!’ cried Dora. And she evidently thought so, for she wept most grievously.” (DC 537) 236 Siehe auch Crawford (1986: 52), der die Parallelen zwischen den Beziehungen zwischen Murdstone zu Davids Mutter und David zu Dora deutlich hervorhebt: “Just as both he and Murdstone court their future wives with a delicacy and charm emblemized by symmetrical ref erences to geraniums, so too both come to find fault with their want of firmness once they are married and both are relieved of their inadequate spouses by illness and death–and illness, incidentally, which in both cases have their origins in pregnancy. It is as if, in both cases, some monstrous revenge is wreaked upon the delicate femininity of these women who, not proving able to satisfy their husbands’ criteria of personal strength, are punished through that uniquely female capacity, the gift of life.”
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ler auch im Falle von Dora nicht stärker die eigene Verantwortung reflektiert?237 Blendet der Erzähler also die Frage nach der eigenen Verantwortung aus, weil er sich selbst als Held des eigenen Lebens inszenieren will? Lankford (1979: 465) ist der Einzige, welcher der Erzählerfigur eine moralische Entwicklung im Roman abspricht, weil er die eigene Schuld in den Geschehnissen nicht erkenne.238 Somit stellt er nach Lankford einen ironisch-unzuverlässigen Erzähler dar. Überdies gilt die einhellige Meinung, dass David Copperfield das klassische Beispiel eines Entwicklungsromans darstellt, in dem der Protagonist zu einem moralischen Wesen reift. Aus diesem Grund wird der Erzähler als zuverlässig gewertet. Es stellt sich daher die Frage, warum die Mehrheit der Rezipienten Davids Rolle in Bezug auf Steerforth und Dora nicht kritischer betrachtet. Wenn – wie in dieser Arbeit argumentiert wird – Weltkonflikte verschiedene Perspektiven auf ein Geschehen liefern und damit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die mögliche Unzuverlässigkeit des kognitiven Zentrums lenken, ist die Antwort darauf recht simpel: Dann kann die Zuverlässigkeitszuschreibung der Leser darauf zurückgeführt werden, dass es an Weltkonflikten bzgl. der moralischen Verantwortung Davids fehlt (im Gegensatz zu den anderen Werken mit ironisch-unzuverlässigen Erzählern wie etwa The Remains of the Day). Stattdessen finden sich in Bezug auf Steerforth und Dora zahlreiche Stimmen im fiktionalen Universum, die David von jeder Schuld freisprechen. So sind in Miss Mowchers Figurenwelt Steerforth und sein Gehilfe Littimer (der ihr den Brief für Emily übergeben hat) die alleinigen Schuldigen an der Steerforth-Emily-Tragödie. David hingegen sieht sie als Opfer seines Freundes (“‘He was crossing you and wheedling you, I saw; and you were wax in his [Steerforth’s] hands, I saw’”, DC 392). Auch zwei der direkt betroffenen Figuren machen David keine Vorwürfe. In Rosa Dartles Figurenwelt trägt Emily die Verantwortung an der Tragödie (weil sie Steerforth verführt habe, DC 604). In Hams Figurenwelt dagegen ist Steerforth der Schurke, während er David explizit von jeder Schuld freispricht: “‘Mas’r Davy,’ exclaimed
237 So stellt der Erzähler lediglich fest: “I was a boyish husband as to years. […] If I did any wrong, as I may have done much, I did it in mistaken love, and in my want of wisdom.” (DC 545) 238 “David accedes to Peggotty’s opinion that Murdstone killed his mother, but, in spite of the repeated analogies between Murdstone’s oppression of Clara and David’s own efforts to ‘form the mind’ of his ‘child-wife,’ David never approaches any suggestion that he was responsible for Dora’s premature death. His evasion of the analogy prevents him from understanding the most forcible truths of his ‘secret experience’– that he is compelled into repetition of Murdstone’s wrongdoing by attempting to repossess his mother in Dora and recapture his childhood through her innocence, that he falls into evil by trying to be purely good and destroys his wife by trying to protect her from life itself. […] [H]e is incapable of moral growth because he refuses to be culpable of moral wrong.” (Lankford 1979: 465)
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Ham, in a broken voice, ‘it ain’t no fault of yourn—and I am far from laying of it to you—but his name is Steerforth, and he’s a damned villain!’” (DC 384) In ähnlicher Weise wird auch Davids Rolle in Bezug auf Dora durch andere Figurenmodelle relativiert. So finden sich im Roman keine Figuren, die Davids Verhalten in Bezug auf Dora kritisieren oder ihm Schuld an Doras Tod geben. Im Gegenteil, auf ihrem Sterbebett führt Dora das Scheitern der Ehe auf ihr Alter und die eigene Unerfahrenheit zurück: “I am afraid, dear, I was too young. I don’t mean in years only, but in experience, and thoughts, and everything. I was such a silly little creature! I am afraid it would have been better, if we had only loved each other as a boy and girl, and forgotten it. I have begun to think I was not fit to be a wife.” (DC 645)
Im gleichen Atemzug spricht sie David von aller Schuld frei und preist sogar seine Rolle als Ehemann: “Oh, Doady, after more years, you never could have loved your child-wife better than you do.” (DC 647) Da es folglich keine Figurenwelt im fiktionalen Universum gibt, in der David für Doras Tod verantwortlich ist, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass der Leser – wie Lankford es tut – das fehlende Schuldbewusstsein des Erzählers als Zeichen seiner Unzuverlässigkeit interpretiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum der Großteil der Leser keine Kausalität zwischen Davids Versuchen, seine Frau zu formen, und Doras Tod herstellt, sondern die Gründe für ihr plötzliches Ableben eher beim Autor Charles Dickens und damit im extratextuellen Kontext verortet: “Dickens is not intending us to see David as psychologically guilty of Dora’s death, nor to wonder whether there is any kinship between him and Murdstone, the murderer of Dora’s twin-figure Clara.” (Collins 1977: 45) Vielmehr scheint Doras Tod primär dramaturgische Gründe zu haben. Da eine Scheidung im viktorianischen Roman ein Tabu darstellt (vgl. Hager 1996: 993) und daher als Möglichkeit der Trennung des Ehepaars wegfällt, ist Doras Tod der einzig opportune Weg, damit David und der „Angel in the House“ Agnes zusammenfinden können. Aus diesem Grund nimmt Newsom (2009 [2001]: 102) an, „Dickens purposively kills [Dora] off in order to clear the decks for the more mature Agnes“.239
239 Ähnlich auch Hager (1996: 1000): “[Dora] dies for David’s convenience. Embracing death allows her a way out of a marriage in which she is constantly made to feel like a failure, and allows her still-precious Doady to find happiness with Agnes.” Sell (1983: 23) folgt ebenfalls einer solchen Argumentation: “Dora’s death is a necessity forced on the embarrassed Dickens simply by the Bildungsroman genre: if David is to grow towards Agnes, Dora must be removed.”
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3 Ironische Unzuverlässigkeit in Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989) Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (RD) ist eines der meistzitierten Werke in der Unzuverlässigkeitsforschung240 und kann ohne Frage zu den Klassikern des unzuverlässigen Erzählens gezählt werden. Der Roman ist auch deshalb so beliebt in der Unzuverlässigkeitsforschung, da die (ironische) Unzuverlässigkeit der Fokalisierungsinstanz und Erzählerfigur Stevens vom Leser nur schwerlich übersehen werden kann: “[U]nreliability is so matter-of-fact in Remains that the reader quickly adapts to it.” (Petry 1999: 123) Diese von Petry beschriebene Sensibilisierung des Lesers für die Unglaubwürdigkeit des Erzählers resultiert – wie im Folgenden gezeigt werden wird – aus der hohen Anzahl von expliziten Weltkonflikten, welche die Darstellung der Erzählerfigur als auch der Fokalisierungsinstanz fortwährend unterwandern. Der Roman eignet sich aus diesem Grund besonders gut, um erstens zu zeigen, wie Weltkonflikte die Aufmerksamkeit des Lesers auf verschiedene epistemologische und ethisch-moralische Fragestellungen lenken und damit den Leseprozess maßgeblich beeinflussen. Zweitens bietet sich der Roman an, um zu veranschaulichen, wie der Leser durch die Hierarchisierung von Weltkonflikten eine andere Geschichte rekonstruiert als die, die der Erzähler zu erzählen beabsichtigt. Die von Stevens als Erfolgsgeschichte eines great butler intendierte Erzählung entpuppt sich als tragische Geschichte der Selbstverleugnung und der verpassten Chancen. Anders als in David Copperfield, in dem die Erzählerfigur die ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz korrigiert, erkennt die Erzählerfigur nicht die eigenen Defizite. Drittens lässt sich anhand des Romans zeigen, wie der Rezipient Erklärungen für die Diskrepanz zwischen Stevens’ Erzähler- und Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten findet und somit ein komplexes mentales Modell einer Figur entwirft, die sich die eigenen Lebenslügen nicht eingestehen kann oder will.
240 In zahlreichen bedeutenden Studien wird der Roman exemplarisch herangezogen, um auf spezifische Phänomene und Probleme des unreliable narration aufmerksam zu machen. Wall (1994) demonstriert beispielsweise anhand des Romans, dass nicht nur die Handlungsebene, sondern auch die Diskursebene ein Indikator für ironisch-unzuverlässiges Erzählen darstellt. Phelan/Martin (1999) bzw. Phelan (2004) entwickeln auf Grundlage des Romans eine differenzierte Typologie narrativer Unzuverlässigkeit (under-/misreporting, under-/misreading, under-/ misregarding) und zeigen die Schwierigkeit auf, die ethische Stellung des impliziten Autors zu Stevens’ Verhalten zu bestimmen. The Remains of the Day wird von Heyd (2006) als ein Beispiel aufgegriffen, um unreliable narration mit Rückgriff auf einen pragmatischen Ansatz zu erläutern.
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3.1 Zur Komplexität der Zeitstruktur in The Remains of the Day Wie Ekelund (2005) es treffend beschreibt, ist The Remains of the Day in erster Linie eine Charakterstudie und daher „a novel without much of a plot“. In der Tat lässt sich die eigentliche Handlung in wenigen Worten zusammenfassen: Der Butler Stevens bekommt im Jahre 1956 von seinem neuen Arbeitgeber Mr Farraday ein paar Tage Urlaub und verlässt das erste Mal seit Jahrzehnten seinen Arbeitsplatz, das Anwesen Darlington Hall. Anlass für Stevens’ Reise ist ein Brief von Mrs Benn (vormals Miss Kenton), einer ehemaligen Angestellten, die vor über 20 Jahren auf Darlington Hall gearbeitet hatte, bis sie heiratete und wegzog. Da diese, wie Stevens aus ihrem Brief zu entnehmen glaubt, Probleme in ihrer Ehe hat und andeutet, ihren Ehemann verlassen zu wollen, macht sich der Butler auf, um ihr das Angebot zu unterbreiten, nach Darlington Hall zurückzukehren. Der Roman besteht aus Stevens’ Aufzeichnungen, die er während seiner sechs Tage andauernden Reise anfertigt. Die Kapitel untergliedern sich in die Orte seiner Reise. Stevens’ Aufzeichnungen umfassen sowohl die Schilderungen seiner Reise als auch Erinnerungen an seine Zeit auf dem Landsitz Darlington Hall in den 1920er und 1930er Jahren. Wie bereits in dieser Zusammenfassung angedeutet wird, entsteht die Komplexität des Romans aus seiner Zeitstruktur (vgl. Birke 2007: 107). So finden sich insgesamt drei Zeitebenen, die der Rezipient in den einzelnen Kapiteln rekonstruieren muss. Zunächst gibt es das Hier-und-Jetzt des Erzählens (Zeitebene 1 angesiedelt im intratextuellen Kontextmodell), darüber hinaus werden retrospektiv die Erlebnisse des jeweiligen Reisetages im Jahre 1956 (Zeitebene 2 des Situationsmodells) sowie die verschiedenen Geschehnisse in den 1920er und 1930er Jahren beschrieben, in denen Stevens zusammen mit Miss Kenton für Lord Darlington gearbeitet hat (Zeitebene 3 des Situationsmodells). Während sich die Rekonstruktion der Zeitebene 1 und 2 aufgrund der Kapitelüberschriften mit Ortssowie Zeitangaben relativ einfach gestaltet, so dass der Rezipient problemlos zeitliche Kohärenz zwischen den Kapiteln etablieren kann, fällt dies auf Zeitebene 3 schwerer. Die verschiedenen Episoden auf Darlington Hall, die in den Zeitrahmen von 1922 bis in die Mitte der 1930er fallen, sind weder nach zeitlicher Chronologie noch durch eine klar erkennbare Kausalität verbunden, sondern das Resultat von Erinnerungsprozessen, welche durch Begegnungen mit anderen Figuren, bestimmten Orten oder Gegenständen auf seiner Reise ausgelöst werden (vgl. Birke 2007: 107). Aus diesem Grund erschließt sich dem Rezipienten Stevens’ Zeit unter Lord Darlington und seine Beziehung zu Miss Kenton in Darlington Hall nur fragmentarisch. Im Unterschied zu David Copperfield, der sein Leben von einem fixen Zeitpunkt aus erzählt und retrospektiv Wissen über den gesamten Handlungsverlauf hat, hat der Erzähler lediglich Wissen über die Zeit in Darlington Hall
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und über den jeweiligen Reisetag. Wie seine Reise verlaufen und das Gespräch mit Miss Kenton ausgehen wird, weiß er hingegen nicht (vgl. Birke 2007: 107).
3.2 „What makes a great butler?“ Stevens Konzepte von dignity und von moralisch integren Arbeitgebern Kohärenz stiftendes Bindeglied zwischen den drei verschiedenen Zeitebenen mitsamt den Episoden und Erinnerungen ist die vom Erzähler aufgeworfene Frage, was einen great butler ausmacht (RD 29, 32) und ob er selbst aufgrund seines Verhaltens als ein solcher begriffen werden kann. Diese Frage dient Steves als zentrales Kriterium bei der Bilanzierung seines Lebens, welches er ausschließlich über seine beruflichen Errungenschaften definiert. Bereits zu Beginn des Romans reflektiert Stevens intensiv, welche Kriterien ein Butler erfüllen muss, um greatness zu erlangen: The whole question is very akin to the question that has caused much debate in our profession over the years: what is a great butler? […] To the best of my knowledge, for all the talk this question has engendered over the years, there have been few attempts within the profession to formulate an official answer. (RD 29–32)
Mit Verweis auf die Hayes Society – eine Gesellschaft für angesehene Butler, die jedoch Anfang der 1930er Jahre aufgelöst wurde (RD 32) – und auf A Quarterly for the Gentleman’s Gentleman – eine Fachzeitschrift für Butler – leitet der Erzähler zwei zentrale Erfordernisse für einen great butler ab. Eine erste grundlegende Voraussetzung, um den Status eines great butler zu erreichen, ist die Beschäftigung bei einem Haus von Rang.241 Dabei bemisst der Erzähler den Rang eines Dienstherrn nicht ausschließlich nach dessen gesellschaftlichem Status, sondern auch nach dessen moralischer Integrität (vgl. RD 120). Diese äußert sich in Stevens’ Augen im Bemühen des Arbeitgebers, durch politische Einflussnahme der Menschheit zu dienen.242 Daraus leitet Stevens ab, dass sich ein great butler durch
241 “[…] prerequisite for membership was that ‘an applicant be attached to a distinguished household’.” (RD 32) 242 “Where our elders might have been concerned with whether or not an employer was titled, or otherwise from one of the ‚old’ families, we tended to concern ourselves much more with the moral status of an employer. I do not mean by this that we were preoccupied with our employers’ private behaviour. What I mean is that we were ambitious, in a way that would have been unusual a generation before, to serve gentlemen who were, so to speak, furthering the progress of hu manity.” (RD 120) Nach Ansicht von Stevens wurden und werden zentrale Entscheidungen in der
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den Dienst für seinen Arbeitgeber indirekt um die Menschheit verdient macht: “A ‘great’ butler can only be, surely, one who can point to the years of service and say that he has applied his talents to serving a great gentleman – and through the latter, to serving humanity.” (RD 123) Neben der Beschäftigung bei einem Haus von Rang ist dignity im Auftreten eine zweite Voraussetzung, um ein great butler zu sein. Unter dignity versteht er das Zurücktreten jeglicher privater Belange und Emotionen: “[D]ignity” has to do crucially with a butler’s ability not to abandon the professional being he inhabits for the private one at the least provocation. […] The great butlers are great by virtue of their ability to inhabit their professional role and inhibit it to the utmost; they will not be shaken out by external events, however surprising, alarming or vexing. They wear their professionalism as a decent gentleman will wear his suit: he will not let ruffians or circumstances tear it off him in public gaze; he will discard it when, and only when, he wills to do so, and this invariably be when he is entirely alone. It is, as I say, a matter of ‘dignity’. (RD 43–44)
Stevens erläutert das Konzept von dignity anhand dreier Geschichten, in denen deutlich wird, dass ein Butler auch in für ihn emotional herausfordernden Situationen niemals seine Gefühle zeigen darf. Die erste, etwas absurde Geschichte – eine Anekdote, die ihm sein Vater erzählt hat – handelt von einem Butler in Indien, der unter einem Esstisch einen Tiger entdeckt, diesen erschießt und danach – pünktlich und ohne die Contenance zu verlieren – seinem Arbeitgeber den Tee serviert (vgl. RD 36–37). Wesentlich wichtiger scheinen Stevens jedoch zwei Episoden aus dem Leben seines Vaters zu sein, der ebenfalls als Butler arbeitete und den der Erzähler als „embodiment of dignity“ (RD 35) begreift. In einer ersten Episode soll sein Vater drei Gäste in einer bestimmten Reihenfolge durch verschiedene Dörfer fahren. Als ihm dabei ein Fehler unterläuft, ziehen ihn seine Fahrgäste auf. Die Schmähungen lässt Stevens’ Vater jedoch ohne erkennbare Gefühlsregung über sich ergehen,243 bis zwei der Gäste beginnen, schlecht über seinen Arbeitgeber zu reden. Daraufhin hält er den Wagen an und setzt die Fahrt erst fort, als sich die beiden Gäste für ihre Bemerkungen über seinen Arbeitgeber entschuldigt haben.
Weltgeschichte nicht nur in öffentlichen Räumen wie in Parlamenten oder auf internationalen Konferenzen getroffen, sondern stattdessen vielmehr in den Häusern und unter dem Einfluss der aristokratischen Klasse: “[T]he great decisions of the world are not, in fact, arrived simply in the public chambers, or else during a handful of days given over an international conference under the full gaze of the public and the press. Rather debates are conducted, and crucial decisions arrived at, in the privacy and calm of the great houses of this country.” (RD 121) 243 “[M]y father showed not one hint of discomfort or anger[…]” (RD 39); “[M]y father did not display any obvious anger.” (RD 40)
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Eine weitere Episode, welche die dignity des Vaters illustrieren soll, erzählt davon, wie ein General, der für den Tod von Stevens’ Bruder (der im Krieg gefallen ist) verantwortlich ist, mehrere Tage Gast im Haus seines Arbeitgebers ist. Anstatt das Angebot anzunehmen, für ein paar Tage in Urlaub zu gehen, begleitet Stevens’ Vater den General vier Tage. Stevens’ Vater unterdrückt in dieser Zeit seine Gefühle gegenüber dem General und wird am Ende des Besuchs sogar für sein Engagement gelobt (vgl. RD 43). Stevens’ auf der moralischen Integrität des Arbeitgebers und der eigenen dignity beruhendes Konzept eines great butler ist insofern von zentraler Bedeutung für die Rezeption, da es dem Leser als Folie dient, das Verhalten von Stevens als Erzähler und Fokalisierungsinstanz erklärbar zu machen. Auf der Ebene des intratextuellen Kontextmodells kann der Rezipient folgern, dass der Erzähler sein Gegenüber davon überzeugen möchte, dass er selbst ein great butler ist.244 So preist er Lord Darlington fortwährend als „gentleman of great moral value“ (RD 123) und berichtet von den internationalen Konferenzen, die sein Arbeitgeber auf Darlington Hall organisiert hat, und bezeichnet das eigene Wirken als „a contribution to the course of history“ (RD 147). Ebenso verweist der Erzähler auf zwei Episoden seines eigenen Lebens, die deutliche Parallelen zu den zwei Geschichten des Vaters aufweisen, in denen dieser dignity bewiesen hat. Die erste Episode ereignet sich während einer internationalen Konferenz, die 1922 auf Darlington Hall stattfindet (RD 95–115). Stevens’ Vater erleidet kurz vor Abschluss der Konferenz einen Schlaganfall. Stevens nimmt sich trotz des kritischen Gesundheitszustands nur kurz Zeit für ein Gespräch mit seinem Vater, obwohl andere Angestellte ihm anbieten, seine Aufgaben zu übernehmen. Auch als Stevens schließlich vom Tod des Vaters erfährt, arbeitet er weiter und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Offensichtlich spiegelt diese Geschichte diejenige des Vaters, in der dieser den Offizier bedient, der für den Tod seines Sohnes verantwortlich ist und dem gegenüber er seine Gefühle unterdrückt. Die zweite Geschichte, mit der Stevens dignity in seinem eigenen Handeln illustrieren möchte, ähnelt hingegen der Geschichte, in der Stevens’ Vater auf der Autofahrt seinen Arbeitgeber gegen Beleidigungen in Schutz genommen hat (RD 223–239). Das Ereignis, auf das Stevens stolz ist, findet an einem Abend statt, bei dem es zu einem Geheim-
244 “In fact, I often look back to the conference and, for more than one reason, regard it as the moment in my career when I truly came of age as a butler; it is hardly for me, in any case, to make judgements of this sort. But should it be that anyone ever wished to posit that I have attained at least a little of that crucial quality of ‘dignity’ in the course of my career, such a person may wish to be directed towards that conference of March 1923 as representing the moment when I demonstrated I might have a capacity for such a quality.” (RD 73)
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treffen zwischen dem britischen Außenminister und dem deutschen Botschafter von Ribbentrop in Darlington Hall kommt. Heftige Kritik an dem geheimen von Lord Darlington arrangierten Treffen kommt von Mr Cardinal, einem Freund des Hauses. Die heftigen Attacken werden von Stevens abgewehrt, der seinen Arbeitgeber verteidigt und dessen Moral hervorhebt. Darüber hinaus erfährt Stevens an diesem Abend, dass Miss Kenton sich verlobt hat und Darlington Hall verlassen will. Wieder zeigt Stevens keine Reaktion auf das Geschehen und demonstriert so – in seinen Augen – dignity. Auffällig an beiden Episoden ist, dass der Erzähler die eigenen Gefühle nicht explizit kommuniziert. Stattdessen werden diese dem Leser in Form von Weltkonflikten zwischen der Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten nahegebracht. Als Stevens in der ersten Episode vom verschlechterten Gesundheitszustand des Vaters erfährt, setzt er seinen Dienst fort und bedient die Gäste. Während der Erzähler immer wieder betont, dass er lächelt („I smiled …“, RD 109), stellt einer der Gäste – Mr Cardinal – fest, dass Stevens weint (RD 109–110). Die Fokalisierungsinstanz schiebt dies auf den arbeitsreichen Tag. Ein ähnlicher Konflikt entsteht in der zweiten Episode, als Stevens von Miss Kentons Verlobung erfährt. Wieder ist es Mr Cardinal, der feststellt, dass es Stevens nicht gut geht (RD 231). Doch Stevens führt auch in diesem Fall seine Verfassung auf eine allgemeine Erschöpfung zurück (RD 231). Aufgrund des unmittelbaren Kontextes (der kritische Gesundheitszustand seines Vaters, die Nachricht von Miss Kentons Verlobung) kann der Rezipient jedoch den Schluss ziehen, dass Stevens seine wahre emotionale Verfassung gegenüber Mr Cardinal verbergen möchte.245 Die Frage, die sich aus diesen Beobachtungen ableitet, ist, warum Stevens seine Gefühlslage über Umwege (d. h. durch explizite Weltkonflikte) thematisiert, anstatt sie offen zu kommunizieren. Warum macht es sich der Erzähler nicht leichter und gibt offen zu, dass er aufgrund des Gesundheitszustandes des Vaters weint oder dass er nach der Nachricht von der Verlobung Miss Kentons unglücklich ist, weil er sie heimlich liebt? Oder, wenn ihm das Zurschaustellen von Gefühlen zuwider ist, warum verzichtet er dann nicht ganz auf die Bemerkungen von Mr Cardinal, so dass der Rezipient nichts von Stevens’ Reaktionen mitbekommen würde? Stevens’ Ziel ist es – wie oben dargelegt –, ein Narrativ zu konstruieren, in dem er ein great butler ist, weil er in verschiedenen Situationen dignity bewiesen
245 Phelan/Martin (1999) bezeichnen die beiden Fälle, in denen Stevens seine Gefühle nicht offen schildert, als underreporting. Jedoch erscheint der Terminus im Kontext dieser Szenen problematisch, da der Text Stevens’ Gefühle explizit kommuniziert. Nur ist nicht Stevens die Quelle der Information, sondern eine andere Figur. Der Leser wird folglich eingeladen, in beiden Fällen via mind-reading Stevens’ innere Aufgewühltheit zu erkennen.
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hat, sich also bei professionellen Angelegenheiten nicht von privaten Gefühlen hat überwältigen lassen. Dies bedeutet für Stevens offensichtlich auch, dass er selbst beim Akt des Erzählens dignity bewahren und weiter in seiner Rolle als Butler sprechen muss. Wie er dem Adressaten erklärt, darf ein Butler – will er dignity zeigen – in Gegenwart einer anderen Person niemals „off duty“ (RD 178)246 sein. Folgt man diesem Verständnis von dignity, lässt sich erklären, warum der Erzähler während des gesamten Romans wenig direkte Einblicke in die eigene Gefühlswelt gewährt. Stevens scheint gegenüber seinem Adressaten in der Rolle des Butlers zu sein, wodurch es ihm nach eigener Arbeitsethik nicht gestattet ist, über persönliche Dinge wie Gefühle zu sprechen.247 Dies führt jedoch in ein Dilemma: Auf der einen Seite muss der Erzähler dem Adressaten seine inneren Qualen begreiflich machen, um dem Gegenüber das Maß an Selbstkontrolle zu zeigen, das notwendig war, um mit dignity zu handeln. Auf der anderen Seite verbietet es ihm das Konzept von dignity, dem Adressaten explizite Einsichten in seine Gefühlswelt zu geben. Mithilfe der Weltkonflikte zwischen der Fokalisiererwelt und der Figurenwelt kann der Erzähler dem Adressaten (und dem Leser) die innere Zerrissenheit begreiflich machen und die Kraft, die es erfordert, in diesen Situationen dignity zu wahren (Wall 1994: 28). Während Stevens – wie skizziert – das Ziel verfolgt, sein Leben als Erfolgsgeschichte darzustellen, wird sein Narrativ des great butler jedoch durch zahlreiche Weltkonflikte unterlaufen. Stevens’ (Erfolgs-)Geschichte stellt sich für den Leser als Geschichte des persönlichen Scheiterns und der Selbstverleugnung dar.
3.3 Zur Unterminierung von Stevens’ Konzept der dignity durch explizite Weltkonflikte Stevens’ Konzept der dignity erscheint zunächst nobel und mit Tugenden wie „loyalty, integrity, tact, devotion, good manners, and especially, keeping the high standards of service under all circumstances, without allowing the interference
246 “And of course, any butler who regards his vocation with pride, any butler who aspires at all to a ‘dignity in keeping his position’, as the Hayes Society once put it, should never allow himself to be ‘off duty’ in the presence of others. […] A butler of any quality must be seen to inhabit his role, utterly and fully; he cannot be seen casting it aside one moment simply to don it again the next as though it were nothing more than a pantomime costume. There is one situation and one situation only in which a butler who cares about his dignity may feel free to unburden himself of his role; that is to say, when he is entirely alone.” (RD 177–178) 247 Auch wenn der Adressat nicht eindeutig zu bestimmen ist, so scheint es ebenfalls ein Butler zu sein (vgl. Petry 1999: 91; Wall 1994: 24).
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of any mood and emotion“ (Marcus 2008: 126) gleichgesetzt werden zu können. Im Laufe des Romans wird es jedoch auf verschiedene Weise durch eine Vielzahl expliziter Weltkonflikte hinterfragt. Dabei wird dem Leser zum einen vor Augen geführt, welchen negativen Einfluss dieses auf das Selbst hat (vgl. Marcus 2008: 126). Die Weltkonflikte verdeutlichen dem Leser, dass Stevens’ Konzept der dignity nicht im positiven Sinne mit Selbstkontrolle, sondern vielmehr in einem negativen Sinne mit Selbstverleugnung gleichzusetzen ist. Zum anderen wird das Konzept in einem gesellschaftspolitischen Kontext durch Weltkonflikte diskutiert und auf diese Weise werden die „faschistoiden“ Prämissen des Konzepts offengelegt. Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird die Aufmerksamkeit des Lesers durch zwei explizite Weltkonflikte auf die Frage nach Stevens’ Motive für die Reise gelenkt. So gibt der Erzähler gegenüber dem Adressaten zu, dass der Brief von Miss Kenton die Ursache dafür ist, das Angebot seines Arbeitgebers anzunehmen, Darlington Hall für ein paar Tage zu verlassen. Allerdings stellt er im selben Atemzug klar, dass die Reise ausschließlich berufliche Gründe habe und andere Interpretationen auszuschließen seien: But let me make it immediately clear what I mean by this; what I mean to say is that Miss Kenton’s letter set off certain chain of ideas to do with professional matters here at Darlington Hall, and I would underline that it was a preoccupation with these very same professional matters that led me to consider anew my employer’s kindly meant suggestion. (RD 5)
Auf den folgenden Seiten ist der Erzähler bemüht, den Eindruck jedweden persönlichen Interesses an der Reise zu zerstreuen, indem er gegenüber dem Audressaten verschiedene Probleme auf Darlington Hall aufzählt, die durch eine Wiedereinstellung von Miss Kenton behoben werden könnten (vgl. RD 5–10). Jedoch wird der Konflikt bzgl. Stevens’ Motivation nur wenige Seiten später auf Handlungsebene gespiegelt, als Stevens’ Arbeitgeber – Mr Farraday – Stevens (freilich mit einem Augenzwinkern) unterstellt, die Reise zu Miss Kenton aufgrund romantischer Gefühle anzutreten: “‘I’d never have figured you for such a lady’s man, Stevens,’ he went on. ‘Keeps the spirit young, I guess. But then I really don’t know it’s right for me to be helping you with such dubious assignations.’” (RD 14) Da der Rezipient diese expliziten Weltkonflikte zunächst nicht auflösen kann, die Motivation des Protagonisten für die Reise jedoch zentral für die Rekonstruktion der Handlung ist, wird der Leser bei der weiteren Lektüre verstärkt nach Hinweisen suchen, die ihm helfen, die widerstreitenden Angaben bzgl. der tatsächlichen Intention aufzulösen. Tatsächlich findet sich im weiteren Verlauf der Lektüre eine Vielzahl von Hinweisen, die nahelegen, dass Stevens’ Antrieb für die Reise primär in seinen Gefühlen zu Miss Kenton liegt (vgl. Marcus 2008). Dies zeigt sich beispielsweise
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an Stevens’ Obsession für Miss Kentons Brief, auf den er im Laufe der Erzählung immer wieder Bezug nimmt und den er fortwährend im Hinblick auf ihre Gefühle interpretiert (RD 10, 50–52, 69–70, 149, 189, 245–246). Als weiteres Zeichen für seine Gefühle kann die Insistenz des Erzählers betrachtet werden, die ehemalige Arbeitskollegin stets mit ihrem Mädchennamen Miss Kenton zu bezeichnen (RD 50) – und nicht als Mrs Benn, wie sie seit über 20 Jahren heißt. Dies kann als Hinweis auf seinen unterdrückten Wunsch gelesen werden, Miss Kenton hätte nicht geheiratet (vgl. Birke 2007). Ein weiteres Indiz findet sich auf der Handlungsebene, als ein anderer Butler spekuliert, dass Miss Kenton einen Verehrer haben könnte – für den fokalisierenden Stevens ist dies aus professioneller Sicht eine „disturbing notion“ (RD 180). Daraufhin kontrolliert er die Briefe für Miss Kenton und schließt aus dem immer gleichem Absender, dass diese tatsächlich eine Beziehung zu einem anderen Mann hat. Aus seinem Verhalten jedoch ein erhöhtes Interesse an Miss Kentons Privatleben abzuleiten, weist der Erzähler in einem Konflikt mit der Adressatenwelt von sich: “I should perhaps point out here that it would have been well nigh impossible for me not to have noticed such things, given that throughout all her preceding years at the house, she had received very few letters indeed.” (RD 180) All diese Hinweise legen die Interpretation nahe, dass Stevens’ Motivation, Miss Kenton aufzusuchen, nicht rein beruflicher Natur ist, wie er als Fokalisierungsinstanz seinem Arbeitgeber und als Erzähler dem Adressaten einreden will (vgl. Marcus 2008: 127–131). Diese Weltkonflikte bzgl. der Motivation für die Reise stehen in einer Reihe mit anderen Weltkonflikten, in denen Stevens persönliche Motive und Gefühle gegenüber anderen Figuren oder dem Adressaten abstreitet. Als Miss Kenton und der fokalisierende Stevens über die Qualifikationen eines Hausmädchens diskutieren (welches sich trotz Stevens’ anfänglicher Skepsis als geeignet erweist), unterstellt sie ihm, persönliche Gründe vorgeschoben zu haben, um die Einstellung der Frau zu verhindern. In ihren Augen hat Stevens sich nicht aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten gegen die Frau ausgesprochen, sondern weil sie durch ihre Attraktivität eine potenzielle Ablenkung für ihn darstellt: “Might it be that our Stevens fears distraction? Can it be that our Mr Stevens is flesh and blood after all and cannot fully trust himself?” (RD 164–165) Auch wenn die Fokalisierungsinstanz eine solche Interpretation von sich weist, liest Miss Kenton aufgrund ihres mind-reading aus Stevens’ Gesicht etwas anderes ab: “‘It is a guilty smile you have on, Mr Stevens. And I’ve noticed how you can hardly bear to look at Lisa. Now it is beginning to become very clear why you objected so strongly to her.’” (RD 165; Hervorhebung im Original) Tatsächlich erscheint Miss Kentons Sichtweise plausibler für den Rezipienten als Stevens’. So stoppt Stevens beispielsweise auch die regelmäßigen Treffen mit Miss Kenton, als sie ihm gegenüber ihre Gefühle andeutet (vgl. Marcus 2008: 130). Stevens hat Angst, eigene Gefühle zuzulassen.
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Ein weiterer Weltkonflikt über Stevens’ Gefühle findet sich, als Miss Kenton den fokalisierenden Stevens in seinem Zimmer mit einem Buch überrascht. Stevens versucht vergeblich, das Werk – einen sentimentalen Liebesroman – vor Miss Kenton zu verstecken. Diese unterstellt dem fokalisierenden Stevens daraufhin eine Vorliebe für sentimentale Werke (“‘Good gracious, Mr Stevens, it isn’t anything so scandalous at all. Simply a sentimental love story’”, RD 176). Daraufhin verweist Stevens Miss Kenton des Raumes. Im folgenden Konflikt zwischen Erzähler- und Adressatenwelt weist Stevens Miss Kentons Annahme jedoch entschieden von sich und gibt berufliche Gründe an, die seine Lektüre von Liebesromanen rechtfertigen sollen.248 Die Insistenz, mit welcher der Erzähler den Adressaten von der Lektüre sentimentaler Literatur zur Verbesserung der Sprache überzeugen möchte, wie auch sein Verhalten gegenüber Miss Kenton deuten darauf hin, dass ihm die Tatsache höchst unangenehm ist, dass andere seine Vorliebe für sentimentale Literatur erkennen könnten.249 Stevens’ pathologisches Verleugnen persönlicher Motive, jedweder Gefühle und eigener Interessen gegenüber anderen (seien es Figuren oder der Adressat) hat die tragische Konsequenz, dass er gegenüber den eigenen Gefühlen taub zu sein scheint (vgl. Marcus 2008). Dass Stevens sich der eigenen Gefühle gegenüber Miss Kenton tatsächlich über lange Zeit des Romans selbst nicht bewusst ist, wird durch einen Konflikt zwischen der Erzählerwelt und der TAW deutlich, bei dem Stevens eine aufgeschriebene Episode infrage stellt und seine Darstellung revidiert. Beiden Szenen ist gemein, dass Stevens vor Miss Kentons Zimmertür steht und sich sicher ist, dass diese weint. Er ist sich unschlüssig, ob er ihr Zimmer betreten soll, um sie zu trösten, entscheidet sich jedoch dagegen. Unterschiede zwischen den Szenen finden sich im Kontext, mit dem Miss Kentons Gefühlsausbruch erklärt werden kann. Bei Stevens erster Darstellung hat Miss Kenton gerade
248 “There was a simple reason for my having taken to perusing such works; it was an extremely efficient way to maintain and develop one’s command of the English language. It is my view – I do not know if you will agree – that in so far as our generation is concerned, there has been too much stress placed on the professional desirability of good accent and command of language; that is to say, these elements have been stressed sometimes at the cost of more important professional qualities. For all that, it has never been my position that good accent and command of language are not attractive attributes, and I always considered it my duty to develop them as best I could. One straightforward means of going about this is simply to read a few pages of a well-written book during odd spare moments one may have. This had been my own policy for some years, and I often tended to choose the sort of volume Miss Kenton had found me reading that evening simply because such works tend to be written in good English, with plenty of elegant dialogue of much practical value to me.” (RD 176–177) 249 Die Verdrängung jeglicher persönlicher Gefühle und Intentionen wird auch auf sprachlicher Ebene manifest, da Stevens statt von „I“ häufig von „one“ spricht (vgl. Wall 1994: 23).
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vom Tod ihrer Tante erfahren, so dass die Tränen auf ihre Trauer zurückgeführt werden können (vgl. RD 185–186). Er bezeichnet die Episode als Wendepunkt, weil er ihr nicht kondoliert hat, verweist aber darauf, dass er die Bedeutung des Geschehens nicht begriffen habe: “There was nothing to indicate at that time that such evidently small incidents would render whole dreams forever irredeem able.” (RD 188–189) Bei seiner zweiten Schilderung ist die Ursache für Miss Kentons Tränen eine andere. In Stevens’ revidierter Fassung hat Miss Kenton Stevens kurz zuvor von ihrer Verlobung und ihrem anstehenden Abschied von Darlington Hall berichtet (RD 228–230, 236–238) und versucht, „Stevens mit dieser Nachricht aus der Reserve zu locken und dazu zu bewegen, Gefühle zu zeigen“ (Birke 2007: 109). Stevens geht jedoch nicht darauf ein, so dass Miss Kenton sich in ihr Zimmer zurückzieht. Der Schmerz von Miss Kenton ist hier auf Stevens zurückzuführen, der nicht auf sie reagiert. Es zeigt sich jedoch, dass das Geschehen in Bezug auf ihre Beziehung tatsächlich ein turning point war, aber kein „evidently small incident“, wie der Erzähler zunächst vorgibt. Er hatte die Möglichkeit, Miss Kenton von ihrer Verlobung abzubringen und eine Beziehung mit ihr anzufangen. Die Gegenüberstellung der beiden Szenen mit den unterschiedlichen Kontexten kann auf Verdrängungsmechanismen des Erzählers zurückgeführt werden: Stevens’ Verwirrung darüber, welcher Szene die Erinnerung zuzuordnen sei, weist zunächst einmal wieder auf seinen Wunsch hin, sein Verhältnis zu Miss Kenton rein professionell darzustellen. Im Gegensatz zur ersten Einbettung der „Korridorerinnerung“ ist in der zweiten Szene Stevens’ eigenes Verhalten der Grund für Miss Kentons Gefühlsausbruch […]. Dieser Zusammenhang wird in der ersten Variante der Erinnerung unterdrückt. Mit dem Verzicht darauf, an die Tür zu klopfen, hat Stevens auch seine letzte Chance vertan, Miss Kenton seine Zuneigung zu offenbaren. Die erste Erinnerung erscheint so als Resultat einer Verdrängung von unbequemen Einsichten in die Vergangenheit. (Birke 2007: 109)250
Wichtig ist nicht nur die Revision der Darstellung, sondern auch der Zeitpunkt, an dem der Erzähler sich an das tatsächliche Geschehen erinnert. So korrigiert Stevens die Episode an dem Abend, bevor er nach all den Jahren endlich Miss Kenton trifft. Je näher der Zeitpunkt des Wiedersehens rückt, umso mehr scheinen seine unterdrückten Gefühle aufzubrechen und seine Erinnerungen wiederzukehren. Für den Leser wird also deutlich, dass Stevens’ Konzept von dignity, d. h., niemals Gefühle zu zeigen, so weit geht, dass er nicht nur jedwede Gefühle
250 Ähnlich auch Phelan (2004: 61).
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oder persönlichen Interessen gegenüber anderen Figuren abstreitet, sondern dass er offensichtlich selbst die eigenen Emotionen nicht wahrnimmt. Das starre Klammern am Konzept von dignity führt bei Stevens zur Selbstverleugnung. Daneben lenken verschiedene Weltkonflikte die Aufmerksamkeit des Lesers auch auf die problematischen politisch-ideologischen Prämissen, auf denen Stevens’ Konzept von dignity aufbaut. Am dritten Tag seiner Reise übernachtet Stevens in einem Gasthaus und diskutiert mit den Dorfbewohnern, die ihn für einen wohlhabenden Gast und Gentleman halten. Sie möchten von Stevens wissen, was einen „true gentleman“ (RD 194) ausmache. Stevens’ Antwort darauf lautet „dignity.“ (RD 195) Dieser Ansicht widerspricht einer der Dorfbewohner – Harry Smith – jedoch vehement und definiert dignity als Eigenschaft, welcher jeder Bürger – unabhängig seiner sozialen Klasse – erlangen könne: “Dignity’s not just something for gentlemen. […] That’s what we fought Hitler for, after all. If Hitler had had things his way, we’d just be slaves now. The whole world would be a few masters and millions upon millions of slaves. And I don’t need to remind anyone here, there’s no dignity to being a slave. That’s what we fought for and that’s what we won. We won the right to be free citizens. And it’s one of the privileges of being born English that no matter who you are, no matter if you’re rich or poor, you’re born free and you’re born so that you can vote freely, and vote in your member of parliament or vote him out. That’s what dignity’s really all about, if you’ll excuse me, sir. […] You can’t have dignity if you’re a slave.” (RD 195–196)
Für Harry Smith beinhaltet dignity folglich (Meinungs-)Freiheit, demokratische Partizipation sowie die Freiheit zur persönlichen Entfaltung. Er geht davon aus, dass jeder Bürger zum Fortschritt der Menschheit durch demokratische Partizipation beitragen kann. Diesem Verständnis von dignity kann der Erzähler nicht zustimmen, weshalb es zu einem Konflikt mit Smith kommt: [A]nd the claim of people like Mr Harry Smith that one’s “dignity” is conditional on being able to do so can be seen for the nonsense it is. Let us establish this quite clearly: a butler’s duty is to provide good service. The fact is, such great affairs will always be beyond the understanding of those such as you and me, and those of us who wish to make our mark must realize that we best do so by concentrating on what is within our realm; that is to say, by devoting our attention to providing the best possible service to those gentlemen in whose hands the destiny of civilization truly lies. (RD 209; Hervorhebung im Original)
Stevens’ Abgrenzung von Harry Smiths Konzept lässt jene „faschistoiden“ Aspekte durchscheinen, auf denen sein eigenes Konzept von dignity beruht. So argumentiert er gegen Smiths Position, weil er die Fähigkeit des „einfachen“ Mannes anzweifelt, durch demokratische Partizipation politische Entscheidun-
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gen mitzugestalten.251 Stevens’ eigener Antrieb, Gutes für die Welt zu tun, beruht auf der Annahme, dass der Verlauf von Geschichte nicht durch das Volk bestimmt wird, sondern ausschließlich durch einzelne Persönlichkeiten. Die einzige Möglichkeit, um die Geschichte positiv zu beeinflussen und der Menschlichkeit zu dienen, besteht in Stevens’ Augen folglich darin, diesen „außergewöhnlichen“ Persönlichkeiten zu dienen bzw. diese zu unterstützen.252 Die von Stevens und Harry Smith vertretenen Konzepte von dignity sind diametral entgegengesetzt. Nach Harry Smiths Definition hat Stevens in seinem Verhalten jede Form von dignity verloren (in den Augen von Smith entspräche Stevens’ Verhalten einem willenlosen „slave“ eher als einem mündigen, selbstbestimmten Bürger), da er sein Handeln absolut fremdbestimmt ausrichtet. Stevens’ Unmündigkeit – im wahrsten Sinne des Wortes – wird ironischerweise auch in seiner Kritik an Harry Smiths Auffassung von dignity deutlich, da er fast wortwörtlich Lord Darlingtons antidemokratische Argumentation übernimmt, ohne eine eigenständige Position zu vertreten (vgl. RD 206–209). Wie problematisch das unkritische Befolgen von Anweisungen seines Dienstherren ist, zeigt sich auch, als Stevens in einer Episode von Lord Darlington den Auftrag bekommt, zwei jüdische Dienstmädchen zu entlassen: Indeed, the maids had been perfectly satisfactory employees and – I may as well say this since the Jewish issue has become so sensitive so late – every instinct opposed the idea of their dismissal. Nevertheless, my duty in this instance was quite clear, and as I saw it, there was nothing to be gained at all in irresponsibly displaying such personal doubts. It was a difficult task, but as such, one that demanded to be carried out with dignity. (RD 156; eigene Hervorhebung)
251 “Even so, even taken on their own terms, his statements were, surely, far too idealistic, far too theoretical, to deserve respect. Up to a point, no doubt, there is some truth in what he says: in a country such as ours, people may indeed have a certain duty to think about great affairs and form their opinions. But life being what it is, how can ordinary people truly be expected to have ‘strong opinions’ on all manner of things – as Mr Harry Smith rather fancifully claims the villagers here do? And not only are the expectations unrealistic, I rather doubt if they are even desirable. There is, after all, a real limit to how much ordinary people can learn and know, and to demand that each and every of them contribute ‘strong opinions’ to the great debates of the nation cannot, surely, be wise. It is, in any case, absurd that anyone should presume to define a person’s ‘dignity’ in these terms.” (RD 204) 252 “Let us establish this quite clearly: a butler’s duty is to provide good service. The fact is, such great affairs will always be beyond the understanding of those such as you and me, and those of us who wish to make our mark must realize that we best do so by concentrating on what is within our realm; that is to say, by devoting our attention to providing the best possible service to those gentlemen in whose hands the destiny of civilization truly lies.” (RD 209).
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Trotz seiner innerlichen Zweifel führt er den Auftrag aus und interpretiert das unkritische Befolgen von Anweisungen gar als positive Qualität im Sinne von dignity.253 Diese Sicht wird jedoch durch einen Konflikt mit Miss Kentons Figurenwelt infrage gestellt. Während Miss Kenton Lord Darlingtons Entscheidung und Stevens’ Verhalten als unmoralisch kritisiert (“‘… it will be wrong, a sin as ever any sin was one …’”, RD 157) und die eigene Entscheidung, trotz dieser Vorgänge in Darlington Hall zu bleiben, als Akt der Feigheit begreift (“‘It was cowardice, Mr Stevens. Simple cowardice’”, RD 161), verteidigt Stevens die Anweisungen seines Arbeitgebers und hebt dessen vermeintliche moralische Autorität hervor (“‘Whereas his lordship, I might venture, is somewhat better placed to judge what is for the best’”, RD 158).
3.4 Zur Unterminierung des positiven Bildes von Lord Darlington als moralisch integren Arbeitgeber durch explizite Weltkonflikte Die falsch verstandene Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber zeigt sich auch in dem positiven Bild, das der Erzähler von Lord Darlington zeichnet. Während Stevens fortwährend den „deep sense of moral duty“ (RD 64) seines Arbeitgebers lobt und ihn als „truly good man at heart“ (RD 64) bezeichnet, wird bereits zu Beginn des Romans vielfach angedeutet, dass die Mehrheit der Figuren in der TAW ein anderes Bild von seinem ehemaligen Arbeitgeber hat. So beklagt der Erzähler, dass „[a] great deal of nonsense has been spoken in recent years concerning his lordship“ (RD 63) und „the foolish speculations concerning his motives“ (RD 76). Bei einem Gespräch mit einem Offiziersburschen, der ihm bei einer Autopanne hilft, erwähnt Stevens, dass er in Darlington Hall arbeitet. Als sein Gegenüber ihn fragt, ob er Lord Darlington kennengelernt habe, verneint der fokalisierende Stevens dies (RD 126). Der Erzähler gibt in diesem Zusammenhang zu, dass dies nicht das erste Mal war, dass er seinen Arbeitgeber verleugnet hat, sondern dass er dies in ähnlicher Weise bereits bei Gästen seines neuen Arbeitgebers Mr Farraday getan hat. Die Lügen des fokalisierenden Stevens stehen im Widerspruch zu der Insistenz, mit welcher der Erzähler immer wieder auf seine
253 “Indeed, Mr Harry Smith’s words tonight remind me very much of the sort of misguided idealism which beset significant sections of our generation throughout the twenties and thirties. I refer to that strand of opinion in the profession which suggested that any butler with aspirations should make it his business to be forever reappraising his employer – scrutinizing the latter’s motives, analysing the latter’s motives, analysing the implications of his view. Only in this way, so the argument ran, could one be sure one’s skills were being employed to a desirable end.” (RD 209–210)
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Zeit bei Lord Darlington rekurriert und diesen und seine politischen Aktivitäten fortwährend lobt. Aus diesem Grund stellt sich für den Leser die Frage nach den Gründen für Stevens’ Lügen. Genau dieses Problem erkennt auch die Erzählinstanz, die sich gegenüber dem Adressaten erklärt. In dem Weltkonflikt zwischen Erzähler- und Adressatenwelt weist Stevens die Interpretation von sich, er habe aus Scham seinen früheren Arbeitgeber verleugnet. Stattdessen, so Stevens, sei er den Anschuldigungen gegenüber Lord Darlington müde (RD 132): “[I]t may be that you are under the impression I am somehow embarrassed or ashamed of my association with his lordship, and it is this that lies behind such conduct. […] Nothing could be less accurate than to suggest that I regret my association with such a gentleman.” (RD 132–133) Wieder kommen Zweifel daran auf, ob Stevens sich nicht doch für seinen ehemaligen Arbeitgeber schämt. Neben der Frage nach Stevens’ Gefühlen lenkt die Episode die Aufmerksamkeit des Lesers erneut auf den bestehenden Konflikt zwischen Erzähler- und anderen Figurenwelten in Bezug auf Lord Darlington.254 Warum sehen die anderen Figuren Lord Darlington so kritisch? Erst in der Mitte des Romans konkretisiert der Erzähler das Bild, das die anderen Figuren in der TAW von Lord Darlington haben. Diese sehen ihn als Unterstützer von Hitler und als Antisemit (RD 145). In einem Konflikt zwischen Erzählerwelt und Adressatenwelt versucht Stevens sein Gegenüber davon zu überzeugen, dass das Bild der Figuren in der TAW von Lord Darlington falsch ist. Er erklärt, dass Lord Darlington auch jüdische Bekanntschaften pflegte „and this fact alone should demonstrate how nonsensical is much of what was said about his lordship“ (RD 146). Dass Lord Darlington weder nobel noch moralisch unantastbar und Stevens’ positive Bewertung seines Arbeitgebers somit fragwürdig ist, wird jedoch anhand verschiedener Fakten deutlich. Die Tatsache, dass Lord Darlington zwei jüdische Dienstmädchen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit entlässt (RD 154–158) und die Zahlungen an jüdische Organisationen einstellt, lassen ihn für den Leser (wie für andere Figuren in der TAW) als Antisemit erscheinen. Dass Lord Darlington durchaus als ein Faschist betrachtet werden kann, zeigt sich daran, dass er Mitglied von Oswald Mosleys faschistischer Bewegung war (RD 146). Darüber hinaus wird seine politische Orientierung in einem Gespräch mit Stevens deutlich, in dem er die Staatsapparate in Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien lobt und die Prinzipien von Demokratie hinterfragt:
254 So schreibt Stevens: “[N]othing vexes me more these days than to hear this sort of nonsense being repeated. Let me say that Lord Darlington was a gentleman of great moral stature […]. ” (RD 132)
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“Democracy is something for a bygone era. The world’s far too complicated a place now for universal suffrage and the like. […] Look at Germany and Italy, Stevens. See what strong leadership can do if it’s allowed to act. None of this universal suffrage nonsense there. If your house is on fire, you don’t call the household into the drawing room and debate the various options for escape for an hour, do you? It may have been all very well once, but the world’s a complicated place now. The man in the street can’t be expected to know enough about politics, economics, world commerce, and what you have. And why should he?” (RD 208–209)
Besonders klar wird die Diskrepanz zwischen dem positiven Bild, das Stevens von Lord Darlington hat, und dem kritischen der anderen Figuren, als Lord Darlington ein geheimes Treffen zwischen dem britischen Premierminister, dem britischen Außenminister und dem deutschen Botschafter von Ribbentrop in seinem Haus arrangiert. An diesem Abend kritisiert Mr Cardinal gegenüber Stevens das von Lord Darlington arrangierte Treffen. Aus Sicht von Stevens’ Gesprächspartner wird der naive Lord Darlington als verlängerter Arm der Nazis missbraucht. Mr Cardinal zeichnet ein durchaus differenziertes Bild von Lord Darlington, wenn er zwischen dessen noblen Absichten und den tatsächlichen Konsequenzen seiner Handlungen unterscheidet: “Over the last few years, his lordship has probably been the most useful pawn Herr Hitler has had in this country for his propaganda tricks. All the better because he is sincere and honourable and doesn’t recognize the true nature of what he is doing. During the last three years alone, his lordship has been crucially instrumental in establishing links between Berlin and over sixty of the most influential citizens of this country.” (RD 235)
Mr Cardinal möchte Stevens auf die Brisanz des Treffens aufmerksam machen und weist auf Lord Darlingtons Pläne hin, sogar ein Treffen zwischen Hitler und dem englischen Königshaus zu arrangieren (vgl. RD 235–236). Stevens dagegen verteidigt stoisch seinen Arbeitgeber gegen diese Kritik: “‘I’m sorry, sir, but I cannot see that his lordship is doing anything other than that which is highest and noblest.’” (RD 236) Während Stevens die Verteidigung von Lord Darlington als Beispiel von dignity und als „triumph“ (RD 238) begreift – offensichtlich erkennt Stevens hier Parallelen zu dem Verhalten seines Vaters gegenüber den Fahrgästen, die dessen Arbeitgeber beleidigten –, scheint die positive Bewertung von Lord Darlingtons als auch des eigenen Verhaltens fragwürdig. Aufgrund seiner falsch verstanden Loyalität ist er gegenüber den Fehlern seines Arbeitgebers blind und verwehrt sich daher gegen jedwede Kritik an Lord Darlington. Mr Cardinal dagegen fungiert als moralischer Gegenentwurf zu Stevens. Obwohl er selbst in einer emotionalen Zwickmühle steckt, da Lord Darlington wie ein zweiter Vater für ihn ist (vgl. RD 232), hinterfragt er dessen Handlungen offen, während Stevens so blind wie naiv auf die Fähigkeiten und den moralischen Kompass seines Arbeitgebers vertraut.
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Die bittere Ironie, die sich für den Leser aufgrund der Hierarchisierung der Weltkonflikte ergibt, ist, dass Lord Darlington kein moralisch integrer Arbeitgeber ist. Dies bedeutet, dass Stevens nach eigener Definition nie den Status eines great butler erreichen konnte. Retrospektiv bedeutet das, dass er seinen Vater beim Sterben hätte beistehen und er eine Beziehung mit Miss Kenton hätte eingehen können. Auch die Verteidigung seines Arbeitgebers gegenüber den Anschuldigungen von Mr Cardinal, die er als Zeichen von dignity sieht, stellt sich daher als falsch heraus. Stevens’ Verlangen, dignity zu demonstrieren, macht ihn gegenüber der Realität blind.
3.5 Zusammenspiel der Weltkonflikte als Indikator für Stevens’ Verdrängungsprozesse Neben der Aufmerksamkeitslenkung und der Offenlegung der fragwürdigen Sichtweise von Stevens in Bezug auf sein Konzept von dignity und Lord Darlington erlaubt eine genauere Untersuchung der Relationen zwischen den verschiedenen Weltkonflikten weitere Einblicke in die Psyche des Erzählers. Die folgende Grafik stellt alle Weltkonflikte des Romans dar. Die horizontale Achse zeigt die Seitenzahlen und die verschiedenen Kapitel, während auf der vertikalen Achse die verschiedenen Zeitebenen abgebildet sind. Die oberste Ebene stellt die Erzählebene dar – welche das intratextuelle Kontextmodell bildet. Die Handlung findet sich auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen (die zwei verschiedene Situationsmodelle bilden): zum einen auf der Ebene der Reise (bei der die Erlebnisse des jeweiligen Tages im Jahre 1956 geschildert werden) sowie zum anderen auf derjenigen, welche die Geschehnisse auf Darlington Hall in den 1920er und 1930er Jahren umfasst. In dieses Koordinatensystem sind außerdem die Weltkonflikte eingezeichnet, unterteilt danach, wann sie auftauchen, auf welcher Ebene sie auftauchen und welchen Inhalt sie haben.255
255 Weltkonflikte in Bezug auf dignity umfassen alle Weltkonflikte, die explizit auf das Konzept rekurrieren oder die in Stevens’ Verhalten keine professionellen, sondern private Ursachen sehen.
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Abb. 10: Weltkonflikte in The Remains of the Day
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Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Erzähler- und Fokalisiererwelt im Verlauf des Romans fällt auf, dass es – im Gegensatz zu David Copperfield – keine Konflikte zwischen diesen gibt. Niemals korrigiert oder revidiert der Erzähler die Weltsicht seines früheren Ichs. Dies verdeutlicht Stevens’ fehlende Entwicklung, da er offensichtlich dieselbe Perspektive auf die Geschehnisse hat wie die Fokalisierungsinstanz (und dies, obwohl z. T. über 20 Jahre zwischen den Zeitebenen liegen). Stevens ist in der Vergangenheit gefangen, kann sich nicht den neuen Realitäten stellen und ist daher unfähig, sein eigenes Handeln kritisch zu reflektieren. Stevens’ Unfähigkeit, sich veränderten Realitäten anzupassen, zeigt sich etwa daran, dass die Grundlage für Stevens’ Konzept des great butler auf die Hayes Society zurückgeht, die jedoch schon 1932 oder 1933 aufgelöst wurde. Auch die Tatsache, dass er Miss Benn weiterhin mit ihrem Mädchennamen Kenton anspricht, verweist auf seine Probleme, sich mit neuen, für ihn unbequemen Tatsachen abzufinden. Besonders deutlich manifestiert sich das systematische Ausblenden von unbequemen Wahrheiten zu Beginn des Romans in einem Weltkonflikt zwischen der Fokalisiererwelt und Miss Kentons Figurenwelt in Bezug auf die Fähigkeiten von Stevens’ Vater (RD 57–62). Während Miss Kenton Stevens auf verschiedene Fehler seines Vaters aufmerksam macht und diese als Signal für dessen schwindende Kräfte interpretiert, ignoriert die Fokalisierungsinstanz diese zunächst oder redet sie klein (“But I soon reminded myself that such trivial slips are liable to befall anyone from time to time, and my irritation soon turned to Miss Kenton for attempting such an unwarranted fuss over the incident”, RD 58). Stevens betrachtet Miss Kentons Darstellung als „foolish“ (RD 62), da er seinen Vater immer noch als „a figure of unusual distinction“ (RD 56) betrachtet und seine ausgezeichneten Fähigkeiten („his house knowledge is perfect“, RD 57) lobt. Die zahlreichen Fehler des Vaters, die Miss Kenton aufdeckt, blendet die Fokalisierungsinstanz systematisch aus, um das positive Bild des Vaters als great butler aufrechtzuerhalten. Wenige Seiten später schildert der Erzähler den Zusammenbruch des Vaters, so dass Stevens’ Fokalisiererwelt endgültig als falsch entlarvt wird. Das Verdrängen unangenehmer Wahrheiten und veränderter Umstände korrespondiert mit dem Bestreben des Erzählers, die Deutungshoheit über sein Narrativ des great butler zu behalten und widersprechende Standpunkte zu diskreditieren. Dieses zeigt sich vor allem darin, dass der Erzähler Weltkonflikte von der Handlungsebene auf die Erzählebene verlagert. So werden die Weltkonflikte der Fokalisierungsinstanz mit Mr Farraday bzgl. der Motivation für die Reise in „Prologue: July 1956“,256 mit Miss Kenton über die Gründe, warum er Liebes
256 Vgl. dazu den Konflikt zwischen Erzählerwelt und Adressatenwelt auf den Seiten 4–10.
3 Ironische Unzuverlässigkeit in Kazuo Ishiguros The Remains of the Day
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romane liest (RD 176)257, oder mit Mr. Smith bzgl. der Bedeutung von dignity im Kapitel „Day Three – Evening“258 auf die Erzählebene verlagert und in einen Konflikt zwischen Erzähler- und Adressatenwelt verwandelt. Dabei versucht der Erzähler, seinen Adressaten von der Richtigkeit seiner Sicht auf die Dinge zu überzeugen und die anderen Sichtweisen zu relativieren. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass der fokalisierende Stevens in manchen Fällen auf der Handlungsebene Konflikten mit anderen Figuren ausweicht, indem er diese anlügt (wie im Falle des Stallburschen, indem er angibt, nie für Lord Darlington gearbeitet zu haben) oder das Gespräch beendet (wie bei dem mit Miss Kenton in Bezug auf die Liebesromane, bei dem er sie des Raumes verweist). Die Argumente für die eigene Position werden lediglich gegenüber dem (stummen) Adressaten hervorgebracht, was impliziert, dass Stevens sich der Schwäche der eigenen Argumente durchaus bewusst zu sein scheint. Darüber hinaus illustrieren die Konflikte mit der Adressatenwelt Stevens’ Bewusstsein darüber, dass sein Verhalten auch anders gedeutet und Lord Darlington anders bewertet werden könnte.259 Für den Leser entsteht durch die Vielzahl dieser Weltkonflikte der Eindruck, dass der Erzähler sich konstant (vor sich) und seinem Adressaten rechtfertigen muss (vgl. Nünning 1995: 261). Dass Stevens sich der Probleme und Widersprüche seiner Narration im Laufe seiner Reise bewusster wird, ist an der Zunahme an Konflikten zwischen Erzähler- und Adressatenwelt abzulesen. Je weiter sich Stevens von Darlington Hall entfernt, desto mehr Menschen er auf seiner Reise begegnet, umso stärker werden seine Sichtweisen durch andere Figuren herausgefordert. Dieses – so verdeutlichen die Konflikte – bringt den Erzähler in eine immer stärkere Erklärungsnot und in einen Legitimationszwang. Stevens’ Versuch, die Kontrolle über das Narrativ des great butler zu behalten, scheitert jedoch. Dies wird deutlich, wenn die Weltkonflikte in verschiedenen Kapiteln miteinander verglichen werden. In seinem Bestreben, seine eigene Weltsicht zu legitimieren und mit Beispielen zu unterlegen, verliert er offensichtlich den Überblick. Besonders seine Ausführungen zu dignity und Lord Darlington widersprechen sich in den verschiedenen Teilen seiner Aufzeichnungen.
257 Vgl. dazu den Konflikt zwischen Erzählerwelt und Adressatenwelt (RD 177–178). 258 Vgl. dazu den Konflikt zwischen Erzählerwelt und Adressatenwelt (RD 203–211). 259 Das Verhalten der Erzählinstanz lässt sich im Kontext des Konzepts von dignity erläutern, bei dem (Selbst-)Kontrolle von zentraler Bedeutung ist (RD 44). Die Bedeutung, die Kontrolle für Stevens’ Leben (und damit auch über die Narration seines Lebens) hat, wird auch durch Miss Kentons Bemerkung betont: “It occurs to me that you are a well-contended man, Mr Stevens. Here you are, after all, at the top of your profession, every aspect of your domain well under control. I really cannot imagine what more you might wish for in life.” (RD 182)
196
VI Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell ironischer Unzuverlässigkeit
Als der Erzähler beispielsweise den Adressaten von seinem Konzept der dignity überzeugen will und argumentiert, dass der gewöhnliche Bürger („ordinary man“) – repräsentiert von Stevens selbst – nicht in der Lage sei, sich eine eigenständige Meinung über komplexe politische Fragen zu bilden, weshalb dignity nur von Vertretern der aristokratischen Klasse erlangt werden könne, entlarvt er Lord Darlington unfreiwillig als Faschist (vgl. RD 204). Stevens bezieht sich auf ein Gespräch mit Lord Darlington, bei dem der Arbeitgeber ihn vor seinen Freunden über außenpolitische Fragen ausfragt und Stevens’ seine Unwissenheit demonstriert. Zwar kann Stevens mit der Episode verdeutlichen, dass er (wie vermutlich viele andere Figuren in der TAW auch) keine Kenntnisse über außenpolitisches Wissen hat, auf der anderen Seite übersieht Stevens, dass Lord Darlington ihn vorführt, um seinen Freunden zu zeigen, dass die Demokratie aufgrund der Komplexität der Welt eine überkommene Staatsform sei und die faschistischen Systeme in Deutschland und Italien dieser überlegen seien (vgl. RD 208–209). Damit weist er Lord Darlington (unfreiwillig) als Faschisten aus, weshalb er das eigene Bild von Lord Darlington als moralisch integren Arbeitgeber untergräbt, der „the progress of humanity“ (RD 120) fördern möchte. Ein weiteres Beispiel für Widersprüche in Stevens’ Positionen findet sich, als Stevens am zweiten Tag („Day Two – Afternoon: Mortimer’s Pond, Dorset“) davon berichtet, wie er seinen Arbeitgeber Lord Darlington gegenüber dem Offiziersburschen und Mr Farradays Freunden verleugnet (RD 126, 130). In einem späteren Eintrag stellt der Erzähler Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber jedoch als zentrale Tugend eines great butler dar (RD 210). Offensichtlich ist dem Erzähler nicht bewusst, dass er mit seinem Verhalten keine Loyalität ausdrückt und insofern – gemessen an den eigenen Standards – kein great butler sein kann, da er gegen den eigenen Verhaltenskodex verstößt (vgl. Birke 2007: 109). Stevens’ Lüge gegenüber Mr Farradays Freunden lässt darüber hinaus seinen gegenwärtigen Arbeitgeber – wie dieser selbst anmerkt – „pretty much like a fool“ (RD 130) aussehen. Insofern zeigt Stevens – scheinbar unbewusst – mit seinen Beispielen, in denen er selbst nicht den eigenen Standards genügt, dass er kein great butler ist. Auch die Tatsache, dass Stevens fast den gesamten Roman über seine Gefühle zu Miss Kenton abstreitet, gleichwohl er aber sein ruhiges Verhalten als dignity verstanden haben will, nachdem er von Miss Kentons Verlobung erfahren hat, erscheint unvereinbar (s. o.). All diese Widersprüche in Stevens’ Aufzeichnungen machen deutlich, dass er häufig seine Positionen und Werte wechselt, um den Adressaten von seiner Sichtweise zu überzeugen. Diese Widersprüche weisen auf die Brüche in der Fassade hin, die Stevens aufrechterhalten möchte. Der Scherbenhaufen seines Lebens, vor dem er steht, wird dem Erzähler erst im letzten Kapitel („Day Sixth – Evening: Weymouth“) bewusst, welches eine Zäsur darstellt. Hoffte Stevens zuvor, Miss Kenton zurückzugewinnen und seine
4 Fazit
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Fehler damit revidieren zu können, macht diese ihm klar, dass beide das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen können. Die emotionale Wucht dieser Erkenntnis wird auch dadurch deutlich – und hier zeigt sich die Bedeutung des intratextuellen Kontextmodells –, dass Stevens am fünften Tag der Reise keinen Eintrag macht und erst am sechsten Tag von seinem Treffen mit Miss Kenton erzählt. Hierdurch wird veranschaulicht, dass auch Leerstellen Rückschlüsse über eine Erzählerfigur und damit über die Rekonstruktion des mentalen Figurenmodells zulassen. Als Miss Kenton ihm offenbart, dass „‚[a]fter all, there’s no turning back the clock now‘“ (RD 251), gibt der Erzähler zum ersten Mal direkte Einblicke in seine Gefühle (“Indeed – why should I not admit it? – at any moment, my heart was breaking”, RD 252). Mit dem offenen Eingeständnis der Liebe gegenüber Miss Kenton geht auch die Erkenntnis einher, dass er sich in Lord Darlington getäuscht hat. Im Gespräch mit dem Fremden bricht der fokalisierende Stevens am Ende des Romans schließlich zusammen und gibt zu: “Lord Darlington wasn’t a bad man. He wasn’t a bad man at all. And at least he had the privilege of being able to say at the end of his life that he made his own mistakes. His lordship was a courageous man. He chose a certain path in life, it proved to be a misguided one, but there, he chose it, he can say that at least. As for myself, I cannot even claim that. You see, I trusted. I trusted his lordship’s wisdom. All those years I served him, I trusted I was doing something worthwhile. I can’t even say I made my own mistakes. Really – one has to ask oneself – what dignity is there in that?” (RD 255)
Die Schlüsse, die Stevens aus seiner Erkenntnis zieht, erscheinen jedoch fragwürdig (vgl. Phelan 2004: 64). Stevens erkennt, dass er nach den eigenen Maßstäben kein great butler war und dass die Entscheidung, seinen Vater im Sterben alleine zu lassen, genauso falsch war wie seine Zurückhaltung gegenüber Miss Kenton. Während sein Gesprächspartner ihn aufmuntern will und ihm den Ratschlag gibt, nach vorne zu schauen, missversteht Stevens diesen Ratschlag offensichtlich. Statt sein Leben zu verändern, macht er dort weiter, wo er aufgehört hat. Er überlegt sich, wie er ein besserer Butler für seinen Arbeitgeber werden kann (vgl. Phelan 2004: 64).
4 Fazit Ziel dieses Kapitels war unter anderem die Skizzierung eines rezeptionstheoretischen Modells ironischer Unzuverlässigkeit: Dazu wurden die in Kapitel IV skizzierten Schritte mithilfe der in Kapitel V vorgestellten kognitiven Rezeptionstheorie erläutert. Nach dem hier umrissenen kognitiven Erklärungsmodell ironischer Unzuverlässigkeit muss dem Leser erstens bewusst sein, dass das Geschehen durch eine subjektive Sicht (entweder die einer Erzählerfigur und/oder die einer
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VI Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell ironischer Unzuverlässigkeit
Fokalisierungsinstanz) gefiltert ist, d. h., der Leser muss eine Erzähler- und/oder eine Fokalisiererwelt identifizieren. Dazu bildet der Leser Metarepräsentationen. Zweitens beginnt der Rezipient an der Darstellung oder Wahrnehmung des kognitiven Zentrums zu zweifeln, wenn er explizite oder implizite Weltkonflikte identifiziert. Explizite Weltkonflikte sind explizite textuelle Widersprüche, die der Leser der Darstellung oder Wahrnehmung des kognitiven Zentrums zuschreibt und nicht einem Fehler des empirischen Autors. Implizite Weltkonflikte hingegen erkennt der Leser aufgrund von mind-reading oder durch Abgleich der Darstellung des kognitiven Zentrums vom Geschehen in der TAW und dem eigenen mentalen Modell der TAW. Das Hierarchisieren von Welten – ein dritter zentraler Aspekt der Rezeption bei ironisch-unzuverlässigen Werken – kann mit sourcemonitoring erklärt werden. Der Leser bildet mentale Modelle der Figuren in der TAW und weist diesen aufgrund verschiedener Parameter einen unterschiedlichen Grad an Autorität zu. Umso mehr Autorität er einer Figur zuschreibt, umso mehr wird der Leser den Aussagen und Bewertungen dieser vertrauen. Bei ironischer Unzuverlässigkeit werden die Weltentwürfe anderer Figuren als plausibler eingestuft als die des kognitiven Zentrums. Viertens muss der Leser Erklärungen finden, warum die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz das Geschehen fragwürdig darstellt oder wahrnimmt. Dies kann durch Hinzuziehen von Wissen oder durch textuelle Daten erfolgen. Diese verschiedenen Aspekte der Rezeption wurden anhand von Dickens’ David Copperfield und Ishiguros The Remains of the Day veranschaulicht. Es wurde gezeigt, wie das semantische Beschreibungs- und das kognitive Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit für die Analyse ironisch-unzuverlässiger Werke nutzbar gemacht werden können. Anhand von David Copperfield wurde zunächst das Erkennen von impliziten Weltkonflikten, das Hierarchisieren und das Erklären der Diskrepanz zwischen den verschiedenen Welten dargelegt. Im Weiteren wurde das Auftauchen von Weltkonflikten im Roman untersucht. Dabei wurde gezeigt, wie ironisch-unzuverlässige Fokalisierung dazu beiträgt, David in seinen unterschiedlichen Lebensphasen zu charakterisieren. Es wurde festgestellt, dass Weltkonflikte in Plot-irrelevanten Episoden in den Kapiteln auftauchen, die Davids Kindheit und Jugend umfassen. Die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Geschehen in der TAW und der Wahrnehmung Davids kann der Leser auf die Naivität und Unschuld des Kindes zurückführen. Gleichzeitig konstruiert der Leser ein mentales Modell einer Gesellschaft, welche die Naivität des jungen Kindes von allen Seiten ausnutzt. In den Kapiteln von Davids Adoleszenz und Erwachsenenalter dagegen finden sich Weltkonflikte in für den Plot relevanten Episoden und betreffen primär Davids idealisierte Wahrnehmung von seinem besten Freund Steerforth und seiner späteren Ehefrau Dora. Im Gegensatz zu seiner fragwürdigen Bewertung als Kind hat seine fehlerhafte Wahrnehmung
4 Fazit
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jedoch negative Auswirkungen auf das Leben anderer Figuren. Obwohl David durch sein Verhalten zumindest mittelbar verantwortlich für den Tod von Steerforth und Ham und die Emigration der Peggottys nach Australien ist, reflektiert die Erzählerfigur nicht die eigene Schuld. Dora leidet in der Ehe mit David, da ihr bewusst ist, dass er lediglich ein idealisiertes Bild von ihr hat, welches sie nicht erreichen kann. Auch sie stirbt schließlich nach einer Krankheit. Diese Aspekte werfen die Frage auf, ob der Leser den Erzähler nicht auch als ironisch-unzuverlässig betrachten kann, da sich dieser als zu positiv darstellt, um weiterhin als Held seiner eigenen Geschichte fungieren zu können. Auch wenn diese Rezeption – wie gezeigt wurde – durchaus möglich ist, spricht einiges dagegen. So wurde gezeigt, dass es keine Weltkonflikte bzgl. Davids vermeintlicher Schuld an den Schicksalen der anderen Figuren gibt. Vielmehr sprechen ihn andere Figuren von aller Verantwortung frei. Dies kann als Indiz dafür angesehen werden, dass Dickens den Erzähler nicht als ironisch-unzuverlässig kreieren wollte. Auch wird der Leser Davids Verhalten nicht als ursächlich für ihren Tod ansehen. Vielmehr wird ihr Tod im extratextuellen Kontextmodell als dramaturgische Entscheidung des Autors Charles Dickens interpretiert, damit David das viktorianische Idealbild einer Frau – Agnes – am Ende des Romans heiraten kann. Im Gegensatz zu David Copperfield findet sich in Ishiguros The Remains of the Day sowohl ironisch-unzuverlässige Fokalisierung und ironisch-unzuverlässiges Erzählen. Anders als David Copperfield, der sich von seinem jüngeren Ich distanziert, hat Stevens seine fragwürdigen Standpunkte über Jahrzehnte beibehalten. Stevens glaubt ein great butler zu sein – ein Butler, der in seinem Verhalten dignity ausstrahlt und der einem moralisch-integren Arbeitgeber gedient hat, welcher sich um die Menschheit verdient gemacht hat. Der Roman führt dem Leser durch zahlreiche Weltkonflikte vor, dass Stevens’ Konzept von dignity höchst negativ ist. Zum einen hat Stevens’ Befolgen seines Verhaltenskodex von dignity zur Folge, dass er sich nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst verleugnet, so dass er gegenüber den eigenen Gefühlen blind geworden zu sein scheint. So kann oder will Stevens sich über lange Zeit seine Liebe zu Miss Kenton nicht eingestehen. Auf der anderen Seite werden dem Leser durch Weltkonflikte die faschistoiden Prämissen von Stevens Konzept der dignity vor Augen geführt. Auch Stevens’ positives Bild seines ehemaligen Arbeitgebers Lord Darlington wird durch zahlreiche Weltkonflikte infrage gestellt. Statt als ein nobler Arbeitgeber entpuppt dieser sich als Antisemit und Unterstützer Hitlers. Eine Analyse des komplexen Zusammenspiels der verschiedenen Weltkonflikte hat darüber hinaus gezeigt, wie Stevens bestimmte Wahrheiten zu verdrängen versucht. Bei seinem Versuch, die Deutungshoheit über seine Erzählung zu behalten, verstrickt er sich im Laufe des Romans zusehends in Widersprüche, bis auch er am Ende einsehen muss, dass er in seinem Leben aufgrund seines Ideals des great butler die falschen Entscheidungen getroffen hat.
VII Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells ambiger Unzuverlässigkeit 1 Zur Unmöglichkeit der Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei ambiger Unzuverlässigkeit Im Falle von ambiger Unzuverlässigkeit kann der Rezipient kein kohärentes Situationsmodell, d. h. kein kohärentes mentales Modell des fiktionalen Universums konstruieren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass er nicht sicher sein kann, ob den Darstellungen oder Bewertungen einer Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz zu trauen ist oder nicht. Für ambige Unzuverlässigkeit müssen daher folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss der Leser erkennen, dass das Geschehen aus der Sicht eines kognitiven Zentrums gefiltert ist. Zweitens kann das Erkennen von impliziten Weltkonflikten problematisch sein, d. h., der Leser kann nicht eindeutig entscheiden, ob implizite Weltkonflikte vorliegen oder nicht. Drittens kann der Rezipient häufig die erkannten Weltkonflikte nicht hierarchisieren. Aus diesen Gründen ist es dem Leser viertens unmöglich, ein kohärentes Situationsmodell und ein kohärentes mentales Modell der Erzählerfigur und/oder der Fokalisierungsinstanz zu bilden.
1.1 Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt Wie bereits bei ironischer Unzuverlässigkeit stellt das Erkennen einer Erzähleroder Fokalisiererwelt eine Voraussetzung dar, die Darstellung oder Wahrnehmung des kognitiven Zentrums zu hinterfragen. Wie bei ironischer Unzuverlässigkeit stellt das Identifizieren und Unterscheiden von Welten bei ambiger Unzuverlässigkeit den Leser vor keinerlei Probleme.
1.2 Erkennen von expliziten und impliziten Weltkonflikten Probleme können bei ambiger Unzuverlässigkeit dagegen bereits häufig beim Erkennen von Weltkonflikten erwachsen. In der Regel findet sich bei ambiger Unzuverlässigkeit eine Mischung aus expliziten und implizierten Weltkonflikten. Bei expliziten Weltkonflikten in ambig-unzuverlässigen Werken kann es Probleme geben, zu entscheiden, ob ein textueller Widerspruch als Weltkonflikt begriffen werden kann oder nicht, d. h., ob ein textueller Widerspruch intentional vom Autor gesetzt wurde oder nicht. Ein Beispiel für die Problematik wird bei einer Debatte https://doi.org/10.1515/9783110557619-008
1 Zur Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei ambiger Unzuverlässigkeit
201
um die (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers aus Nabokovs Lolita (1955) deutlich. So gibt es in dem Roman einen Widerspruch zwischen dem Todeszeitpunkt des Erzählers Humbert Humbert (16. November 1952) und seiner eigenen Behauptung, er habe vor 65 Tagen mit der Niederschrift seiner Erzählung im Gefängnis begonnen (folglich am 22. September). Dies widerspricht allerdings seiner Schilderung, wonach er am 25. September noch in Freiheit war und an diesem Tag Dolores besuchen und Quilty töten konnte (vgl. Moore 2001: 71). Ob dieser Widerspruch als expliziter Weltkonflikt begriffen werden kann, ist umstritten: Critics have attributed this important factual contradiction to two possible principles: We can convict an artfully unreliable narrator (Humbert Humbert) whose ego still throbs with the certainty that he manipulates time along with the sympathies of his readers as he works against the clock to tie up his narrative threads: thus, he neatly, but implausibly, settles the destinies of the three main characters with a reconciliatory visit to Dolores and revenge on Quilty. Or we can convict an author (Vladimir Nabokov) who is defiantly unwilling to be enslaved to dates (like the early Dickens), or prone to errors with them. (Moore 2001: 71–72)
Solche oder ähnliche Debatten finden sich häufig bei ambig-unzuverlässigen Werken (vgl. dazu auch die Analyse von The Good Soldier). Festzuhalten ist, dass Leser, die einen Erzähler als ironisch-unzuverlässig erachten (aufgrund der Hierarchisierungen bei expliziten Weltkonflikten), solche textuellen Diskrepanzen als explizite Weltkonflikte und daher als weitere Belege dafür begreifen. Leser, die dagegen einen Erzähler als zuverlässig bewerten, interpretieren solche Widersprüche häufig als unabsichtliche Fehler des Autors. Schwierigkeiten bei ambig-unzuverlässigen Werken kann auch das Erkennen impliziter Weltkonflikte bereiten. In vielen Fällen gib es Ambiguitäten bzgl. des Verhaltens der Figuren, so dass der Leser mit Mind-reading-Prozessen nicht eindeutig ihre mentalen Zustände bestimmen kann. Am Ende von James’ The Turn of the Screw (1898) beispielsweise taucht nach Darstellung der Erzählerin der Geist von Peter Quint auf, als sie mit ihrem Schutzbefohlenen Miles allein in einem Raum weilt. Die Erzählerin reißt den Jungen an sich. Der Junge möchte daraufhin wissen, ob „er“ es sei. Auf Nachfrage der Erzählerin, wen er meine, antwortet der Junge: “‘Peter Quint―you devil!’” (James 1999 [1898]: 85) Als die Erzählerin auf den Geist zeigt, bricht der Junge zusammen und stirbt in den Armen der Erzählerin. Im Kontext der Novelle kann der Leser die Reaktion des Jungen auf zwei verschiedene Arten deuten (vgl. Rimmon-Kenan 1977: 164–165). Entweder sieht der Junge den Geist nicht, da es keine Geister in der TAW gibt, und er nennt die Erzählerin „you devil“. In einem solchen Fall gäbe es einen Konflikt zwischen der Figurenwelt von Miles und der Erzählerwelt bzgl. der Existenz von Geistern. Genauso gut kann Miles Verhalten aber auch derart interpretiert werden, dass er den Geist sieht und Peter Quint mit „you devil“ adressiert, da es tatsächlich Geister in der TAW gibt.
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VII Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell ambiger Unzuverlässigkeit
Nach dieser Lesart gäbe es folglich keinen Konflikt zwischen der Erzählerwelt und Miles’ Figurenwelt.260 Auch in Bezug auf implizite Weltkonflikte mit der TAW ergeben sich oftmals Schwierigkeiten. So stellt sich bei der Rezeption von Nabokovs Pale Fire (1962) beispielsweise die Frage nach der Konstitution der TAW. Zwar kann der Leser annehmen, dass die TAW sich weitgehend mit der Erfahrungswelt des Lesers deckt (so gibt es die USA etc.). Offen bleibt jedoch, ob das Land Zembla, von dem der homodiegetische Erzähler behauptet, König zu sein, in der TAW tatsächlich existiert oder ob es ausschließlich in der Erzählerwelt existiert (vgl. McHale 1987: 18–19). Die Interpretation des Lesers, ob der Leser einen Weltkonflikt zwischen Erzählerwelt und TAW erkennt, hängt folglich davon ab, inwieweit er eine Nähe zwischen TAW und der eigenen AW annimmt (vgl. dazu auch die Analyse von American Psycho).
1.3 Hierarchisieren von Weltkonflikten Sind bei ambig-unzuverlässigen Werken Weltkonflikte erkannt, können weitere Schwierigkeiten für die Konstruktion des Geschehens daraus erwachsen, dass die Weltkonflikte auf verschiedene Arten zu hierarchisieren sind. Die eindeutige Hierarchisierung von Welten wird häufig durch das Fehlen einer shared actual world unmöglich gemacht. In James’ The Turn of the Screw gibt es beispielsweise vier zentrale Figuren: Während für die Erzählerin die Geister Fakt in der TAW sind, glaubt Mrs Grose nicht an die Existenz von übernatürlichen Erscheinungen. Bei Miles und seiner Schwester bleibt – wie oben skizziert – offen, ob sie Geister als Teil der TAW begreifen oder nicht, da ihr Verhalten mehrdeutig ist (vgl. Àlvarez Amorós 1991). In Shrivers We Need to Talk about Kevin (2003) steht die Position der Erzählerin, wonach ihr Sohn von Geburt an böse ist, im Kontrast zu der ihres Mannes Franklin, der an das Gute in seinem Sohn glaubt und vielmehr die Kaltherzigkeit seiner Frau gegenüber dem gemeinsamen Kind kritisiert. Aufgrund dieser ausgeglichenen Verhältnisse kann der Leser keine shared actual world heranziehen, um zu bewerten, wessen Weltsicht plausibler ist. Ein weiteres Hindernis, Weltkonflikte eindeutig zu hierarchisieren, hängt damit zusammen, dass der Leser häufig nicht entscheiden kann, welche Figur vertrauenswürdiger ist. Ist beispielsweise die einfältige Mrs Grose wirklich glaubwürdiger als die hysterische Erzählerin in The Turn of the Screw? Kann der Leser der
260 Zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des Endes von The Turn of the Screw siehe Rimmon-Kenan (1977: 165).
1 Zur Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei ambiger Unzuverlässigkeit
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rational beobachtenden, aber emotionslosen Erzählerin mehr glauben als dem empathischen, aber naiven Ehemann Franklin in We Need to Talk about Kevin?
1.4 Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Welten Aufgrund der Unmöglichkeit, Weltkonflikte eindeutig bestimmen und hierarchisieren zu können, ist es auch nicht möglich, eindeutige Erklärungen für die Darstellungen von Erzählerfiguren oder die Wahrnehmung von Fokalisierungsinstanzen zu finden. In The Turn of the Screw lässt sich die mögliche verzerrte Sicht der Erzählerin auf ihre unterdrückte Sexualität – folgt man psychoanalytischen Ansätzen – zurückführen (vgl. Rimmon-Kenan 1977). Hält man dagegen die Erzählerin für glaubwürdig, so könnte Mrs Groses Ignoranz gegenüber der Gefahr durch die Geister damit erklärt werden, dass sie aufgrund ihrer Einfältigkeit unfähig ist, Übernatürliches wahrzunehmen. In anderen Fällen besteht die Schwierigkeit darin, zu beurteilen, ob dem Erzähler grundsätzlich zu glauben ist oder nicht. In Nabokovs Lolita treten im Laufe der Zeit immer mehr Konflikte zwischen Erzähler- und Fokalisiererwelt auf, da Humbert Humbert sich zunehmend von seinen früheren Taten distanziert und sein Handeln (scheinbar) selbstkritisch reflektiert. Für den Leser stellt sich jedoch die Frage, ob er dem Erzähler diese Läuterung abnehmen kann. Gerade das intratextuelle Kontextmodell spielt bei der Beurteilung eine Rolle. Humbert Humbert ist zum Zeitpunkt der Niederschrift todkrank, wartet in der Gefängniszelle auf seinen Prozess und richtet seine Schrift an die Jury. Aufgrund dieses Kontexts (und Humberts früheren Taten) halten manche Leser die geschilderte Wandlung des Erzählers für unzuverlässig, während andere den Worten des Erzählers glauben: “Thus it can be argued that […] the same text may allow for two irreconcilable constructions of H. H.: the converted criminal turned artist or the rhetorically gifted pervert who merely fakes a conversion.” (Grabes 1996: 23)
1.5 Ausblick Als Beispiel für ambige Unzuverlässigkeit dienen zwei Werke, deren Erzählerfiguren mit Blick auf ihre Glaubwürdigkeit bis heute kontrovers beurteilt werden: Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) und Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991). Die Schwierigkeit, die (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerfigur in Ford Madox Fords The Good Soldier zu bestimmen, resultiert aus der Unmöglichkeit, die zahlreichen expliziten Weltkonflikte eindeutig zu hierarchisieren. Im Gegensatz dazu ergibt sich die ambige Unzuverlässigkeit in Bret Easton Ellis’ American Psycho
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primär aus der Unsicherheit des Rezipienten in Hinblick auf die Frage, ob es implizite Weltkonflikte gibt, welche die Darstellung des Erzählers in Zweifel ziehen. Anhand des in dieser Arbeit entwickelten Beschreibungs- und Erklärungsmodells kann darüber hinaus nachvollzogen werden, wieso es unterschiedliche Bewertungen bzgl. der Unzuverlässigkeit der Erzählerfiguren in beiden Werken gibt.
2 Ambige Unzuverlässigkeit in Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) In Ford Madox Fords The Good Soldier (GS) – „one of the most puzzling works of modern fiction“ (Goodheart 1995 [1986]: 375) – schreibt John Dowell die tragische Geschichte des befreundeten Ehepaares Edward und Leonora Ashburnham nieder, eine Geschichte, die eng mit Dowells eigener verwoben ist. Anlass für Dowells Unterfangen ist ein Gespräch mit Leonora kurz nach dem Selbstmord ihres Mannes. Dabei erfährt Dowell, dass Edward und seine eigene zuvor verstorbene Frau Florence jahrelang eine Affäre hatten und dass Letztere nicht an einem Herzfehler starb, wie er bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte, sondern dass sie sich vergiftete. Er erfährt auch, dass Edward sich in die eigene Ziehtochter Nancy verliebt hatte und sich aus Liebe zu dieser umbrachte. Überrascht und erschüttert von diesen Nachrichten verwirft Dowell sämtliche Annahmen über die glücklichen Tage mit seiner Ehefrau und den Ashburnhams und versucht im Prozess des Erzählens, die Geschehnisse und die beteiligten Figuren zu verstehen und zu bewerten. Im Unterschied zu David Copperfield und The Remains of the Day setzt Dowell Erzählen damit nicht als Mittel ein, um eine eigene Identität zu konstruieren. Stattdessen möchte er durch den Akt der Narration Erkenntnisse über das Geschehen und die Rolle der verschiedenen Figuren darin gewinnen. Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Werken existiert die Geschichte nicht bereits im Kopf des Erzählers, sondern entsteht erst allmählich im Prozess des Erzählens: “And so Dowell tells his story as a puzzled man thinks – not in chronological order, but compulsively, going over the ground in circles, returning to crucial points, like someone looking for a lost object in a dim light.” (Hynes 1961: 231) Aus diesem Grund ist die narrative Inszenierung des Geschehens überaus komplex. Neben der verschachtelten anachronen Struktur mit vielen Zeitsprüngen wird das Geschehen von Dowell multiperspektivisch aufgefächert.261 Neben den Perspektiven des
261 Aufgrund der Komplexität widmet sich Cheng (1986) in seinem höchst lesenswerten Artikel ausschließlich der chronologischen Abfolge der Ereignisse. Skinner (1989: 289) bezeichnet The
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erzählenden und des erlebenden Ichs setzt Dowell – für einen homodiegetischen Erzähler eher untypisch – auch andere Figuren als Fokalisierungsinstanzen ein, um deren Intentionen und Gefühle nachvollziehen zu können. Inwieweit Dowell als Erzählerfigur das Geschehen und die Intentionen und Motive der anderen Figuren jedoch zuverlässig rekonstruiert und bewertet, ist seit den 1960er Jahren Gegenstand einer kontroversen Diskussion.262 Für die Rezeption ambig-unzuverlässiger Texte typisch lassen sich drei Positionen identifizieren: es finden sich erstens solche Stimmen, die Dowell als zuverlässigen Erzähler begreifen (Lynn 1989; Mizener 1985 [1971]), zweitens solche, die ihn dagegen als ironisch-unzuverlässigen Erzähler klassifizieren (Creed 1980; Ganzel 1984; Hoffmann 2004; Meixener 1960; Poole 1990, 2003; Schorer 1987 [1948]; Schow 1975; Wald 2009) und drittens welche, nach denen diese Frage nicht eindeutig zu beantworten sei (Armstrong 1987; Goodheart 1995 [1986]; Hynes 1961; Levenson 1984). Doch auch innerhalb dieser Positionen herrscht wenig Konsens. So besteht beispielsweise Uneinigkeit in Bezug auf die Frage, warum Dowell als ironisch-unzuverlässig klassifiziert werden sollte. Während einige annehmen, dass die Erzählerfigur Fakten falsch wiedergibt, argumentieren andere, dass sie das Geschehen (bzw. die beteiligten Figuren) moralisch falsch bewertet. Darüber hinaus finden sich innerhalb der Gruppe verschiedene Erklärungen, warum Dowell die Geschichte nicht adäquat darstellen kann: So wird Dowell von einigen als naiv (Ganzel 1984: 280), als „mind not quite in balance“ (Schorer 1987 [1948]: 46), als „psychic cripple“ (Meixner 1960: 244), von anderen wiederum als manipulativ und kriminell (Poole 1990, 2003) charakterisiert. Aufgrund dieser disparaten Meinungen bzgl. der (Un-)Zuverlässigkeit Dowells stellt Moser (1963: 312) fest: “Careful readers of good will, in utter disagreement as to the reliability of its narrator, seem not to be discussing the same book.” Führt man sich diese höchst unterschiedlichen Positionen bzgl. der (Un-)Zuverlässigkeit vor Augen, stellt sich daher die Frage, wie der Leser zu so unterschiedlichen Ergebnissen gelangen kann. Um diese Frage zu beantworten, sollen zunächst Dowells kognitiven Prozesse, mit denen er Wirklichkeit dekonstruiert und rekonstruiert, genauer analysiert werden. Dabei wird in einem ersten Schritt gezeigt, wie der Erzähler durch ironisch-unzuverlässige Fokalisierung auf der einen Seite die früheren Annah-
Good Soldier wegen seiner narrativen Komplexität als „a literary experiment carried, unwittingly or not, to a logical extreme: a kind of narratological cas limite.“ 262 Ausgangspunkt der Diskussionen sind die einflussreichen Aufsätze von Schorer (1987 [1948]) und Hynes (1961). Während Schorer Dowell als unzuverlässigen Erzähler betrachtet, argumentiert Hynes dagegen.
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men über das Geschehen dekonstruiert und die eigenen Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion reflektiert. Auf der anderen Seite steht Dowells Versuch, ein neues Narrativ zu konstruieren, indem er Fokalisiererwelten von Edward, Florence, Nancy und Leonora entwirft und diese einander gegenüberstellt. Auf dieser Grundlage werden Probleme für die Rezipienten aufgezeigt, ein kohärentes mentales Modell des Geschehens und der Erzählerfigur Dowell in The Good Soldier zu konstruieren, die in ihrer Konsequenz dazu führen, dass der Rezipient sowohl das Geschehen als auch die (Un-)Zuverlässigkeit auf höchst unterschiedliche Weise bewerten kann.
2.1 Dowells Dekonstruktion und Rekonstruktion des vergangenen Geschehens durch explizite Weltkonflikte Nachdem Dowell durch Leonora von Florences und Edwards Affäre erfahren hat, erkennt der homodiegetische Erzähler, dass sämtliche Annahmen, auf denen er in den vergangenen neun Jahren sein Bild der Wirklichkeit aufgebaut hatte, grundlegend falsch waren. Aufgrund der neuen Informationen versucht er ein neues, kohärentes Narrativ der Geschehnisse zu entwerfen. Dabei dient ihm der Prozess des Niederschreibens bzw. des Erzählens als Mittel der Sinngenerierung, welches ihn jedoch immer wieder zwingt, bereits Erzähltes in einem neuen Licht zu betrachten und wieder und wieder zu revidieren.263 Aus diesem Grund rückt der eigentliche Prozess des Erzählens – hervorgehoben durch eine Vielzahl von metanarrativen Kommentaren – in den Mittelpunkt, so dass von einer Verschiebung „from the conventions of narrative toward a direct confrontation with the act of narrating“ (Hood 1988: 460) gesprochen werden kann. Dowell verfolgt mit der Niederschrift der Ereignisse zwei konträre Ziele: Zum einen möchte er das eigene Bild des Geschehens dekonstruieren, welches er über Jahre von seiner Ehe und den Ashburnhams entworfen hatte. In diesem Zusammenhang reflektiert er die eigene Verantwortung. War er einfach zu blind und naiv, um zu erkennen, was sich hinter seinem Rücken abspielte? Inwiefern tragen andere Figuren Schuld daran? Zum anderen möchte er ein neues Narrativ von den vergangenen Ereignissen konstruieren, durch welches er die Intentio-
263 “His rambling story is an attempt – not always successful but gradually improving – to clarify and organize impressions that, he finds, were more confusing, obscure, and misleading than he had realized because he had never paid much attention to them. The epistemological structure of The Good Soldier is an ongoing interaction between reflective and unreflective meaningcreation.” (Armstrong 1987: 192)
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nen und Motive der beteiligten Figuren verstehen und auf dessen Grundlage er diese moralisch beurteilen kann. Dabei verschieben sich die Schwerpunkte dieser beiden Vorhaben im Laufe von Dowells Erzählung. Im ersten und zweiten Teil des Romans (also in den beiden Teilen, die er unmittelbar niederschreibt, nachdem Leonora ihm nach Edwards Tod die „Wahrheit“ über ihren Ehemann und Florence erzählt) hinterfragt der Erzähler verstärkt die eigenen Prozesse, aufgrund welcher er (als Fokalisierungsinstanz) ein falsches Bild von seinem Umfeld konstruiert hat. In Teil drei und vier des Romans beleuchtet Dowell hingegen die tragische Ehe der Ashburnhams (die er erst anderthalb Jahre später zu Papier bringt, nachdem er in der Zwischenzeit durch Asien, Europa und Afrika gereist ist, um die in den Wahnsinn verfallene Nancy zurück nach England zu holen, während Leonora in der Zwischenzeit geheiratet hat und ein Kind erwartet).264 Im Zentrum von Dowells selbstreflexiven Rückblick auf die eigene, fehlerhafte Wirklichkeitskonstruktion stehen zwei Ereignisse: Leonoras hysterischer Ausbruch auf dem Schloss in Marburg im ersten Teil des Romans sowie ein Gespräch mit Florences Tanten im zweiten Teil. Diese Ereignisse stellen für Dowell potenzielle Wendepunkte dar, da er den Lauf der weiteren Ereignisse hätte verändern können, wenn er seine Gegenüber durchschaut hätte.265 In beiden Fällen inszeniert die Erzählerfigur – ähnlich wie David Copperfield – die Unzulänglichkeiten des erlebenden Ichs durch ironisch-unzuverlässige Fokalisierung, welche sich durch Konflikte zwischen der Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten manifestiert. Ein für die Erzählerfigur zentrales Ereignis ist ein gemeinsamer Ausflug mit seiner Frau Florence und den Ashburnhams auf das Marburger Schloss. Der Vorfall ereignet sich, als Florence auf den Entwurf der Marburger Artikel zeigt und zu Edward sagt: “It’s because of that piece of paper that you’re honest, sober, industrious, provident, and clean-lived. If it weren’t for that piece of paper you’d be like the Irish, or the Italians or the Poles, but particularly the Irish …” (GS 53) Obwohl Dowell die Kausalität nicht begreift, erkennt er, dass die Worte seiner Frau bei Leonora und Edward Panik auslösen. Leonora verlässt daraufhin den Raum.266 Die Fokalisierungsinstanz deutet ihr Verhalten zunächst instinktiv als
264 Einen umfassenden Überblick über die Chronologie der Ereignisse findet sich bei Cheng (1986). 265 Vgl. genauer zur narrativen Inszenierung von Wendepunkten Nünning (2012) und Vogt (2012). 266 “I was aware of something treacherous, something frightful, something evil in the day. I can’t define it and can’t find a simile for it. It wasn’t as if a snake had looked out of a hole. No, it was as if my heart had missed a beat. It was as if we were going to run and cry out; all four of us
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Zeichen von Eifersucht.267 Dieser Eindruck scheint sich zunächst im Gespräch mit ihr zu bestätigen: “Don’t you see,” she said, with a really horrible bitterness, with a really horrible lamentation in her voice, “Don’t you see that that’s the cause of the whole miserable affair; of the whole sorrow of the world? And of the eternal damnation of you and me and them …” (GS 54)
Die Sorge, Leonoras Eifersucht könnte die Freundschaft mit den Ashburnhams zu einem Ende bringen, paralysiert die Fokalisierungsinstanz. Dowell ist nicht mehr fähig, Leonoras weiteren Ausführungen zu folgen (GS 78). Erst als Leonora ihre Fassung wiedererlangt, erwacht die Fokalisierungsinstanz aus ihrer Schockstarre und kann Leonoras Worten folgen. Zu Dowells Erleichterung führt sie ihren Gefühlsausbruch auf verletzte religiöse Gefühle zurück – Leonora ist Katholikin. Dowell glaubt Leonora, weil er sie wie Edward aufgrund ihres sozialen Standes als „good people“268 und aufgrund ihres Auftretens als „model couple“ (GS 12) klassifiziert – Menschen also, denen er blindlings vertrauen kann. Folglich versagt sein source-monitoring aufgrund seiner Kategorisierung und der daraus resultierenden Zuschreibung von Eigenschaften, welche die Ashburnhams nicht haben. Edward und Leonora sind weder ein Vorzeigepaar noch sind sie moralisch integer. Dowell verwechselt hier „conventions of social behavior“ und „actual human fact“ (Schorer 1987 [1948]: 45). Im Gegensatz zur Fokalisierungsinstanz kann der Leser Leonoras emotionalen Ausbruch jedoch in einem anderen Kontext interpretieren und ihre Worte in Zweifel ziehen. Da der Leser durch die Informationsvergabe bereits von der Affäre zwischen Edward und Florence weiß, kann er ihre Reaktion als Ausdruck von Eifersucht identifizieren und ihre „Lüge“ durchschauen. Bestärkt wird diese Interpretation im folgenden Kapitel, in dem der Erzähler kurzzeitig das Geschehen auf dem Marburger Schloss verlässt und ausführlich Edwards verschiedene Fehltritte und Leonoras immer wieder aufbrechenden Verletzungen darstellt. Mit diesem Wissen erscheint Leonoras heftige Reaktion nachvollziehbar (vgl. GS 58–79).
in separate directions, averting our heads. In Ashburnham’s face I knew that there was absolute panic.” (GS 53) 267 “It came to me for a moment, though I hadn’t time to think about it, that she must be a madly jealous woman―jealous of Florence and Captain Ashburnham, of all the people in the world!” (GS 54) 268 “You will perceive, therefore, that our friendship has been a young-middle-aged affair, since we were all of us of quite quiet dispositions, the Ashburnhams being more particularly what in England it is the custom to call ‘quite good people’.” (GS 8) “The given proposition was, that we were all ‘good people.’” (GS 42) Vgl. dazu auch Armstrong (1987: 203–204).
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Insofern erkennt der Leser einen Konflikt zwischen Dowells Fokalisiererwelt und Leonoras Figurenwelt. Ein zweites zentrales Ereignis für Dowell stellt ein Gespräch mit Florences Tanten dar, welches unmittelbar vor seiner Trauung mit Florence stattfindet. Dabei versuchen die Damen, ihm die Hochzeit mit ihrer Nichte auszureden: They even, almost, said that marriage was a sacrament; but neither Mrs Florence nor Mrs Emily could quite bring herself to utter the word. And they almost brought themselves to say that Florence’s early life had been characterized by flirtations – something of that sort. I know I ended the interview by saying: “I don’t care. If Florence has robbed a bank I am going to marry her and take her to Europe.” And at that Mrs Emily wailed and fainted. But Mrs Florence, in spite of the state of her sister, threw herself on my neck and cried out: “Don’t do it, John. Don’t do it. You’re a good young man,” and she added whilst I was getting out of the room to send Florence to her aunt’s rescue: “We ought to tell you more. But she’s our dear sister’s child.” (GS 95–96)
Die Fokalisierungsinstanz begreift offensichtlich nicht, dass die Tanten ihr mit ihren Anspielungen auf Florences Umgang mit Männern, ihrem Hinweis auf die Bedeutung der Ehe und dem Verweis auf weitere, ausgesparte Details (“‘We ought to tell you more. But she’s our dear sister’s child.’”) zu verstehen geben wollen, dass eine Ehe aufgrund von Florences Neigung zu amourösen Abenteuern zum Scheitern verurteilt ist. Offensichtlich versagt das mind-reading der Fokalisierungsinstanz. Dowell steht dem Verhalten der Tanten ratlos gegenüber. Aus diesem Grund beschreibt er diese als „strangely afflicted relatives“ (GS 96) bzw. „apparently insane relatives“ (GS 98). Erst als Florence ihm kurze Zeit später das Märchen von ihrer Herzkrankheit vorbringt, scheint die Fokalisierungsinstanz eine aus ihrer Sicht plausible Erklärung für das Verhalten der Frauen gefunden zu haben: It occurred to me that her heart was the reason for the Hurlbirds’ mysterious desire to keep her youngest and dearest unmarried. Of course, they would be too refined to put the motives into words. They were old stock New Englanders. (GS 101)
Wie im Falle von Leonoras Ausbruch versucht er das Verhalten der Tanten aufgrund von Kategorisierung (“They were old stock New Englanders”) zu erklären. Den komischen Effekt erzielt die Szene dadurch, dass die Fokalisierungsinstanz die naheliegende Erklärung für das Verhalten der Tanten nicht erkennt.269
269 Allerdings stellt sich die Frage, ob die Fokalisierungsinstanz Leonora und Florences Tanten tatsächlich nicht verstehen kann oder ob sie diese nicht verstehen will, weil sie sich in beiden Fällen mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert sieht (vgl. Creed 1980; Schorer 1987 [1948]).
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Aufgrund seines Informationsvorsprungs erkennt der Leser folglich abermals einen Konflikt zwischen der Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten. Neben der Offenlegung der falschen Wahrnehmung durch die ironischunzuverlässige Fokalisierung reflektiert die Erzählerfigur auch die eigene Verantwortung. Hätte er nicht früher erkennen müssen, was sich hinter seinem Rücken abspielte? Dowells Antwort auf diese Frage fällt differenziert aus. Auf der einen Seite thematisiert die Erzählerfigur offen die eigenen Schwierigkeiten, Lügen zu erkennen und andere Figuren auf Grundlage ihres Verhaltens zu interpretieren. Die Fokalisierungsinstanz hat folglich Probleme mit source-monitoring und mindreading. So reflektiert Dowell: […] I couldn’t tell you offhand whether the lady who sold the so expensive violets at the bottom of the road that leads to the station, was cheating me or no [sic]; I can’t say whether the porter who carried our traps across the station at Leghorn was a thief or not when he said that the regular tariff was a lire a parcel. (GS 44)
In ähnlicher Weise hebt er vielfach seine Schwierigkeiten bzw. seine Unfähigkeit hervor, andere Figuren zu lesen. So betont er wiederholt, dass ihm das Wesen von Menschen verschlossen bleibt (“I know nothing – nothing in the world – of the hearts of men”, GS 11). Aus diesem Grund unterbricht Dowell an verschiedenen Stellen seine Erzählung und distanziert sich explizit von den Annahmen der Fokalisierungsinstanz. Vielfach bezeichnet er die Fokalisierungsinstanz als „fool“ (GS 108, 113, 231) und resümiert: “I had, no doubt, eye-openers enough.” (GS 101) Auf der anderen Seite relativiert die Erzählerfigur gleichwohl die eigene Verantwortung. Dies zeigt sich an verschiedenen Konflikten zwischen Erzählerund Adressatenwelt, bei denen Dowell seine früheren Ansichten zu rechtfertigen versucht: “You may think that I had been singularly lacking in suspiciousness; you may consider me even to have been an imbecile. But consider exactly the position.” (GS 126) So kritisiert der Erzähler diejenigen, die ihn belogen haben. Er verurteilt Leonoras ausweichendes Verhalten auf dem Schloss in Marburg: “Your wife is a harlot who is going to be my husband’s mistress …” That might have done the trick. But, even in her madness she was afraid that, if she did, Edward and Florence would make a bolt to fit and that, if they did that she would lose forever all chance of getting him back in the end. She acted very badly to me. (GS 221)
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Damit macht Dowell Leonora dafür verantwortlich, dass sie das Lügengerüst um ihn herum nicht zum Einsturz gebracht hat.270 An anderer Stelle macht Dowell für sich geltend, dass Leonoras emotionaler Ausbruch der einzige Moment in den neun Jahren war, den er als Hinweis auf Edwards und Florences Affäre hätte deuten können.271 Auf ähnliche Weise weist Dowell die Verantwortung in Bezug auf seine falsche Annahme über Florences angebliche Herzkrankheit von sich. Zwar erscheinen Dowell die Regeln, die er aus Rücksicht auf ihre Krankheit zu befolgen hatte, im Rückblick selbst geradezu absurd – so durfte er während der gesamten Ehe nie mit Florence in einem Bett schlafen und musste immer anklopfen, bevor er ihr Zimmer betrat (GS 103–104), allerdings verweist er mehrmals darauf, dass verschiedene Ärzte unabhängig voneinander Florences Herzfehler diagnostiziert hatten: “I wonder, though, how Florence got the doctor to enter the conspiracy – the several doctors.” (GS 101)272 Hätte er also seinen Quellen – immerhin erfahrenen Mediziner – misstrauen sollen? Resigniert stellt er daher fest: “The instances of honesty that one comes across in this world are just as amazing as the instances of dishonesty.” (GS 44) Betrachtet man Dowells sourcemonitoring in diesem Licht, relativiert sich folglich die Naivität der Fokalisierungsinstanz. In ähnlicher Weise reflektiert die Erzählerfigur die Schwierigkeiten, die Intentionen und Emotionen anderer Figuren nachzuvollziehen. So nimmt Dowell an, dass er die Ashburnhams aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes nicht durchschaut hat – er ist Amerikaner, sie sind Briten – (vgl. GS 7), dass Florences Wesen ihm fremd war, weil sie eine Frau war (GS 29), in Bezug auf Leonora verweist er auf ihre Religion, die ihm unbegreiflich ist (GS 153). Auch wenn diese Gründe für sich genommen als Rechtfertigung nicht ausreichen, führen sie dem Rezipienten doch vor Augen, welche unterschiedlichen Parameter (wie kultureller Hinter-
270 Freilich klammert er dabei aus, dass er ihr selbst nicht zugehört hat (so dass offen bleibt, ob sie ihm nicht zuvor schon explizit vor der Situation gewarnt hat). 271 “And I want you to understand that, from that moment until after Edward and the girl and Florence were all dead together I had never the remotest glimpse, not the shadow of a suspicion, that there was anything wrong, as the saying is. For five minutes, then, I entertained the possibilities that Leonora might be jealous; but there was never another flicker in that flame-like personality. How in the world should I get it?” (GS 80–81) 272 An anderer Stelle beklagt Dowell: “[I] was solemnly informed that if she became excited over anything or if her emotions were really stirred her little heart might cease to beat. […] Yes, the first doctor that we had when she was carried off the ship at Havre assured me that this must be done. Good God, are all these fellows monstrous idiots, or is there a freemasonry between all of them from end to end of the earth? …” (GS 21)
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grund, Geschlecht und Religionszugehörigkeit) beim mind-reading berücksichtigt werden müssen. Neben der Dekonstruktion seiner falschen Annahmen über das vergangene Geschehen versucht Dowell gleichsam ein neues Narrativ über die Vergangenheit zu konstruieren. In Kenntnis verschiedener Fakten (Florences und Edwards Selbstmord, Nancys Abgleiten in den Wahnsinn) versucht der Erzähler verschiedene Puzzlestücke zusammenzusetzen, um die Motive und Intentionen der beteiligten Figuren zu verstehen. Um deren Perspektiven nachzuvollziehen, rekonstruiert die Erzählerfigur Fokalisiererwelten von den beteiligten Figuren, die er immer wieder gegenüberstellt und miteinander vergleicht. Dabei muss er auf dieselben Prozesse zurückgreifen, mit denen er zuvor sein falsches Bild der Wirklichkeit konstruiert hatte. Da Dowell bei den meisten von ihm geschilderten Ereignissen nicht anwesend war, ist Dowell bei der Rekonstruktion der Geschehnisse auf die Informationen von Edward und Leonora angewiesen.273 Diese Dependenz wird bereits im ersten Satz des Romans hervorgehoben, in dem es heißt: “This is the saddest story I have ever heard.” (GS 7; eigene Hervorhebung)274 Aus diesem Grund ist Dowells source-monitoring integraler Bestandteil seiner Narration. So authentifiziert er einerseits seine Darstellungen durch die Nennung der jeweiligen Quelle,275 evaluiert ihre Zuverlässigkeit und bestimmt den Wahrheitsgehalt der gegebenen Information.276 In diesem Kontext weist Dowell immer wieder auf
273 Zusätzliche Komplexität gewinnt die Rekonstruktion dadurch, dass Edward und Florence ihrerseits auf andere Quellen angewiesen sind. Streng genommen hat Dowell viele seiner Informationen daher aus dritter Hand hat. So beruhen auf Leonoras Annahmen über Edwards Gründe, eine Frau bei einer Zugfahrt geküsst zu haben, auf den Schilderungen von Mrs Maidan: “It turned him, naturally, all the more loose amongst women of his own class. Why, Leonora told me that Mrs Maidan—the woman he followed from Burma to Nauheim—assured her he awak ened her attention by swearing that when he kissed the servant in the train he was driven to it.” (GS 60; eigene Hervorhebung) 274 Dowell spricht von der Geschichte „as it reached me from the lips of Leonora or those of Edward himself“ (GS 17). 275 “Edward Ashburnham told me all this […]. ” (GS 129–130) “He assured me […]. ” (GS 131) “He was very careful to assure me […].” (GS 132) “He said that he never had the slightest notion to enfold her in his arms or so much as to touch her hand. He swore that he did not touch her hand. He said that they sat, she at one end of the bench […]. At another time, indeed, he made it appear that he thought she was glad.” (GS 131–132) “Leonora has told me […].” (GS 99, 145) “Leonora has assured me […].” (GS 159) “And he assured me that […].” (GS 175) “He assured me that […].” (GS 183) “he says that […].” (GS 183) “she told me […].” (GS 216) “And Leonora has told me that […].” (GS 229) “Leonora told me these things.” (GS 247, jeweils eigene Hervorhebungen). 276 “But his really trying liabilities were mostly in the nature of generosities proper to his station. He was, according to Leonora, always remitting his tenants’ rents and giving the tenants to understand that the reduction would be permanent; he was always redeeming drunkards
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Widersprüche in den Schilderungen der Figuren hin277 oder darauf, dass diese offenkundig Wissen vor ihm zurückhalten.278 Welche Auswirkungen das source-monitoring des Erzählers auf die Rekon struktion des Geschehens und auf die moralische Bewertung der Figuren hat, wird am Beispiel des Spaziergangs von Edward und Nancy in Bad Nauheim deutlich, bei dem Edward der Ziehtochter seine Liebe offenbart. Dieses Ereignis stellt aus handlungslogischer Sicht das Zentrum des Romans dar, da durch das Liebesgeständnis zahlreiche tragische Geschehnisse in Gang gesetzt werden. So bringt sich Dowells Frau Florence um, nachdem sie im Schutz der Dunkelheit das Gespräch der beiden belauscht hat. Darüber hinaus führt die Liebesbeichte in ihrer Konsequenz zu Leonoras manischem Verhalten auf Branshaw Teleragh, zu Edwards Selbstmord und Nancys Wahnsinn. Dowell schildert das Liebesgeständnis und Edwards Figurenwelt folgendermaßen: And then, it appears, something happened to Edward Ashburnham. He assured me—and I see no reason for disbelieving him—that until that moment he had had no idea whatever of caring for the girl. He said that he had regarded her exactly as he would have regarded a daughter. He certainly loved her, but with a very deep, very tender and very tranquil love. […] But of more than that he had been unconscious. Had he been conscious of it, he assured me, he would have fled from it as from a thing accursed. […] And then, suddenly, that— He was very careful to assure me that at that time there was no physical motive about his declaration. It did not appear to him to be a matter of a dark night and propinquity and so on. No, it was simply of her effect on the moral side of his life that he appears to have talked. […] And Edward, when he realized what he was doing, curbed his tongue at once. (GS 131–132; eigene Hervorhebung)
who came before his magisterial bench; he was always trying to put prostitutes into respectable places—and he was a perfect maniac about children. I don’t know how many ill-used people he did not pick up and provide with careers—Leonora has told me, but I daresay she exaggerated and the figure seems so preposterous that I will not put it down.” (GS 69) “He has told me that if Leonora had then taken his aspirations seriously everything would have been different. But I daresay that was nonsense.” (GS 167) “But Edward maintained that it had put ideas into his head. I don’t believe it, though he certainly did.” (GS 184) “At that date, you understand, he had not the least idea of seducing anyone of these ladies. He wanted only moral support at the hands of some female, because he found men difficult to talk about ideals. Indeed, I do not believe that he had, at any time, any idea of making any one of his mistress. That sounds queer; but I believe it is quite true as a statement of character.” (GS 185; jeweils eigene Hervorhebungen) 277 “The expression upon her face he could only describe as ‘queer’. […] At another time, indeed, he made it appear that he thought she was glad. It is easy to imagine that she was glad, since at that time she could have had no idea of what was really happening.” (GS 132) 278 “Heaven knows what happened to Leonora after that. She certainly does not herself know. She probably said a good deal more to Edward than I have been able to report; but that is all that she has told me and I am not going to make up speeches.” (GS 245; eigene Hervorhebung)
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In dieser Passage werden verschiedene Aspekte deutlich. So fällt auf, dass Dowell wiederholt seine Quelle hervorhebt und damit seine Schilderung der Ereignisse authentifiziert. Darüber hinaus hebt die Erzählerfigur die Insistenz hervor, mit der Edward wiederholt seine Glaubwürdigkeit betont („he assured me“ oder „he was careful to assure me“, anstatt „he told me“). Die Vehemenz seiner Beteuerungen kann freilich auf verschiedene Weise interpretiert werden: zum einen kann dies auf die Quelle Edward zurückgeführt werden, der sich vor Dowell als argloser Romantiker präsentieren möchte. Zum anderen aber auch auf Dowell, der die Glaubwürdigkeit seiner Quelle immer wieder betonen muss. Als Letztes bewertet die Erzählerfigur die Glaubwürdigkeit der Schilderungen (“I see no reason for disbelieving him”). Das source-monitoring und die damit verbundene Rekonstruktion von Edwards Innenwelt ist deshalb wichtig, weil sie Auswirkungen auf Dowells moralische Bewertung seines Verhaltens hat: I suppose that that was the most monstrously wicked thing that Edward Ashburnham ever did in his life. […] It is, I have no doubt, a most monstrous thing to attempt to corrupt a young girl just out of a convent. But I think Edward had no idea at all of corrupting her. I believe that he simply loved her. He said that that was the way of it and I, at least, believe him and I believe too that she was the only woman he ever really loved. He said that that was so; and he did enough to prove it. (GS 133–134)
Weil Dowell Edwards Darstellungen vertraut und diese in seine Erzählung inte griert, zeichnet Dowell das Narrativ eines hoffnungslosen Romantikers, der auf der Suche nach der wahren Liebe ist und der – überwältigt von seinen Gefühlen – sich der Konsequenzen seiner Handlungen nicht bewusst ist. Damit mildert sich für Dowell Edwards moralische Verantwortung für die Tat und das weitere daraus resultierende Geschehen. Neben der Abhängigkeit von anderen Quellen wird Dowells Rekonstruktion der Ereignisse dadurch erschwert, dass seine Informationen limitiert sind.279 So kennt er häufig nur Fakten, d. h., in diesem Fall die Resultate von Handlungen, aber er kennt nicht die Motive für das Verhalten der Figuren. Daher muss Dowell, um die Ereignisse verstehen und die Figuren moralisch bewerten zu können, auf Grundlage von mind-reading den Figuren spezifische Wissensbestände, Emotionen und Intentionen zuschreiben.280 Dies gelingt ihm auf zweierlei Arten: Zum einen kategorisiert er die verschiedenen Figuren und versucht auf Grundlage
279 “But there are many things that I cannot well make out, about which I cannot well question Leonora, or about which Edward did not tell me.” (GS 163–164) “I suppose she was his mistress, but I never heard it from Edward, of course.” (GS 196–197) 280 Siehe zum Zusammenhang von mind-reading und moralischer Bewertung Kap. V.3.1.
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der ihnen zugeschriebenen Attribute ihr Verhalten nachzuvollziehen. So zieht Dowell als Erklärungsfolie für Edwards Handlungen dessen Hang zu romantischen Idealen heran (welchen er allen „good soldiers“ unterstellt).281 In ähnlicher Weise dient Dowell Leonoras strenger katholischer Glaube als Kontext, ihre Handlungen zu interpretieren.282 Als weiteres Mittel für das mind-reading entwickelt Dowell für die verschiedenen Figuren das, was Kognitionspsychologen als Kausalgeschichten283 bezeichnen – die Generierung eines narrativen Kontextes, auf dessen Grundlage die Handlungen und Gefühle einer Person nachvollziehbar werden.284 In Kapitel V des ersten Teils erzählt Dowell, wie Leonora Mrs Maidan ohrfeigt, nachdem sie diese aus Edwards Schlafzimmer kommen sieht. Mit der kurzen Einleitung „I want to do Leonora every justice“ (GS 64) versucht Dowell, ihre Gefühle und Motive nachzuvollziehen und skizziert auf den folgenden zwölf Seiten den Kontext, in dem ihr Verhalten (moralisch) bewertet werden sollte. So erfährt der Leser in dem Rückblick von Edwards zahlreichen Affären und den tiefen Verletzungen, die Leonora deshalb erleiden musste. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass Leonora kurz vor der Begegnung mit Mrs Maidan entdeckt, dass Edward von einem Ehemann einer alten Liebschaft erpresst wird, erscheint ihr Schlag in einem anderen Licht. Als sie Mrs Maidan aus Edwards Zimmer kommen sieht, nimmt Leonora fälschlicherweise an, dass Mrs Maidan und ihr Mann die letzten Stunden zusammen verbracht haben, und lässt sich zu dem Übergriff hinreißen.285 Aufgrund dieser Kausalgeschichte wird Leonoras überzogene Reaktion wenn auch nicht vollständig gerechtfertigt, aber doch für
281 So folgert Dowell: “[All] good soldiers are sentimentalists – all good soldiers of that type. Their profession, for one thing is full of the big words, courage, loyalty, honour, constancy.” (GS 33) 282 “Leonora was a woman of a strong, cold conscience, like all English Catholics.” (GS 70) 283 Siehe zum Konzept der Kausalgeschichte Kap. V.3.1. 284 Die kognitionspsychologischen Konzepte von mind-reading und der Kausalgeschichte korrespondieren mit Fords poetologischem Konzept der justification. Nach Fords Auffassung kann der Eindruck von Wirklichkeit in Prosa nur dann erreicht werden, wenn das Handeln der Figuren vor dem Hintergrund der spezifischen Biographie oder ihrer kulturellen Disposition transparent gemacht wird (vgl. Levenson 1984: 373). So reicht es nach Ford nicht aus, zu schreiben „Mr. Jones was a gentleman who had a strong aversion to rabbit-pie.“ Vielmehr müsse eine Begründung für sein Verhalten geliefert werden, um die mentalen Zustände nachvollziehbar zu machen: “You might do it by giving Mr. Jones a German grandmother, since all Germans have a peculiar loathing for the rabbit and regard its flesh as unclean. You might then find it necessary to account for the dislike the Germans have for these little creatures; you might have to state that his dislike is a self-preservative race instinct …” (Ford zitiert in Levenson 1984: 373) 285 Tatsächlich ist Edward gar nicht in dem Raum und Mrs Maidan bringt lediglich eine geliehene Schere zurück.
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den Leser verständlich.286 Die Anachronie von Dowells Narration mit ihren zahlreichen Analepsen ist auf Dowells Bemühen zurückzuführen, mithilfe von Kausalgeschichten die Innenwelten der anderen Figuren zu rekonstruieren. Insofern stellt die anachrone Struktur von Dowells Erzählung mit den vielen Zeitsprüngen keinen Hinweis auf die Konfusion der Erzählerfigur dar, sondern sie dient vielmehr dem Erzähler als adäquates Mittel, Wissen, Gefühle, Werte sowie Intentionen der Figuren zu ergründen. Der Versuch, mit Hilfe von source-monitoring und mind-reading verschiedene Fokalisiererwelten zu rekonstruieren, um die Motive und Intentionen der Figuren nachzuvollziehen, führt paradoxerweise in seiner Konsequenz dazu, dass Dowell kein kohärentes Narrativ kreieren kann. Sein widersprüchliches Bestreben, auf der einen Seite den Perspektiven aller beteiligten Figuren gerecht zu werden und auf der anderen Seite diese in ein kohärentes Narrativ zu integrieren, scheitert. Dowells Erzählung zerfällt in eine Ansammlung von verschiedenen, in Konflikt zueinander stehenden Figuren- bzw. Fokalisiererwelten, die er nicht hierarchisieren kann, da er alle Standpunkte nachvollziehen und -empfinden kann (vgl. Armstrong 1987: 209; Ganzel 1984: 280). Seine im Laufe der Erzählung zunehmende Identifikation mit den verschiedenen Fokalisiererwelten zeigt sich aus narratologischer Sicht an Dowells verstärktem Gebrauch der erlebten Rede im dritten und vierten Teil des Romans. Folgt man Pascals „dual voice“-Theorie (1977), verschmilzt Dowells Erzählerstimme also zunehmend mit denen der jeweiligen Fokalisierungsinstanzen, was auf ein hohes Maß an Empathie schließen lässt. Aus diesem Grund stellt Dowell die verschiedenen Fokalisiererwelten am Ende des Romans einander gegenüber und überlässt dem Adressaten die Wahl, welche Sicht auf die Dinge bzw. welches Narrativ die bzw. das „richtige“ sei: “You have the facts for the trouble of finding them; you have the points of view as far as I could ascertain or put them.” (GS 213) Dabei betreffen die Weltkonflikte zentrale Aspekte der Handlung und haben immense Auswirkungen auf die Rekonstruktion des Geschehens. So gibt es zwischen Edward und Leonora widerstreitende Positionen in Bezug auf die Frage, ob Nancy Edward tatsächlich geliebt hat oder nicht: Leonora held passionately the doctrine that the girl didn’t love Edward. She wanted desperately to believe that. It was a doctrine as necessary to her existence as a belief in the personal immortality of the soul. She said that it was impossible that Nancy could have loved
286 Noch weiter zurück geht Dowell im dritten Teil, wenn er das Scheitern der Ehe der Ashburnhams reflektiert und Edwards und Leonoras Elternhäuser, ihr erstes Kennenlernen und die Jahre ihrer Ehe nachzeichnet, um so die unterschiedlichen Figurenwelten mitsamt ihren grundverschiedenen Werte- und Normen darzulegen.
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Edward after she had given the girl her view of Edward’s career and character. Edward, on the other hand, believed meanderingly that some essential attractiveness in himself must have made the girl continue to go on loving him—to go on loving him, as it were, in [sic] underneath her official aspect of hatred. He thought she only pretended to hate him in order to save her face and he thought that her quite atrocious telegram from Brindisi was only another attempt to do that—to prove that she had feelings creditable to a member of the feminine commonweal. I don’t know. I leave it to you. (GS 282)
In ähnlicher Weise gibt es Konflikte zwischen den Figurenwelten in Bezug auf die moralische Bewertung des Geschehens, die Dowell nicht auflösen kann: Leonora says that, in desiring that the girl should go five thousand miles away and yet continue to love him, Edward was a monster of selfishness. He was desiring the ruin of a young life. Edward on the other hand put it to me that, supposing that the girl’s love was a necessity to his existence, and, if he did nothing by word or by action to keep Nancy’s love alive, he couldn’t be called selfish. Leonora replied that showed he had an abominably selfish nature even though his actions might be perfectly correct. I can’t make out which of them was right. I leave it to you. (GS 283)
Diese Pluralitäten von Wirklichkeitserfahrung werden von Dowell am Ende des Buches erneut aufgegriffen, als er schildert, dass Nancy, Edward und Leonora sich jeweils als Spielball („shuttlecocks“) der anderen und damit als Opfer des Geschehens begreifen (GS 290).287 Nancy, Edward und Florence konstruieren diametral entgegengesetzte Welten, in denen die Rollen von Opfer und Täter jeweils anders besetzt sind. Aus diesem Grund ist es Dowell nicht möglich, den einzelnen Figuren klare Rollenbilder (wie Held oder Bösewicht) zuzuordnen und durch diese Einteilung ihr Verhalten moralisch zu bewerten: “It is all a darkness. […] There is not even any villain in the story.” (GS 192) Auch der Versuch, aufgrund des Handlungsverlaufs eine Rollenzuteilung vorzunehmen, muss laut Dowell scheitern:
287 “And she [=Nancy] repeated the word ‘shuttlecocks’ three times. I know what was passing in her mind, if she can be said to have a mind, for Leonora has told me that, once, the poor girl said she felt like a shuttlecock being tossed backwards and forwards between the violent personalities of Edward and his wife. Leonora, she said, was always trying to deliver her over to Edward, and Edward tacitly and silently forced her back again. […] And the odd thing was that Edward himself considered that those two women used him like a shuttlecock. Or, rather, he said that they sent him backwards and forwards like a blooming parcel that someone didn’t want to pay the postage on. And Leonora also imagined that Edward and Nancy picked her up and threw her down as suited their purely vagrant moods.” (GS 290–291)
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Well, that is the end of the story. And, when I come to look at it I see that it is a happy ending with wedding bells and all. The villains—for obviously Edward and the girl were villains—have been punished by suicide and madness. The heroine—the perfectly normal, virtuous and slightly deceitful heroine—has become the happy wife of a perfectly normal, virtuous and slightly deceitful husband. She will shortly become a mother of a perfectly normal, virtuous slightly deceitful son or daughter. A happy ending, that is what it works out at. (GS 289–290)
Dowell stellt mit seinem ironischen Kommentar die Konvention von moralisierenden Erzählungen infrage, wonach tugendhaftes Verhalten belohnt und moralischverwerfliches Verhalten bestraft wird. Offensichtlich, so Dowell, wird eine solche Übertragung von narrativen Konventionen der Komplexität der von ihm erfahrenen „Wirklichkeit“ nicht gerecht.
2.2 Zur Problematik des Hierarchisierens von expliziten Weltkonflikten in The Good Soldier “I have, I am aware, told this story in a very rambling way so that it may be difficult for anyone to find their path through what may be a sort of maze.” (GS 213) Dowell reflektiert über seine eigene Erzählung und spielt damit gleichsam auf die Schwierigkeiten für den Rezipienten an, ein kohärentes Bild des Geschehens zu rekonstruieren.288 Verschiedene Faktoren erschweren die Konstruktion des Geschehens im Situationsmodell. Die Schwierigkeiten sind zum einen auf die vielen Kausalgeschichten zurückzuführen, mit denen Dowell versucht, die Figurenwelten zu rekonstruieren, und die fortwährend zwischen verschiedenen Zeitebenen und Orten springen.289 Neben der anachronen Darstellung des Geschehens und den wechselnden Lokalitäten wird die Rekonstruktion eines kohärenten Geschehens zum anderen durch die zahlreichen Weltkonflikte erschwert. Dadurch, dass dasselbe Geschehen durch die widerstreitenden Fokalisierer- und Figurenwelten aus unterschiedlichen Blickwinkeln präsentiert wird, sieht sich der Leser gezwungen, sein mentales Situationsmodell von den Ereignissen und den beteiligten Figuren fortwährend zu überprüfen, zu modifizieren und gegebenenfalls zu revidieren.
288 Insofern lässt sich folgern, dass Dowells Bemühen, ein kohärentes Narrativ zu konstruieren, den Rezeptionsprozess des Lesers spiegelt (vgl. Armstrong 1987: 200; Lynn 1989: 52). 289 Wie schwierig beispielsweise die Rekonstruktion der zeitlichen Abfolge für den Leser ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Cheng (1986) sich in einem Aufsatz ausschließlich der tatsächlichen Chronologie der Ereignisse widmet.
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Da die Darstellung des Geschehens und die verschiedenen Fokalisiererwelten jedoch das Produkt von Dowells Interpretation sind, muss der Leser gleichsam auch das intratextuelle Kontextmodell miteinbeziehen. Insofern stellt sich die grundsätzliche Frage, ob der Erzähler die verschiedenen Fokalisierer- und Figurenwelten wirklich adäquat rekonstruiert hat. Da Dowell dabei auf andere Figuren angewiesen ist, muss auch der Rezipient aufgrund von source-monitoring die Quellen und die gegebenen Informationen überprüfen.290 Da Dowells Informationen begrenzt sind und er auch aufgrund von mind-reading Figurenwelten erschafft, muss der Leser darüber hinaus die Validität der konstruierten Fokalisiererwelten reflektieren. Gerade weil Dowell als Fokalisierungsinstanz sein Bild der Wirklichkeit aufgrund von source-monitoring und mind-reading fehlerhaft interpretiert und diese Schwächen reflektiert, wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf eben jene Prozesse der Erzählerfigur gelenkt. Neben der Disposition muss der Rezipient auch die emotionale Involviertheit der Erzählerfigur mit einbeziehen. Dowell verfasst die vier Teile zu unterschiedlichen Zeitpunkten. So beginnt der Erzähler die Niederschrift der ersten beiden Teile wenige Tage, nachdem Leonora ihm nach Edwards Beerdigung die Wahrheit über ihren Ehemann und Florence erzählte. Teil drei und vier dagegen bringt er erst anderthalb Jahre später zu Papier, nachdem er in der Zwischenzeit durch Asien, Europa und Afrika gereist ist. In der Zwischenzeit ist Nancy, die Dowell nach England zurückholt, wahnsinnig geworden, Leonora hat geheiratet und erwartet nun ein Kind. Insofern muss der Leser entscheiden, inwieweit sich die zeitliche Distanz zu den vergangenen Geschehnissen und die neuerlichen Ereignisse und damit verbunden die emotionale Involviertheit auf Dowells Darstellung auswirken. Neben dem intratextuellen muss der Rezipient auch das extratextuelle Kontextmodell in seiner Interpretation berücksichtigen. Aufgrund von zahlreichen textuellen Widersprüchen im Roman bzgl. der zeitlichen Abfolge des Geschehens stellt sich für den Leser die Frage, ob diese textuellen Widersprüche Dowells oder die des empirischen Autors Ford Madox Ford sind. Diese Entscheidung hat zentralen Einfluss auf die Rezeption. Schreibt der Leser die Widersprüche Dowell zu, können diese als Weltkonflikte und damit als Signale für seine Unzuverlässigkeit betrachtet werden. Schiebt er die Fehler hingegen Fords Unachtsamkeit zu, übernimmt er diese Widersprüche nicht in die Rekonstruktion des Situationsmodells und des intratextuellen Kontextmodells. Aufgrund der hier skizzierten Parameter, die bei der Rekonstruktion eines kohärenten Geschehens einbezogen werden müssen, erscheint es nicht verwun-
290 Dies ist auch deshalb komplex, weil Dowell oftmals erst am Ende von längeren Passagen oder nur beiläufig erwähnt, von wem er welche Information hat.
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derlich, dass der Leser sowohl das Geschehen und damit verbunden auch die (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerfigur höchst unterschiedlich rekonstruieren kann. Um Dowells Metapher von der Erzählung als Labyrinth aufzugreifen, bietet der Text zahlreiche Weggabelungen an, zwischen denen der Rezipient wählen kann. Jede Abbiegung, die ein Leser einschlägt, jede Interpretation hängt gleichsam mit der Bewertung zusammen, ob er Dowell als ironisch-unzuverlässigen Erzähler begreift oder nicht: “The problems involved in the interpretation of The Good Soldier all stem from one question: What are we to make of the novel’s narrator? Or, to put it a bit more formally, what authority should we allow to the version of events which he narrates?” (Hynes 1961: 225)291 Da es potenziell unzählige Wege für den Leser gibt, das Geschehen und die Erzählerfigur zu rekonstruieren, werden im Folgenden vier „Weggabelungen“ weiterverfolgt, die bei der Bestimmung der (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerfigur als zentral erscheinen. Erstens stellt sich die Frage, ob Dowells Einschätzung zuzustimmen ist, dass sich das Geschehen einer moralischen Bewertung entzieht. Zweitens, ob die Erzählerfigur das Geschehen richtig rekonstruiert. Drittens, ob Dowell die verschiedenen Figuren- bzw. Fokalisiererwelten adäquat rekonstruiert. Viertens muss der Leser entscheiden, welche der zahlreichen Widersprüche des Textes auf den fiktionalen Erzähler Dowell oder den empirischen Autor Ford Madox Ford zurückgehen. Ob der Leser Dowell als ironisch-unzuverlässige Erzählerfigur begreift, hängt mit der Frage nach der moralischen Bewertung der Figuren und der Zuteilung ihrer Handlungsrollen innerhalb der Geschichte zusammen. Folgt der Leser Dowell mit seiner Einschätzung, dass die Weltkonflikte zwischen Leonora, Edward und Nancy nicht aufzulösen seien? Wenn er dies tut, kann er Dowells Zurückhaltung als Ausdruck einer Entwicklung begreifen. Durch die Dekonstruktion der eigenen Wirklichkeit und die Rekonstruktion verschiedener Fokalisiererwelten wird Dowell klar, dass Realität grundsätzlich das Produkt von Interpretation ist, dass Wahrheit somit relativ und immer an eine spezifische Perspektive gebunden ist (vgl. Armstrong 1987: 209; Hynes 1961: 235). Das ist nach dieser Lesart der Grund, warum Dowell die widerstreitenden Figurenwelten nicht hierarchisieren kann und die verschiedenen Weltmodelle in seiner Erzählung gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben. Ein moralisches Urteil ist Dowell folglich genauso wenig möglich wie eine Rollenzuteilung nach narrativen Kategorien. Gerade die Tatsa-
291 Den Zusammenhang zwischen der Rekonstruktion und dem (Un-)Zuverlässigkeitsurteil des Lesers hebt auch (Cheng 1986: 92) hervor: “I would suggest that the ‘plot’ does matter: for how we are meaningfully to interpret Dowell’s impressions of the tale must ultimately depend on what the tale actually is, on what happened (or may have happened).”
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che, dass der Erzähler Edward – immerhin der Mann, der jahrelang eine Affäre mit dessen Frau hatte – am Ende nicht als Bösewicht der Geschichte begreift, kann der Leser als Zeichen von „Dowell’s moral growth“ (Lynn 1989: 71) verstehen. Interpretiert der Leser Dowells Neutralität als Ausdruck seiner im Laufe der Erzählung erworbenen epistemologischen Skepsis, dann ist Dowell ein zuverlässiger Erzähler (vgl. Hynes 1961; Lynn 1989; Mizener 1985 [1971]). Statt seine moralische Enthaltung als charakterliche Reifung zu betrachten, kann der Leser diese genauso gut als Zeichen von Dowells Unzuverlässigkeit deuten. Dowells Neutralität kann auch kritisch betrachtet werden und Dowell kann als „narrator who suffers from the madness of moral inertia“ (Schorer 1987 [1948]: 48) angesehen werden. Danach illustriert Dowells Zurückhaltung, eine eindeutige moralische Position einzunehmen, seine Unfähigkeit, sich objektiv mit den Fakten auseinanderzusetzen. His plea that “It is all darkness” stems from his unwillingness to come to terms with his painful experience. But we stand in a different relationship to that experience. We can separate the facts Dowell gives us from his interpretations of them; we can view the characters and their behavior dispassionately, even objectively. (Creed 1980: 220–221)
In der Tat lassen zahlreiche Bemerkungen an Dowells Neutralität zweifeln. Wiederholt betont der Erzähler seine emotionale Verbundenheit zu Edward.292 Im Gegensatz dazu hegt Dowell eine tiefe Abneigung gegenüber Katholiken und damit potenziell auch gegenüber Leonora.293 Insofern lässt sich folgern, dass sich Dowell aufgrund seiner emotionalen Involviertheit einer kritischen Auseinandersetzung mit Edward entzieht, der – die objektiven Fakten betrachtend – immerhin (un)mittelbar für den Tod von Mrs Maidan, den Selbstmord von Florence sowie Nancys Abgleiten in den Wahnsinn verantwortlich ist. Nach dieser Lesart ist Dowell folglich ein ironisch-unzuverlässiger Erzähler, dessen moralische Bewertung Edwards fragwürdig erscheint: Dowell is apparently unaware that his narrative reveals Edward to be a flagrant philan derer whose conquests have been concealed by hypocritical social conventions and a complaisant wife. […] Unable or unwilling to recognize the nature and continuing pattern of seduction he is describing, Dowell sees Ashburnham as a creature of sentiment; the reader
292 Besonders deutlich wird die emotionale Verbundenheit am Ende des Romans, als der Erzähler wir folgt schreibt: “[…] I can’t conceal from myself that I loved Edward Ashburnham […].” (GS 291) 293 So gesteht Dowell freimütig ein: “I have given you a wrong impression if I have not made you see that Leonora was a woman of a strong, cold conscience, like all English Catholics. (I cannot, myself, help disliking this religion […]).” (GS 70)
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on the other hand, recognizes Edward as a predator who killed himself because he loved Nancy Rufford, whom he renounced. (Ganzel 1984: 281)294
Darüber hinaus kann der Leser – folgt er einer solchen Interpretation – Dowells fragwürdige Bewertung Edwards auf seine homoerotischen Gefühle zurückführen (vgl. Wald 2009: 226). Sieht der Leser in Edward im Gegensatz zum Erzähler den Schurken der Geschichte, dann hierarchisiert er die Weltkonflikte zulasten von Edward und übernimmt damit Leonoras Perspektive bzw. nähert sich dieser zumindest an. Allerdings ist die negative Bewertung von Edward durch den Leser keinesfalls so zwingend, wie es diese Lesart vorgibt. Interpretationen von Meixner (1960) oder Lynn (1989) begreifen Edward als eigentlichen Helden des Geschehens und zeigen damit, dass sich eine negative Bewertung Edwards (und seine Einteilung als Bösewicht) nicht zwangsläufig aus dem Text ergibt, sondern ihrerseits eine subjektive Bewertung des Lesers darstellt. In der Tat kann auch der Leser höchst unterschiedliche mentale Modelle von Edward konstruieren. Dies ist zum einen – wie bereits mehrfach erwähnt – auf die zahlreichen Weltkonflikte in Bezug auf Edwards Wesen zurückzuführen. Neben der Disparität zwischen Edward, der sich als hoffnungsloser Romantiker sieht, und Leonora, die in ihrem Ehemann Edward als „a monster of selfishness“ (GS 283), „[a] man, who was violent, overbearing, vain, drunken, arrogant, and monstrously a prey to his sexual necessities“ (GS 277) begreift, wird die Ambiguität in Bezug auf die Bewertung von Edwards Wesen auch durch zahlreiche Konflikte zwischen Erzähler- und Adressatenwelt aufgegriffen. So versucht die Erzählerfigur ihren Adressaten wiederholt von ihrem Bild von Edward als Romantiker zu überzeugen: “I trust I have not, in talking of his liabilities, given the impression that poor Edward was a promiscuous libertine. He was not; he was a sentimentalist.” (GS 68) An anderer Stelle reflektiert er: “Anyhow, I hope I have not given you the idea that Edward Ashburnham was a pathological case. He wasn’t. He was just a normal man and very much of a sentimentalist.” (GS 178)295 Die immer wiederkehrenden Weltenkonflikte über
294 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Kern (2011: 131): “The title of the novel is wrong, because the soldier, Edward Ashburnham, is not good: he deceives his friend Dowell, is unfaithful to his wife Leonora, drives his mistress Florence to suicide, and drives his ward Nancy to insanity.” 295 Andere Beispiele finden sich vielfach: “I don’t want you to think that I am writing Teddy Ashburnham down a brute.“ (GS 15) “Well, Edward Ashburnham was worth having. Have I conveyed to you the splendid fellow that he was – the fine soldier, the excellent landlord, the extraordinarily kind, careful and industrious magistrate, the upright, honest, fair-dealing, fair-thinking, public character?” (GS 108)
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Edwards Wesen lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf Edwards Handlungen und die dahinter liegenden Intentionen. Doch auch dabei zeigt sich die Komplexität seines Wesens. Neben seiner pathologischen Untreue zeigt er sich gegenüber anderen Soldaten und Bediensteten höchst hilfsbereit und selbstlos. Er rettet seinen Kameraden das Leben und versucht seine Bediensteten vor dem Ruin zu bewahren. Aus diesem Grund entzieht sich die Figur einer eindeutigen Kategorisierung: “By the end Edward has eluded simple definition (although perhaps not simple, opposing definitions) and has been cast in various roles in various contexts.” (Eggenschwiler 1979: 407)296 Des Weiteren hat die Informationsvergabe erheblichen Einfluss auf die Interpretation Edwards durch den Leser. So muss bedacht werden, dass der Rezipient zu Beginn der Erzählung fast ausschließlich von Edwards Affären und den schrecklichen Konsequenzen erfährt. Die ersten Eindrücke des Lesers von Edward sind folglich negativ und beeinflussen die weitere Lektüre aufgrund des primacy effect. Erst im dritten und vierten Teil der Geschichte wendet sich Dowell verstärkt Edward zu. Aufgrund der extensiven Kausalgeschichte (Dowell schildert Edwards Kindheit, dessen arrangierte Ehe und beschreibt dessen Heldentaten und seinen Einsatz für seine Bediensteten) erscheinen Edwards Handlungen in einem neuen Licht, so dass der Leser Edwards zuvor geschilderte Handlungen neu reflektieren und das bereits etablierte Figurenmodell modifizieren bzw. gegebenenfalls sogar revidieren muss.297 Eggenschwiler (1979: 412) weist darauf hin, dass sich das Bild des Lesers von Edwards Verhalten im Kontext der neuen Informationen in Teil drei und vier verändert, dass sich auch der Leser am Ende des Romans mit der Frage konfrontiert sieht, wie er Edward kategorisieren kann: “Is Edward the normal hypocrite that he seems at first or the abnormal romantic that he seems at last?” Neben der moralischen Bewertung des Geschehens – um eine zweite Weggabelung in Dowells Erzähllabyrinth zu skizzieren – stellt sich für den Leser die Frage, ob Dowell die Ereignisse wirklich durchschaut und adäquat wiedergibt. Ist Dowell in Bezug auf die Fakten ein zuverlässiger Erzähler? Für eine solche Lesart spricht, dass der Erzähler sein früheres Bild der Wirklichkeit dekonstruiert und ihr ein neues entgegenstellt.298 Er trägt Informationen aus verschiedenen Quellen
296 Ein differenzierter Überblick über verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des Lesers in Bezug auf Edward findet sich bei Bort (1967). 297 Überdies ist zu überlegen, ob der Leser nicht auch Empathie für Edward empfinden kann. Da Edward erst im dritten und vierten Teil verstärkt als Fokalisierungsinstanz auftritt, in denen sein Liebeskummer und Leonoras Torturen beschrieben werden, ist es denkbar, dass der Leser empathisch auf dessen Situation reagiert und sein zunächst negatives Bild revidiert. 298 So argumentiert Hynes (1961: 229): “[…] Ford’s narrator is conscious of the irony, and consciously turns it upon himself. When he describes his own inactions, or ventures an analysis
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zusammen, bewertet diese und kreiert eine Erzählung, die zwar nicht verifizierbar ist, aber doch (gerade wegen der Einbeziehung verschiedener Perspektiven) plausibel erscheint, wie Hynes (1961: 227) zu bedenken gibt: “[W]e never know more than he knows about his ‘saddest story’.” Aus diesem Grund kann der Leser Dowell als zuverlässigen Erzähler begreifen. Allerdings ist es auch möglich zu hinterfragen, ob es nicht doch eine Geschichte gibt, die der Erzählerfigur verborgen bleibt – so dass Dowell ein ironisch-unzuverlässiger Erzähler wäre. Kennzeichen von Dowells Narration ist, dass der Erzähler immerfort Kausalgeschichten konstruiert, um das Verhalten der anderen Figuren nachzuvollziehen. Eine Ausnahme bildet ausgerechnet der Selbstmord Edwards, der erst auf den letzten Seiten des Romans angedeutet wird. Es stellt sich daher die Frage, was Edward in den Selbstmord getrieben hat und warum Leonora (im Gegensatz zu den anderen Eskapaden ihres Ehemanns) zuvor so hysterisch auf Edwards Gefühle zu Nancy reagierte. Die Erzählerfigur bleibt hier vage und impliziert, dass Edwards Liebeskummer ihn zu diesem Schritt zwingt.299 Eine andere Antwort auf diese Fragen findet sich, wenn die Dreiecksbeziehung von Edward, Leonora und Nancy in den Fokus gerückt wird (vgl. Ganzel 1984). So erfährt der Leser zunächst, dass Nancy die Tochter von Leonoras bester Freundin ist. Nach dieser Version nimmt sich Leonora des Mädchens an, weil sich ihre Mutter umbrachte (GS 110). Später erhält Nancy jedoch einen Brief von ihrer Mutter, so dass diese Information als Lüge entlarvt wird (GS 243). Der Leser erfährt in diesem Kontext auch, dass Leonora zuvor mehrere Briefe von Nancys Mutter
of his own character […] he is consciously self-deprecating, and thus blocks, as any conscious ironist does, the possibility of being charged with self-delusion.” Ähnlich auch Mizener (1985 [1971]: 265): “As a participant in the events of The Good Soldier, Dowell has his limitations and blindness, just as the rest of the other characters do. But the Dowell who is telling the story knows everything that Ford does and thinks all the things that Ford did about human affairs. The ironic wit of The Good Soldier’s style depends, not on a discrepancy between the narrator’s attitude as a narrator and Ford’s, but on a discrepancy between Dowell’s attitude as a participant in the events [= as a focalizer] and Dowell’s attitude as a narrator of them. All the perception, the tolerance, the humility that recognizes the limitations of its own understanding; all the poetic wit of the book’s figures of speech; all the powerful ironies of the narration; all these things are Dowell’s.” 299 So erwähnt Dowell ein Gespräch von Edward und Leonora, welches Einsichten in seine Gefühlswelt gewährt: “What did he want? What did he want? And all he ever answered was: ‘I have told you’. He meant that he wanted the girl to go to her father in India as soon as her father should cable that he was ready to receive her. But just once he tripped up. To Leonora’s eternal question he answered that all he desired in life was that—that he could pick himself together again and go on with his daily occupations if—the girl, being five thousand miles away, would continue to love him. He wanted nothing more, He prayed his God for nothing more. Well, he was a sentimentalist.” (GS 276–277)
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abgefangen hat (GS 243). Es stellt sich die Frage, warum die Ashburnhams Nancy wie eine eigene Tochter aufnehmen, warum sie Nancy im Glauben lassen, ihre Mutter sei tot, und warum sie den Kontakt der beiden unterbinden (vgl. Ganzel 1984: 283). Auf Grundlage dieser mysteriösen Faktenlage konstruiert Ganzel (1984) eine Kausalgeschichte, mit welcher Leonoras heftiger Gefühlsausbruch sowie Edwards Schuldgefühle und schließlich auch sein Freitod erklärt werden können. Danach hat Edward vor seiner Ehe mit Leonora eine Affäre, aus der Nancy hervorgeht. Nancys leibliche Mutter verlässt jedoch das Mädchen, so dass sich Leonora und ihr leiblicher Vater Edward ihrer annehmen. Dabei weiß Nancy nicht, dass Edward ihr Vater ist. Edward verliebt sich in seine eigene Tochter. Dieser Umstand erklärt für Ganzel (1984: 282) Leonoras heftige Reaktion, als sie von Edwards romantischen Gefühlen zu Nancy erfährt: “What Leonora feels is not jealousy, but moral outrage which none of his earlier conquests would seem to have engendered.” Auch Edwards Schuldgefühle und sein späterer Selbstmord lassen sich in diesem Kontext erklären. Aus diesem Grund begreift Ganzel (1984: 280) Dowell als ironisch-unzuverlässigen Erzähler, der „patently naive“ die wahre Dimension der „Ashburnham-Tragedy“ nicht erfasst: Dowell’s failure is the result of his misinterpretation of the “facts” which he has been given, after the event, by Leonora and Edward, facts which a more sophisticated listener would question or immediately disbelieve. […] Dowell thinks he is telling a story of “innocence” and “romance”; the reader recognizes an account filled with innuendo and double entendre.
Dass diese Interpretation jedoch nicht zwingend ist, zeigt Sutherland (1997: 210– 214). Nach ihm ist die Möglichkeit einer solchen Interpretation zwar nicht gänzlich auszuschließen, allerdings wenig plausibel, wenn andere Fakten herangezogen werden. Zum einen sind Edward und Nancys äußere Erscheinungen grundverschieden, was eine biologische Verwandtschaft nach Sutherland (1997: 213–214) nicht wahrscheinlich erscheinen lässt. Edward hat helle Haare und blaue Augen, während Nancy dunkle Haare hat. Doch auch eine genaue Betrachtung der chronologischen Abfolge der Ereignisse spricht gegen eine Vaterschaft Edwards (vgl. Sutherland 1997: 214). Eine dritte Weggabelung in Dowells Erzähllabyrinth stellt die Frage dar, ob Dowell die verschiedenen Figurenwelten adäquat rekonstruiert. Dafür spricht, dass Dowells Schilderungen der Fokalisiererwelten (gerade wegen ihrer verschiedenen Sichtweisen) differenzierte Porträts der verschiedenen Figuren zeichnen. Auch die vielen Kausalgeschichten, die Dowell skizziert, erscheinen plausibel. Daher vertritt Eggenschwiler (1979: 408) die Meinung, dass der Erzähler den Innenwelten der anderen Figuren äußerst nahekommt:
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Despite his frequent claims that people are unknowable and that he is befuddled, Dowell is an exact and extensive interpreter of what has happened, and The Good Soldier is extraordinarily clear and explicit about motives. If commentators have thought that the novel is about the impossibility of knowing truth, they have too readily believed Dowell’s sad sighs and paid too little attention to the many truths–social, religious, and psychological–that Dowell tells us about the characters. […] If Dowell pleads, and perhaps even feels, some confusion, I do not see why we should, for he guides us very well.
Hält man also die Rekonstruktion der Fokalisiererwelten für plausibel, dann stellt sich Dowell als zuverlässige Erzählerfigur dar. Allerdings ist eine solche Interpretation nicht zwingend. Zu bedenken ist, dass die Erzählerfigur bei der Rekonstruktion der Fokalisiererwelten – wie gezeigt wurde – auf dieselben kognitiven Prozesse angewiesen ist wie bei der fehlerhaften Rekonstruktion des Geschehens als Fokalisierungsinstanz. So argumentiert etwa Wald (2008: 225), dass Dowell sich aufgrund seiner Dispositionen und seiner fehlenden Erfahrung als unfähig erweist, die Geschehnisse und die Figuren zu durchschauen.300 Besonders zwei Textstellen unterstützen eine solche Position. So zeigt sich bei der Rekonstruktion von Florences Fokalisiererwelt, dass Dowell auch als Erzählinstanz das Verhalten anderer Figuren noch immer fragwürdig rekonstruiert. Dowells Erklärung dafür, warum Florence ihn nie über ihren tatsächlichen Gesundheitszustand aufgeklärt hat, scheint simpel: “She was afraid that I should murder her.” (GS 107) Diese Annahme scheint jedoch höchst fragwürdig in Anbetracht der Tatsache, dass andere Figuren Dowell eher als harmlos und schutzbedürftig wahrnehmen: “Conscious of Florence’s need to keep up appearances and aware of how utterly unthreatening Dowell really is, readers can only laugh at Dowell’s conclusion.” (Hoffmann 2004: 33) Ein zweites Beispiel findet sich, als Dowell, der naive Amerikaner ohne jegliche sexuelle Erfahrung, sich mit Edward, dem Frauenhelden, gleichsetzt. Aus diesem Grund folgert Schow (1975: 210): “Dowell errs badly in
300 So zählt sie auf: “As an American, he is an outsider to the English society and manners that he depicts. Because of his lack of experience, he knows little about human psychology, about sexuality, even about religion.” (Wald 2009: 223) Die entgegengesetzte Position vertritt Goodheart (1995 [1986]: 376), der zu bedenken gibt: “What could this ‘eunuch’ be expected to know of char acters like Edward, Leonora and his own wife Florence, since unlike them, he had never been touched by passion? I think Ford means to take us to take the opposite view: Dowell’s freedom from passion gives him a more or less disinterested eye, a capacity to contemplate the spectacle of the passions without being unduly unsettled by them. He is the Negatively Capable [sic] narrator, whose personality is the vehicle for others to manifest their own personalities. Dowell is not the venal unreliable narrator, whose moral and sexual deficiencies are the subject of the novel. He is rather a Device [sic] who makes possible the exploration of the passionate lives of others. […] Ford must assure his objectivity by neutralizing his passions.”
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seeing himself as a fainter Edward.”301 Allerdings muss auch diese Position insoweit relativiert werden, als dass die beiden genannten Passagen die einzigen Beispiele im Roman sind, die eindeutig gegen Dowells Fähigkeit sprechen, die Fokalisiererwelten adäquat zu rekonstruieren. Ein letztes Problem bei der Bestimmung der Zuverlässigkeit der Erzählerfigur stellt die Frage dar, welche textuellen Widersprüche tatsächlich Weltkonflikte darstellen. So finden sich zahlreiche Inkohärenzen bzgl. der zeitlichen Abfolge der Ereignisse (vgl. Moser 1980: 162–163; 2008: xxxiii–xxxvi; Poole 1990: 402). Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Datum des 4. August 1904 (vgl. Moser 2008: xxxv; Poole 1990: 401–405). An einer Stelle ist dies der Tag, an dem die Ashburnhams Bad Nauheim erreichen und sie die Dowells kennenlernen (GS 114).302 Der 4. August 1904 wird im Text jedoch später auch als das Datum genannt, an dem die Dowells und die Ashburnhams ihren mehrere Tage zuvor geplanten (!) Ausflug nach Marburg machen und an dessen Abend sie die tote Mrs Maidan entdecken (GS 78, 91). Diese zeitlichen Angaben sind offensichtlich nicht miteinander vereinbar, zumal es an anderer Stelle wiederum heißt, dass Edwards und Florences Affäre bereits in Paris im Jahre 1903 (also vor 1904) begann (GS 105). Andere zeitliche Unstimmigkeiten finden sich in Bezug auf Florences Selbstmord und die Zeit auf Branshaw Teleragh vor Edwards Selbstmord (vgl. dazu genauer Moser 1980: 162–163; 2008: xxxv–xxxvi). Für den Leser stellt sich die Frage, wem diese Fehler zuschreiben sind. Werden die Fehler im intratextuellen Kontextmodell verortet, d. h., sind die Fehler Dowell zuzuschreiben? Oder aber wird das extratextuelle Kontextmodell herangezogen und dem Autor Ford Madox Ford Unachtsamkeiten beim Schreiben seines Romans unterstellt? Während ein Großteil der Leser die Fehler auf Ford zurückführt (vgl. Moser 2008: xxxvi; Saunders 2004) und diese für die Rekonstruktion des Geschehens nicht berücksichtigt, ist diese Interpretation jedoch nicht zwingend. 303 So
301 “The narrator aspires to be ‘the good soldier,’ the conventionally fine fellow, yet has no expectation of ever being in the least like him in any but his most passive features, and these working not at the level of sexuality, as with Edward, but of malformed friendship.” (Schorer 1987 [1948]: 47) 302 Genauer gesagt wird Florence an diesem Tag Zeuge, wie Leonora Mrs Maidan ohrfeigt. Am Abend des 4. Augusts 1904 gehen die Dowells und Ashburnhams zum ersten Mal miteinander essen. 303 So schreibt Moser (2008: xxxvi): “My own feeling is that the inconsistencies are Ford’s. The novel’s chronology is complicated, and Ford’s changes of dates and character’s ages in the man uscript suggest that he has problems with it. Although Ford had an impressive memory, a love of history, and a commitment to concrete detail, he was sometimes impatient and careless with facts. […] The reader should view Dowell’s chronological variations with common sense, with
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kann der Leser auch die Fehler Dowell zuschreiben und diese als Weltkonflikte erkennen, die der Leser auflösen muss (vgl. Poole 1990, 2003). Poole tut dies, indem er dem Erzähler unterstellt, dass diese Weltkonflikte in Bezug auf die Daten ihn als Lügner entlarven. Nach dieser Argumentation ist Dowell nicht der nach Wahrheit und Erkenntnis strebende Erzähler, der er vorgibt zu sein. Stattdessen ist Dowell ein kaltblütiger Mörder, der seine Leserschaft über die eigene Rolle im Geschehen täuschen will. Poole konstruiert eine Kausalgeschichte, nach der Dowell und Leonora ein Liebespaar sind, sie ihre Ehepartner töten, ihre Suizide nur vortäuschen, und mit dem Erbe ein sorgenfreies Leben führen.304 Erst durch die Weltkonflikte in Bezug auf die Daten, die mit den verschiedenen Todesfällen korrespondieren, werden Dowells Darstellungen als Lügen entschleiert und wird er selbst als ironisch-unzuverlässiger Erzähler entlarvt. Auch wenn, wie Saunders (2004: 423) zu Recht bemerkt, eine solche Rekonstruktion der Geschehnisse für die meisten Leser wohl weit hergeholt erscheint, illustriert Pooles Interpretation, welche Auswirkungen es hat, wenn der Leser die Widersprüche als (vom Autor intentional gesetzte) Weltkonflikte innerhalb des fiktionalen Universums betrachtet. Abschließend stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass der Leser so heterogene Figurenmodelle von der Erzählerfigur entwerfen kann: als gewieften Kriminellen (vgl. Poole 1990, 2003), als naiven Idealisten (vgl. Ganzel 1984: 280) oder als psychisch Zurückgebliebenen (vgl. Meixner 1960). Zum einen hängt dies – wie gezeigt wurde – davon ab, wie der Leser das Geschehen rekonstruiert und inwieweit er mit Dowells Darstellungen oder Bewertungen übereinstimmt. Zum anderen ist dies darauf zurückzuführen, dass der Leser (im Gegensatz zu den Erzählerfiguren in David Copperfield und The Remains of the Day) wenig konkrete Informationen über Dowell bekommt, so dass dieser viel Projektionsfläche für Zuschreibungen bietet und sein Wesen auf höchst unterschiedliche Art interpretierbar wird: “Dowell is nothing. No ‘paradigm of traits’ can describe him, because there is nothing substantial to describe: no determining past, no consistency of opinion, no deep belief, no stable memory. […] There is no accounting for Dowell.” (Levenson 1984: 383)
attention, and, once again, with generosity.” Stannard (2003: 139) macht in diesem Zusammenhang auch auf die Schwierigkeiten als Herausgeber des Romans aufmerksam: “In short, the editor of a text with an unreliable narrator is caught, impossibly trying to distinguish between those ‘errors’ the author ‘intended’ to mark off this figure as unreliable, and those which are the result of the author’s inaccuracy.” 304 Poole (2003: 119) räumt trotz seiner extensiven Ausführungen ein, dass seine Lesart des Romans eine mögliche darstellt, aber nicht zwangsläufig die einzig richtige ist.
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3 Ambige Unzuverlässigkeit in Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) Als weiteres Beispiel für ambige Unzuverlässigkeit soll Bret Easton Ellis Roman American Psycho (AP) betrachtet werden. Das Werk unterscheidet sich insofern von anderen in dieser Arbeit untersuchten Erzählungen, als dass hier simultanes Erzählen den narrativen Modus bildet: „Simultaneous narration steht typischerweise im Präsens und hat sowohl den Charakter einer Selbstkommunikation wie einer adressatenorientierten Kommunikation; es bildet sich damit eine Erzählsituation aus, in der das Hier-und-Jetzt des Erzählens mit dem Hier-und-Jetzt eines erlebenden Ich zusammenfällt […].“ (Jahn 1998: 94) Da „Reflektor/Erzähler […] in Personalunion“ (Jahn 1998: 95) erscheinen, sind Erzähler-und Fokalisiererwelt deckungsgleich. Aus diesem Grund konstruiert der Rezipient auch kein eigenständiges intratextuelles Kontextmodell. In dem höchst kontroversen Roman305 schildert der Wall Street Yuppie Patrick Bateman sein Leben zwischen Partys, Restaurant- und Fitnessclubbesuchen auf der einen Seite sowie bestialischen Folterungen und Morden an Kollegen, Prostituierten, Obdachlosen und Kindern auf der anderen. Gerade die Gewaltexzesse werden jedoch nicht nur aufgrund der expliziten Darstellung diskutiert, sondern auch in Bezug auf die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz. Aus diesem Grund resümiert Bilton (2002: 260): “One of the fundamental debates regarding this novel is whether […] Bateman has actually committed the acts in the novel or simply fantasized about doing so.” Einige Forscher betrachten Bateman als einen perversen, aber zuverlässigen Erzähler, der als Serienkiller zahllose Opfer auf dem Gewissen hat (vgl. Baelo-Allué 2002; Grant 1999; Helyer 2000; Weinreich 2004; Zerweck 2001). So stellt Zerweck (2001: 157) fest: The gruesome narrator of Bret Easton Ellis’s American Psycho (1991), for instance, is ‘simply’ a murderer and a psychopath, and I would suggest that, although he is an ‘unreliable person,’ there is hardly any reason for readers to naturalize him as an unreliable narrator. There are no inconsistencies or contradictions in the narrative, whether textual or in relation to real-world or literary frames of reference. The narrator knows and openly tells of his deeds and motivations and makes no attempt to ‘hide’ his nature. There is no ‘detective framework’ involved and no unintentional self-incrimination takes place.
305 So wurde der Roman zunächst vielfach als misogyn, gewaltverherrlichend und pornographisch abgetan. Die New York Times etwa titelte „Don’t Buy This Book“ und die amerikanische National Organization of Women rief zum Boykott des Romans auf (vgl. Nicol 2009: 199).
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Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die argumentieren, dass Bateman die Morde nur imaginiert, ihm dies nicht bewusst ist, was ihn zu einem ironischunzuverlässigen Erzähler macht (vgl. Däwes 2008; Kooijman/Laine 2003; Storey 2005; Young 1993; Zondergeld/Wiedenstried 1998). Kooijman/Laine (2003: 48) stellen sich explizit gegen Zerwecks Lesart des Romans: “Bateman’s unreliability as a narrator forces the reader to realize that the killings only take place in Bateman’s mind.” Andere Forscher wiederum heben hervor, dass sich der Text eindeutigen Interpretationen entzieht und dass es offenbleibt, ob Bateman als ironisch-unzuverlässiger Erzähler betrachtet werden kann (vgl. Nicol 2009; Phillips 2009; Simpson 2000). Exemplarisch für diese dritte, vermittelnde Position sei auf Phillips (2009: 65) verwiesen: […] Patrick Bateman could be reliable, unreliable [sic] or somewhere in-between. We may thus diagnose an ongoing problem with the analysis of American Psycho: that it is ultimately impossible to determine where reliability ends and unreliability begins.
Die heterogene Rezeption des Romans in Bezug auf die (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers verweist auf das ambig-unzuverlässige Erzählen und eignet sich damit als hervorragendes Beispiel, um die Rezeption von ambig-unzuverlässigen Texten im Kontext der hier entwickelten Theorie zu erläutern. Um zu zeigen, warum der Rezipient nicht eindeutig entscheiden kann, ob Bateman ein zuverlässiger Erzähler ist, der als Serienkiller wahllos Menschen foltert und tötet, oder ob er nicht vielmehr ironisch-unzuverlässig ist und sich die Morde nur einbildet, sollen drei Aspekte betrachtet werden. In einem ersten Schritt werden am Beispiel des „Mordes“ an Paul Owen die Probleme des Rezipienten illustriert, die expliziten Konflikte zwischen der Erzählerwelt und anderen Figurenwelten aufzulösen. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, dass die Ambiguität bzgl. der Zuverlässigkeit des kognitiven Zentrums auch darauf zurückzuführen ist, dass der Rezipient in verschiedenen Fällen nicht eindeutig bestimmen kann, ob es implizite Konflikte zwischen Erzählerwelt und anderen Figurenwelten gibt. In einem letzten Schritt werden intertextuelle und intermediale Bezugnahmen im Roman betrachtet und es wird erläutert, inwiefern sich diese auf die Rekonstruktion des fiktionalen Universums und das (Nicht-)Erkennen impliziter Weltkonflikte auswirken.
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3.1 Zur Problematik der Hierarchisierung expliziter Weltkonflikte Ein zentrales Problem bei der Bestimmung der Zuverlässigkeit der Erzählinstanz besteht für den Leser darin, dass er die expliziten Konflikte zwischen der Erzählerwelt und anderen Figurenwelten hinsichtlich der Frage, ob Bateman seinen Kollegen Paul Owen getötet hat, nicht eindeutig hierarchisieren kann. Weder der Erzähler Bateman noch die anderen Figuren erscheinen wirklich glaubwürdig in ihren Aussagen über Paul Owen. Der (vermeintliche) Mord an Paul Owen nimmt auf inhaltlicher Ebene eine besondere Stellung im Roman ein und unterscheidet sich aus verschiedenen Gründen von den anderen Gewaltakten und bedarf daher einer separaten Betrachtung. Erstens ist Paul Owen eines der wenigen „Opfer“ Batemans, die eine Identität haben und dessen Verschwinden von anderen Figuren bestätigt wird.306 Zweitens ist die Tat die einzige, mit der Bateman im Verlauf der Erzählung verschiedene Male konfrontiert wird.307 Drittens – und dies ist besonders wichtig für die Untersuchung – ist der „Mord“ an Owen der einzige explizite Konflikt zwischen der Erzählerwelt und anderen Figurenwelten in Bezug auf ein Gewaltverbrechen. Paul Owen ist ein erfolgreicher Kollege Batemans, den Letzterer um dessen ominösen „Fisher account“ beneidet und deshalb verabscheut.308 Um ihn zu beseitigen, entwirft der Erzähler einen hinterlistigen Plan. Er gibt sich vor Owen als Marcus Halberstam aus (so dass dieser den Namen in seinem Terminkalender vermerkt), trifft sich mit ihm in einem nicht stark frequentierten Restaurant (wo er keine ihm bekannten Leute treffen kann), achtet darauf, dass Owen betrunken wird, und nimmt ihn dann mit in sein Apartment, wo er den Boden mit Zeitungen ausgelegt hat, bevor er sein argloses Opfer mit einer Axt erschlägt. Schließlich gelangt er mit Owens Schlüssel in dessen Apartment, wo er seine Stimme verstellt, sich als Owen ausgibt und den Anrufbeantworter mit der Ansage bespricht, dass er sich in London befinde. Schließlich packt er einen Koffer, um so den Anschein zu wahren, Owen sei tatsächlich auf Reisen (vgl. AP 205–210).
306 So beauftragt Owens Freundin einen Privatermittler, weil sie dessen plötzliche Reise nach London nicht glaubt. 307 Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, die jedoch für die vorliegende Untersuchung sekundär sind. So hat Bateman im Gegensatz zu vielen anderen seiner Taten explizite Motive, Paul Owen zu töten (vgl. Nicol 2009: 199; Weinreich 2004: 72) – er ist neidisch auf dessen „Fisher account“. 308 Der Neid des Erzählers lässt sich daran ablesen, dass Owen stets zusammen mit dem „Fisher account“ genannt wird (AP 5, 35, 47, 57–59, 87, 140).
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Diese Darstellung der Ereignisse wird jedoch im Laufe des Romans durch explizite Weltkonflikte in Zweifel gezogen. So gibt es Figuren, die Owen in London gesehen zu haben vorgeben,309 und Batemans Erzählerwelt damit in Frage stellen. Besonders deutlich wird der Konflikt zwischen Bateman und anderen Figurenwelten in einem Gespräch mit dem Anwalt Harold Carnes, dem der Erzähler zuvor auf den Anrufbeantworter seinen Mord an Owen gebeichtet hat: “Now, Carnes. Listen to me. Listen very, very carefully. I-killed-Paul-Owen-and-I-liked-it. I can’t make myself any clearer.” My stress causes me to choke on the words. “But that’s simply not possible,” he says, brushing me off. “And I’m not finding this amusing anymore.” “It never was supposed to be!” I bellow, and then, “Why isn’t it possible?” “It’s just not,” he says, eyeing me worriedly. “Why not?” I shout again over the music, though there’s really no need to, adding “You stupid bastard.” He stares at me as if we are both underwater and shouts back, very clearly over the din of the club, “Because … I had … dinner … with Paul Owen … twice … in London … just ten days ago.” After we stare at each other for what seems like a minute, I finally have the nerve to say something back to him but my voice lacks any authority and I’m not sure if I believe myself when I tell him, simply, “No, you … didn’t.” But it comes out a question, not a statement. (AP 373)
Für den Leser bieten sich also zwei Möglichkeiten, wie dieser Weltkonflikt aufzulösen ist. Entweder Batemans Erzählerwelt ist falsch, Owen lebt und die Schilderungen seiner Ermordung entstammen lediglich seiner Fantasie. Dafür spricht, dass verschiedene Figuren Kontakt zu Owen in London hatten oder diesen zumindest gesehen haben. Oder aber Carnes und die anderen Figuren täuschen sich, dass sie Owen gesehen haben, und Bateman hat Owen tatsächlich getötet. Für diese Position spricht zum einen, dass andere Figuren zunächst irrtümlich angenommen haben, Owen in London gesehen haben (AP 262), und dass sich zum anderen das Verwechseln von Figuren wie ein Leitmotiv durch den Roman zieht. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt das Kapitel „Christmas Party“ dar, in dem sämtliche Figuren ihre Gesprächspartner oder andere Partygäste ständig verwechseln. So wird der Erzähler Bateman von einer anderen Figur zunächst mit einem gewis-
309 Wobei fraglich ist, inwieweit der Information zu trauen ist, da sie von verschiedenen anonymen Quellen überliefert wird: “Someone I talk to through my lawyer tells me that Donald Kimball, the private investigator, has heard that Owen really is in London, that someone spotted him twice in the lobby of Claridge’s, once each at a tailor on Savile Row and at a trendy new restaurant in Chelsea.” (AP 289)
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sen „McCloy“ (AP 175) verwechselt. Später meint Bateman einen renommierten Investmentbanker zu entdecken und wird von seiner Freundin Evelyn korrigiert: “Delicious,” I murmur, craning my neck, spotting someone, suddenly impressed. “Hey, they didn’t tell me Laurence Tisch was invited to this party.” She turns around. “What are you talking about?” “Why,” I ask, “is Laurence Tisch passing around a tray of canapes?” “Oh god, Patrick, that’s not Laurence Tisch,” she says. “That’s one of the Christmas elves.” (AP 176)
Bald gesellt sich Batemans späteres „Mordopfer“ Paul Owen dazu, verwechselt Bateman und Evelyn jedoch mit Marcus Halberstam und dessen Freundin Cecilia und meint darüber hinaus (ebenso wie Bateman) Laurence Tisch unter den Gästen zu erspähen: “But I’d like to know why Laurence Tisch is serving the eggnog.” “That’s not Laurence Tisch,” Evelyn whines, genuinely upset. (AP 179)
Die Verwechslungen der Figuren bzw. die expliziten Weltkonflikte in Bezug auf die Identitäten der Figuren in dieser Szene können als paradigmatisch für den gesamten Roman gesehen werden, da Bateman auf der einen Seite selbst fortwährend die Identitäten anderer Figuren verwechselt,310 auf der anderen Seite aber selbst immer wieder das Opfer von Verwechslungen wird. So wird er als „Mr. McCullough“ (AP 76), „Marcus Halberstam“ (AP 86, 107, 137, 178), „Kinsley“ (AP 145), „Kevin“ (AP 156), „Davis“ (AP 171), „McCloy“ (AP 175) oder „Baxter“ (AP 187) angesprochen.311
310 Beispielsweise redet er eine Bekannte mit „Victoria“ an, die sich jedoch als „Samantha“ ausgibt (AP 82), an anderer Stelle verwechselt er einen Studienkommilitonen (AP 230–231). 311 Ohne diesen Aspekt weiter zu vertiefen, können die wiederholten Weltkonflikte in Bezug auf Figurenidentitäten als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Figuren in der TAW so fixiert auf (Kleidungs-) Marken sind, dass sie diese durch andere Identitätsreferenzen ersetzen. So schreibt etwa Grant (1999: 30): “Ironically, nobody notices that the people Bateman has killed are missing because they are virtually interchangeable, all wearing the same trendy upscale fashionwear and mouthing the same inane banter […]. ” Ebenso folgert Weinreich (2004: 70): “As everyone dresses according to exchangeable fashion-models, all individuals become virtually exchangeable. […] Despite the fact that every character appears to be described in closest detail, everyone in the novel is completely interchangeable, just like the brand-name commodities, which generate their presence in the first place.” Auch Young (1993: 103) argumentiert in die Richtung: “In addition, by his rigid adherence to an adspeak dress-code for his characters, Ellis continues his emphasis upon deindividualization in contemporary society. Finally, and very ironically, Ellis’s use of detailed dress-code to obliterate rather than to define character in the traditional sense ends up
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Die Problematik, dass Figuren die Identitäten anderer Figuren nicht zuordnen können, wird auch explizit in den Dialogen thematisiert, in denen es zu einem Konflikt zwischen Erzähler- und Figurenwelten bzgl. des „Mordes“ an Paul Owen kommt. Dies führt dazu, dass die Glaubwürdigkeit der verschiedenen, der Erzählerwelt widersprechenden Figurenwelten unterminiert wird. So möchte der private Ermittler Donald Kimball, der das Verschwinden Paul Owens untersucht, im Gespräch mit Bateman das Alibi von Marcus Halberstam überprüfen, mit dem Paul Owen laut dessen Terminkalender eine Verabredung am Abend seines Verschwindens hatte (Bateman hatte sich vor Owen als Halberstam ausgegeben). Der echte Halberstam bestreitet, Owen an dem Abend getroffen zu haben, und gibt an, den Abend mit verschiedenen anderen Personen verbracht zu haben, darunter auch Bateman (“‘He was at Atlantis with Craig McDermott, Frederick Dibble, Harry Newman, George Butner and’―Kimball pauses, then looks up―‘you.’”) (AP 264). Offensichtlich kommt es an dieser Stelle zu einem Weltkonflikt zwischen dem Erzähler und der Figurenwelt Halberstams. Es stellt sich die Frage, ob Halberstam Bateman verwechselt (was die Hypothese stärken würde, dass Bateman Owen tatsächlich getötet hat) oder ob Bateman tatsächlich den Abend mit Halberstam und dessen Bekannten verbracht hat, so dass der Erzähler Owen nicht umgebracht haben könnte (und der Mord daher nur Batemans Fantasie entsprungen sein kann). Auch im Gespräch zwischen der Erzählerfigur und ihrem Anwalt Harold Carnes wird die Problematik der Identitäten hervorgehoben und damit die Autorität von Batemans Gesprächspartner untergraben. Harold Carnes, der überzeugt ist, mit Owen in London zwei Mal zu Abend gegessen zu haben, verwechselt den Erzähler in dem Gespräch mit „Davis“ (AP 372) und macht sich über Bateman lustig, ohne zu wissen, dass dieser vor ihm steht (AP 372). Offen bleibt daher, ob sich Carnes nicht auch über die Identität desjenigen täuscht, den er in London getroffen hatte. Für den Leser ist daher nicht zu entscheiden, welchem der in Konflikt stehenden Weltmodelle er mehr Glauben schenken und wie er das fiktionale Universum konstruieren soll. Möglich ist ein fiktionales Universum, in dem Bateman Paul Owen umbringt, dessen Tod allerdings nicht bemerkt bzw. bestätigt wird, weil die anderen Figuren Paul Owen aufgrund ihrer eigenen Selbstbezogenheit ständig verwechseln. Nach dieser Lesart ist Bateman folglich ein zuverlässiger Erzähler. Genauso plausibel ist aber auch ein fiktionales Universum, in dem Bateman Paul Owen nicht umbringt, dieser sich stattdessen tatsächlich in London aufhält,
contributing to the mechanics of the plot in an entirely traditional sense–the ‘plot’ such as it is, eventually turns upon the impossibility of anyone distinguishing one character from another.”
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andere Figuren Kontakt zu ihm haben und Bateman seinen Mord daher nur imaginiert – er wäre somit ein ironisch-unzuverlässiger Erzähler.
3.2 Zur Problematik der Rekonstruktion von Figurenwelten und dem Erkennen von impliziten Weltkonflikten Im Gegensatz zum Mord an Paul Owen fallen den weiteren Morden und Gewaltverbrechen Batemans Figuren zum Opfer, deren Identität entweder unbekannt (Passanten, Obdachlose) oder deren wahre Identität fragwürdig (Prostituierte) ist.312 Im weiteren Verlauf der Handlung wird Bateman nicht mehr mit diesen vermeintlichen Gewalttaten konfrontiert – weder der Leser noch Bateman erfährt, ob jemand die „Opfer“ vermisst, noch ob diese „Verbrechen“ in irgendeiner Form verfolgt werden.313 Aus diesem Grund gibt es im Gegensatz zum Beispiel von Paul Owen auch keine expliziten Weltkonflikte zwischen der Erzählerwelt und anderen Figurenwelten bzgl. des (Ab-)Lebens seiner Opfer. Die Unsicherheit bzgl. der Zuverlässigkeit der Darstellung Batemans resultiert daraus, dass der Rezipient andere Figurenwelten aufgrund ihres Verhaltens nicht zweifelsfrei rekonstruieren kann und daher nicht eindeutig zu bestimmen vermag, ob es Weltenkonflikte zwischen der Erzählerwelt und anderen Figurenwelten bzgl. der geschilderten Gräueltaten gibt oder nicht. Wie in Kapitel V.3.1 bereits ausgeführt, rekonstruiert der Rezipient Figurenwelten auch durch mind-reading anhand ihres Verhaltens. Dazu ist allerdings notwendig, dass der Leser einen narrativen Kontext bzw. eine Kausalgeschichte generieren kann, um Erklärungen für das Verhalten der Figuren zu finden. Dabei wird der Rezipient jedoch in American Psycho vor Probleme gestellt. So bleibt für den Leser an vielen Stellen unklar, warum andere Figuren (scheinbar) nicht auf die unübersehbaren Spuren von Batemans Gewaltexzessen reagieren. Es gibt zwei mögliche Erklärungen für das Verhalten der anderen Figuren: Erstens haben die Verbrechen nicht stattgefunden. Folglich gibt es auch keine Spuren der Gewalt und die Figuren reagieren aus diesem Grund nicht. Nach dieser Interpretation gibt es implizite Konflikte zwischen Batemans Erzählerwelt (in der er furchtbare Ver-
312 So stellt Phillips (2009: 64) fest: “Many of the violent attacks described by Bateman are inflicted upon the nameless, vagrants and prostitutes, whose identities cannot be verified and whose existence cannot be proven.” 313 Eine Ausnahme bilden ein erneutes Zusammentreffen mit einem Obdachlosen, dem Bateman (so zumindest seine Schilderung) das Gesicht zerschnitten und den er geblendet hat, sowie ein Treffen mit einer Prostituierten, die er beim ersten Zusammentreffen quält (AP 169) und beim zweiten Treffen (AP 278–279) zerstückelt.
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brechen begeht) und anderen Figurenwelten (in denen die Verbrechen nicht stattgefunden haben). Zweitens kann der Rezipient die Reaktionen der Figuren auch so deuten, dass diese die Spuren zwar wahrnehmen, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht darauf reagieren. Nach dieser Lesart gibt es folglich keine impliziten Weltkonflikte – Bateman ist ein zuverlässiger Erzähler – und die Verbrechen und die Spuren wären Fakten in der TAW. Die Problematik des Bestimmens der Figurenwelten (und somit des mind-reading) soll anhand verschiedener Beispiele erläutert werden. Nachdem Bateman einen Obdachlosen mit einem Messer das Gesicht zerschnitten hat, setzt er sich (nach eigener Darstellung) mit einem Blut verschmierten Jackett in eine McDonald’s-Filiale, als ein Mitarbeiter auf ihn aufmerksam wird und seine Jacke anstarrt: One of the Mexicans working behind the counter stares at me while smoking a cigarette and he studies the stains on my Soprani jacket in a way that suggests he’s going to say something about it, but a customer comes in, one of the black guys who tried to sell me crack earlier, and he has to take the black guy’s order. So the Mexican puts out his cigarette and that’s what he does. (AP 127)
Da der Mitarbeiter ihn nicht mit seiner Wahrnehmung konfrontiert, bleibt unklar, warum er Batemans Jacke anstarrt. Sind es wirklich die Blutspuren an Batemans Jacke, welche er gesehen hat, oder betrachtet er einfach einen ungewöhnlichen Gast? Immerhin ist Bateman mit seinem teuren Designer-Anzug kein alltäglicher Kunde in einem Fast-Food-Restaurant.314
314 Eine ähnliche Situation findet sich später, als Bateman ein Kind im Zoo tötet. Auch wenn es nicht sehr plausibel – aber dennoch möglich – erscheint, dass niemand in der anonymen Masse im Zoo von Batemans Tat Notiz nimmt, erscheint es doch fragwürdig, dass er mit Blutspuren an Jacke und Händen ein Buch und ein Eis kaufen kann, ohne dass ihn jemand in irgendeiner Weise auf die Kleidung anspricht: “[U]ntil finally I’m walking down Fifth Avenue, surprised by how little blood has stained my jacket, and I stop in a bookstore and buy a book and then at a Dove Bar stand on the corner of Fifth-sixth Street, where I buy a Dove Bar―a coconut one―and I imagine a hole, widening in the sun, and for some reason this breaks the tension I started feeling when I first noticed the snowy owl’s eyes and then when it recurred after the boy was dragged out of the penguin habitat and I walked away, my hands soaked with blood, uncaught.” (AP 288) Für einen gemeinsamen Urlaub kauft Bateman seiner Freundin Evelyn einen kleinen Chow Chow, den sie „NutraSweet“ nennt und mit Trüffeln füttert (AP 269–271). Als Bateman das Tier aus Langeweile und Mordlust tötet, zeigt Evelyn keine Reaktion auf das Verschwinden des Hundes: “Eventually I drowned the chow, which Evelyn didn’t miss; she didn’t even notice its absence, not even when I threw it in the walk-in freezer, wrapped in one of her sweaters from Bergdorf Goodman.” (AP 271) Wie immer lässt das Verhalten der Figur zwei sich ausschließende Erklärungen zu: entweder der Chow Chow hat gar nicht existiert oder Bateman tötet ihn und Evelyn, die
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Auch das Verhalten von Batemans Haushälterin lässt Raum für Interpretationen. So beseitigt diese ohne irgendwelche Reaktionen oder Nachfragen die Blutspuren in Batemans Wohnung: “Tuesday morning and I’m standing by my desk in the living room on the phone with my lawyer, alternately keeping my eye on The Patty Winters Show and the maid as she waxes the floor, wipes blood smears off the walls, throws away gore-soaked newspapers without a word.” (AP 367) Wieder stellt sich die Frage, warum die Haushälterin die Überreste der Gewaltexzesse so anstandslos beseitigt. Weil es sie nicht gibt oder weil sie auf das Geld Batemans angewiesen ist und die Stelle nicht verlieren will?315 Ähnliche Probleme, das Verhalten der Figuren zu deuten und damit einen Weltenkonflikt zu erkennen, finden sich auch im Anschluss an seinen vermeintlichen Mord an Paul Owen. Nachdem er Owen mit der Axt getötet hat und zu dessen Apartment fährt, merkt Bateman im Taxi, dass er immer noch seinen mit Blut befleckten Regenmantel trägt: “I take a cab to Owen’s apartment on the Upper East Side and on the ride across the Central Park in the dead of this shifting June night in the back of the taxi it hits me that I’m still wearing the bloody raincoat.” (AP 209) Allerdings bleibt dies ohne Konsequenz, da der Taxifahrer offenbar keine Notiz davon nimmt. Hier stellt sich die Frage, ob der Taxifahrer nicht reagiert, weil der Mord an Owen seiner Fantasie entspringt, oder ob er in Aussicht auf ein hohes Trinkgeld seinen Fahrgast in Ruhe lässt. Vergleichbares passiert kurze Zeit später, als Bateman Paul Owens Leichnam verschwinden lassen will. Um den Körper mit einem Taxi (!) zu einem Gebäude in Hell’s Kitchen transportieren zu können, verstaut er zunächst die Leiche in einen Schlafsack, fährt dann mit dem toten Owen im Fahrstuhl, zieht diesen durch die Lobby seines Apartments am Portier vorbei und trifft auf der Straße schließlich Arthur Crystal und Kitty Martin, die ihn jedoch nicht – wie man erwarten würde – nach dem ominösen Schlafsack fragen, sondern danach, welche Kleidungsregeln beim Dinner mit weißen Jacketts befolgt werden müssen (AP 210). Wieder zeigt keine der Figuren eine Reaktion auf Batemans seltsames Verhalten. Aus diesem Grund stellt Young (1993: 112) die Erzählerwelt in Frage: “Is the reader still taking him seriously?” Sie interpretiert also das Verhalten der Figuren dahin gehend, dass diese nichts Auffälliges wahrnehmen, da es nicht Auffälliges gibt, und zweifelt somit an Batemans
den Hund ohnehin eher als Utensil denn als Lebewesen angesehen hat, kümmert sich nicht um dessen Verschwinden. 315 So merkt Storey (2005: 61) in Bezug auf die Haushälterin an: “Would she stay silent about finding a decapitated head wearing sunglasses on the kitchen work surface? Or were there no remains to find because the murders never took place. Or perhaps there is no maid?” Bateman selbst interpretiert ihr Verhalten folgendermaßen: “Faintly it hits me that she is lost in a world of shit, completely drowning in it […]. ” (AP 367)
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Darstellung der Ereignisse (vgl. Young 1993: 112). Allerdings bietet sich auch eine andere Interpretation für das Verhalten der Figuren an. So erklärt Bateman das Verhalten der beiden Figuren damit, dass sie fremdgehen (und von ihm erwischt werden) und aus diesem Grund versuchen, möglichst schnell wegzukommen und ihn daher nicht in ein Gespräch verwickeln möchten.316 Insofern kann das Verhalten der Figuren auch so verstanden werden, dass sie den Schlafsack mit Leichnam zwar wahrnehmen, aber Bateman nicht ansprechen, weil sie selbst etwas zu verbergen haben. In einem anderen Fall begegnet Bateman einem angeblichen früheren Opfer seiner Gewaltexzesse. Er trifft in einem Club auf eine Frau, die er gequält und fast getötet hatte: “Well … Hi.” I smile weakly but soon regain my confidence. Alison would have never told anyone that story. Not a soul could’ve possibly heard about that lovely, horrible afternoon. I grin at her in the darkness of Nell’s. “Yeah, I remember you. You were a real …” I pause, the growl, “manhandler.” She says nothing, just looks at me like I’m the opposite of civilization or something. (AP 199)
Wieder bleiben die Gründe für das Verhalten der Figur unklar: die Reaktion der Frau kann entweder auf Batemans chauvinistischen Spruch zurückgeführt werden oder auf ihre Erinnerung an die tatsächlichen Folterungen, wie es bei Bateman der Fall ist. Ähnlich mysteriös ist auch das Verhalten eines Taxifahrers in einer anderen Episode. Dieser meint Bateman auf einem Fahndungsplakat erkannt zu haben und beschuldigt ihn, seinen Kollegen Solly getötet zu haben (AP 376–378). Kurz darauf jedoch bedroht der Taxifahrer Bateman mit einer Pistole und fordert seine Rolex, Bargeld und seine Sonnenbrille. So bleibt auch in dieser Szene unklar, ob der Taxifahrer Bateman tatsächlich als gesuchten Mörder identifiziert oder ob er Bateman nur überfallen wollte, wie Young (1993: 116) aus seinem Verhalten schließt.317 Das Problem, das Verhalten der Figuren zu interpretieren, findet sich jedoch nicht nur im Kontext seiner Gewaltverbrechen, sondern auch, wenn er anderen Figuren droht oder ihnen von seinen Taten und Gewaltfantasien erzählt. Wie bei
316 “Luckily Kitty Martin is supposed to be dating Craig McDermott, who is in Houston for the night, so they don’t linger, even though Crystal–the rude bastard–asks me what the general rules of wearing a white dinner jacket are.” (AP 210) 317 Weitere Beispiele, in denen das Verhalten anderer Figuren nicht eindeutig zu erklären ist, finden sich zahlreich: Bateman verstaut nach eigenen Angaben drei Vaginas, die er zuvor aus Frauen geschnitten hat, in seinem Spind im Fitnessstudio (AP 356). Allerdings scheint niemand der anderen Gäste auf den zwangsläufig einsetzenden Verwesungsgeruch zu reagieren. Auch gibt der Erzähler an, Gehirne seiner Mordopfer an Hunde (AP 370) zu verfüttern – nie wird er dabei von jemandem angesprochen.
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seinen Taten reagiert seine Umwelt entweder gar nicht oder nur unzureichend auf seine Worte. So sagt er zu einer Bedienung in einem Club: “‘You are a fucking ugly bitch and I want to stab you to death and play with your blood.’” (AP 57) Dass die Frau nicht auf seine Äußerung reagiert, führt der Erzähler darauf zurück, dass die Musik und die Leute im Club zu laut sind.318 Es ist aber auch denkbar, dass Bateman dies gar nicht gesagt hat. Gleichzeitig wird auch Patricks auditive Wahrnehmung an verschiedenen Stellen durch andere Figurenwelten in Frage gestellt: “Luis is a despicable twit,” she [Courtney] gasps, trying to push me out of her. “Yes,” I say, leaning on top of her, tonguing her ear. “Luis is a despicable twit. I hate him too,” and now, spurred on by her disgust for her wimp boyfriend, I start moving faster, my climax approaching. “No, you idiot,” she groans. “I said ‘Is it a receptacle tip?’ Not ‘Is Luis a despicable twit.’ Is it a receptacle tip? Get off me.” (AP 99; Hervorhebung im Original)319
Doch auch wenn andere Figuren Bateman akustisch verstehen, scheinen sie seine Worte nicht aufzunehmen. Als Bateman einer anderen Frau berichtet, dass er eine behinderte Obdachlose verprügelt hat, weil diese zu hässlich war, um sie zu vergewaltigen, reagiert seine Gesprächspartnerin nicht auf seine Worte (AP 204–205) und hat kurz darauf Sex mit ihm. Ähnliches passiert bei den Gesprächen mit seiner Verlobten Evelyn. So erzählt er dieser am Telefon, dass er den Kopf ihrer Nachbarin in seinem Kühlschrank lagert, ohne dass Evelyn darauf reagiert (AP 114). Bei einem gemeinsamen Dinner referiert Evelyn von ihrer idealen Hochzeit, während Bateman ihr (so seine Darstellung) sagt, wie er dabei ihre Mutter erschießen würde (AP 119): “I’d want a zydeco band, Patrick. That’s what I want. A zydeco band,” she gushes breathlessly. “Or mariachi. Or reggae. Something ethnic to shock daddy. Oh I can’t decide.” “I’d want to bring a Harrison AK-47 assault rifle to the ceremony,” I say, bored, in a rush, “with a thirty-round magazine so after thoroughly blowing your fat mother’s head off with it U could use it on that fag brother of yours. And though personally I don’t like to use anything
318 Eine ähnliche Situation findet sich wenige Seiten später: “Before I leave, the Eurotrash girls tells me she likes my gazelleskin wallet. I tell her I would like to tit-fuck her and then maybe cut her arms off, but the music, George Michael singing ‘Faith,’ is too loud and she can’t hear me.” (AP 77) 319 Ähnliches passiert im Gespräch mit seinem Bruder Sean: “‘Damien. You’re Damien,’ I think I hear Sean mutter. ‘What did you say?’ ‘Nice tan,’ he sighs. ‘I said nice tan.’” (AP 220)
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the Soviets designed, I don’t know, the Harrison somehow reminds me of …” Stopping, confused, inspecting yesterday’s manicure, I look back at Evelyn. “Stoli?” “Oh, and lots of chocolate truffles. Godiva. And oysters. Oysters on the half shell. Marzipan. Pink tents. Hundreds, thousands of roses. Photographers. Annie Leibovitz. We’ll get Annie Leibovitz,” she says excitedly. “And we’ll hire someone to videotape it!” “Or an AR-15. You’d like it, Evelyn: it’s the most expensive of guns, but worth every penny.” I wink at her. But she’s still talking; she doesn’t hear a word; nothing registers. She does not fully grasp a word I’m saying. My essence is eluding her. She stops her onslaught and breathes in and looks at me in a way that can only be described as dewy-eyed.” (AP 119–120.; Hervorhebung im Original)
In einer ähnlichen Situation erzählt er seinem Bekannten Armstrong, sein Leben sei die Hölle und er wolle viele Menschen töten, ohne dass dieser darauf eingeht (AP 136).320 Wieder ist zu überlegen, ob Bateman diese Gedanken wirklich laut ausspricht. Denkbar wäre auch, dass der Erzähler diese Dinge nur in seiner Fantasie zu Evelyn und Armstrong sagt. Genauso plausibel ist jedoch, dass Evelyn und Armstrong in ihren Gesprächen mit Bateman so sehr auf sich selbst fixiert sind, dass sie ihm nicht zuhören und deshalb nicht auf das Gesagte reagieren. Dass eine solche Interpretation in Betracht kommt, zeigt sich auch an Bateman selbst, der Evelyns „Monologen“ ebenfalls nicht folgt: Evelyn is talking but I’m not listening. Her dialogue overlaps her own dialogue. Her mouth is moving but I’m not hearing anything and I can’t listen. […] Evelyn hasn’t broken her monologue―she talks and chews exquisitely―and smiling seductively at her I reach under the table and grab her thigh, wiping my hand off, and still talking she smiles naughtily at me and sips more champagne. I keep studying her face, bored by how beautiful she is, flawless really, and I think to myself it is that Evelyn has pulled me through so much […]. (AP 118)
Ein solches fehlendes Interesse am Gesprächspartner findet sich an zahlreichen Stellen.321 Im selben Maße wie bei seinen Gewalttaten bleibt offen, ob er
320 “‘My life is a living hell,’ I mention off the cuff, while casually moving leeks around on my plate, which by the way is a porcelain triangle. ‘And there are many more people I, uh, want to … want to, well, I guess murder.’ I say this emphasizing the last word, staring straight into Armstrong’s face.” (AP 136; Hervorhebung im Original). 321 Als er sich mit Paul Owen trifft, zeigt dieser auch wenig Interesse am Erzähler als Gesprächspartner, so dass Bateman überlegt, wie er die Aufmerksamkeit seines Gegenübers gewinnen kann: “Every time I attempt to steer the conversation back to either tanning salons or brands of cigars or certain health clubs or the best places to jog in Manhattan and he keeps guffawing, which I find totally upsetting. I’m drinking Southern beer for the first part of the meal―pre entrée, post appetizer―then switch to Diet Pepsi midway through since I need to stay slightly sober. I’m about to tell Owen that Cecilia, Marcus Halberstam’s girlfriend, has two vaginas and that we plan to wed next spring in East Hampton, but he interrupts.” (AP 207)
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die Dinge tatsächlich sagt oder ob sie nur Teil seiner Fantasie sind (vgl. Young 1993: 98).322 Daraus leitet sich das generelle Problem ab, die Werte der Figuren in der TAW zu rekonstruieren. Da im Roman nur Figuren aus Batemans Umfeld näher beschrieben werden, stellt sich die Frage, ob die anderen Figuren dieselben Werte wie Bateman und seine Bekannten teilen. Sind die anderen Figuren ebenso nur auf sich, auf Geld und Konsum fixiert? Zu einem solchen Ergebnis kommt Simpson (2000: 151): In the world of American Psycho, superficially slick but hollow characters such as Carnes are too self-absorbed to listen to another’s words and too vapid to realize their content. Their narcissism, expressed in their fitness quests for ‘hardbodies,’ provides the climate of social indifference in which the homeless and the helpless can be victimized (or ‘wilded’) with impunity by a Patrick Bateman.
Die Selbstzentriertheit der Figuren des fiktionalen Universums wird auch von Batemans Sekretärin Jean reflektiert, wenn sie über sein (angebliches) Empathievermögen sinniert: “‘That’s a very rare thing in what’ – she stops again – ‘is a … I guess, a hedonistic world.’” (AP 363) Die Selbstzentriertheit der Figuren in der TAW wird auch zu Beginn des Romans deutlich, als Bateman eine Panikattacke bekommt, jedoch keine der Figuren auf der Straße dem offensichtlich orientierungslosen Erzähler hilft, sie ihn sogar bewusst zu ignorieren scheinen (“[B]ut people pass, oblivious, no one pays attention, they don’t even pretend to not pay attention”, AP 144 [Hervorhebung im Original]). Allerdings werden selbst solche Eindrücke durch den Text augenblicklich wieder in Frage gestellt. Als Bateman während der Panikattacke einen Bekannten trifft, rülpst er diesem ins Gesicht, so dass dieser Teile seines zuvor Erbrochenen abbekommt. Da dieser darauf nicht reagiert, hegt Young (1993: 111) Zweifel, ob das Geschehene tatsächlich so stattgefunden haben kann: “The man is unfazed which suggests that either, once again, Patrick’s narrative is seriously askew, or that the legendary tolerance of New Yorkers for terminal weirdness is well deserved.” Auf die Spitze getrieben werden die Unsicherheiten in Bezug auf die Werte und Motive der Figurenwelten in dem Kapitel, in dem Bateman in Paul Owens Apartment zurückkehrt, wo er die Leichen oder eher Überreste zweier Prostituier-
322 So bemerkt Nicol (2009: 202): “A repeated source of black comedy in the novel are the episodes in which Bateman apparently comments out loud on his horrific deeds. It may be that these admissions occur only in his head, or they are provocative boasts which prove just what he can get away with.”
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ter lagert.323 Dort erwartet ihn zu seiner Überraschung eine Maklerin, die Leichen sind verschwunden und die Wohnung ist gesäubert (AP 354). Der Erzähler fragt verwundert, ob dies nicht Paul Owens Apartment sei, was die Maklerin verneint. Die Maklerin ihrerseits möchte vom verunsicherten Bateman wissen, ob er wegen der Werbung in der Times da sei, was er bejaht. Dies stellt sich jedoch als Fangfrage der Maklerin heraus, die ihn sodann mehrmals auffordert zu gehen und niemals wiederzukommen (AP 355–356). Erneut kann das Verhalten von Batemans Gegenüber auf verschiedene Arten gedeutet werden, wie ein Blick auf die mannigfaltigen Analysen deutlich macht. So führen einige das Verhalten der Maklerin darauf zurück, dass sie die Leichen der Prostituierten habe verschwinden lassen, um einen möglichst hohen Preis für die Wohnung zu erzielen: When Patrick goes back to Paul Owen’s apartment, a venue he used to slaughter two pros titutes (having previously disposed of Owen), he finds the real estate agent there, intent on covering up the carnage, for the sake of reletting the property. In contemporary society, fast moving and acquisitive, monetary loss is held above loss of life. (Helyer 2000: 729)324
Nach dieser Position hat Bateman die Frauen folglich tatsächlich umgebracht. Eine solche Argumentation hält Young dagegen für nicht plausibel: “Can it be possible that a dreadful double murder was concealed for the sake of a grasping real-estate sale?” (Young 1993: 115) Für Young dagegen hat Bateman die Morde nicht begangen und die Maklerin schmeißt lediglich einen unangemeldeten und lügenden Passanten vor die Tür. Wieder zeigt sich, wie abhängig die Identifika-
323 Wie in den anderen Fällen gibt es keine Reaktionen der Umwelt auf das Verschwinden der beiden Frauen, was Bateman zur Kenntnis nimmt, aber auf die Selbstbezogenheit der Umgebung schiebt. Er zweifelt nicht an seiner eigenen Wahrnehmung: “One hundred and sixty-one days have passed since I spent the night with the two escort girls. There has been no word of bodies discovered in any of the city’s four newspapers or on the local news; no hints of even a rumor floating around. I’ve gone so far as to ask people–dates, business, acquaintances–over dinners, in the halls of Pierce & Pierce if anyone has heard about two mutilated prostitutes found in Paul Owen’s apartment. But like in some movie, no one has heard anything, has any idea of what I’m talking about. There are other things to worry over: the shocking amount of laxative and speed that the cocaine in Manhattan is now being cut with, Asia in the 1990s, the virtual impossibility of landing an eight o’clock reservation at PR, the new Tony McManus restaurant on Liberty Island, crack.” (AP 352–353) 324 Eine solche Sichtweise vertritt auch Baelo-Allué (2002: 38): “The estate agent seems to understand what has happened but she does not seem to care, she lives in a society too obsessed with appearances and money and Owen’s flat is too valuable to risk an expensive sale.” Ähnlich argumentiert auch Weinreich (2004: 76).
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tion von Weltkonflikten vom mind-reading des Lesers ist (und welche mentalen Zustände er den Figuren zuschreibt).
3.3 Zur Problematik der Bestimmung der storyworld logic und dem Erkennen von impliziten Weltkonflikten Neben den Schwierigkeiten, die Weltenmodelle in Bezug auf den Mord an Paul Owen zu hierarchisieren sowie anhand des Verhaltens der Figuren zu entscheiden, ob es implizite Konflikte zwischen den Weltmodellen gibt, resultieren das ambig-unzuverlässige Erzählen und damit die Unsicherheit des Lesers in Bezug auf das Geschehen im fiktionalen Universum aus der Tatsache, dass er nicht eindeutig bestimmen kann, in welchem Maße die storyworld logic der TAW mit der eigenen Erfahrungswelt übereinstimmt. Aus diesem Grund kann der Rezipient nicht entscheiden, ob spezifische Ereignisse in der TAW tatsächlich auf diese Weise stattgefunden haben können und ob ein Konflikt zwischen der Erzählerwelt der TAW vorliegt oder nicht. Während des gesamten Romans geschehen in der TAW seltsame, in der Welt des Lesers höchst unwahrscheinliche Dinge. Beispielsweise gibt es ein italienisch-thailändisches Restaurant im Roman (AP 61).325 Ein koreanischer Delikatessenhändler beginnt plötzlich, „Lightninʼ Strikes“ zu singen, nachdem Bateman einen Stapel Früchte umgestoßen hat (AP 145). Bateman beißt in einem Eis auf ein Stück Knochen (AP 371) und während er mit der Maklerin in Paul Owens Apartment spricht, läuft im Hintergrund eine Fernsehwerbung, in der eine der Figuren „shit“ sagt (AP 355) – was in der konservativen Fernsehlandschaft Amerikas der 1980er in der actual world undenkbar wäre.326 Entspringen diese (noch harmlosen) Geschehnisse also Batemans Fantasie oder sind sie Teil der TAW? Die Rekonstitution der TAW wird besonders durch intertextuelle und intermediale Bezugnahme erschwert. Auf den ersten Blick scheint das fiktionale Universum in hohem Maße mit der Welt des Lesers übereinzustimmen – so dass der Rezipient geneigt sein mag, das fiktionale New York in den 1980ern mit dem New York der AW gleichzusetzen. Der Schauplatz ist New York, es wird auf Zeitschriften (New York Times, Sports Illustrated, Rolling Stone), Marken (Sony, Rolex), Persönlichkeiten (Tom Cruise, Donald und Ivana Trump, Whitney Houston), Musikbands
325 Young (1993: 107) fragt daher zu Recht: “[Can] an ‘Italian-Thai’ exist?” 326 “On the TV, in a commercial, a man holds up a piece of toast and tells his wife, ‘Hey, you’re right … this margarine really does taste better than shit.’ The wife smiles.” (AP 355; Hervorhebung im Original)
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(U2, Genesis, Huey Lewis and the News) oder Fernsehsendungen (Late Night with David Letterman) aus der Erfahrungswelt des Lesers Bezug genommen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Charaktere und Elemente aus anderen fiktionalen Werken, die Teil der TAW sind: Alison Poole is the lead character of Jay McInerney’s Story of my Life (1988), whilst Bohoartist ‘Stash’ is borrowed from Tama Janowitz’s Slaves of New York (1986). Similarly, the corporation where Bateman ‘works’, Pierce & Pierce (also symbolic of his out-of-hours activities), is taken from Tom Wolfe’s Bonfire of the Vanities (1987), and even Gordon Gekko, from Oliver Stone’s 1988 satire, Wall Street gets a passing mention […]. (Bilton 2002: 206–207)
Diese intertextuellen Bezugnahmen können als metafiktionaler Hinweis für den Leser begriffen werden, den Roman nicht unkritisch als mimetisch-abbildendes Bild des New York der 1980er zu begreifen, und werfen damit gleichzeitig die Frage auf, inwieweit die Gesetzmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten der TAW mit denen der AW übereinstimmen.327 Die Unsicherheit bzgl. der Konstitution der TAW wird nicht nur durch Intertextualität328, sondern auch durch intermediale Bezüge hervorgerufen.329 Besonders auf das Medium Film wird auf verschiedenen Ebenen Bezug genommen. Auf der Handlungsebene ist der Film omnipräsent, da Bateman fast täglich Splatterfilme und Pornos konsumiert. Der Erzähler nimmt seine Umgebung mit einer medialisierten Brille wahr, was auf der discourse-Ebene dadurch hervorgehoben wird, dass er immer wieder auf Filmvokabular zurückgreift, wenn er das Geschehen beschreibt.330 So spricht er von Filmtechniken wie „a slow dissolve“ (AP 7), „pan down“ (AP 4, 5), „slow motion“ (AP 60, 83, 110, 152, 221, 235, 370), „[l]ike a smash cut in an horror movie―a jump zoom―“ (AP 281), „as if this film speeded up“
327 Dieses Spannungsfeld von Fakt und Fiktion wird ebenfalls in der Tatsache gespiegelt, dass Bateman bei Serienkillern nicht danach unterscheidet, ob es sich um fiktive oder reale Massenmördern handelt: “Bateman talks about notorious real-life serial killers and fictional ones with no apparent discernment between them.” (Simpson 2000: 150) 328 An dieser Stelle muss auch auf die intertextuelle bzw. die intermediale Bezugnahme in der Namensgebung des Protagonisten hingewiesen werden. So kann der Name des Erzählers Patrick Bateman als ein intertextueller bzw. intermedialer Verweis auf die Comicfigur Batman oder auf Norman Bates aus Hitchcocks Psycho verstanden werden (vgl. Freccero 1997: 51; Simpson 2000: 150), um damit auf die zwei Identitäten des Protagonisten anzuspielen. 329 Intermediale Bezüge treten nach Rajewsky (2002: 17) dann auf, wenn „Elemente und/oder Strukturen eines anderen, konventionell als distinktiv wahrgenommenen Mediums mit den eigenen, medienspezifischen Mitteln thematisiert, simuliert oder soweit möglich, reproduziert werden.“ 330 Aus diesem Grund folgert Grant (1999: 30): “Thus Bateman’s very perception is structured by the technical conventions of popular movies.” Ähnlich auch Däwes (2008: 174).
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(AP 361), „a hardcore montage“ (AP 291), „another broken scene in what passes for my life“ (AP 374). An verschiedenen Stellen vergleicht er sein Leben mit einer soap opera.331 Als seine Sekretärin Jean, die offensichtlich in Bateman verliebt ist, diesen nach einem Dinner umarmt, reflektiert der Erzähler den Einfluss von Filmen auf seine Fantasie und Wahrnehmung: I am so used to imagine everything happening the way it occurs in movies, visualizing everything happening the way it occurs in movies, visualizing things falling somehow into the shape of events on a screen, that I can almost hallucinate the camera panning low around us, fireworks bursting in slow motion overhead, the seventy-millimeter image of her lips parting and subsequent murmur of “I want you” in Dolby Sound. (AP 254–255; Hervorhebung im Original)
Die medialisierte Wahrnehmung des Erzählers wird im besonderen Maße durch die leitmotivische Wiederholung des Satzes „like in a movie“ (AP 3, 159, 227, 235, 337, 380) hervorgehoben, mit dem er immer wieder das Geschehen beschreibt.332 Bateman selbst reflektiert: “This is my reality. Everything outside of this is like some movie I once saw.” (AP 332) Dieser Satz stellt den Rezipienten bei der Rekonstruktion des Geschehens vor Probleme, da es offensichtliche Parallelen zwischen den Porno- und Splatterfilmen und den eigenen Gewaltverbrechen gibt. Bateman quält ein Opfer mit einer Bohrmaschine, wie dies eine Figur in Brian De Palmas Film Body Double tut (Weinreich 2004: 74), seine Exfreundin Bethany tötet er mit einer Nagelpistole – wie der Killer in The Toolbox Murders. Auch gibt es nach Weinreich (2004: 73, Fußnote 9) eine nahezu vollständige Übereinstimmung des Pornos Inside Lydia’s Ass, dessen Inhalt Bateman zuvor zusammengefasst (vgl. AP 94), und dem Geschehen in den „Girls“-Kapiteln, in denen Bateman mit zwei Frauen Sex hat (bevor er sie allerdings tötet). Darüber hinaus sieht Bateman den Film Bloodhungry, dessen Tagline „Some clowns make you laugh, but Bobo will make you die and then he’ll eat your body“ (AP 239) Batemans später versuchten Kannibalismus in dem Kapitel „Tries to Cook and Eat Girl“ (AP 330–333) vorwegnimmt. Für den Rezipienten stellt sich allerdings das Problem, das Verhältnis der Filme und des Geschehens in der TAW zu bestimmen. Verschiedene Forscher nehmen daher an, dass Bateman die Filme als Vorbild und als Inspiration für seine Taten dienen (vgl. Weinreich 2004: 73; Grant 1999:
331 “Life remained a blank canvas, a cliché, a soap opera.” (AP 268) “[L]ife played out as a sitcom, a blank canvas that reconfigures itself into a soap opera.” (AP 330) 332 Darüber hinaus finden sich leichte Abwandlungen des Satzes: „like in some movie“ (AP 352), „as in a movie“ (AP 59), „like a movie“ (AP 110).
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30; Helyer 2000: 734). Andere Positionen konstatieren dagegen, „dass die ganzen Folterungen und Morde sich offenbar nur im Kopf des Helden abspielen, ein weiteres, selbst hergestelltes Video sind“ (Zondergeld/Wiedenstried 1998: 116). So lässt sich argumentieren, dass Medien seine Wahrnehmung so massiv beeinflussen, dass er Realität und Fiktion (Traum) nicht mehr trennen kann: The scenes in which he is apparently committing “real” violence subsequently take on a different tone: They are over the top, so filmic, even comic-book in the details that we are given […] that it seems like something he has taken from a book or film. (Storey 2005: 60)
Für eine solche Annahme spricht auch, dass die intermediale Bezugnahme auf De Palmas Body Double (1984) – immerhin Batemans Lieblingsfilm – als Hinweis gelesen werden kann, die Wahrnehmung des Erzählers in Frage zu stellen. Der Film selbst problematisiert Wahrnehmung in Bezug auf Realität und Traum, Fakt und Fiktion auf verschiedenen Ebenen, so dass in De Palmas Werk offenbleibt, ob der (von Bateman widerholt zitierte) Mord mit der Bohrmaschine tatsächlich stattgefunden hat oder nur ein Traum der filmischen Fokalisierungsinstanz war. Die unterschiedlichen Interpretationen in Bezug auf Batemans Zuverlässigkeit lassen sich auf die zuvor genannten Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der TAW zurückführen und auf die Frage, was in der TAW physikalisch möglich ist. Bei einem der ersten im Roman dargestellten Morde schneidet Bateman einem Homosexuellen, den er zufällig auf der Straße trifft, den Hals auf. Der Druck der Blutfontäne löst die Alarmanlage eines in der Nähe stehenden Autos aus: “[A]n arc of red-brown blood splatters the white BMW 320i parked at the curb, setting off its car alarm, four fountainlike bursts coming from below his chin.” (AP 159) Auffällig ist ebenfalls, dass Bateman sein Verschwinden vom Tatort mit einem intermedialen Bezug verknüpft, so als fände ein Schnitt zwischen den beiden Handlungsorten statt: “---and I’m down the street and out of darkness and like in a movie I appear in front of D’Agostino …” (AP 159). Angesichts der physikalischen Gesetzmäßigkeiten der eigenen Erfahrungswelt scheint es unwahrscheinlich, dass der Druck eines Blutstrahls ausreicht, um die Alarmanlage eines parkenden Autos auszulösen. Insofern würde der Rezipient einen Weltenkonflikt zwischen Erzählerwelt und TAW konstruieren (und das Geschehene als „Film in Batemans Kopf“ und damit als bloße Fantasie Batemans entlarven). Allerdings ist ebenfalls denkbar, ein fiktionales Universum zu konstruieren, in dem Blutfontänen eine solche Stärke haben, dass Autoanlagen beginnen, Alarm zu schlagen. Auch die Bezugnahme auf den „Schnitt“ kann der Leser dahin gehend interpretieren, dass Bateman die Gewalt der Videos nacheifert und sich selber wie eine Figur in einem Film fühlt.
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Am deutlichsten wird das Problem der Rekonstruktion der TAW – und damit verbunden die Frage, ob es Konflikte zwischen der Erzählerwelt und der TAW gibt – in dem Kapitel „Chase, Manhattan“ (AP 333–339). Nach einem Essen mit Geschäftskollegen erschießt Bateman zunächst einen Saxophonspieler auf offener Straße, wird jedoch von einer Polizeistreife gesehen. Auf seiner Flucht kann Bateman die Polizei zunächst abschütteln, steigt in ein Taxi, tötet den Fahrer, dann einen Polizisten, gerät in eine Schießerei mit der anrückenden Verstärkung, schießt in den Tank eines Polizeiwagens, der in einem Feuerball explodiert,333 er macht auf seiner Flucht Salti, tötet den Wachmann eines Bürogebäudes, das er versehentlich für die eigene Bürozentrale hält, er hinterlässt eine Nachricht auf Harold Carnes’ Anrufbeantworter und beobachtet, wie Polizeihubschrauber und SWAT-Einheiten das gegenüberliegende Bürogebäude infiltrieren, in dem er zuvor den Wachmann getötet hat. Das Kapitel unterscheidet sich aus zwei Gründen von den anderen Kapiteln des Romans: zum einen gibt es eine höhere Ereignishaftigkeit als in den anderen Kapiteln – es gibt Verfolgungsjagden, Schießereien und Explosionen, die an Hollywood-Actionfilme erinnern.334 Zum anderen wechselt die Erzählinstanz: statt des homodiegetischen Erzählers wird das Geschehen von einer heterodiegetischen Erzählinstanz erzählt, wodurch das Geschehen auch auf discourse-Ebene cineastischer wirkt. Daneben finden sich explizite intermediale Bezüge auf das Medium Film wie „guns flashing like in a movie“ (AP 336). Für Young (1993: 114) ist daher klar, dass das Geschehen nur in Batemans Fantasie stattgefunden haben kann: “At this point the novel seems to enter into a parodic version of a cop-killer thriller […] This chapter must be the final nail in the coffin of Patrick’s credibility.”335 Für eine solche Interpretation spricht ebenfalls, dass das Ereignis (immerhin ein Amoklauf mit mehreren Toten) im weiteren Verlauf des Romans weder von der Presse noch von Batemans Kollegen aufgegriffen wird. Allerdings kann der Leser auch ein fiktionales Universum konstruieren, in dem die geschilderten Geschehnisse tatsächlich stattgefunden haben, da Carnes später den Anruf von Bateman bestätigt (vgl. AP 372–373). Darüber hinaus spricht für Batemans Darstellung, dass ein fremder Taxifahrer ihn wenige Kapitel später
333 “[W]hen a stray bullet, sixth in a new round, hits the gas tank of the police car, the headlights dim before it bursts apart, sending a fireball billowing up into the darkness, the bulb of streetlamp above it exploding unexpectedly in a burst of yellow-green sparks, flames washing over the bodies of the policemen both living and dead, shattering all the windows of Lotus Blossom, Patrick’s ears ringing …” (AP 336–337) 334 Däwes (2008: 175) spricht daher nicht ganz ohne Grund von „a Hollywood-like chase scene“. 335 Vgl. auch Kooijman/Laine (2003: 51): “In the novel, Bateman’s cinematic fictional world is implied through the use of the unreliable narrator and the use of the third-person narrative in the police-chasing scene.”
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als Mörder seines Kollegen identifiziert und Bateman es für wahrscheinlich hält, dass dieser auf sein zweites Opfer beim Amoklauf anspielt (AP 376–378) – wobei, wie bereits ausgeführt, unsicher ist, ob dem Taxifahrer, der ihn identifiziert, wirklich zu trauen ist (s. o.). Auch ist nicht klar, wie viel Zeit zwischen den Ereignissen in diesem Kapitel und den nachfolgenden Kapiteln innerhalb der TAW verstrichen ist, so dass es durchaus denkbar ist, dass die Geschehnisse stattgefunden haben, der Amoklauf aber bereits nicht mehr in der Presse oder Batemans Umfeld diskutiert wird, da bereits zu viel Zeit vergangen ist. Auch die Tatsache, dass Polizeiwagen explodieren, Bateman auf seiner Flucht Salti schlägt und trotz Polizeihubschraubern nicht gefasst wird, kann nur dann als Argument gegen Batemans Glaubwürdigkeit vorgebracht werden, wenn angenommen wird, dass die TAW und die AW des Lesers übereinstimmen, was durch die intertextuellen Referenzen jedoch vom Text selbst problematisiert wird (s. o.).336 Erst am Ende des Romans gibt es explizite Weltenkonflikte zwischen Erzählerwelt und TAW, die deutlich machen, dass Batemans Darstellung falsch ist. Bateman berichtet beispielsweise, dass bei der Patti Walters Show Frühstückszerealien interviewt werden (AP 371), dass er zuvor von einer Parkbank verfolgt wurde (AP 380) und dass das Fernsehen ihm geheime Nachrichten sendet („Cause a Terrible Scene at Sotheby’s“, „Kill the President“, „Feed me with a Stray Cat“, AP 380). Diese Geschehnisse scheinen so weit von der Welt des Lesers entrückt, dass sie nicht mehr als (mögliche) Fakten in die TAW integriert werden können. Es erscheint für den Leser unmöglich, eine TAW zu konstruieren, in der es auf der einen Seite der AW entliehene Figuren wie Tom Cruise oder David Letterman gibt, auf der anderen Seite jedoch sprechende Frühstückszerealien oder laufende Parkbänke. Insofern lässt sich der Erzähler in den letzten Kapiteln des Buches aufgrund der Qualität der Weltenkonflikte als ironisch-unzuverlässiger Erzähler klassifizieren. Natürlich kann der Leser die Weltkonflikte am Ende des Romans als weitere Belege dafür auslegen, dass Bateman während des gesamten Romans halluziniert, und demnach seiner gesamten Darstellung misstrauen. Allerdings muss dieser Argumentation nicht zwangsläufig gefolgt werden. So sprechen zwei Gründe dafür, dass der Erzähler erst zum Ende des Romans langsam in den Wahnsinn abgleitet. Dieses Abgleiten in den Wahnsinn kann damit erklärt werden, dass
336 Daher folgert Simpson (2000: 154–155): “To search for clues as to whether Bateman’s story as written by Ellis is ‘true’ is a patent absurdity. Yet this search is exactly what fiction readers, at least the more reflective ones, attempt to do with and to their secondhand narratives. Fiction is read as reality―particularly if a strong emotional engagement is willed by the spectator toward an identifiable character, event, or theme within the text―and reality constructed in terms of fiction.”
4 Fazit
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niemand auf ihn und seine Morde reagiert. Dafür spricht, dass Bateman während des gesamten Romans darunter leidet, dass ihn niemand (außer seiner Sekretärin Jean) in seiner Umgebung zur Kenntnis nimmt: [I] think to myself that if I were to disappear into that crack, say somehow miniaturize and slip into it, the odds are good that no one would notice I was gone. No … one … would … care. In fact some, if they noticed my absence, might feel an odd, indefinable sense of relief. This is true: the world is better off with some people gone. Our lives are not all interconnected. (AP 217; Hervorhebung im Original)
Zudem stürzt Bateman am Ende in eine epistemologische Krise (vgl. Simpson 2000: 204), weil ihm in den Episoden mit der Maklerin in Owens Apartment und im Gespräch mit Harold Carnes über Owens Tod bewusst wird, dass sein Konstrukt der Realität möglicherweise falsch ist. Während er in sämtlichen Episoden für das noch so merkwürdige Verhalten von anderen Figuren eine Erklärung parat hat, die sein Bild der Realität kohärent erscheinen lassen, stößt Bateman in den Episoden am Ende des Romans damit offensichtlich an seine eigenen Grenzen. Er ist in beiden Fällen verwirrt (AP 355, 373) und beginnt, an der eigenen Wahrnehmung zu zweifeln (“I’m not sure if I believe myself”, AP 373), was als Grund herangezogen werden kann, warum Bateman in den Wahnsinn abgleitet. So hinterlässt die unerwartete Begegnung mit der Maklerin in Owens Apartment offensichtlich Spuren in Batemans Psyche, wie an seinem Verhalten sichtbar wird: “There’s no use in denying it: this has been a bad week. I’ve started drinking my own urine. I laugh spontanously at nothing. Sometimes I sleep under my futon. I’m flossing my teeth constantly until my gums are aching and my mouth tastes like blood.” (AP 368)
4 Fazit Ziel dieses Kapitels war der Entwurf eines kognitiven Erklärungsmodells ambiger Unzuverlässigkeit. Dazu wurde erstens gezeigt, dass der Leser wie bei der ironischen Unzuverlässigkeit zunächst eine Erzähler- und/oder Fokalisiererwelt identifizieren muss. Zweitens kann der Eindruck ambiger Unzuverlässigkeit dadurch entstehen, dass der Rezipient sich nicht sicher sein kann, ob explizite oder implizite Weltkonflikte tatsächlich vorliegen. Bei der Identifikation expliziter Weltkonflikte kann ein Problem darin liegen, zu entscheiden, ob ein textueller Widerspruch auf ein kognitives Zentrum (also Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz) zurückzuführen ist oder auf einen Fehler des Autors beim Verfassen des Werkes. Eine Schwierigkeit beim Erkennen impliziter Weltkonflikte kann dagegen dann auftreten, wenn das Verhalten anderer Figuren mehrdeutig ist, so dass der Leser mit seinem mind-reading keine eindeutigen Figurenwelten konstruieren
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kann. Darüber hinaus kann sich die storyworld logic der TAW als undurchsichtig erweisen, so dass er unsicher bleibt, ob die Darstellung der Erzählerfigur oder die Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz innerhalb der TAW möglich ist oder nicht. Ein drittes Problem bei der Bestimmung der Unzuverlässigkeit des kognitiven Zentrums in ambig-unzuverlässigen Texten stellt die Hierarchisierung von Weltkonflikten dar. Oftmals können die in Konflikt stehenden Welten nicht eindeutig hierarchisiert werden, weil die Quellen allesamt wenig vertrauenswürdig erscheinen und es an einer shared actual world fehlt. Aufgrund dessen kann der Leser viertens kein eindeutiges mentales Modell der Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz bilden. Diese Aspekte wurden beispielhaft anhand von Analysen von Ford Madox Fords The Good Soldier und Bret Easton Ellis’ American Psycho illustriert. Bei der Analyse von The Good Soldier wurde gezeigt, dass sich die Erzählerfigur Dowell wie der Erzähler aus David Copperfield von seinem früheren Ich, einer ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanz, abgrenzt. Der Erzähler reflektiert, aufgrund welcher Prozesse er ein falsches Bild der anderen Figuren und des Geschehens konstruiert hat, und problematisiert seine Defizite beim mind-reading und sourcemonitoring. Gleichzeitig versucht der Erzähler ein neues Narrativ der Geschehnisse zu generieren. Dabei ist er jedoch auf der einen Seite auf andere Quellen angewiesen (source-monitoring). Auf der anderen Seite entwirft er Kausalgeschichten, um das Verhalten der Figuren nachvollziehen (mind-reading) und bewerten zu können. Dowell geht dabei so weit, dass er sich in die anderen beteiligten Figuren hineinversetzt und eigenständige Fokalisiererwelten von diesen entwirft. Dowell erkennt, dass es nicht ein Narrativ geben kann, sondern jede der Figuren ihre eigene Version des Geschehens hat. Er thematisiert daher am Ende seiner Erzählung die expliziten Konflikte zwischen den Fokalisiererwelten und bittet den Adressaten, diese eigenständig zu hierarchisieren und das Geschehen zu bewerten. Während in David Copperfield die Opposition zwischen zuverlässigem Erzähler und ironisch-unzuverlässiger Fokalisierungsinstanz relativ unproblematisch ist, stellt sich bei The Good Soldier die Frage, ob Dowell als Erzähler zuverlässig ist – eine Frage, die seit geraumer Zeit Literaturwissenschaftler umtreibt und die nicht eindeutig zu beantworten ist. Die Unmöglichkeit des Rezipienten, eindeutig zu entscheiden, ob er der Darstellung des Erzählers vertrauen kann, ist – wie gezeigt wurde – auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Erstens stellt sich für den Leser die Frage, ob sich das Geschehen tatsächlich einer moralischen Bewertung entzieht. Ist Dowell also wirklich gereift und damit ein zuverlässiger Erzähler, wenn er meint, das Handeln der beteiligten Figuren moralisch nicht bewerten zu können? Oder ist er so stark emotional in das Geschehen involviert, dass er blind gegenüber Edwards (möglicherweise moralisch zu verurteilendem) Verhalten ist? Zweitens kann der Leser – wie gezeigt wurde – nicht eindeutig entscheiden, ob
4 Fazit
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die Erzählerfigur das Geschehen tatsächlich richtig rekonstruiert oder ob er die Bedeutung einiger Fakten falsch beurteilt. Drittens stellt sich die Frage, ob Dowell die verschiedenen Fokalisiererwelten adäquat rekonstruiert. Dies kann ein Leser deshalb anzweifeln, weil der Erzähler sich diese auf der Grundlage von mind-read ing und source-monitoring erklärt und möglicherweise ähnliche Fehler begeht wie als Fokalisierungsinstanz. Viertens besteht ein weiteres Problem bei der Bestimmung der (Un-)Zuverlässigkeit der Erzählerfigur darin, dass der Leser entscheiden muss, ob die zahlreichen textuellen Widersprüche dem fiktionalen Erzähler Dowell zuzuschreiben sind oder auf Unachtsamkeiten des empirischen Autors Ford Madox Ford beruhen. Dass der Text so viele verschiedene Urteile gegenüber der Erzählerfigur zulässt, wurde in einem letzten Schritt darauf zurückgeführt, dass der Leser nichts über den Hintergrund von Dowell erfährt, so dass der Leser relativ flexibel bei der Konstruktion des mentalen Erzählermodells ist. merican Dass der Rezipient die Unzuverlässigkeit des kognitiven Zentrums in A Psycho nicht eindeutig bewerten kann, wurde auf drei Aspekte zurückgeführt: Erstens kann der Leser die expliziten Weltkonflikte bzgl. des Mordes an Owen nicht lösen, da auf der einen Seite Batemans Glaubwürdigkeit durch zahllose andere Weltkonflikte fortwährend in Frage gestellt wird, während auf der anderen Seite die Autorität der anderen Figurenwelten durch die Unfähigkeit der Charaktere unterminiert wird, andere Figuren zu identifizieren. Daher bleibt offen, ob Bateman Owen tatsächlich getötet hat oder ob dieser sich in London aufhält, wie von den anderen Figuren behauptet. In Bezug auf die anderen Gewaltverbrechen verhält es sich insofern anders, als dass der Rezipient – zweitens – nicht eindeutig bestimmen kann, ob es implizite Konflikte zwischen der Erzählerwelt und anderen Figurenwelten gibt oder nicht. Dies ist auf die Mehrdeutigkeit des Verhaltens der anderen Figuren zurückzuführen, so dass der Leser den Figuren aufgrund seines mind-reading unterschiedliche mentale Zustände zuschreiben kann. So kann der Rezipient ein fiktionales Universum rekonstruieren, in dem die Morde tatsächlich stattgefunden haben, aber die Figuren so selbstzentriert und abgestumpft sind, dass sie ihre Umwelt nicht wahrnehmen. Genauso gut lässt sich das Verhalten aber auch dahin gehend deuten, dass die Morde und Verbrechen in der TAW nicht stattgefunden haben (sondern nur in Batemans Fantasie) – so dass ihre „Reaktionen“ keine Belege für ihre Teilnahmslosigkeit sind. Drittens kann der Rezipient durch verschiedene intertextuelle Referenzen und intermediale Bezüge nicht eindeutig bestimmen, wie die storyworld logic TAW beschaffen ist. Daher bleibt offen, was Fakt und was Batemans Einbildung innerhalb des textuellen Universums ist. Diese drei Aspekte, die hier separat behandelt wurden, greifen bei der eigentlichen Rezeption ineinander, potenzieren die Komplexität des Romans in ihrem Zusammenspiel und führen dem Rezipienten fortgesetzt vor Augen, dass Realität ein Produkt von Interpretationsprozessen ist.
VIII Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells alterierter Unzuverlässigkeit
VIII Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell alterierter Unzuverlässigkeit
1 Zur fehlerhaften Rekonstruktion des fiktionalen Universums bei alterierter Unzuverlässigkeit Kennzeichnend für alterierte Unzuverlässigkeit ist, dass der Leser über weite Strecken des Textes ein falsches Situationsmodell und/oder intratextuelles Kontextmodell konstruiert, welches er retrospektiv revidieren muss. Die irrigen Vorstellungen des Lesers sind auf verschiedene mögliche Ursachen zurückzuführen: Erstens können die unzutreffenden Annahmen vom fiktionalen Universum daraus resultieren, dass der Rezipient zunächst die subjektive Welt eines Erzählers oder einer Fokalisierungsinstanz als solche nicht erkennt oder diese falschen Figuren zuordnet. Zweitens erkennt der Leser Weltkonflikte zunächst nicht, so dass er die Darstellung oder Wahrnehmung des kognitiven Zentrums anfangs nicht anzweifelt. Ein weiterer möglicher Grund für die fehlerhafte Rekonstruktion des fiktionalen Universums ist drittens, dass der Leser erkannte Weltkonflikte zunächst falsch hierarchisiert. Viertens ist auch denkbar, dass, wenn er die erkannten Weltkonflikte richtig hierarchisiert, er falsche Erklärungen für die fehlerhaften Darstellungen des kognitiven Zentrums findet.
1.1 Identifizieren einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt Bereits das Identifizieren und Unterscheiden von Welten kann den Grundstein für die Konstruktion eines falschen Situationsmodells oder intratextuellen Kontextmodells legen. Bei einer Vielzahl alteriert-unzuverlässiger Werke mangelt es beispielsweise zunächst an textuellen Hinweisen dafür, dass das Geschehen von einem homodiegetischen Erzähler (also einer Figur in der TAW) dargestellt wird. In Vladimir Nabokovs Pnin (1957) oder Iris Murdochs The Philosopher’s Pupil (1983) fehlen zunächst Hinweise, dass die Erzählerstimme einer Figur der TAW zuzuordnen ist (vgl. Richardson 2006: 11). Verstärkt wird die fälschliche Annahme, das Geschehen werde von einer heterodiegetischen Erzählinstanz wiedergegeben, dadurch, dass diese Zugang zu den Gedanken anderer Figuren hat – ein Privileg, das der Rezipient grundsätzlich Erzählern zuschreibt, die nicht Bestandteil der TAW sind. Aus diesen Gründen wird der Leser alle gegebenen Informationen einem heterodiegetischen Erzähler zuschreiben und somit kein intratextuellhttps://doi.org/10.1515/9783110557619-009
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pragmatisches Modell (mitsamt einem mentalen Figurenmodell des Erzählers) konstruieren.337 Erst wenn der Rezipient seinen Irrtum bzgl. der Identität des Sprechers bemerkt, muss er ein intratextuelles Kontextmodell konstruieren, die gegebenen Informationen dem Sprecher zuordnen und mit einem source tag versehen („N. sagt, dass Pnin sagt/denkt/fühlt, dass …“).338 Darüber hinaus muss der Leser ein mentales Modell der Erzählerfigur konzipieren und ihm mentale Zustände zuschreiben (Intentionen, Wissen, Wünsche etc.). Der Leser muss aus diesem Grund auch das Situationsmodell revidieren, da viele bereits gegebenen Informationen im Licht eines homodiegetischen Erzählers fraglich erscheinen (gerade dann, wenn der homodiegetische Erzähler das Geschehen aus der Sicht verschiedener Fokalisierungsinstanzen darstellt). In anderen Fällen, in denen der Rezipient Welten falsch identifiziert und unterscheidet, irrt der Leser hinsichtlich der Identität der Erzählerfigur. In Ian McEwans Sweet Tooth (2012) erkennt der Leser zwar, dass das Geschehen aus der Sicht eines homodiegetischen Erzählers dargestellt wird, der Text führt den Leser allerdings in Bezug auf die eigentliche Identität der Erzählerfigur in die Irre. Der Roman, in dem die Erzählerin von ihrer tragischen Liebe zum Schriftsteller Tom Haley erzählt, täuscht den Leser bereits im ersten Satz über den homodiegetischen Erzähler: “My name is Serena Frome (rhymes with plume) and almost thirty years ago I was sent on a secret mission for the British security service.” (McEwan 2012: 1) Erst im letzten Kapitel wird dem Leser klar, dass das zuvor Gelesene nicht aus der Feder von Serena Frome stammt, sondern von ihrem Liebhaber aufgeschrieben wurde, der im Akt des Schreibens versucht, Serenas Wesen zu ergründen. Auch diese Information führt dazu, dass der Rezipient alle zuvor erhaltenen Informationen kritisch hinterfragen und mit einem weiteren source tag versehen muss („Tom erzählt, dass Serena sagt, fühlt, berichtet, dass …“).
337 Daher wird der Rezipient die Aussagen der Erzählinstanz nicht mit einem source tag versehen, da er die Darstellung der Erzählinstanz aufgrund der ihm zugesprochenen Autorität als fiktionale Wahrheit erkennt. 338 So schreibt Bode (2011 [2005]: 271–272) in Bezug auf Nabokovs Roman: „Nabokovs Pnin (1957) scheint über lange Strecken einen auktorialen Erzähler zu haben, gegen Ende häufen sich allerdings die Hinweise, dass der Erzähler ein Zeitgenosse und Bekannter von Professor Pnin ist – beider Wege haben sich einige wenige Male schicksalhaft gekreuzt. Dadurch sind aber große und wichtige Teile der Erzählung ganz unglaubwürdig, denn als peripherer Ich-Erzähler hatte N., der Erzähler keinerlei Zugang zu Pnins Gedanken und Gefühlen – zumal er alles andere als ein vertrauter Freund des Exil-Russen ist […].“
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1.2 Erkennen von expliziten und impliziten Weltkonflikten Ein weiterer möglicher Grund für die falsche Konstruktion des Situationsmodells ist, dass der Leser bei der ersten Lektüre implizite Weltkonflikte aufgrund zurückgehaltener Informationen im Anfang nicht wahrnimmt und daher die Erzähleroder Fokalisiererwelt nicht in Zweifel zieht. Dies liegt häufig in der Exposition des jeweiligen Werkes begründet. Beeinflusst vom primacy effect geht der Leser von falschen Annahmen über die beteiligten Figuren bzw. deren Motive aus und weicht in der weiteren Lektüre schwerlich von den getroffenen Annahmen ab. Folglich unterlaufen dem Leser Fehler beim mind-reading und er schreibt den Figuren falsche mentale Zustände zu. Aus diesem Grund erkennt er Weltkonflikte nicht – wie die Analyse von Chuck Palahniuks Fight Club (1996) zeigen wird. In Dennis Lehanes Shutter Island (2003) wird das Geschehen aus der Sicht des USMarshals Teddy Daniels dargestellt, der das Verschwinden einer Patientin aufklären muss, die in einer Nervenheilanstalt für Kriminelle untergekommen ist.339 Erst am Ende des Romans stellt sich heraus, dass der Protagonist in Wirklichkeit ein schizophrener Patient mit Namen Andrew Laeddis ist, der lediglich fantasiert, ein US-Marshall zu sein. Da sowohl die anderen Patienten als auch die Wärter wissen, dass der Protagonist in Wirklichkeit Andrew Laeddis ist, verhalten sie sich dem Protagonisten gegenüber mitunter höchst merkwürdig. Die Ursachen für das Verhalten der anderen Figuren werden für den Leser erst erklärbar, wenn er begreift, dass die anderen Figuren die Fokalisierungsinstanz als schizophrenen Patienten und nicht als US-Marshall wahrnehmen. Mit anderen Worten, der Leser kann das Verhalten der Figuren erst erklären, wenn er die Weltkonflikte zwischen der Fokalisiererwelt und den anderen Figurenwelten erkennt.
1.3 Hierarchisieren von Weltkonflikten Möglich ist auch, dass die irrtümliche Rekonstruktion des fiktionalen Universums darauf zurückgeführt werden kann, dass der Leser die zuvor identifizierten Weltkonflikte falsch hierarchisiert und aus diesem Grund ein falsches Bild vom Geschehen in der TAW generiert. Denkbar ist etwa, dass die Mehrheit der Figuren über Fakten in der TAW irrt, d. h., dass die shared actual world nicht mit den Fakten der TAW übereinstimmt. Das wohl prominenteste Beispiel für einen solchen Fall ist Ian McEwans Enduring Love (1997). In dem Roman scheinen die
339 Ein vergleichbares Beispiel mit ähnlicher Überraschung, aber mit einem homodiegetischen Erzähler ist Robert Cormiers I am the Cheese (1977).
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Annahmen der Erzählerfigur über das Geschehen höchst fragwürdig und werden immer wieder durch andere Figurenwelten in Zweifel gezogen. Dadurch wird der Erzähler über lange Zeit vom Leser fälschlicherweise als ironisch-unzuverlässig begriffen: “[In Ian McEwan’s novel Enduring Love], the narrator appears increasingly unreliable in the course of the novel, and the reader can easily doubt the narrator’s psychological normality and the factuality of his presentation of the events. In the end, however, it turns out that every single far-fetched and obscure assumption, descriptive detail, or judgement of the narrator was absolutely true (within the fictional world).” (Zerweck 2001: 163–164)
1.4 Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den Welten Eine weitere mögliche Ursache für die fälschliche Konstruktion des fiktionalen Universums ist, dass der Leser zwar Weltkonflikte erkennt und auch in zutreffender Weise hierarchisiert, aber hinsichtlich der Gründe für die falsche Darstellung oder Wahrnehmung des kognitiven Zentrums irrt. In Patrick McGraths Spider (1990) beispielsweise erfährt der Leser von der Erzählerfigur Dennis Clegg zu Beginn des Romans, dass ihr Vater und dessen Geliebte ihre Mutter umgebracht haben. In Rückblicken eröffnen sich dem Leser Einblicke in Dennis’ Kindheit, der nach dem mysteriösen Verschwinden der Mutter jeglichen psychischen Halt verliert und in den Wahnsinn abgleitet. In einem Akt der Rache tötet er seinen Vater und dessen Geliebte. Der Leser führt den Wahnsinn des Protagonisten folglich auf den Mord des Vaters an seiner Mutter zurück.340 Später stellt sich jedoch heraus, dass diese vom Leser inferierte Erklärung grundlegend falsch ist. Am Ende des Romans erfährt der Leser, dass der Erzähler bereits in seiner Kindheit an Schizophrenie litt und sich einbildete, dass seine Mutter getötet und durch eine Nebenbuhlerin namens Hilda ersetzt wurde. In Wirklichkeit war die Mutter jedoch immer anwesend – es gab keine Geliebte. Der schizophrene Erzähler tötete Mutter und Vater. Aufgrund dieser Informationen muss der Leser sowohl sein mentales Modell der Handlung als auch sein mentales Erzählermodell revidieren. Auch wenn der Rezipient die Weltkonflikte erkennt und adäquat hierarchisiert, ist es möglich, dass er falsche Erklärungen für die Defizite der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz findet. Auf seiner Suche nach dem mysteri-
340 Insofern findet sich in Spider sowohl ironische als auch alterierte Unzuverlässigkeit. Genaueres zum Zusammenspiel verschiedener Arten von narrativer Unzuverlässigkeit siehe Kapitel II und IX.
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ösen Verschwinden einer Insassin beginnt der fokalisierende Protagonist Teddy Daniels in Shutter Island zunehmend zu halluzinieren. Diese Halluzinationen werden dem Leser durch explizite Konflikte innerhalb seiner Fokalisiererwelt vor Augen geführt – Teddy Daniels selbst beginnt, seine eigene Wahrnehmung anzuzweifeln. Da der Polizist in der psychiatrischen Anstalt geheime Menschenexperimente vermutet, scheint es für den Rezipienten naheliegend, dass die zunehmenden Halluzinationen das Resultat von Medikamenten sind, die Edward von der Gefängnisleitung durch Zigaretten und Essen heimlich eingeflößt wurden, um ihn auszuschalten (dies ist auch Edwards Erklärung). Am Ende des Romans erfährt der Leser jedoch, dass Edward in Wirklichkeit kein Polizist, sondern ein psychisch kranker Insasse ist. Die Ursachen für die Halluzinationen des Protagonisten liegen darin begründet, dass er seine Medikamente abgesetzt hat (und nicht, wie der Leser annimmt, welche eingeflößt bekommt). Insofern kann auch eine fälschliche Erklärung für die Hierarchisierung von Welten Einfluss auf die Konstruktion des Situationsmodells haben. Kennzeichnend für alterierte Unzuverlässigkeit ist, dass (meist) zu einem späten Zeitpunkt ein expliziter Weltkonflikt auftritt, der zulasten der Darstellung eines Erzählers oder einer Fokalisierungsinstanz hierarchisiert werden muss (siehe dazu die möglichen Faktoren in Kap. VI.1.3), infolgedessen der Leser das Situationsmodell und/oder das intratextuelle Kontextmodell revidieren muss. Nach dem Auftreten des zentralen Weltkonflikts muss der Leser retrospektiv eine Erklärung dafür finden, warum die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz das Geschehen falsch dargestellt oder wahrgenommen hat. Diese Prozesse laufen ähnlich ab wie in ironisch-unzuverlässigen Werken (vgl. Kap. VI.1.4).
1.5 Ausblick Die folgenden Analysen von Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890) und Chuck Palahniuks Fight Club (1996) sollen die vorangegangenen Aspekte bei der Rezeption alterierter Unzuverlässigkeit illustrieren. Da es bei der Rezeption von alteriert-unzuverlässigen Werken zu einer Revision des Situationsmodells und/oder des intratextuellen Kontextmodells kommt, muss bei der Analyse solcher Werke stärker die Dynamik der Informationsvergabe respektive -verarbeitung berücksichtigt werden. Aus diesem Grund wird bei der Untersuchung von „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ nicht nur gezeigt, warum der Leser bei der ersten Lektüre die impliziten Weltkonflikte nicht erkennt und die expliziten Weltkonflikte unter Zuhilfenahme falscher Erklärungen auflöst und so ein falsches Bild vom Geschehen in der TAW generiert. Darüber hinaus wird auch erläutert, wie die Informationsvergabe Spannung
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erzeugt, eine emotionale Bindung zum Protagonisten ermöglicht und so wesentlichen Einfluss auf die Rezeption bzw. Rekonstruktion des fiktionalen Universums hat. Bei der Analyse von Fight Club wird ausgeführt, wie der Beginn des Romans den Leser durch irreführende Informationsvergabe in seiner weiteren Rezeption beeinflusst. Aus diesem Grund generiert der Leser einen falschen Handlungskonflikt und kann die impliziten Weltkonflikte nicht erkennen, weil ihm ein adäquater Kontext fehlt, um das Verhalten der anderen Figuren zu interpretieren.
2 Alterierte Unzuverlässigkeit in Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1890)341 Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ („Owl“) gehört zweifellos zu den Klassikern der amerikanischen Kurzgeschichten. Bierces Zeitgenosse Stephen Crane bekannte neidlos: “Nothing better exists. This story contains everything.” (Zitiert in: Berkove 2002: 113) Auch Kurt Vonnegut lobt die Geschichte als „the greatest American short story“ (2005: 7) und als „flawless example of American genius“ (2005: 8). Dabei besteht die Brillanz der Geschichte nicht in der Handlung, sondern in der narrativen Strategie, die den Leser über das tatsächliche Geschehen täuscht. Das Werk erzählt die relativ schlichte Geschichte von der Exekution des Südstaatenfarmers Peyton Farquhar, der auf der Titel gebenden Brücke von Nordstaatensoldaten gehängt werden soll. Als der Protagonist in die Tiefe gestoßen wird, schließt er die Augen und hört ein Knacken. Er weiß instinktiv, dass das Seil gerissen ist. Er stürzt in die Fluten des Flusses und kann dort den Gewehrsalven der Soldaten durch Hinabtauchen entkommen. Nachdem er sich an das Ufer gerettet hat, findet er im nah angrenzenden Wald Schutz vor dem Kanonenbeschuss des Feindes. Nach langem Suchen stößt er in den Abendstunden schließlich auf eine Straße im Wald, die ihn nach Hause führt. Am Morgen erreicht er erschöpft die heimatliche Farm. Gerade als der Protagonist seine Frau in den Arm schließen will, wird ihm schwarz vor Augen und es heißt: “Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek Bridge.” („Owl“ 313) Die zuvor geschilderte Flucht entpuppt sich als Illusion eines Sterbenden, als Teil eines von der TAW unabhängigen Fantasieuni-
341 Das folgende Kapitel baut in Teilen auf meiner Magisterarbeit (2008) und verschiedenen Artikeln (Vogt 2011a, 2011b) auf.
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versums. Diese Information zwingt den Rezipienten, das zuvor etablierte Situationsmodell zu revidieren und das Geschehen retrospektiv neu zu konstruieren.342 Obwohl das Werk häufig in Literatur- und Filmwissenschaft als klassisches Beispiel für eine Geschichte mit plot twist genannt wird, erwähnen es narratologische Studien eher beiläufig. Die narrative Strategie wird auf das Unterschlagen der zentralen Information reduziert, d. h. darauf, dass der Protagonist das Geschehen nur träumt. Dies wird der Komplexität des Textes allerdings nicht gerecht. So wird meist nicht erwähnt oder auch übersehen, dass es zahlreiche Hinweise in Form von Weltkonflikten gibt, die darauf hindeuten, dass Farquhars Flucht nur eine Illusion ist, wie Linkin (1988: 149) zu Recht bemerkt: “Bierce manipulates the reader throughout ‘An Occurrence at Owl Creek Bridge’ but never lies outright.” Aufgrund der verschiedenen Hinweise ist es innerhalb der Bierce-Forschung umstritten, ob der Rezipient bei genauer Lektüre tatsächlich von der Auflösung der Geschichte überrascht sein kann oder nicht. Während die Mehrheit der Forscher343 annimmt, dass die meisten Leser auf die Täuschung bei der ersten Lektüre hereinfallen, vertreten Logan und Davidson den gegenteiligen Standpunkt. Nach ihrer Meinung empfinden „only the unperceptive readers“ (Davidson 1984: 50) die Auflösung als Überraschung: “Farquhar is hallucinating and we know it.” (Logan 1982: 206) Diese Debatte soll den Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung bilden. Dabei wird gezeigt werden, dass es sich bei den Hinweisen um explizite und implizite Weltkonflikte handelt. Im Zentrum der Analyse steht daher die Frage, warum viele Leser trotz zahlreicher impliziter und expliziter Weltkonflikte bei der ersten
342 Dieser plot twist diente verschiedenen Werken als Inspiration. Nach Don Asher Habibi (2002: 85) zählen dazu u. a. „Indischer Lebenslauf“, das letzte Kapitel aus Hesses Das Glasperlenspiel, Borges’ „El Milagro Secreto“, Cortázars „La noche de boca arriba“, Hemingways „The Snows of Kilimanjaro“ oder Goldings Pincher Martin. Filme, denen Bierces Kurzgeschichte als Inspiration diente, sind Lynes Jacob’s Ladder, Scorceses Last Temptation of Christ, Austers Lulu on the Bridge oder Gilliams Brazil. 343 So schreibt Grenander (1971: 96): “[T]he reader, unless he be extremely acute, does not realize the true state of affairs until the end of the story.” Siehe auch Berkove (2002: 131): “These fine touches, individually and collectively, may warn an attentive reader, but few readers are that attentive.” Ebenso differenziert gibt sich Woodruff (1964: 157): “Reading quickly or casually, one is easily convinced that Farquhar has, in fact, escaped, and the ending comes as a stunning shock. Reading deliberately–that is, with the mind alerted for the rational ‘facts’ of the situation–one realizes that it is only a vivid dream.” Ähnlich auch Ames (1987: 65): “Those who read the story as intended are deceived by the illusion of the artist, and as a reward they experience the dramatic awakening that is the story’s achievement. The story was not written to teach unattentive readers a lesson, and to argue that it was so intended is to deny the serious intent, or the technical brilliance of the work.”
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Lektüre von der Auflösung überrascht sind. Dazu soll in einem ersten Schritt ein kurzer Überblick über die verschiedenen Weltkonflikte in der Kurzgeschichte gegeben werden, die darauf hindeuten, dass die Rettung des Protagonisten nur ein Traum ist. In einem zweiten Schritt soll dann der Frage nachgegangen werden, warum ein Leser trotz dieser Weltkonflikte von der Auflösung der Geschichte überrascht sein kann. Dabei wird gezeigt, dass der Text durch eine geschickte Informationsvergabe, die aus dem anachronen und multiperspektivischen Erzählen resultiert, Spannung aufbaut und eine empathische Bindung des Lesers zum Protagonisten ermöglicht. Diese affektive Reaktion, so eine These, kann dazu beitragen, dass der Rezipient die Hinweise nicht hinreichend würdigt. In einem dritten Schritt soll gezeigt werden, dass der Leser die impliziten Weltkonflikte nicht zwingend erkennen muss und dass er die Diskrepanz zwischen den Welten bei expliziten Weltkonflikten nicht notwendigerweise darauf zurückführen muss, dass die Fokalisierungsinstanz das Geschehen nur träumt. Abschließend soll kurz erläutert werden, welche Auswirkungen die Auflösung der Geschichte auf die Rekonstruktion des Figurenmodells sowie dessen Bewertung hat.
2.1 Explizite und implizite Weltkonflikte als Hinweise auf die Traumhaftigkeit der Flucht? In der Tat finden sich verschiedene Hinweise, die darauf hindeuten, dass Farquhars Flucht sich lediglich in seinem Kopf abspielt, bevor wenige Minuten später sein Genick bricht. Die diversen Hinweise sollen im Folgenden als Weltkonflikte klassifiziert und thematisch voneinander unterschieden werden. Im ersten Teil der Geschichte, der die Vorbereitungen auf die Erhängung beschreibt, finden sich mehrere explizite Konflikte zwischen der TAW und der Fokalisiererwelt des Gefangenen, welche durch multiperspektivisches Erzählen hervorgehoben werden und die Wahrnehmung des Protagonisten infrage stellen. Während die heterodiegetische Erzählinstanz den Fluss unterhalb der Eisenbahnbrücke als „the swift water“ („Owl“ 305) und als „swirling water of the stream racing madly beneath his feet“ („Owl“ 306) beschreibt, nimmt der fokalisierende Protagonist den Strom als langsam und träge wahr: “How slowly it appeared to move! What a sluggish stream!” („Owl“ 306) Ein ähnlicher Weltkonflikt zwischen der TAW und der Fokalisiererwelt findet sich, als der Gefangene die Augen schließt, um in den letzten Momenten vor seinem Tod an seine Familie zu denken. Dabei werden seine Gedanken immer wieder von einem „sharp, distinct, metallic percussion“ unterbrochen, das wie „the stroke of a blacksmith’s hammer upon the anvil“ („Owl“ 306) klingt, immer lauter wird und dessen Intervalle immer länger werden. Dieses Geräusch wird schließlich von der heterodiegetischen Erzähl-
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instanz als das Ticken der Uhr des Gefangenen entlarvt. Diese Konflikte zwischen der TAW und der Fokalisiererwelt können damit erklärt werden, dass seine Gedanken im Angesicht des Todes rasen und seine Zeitwahrnehmung daher verzerrt ist. In Anlehnung daran folgern einige Forscher, dass das verlangsamte Zeitempfinden des Protagonisten bereits einen ersten Hinweis auf die Traumhaftigkeit der späteren Flucht gibt: “As Farquhar’s mind works at a higher speed everything else correspondingly slows, and we should be prepared for, not an escape but a hallucination.” (Logan 1982: 204)344 Im dritten Teil der Geschichte, welcher die Darstellung von Farquhars „Flucht“ umfasst, finden sich sowohl implizite als auch explizite Weltkonflikte, die auf die Auflösung hindeuten. Immer wieder scheint Farquhar während seiner Flucht Fähigkeiten zu erlangen, die jenseits des Menschlichen liegen. Aus diesem Umstand leiten einige Forscher ab, dass der Leser die Traumhaftigkeit des Geschehens durchschauen bzw. dass der Leser einen impliziten Konflikt zwischen der TAW und Farquhars Fantasiewelt erkennen müsste (vgl. Davidson 1984; Logan 1982). Ein solcher impliziter Konflikt tritt beispielsweise auf, nachdem sich Farquhar unter Wasser von seinen Fesseln befreit hat, an die Wasseroberfläche taucht und seine Umgebung betrachtet: Something in the awful disturbance of his organic system had so exalted and refined them that they made record of things never before perceived. He felt the ripples upon his face and heard their separate sounds as they struck. He looked at the forest on the bank of the stream, saw the individual trees, the leaves and the veining of each leaf—he saw the very insects upon them: the locusts, the brilliant bodied flies, the gray spiders stretching their webs from twig to twig. He noted the prismatic colors in all the dewdrops upon a million blades of grass. The humming of the gnats that danced above the eddies of the stream, the beating of the dragon flies’ wings, the strokes of the water spiders’ legs, like oars which had lifted their boat—all these made audible music. A fish slid along beneath his eyes and he heard the rush of its body parting the water. („Owl“ 309–310)
Farquhars Wahrnehmung seiner Umgebung übersteigt in dieser Passage menschliche Fähigkeiten (vgl. Ames 1987: 64; Berkove 2002: 130). Es scheint höchst zweifelhaft, wenn nicht gar unmöglich, dass ein Mensch jeden Tautropfen auf den Grashalmen erkennen, dass er die Bewegungen einer Wasserspinne auf dem Wasser (ein rasender Strom) sowie die Bewegungen eines Fisches im Wasser hören
344 Eine ähnliche Meinung vertritt Ames (1987: 57): “What the reader should learn from this contrast, then, is that he cannot depend upon time to be a constant in the narrative since time is a function of the narrator’s perspective, and this perspective is unpredictable.” Siehe auch Davidson (1974: 269): “Yet the earlier clue, the protracted ticking of the watch, should have suggested that Bierce, in Chapter III, would explore a semantics of delusion.”
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kann (vgl. Ames 1987; Berkove 2002). Farquhars übermenschliche Perzeption ist folglich als impliziter Konflikt zwischen der TAW und der Fantasiewelt und damit als Hinweis auf die Irrealität der Flucht zu verstehen. Ein ähnlicher, allerdings expliziter Weltkonflikt findet sich, als die Soldaten auf der Brücke anlegen, um auf den flüchtigen Gefangenen zu schießen. Während es zunächst heißt, dass der im Fluss treibende Farquhar die Soldaten auf der Brücke aufgrund der zunehmenden Distanz nur noch als schemenhafte Silhouetten wahrnimmt (“They were in silhouette against the blue sky”, „Owl“ 310), wird im folgenden Absatz behauptet, dass der Protagonist die grauen Augen eines dieser Soldaten erkennt: “The man in the water saw the eye of the man on the bridge gazing into his own through the sights of the rifle. He observed that it was a gray eye and remembered having read that gray eyes were keenest, and that all famous marksmen had them.” („Owl“ 310) Logan (1982: 205) weist zu Recht auf die faktische Unmöglichkeit von Farquhars Wahrnehmung hin: “We know that Farquhar could not have seen these last two sights for the same reason we know that God can make neither a colossal midget nor a square circle.” Als weiteres Indiz, dass Farquhar sein Entkommen nur imaginiert, kann abermals Farquhars übermenschlich erscheinende Fähigkeit betrachtet werden, den Gewehrsalven der Soldaten im Wasser auszuweichen (vgl. Cheatham/Cheatham 1985: 220). Neben diesen Weltkonflikten zwischen der TAW und Farquhars Fantasiewelt, die aus den übernatürlichen Fähigkeiten des Protagonisten abgeleitet werden können, gibt es darüber hinaus solche, die sich durch eine Veränderung der erzählten Welt manifestieren. Nachdem Farquhar sich auf seiner Flucht in einen nahe gelegenen Wald versteckt, treten explizite Konflikte innerhalb der Fokalisierungsinstanz auf. Farquhar zweifelt zunehmend an der eigenen Wahrnehmung, da die undurchdringliche Vegetation des Waldes seinem Wissen über die ihm eigentlich bekannte Umgebung zu widersprechen scheint: “He had not known that he lived in so wild a region. There was something uncanny about that revelation.” („Owl“ 312) Als Farquhar bei Anbruch der Nacht schließlich eine Straße erreicht, erscheint ihm die erfahrene Wirklichkeit irreal und unheimlich: “[The road] was as wide and straight as a city street, yet it seemed untraveled. No fields bordered it, no dwelling anywhere.” („Owl“ 312) Auch der Sternenhimmel scheint ihm verändert und aus dem Wald hört die Fokalisierungsinstanz Stimmen flüstern.345 All diese Veränderungen in der Umgebung können vom Leser als Zeichen
345 “Overhead, as he looked up through this rift in the wood, shone great golden stars looking unfamiliar and grouped in strange constellations. He was sure they were arranged in some order which had a secret and malign significance. The wood on either side was full of singular noises,
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dafür ausgelegt werden, dass das Geschehen sich nicht mehr in der TAW abspielt, sondern in Farquhars Fantasiewelt. Zusammenfassend lassen sich folglich drei Arten von Weltkonflikten unterscheiden: explizite Weltkonflikte in Bezug auf Farquhars zeitliches Empfinden im ersten Teil der Geschichte während der Vorbereitungen auf seine Erhängung. Implizite Weltkonflikte bzgl. seiner Fähigkeiten sowie explizite Weltkonflikte bzgl. der Veränderung der TAW treten darüber hinaus im dritten Teil der Geschichte während seiner fantasierten Flucht auf. Wenn es so viele Weltkonflikte gibt, stellt sich tatsächlich die Frage, wieso ein Großteil der Leser die Auflösung dennoch nicht kommen sieht.
2.2 Auswirkungen von Spannung und Empathie auf die Rekonstruktion des Geschehens im fiktionalen Universum Ein Grund, warum der Leser trotz der verschiedenen Weltkonflikte von der Auflösung überrascht werden kann, liegt im Spannungsverlauf und in der emotionalen Teilnahme am Schicksal des Protagonisten. Ursächlich für den Spannungsaufbau und das Empathieempfinden des Lesers für den Protagonisten ist die komplexe Informationsvergabe der Kurzgeschichte. Diese zeigt sich an der chronologischen Ordnung und dem multiperspektivischen Erzählen. Die Geschichte ist in drei Teile unterteilt und schildert das Geschehen in anachroner Weise. Während der erste Teil die Vorbereitungen auf die Hinrichtung auf der Brücke schildert, folgt im zweiten Teil ein Rückblick, in dem der Leser erfährt, warum Farquhar gehängt werden soll. Der letzte Teil umfasst die Schilderung der Flucht. Neben dem anachronen Aufbau ist die Informationsvergabe stark an die wechselnde Fokalisierung gekoppelt. Während im ersten Teil das Geschehen durch externe und interne Fokalisierung wiedergegeben wird, ist der zweite Teil null-fokalisiert, während der dritte Teil die imaginierte Flucht (mit Ausnahme des letzten Absatzes) mit interner Fokalisierung darstellt. Der erste Teil der Geschichte beginnt mit einer extern-fokalisierten, distanzierten Beschreibung der Szenerie durch eine implizite, heterodiegetische Erzählinstanz. In den ersten beiden Absätzen der Geschichte werden alle an der Exekution beteiligten Figuren sowie die Umgebung detailliert beschrieben, ohne dass der Rezipient Informationen bekommen würde, die über das Audio-Visuelle hinausgehen. Die heterodiegetische Erzählinstanz stellt Mutmaßungen über die
among which—once, twice, and again—he distinctly heard whispers in an unknown tongue.” („Owl“ 312)
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beteiligten Figuren bzw. das Geschehen an (“[A] sergeant who in civil life might have been a deputy sheriff”; “It did not appear to be the duty of these two men to know what was occurring at the centre of the bridge”; “Doubtless there was an outpost”, „Owl“ 305; eigene Hervorhebung). Auch werden die beteiligten Figuren lediglich durch ihren militärischen Rang oder ihre Rolle bei der Hinrichtung unterschieden („a man“; „two private soldiers“; „a sergeant“; „a captain“; „a sentinel“, „a single company of infantry“, „Owl“ 305). Zu diesem Zeitpunkt kann der Leser daher weder den Protagonisten noch das Thema der Geschichte erkennen. Dazu trägt auch der wenig aussagekräftige Titel der Geschichte bei.346 Dies ändert sich im dritten Absatz, als die Erzählerinstanz an den Gefangenen „heranzoomt“ und das äußere Erscheinungsbild des Mannes beschreibt: The man who was engaged in being hanged was apparently about thirty-five years of age. He was a civilian, if one might judge from his habit, which was that of a planter. His features were good—a straight nose, firm mouth, broad forehead, from which his long, dark hair was combed straight back, falling behind his ears to the collar of his well fitting frock coat. He wore a moustache and pointed beard, but no whiskers; his eyes were large and dark gray, and had a kindly expression which one would hardly have expected in one whose neck was in the hemp. Evidently this was no vulgar assassin. („Owl“ 306)
Durch den plötzlichen Fokus auf den Gefangenen wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf diesen gelenkt und er kann ihn als zentrale Figur der Geschichte identifizieren. Gleichzeitig wirkt die positive Beschreibung einer vorschnellen Kategorisierung seitens des Lesers entgegen, da der Mann offensichtlich nicht dem Stereotyp eines Mörders entspricht (“Evidently this was no vulgar assassin”).347 In Anbetracht der Bedeutung des primacy effect für die Konstruktion mentaler Figurenmodelle kann folglich davon ausgegangen werden, dass der erste positive Eindruck, den die heterodiegetische Erzählinstanz vom Gefangenen hat, sich auf das mentale Modell des Lesers auswirkt und die weitere Rezeption beeinflusst (vgl. Kap. V.5.1). Ein Wechsel von einer externen zu einer internen Fokalisierung im folgenden Absatz führt dazu, dass sich der Leser in den Mann empathisch einfühlen kann, da das Geschehen nun aus seiner Sicht geschildert wird.348 Dieser betrach-
346 Siehe dazu auch Evans (2003: 76): “The title of the story, like so much else, is effectively ambiguous. The word ‘Occurrence’ allows for the possibility of Farquhar’s escape, whereas a title such as ‘A hanging at’ would have been more accurate but also less ambiguous.” 347 Vgl. dazu auch Linkin (1988: 139): “These newly personal judgments begin […] to stir sympathies for the attractive, kindly condemned man.” 348 Zum Verhältnis von interner/externer Fokalisierung und empathischem Empfinden, siehe Keen (2006: 219–220). Ähnlich auch Stanzel (2002 [1979]: 173–174): „Innenweltdarstellung ist
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tet zunächst das unter der Brücke fließende Wasser, bevor er die Augen schließt, um an seine Familie zu denken. Durch die wechselnde Fokalisierung wird die Aufmerksamkeit der Leser auf die verlangsamte Wahrnehmung des Mannes und seine Angst vor dem Tod gelenkt. Insofern tragen die Weltkonflikte nicht nur dazu bei, die Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz als unzuverlässig zu entlarven, sondern beeinflussen den Leser auch affektiv, denn nach Hogan (2003: 213) wird situationale Empathie in besonderem Maße hervorgerufen, wenn der Leser das Leiden einer Figur erkennt und nachempfinden kann. Darüber hinaus bekommt der Gefangene durch die interne Fokalisierung auch ein individuelleres Profil. Durch die interne Fokalisierung erfährt der Leser, dass der Gefangene Familienvater ist – sein Schicksal betrifft ihn also nicht allein. Seine Frau droht Witwe und seine Kinder drohen Waisen zu werden. Nachdem der Text zunächst eine empathische Bindung des Lesers an den Protagonisten etabliert, steigert das Ende des ersten Teils die Spannung. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes überlegt der Mann, wie er seinen Peinigern entkommen kann: “If I could free my hands,” he thought, “I might throw off the noose and spring into the stream. By diving I could evade the bullets and, swimming vigorously, reach the bank, take to the woods and get away home. My home, thank God, is as yet outside their lines; my wife and little ones are still beyond the invader’s farthest advance.” („Owl“ 307)
Die Textstelle ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Zum einen nimmt das Wunschdenken des Mannes die Fluchtfantasie des dritten Teils vorweg und skizziert eine mögliche Lösung für den grundlegenden Handlungskonflikt der Kurzgeschichte: Der Mann muss sich von seinen Fesseln befreien, in den Fluss springen, den Schüssen der Soldaten ausweichen und schließlich die eigene Farm erreichen. Die heimatliche Farm wird als schützender Raum etabliert, da diese sich außerhalb des Feindesgebiets befindet. Dieses Problemlösungsszenario wird jedoch augenblicklich durch die weiteren Handlungen der Figuren unmöglich gemacht. So endet der erste Teil damit, dass die Vorbereitungen auf die Hinrichtung abgeschlossen sind und der Sergeant von dem Brett tritt, auf dem auch der Gefangene steht und von dem Letzterer in die Tiefe stürzen wird. Der Gefangene hat somit keine Möglichkeit mehr, sich
ein äußerst wirksames Mittel zur Sympathiesteuerung, weil dabei die Beeinflussung des Lesers zugunsten einer Gestalt der Erzählung unterschwellig erfolgt. Je mehr ein Leser über die innersten Beweggründe für das Verhalten eines Charakters erfährt, desto größer wird seine Bereitschaft sein, für das jeweilige Verhalten dieses Charakters Verständnis, Nachsicht, Toleranz usw. zu hegen.“
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selbst von seinen Fesseln zu befreien. Das abrupte Ende des ersten Teils kreiert gleichsam einen cliffhanger: Kann sich der Mann noch irgendwie aus seiner Lage befreien und einen Weg finden, sich bis zu seiner heimatlichen Plantage durchschlagen? Oder wird er sterben? Doch statt diese Fragen zu beantworten, verlässt der zweite Teil das Geschehen auf der Brücke und beschreibt in einer Rückblende, wie der Mann in die lebensbedrohende Situation geraten ist. Zum einen wirkt der zweite Teil damit als retardierendes Moment, da die Spannungsfrage, ob der Gefangene den Fall von der Brücke überlebt, weiter hinausgezögert wird. Zum anderen dient der zweite Teil auch dazu, die empathische Bindung zum Protagonisten weiter zu festigen. So erfährt der Rezipient nun endlich den Namen des Protagonisten – Peyton Farquhar349 – und dessen Wunsch von einem Dasein als Plantagenbesitzer. Ferner erfährt er von dessen Bedürfnis, sich im Krieg auszuzeichnen. Circumstances of an imperious nature, which it is unnecessary to relate here, had prevented him from taking service with that gallant army which had fought the disastrous campaigns ending with the fall of Corinth, and he chafed under the inglorious restraint, longing for the release of his energies, the larger life of the soldier, the opportunity for distinction. That opportunity, he felt, would come, as it comes to all in wartime. Meanwhile he did what he could. No service was too humble for him to perform in the aid of the South, no adventure to perilous for him to undertake if consistent with the character of a civilian who was at heart a soldier, and who in good faith and without too much qualification assented to at least a part of the frankly villainous dictum that all is fair in love and war. („Owl“ 307)
Diese Informationen ermöglichen dem Rezipienten das mentale Figurenmodell des Protagonisten zu spezifizieren. Dazu trägt auch die sprachliche Ausgestaltung bei. Das Vokabular („gallant army“, „the larger life of the soldier“, „the opportunity for distinction“, „adventure“, „a civilian who was at heart a soldier“) weist darauf hin, dass Farquhars heroisches Bild vom Krieg offensichtlich Kriegspropaganda und Abenteuerromanen entstammt (vgl. Cheatham/Cheatham 1985: 220). Die Beschreibung entlarvt Farquhar zwar als naiven, aber durchaus idealistischen Menschen. Aus diesem Grund kann das positive Bild der Figur beibehalten werden: Farquhar deserves our respect and our sympathy, for he is the great-hearted, sincere, loyal and generous spirit who, although fired by “ill-weaved ambition,” nevertheless believes that he answers his duty in sacrificing the quiet life of home and family to help repel the invading force. (Ames 1987: 66, Fußnote 3)350
349 Bis zu diesem Zeitpunkt wird der Protagonist lediglich als „the man“ bezeichnet. 350 Ähnlich auch Woodruffs (1964: 156) positives Bild des Protagonisten: “Farquhar is such an attractive figure: brave, sensitive, highly intelligent.”
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Nach der Darlegung von Farquhars Ambitionen werden die konkreten Hintergründe genannt, die zu seiner Gefangennahme führten. Eines Abends hält ein in Grau gekleideter Soldat an Farquhars Farm und erzählt ihm von einer strategisch wichtigen Eisenbahnbrücke, die von den Nordstaaten eingenommen wurde, jedoch leicht in Brand gesetzt werden könne. Farquhar sieht endlich seine Chance gekommen, sich als Held auszuzeichnen. Im letzten Satz des zweiten Teils erfährt der Leser jedoch, dass der grau gekleidete Soldat in Wirklichkeit ein verkleideter Nordstaatenspion ist, der vermutlich Farquhars Plantage konfiszieren möchte (vgl. Woodruff 1964: 156). Diese Information lässt das bis dahin Geschehene im neuen Licht erscheinen und vergrößert die emotionale Teilnahme am Schicksal des Protagonisten. Offensichtlich ist Farquhar in eine hinterhältige Falle gelockt wurden. Sein Unterfangen, die Brücke zu zerstören, war somit von vornherein zum Scheitern verurteilt.351 Da der Protagonist sich bis auf seinen Plan, die Brücke zu sabotieren, nichts hat zuschulden kommen lassen, vergrößert sich die Anteilnahme am Schicksal des Mannes.352 Darüber hinaus lässt sich argumentieren, dass die Bindung des Lesers zum Protagonisten weiter gestärkt wird, da beide sich in der Identität des grau gekleideten Soldaten irren.353 Wenn der dritte Teil der Geschichte das Geschehen auf der Brücke fortsetzt, erscheint es wahrscheinlich, dass der Leser aufgrund seiner emotionalen Bindung zum Protagonisten einen Handlungsverlauf präferiert, in dem dieser überlebt. Wenn Logan (1982) und Davidson (1984) argumentieren, dass der Leser die verschiedenen Weltkonflikte im dritten Teil der Geschichte als klare Signale versteht, dass Farquhar träumt, dann verkennen sie zum einen, dass sich das Lesetempo des Rezipienten in spannungsgeladenen Passagen erhöht und daher die Aufmerksamkeit unter Umständen eingeschränkt ist.354 So argumentiert Tietz (2001:100): “Bierce has given fair warning, but of course he is counting on the reader to rush past the clues to find out what happens–and we all do, the first
351 “Farquhar was doomed from the start. He died because he was duped, fooled – in the fullest sense – by a disguised Federal scout, just as he had already been fooled by the rhetoric of war.” (Davidson 1984: 48) 352 So bemerkt Woodruff (1964: 156): “It is the tragic waste of such a man which engages our sympathies.” 353 So schreibt Ames (1987: 61): “[T]he narrator is able to generate sympathy for the protagonist not only by selecting information that portrays the protagonist as a proud and generous partisan who falls victim to the hypocrisy of war, but also by forcing the reader to share in the temptation and the fall. Yet the reader’s fall is not a consequence of the Federal scout’s deception. Rather, it is the direct result of an omniscient but unreliable narrator who withholds the identity of the gray-clad soldier and sets up the reader to repeat the fatal error of the protagonist.” 354 Siehe zu den Auswirkungen von Spannung auf das Lesetempo Cupchik (1996: 191).
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time.”355 Zum anderen kann argumentiert werden, dass der Rezipient den von ihm präferierten Handlungsverlauf konstruiert und entgegenstehende Hinweise nicht entsprechend würdigt, wie etwa Ames (1987: 63) annimmt: “[…] the reader’s sympathy for the young gentleman contributes substantially to his willingness to overlook and explain away the strangeness and the many inconsistencies that give the content a dreamlike quality.”
2.3 Zum Nicht-Erkennen von impliziten Weltkonflikten und falschen Erklärungsannahmen bzgl. der expliziten Weltkonflikte Vor dem Hintergrund der empathischen Teilhabe des Lesers am Schicksal des Protagonisten ist es sinnvoll, zum zweiten Mal die Weltkonflikte zu betrachten, um zu untersuchen, wie der Leser diese auflösen kann, ohne den Konflikt zwischen der TAW und Farquhars Fantasieuniversum zu erkennen. Eine besondere Bedeutung bei der Rezeption kommt den zwei expliziten Weltkonflikten zwischen der TAW und der Fokalisiererwelt im ersten Teil der Geschichte zu, da diese den Rezipienten auf die ironisch-unzuverlässige Wahrnehmung des Protagonisten aufmerksam machen. In beiden Fällen (der langsam fließende Fluss, das langsame und laute Ticken der Uhr) kann der Leser die unzuverlässige Perzeption des Protagonisten auf dessen Überlebenswillen zurückführen. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes rasen seine Gedanken, alles andere verlangsamt sich um ihn herum. Wichtig ist festzuhalten, dass der Leser nicht daran zweifelt, was Farquhar sieht bzw. hört, sondern lediglich, wie er seine Umgebung wahrnimmt. Dass der Leser die verlangsamte Wahrnehmung des Protagonisten bei der ersten Lektüre als einen Hinweis auf eine Halluzination auffasst, wie vereinzelt argumentiert wird (s. o.), scheint aus verschiedenen Gründen fragwürdig. Es fehlt an expliziten Weltkonflikten im dritten Teil der Geschichte, die dem Leser deutlich machen, dass sich die von Farquhar empfundene Zeit (also ein 24-stündiges Geschehen) nicht mit der Zeit in der TAW (die Illusion von Farquhar dauert wenige Sekunden) deckt. Stattdessen impliziert die über weite Strecken detaillierte Schilderung der Flucht ein zeitdeckendes Erzählen, d. h., „die relativ eng[e] Übereinstimmung der Zeit der Erzählung und Geschichte“ (Martinez/ Scheffel 2007 [1999]: 40). Dadurch entsteht der Eindruck, die zeitliche Darstellung der Flucht decke sich mit der Zeit in der TAW. Auch wenn in fast jedem Satz des dritten Teils ein verbum sentendi („he saw“, „he heard“, „he felt“) oder ein
355 Berkove (2002: 132) spricht in ähnlicher Weise von einem „unwary reader who, racing to find out what happens next in the plot, slight the text.“
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verbum credendi („he knew“, „he reasoned“, „he thought“) auftaucht, welches das Geschehen als Farquhars subjektive Wahrnehmung und damit als Fokalisiererwelt markiert, greift die heterodiegetische Erzählinstanz im dritten Teil niemals explizit ein, um die Fokalisiererwelt als falsch zu entlarven. Stattdessen spricht die heterodiegetische Erzählinstanz vom Protagonisten als „man in the water“ („Owl“ 311) oder als „hunted man“ („Owl“ 311), was den Leser weiter in seinem Glauben bestärkt, der Protagonist befinde sich tatsächlich im Wasser und sei auf der Flucht. Aus diesem Grund müssen die impliziten Weltkonflikte in Bezug auf die übermenschliche Wahrnehmung Farquhars im dritten Teil der Geschichte auch nicht zwingend als solche erkannt werden. Die übermenschliche Wahrnehmung in Teil drei muss daher nicht als Konflikt zwischen der TAW und Farquhars Fantasiewelt gelesen werden, sondern eher in Kontinuität zur Wahrnehmung im ersten Teil der Geschichte. Wenn Farquhar also die Bewegungen der Fische im Wasser hören und die Prismen der Tautropfen auf Gräsern erkennen kann, dann lässt sich diese Beschreibung der Wahrnehmung des Protagonisten in Kontinuität zu seiner zweifelhaften Wahrnehmung im ersten Teil der Geschichte und als hyperbolische Darstellung seiner Perzeption deuten: “Without any other access to the actual scene before him, we accept Farquhar’s reading as a distortion of natural stimuli rather than a hallucination.” (Linkin 1988: 146) Im Gegensatz zum ersten Teil der Geschichte, in dem die verlangsamte Wahrnehmung, seinen Trieb, am Leben zu bleiben, zeigt, kann Farquhars außergewöhnliche Wahrnehmung darauf zurückgeführt werden, dass ihm durch einen glücklichen Umstand das Leben geschenkt wurde und er die Welt und das Leben darin mit einer besonderen Intensität wahrnimmt. Der Leser wird also – wie im ersten Teil der Geschichte – nicht hinterfragen, was Farquhar sieht, sondern lediglich an der Art seiner Wahrnehmung zweifeln, d. h., der Leser wird nicht an der Existenz der Fische oder der Grasblätter zweifeln, sondern daran, dass Farquhar diese mit einer so feinen Sensorik wahrnehmen kann. In ähnlicher Weise kann der Leser auch die widersprüchliche Wahrnehmung Farquhars in Bezug auf den Soldaten auflösen, den er erst als Silhouette wahrnimmt, bevor er im nächsten Moment dessen Augenfarbe erkennt. Auch hier kann der Rezipient den Widerspruch auflösen, indem er annimmt, dass Farquhar sich mit seinen geschärften Sinnen einbildet, das Auge des Soldaten zu erkennen, auch wenn ihm das physikalisch nicht möglich ist. Vielmehr schaut er metaphorisch gesprochen dem Tod ins Auge. Denkbar ist ferner, dass der Leser den Widerspruch bei der ersten Lektüre als unbeabsichtigten Fehler des Autors und damit nicht als expliziten Weltkonflikt begreift.356
356 Dies ist natürlich abhängig vom mentalen Modell, dass der Leser vom Autor entwirft. Nach Logans (1982: 206) mentalem Modell von Bierce ist ein solcher unabsichtlicher Fehler ausge-
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Auch die Tatsache, dass Farquhar den Schüssen der Soldaten im Wasser ausweichen kann, muss der Leser nicht zwangsläufig als Hinweis darauf verstehen, dass sich der Protagonist in einer Fantasiewelt befindet. Was der Rezipient als möglich bzw. wahrscheinlich in der TAW erachtet, ist abhängig von seinen Annahmen über die storyworld logic der TAW (vgl. Kap. V.3.1). In der Tat wird ein Leser, wenn er eine Übereinstimmung zwischen den Gesetzmäßigkeiten der ihm bekannten Welt und der TAW annimmt, irritiert sein, dass Farquhar den Schüssen der Soldaten ausweichen kann. Fraglich ist allerdings, ob ein Leser tatsächlich von einer weitgehenden Übereinstimmung der Gesetzmäßigkeiten der fiktionalen Welt der TAW ausgeht. Es gibt vor Farquhars Flucht immerhin keine Hinweise hinsichtlich der storyworld logic. Im ersten Teil der Geschichte, der die Vorbereitungen auf die Exekution beschreibt, fehlt es nicht nur an Aktionen der Figuren, die Rückschlüsse auf die storyworld logic zuließen, sondern in weiten Teilen gar an Bewegung in der TAW. Außer den an der Exekution unmittelbar Beteiligten stehen sämtliche anderen Figuren starr: “The company faced the bridge, staring stonily, motionless. The sentinels, facing the banks of the stream, might have been statues to adorn the bridge. The captain stood with folded arms, silent, observing the work of his subordinates, but making no sign.” („Owl“ 305; eigene Hervorhebung)357 Auch der zweite Teil, welcher Farquhars Ambitionen und sein Gespräch mit dem verkleideten Soldaten umfasst, lässt keine Rückschlüsse auf die storyworld logic zu. Folglich hat der Leser keine Vergleichsfolie, um zu beurteilen, ob das Ausweichen von Schüssen im fiktionalen Universum möglich ist. Darüber hinaus muss auch das Wissen berücksichtigt werden, dass der Rezipient beim Lesen aktiviert. Betrachtet man die Handlungselemente der Geschichte – der Protagonist beweist seinen Mut und stemmt sich alleine gegen den Feind, er wird in eine hinterhältige Falle gelockt, er kann aber dem Feind durch Glück und Geschick entkommen und schließlich zu seiner Familie heimkehren –, scheint es naheliegend, dass der Leser bei der ersten Lektüre „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ der Gattung der Abenteuergeschichte zuordnet. Damit konstruiert er gleichermaßen eine TAW, in der die storyworld logic nicht mit den Gesetzmäßigkeiten der ihm bekannten Welt übereinstimmt, so dass es möglich und sogar (nach Gattungskonventionen) wahrscheinlich ist, dass der Protagonist dem scheinbar sicheren Tod aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten entkommen kann. Demnach scheinen
schlossen: “Bierce, with his passion for precision and concision, would hardly have included such a detail inadvertently.” 357 “A man stood upon a railroad bridge in northern Alabama […]”; “A sentinel at each end of the bridge stood with his rifle in the position known as ‘support,’ […]”; “A lieutenant stood at the right of the line […]”; “[…] not a man moved […]” („Owl“ 305; eigene Hervorhebung).
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die Flucht, die Überwindung des Feindes und die Heimkehr zu Frau und Familie durchaus einem gängigen Erzählmuster zu entsprechen und steuern somit auch die Erwartungen des Rezipienten an den Handlungsverlauf.358 Auch die veränderte Umgebung muss dem Leser nicht als Hinweis darauf dienen, dass sich Farquhar in einer Fantasiewelt befindet, die sich nicht mit der TAW deckt. So ist der erste Weltkonflikt bzgl. der veränderten Umgebung ein Konflikt innerhalb der Fokalisierungsinstanz. Farquhar selbst erkennt die ihm eigentlich vertraute Umgebung nicht wieder. Dies kann der Leser darauf zurückführen, dass der Protagonist sich auf der Flucht vor den Soldaten befindet und in einer extrem angespannten physischen und psychischen Verfassung ist. Auch die Weltkonflikte zwischen der TAW und er Fokalisiererwelt bzgl. des veränderten Sternenhimmels und der Stimmen aus dem Wald muss der Leser nicht darauf zurückführen, dass Farquhar das Geschehen nur träumt. Der Leser kann die seltsamen Erscheinungen auch mit Farquhars mentaler und physischer Erschöpfung begründen – der Text bietet eine solche Interpretation an, wenn es heißt „he was fatigued, footsore, famishing“ („Owl“ 312). Nicht die erzählte Welt ist verändert, so kann der Leser bei der ersten Lektüre folgern, sondern Farquhar erkennt aufgrund seiner Strapazen und Leiden seine Umgebung nicht richtig und beginnt im Laufe seiner Heimreise zunehmend zu halluzinieren (was auch dadurch unterstützt wird, dass er seine Füße nicht mehr spürt, jedes Zeitgefühl verliert und nicht sicher ist, ob er wach ist oder nicht). Gerade weil Farquhar als ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz im ersten Teil der Geschichte eingeführt wurde, bietet sich der Rückgriff auf seine Wahrnehmung auch im dritten Teil an, um die Diskrepanzen zwischen der Fokalisiererwelt und der TAW aufzulösen. Der Leser nimmt folglich an, Farquhar sei eine ironisch-unzuverlässige Fokalisierungsinstanz, die ihre Umgebung nicht adäquat wahrnimmt und nicht – wie bei der zweiten Lektüre offensichtlich wird – eine im Kontext des Traums zuverlässige Fokalisierungsinstanz, die eine ihr unbekannte Fantasiewelt adäquat wahrnimmt. Im letzten Teil der Geschichte löst der Leser die Konflikte folglich falsch auf, so dass der Leser den Traum als Wirklichkeit begreift. Denn Farquhar hat – entgegen der vorschnellen Annahme des Lesers – in seiner Fantasiewelt eine übernatürliche Wahrnehmung, er hat übernatürliche Fähigkeiten und die
358 Im literaturhistorischen Kontext der Kurzgeschichte in den 1880er und 1890er erfreuen sich Abenteuergeschichten, die im Bürgerkrieg angesiedelt sind und das Heldentum und die Tapferkeit des Individuums glorifizieren, in dime novels großer Beliebtheit (vgl. Fahs 2001: 312). Aus diesem Grund ist es nicht unwahrscheinlich, dass gerade die zeitgenössischen Leser die Geschichte zunächst als Abenteuergeschichte rezipiert haben.
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Umgebung, die er nicht erkennt, ist tatsächlich verändert (denn die Fantasiewelt gleicht tatsächlich nicht der TAW im fiktionalen Universum).
2.4 Zur Revision des mentalen Modells der TAW und des Protagonisten Wenn der letzte Satz (“Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek Bridge”, „Owl“ 313) den Konflikt zwischen TAW und Farquhars Fokalisiererwelt explizit macht, bedeutet dies nicht nur, dass der Leser sein zuvor konstruiertes Situationsmodell (sein mentales Modell vom Geschehen im fiktionalen Universum) revidieren und die Flucht als Traum in das Situationsmodell integrieren muss. Er wird zudem dazu angehalten, bei einer zweiten Rezeption zu überprüfen, inwieweit das neu rekonstruierte Situationsmodell der Flucht als Traum einer zweiten Lektüre standhält (vgl. Davidson 1984: 22). Dabei scheint es wahrscheinlich, dass er nach Hinweisen im Text sucht, die das Narrativ des Traums bestätigen. Es ist anzunehmen, dass ihm in diesem Kontext die verschiedenen impliziten Weltkonflikte bewusst werden und dass er die expliziten Weltkonflikte im dritten Teil mit Rückgriff auf Farquhars Illusion erklären kann. Gleichzeitig muss er die Prämissen reflektieren, auf deren Grundlage er sein Bild des Geschehens im fiktionalen Universum rekonstruiert hat. Offensichtlich rezipiert der Leser den Text als Abenteuergeschichte und begreift den Krieg in diesem Kontext als etwas Heroisches, in dem das Gute bzw. die Gerechtigkeit obsiegt, bis der Text ihm durch das überraschende Ende den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Auflösung führt dem Rezipienten vor Augen, dass der Krieg wenig mit Abenteuer, Heldentum und Gerechtigkeit zu tun hat.359 Dass im Krieg kein Platz für Heroismus ist, verdeutlicht retrospektiv auch der Titel: Das Geschehnis („occurrence“) auf der Owl Creek Bridge bezeichnet nicht die abenteuerliche Flucht eines Helden, wie der Leser bei der ersten Lektüre möglicherweise noch erwartete, sondern die Erhängung eines Zivilisten im Amerikanischen Bürgerkrieg – eine unwesentliche Fußnote im Bürgerkrieg, Neben der Revision der mentalen Repräsentation des Geschehens zwingt die Auflösung den Leser überdies, sein Bild des Protagonisten zu überprüfen. Ist Farquhar – so kann retrospektiv gefragt werden – wirklich eine so positive Figur? Auf dem zweiten Blick und mit emotionaler Distanz kommen Zweifel daran auf und Farquhars gesamte Unternehmung entpuppt sich rückblickend als egoisti-
359 Bierces Kurzgeschichte kann damit als explizite Kritik an literarischen als auch politischen Diskursen seiner Zeit verstanden werden. Siehe dazu genauer Vogt (2011a).
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scher Akt mit tödlichem Ausgang. Er zieht ausschließlich aus eigenen selbstsüchtigen Motiven und Selbstüberschätzung in den Krieg. Im naiven Glauben, er sei zu Höherem berufen, sehnt sich Farquhar nach Abenteuer, möchte Ruhm und Ehre verdienen und ist aus diesen Gründen dazu bereit, Frau und Kinder zu verlassen, die nach seinem Tod als Witwe und Waisen zurückbleiben (vgl. Berkove 2002: 123).360 Was die kritische Bewertung des Protagonisten jedoch im gewissen Maße relativiert und zur Faszination des Textes beiträgt, ist, dass die Kurzgeschichte auch dem Leser einen Spiegel vorhält, indem sie die menschliche Fehlbarkeit bei der (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit verdeutlicht. Wie Farquhar, dessen Bild der Wirklichkeit von Sprache manipuliert wird (von der Kriegspropaganda, von Abenteuergeschichten und der Lüge des verkleideten Soldaten), wird auch der Leser durch die Worte der Geschichte in die Irre geführt, wenn er Farquhars Flucht als fiktionale Wirklichkeit begreift: “The human limitations […] that lead the reader to misread ‘Owl Creek Bridge’ are the same as those that lead Farquhar to believe the rope has broken or that, more abstractly, lead him to the Owl Creek Bridge in the first place.” (Davidson 1984: 55)
3 Alterierte Unzuverlässigkeit in Chuck Palahniuks Fight Club (1996) Als ein weiteres Beispiel für alterierte Unzuverlässigkeit soll Chuck Palahniuks Fight Club (FC) betrachtet werden. In dem Roman berichtet ein namenloser, homodiegetischer Erzähler von seinem Leben als frustrierter, unter chronischer Schlaflosigkeit leidender Versicherungsvertreter. Kurze Linderung seiner Insomnia versprechen ihm die Besuche bei Therapiegruppen von Krebspatienten, die er unter falscher Identität unternimmt. Als eine gewisse Marla Singer anfängt, sich ebenfalls in die Gruppen einzuschmuggeln, setzt die Schlaflosigkeit wieder ein. Sein Leben bekommt jedoch eine neue Wendung, als er den Anarchisten Tyler Durden kennenlernt. Der Erzähler zieht zu ihm, nachdem seine eigene Wohnung durch eine mysteriöse Explosion zerstört wird, und gerät immer stärker unter den Einfluss seines charismatischen Freundes. Mit Tyler gründet der Erzähler den sogenannten fight club, eine geheime Untergrundorganisation, die in Kellern und Hinterhöfen blutige Kämpfe veranstaltet. Der fight club erfreut sich großer Popularität und bald finden sich im ganzen Land Ableger. Als Marla erneut in das
360 “[W]hile he is losing his life trying to be a war hero, he is also leaving his home, wife, and children defenseless in the path of an invading army.” (Tietz 2001: 100)
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Leben des Erzählers tritt und mit Tyler eine Beziehung anfängt, verstärkt sich die Schlaflosigkeit des Erzählers erneut. Unterdessen nutzt Tyler die Popularität des fight club und gründet das Terrornetzwerk Project Mayhem, welches das Ziel verfolgt, die Zivilisation zu zerstören. Als der Protagonist die Pläne Tylers erkennt, versucht er diesen zu stoppen – nur um (zur eigenen und zur Überraschung des Lesers) zu erkennen, dass er unter Schizophrenie leidet und er und Tyler dieselbe Person sind. Schließlich schießt er sich in den Kopf, um Tyler zu töten und die Welt vor dem Chaos zu retten. Wie in „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ resultiert die Irreführung des Lesers aus der Unterschlagung zentraler Information. Der homodiegetische Erzähler, der retrospektiv sein Leben mit Tyler schildert, enthält dem Leser zunächst die Information vor, dass er unter einer Persönlichkeitsstörung leidet und dass er und Tyler dieselbe Person sind. Stattdessen schildert er das Geschehen aus Sicht des erlebenden Ichs (also der Fokalisierungsinstanz bzw. des Protagonisten), ohne die schizophrene Wahrnehmung zu korrigieren. Erst als auch die Fokalisierungsinstanz bzw. der Protagonist erkennt, dass Tyler keine autonome Figur ist, macht auch die Erzählinstanz dies explizit (Bernaets 2009; Vogt 2009).361 Im Gegensatz zu „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ ist die falsche Rekonstruktion des fiktionalen Universums aber nicht darauf zurückzuführen, dass der Leser einen spezifischen Handlungskonflikt richtig erkennt und wegen der empathischen Bindung zum Protagonisten (trotz entgegenstehender Hinweise) einen Handlungsverlauf konstruiert, der den eigenen Präferenzen entspricht. In Palahniuks Roman beruht die Irreführung vielmehr darauf, dass der Leser zunächst einen falschen Handlungskonflikt rekonstruiert, der maßgeblich die weitere Rezeption beeinflusst und das Erkennen impliziter Weltkonflikte nahezu unmöglich macht. Aus diesem Grund wird in einem ersten Schritt gezeigt, wie der Rezipient aufgrund der Stimulierung von Spannungs-, aber besonders von Neugierfragen einen falschen Handlungskonflikt im fiktionalen Universum konstruiert. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, wie die auf Grundlage des ersten Kapitels konstruierte mentale Repräsentation des fiktionalen Universums die weitere fehlerhafte Rezeption beeinflusst, indem sie Kohärenz zwischen den Kapiteln kreiert
361 Vielfach wird diese Trennung zwischen Erzähl- und Fokalisierungsinstanz nicht hinreichend gezogen. Wenn etwa Allrath (2005: 198) oder Wald (2009: 229–230) annehmen, dass der homodiegetische Erzähler im Laufe des Romans herausfindet, dass er selbst Tyler ist, dann ist dies deshalb ungenau, da der Erzähler bereits im ersten Kapitel weiß, dass sein Freund und späterer Feind nur ein Produkt seiner Imagination ist. Er erzählt im Rückblick, wie die Fokalisierungsinstanz diese Entdeckung gemacht hat (vgl. Bernaets 2009; Vogt 2009).
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und falsche Erwartungen an den Handlungsverlauf und die Figurenkonstellation weckt. Drittens soll gezeigt werden, dass der Leser aufgrund dieser falschen Annahmen einen falschen Kontext kreiert, indem sein mind-reading versagt, so dass er implizite Konflikte zwischen der Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten nicht erkennt. Viertens soll erläutert werden, wie der plot twist rückwirkende Erklärungen liefert, die einerseits eine Revision des Situationsmodells ermöglichen und andererseits Spannung hinsichtlich des weiteren Handlungsverlaufs generieren. Abgeschlossen wird die Analyse mit einer Betrachtung des letzten Kapitels, in dem das vom Erzähler proklamierte happy ending durch ironischunzuverlässiges Erzählen unterminiert wird.
3.1 Zum Zusammenwirken von Spannung und Neugier bei der Rekonstruktion des fiktionalen Universums Ein zentraler Grundstein für die Irreführung des Rezipienten wird mit der Einführung in das fiktionale Universum gelegt. Der Roman geht im ersten Kapitel in medias res mit einer Szene, in welcher der Erzähler von Tyler mit einer Pistole bedroht wird.362 Aufgrund der (scheinbaren) physischen Interaktion zwischen Erzähler und Tyler rekonstruiert der Leser Letztgenannten bereits in den ersten Sätzen als eigene Entität in der TAW, da der Leser aufgrund des Fehlens gegenteiliger Informationen davon auszugehen hat, dass Tyler in der TAW existiert. Darüber hinaus kann der Leser Tyler bereits nach wenigen Sätzen die Rolle des Antagonisten zuweisen. Neben der Darstellung des gegenwärtigen Geschehens lenkt der Text die Aufmerksamkeit des Lesers durch Spannungssignale und Neugierfragen auf zukünftige und bereits vergangene Ereignisse. So erfährt der Leser bereits in den ersten Sätzen, dass beide auf dem Dach des Parker-Morris-Building stehen, in welchem in wenigen Minuten Bomben gezündet werden, die das Hochhaus zum Einsturz bringen sollen. Die wiederholt gegebene Information, dass das Parker-MorrisBuilding 191 Stockwerke hoch ist,363 sowie kurze Einschübe über das „Hinunterti-
362 Im ersten Kapitel herrscht wie in American Psycho simultanes Erzählen. 363 “One hundred and ninety-one floors up, you look over the edge of the roof and the street below is mottled with a shag carpet of people, standing, looking up.” (FC 12) “Somewhere in the one hundred and ninety-one floors under us, the space monkeys in the Mischief Committee of Project Mayhem are running wild, destroying everything.” (FC 12) “The Parker-Morris Building will go over, all one hundred and ninety-one floors, slow as a falling tree in the forest.” (FC 13; jeweils eigene Hervorhebungen)
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cken“ der Zeit bis zur Explosion364 lenken die Aufmerksamkeit wiederholt auf die Tatsache, dass dem Erzähler kaum Möglichkeiten bleiben, dem sicheren Tod zu entgehen, wodurch Spannung erzeugt wird. Lösungsmöglichkeiten werden durch den Text nicht angeboten. Im Gegensatz zu „Owl Creek Bridge“, das mit einer ähnlich existenziell bedrohlichen Situation für den Protagonisten einsetzt, bietet der Beginn von Palahniuks Roman allerdings kaum Möglichkeiten zur Empathiebildung, da der Rezipient kaum etwas über den Erzähler und seine Gefühle erfährt. Im Gegensatz zu Farquhar in Bierces Kurzgeschichte schaut der Erzähler in Fight Club dem Tod ohne emotionale Regung ins Auge. Trotzdem wird Interesse am Fortgang der Handlung generiert, da der Rezipient natürlich wissen möchte, ob der Erzähler seinem scheinbar ausweglosen Schicksal entgehen kann. Viel stärker als die Frage nach zukünftigen Ereignissen lenkt der Text das Augenmerk des Lesers jedoch auf bereits zurückliegende Geschehnisse und generiert damit Neugier: Wie ist es zu der Situation auf dem Hochhaus gekommen? Durch unspezifische Informationen und lediglich angedeutete Kausalitäten wirft der Beginn des Romans eine Vielzahl von Fragen auf. So erwähnt der Erzähler verschiedene Male, dass das Project Mayhem hinter dem Anschlag auf das Hochhaus steckt – ohne jedoch zu erläutern, was sich hinter diesem Namen verbirgt (vgl. FC 12–13). Etwas konkreter wird der Erzähler, als er die Sprengung des Hochhauses auf einen persönlichen Konflikt mit Tyler um eine Frau namens Marla zurückführt: […] I know all of this: the gun, the anarchy, the explosion is really about Marla. I have sort of a triangle thing going on here. I want Tyler. Tyler wants Marla. Marla wants me. I don’t want Marla, and Tyler doesn’t want me around, not anymore. This isn’t about love as in caring. This is about property as in ownership. (FC 14; Hervorhebung im Original)
Der genannte Abschnitt hat aus verschiedenen Gründen zentrale Bedeutung für die Generierung von Neugier und die Aktivierung narrativer Schemata. Zum einen wird mit Marla eine neue, für die Handlung offensichtlich wesentliche Figur eingeführt, von welcher der Leser bis dato nichts erfahren hat. Zum anderen aktiviert der Text beim Leser das narrative Schema einer Dreieckskonstellation, da der Erzähler andeutet, dass seine Freundschaft zu Tyler aufgrund von Marla in Feindschaft umgeschlagen ist (“For a long time though, Tyler and I were best friends”, FC 11). Das hohe Maß an Neugier über das vergangene Geschehen resul-
364 “The building we’re standing on won’t be here in ten minutes.” (FC 12) “Nine minutes.” (FC 13) “Eight minutes. […] Seven minutes. […] Six minutes.” (FC 14) “Five minutes. […] Four minutes […] Three minutes.” (FC 15)
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tiert aber vor allem daraus, dass der Erzähler diesen persönlichen Konflikt als ursächlich für die Sprengung des höchsten Gebäudes der TAW versteht. Folglich wirft das erste Kapitel zahlreiche Neugierfragen auf: Was verbirgt sich hinter Project Mayhem? Wer ist Marla? Wie ist die Freundschaft von Tyler und Erzähler in Feindschaft umgeschlagen? Wieso führt der Konflikt zwischen Tyler, Marla und dem Erzähler zur Sprengung des höchsten Hochhauses der TAW? Die hier genannten Fragen machen bereits deutlich, dass der Rezipient aufgrund der Informationsvergabe und der aktivierten Wissensstrukturen von einem falschen Handlungskonflikt ausgeht. Viele der Neugierfragen sowie das aktivierte Schema der Dreieckskonstellation beruhen auf der Prämisse, dass Tyler und der Erzähler separate Entitäten im fiktionalen Universum sind. Da die Neugierfragen und die Annahme der Dreieckskonstellation jedoch die weitere Rezeption lenken, können diese als wesentlich dafür angesehen werden, dass der Rezipient das fiktionale Universum falsch rekonstruiert und implizite Weltkonflikte nicht erkennt, wie im Folgenden veranschaulicht werden soll.
3.2 Zur Komplexität der Rekonstruktion des fiktionalen Universums Die Rekonstruktion des fiktionalen Universums in Fight Club gestaltet sich aufgrund der fragmentarischen Struktur sowie der sprachlichen Gestaltung als schwierig: jedes Kapitel des Romans setzt in medias res zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, mit einem anderen Figurenrepertoire ein. Die Rekonstruktion des zeitlichen Geschehens fordert den Leser aus verschiedenen Gründen. Da die Kapitel durch Ellipsen unterbrochen sind, erhält der Rezipient oftmals keine expliziten Informationen darüber, was in der Zwischenzeit passiert ist. Daher ist der Rezipient angehalten, Inferenzen darüber aufzustellen, die Leerstellen zu füllen und eigenständig Kausalitäten zwischen den Ereignissen zu konstruieren. Darüber hinaus sind die zeitlichen Ebenen des Romans verschachtelt. Neben der die Kapitel 2 bis 29 umfassenden Analepse finden sich innerhalb der einzelnen Kapitel weitere Rückblicke,365 an einigen Stellen verschwimmen einzelne Zeitebenen sogar miteinander, was eine zeitliche Orientierung erschwert.366
365 Vgl. Kapitel 10, 11. 366 Wenn der Protagonist Marla von einem medizinischen Eingriff erzählt: “Marla stops breathing and her stomach goes like a drum, and her heart is like a fist pounding from inside the tight skin of the drum. But no, I stopped because I was talking, and I stopped because, for a minute, neither one of us was in Marla’s bedroom. We were in the medical school years ago, sitting on the sticky paper with my dick on fire with liquid nitrogen when one of the medical students saw my bare feet and left the room fast in two big steps.” (FC 104)
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Ähnlich komplex gestaltet sich die Rekonstruktion der Handlungsorte, da jedes Kapitel in neuen Räumlichkeiten angesiedelt ist, so dass sich der Rezipient mit jedem neuen Kapitel auch räumlich neu orientieren muss. Auch innerhalb der einzelnen Kapitel kann es zu (teils abrupten) Raumwechseln kommen, welche die Erschließung des Geschehens zusätzlich erschweren. Als besonders komplex erweist sich die räumliche Orientierung in den Kapiteln, in denen der Erzähler reist und aufgrund seiner Insomnia selbst die Orientierung zu verlieren scheint. Es vollziehen sich häufige und unerwartete Raumwechsel, so dass der Leser (wie der Protagonist) schnell die Übersicht verlieren kann.367 Neben tatsächlichen Orten in der TAW driftet der Protagonist auch in als solche eindeutig identifizierbare Fantasiewelten ab, in die er sich beispielsweise in Kapitel 9 zurückzieht, als Tyler ihn mit Chemikalien die Haut verätzt. In diesem Kapitel wechseln sich die Schilderungen der Geschehnisse in der TAW mit denen in einem Fantasie universum absatzweise ab und gestalten die Konstruktion des Situationsmodells entsprechend schwierig. Doch auch die Komplexität der sprachlichen Gestaltung erschwert die Rekonstruktion des fiktionalen Geschehens. So wird direkte Figurenrede nicht durchgängig mit Anführungsstrichen als solche markiert. Dies führt dazu, dass der Leser nicht immer auf den ersten Blick erkennen kann, was Figurenrede ist und was den Gedanken der Fokalisierungsinstanz zuzuordnen ist, so dass der Rezipient in hohem Maße source-monitoring betreiben muss.368 Auch die Verwendung von „you“ kann sich auf verschiedene Referenzen beziehen. Mal benutzt es der Erzähler synonym mit „I“, um auf sich selbst (bzw. die Fokalisierungsinstanz) zu rekurrieren (“You wake up at O’Hare”, FC 25), mal bezeichnet „you“ einen expliziten, anonymen Adressaten, mal eine konkrete Figur innerhalb der Geschichte. So z. B. in Kapitel 19, in dem der Erzähler von seinem Überfall auf einen gewissen Raymond Hessel berichtet, den er direkt adressiert: “Then I had your attention. Your eyes were big enough that even in the streetlight I could see they were antifreeze green.” (FC 152)
367 “You wake up at O’Hare. […] You wake up at LaGuardia. […] You wake up at Logan.” (FC 25) Also in dem Kapitel, in dem die Fokalisierungsinstanz Tyler kennenlernt, und in dem Kapitel, in dem er entdeckt, dass er selbst Tyler ist. 368 “For the hug, I cross in three steps to stand against Marla who looks up into my face as I watch everyone else for the cue. Let’s all, the comes, embrace someone near us. My arms clamp around Marla. Pick someone special to you, tonight. Marla’s cigarette hands are pinned to her waist. Tell this someone how you feel.” (FC 37)
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Aufgrund der fragmentarischen Struktur und der sprachlichen Gestaltung sind Konstanten bzw. Fixpunkte notwendig, welche die Rekonstruktion des Geschehens erleichtern und dem Leser eine Orientierung geben. Diese Konstanten stellen der (falsch) konstruierte Handlungskonflikt und die daran beteiligten Figuren dar. Der Handlungskonflikt bildet gewissermaßen den teleologischen Fixpunkt, mit dem der Leser Kohärenz und Kausalitäten erzeugen kann. Durch die (falschen) Annahmen über den zentralen Handlungskonflikt hat der Rezipient rudimentäre Vorstellungen von den Eckpfeilern der Handlung. Der Rezipient nimmt an, dass die Freundschaft Tylers und des Erzählers offensichtlich in Feindschaft umgeschlagen ist, er weiß von der Dreieckskonstellation zwischen Tyler, Marla und dem Erzähler und von dem Project Mayhem. Auf die Probleme der (scheinbaren) Dreieckskonstellation wird im Verlauf des Romans immer wieder rekurriert. In Kapitel 2 berichtet der Erzähler von seinem ersten Treffen mit Marla, in Kapitel 3 vom Kennenlernen mit Tyler und in Kapitel 7 schließlich beleuchtet er das Kennenlernen von Tyler und Marla. Diese Symmetrie der Kapitel wird auf sprachlicher Ebene durch das „This is how I met Marla“ (FC 17), „This is how I met Tyler Durden“ (FC 25) sowie „This is how Tyler meets Marla“ (FC 56) gespiegelt und hebt die Bedeutung der Dreieckskonstellation hervor. Auf der Handlungsebene scheint sich das Konfliktpotenzial zwischen den „drei“ Figuren schnell zu realisieren. Der Protagonist369 lernt Marla in den Therapiegruppen für unheilbar Kranke kennen, in die er sich mit falscher Identität einschmuggelt. Als die ebenfalls gesunde Marla ebenfalls in den Gruppen auftaucht, wird dem Protagonisten ein Spiegel vorgehalten, so dass er seine Gefühle nicht mehr ausdrücken kann und erneut in seine Schlaflosigkeit zurückfällt. Erst als der Protagonist den gesellschafts- und konsumkritischen Anarchisten Tyler kennenlernt, mit ihm den sogenannten fight club gründet und zu ihm zieht, bessert sich sein Zustand. Das seelische Gleichgewicht des Protagonisten wird abermals aus der Fassung gebracht, als Tyler Marla das Leben rettet und eine Affäre mit ihr beginnt. Der Protagonist schiebt daraufhin Marla die Verantwortung für sein unglückliches Leben zu: “Long story short, now Marla’s out to ruin another part of my life.” (FC 62) Im Laufe des Geschehens nähern sich der Protagonist und Marla allerdings an. Mit der Gründung von Project Mayhem scheint Tyler zunehmend das Interesse am Protagonisten zu verlieren und verschwindet häufig ohne jede Erklärung tagelang. Der Protagonist leidet unter dem Verlust der Bezugsperson. Als er
369 Aus stilistischen Gründen werden in diesem Kapitel die Termini Fokalisierungsinstanz und Protagonist synonym verwendet, da die wahre Identität des Erzählers bzw. der Fokalisierungs instanz offenbleibt. Sicher scheint nur, dass er nicht Tyler Durden heißt (vgl. FC 172).
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merkt, dass Tyler auch Marla zu vernachlässigen scheint, beginnt die Bindung zu ihr stärker zu werden und er sieht sie nicht mehr als Konkurrentin: “It looks like we’ve both been dumped.” (FC 136) Aufgrund dieser Gemeinsamkeit nähern sich die beiden an, wobei sie das Thema Tyler bei ihren Gesprächen bis auf eine einzige Ausnahme (s. u.) konsequent ausklammern.370 Das Schema der Dreieckskonstellation lenkt jedoch nicht nur Erwartungen in Bezug auf die Handlung (welche scheinbar erfüllt werden), sondern es trägt auch dazu bei, Tyler und den Protagonisten als Kontrastpaar zu etablieren, was den Leser in seiner Annahme stärkt, die beiden Figuren seien separate Entitäten in der TAW.371 Während Tyler beispielsweise nachts als Filmvorführer arbeitet, ist der Protagonist tagsüber als Versicherungsvertreter tätig (“Some people are night people. Some people are day people. I could only work a day job”, FC 25). Auch die zahlreichen Vergleiche, bei denen der Erzähler seine Unterlegenheit gegenüber Tyler eingesteht und die Unterschiede zwischen beiden hervorhebt, tragen dazu bei, Tyler und den Protagonisten als autonome Figuren wahrzunehmen: I am nothing in the world compared to Tyler. I am helpless. I am stupid, and all I do is want and need things. (FC 146)
Ein weiterer Faktor, warum Tyler und der Protagonist für den Leser als zwei verschiedene Figuren erscheinen, liegt in ihrem (scheinbaren) Wissensunterschied.372 Immer wieder rätselt der Protagonist über Tylers Pläne und Intentionen.373Dieser
370 Zu einer ersten Annäherung von Marla und dem Protagonisten scheint es jedoch zu kommen, nachdem Tyler und der Protagonist Collagen (das aus dem Fett von Marlas Mutter gewonnen wurde) stehlen, um daraus Seife herzustellen. Von schlechtem Gewissen geplagt, nähert sich der Protagonist Marla langsam an (Kapitel 13). 371 Laut Bachorz (2004: 57) lenkt eine Dreieckskonstellation den Blick auf Korrespondenz- und Kontrastpaare. 372 Der Wissensunterschied zwischen Tyler und dem Protagonisten wird an verschiedenen Stellen betont: “Nobody knows who draws a proposal, and nobody except Tyler knows what all the proposals are and which are accepted and which proposals he throws in the trash. Later that week, you might read in the newspaper about an unidentified man, downtown, jumping the driver of a Jaguar convertible and steering the car into a fountain. You have to wonder. Was this a committee proposal you could’ve drawn?” (FC 120) “One night, Tyler comes upstairs to find me hiding in my room and says, ‘Don’t bother them. They all know what to do. It’s part of Project Mayhem. No one guy understands the whole plan, but each guy is trained to do one simple task perfectly’.” (FC 130) 373 “And why does Tyler need ten copies of the fight club rules?” (FC 99) “Was it the Mischief Committee or the Arson Committee? The giant face was probably their homework assignment for last week. Tyler would know, but the first rule about Project Mayhem is you don’t ask questions
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Wissensunterschied zwischen Tyler und dem Protagonisten trägt nicht nur dazu bei, beide als zwei distinkte Figuren zu begreifen, sondern generiert sowohl Spannung als auch Neugier, da der Protagonist wie der Leser nicht wissen, welche Pläne Tyler verfolgt: “Is it true, everybody asks. Is Tyler Durden building an army? That’s the word. Does Tyler Durden only sleep one hour a night? Rumor has it that Tyler’s on the road starting fight clubs all over the country. What’s next, everybody wants to know.” (FC 135) Auch die „physische“ Interaktion zwischen Tyler und dem Protagonisten hat ihren Anteil daran, dass der Leser beide Figuren als distinkte Entitäten in der TAW begreift. Der Protagonist und Tyler „telefonieren“ (vgl. FC 45–46), „sie“ prügeln sich vor einer Bar (vgl. FC 53) und Tyler verätzt dem Protagonisten mit chemischer Substanz die Hand (vgl. FC 74–75).
3.3 Zum fehlerhaften mind-reading und Nicht-Erkennen von impliziten Weltkonflikten Die Annahme, Tyler und der Protagonist seien unterschiedliche Figuren, hat zentrale Auswirkungen auf das mind-reading und damit auf das Erkennen impliziter Weltkonflikte in Bezug auf die autonome Existenz Tylers. Denn im Gegensatz zur Fokalisierungsinstanz wissen die anderen Figuren, dass Tyler und der Protagonist dieselbe Person sind. Da der Leser nicht nur aufgrund des Verhaltens einer Figur, sondern auch aufgrund des Kontextes der Handlung auf dessen Gedanken, Intentionen schließt (vgl. Kap. V.3.1), verhindert die fehlerhafte Rekonstruktion des fiktionalen Universums, dass der Leser das Verhalten der anderen Figuren adäquat deutet. Ein zentraler, sich wiederholender impliziter Weltkonflikt, den der Leser durch den falsch konstruierten Kontext bei der ersten Lektüre nicht erkennt, findet sich zwischen Marla und der Fokalisierungsinstanz. Marla betrachtet den Protagonisten als Tyler, während dieser annimmt, Tyler sei eine andere Person, mit der Marla eine Beziehung habe. Aufgrund dieser Tatsache mutet Marlas Verhalten gegenüber dem Protagonisten mitunter seltsam an, so dass dieser (wie auch der Leser) Erklärungen dafür finden muss. Am Morgen nach der ersten Nacht von Marla und Tyler beispielsweise gibt sich Marla gegenüber dem Protagonisten freizügig und versucht ihn in Gespräche zu verwickeln. Die seltsame Wandlung in Marlas Verhalten ihm gegenüber erklärt der Protagonist damit, dass
about Project Mayhem.” (FC 119; eigene Hervorhebung) “What comes next in Project Mayhem, nobody except Tyler knows. The second rule is you don’t ask questions.” (FC 125; eigene Hervorhebung)
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sie mit ihm als Mitbewohner ihrer Affäre Freundschaft schließen möchte (FC 66). Als sie im weiteren Verlauf des Romans den Protagonisten (und nicht Tyler!) bittet, ihre Brust nach Knoten abzutasten, führt der Protagonist ihre Bitte darauf zurück, dass er aus dem Kollagen ihrer Mutter Seife gemacht hat und daher in ihrer Schuld steht und sie Tyler nicht erschrecken will: “This is why Marla called, because she hates me. […] Marla says she’ll forgive the collagen thing if I’ll help her look. I figure she doesn’t call Tyler because she doesn’t want to scare him. I‘m neutral in her book, I owe her.” (FC 102–103) An anderen Stellen muss der Leser dagegen selbstständig Erklärungen für Marlas Verhalten finden. Zu Beginn von Marlas und Tylers Beziehung fragt Marla etwa den Protagonisten, ob sie die Nacht bei Tyler und dem Protagonisten verbringen dürfe: “Can I stay over, tonight?” Marla says. […] I say, go, just get out. Okay? Don’t you have a big enough chunk of my life, yet? Marla grabs my sleeve and holds me in one place for the second it takes to kiss my cheek. “Please call me,” she says. “Please. We need to talk.” (FC 71)
Aufgrund des Kontextes wird der Leser fälschlicherweise davon ausgehen, dass Marla den Protagonisten aus Höflichkeit fragt, ob es ihn stört, wenn sie bei Tyler übernachtet. Auch die Bitte um ein Telefonat kann bei der ersten Lektüre damit begründet werden, dass Marla das Verhältnis zum Mitbewohner ihres Liebhabers kitten möchte, der offensichtlich Aversionen gegen sie hegt. Tatsächlich – so lässt sich die Szene retrospektiv deuten – fragt Marla aber ihren Liebhaber, ob sie die Nacht bei ihm verbringen könne, und sucht das Gespräch, um über seine harsche Reaktion ihr gegenüber zu sprechen. In ähnlicher Weise wird der Leser Marlas Verhalten fehlinterpretieren, als sie in einer anderen Szene das Haus von Tyler und dem Protagonisten betritt: “Marla yells, ‘Tyler. Can I come in? Are you home?’ I yell, Tyler’s not home. Marla yells, ‘Don’t be mean.’” (FC 90) Eine bei der ersten Rezeption naheliegende Erklärung für Marlas Reaktion (“Don’t be mean”) ist, dass sie die Aussage des Protagonisten so deutet, dass sie das Haus nicht betreten soll. Tatsächlich aber ist Marla wütend, weil ihr der Protagonist (aus ihrer Sicht) abermals zu verstehen gibt, dass er keine Zeit mit ihr verbringen will. In ähnlicher Weise versagt das mind-reading des Lesers, als es zum Streit zwischen Marla und dem Protagonisten kommt, weil dieser (mit Tyler) das Kollagen ihrer Mutter zu Seife verarbeitet hat: I have Marla around the waist from behind, her black hair whipping my face, her arms pinned to her sides, and I’m saying over and over, it wasn’t me. It wasn’t me. I didn’t do it.
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“My mother! You’re spilling her all over!” We needed to make soap, I say with my face pressed up behind her ear. We needed to wash my pants, to pay the rent, to fix the leak in the gas line. It wasn’t me. It was Tyler. Marla screams, “What are you talking about?” […] Marla screaming, “You boiled my mother!” (FC 92–93)
Da der Erzähler zuvor geschildert hat, wie Tyler den Plan entwickelt und ausgeführt hat, das konservierte Bindegewebe von Marlas Mutter zu stehlen (FC 89–90), erscheint Tyler als treibende Kraft hinter dem Geschehen und der Protagonist tatsächlich als bloßer Gehilfe. Daher wirken Marlas einseitigen Anschuldigungen gegenüber dem Protagonisten zunächst ungerecht. Die Tatsache, dass Marla nur die Fokalisierungsinstanz angreift, kann der Leser auf ihre Gefühle zu Tyler zurückführen (sie haben eine Affäre, Tyler hat ihr das Leben gerettet).374 Mit dem Wissen, dass Tyler und der Protagonist dieselbe Figur sind, erscheint Marlas Reaktion bei der zweiten Lektüre allerdings in einem anderen Licht. Ihr Ausruf „What are you talking about?“, nachdem der Protagonist Tyler die alleinige Schuld gegeben hat, kann nun nicht mehr als Schuldzuweisung, sondern als Ausdruck von Irritation verstanden werden.375
374 Es ist das einzige Mal vor der Auflösung, dass Marla und die Fokalisierungsinstanz über Tyler sprechen, da dieser der Fokalisierungsinstanz verbietet, dies zu tun: “‘Don’t ever talk to her about me. Don’t talk about me behind my back. Do you promise?’ Tyler says. I promise. Tyler says, ‘If you ever mention me to her, you’ll never see me again.’” (FC 72) Sonst wird das Thema Tyler konsequent ausgeklammert: “Marla and I walk on raked gravel paths through the kaleidoscope green patterns of the garden, drinking and smoking. We talk about her breasts. We talk about everything except Tyler Durden.” (FC 132) 375 Allerdings löst die Tatsache, dass Tyler und Marla nie gemeinsamen in einem Raum sind, auch für kurze Zeit einen Weltenkonflikt innerhalb der Fokalisiererwelt aus, der durch die Repetition für den Leser hervorgehoben wird: “I’m starting to wonder if Tyler and Marla are the same person. Except for their humping, every night in Marla’s room. […] Tyler and Marla are never in the same room. I never see them together. […] Except for their humping, Marla and Tyler are never in the same room.” (FC 65) Gleichzeitig relativiert die Erzählinstanz diese Beobachtung in selbstironischer Weise: “Still, you never see me and Zsa Zsa Gabor together, and this doesn’t mean we’re the same persons. Tyler just doesn’t come out when Marla’s around.” (FC 65) Darüber hinaus ist nicht deutlich für den Leser erkennbar, ob die Beobachtung des Protagonisten den Tatsachen entspricht oder ob er dabei übertreibt, wie die folgende Aussage nahelegt: “If Tyler’s around, Marla ignores him. This is familiar ground. This is exactly how my parents were invisible to each other.” (FC 66)
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Da aber nicht nur Marla, sondern auch andere Figuren den Protagonisten als Tyler kennen, finden sich auch hier zahlreiche implizite Konflikte zwischen der Fokalisiererwelt und anderen Figurenwelten, die dem Leser zunächst verborgen bleiben. Immer wieder versucht der Protagonist bei anderen Figuren Informationen über Tylers Pläne oder dessen Aufenthaltsort zu bekommen. Auch verhalten sich die Figuren oftmals befremdlich, wenn die Fokalisierungsinstanz diese auf Tyler anspricht. The guy’s eyed get big and he asks, do I really know Tyler Durden? This happens in most of the new fight clubs. Yes, I say, I’m best buddies with Tyler. Then, everybody all of a sudden wants to shake my hand. These new guys stare at the butthole of my cheek and the black skin of my face, yellow and green around the edges, and they call me sir. No, sir. Not hardly, sir. Nobody they know’s ever met Tyler Durden. Friends of friends met Tyler Durden, and they founded this chapter of fight club, sir. Then they wink at me. Nobody they know has ever seen Tyler Durden. Sir. (FC 135)
Im Kontext der ersten Lektüre wird der Leser annehmen, dass die anderen Figuren tatsächlich überrascht sind, dass der Erzähler behauptet, ein Freund Tyler Durdens zu sein, da niemand diesen zu kennen vorgibt. Die Tatsache, dass die anderen Figuren ihn mit „sir“ anreden, kann der Leser auf die Prominenz Tylers zurückführen – auch ein Freund Tylers genießt unter Anhängern des fight club und des Project Mayhem größten Respekt. Tatsächlich wissen die anderen Figuren, dass ihr Gesprächspartner Tyler Durden ist, und tun so, als würden sie ihn nicht kennen, um nicht die Regeln des fight club und des Project Mayhem zu brechen. Diese Deutung wird bei der zweiten Lektüre auch dadurch unterstrichen, dass die anderen Figuren dem Protagonisten fortwährend zuzwinkern, um ihm anzuzeigen, dass sie wissen, wer er sei, dass Spiel oder den Test aber gerne mitmachen. Eine solche Intention der anderen Figuren wird auch in einer anderen Passage explizit, als der Protagonist ein Mitglied von Project Mayhem über Tyler ausfragen möchte: I ask, what’s Tyler been planning? The mechanic opens the ashtray and pushes the cigarette lighter in. He says, “Is this a test? Are you testing us?” Where is Tyler? […] I ask, who made up the new rules? Is it Tyler? The mechanic smiles and says, “You know who makes up the rules.” (FC 140–142)
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Den Verweis auf die Regeln des fight club und Project Mayhem kann der Leser (wie die Fokalisierungsinstanz) als die bloße Wiederholung indoktrinierter Phrasen verstehen. Bei der zweiten Lektüre dagegen kann den Figuren eine andere Intention für ihre Antworten unterstellt werden, da diese auf die Fragen ihres Anführers antworten. Für das Mitglied von Project Mayhem scheinen die Fragen daher eher Tests bzgl. ihrer Loyalität zur Terrorgruppe zu sein (“Are you testing us?”, “You know who makes up the rules”). Dies ist abermals daran zu erkennen, dass die Figur lächelt, als sie die Antwort gibt.
3.4 Zur Revision des fiktionalen Universums und der Erklärungen für die Diskrepanzen zwischen den Welten Die zuvor skizzierten impliziten Weltkonflikte werden dem Rezipienten erst deutlich, nachdem durch den plot twist aufgelöst wurde, dass Tyler und der Protagonist dieselbe Person sind. Die Auflösung gestaltet sich jedoch als komplexer als die in „Owl Creek Bridge“, was auf zwei Faktoren zurückzuführen ist. Zum einen müssen Weltkonflikte auftreten, welche die Fokalisiererwelt in solcher Weise infrage stellen, dass sie eine Revision des Geschehens notwendig machen. In Bierces Kurzgeschichte wurde dies relativ problemlos dadurch erreicht, dass eine heterodiegetische Erzählinstanz – d. h. eine Instanz, der das höchste Maß an narrativer Autorität zugesprochen wird – die Sichtweise der Fokalisierungsinstanz konterkariert. In Fight Club dagegen wird das Geschehen von einem homodiegetischen Erzähler berichtet. Die Auflösung in Palahniuks Roman wird daher in drei Schritten durch explizite Konflikte mit unterschiedlichen Figurenwelten, denen jeweils ein höheres Maß an narrativer Autorität zugesprochen werden kann, vorbereitet. Zunächst kommt es in Kapitel 21 zu einem expliziten Weltkonflikt mit einem dem Protagonisten unbekannten Barkeeper, bei dem er sich über Tyler erkundigen möchte. Dieser antwortet zunächst mit der typischen Phrase „Is this a test?“, spricht den Protagonisten aber dann mit „Mr. Durden“ an und behauptet, der Protagonist sei bereits am vergangenen Donnerstag in der Bar gewesen (FC 158). Dies kann der Protagonist aufgrund seiner Schlaflosigkeit nicht ausschließen.376 Zusätzliches Gewicht bekommt die Figurenwelt des Barkeepers dadurch, dass er von jenem Muttermal an der Fußsohle des Protagonisten weiß, von dem
376 “Last Thursday night, I was awake all night with the insomnia, wondering was I awake, was I sleeping. I woke up late Friday morning, bone tired and feeling I hadn’t ever had my eyes closed.” (FC 158)
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eigentlich nur sein Vater und Marla wissen sollten.377 Um Sicherheit über seine Identität zu erlangen, ruft der Protagonist Marla an (FC 159–161). Diese bejaht, dass er Tyler sei, und zählt auf, was der Protagonist alles für sie gemacht habe (unter anderem habe er ihr Leben gerettet). Als dritte Stufe spricht der Protagonist schließlich mit Tyler, als er einschläft. Dieser bestätigt schließlich, dass der Protagonist schizophren sei und er, Tyler, eine Abspaltung seiner Persönlichkeit (vgl. FC 162–168). Zum anderen müssen im Gegensatz zu Bierces Kurzgeschichte weitreichende wie befriedigende Erklärungen bereitgestellt werden, die es ermöglichen, dass der Rezipient rückwirkend ein neues Situationsmodell rekonstruiert, in dem der Protagonist schizophren ist. Dies ist deshalb notwendig, da sich der Protagonist im Gegensatz zu Bierces Kurzgeschichte nicht in einem autonomen Fantasie universum befindet, sondern stattdessen während des gesamten Geschehens mit anderen Figuren in der TAW interagiert hat. Der Leser braucht also Antworten auf die Frage, wie dies möglich ist. Eine grundsätzliche Erklärung dafür liefert Tyler: “Every time you fall asleep,” Tyler says, “I run off and do something wild, something crazy, something completely out of my mind.” Tyler kneels down next to the bed and whispers, “Last Thursday, you fell asleep, and I took a plane to Seattle for a little fight club look-see. To check the turn-away numbers, that sort of thing. Look for new talent. We have Project Mayhem in Seattle, too.” (FC 163)
In diesem Kontext erinnert sich der Erzähler auch daran, dass er eingeschlafen ist, unmittelbar bevor er Tyler das erste Mal getroffen hat (FC 173). Tyler erklärt auch, warum der Protagonist sich immer müde fühlt: “And the jobs, well, why do you think you’re so tired. Geez, It’s not insomnia. As soon as you fall asleep, I take over and go to work or fight club or whatever. You’re lucky I didn’t get a job as a snake handler.” (FC 167)
Des Weiteren liefert Tyler Erklärungen, weshalb der Protagonist nie von anderen Figuren als Tyler angesprochen wurde. Zum einen ist es anderen Figuren verboten über den fight club, Project Mayhem und daher über Tyler zu sprechen. Zum anderen hat auch der Protagonist Tyler sein Versprechen gegeben (wie er ihn
377 “‘You have a birthmark, Mr. Durden,’ the bartender says. ‘On your foot. It’s shaped like a dark red Australia with New Zealand next to it.’ Only Marla knows this. Marla and my father. Not even Tyler knows this. When I go to the beach, I sit with that foot tucked under me.” (FC 159)
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im Moment der Auflösung erinnert), nie mit anderen Figuren über ihn, Tyler, zu sprechen.378 Aufgrund dieser Information kann der Leser rückwirkend auch Auffälligkeiten der sprachlichen Gestaltung und in der Handlung erkennen. Dass im Text wegen z. T. fehlender Anführungsstriche mitunter Gedanken und Figurenrede nicht trennbar sind, zeugt retrospektiv von der mangelhaften metarepräsentationalen Fähigkeit des Protagonisten, Quellen zuzuordnen – ein typisches kognitives Defizit schizophrener Menschen (vgl. Zunshine 2006: 55). Der Erzähler und die Fokalisierungsinstanz können nicht immer unterscheiden, ob die Stimmen aus ihrem Kopf oder von anderen Figuren stammen. Darüber hinaus kann die Anrede „you“ an einigen Stellen retrospektiv auch Tyler zugeordnet werden, dessen Stimme den Erzählerdiskurs immer wieder unterbricht, um dem Erzähler zu widersprechen: And Marla’s looking at me again, singled out among all the brain parasites. Liar. Faker. Marla’s the faker. You’re the faker. (FC 35)
Hier ist es nicht Marla, die zum Protagonisten spricht, sondern es ist Tylers Stimme in seinem Kopf. Weitere sprachliche Indikatoren für die Identität von Protagonist und Tyler sind die fast schon mantraartigen Phrasen: “Tyler’s words coming out of my mouth” (FC 98, 114, 155), “Tyler speaks for me” (FC 52) oder “I know this because Tyler knows this” (FC 12, 26, 112, 185).379 Während der Leser dies – wie bereits erläutert – vor der Auflösung darauf zurückführen kann, dass der Protagonist sich Tyler und seinen Regeln vollständig unterwirft,380 können die Phrasen im Kontext der Schizophrenie in einem anderen Licht betrachtet werden.
378 “‘I said that if you talked about me behind my back, you’d never see me again,’ Tyler said.” (FC 167) 379 Vgl. dazu genauer Allrath (2005: 198), Däwes (2008: 171) und Wald (2009: 229). 380 Einzelne Bemerkungen – wie die folgende – lassen immer wieder auf die völlige Selbstaufgabe des Protagonisten schließen, der sich komplett Tyler unterwirft: “Now, I’m going to walk away so don’t turn around. This is what Tyler wants me to do. These are Tyler’s words coming out of my mouth. I am Tyler’s mouth. I am Tyler’s hands. Everybody in Project Mayhem is part of Tyler Durden, and vice versa.” (FC 155)
3 Alterierte Unzuverlässigkeit in Chuck Palahniuks Fight Club
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Auch auf der Handlungsebene lassen sich zahlreiche Hinweise finden, welche die Schizophrenie des Protagonisten unterstreichen. Als beispielsweise Tyler und Marla das erste Mal miteinander schlafen, träumt der Protagonist davon, er (und nicht Tyler) hätte die Nacht mit ihr verbracht (FC 56, 59). Als er sie am nächsten Morgen trifft, stellt der Erzähler fest, dass „Marla looks at me as if I’m the one humping her“ (FC 68). Auch die Tatsache, dass der Erzähler Marla und Tyler nie zusammen in einem Raum sieht (vgl. FC 65–66), kann retrospektiv mit der Schizophrenie erklärt werden. Eine weitere Passage, die nach der Auflösung eine neue Bedeutung erhält, findet sich, als sich der Protagonist im Büro eines Hotel managers selbst blutig schlägt, um einen Angriff seines Gegenübers vorzutäuschen und so wöchentliche Zahlungen zu erpressen. Dabei erinnert er sich an seinen ersten Kampf mit Tyler (also einen Kampf, in dem er – wie der Leser retrospektiv erkennen muss – sich selbst verprügelt hat).381 Wurde bislang nur die Revision des zuvor rekonstruierten Situationsmodells betrachtet, müssen auch die Wirkungspotenziale des plot twist auf die weitere Rezeption berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ tritt der plot twist nicht am Ende, sondern nach ungefähr 4/5 des Romans (also nur während des Rückblicks des Erzählers) ein. Insofern führt der plot twist nicht nur zu einer Revision des zuvor konstruierten Situationsmodells wie bei Bierces Kurzgeschichte. Darüber hinaus müssen ebenfalls bereits aufgestellte Hypothesen über den weiteren Handlungsverlauf revidiert werden. Der Leser erfährt durch die Auflösung, dass der zentrale Handlungskonflikt nicht zwischen zwei unterschiedlichen Figuren stattfindet, sondern zwischen zwei Persönlichkeiten innerhalb eines Körpers (“Tyler Durden is a separate personality I’ve created, and now he’s threatening to take over my real life”, FC 173). In den Kapiteln nach dem plot twist wird der zentrale Handlungskonflikt präzisiert. Der Leser erfährt nun, dass Marla Zeuge wurde, wie Tyler einen Politiker umgebracht hat. Aus diesem Grund sieht der Protagonist Marlas Leben von Tyler bedroht (“[Y]ou saw Tyler Durden kill someone, and Tyler will kill anybody who threatens Project Mayhem”, FC 196). Die einzige Möglichkeit, die der Protagonist sieht, Tyler und Project Mayhem zu stoppen, besteht im Selbstmord. Dadurch muss der Handlungskonflikt zu Beginn des Romans revidiert werden. Wie der Erzähler zu Beginn formuliert, geht es nicht um Liebe. Tylers Intention ist es, Marla zu töten (“Tyler wants Marla”), der Erzähler möchte Tyler töten (“I want Tyler”), während
381 “And without flinching, still looking at the manager, I roundhouse the fist at the centrifugal force end of my arm and slam fresh blood out of the cracked scabs in my nose. […] For no reason at all, I remember the night Tyler and I had our first fight. I want you to hit me as hard as you can.” (FC 116; Hervorhebung im Original)
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VIII Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell alterierter Unzuverlässigkeit
Marla den Protagonisten tatsächlich liebt (“Marla wants me”). Wenn das Geschehen in Kapitel 29 wieder die Erzählgegenwart auf dem Parker-Morris-Building aus Kapitel 1 erreicht, stellen sich somit auch die Intentionen der Figuren und der zentrale Handlungskonflikt anders dar.
3.5 Zum Erkennen der impliziten Weltkonflikte im letzten Kapitel und der Unterminierung des happy ending Wie in „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ scheint Fight Club zunächst mit einem happy ending zu schließen, zumindest will der Erzähler dies den Adressaten glauben machen. Er selbst stoppt Tyler, indem er sich in den Kopf schießt. Der Erzähler wähnt sich nun im Himmel, aller seiner Sorgen entledigt. Während in Bierces Kurzgeschichte das happy ending durch den plot twist im letzten Satz untergraben wird, wird die Darstellung des Erzählers in Fight Club im letzten Kapitel durch ironisch-unzuverlässiges Erzählen in Frage gestellt und damit der scheinbar positive Ausgang der Handlung pervertiert. Zum einen gibt es verschiedene Hinweise, dass der Erzähler nicht tot ist. So erscheinen die Beschreibungen seiner Existenz im „Himmel“ fragwürdig. So bringen die „Engel“ Medikamente auf Tabletts382 und an der Wand hinter „Gottes“ Schreibtisch hängen Diplome.383 Auch die Tatsache, dass Marla ihm Briefe schreibt, kann ebenfalls als deutlicher Hinweis darauf betrachtet werden, dass das von der Erzählinstanz entworfene Bild der TAW falsch ist. Aufgrund seines Weltwissens kann der Leser annehmen, dass der Erzähler den Schuss überlebt hat und sich nun in einem Krankenhaus befindet (Wald 2009: 240). Offensichtlich gibt es also einen impliziten Konflikt zwischen der TAW und der Erzählerwelt. Auch die Annahme des Erzählers, er habe Tyler getötet, erscheint zweifelhaft. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass der Erzählerdiskurs wieder von Tyler unterbrochen wird und die Glaubwürdigkeit des Erzählers infrage stellt:
382 “The angels here are the Old Testament kind, legions and lieutenants, a heavenly host who works in shifts, days, swing. Graveyard. They bring you your meals on a tray with a paper cup of meds.” (FC 207) 383 “I’ve met God across his big walnut desk with his diplomas hanging on the wall behind him, and God asks me, ‘Why?’” (FC 207)
4 Fazit
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Of course, when I pulled the trigger, I died. Liar. And Tyler died. With the police helicopters thundering toward us, and Marla and all the support group people who couldn’t save themselves, with all of them trying to save me, I had to pull the trigger. This was better than real life. And your one perfect moment won’t last forever. Everything in heaven is white on white. Faker. (FC 206)
Auch das Project Mayhem ist offensichtlich nicht gestoppt. Immer wieder wird der Erzähler von Mitarbeitern des Krankenhauses als Mr. Durden angesprochen. [E]very once in while, somebody brings me my lunch tray and my meds and he has a black eye or his forehead is swollen with stitches, and he says: “We miss you Mr. Durden” Or somebody with a broken nose pushes a mop past me and whispers: “Everything’s going according to the plan.” Whispers: “We’re going to break up civilization so we can make something better out of the world.” Whispers: “We look forward to getting you back.” (FC 208)
Dies bestätigt nicht nur das Weiterbestehen der Terrororganisation, sondern zeigt auch, dass diese mittlerweile selbst aus Institutionen wie Krankenhäusern Mitglieder rekrutieren konnte. Die Düsterkeit des Endes ist damit primär das Produkt des ironisch-unzuverlässigen Erzählens. Dem Erzähler ist sich nicht bewusst, dass er noch lebt, dass Tyler somit weiter existiert und dass das Project Mayhem immer mehr wächst. Tyler zieht offensichtlich weiterhin hinter dem Rücken des Erzählers die Fäden. Nicht der Erzähler geht als Sieger hervor, sondern Tyler.
4 Fazit Dass der Rezipient bei alteriert-unzuverlässigen Werken zunächst ein fehlerhaftes mentales Modell des fiktionalen Universums entwirft, kann – wie gezeigt wurde – auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Erstens ist möglich, dass sich der Leser über die Art der Erzählinstanz oder die Identität der Erzählerfigur täuscht. In einem solchen Fall muss der Leser retrospektiv nicht nur ein intratextuelles Kontextmodell entwerfen bzw. dieses revidieren, sondern auch das Situationsmodell revidieren. Zweitens kann die falsche Konstruktion eines fiktionalen Universums darauf zurückgeführt werden, dass der Leser den Schil-
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VIII Rezeptionstheoretisches Erklärungsmodell alterierter Unzuverlässigkeit
derungen einer Erzählerfigur oder der Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz vertraut, weil er implizite Weltkonflikte aufgrund einer manipulativen Informationsvergabe nicht erkennt. Ein dritter möglicher Grund ist, dass der Leser explizite Weltkonflikte fehlerhaft hierarchisiert. Viertens ist vorstellbar, dass der Leser Weltkonflikte erkennt und adäquat hierarchisiert, aber für die Diskrepanz zwischen den Welten falsche Erklärungsannahmen bildet. Als Beispiele für alteriert-unzuverlässige Werke wurden Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ und Chuck Palahniuks Fight Club analysiert, wobei die Dynamik der Informationsvergabe respektive -verarbeitung besonders berücksichtigt wurde. Bei der Untersuchung von Bierces Kurzgeschichte wurde die These aufgestellt, dass die meisten Leser aus verschiedenen Gründen von der Auflösung überrascht sind, obwohl sowohl implizite als auch explizite Weltkonflikte dem Leser indizieren, dass der Protagonist seine Flucht nur erträumt. Es wurde gezeigt, dass die Kurzgeschichte durch die Informationsvergabe Spannung generiert und eine empathische Bindung zum Protagonisten fördert. Aufgrund seiner emotionalen Involviertheit möchte der Leser, dass der Protagonist überlebt und seinen Peinigern entkommt. Dies mag Einfluss darauf haben, dass der Leser geneigt ist, ein mentales Modell vom Geschehen mit einem happy ending zu entwerfen und entgegenstehende Hinweise nicht adäquat zu berücksichtigen. In diesem Kontext wurde weiter argumentiert, dass der Leser implizite Weltkonflikte bei der ersten Lektüre nicht zwingend erkennen muss. Dies ist damit zu begründen, dass der Leser falsche Annahmen über die storyworld logic der TAW aufstellt. Auch die expliziten Weltkonflikte während der „Flucht“ muss der Rezipient nicht zwangsläufig auf Farquhars Illusion zurückführen. Statt anzunehmen, dass Farquhar seine Flucht nur träumt, weil er beispielsweise eine ihm bekannte Umgebung nicht wiedererkennt, kann der Leser dies (fälschlicherweise) auch auf die Erschöpfung des Protagonisten zurückführen. In einem letzten Schritt wurde gezeigt, dass die Auflösung nicht nur eine Revision des Situationsmodells zur Folge hat, sondern auch dazu führt, das mentale Modell des Protagonisten zu prüfen und dessen Verhalten deutlich kritischer zu bewerten. Die alterierte Unzuverlässigkeit in Fight Club unterscheidet sich in mehreren Punkten von „An Occurrence at Owl Creek Bridge“. Im Gegensatz zu Bierce Kurzgeschichte täuscht sich der Rezipient nicht über den Ausgang eines Handlungskonflikts (ob der Protagonist überleben wird oder nicht), sondern er konstruiert zu Beginn des Romans aufgrund der manipulativen Informationsvergabe falsche Handlungskonflikte (die sowohl Spannungs- als auch Neugierfragen betreffen). So geht der Leser davon aus, dass Tyler den Erzähler bedroht, weshalb er beide als physisch separate Entitäten im fiktionalen Universum begreift (obwohl Tyler in Wahrheit nur im Kopf des Erzählers bzw. der Fokalisierungsinstanz existiert). Die (falschen) Annahmen über den Handlungskonflikt beeinflussen auch maßgeblich
4 Intrauniverse Relationen als Grundlage für ein Erklärungsmodell
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die Bildung des Situationsmodells, wie gezeigt wurde. Der Großteil des Romans besteht aus einer Analepse, mittels welcher der Erzähler retrospektiv schildert, wie es zum Bruch mit seinem Freund Tyler kam. Die falschen Annahmen über den Erzähler und Tyler führen dazu, dass der Leser implizite Weltkonflikte mit anderen Figuren nicht erkennt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Leser aufgrund von fehlerhaftem mind-reading das Verhalten anderer Figuren fehlinterpretiert. Des Weiteren wurde der plot twist analysiert und gezeigt, wie durch drei explizite Weltkonflikte die Glaubwürdigkeit der Fokalisierungsinstanz in Frage gestellt wird und wie der Roman Erklärungen dafür bereithält, dass der Protagonist (wie der Leser) nicht erkennen konnte, dass Tyler nur ein Hirngespinst ist. In einem letzten Schritt wurde untersucht, wie das vermeintliche happy ending des Romans durch ironisch-unzuverlässiges Erzählen untergraben wird.
IX Metakognitive Funktionspotenziale narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel von Ian McEwans Atonement (2001) 1 Metakognitives Funktionspotenzial ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit Während Typologien, Beschreibungs- und Erklärungsmodelle florieren, stellen Funktionspotenziale narrativer Unzuverlässigkeit ein weitgehend unbeachtetes Forschungsfeld in der Erzählforschung dar.384 Ausgehend von der Prämisse, dass „eine literarische Form“ mehr als eine einzige Funktion erfüllen könne, verweist Bläß (2005) in der wohl bislang differenziertesten Auseinandersetzung mit dem Thema auf eine Reihe unterschiedlicher Funktionspotenziale wie etwa die Sympathielenkung, das Hinterfragen von moralisch-ethischen Werten (in satirischen Werken) oder die Thematisierung von epistemologischem Skeptizismus. Auch wenn Bläß grundsätzlich zuzustimmen ist, dass narrative Unzuverlässigkeit nicht auf eine einzige Funktion reduzieren werden darf, soll im Folgenden auf ein spezifisches Funktionspotenzial hingewiesen werden, welches allen Spielarten der narrativen Unzuverlässigkeit inhärent zu sein scheint – nämlich ein metakognitives Potenzial. Das kognitionspsychologische Konzept der Metakognition bezeichnet cognition about cognition; that is, it refers to second order cognitions: thoughts about thoughts, knowledge about knowledge or reflections about actions. Gradually, the definition of metacognition has been broadened and includes, not only “thoughts about thoughts” and cognitive states as it was before considered, but also affective states, motives, intentions and the ability to consciously and deliberately monitor and regulate one’s knowledge, processes, cognitive and affective states, motives and intentions. (Papaleontiou-Louca 2008: xiii)
Nach Schraw/Moshman (1995: 352) lassen sich zwei Formen von Metakognition unterscheiden. Zum einen metakognitives Wissen (d. h. das Wissen des Einzelnen über kognitive Fähigkeiten oder über Kognition im Allgemeinen)385 und zum
384 Die einzigen Studien, die sich ausschließlich mit den Funktionspotenzialen von narrativer Unzuverlässigkeit auseinandersetzen, stammen von Bläß (2005) sowie Hillebrandt (2011), wobei Letzterer sich auf affektive Funktionen beschränkt und dabei lediglich „an outline for further research“ skizziert. 385 “Knowledge of cognition refers to what individuals know about their own cognition or about cognition in general.” (Schraw/Moshman 1995: 352) https://doi.org/10.1515/9783110557619-010
1 Metakognitives Funktionspotenzial
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anderen metakognitive Regulationsmechanismen (etwa die Fähigkeit, eigene kognitive Prozesse zu reflektieren oder zuüberwachen). Dabei sind diese beiden Formen jedoch nicht trennscharf zu unterscheiden und bedingen sich. So kann etwa Wissen über Kognition herangezogen werden, um eigene kognitive Prozesse zu überwachen. Umgekehrt können auch metakognitive Regulationsmechanismen – wie etwa das Überprüfen oder Reflektieren der eigenen kognitiven Prozesse – das Wissen über Kognition erweitern (vgl. Schraw/Moshman 1995). Wie kann nun aber narrative Unzuverlässigkeit dazu beitragen, metakognitives Wissen zu bereichern? Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der cognitive turn innerhalb der Literaturwissenschaft bzw. genauer gesagt in der Narratologie, welcher zu einem Paradigmenwechsel bzgl. des Verständnisses von Erzählungen bzw. Narrativen führte. Betrachteten Literaturwissenschaftler Narrative lange Zeit ausschließlich als „something in the text“ (Herman 2009: 8), eröffnen kognitionspsychologische Forschungen ab den 1990ern neue Perspektiven und verweisen auf die kognitive Bedeutung von Narrativen für den Menschen. Danach fungieren Narrative „as an instrument of the mind in the construction of reality“ (Bruner 1991b: 6) oder als „tool for thinking“ (Herman 2003). Für den Kognitionspsychologen Bruner (1991b: 4) sind Narrative ein wesentliches Werkzeug des Menschen, um Sinn zu generieren: “… we organize our experience and our memory of human happenings mainly in the form of narrative – stories, excuses, myths, reasons for doing and not doing, and so on.”386 Menschen strukturieren ihre Erfahrungen demnach in Form von Narrativen, d. h., sie kreieren spezifische Ereignisse auf Grundlage von Selektions-, Abstraktions- und Priorisierungsprozessen (z. B. weisen sie bestimmten Ereignissen eine besondere Signifikanz zu und klassifizieren sie als turning points), konfigurieren und organisieren diese in einer spezifischen Ordnung und Form und schaffen damit eine Wirklichkeit (vgl. dazu genauer A. Nünning 2010; V. Nünning 2010). Besondere Bedeutung kommt bei der Konstruktion von Narrativen dem mind-reading zu. Um zu verstehen, was um uns herum passiert, müssen wir den Handlungen anderer Menschen spezifische Intentionen und Handlungsrollen zuschreiben: “Narrative accounts must have at least two characteristics. They should center upon people and their intentional states: their desires, beliefs, and so on; and they should focus on how these intentional states led to certain kinds of activities.” (Bruner 1991a: 70) Obwohl Narrative folglich im Leben von Menschen omnipräsent sind – „[n]arratives in one form or another permeate virtually all aspects of our society and social experience“ (Bortolussi/Dixon 2003: 1) –, ist uns deren zentrale Bedeutung für das eigene Denken trotz oder gerade wegen der Allgegenwärtigkeit häufig
386 Gegen eine solche Sichtweise wendet sich Strawson (2004).
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IX Narrative Unzuverlässigkeit in Ian McEwans Atonement
nicht bewusst: “Narrative is so ubiquitous, and we acquire mastery of it so early in our development, that we often do not recognise the crucial ways in which it shapes our construction of reality.” (V. Nünning 2010: 225) Wenn Narrative ein Werkzeug des Menschen bei der Konstruktion von Identität und Realität sind (vgl. Bruner 1991a, 1991b), dann kann gefolgert werden, dass (fiktionale) Literatur mit kognitiven Zentren (d. h. mit homodiegetischen Erzählern oder Fokalisierungsinstanzen) diese Prozesse in besonderem Maße reflektiert. Palmer (2004: 177) bringt dies treffend auf den Punkt: “Narrative is in essence the presentation of fictional mental functioning.” Daher kann mit Bortolussi/Dixon (2003: 1) gefolgert werden: “[U]nderstanding the dynamics of narrative can be instrumental in gaining knowledge about how the mind works.” Wird diese Prämisse zugrunde gelegt, kann weiter angenommen werden, dass bei unzuverlässig erzählten Texten diese Prozesse der Sinnerzeugung in einem besonderen Maße hervorgehoben werden, weil entweder ein kognitives Zentrum innerhalb des fiktionalen Universums oder der Rezipient aufgrund falscher Annahmen ein falsches Bild des Geschehens entwirft. Insofern kann von einem metakognitiven Funktionspotenzial unzuverlässig erzählter Texte gesprochen werden. Von dieser Prämisse ausgehend soll im Folgenden gezeigt werden, dass ein zentrales Funktionspotenzial unzuverlässig erzählter Texte darin besteht, auf verschiedene Weise kognitive Prozesse hervorzuheben, mittels derer der Mensch (fiktionale) Realität konstruiert. Insofern kann unzuverlässig erzählten Texten ein erhebliches metakognitives Leistungsvermögen zugesprochen werden. Gerade durch die in dieser Arbeit vorgenommene Unterscheidung zwischen ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit lässt sich differenzieren, auf welche unterschiedlichen Arten metakognitives Wissen vermittelt wird. Zentrale These ist, dass bei der Lektüre narrativer Unzuverlässigkeit primär metakognitive Regulationsmechanismen stimuliert werden, die dazu führen, dass der Leser sein Wissen über Kognition erweitert. Wie bereits mehrfach ausgeführt, erkennt der Rezipient bei ironisch-unzuverlässigem Erzählen und ironisch-unzuverlässiger Fokalisierung eine Diskrepanz zwischen dem Geschehen in der TAW und der Darstellung des kognitiven Zentrums aufgrund verschiedener Weltkonflikte. Der Rezipient muss die Diskrepanz mit einem Rückgriff auf die Psyche des kognitiven Zentrums erklären. Aus diesem Grund zentriert sich bei ironisch-unzuverlässigem Erzählen und ironisch-unzuverlässiger Fokalisierung die Aufmerksamkeit des Lesers vom eigentlichen Geschehen auf die psychisch-mentalen Prozesse des kognitiven Zentrums. So spricht etwa Wall (1994: 21) davon, dass „the purpose of unreliable narration […] is to foreground certain elements of the narrator’s psychology“. Eine ähnliche Wirkung schreiben auch Nünning/Nünning (2007: 69) ironisch-unzuverlässigen Texten zu:
1 Metakognitives Funktionspotenzial
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Aufgrund des Strukturmusters der dramatischen Ironie besteht das allgemeine Resultat der als unreliable narration und unreliable focalization bezeichneten Phänomene […] darin, die Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Ebene des Geschehens auf den Sprecher bzw. die Reflektorfigur zu verlagern und dessen (bzw. deren) Idiosynkrasien hervorzuheben.
Folgt man diesen Stimmen, lässt sich konstatieren, dass der Fokus bei der Rezeption ironisch-unzuverlässiger Texte auf dem Nachvollziehen bzw. der Überwachung der kognitiven Prozesse einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz liegt. Gerade die Diskrepanz zwischen der Erzähler-/Fokalisiererwelt und anderen Welten führt dazu, die Aufmerksamkeit auf kognitive Prozesse der Sinnerzeugung wie etwa mind-reading, Kategorisierungen oder source-monitoring des kognitiven Zentrums zu lenken. Notwendig hierfür sind metakognitive Regulationsmechanismen. Etwas anders gestaltet sich dies bei ambiger Unzuverlässigkeit. Hier zweifelt der Leser an den Darstellungen der Erzählerfigur oder der Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz, kann aber nicht entscheiden, ob das von ihnen entworfene Bild der TAW adäquat ist oder nicht. Probleme des Rezipienten bei der Sinnerzeugung führen nach Schnotz (2001: 160–161) dazu, dass auch eigene kognitive Prozesse reflektiert werden: „Nur wenn Verstehensprobleme auftauchen, die mit automatisierten Prozessen nicht bewältigt werden können, werden sie zum Gegenstand bewusster Reflexion und Kontrolle […]. “ Insofern lässt sich folgern, dass der Leser bei ambiger Unzuverlässigkeit nicht nur die kognitiven Prozesse einer Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz überwacht, sondern gleichwohl auch die eigenen Mechanismen der (fiktionalen) Wirklichkeitskonstruktion. Bei alteriert-unzuverlässigem Erzählen dagegen wird der Leser im besonderen Maße stimuliert, die eigenen kognitiven Prozesse der Sinnerzeugung zu reflektieren. Hier rekonstruiert der Leser zunächst ein Situationsmodell und/ oder intratextuelles Kontextmodell, welches sich durch einen überraschenden plot twist als falsch herausstellt. Gerade dieser Effekt der Überraschung bei alteriert-unzuverlässigen Werken übt einen Reiz aus, den Text ein weiteres Mal zu lesen, um nachzuvollziehen, warum ein falsches Bild vom Geschehen konstruiert wurde:387
387 „Auch die Frage, welche Erkenntnisse er [der Leser] aus der Einsicht gewinnt, dass er sein Situationsmodell ‘umbauen’ muss, weil sich eintreffende Informationen nicht mehr in bisher aktivierte Muster einpassen lassen, ist von Bedeutung für die Rezeptionsqualität.“ (Schneider 2013a: 44)
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IX Narrative Unzuverlässigkeit in Ian McEwans Atonement
As a matter of illuminating insight, the surprise effect plays on semantic possibilities as well as on notions on probability and plausibility. By making readers retrospectively review and revise their expectations, it includes a metalevel perspective that invites readers to consider how the effect was achieved. (Pyrhönen 2005: 579)
Im Falle alteriert-unzuverlässigen Erzählens wird der Leser demzufolge angehalten, bei einer erneuten Lektüre die eigenen kognitiven Prozesse und Interpretationen zu überwachen und zu reflektieren, wieso er sich in die Irre hat führen lassen. Die folgende Grafik fasst die metakognitiven Funktionspotenziale unzuverlässig erzählter Texte noch einmal zusammen. Während bei ironischer Unzuverlässigkeit primär die kognitiven Prozesse einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz überwacht und reflektiert werden, steht bei alterierter Unzuverlässigkeit die Überprüfung der eigenen Sinngenerierungsprozesse im Mittelpunkt. Bei ambiger Unzuverlässigkeit dagegen überprüft der Leser sowohl die eigenen kognitiven Prozesse als auch die der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz.
Abb. 11: Metakognitive Funktionspotenziale narrativer Unzuverlässigkeit
Aus diesem Grund lässt sich auch legitimieren, wieso der Fokus der Analysen von den ironisch-unzuverlässigen Werken David Copperfield und The Remains of the Day primär auf den Erzählerfiguren und Fokalisierungsinstanzen liegt, bei den Analysen von den ambig-unzuverlässigen Werken The Good Soldier und American Psycho auf Erzählerfiguren und Fokalisierungsinstanzen, aber verstärkt auch auf dem Leser. Bei den Untersuchungen der alteriert-unzuverlässigen Werke steht hingegen in erster Linie der Leser im Mittelpunkt. Um das metakognitive Potenzial narrativer Unzuverlässigkeit detaillierter zu illustrieren, soll zum Abschluss der Arbeit Ian McEwans für den Man Booker Prize nominierter Roman Atonement (2001) untersucht werden. Der Roman bietet sich vor allem deshalb für die Analyse an, weil er sowohl ironische als auch alterierte Unzuverlässigkeit beinhaltet und den Leser dazu einlädt, sowohl die kognitiven Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion der Figuren als auch die eigenen zu reflektieren und einander gegenüberzustellen.
2 Zum metakognitiven Funktionspotenzial narrativerUnzuverlässigkeit
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2 Zum metakognitiven Funktionspotenzial narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel von Ian McEwans Atonement (2001) Ian McEwans Atonement (A) ist in vier Teile gegliedert. Der erste und umfangreichste Teil spielt an einem heißen Sommertag des Jahres 1935 auf dem Anwesen der Familie Tallis. Briony, ein dreizehnjähriges Mädchen mit schriftstellerischen Ambitionen, wartet sehnsüchtig auf die Ankunft ihres Bruders Leon, den sie mit dem von ihr verfassten Theaterstück The Trials of Arabella überraschen möchte. Die Proben mit ihren Cousins Pierrot und Jackson und ihrer Cousine Lola enden jedoch im Chaos, so dass sich die frustrierte Briony in ihr Zimmer zurückzieht. Zur gleichen Zeit diskutieren Brionys Schwester Cecilia und der Sohn einer Haushaltshilfe, Robbie Turner, am Brunnen vor dem Anwesen. Dabei kommt es zu einem Missgeschick und eine teure Vase, die Cecilia hält, zerbricht und fällt in den Brunnen. Cecilia zieht sich bis auf die Unterwäsche aus und taucht nach den Scherben im Brunnen, bevor sie wutentbrannt Richtung Haus verschwindet. Das Geschehen wird von Briony vom Fenster aus verfolgt. Später am Tag möchte sich Robbie in einem Brief bei Cecilia entschuldigen und ihr gleichzeitig seine Liebe gestehen. Schließlich bittet er Briony, den Brief ihrer Schwester zu übergeben. Unglücklicherweise muss er feststellen, dass er unbeabsichtigt eine obszöne Version in den Umschlag gesteckt hatte. Trotz oder gerade wegen des freizügigen Inhalts wird sich Cecilia ihrer Liebe zu ihm bewusst. Als sie sich vor dem Dinner wiedersehen, gestehen sie sich ihre Gefühle und lieben sich in der Bibliothek. Dabei werden sie allerdings von Briony überrascht, die zuvor heimlich Robbies Brief gelesen hat und nun annimmt, Robbie versuche, ihre Schwester zu vergewaltigen. Als während des Dinners das Fehlen von Pierrot und Jackson bemerkt wird, machen sich alle auf die Suche nach den beiden Jungen. Dabei wird Briony Zeuge, wie ihre Cousine Lola von einem Mann vergewaltigt wird. Trotz der Dunkelheit ist Briony überzeugt, dass Robbie der Täter ist. Ihre Aussage bringt Robbie ins Gefängnis. Teil zwei und drei sind fünf Jahre nach dem Geschehen in der besagten Sommernacht angesiedelt und beschreiben Robbie Turners und Brionys Leben. Teil zwei schildert Robbies letzten Tage in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges. Robbie wurde wegen Vergewaltigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, ist jedoch zur Haftverschonung in die englische Armee eingetreten. Robbie und Cecilia haben sich verlobt, obwohl ihre Beziehung bis auf ein kurzes Treffen nur aus Briefen besteht. In Frankreich versucht Robbie mit zwei Kameraden den Strand von Dünkirchen zu erreichen, von dem aus englische Soldaten zurück in die Heimat gebracht werden. Teil drei endet mit Robbies Ankunft in der französischen Küstenstadt. Teil drei stellt Brionys Leben dar. Um für ihren Fehler Sühne
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zu leisten und vergessen zu können, entschließt sich Briony für eine Ausbildung als Krankenschwester. Gleichzeitig verfolgt sie weiterhin ihre schriftstellerischen Ambitionen und schickt ein Romanmanuskript mit dem Titel Two Figures by a Fountain an das Literaturmagazin Horizon, von dem sie jedoch eine Absage bekommt. Um ihr Gewissen zu beruhigen und ihre Schuld zu begleichen, entschließt sich Briony bei ihrer Schwester und Robbie Abbitte zu leisten. Auf dem Weg zu ihrer Schwester besucht sie die Hochzeit ihrer Cousine Lola. Dabei wird ihr die wahre Identität des Vergewaltigers klar. Es ist Lolas Bräutigam, der reiche Schokoladenfabrikant Paul Marshall. Nach der Trauung sucht Briony ihre Schwester und Robbie in deren Wohnung auf und bietet an, eine eidesstattliche Versicherung abzugeben, dass Robbie nicht der Vergewaltiger war, und den wahren Täter anzuzeigen. Teil vier – der mit London, 1999 überschrieben ist – stellt einen Tagebucheintrag der mittlerweile 77-jährigen Briony Tallis dar. Die vorangegangenen Teile – so erfährt der Leser nun – bilden den letzten, autobiographisch geprägten, unveröffentlichten Roman Atonement der renommierten Autorin. Des Weiteren offenbart die homodiegetische Erzählerin, dass sie nie Abbitte bei ihrer Schwester und Robbie leisten konnte, da beide im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen und nie zusammenfanden. Wie bereits in dieser Zusammenfassung deutlich wird, treten verschiedene Arten der narrativen Unzuverlässigkeit in McEwans Roman auf. Im ersten Teil des Romans findet sich ironische Unzuverlässigkeit. Briony kann das Geschehen nicht richtig erfassen und zerstört aus diesem Grund das Leben von Robbie und Cecilia. In den Teilen zwei und drei findet sich dagegen alterierte Unzuverlässigkeit. Aufgrund der irreführenden Informationsvergabe wird der Leser sowohl über die Art und die Identität der Erzählinstanz als auch über den ontologischen Status der Erzählung getäuscht – er weiß zunächst nicht, dass es sich bei den ersten drei Teilen um einen Roman im Roman, also eine intradiegetische Erzählung handelt. Des Weiteren irrt der Leser über das tatsächliche Geschehen in der TAW, da er fälschlicherweise annimmt, Robbie überlebe den Krieg und kehre zu Cecilia zurück.
2.1 Zum metakognitiven Funktionspotenzial ironischer Unzuverlässigkeit Teil eins des Romans unterscheidet sich von den anderen Teilen, da er im Gegensatz zu den weiteren Kapiteln des Romans multiperspektivisch fokalisiert ist, wobei die drei Protagonisten Briony, Robbie und Cecilia als zentrale Perspektivträger fungieren. In den insgesamt vierzehn Unterkapiteln wechseln die Fokalisierungsinstanzen, stellenweise wird ein Ereignis – wie das Geschehen am Brunnen oder in der Bibliothek – aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Durch
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die daraus entstehenden expliziten Konflikte zwischen den verschiedenen Fokalisiererwelten wird die Aufmerksamkeit auf die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmungsprozesse der Figuren gelenkt (vgl. Menhard 2009: 268). Dabei werden, wie gezeigt werden wird, einerseits die Fehlbarkeiten von Mind-reading-Prozessen anhand von Robbie und Cecilia und andererseits von Sinnstiftungsprozessen durch Narrativisierung am Beispiel von Briony hervorgehoben. Wiederholt wird vorgeführt, wie die verschiedenen Fokalisierungsinstanzen das Verhalten der anderen Figuren falsch interpretieren und wie sie ihnen falsche mentale Zustände zuschreiben (vgl. Finney 2004: 79–80). Im besonderen Maße treten die Mind-reading-Prozesse bei Cecilia und Robbie zu Tage. So entsteht der Streit am Brunnen zwischen den beiden, weil sie das Verhalten des anderen falsch deuten. Als Robbie und Cecilia das Haus durchqueren, zieht er seine Schuhe und Socken auf dem frisch gewischten Boden aus. In Cecilias Augen steckt hinter Robbies Verhalten der Versuch, sie vorzuführen: Robbie has made a great show of removing his boots which weren’t dirty at all, and then, as an afterthought, took his socks off as well, and tiptoed with comic exaggeration across the wet floor. Everything he did was designed to distance her. He was play-acting the cleaning lady’s son come to the big house on an errand. (A 27)
Für Cecilia ist Robbies Verhalten ein Anzeichen dafür, dass er sich ihr intellektuell überlegen fühlt und sie auf Abstand halten will. Im Gegensatz zu Cecilias Interpretation stellt sich Robbies tatsächliche Innenwelt jedoch ganz anders dar. So erfahren wir, als das Geschehen aus Robbies Sicht intern fokalisiert ist, dass er die Schuhe und Socken aus Scham und Unsicherheit und nicht etwa aus Überheblichkeit auszieht: Kneeling to remove his work shoes by the front door, he had become aware of the state of his socks – holed at toe and heel and, for all he knew, odorous – and on impulse had removed them. What an idiot he had then felt, padding behind her across the hall and entering the library barefoot. (A 84)388
Auch der aus Handlungssicht zentrale Streit der beiden am Brunnen ist das Resultat von falschen Mind-reading-Prozessen. Nachdem die Vase zerbrochen und in den Brunnen gefallen ist, möchte Robbie die Schuld für das Missgeschick auf sich nehmen und in den Brunnen steigen, um die Teile der Vase herauszufischen.
388 Robbies Unsicherheit resultiert aus seiner Annahme, Cecilia betrachte ihn aufgrund seiner sozialen Herkunft als minderwertig (A 79).
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Seine Gesten werden jedoch von Cecilia missverstanden, die glaubt, dass Robbie sie erneut vorführen möchte: He looked into the water, then he looked back at her, and simply shook his head as he raised a hand to cover his mouth. By this gesture he assumed full responsibility, but at that moment, she hated him for the inadequacy of the response. He glanced towards the basin and sighed. For a moment he thought she was about to step backwards onto the vase, and he raised his hand and pointed, though he said nothing. Instead he began to unbutton his shirt. Immediately she knew what he was about. Intolerable. He had come to the house and removed his shoes and socks – well, she would show him then. (A 30)
Aufgrund ihrer falschen Hypothesen hinsichtlich Robbies Intentionen kommt Cecilia ihm zuvor und taucht in den Brunnen. Robbie wiederum interpretiert dies als Zeichen dafür, dass sie ihn bestrafen möchte (vgl. A 30). Die Gegenüberstellung von Cecilias und Robbies Fokalisiererwelten führt dem Rezipienten aber nicht nur Fehlbarkeiten von Mind-reading-Prozessen vor Augen, sondern eröffnet ihm gleichzeitig Einblicke in deren Gefühlswelten (vgl. Vermeule 2004: 150). So sticht bei der Lektüre hervor, dass Robbie und Cecilia in Gegenwart voneinander unentwegt die mentalen Zustände ihres Gegenübers zu deuten versuchen (A 25–31). Diese Unsicherheit, wie die Wirkung der eigenen Worte und Handlungen auf den anderen ist, kann als Zeichen ihrer Liebe ausgelegt werden (vgl. Vermeule 2004: 150). Ironischerweise sind sich Robbie und Cecilia zu diesem frühen Zeitpunkt des Romans ihrer eigenen Gefühle noch nicht bewusst. Robbie begreift erst seine Gefühle, als er diese in dem Brief zu Papier bringen will. Der Brief öffnet auch Cecilias Augen: Initially, a simple phrase chased round and round in Cecilia’s thoughts: Of course, of course. How had she not seen it? Everything was explained. The whole day, the weeks before, her childhood. A lifetime. It was clear to her now. Why else take so long to choose a dress, or fight over a vase, or find everything so different, or be unable to leave? What had made her so blind, so obtuse? (A 111; eigene Hervorhebung)
Bedeutsam an dieser Szene ist, dass Cecilia endlich eine Kausalgeschichte bzw. narrativen Kontext generieren kann, in dem ihr eigenes Verhalten Sinn ergibt. Dadurch vermag sie ihre Unsicherheit in Gegenwart des anderen abzulegen. Ab dem Moment, in dem sich beide ihre Liebe offen gestehen, können sie das Verhalten des andern verstehen – wie durch die Gegenüberstellung von Robbies und Cecilias Fokalisiererwelten bei ihrem Liebesspiel in der Bibliothek unterstrichen wird. Während bei der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierung von Cecilia und Robbie primär die falsche situative Zuschreibung mentaler Zustände hervorgehoben wird, werden bei der Fokalisierungsinstanz Briony Sinnstiftungsprozesse
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durch Narrativisierung in den Vordergrund gestellt. Obwohl sie nicht die einzige Figur in McEwans Roman ist, die ihre Wirklichkeit als Narrativ konstruiert (vgl. Finney 2004: 78), wird diese Art der kognitiven Sinnstiftung am stärksten durch die fokalisierende Briony hervorgehoben. Briony ist es, die ein falsches Narrativ vom tatsächlichen Geschehen konstruiert, die Liebesgeschichte zwischen Cecilia und Robbie missversteht und den unschuldigen Liebhaber ihrer Schwester eines Verbrechens beschuldigt. In der Konsequenz bringt sie ihn unschuldig ins Gefängnis. Zu Beginn des Romans erhält der Leser einen narrativen Kontext, in dem Brionys Verhalten oder besser ihre Wahrnehmung verständlich wird. Briony, so wird bereits auf den ersten Seiten des Romans dargelegt, ist ein junges Mädchen mit einem ausgeprägten „orderly spirit“ (A 5) und einer Sehnsucht „for a harmonious, organised world“ (A 5). Die Ordnungsliebe kommt auch in ihrer großen Leidenschaft zum Ausdruck – dem Erfinden von Geschichten. Ihre Geschichten ermöglichen ihr, das in Unordnung geratene Leben einer Figur wieder geradezurücken: Her passion for tidiness was also satisfied, for an unruly world could be just so. A crisis in a heroine’s life could be made just so. A crisis in a heroine’s life could be made to coincide with hailstones, gales and thunder, whereas nuptials were generally blessed with good light and soft breezes. A love of order also shaped the principle of justice, with death and marriage the main engines of housekeeping, the former being set aside exclusively for the morally dubious, the latter a reward withheld until the final page. (A 7)
Zu Beginn des Romans erhält der Leser somit einen narrativen Kontext, der Brionys Verhalten oder besser ihre Wahrnehmung verständlich macht. Zum einen scheitern die Proben für ihr geschriebenes Theaterstück The Trials of Arabella, welches sie zu Ehren des Besuchs ihres Bruders mit ihren Cousins und ihrer Cousine aufführen möchte. Aus Frust entschließt sie sich, dem Drama abzuschwören und von nun an nur noch Prosa zu schreiben (A 35). Zum anderen befindet sich das 13-jährige Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein, was zu einer verstärkten Reflexion über die eigene Identität und die ihrer Mitmenschen führt. Dabei reflektiert das junge Mädchen ganz bewusst ihre theory of mind (vgl. Palmer 2011: 291): [W]as everybody else really as alive as she was? For example, did her sister really matter to herself, was she as valuable to herself as Briony was? Was being Cecilia just as vivid an affair as being Briony? Did her sister also have a real self concealed behind a breaking wave, and did she spend time thinking about it, with a finger held up to her face. Did everybody, including her father, Betty, Hardman? If the answer was yes, then the world, the social world, was unbearably complicated, with two million voices, and everyone’s thoughts striving in equal importance and everyone’s claim on life as intense, and everyone thinking they were unique, when no one was. One could drown in irrelevance. But if the answer was no, then
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Briony was surrounded by machines, intelligent and pleasant enough on the outside, but lacking the bright and private inside feeling she had. This was sinister and lonely, as well as unlikely. For, though it offended her sense of order, she knew it was overwhelmingly probable that everyone else had thoughts like hers. She knew this, but only in a rather arid way; she didn’t really feel it. (A 36; eigene Hervorhebung)
Für Briony sind beide Gedankengänge jedoch nicht wirklich befriedigend: Auf der einen Seite verstößt die theory of mind gegen Brionys Sinn für Ordnung, auf der anderen Seite wäre die Vorstellung ebenso unbefriedigend, nur sie allein verfüge über ein reflektiertes Bewusstsein. Vor diesem Hintergrund – Brionys Unzufriedenheit über die Theaterproben, ihr Drang, eine Geschichte zu schreiben, sowie die Unsicherheit über die eigene Rolle in der Welt – schaut Briony aus dem Fenster und sieht ihre Schwester und Robbie am Brunnen. Zunächst scheint Briony das Geschehen zu begreifen, da das Verhalten der beiden einem vertrauten narrativen Schema zu entsprechen scheint: There was something rather formal about the way he stood, feet apart, head held back. A proposal of marriage. Briony would not have been surprised. She herself had written a tale in which a humble woodcutter saved a princess from drowning and ended by marrying her. What was presented here fitted well. Robbie Turner, only son of a humble cleaning lady and of no known father, Robbie who had been subsidized by Briony’s father through school and university, had wanted to be a landscape gardener, and now wanted to take up medicine, had the boldness of ambition to ask for Cecilia’s hand. It made perfect sense. Such leaps across boundaries were the stuff of daily romance. (A 38)
Briony sieht sich so lange in ihren Annahmen bestätigt, bis Robbie plötzlich die Hand hebt und Cecilia daraufhin in den Brunnen steigt. Ab diesem Moment kann Briony keinen narrativen Kontext generieren, in dem das Verhalten der beiden einen Sinn ergeben würde: What was less comprehensible, however, was how Robbie imperiously raised his hand now, as though issuing a command which Cecilia dared not to disobey. It was extraordinary that she was unable to resist him. At his insistence she was removing her clothes, and at such speed. She was out of her blouse, now she had let her skirt drop to the ground and was stepping out of it, while he looked on impatiently, hands on hips. What strange power did he have over her? Blackmail? Threats? (A 38)
Als Cecilia aus dem Brunnen steigt, sich Richtung Haus bewegt und Robbie zurücklässt, begreift sie, dass die eigenen Erzählungen, welche als narrative Kontexte dienten, um Sinn zu generieren, der Komplexität der von ihr erfahrenen Wirklichkeit nicht gerecht werden können (A 39). Briony erkennt, dass die narrativen Schemata, mit denen sie Sinn herzustellen versucht, überkommen sind,
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weil diese auf simplen Kausalitäts- und Moralverständnissen beruhen, mit denen die Mysterien der Erwachsenenwelt nicht aufgedeckt werden können. Diese neue Einsicht führt zu einem Drang, das Geschehen am Brunnen aufzuschreiben. Dabei entwickelt sie eine neue Poetik, die ihrer zuvor entwickelten theory of mind Rechnung tragen soll. Sie entscheidet sich das Geschehen aus drei verschiedenen Perspektiven niederzuschreiben und auf eine moralisierende Erzählinstanz zu verzichten: She could write the scene three times over, from three points of view; her excitement was in the prospect of freedom, of being delivered from the cumbrous struggle between good and bad, heroes and villains. None of these three was bad, nor were they particularly good. She need not judge. There did not have to be a moral. She need only show separate minds, as alive as her own, struggling with the idea that other minds were equally alive. It wasn’t only wickedness and scheming that made people unhappy, it was confusion and misunderstand ing; above all, it was the failure to grasp the simple truth that other people are as real as you. And only in a story could you enter these different minds and show how they had an equal value. That was the only moral a story need have. (A 40)
Während Briony in ihrem Schreiben folglich die Tatsache akzeptieren kann, dass alle Menschen über ein Bewusstsein verfügen und alle sich als Zentrum ihrer Welt begreifen, kann sich das Mädchen mit dieser Einsicht in ihrem tatsächlichen Leben nicht abfinden. Auf einem Spaziergang wird Briony von einem Gefühl der Bedeutungslosigkeit übermannt und sie bleibt auf einer Brücke stehen, hoffend, dass sie Gelegenheit erhält, sich auszuzeichnen und ihrer Bedeutungslosigkeit zu entkommen (vgl. A 77). Eine solche Gelegenheit scheint gekommen, als Robbie sie bittet, einen Brief an Cecilia zu übergeben. Geschockt vom Inhalt des Briefes beginnt Briony die zuvor entwickelte Poetik des Geschichtenschreibens zu hinterfragen und fällt erneut in klare moralische Oppositionen von Gut und Böse zurück: The scene by the fountain, its air of ugly threat, and at the end, when both had gone their separate ways, the luminous absence shimmering above the wetness on the gravel – all this would have to be reconsidered. With the letter, something elemental, brutal, perhaps even criminal had been introduced, some principle of darkness, and even in her excitement over the possibilities, she did not doubt that her sister was in some way threatened and would need her help. (A 113–114)
Doch der eigentliche Schreibprozess gerät für das Mädchen zusehends in den Hintergrund – in einer kurzen Prolepse wird vorhergesagt, dass Briony das Geschehen am Brunnen erst Jahre bzw. Jahrzehnte später zu Papier bringen wird (vgl. A 41). Vielmehr sieht Briony sich plötzlich als Heldin in ihrer eigenen Geschichte. Darin kommt ihr die Rolle als Beschützerin ihrer Schwester Cecilia
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zu, die von Robbie bedroht wird (“Something irreducibly human, or male, threatened the order of their household, and Briony knew that unless she helped her sister, they would all suffer”, A 114). Statt sich an ihre Prämisse zu erinnern, „[i]t wasn’t only wickedness and scheming that made people unhappy, it was confusion and misunderstanding“ (A 40), konstruiert sie folglich ein Narrativ mit einfachen moralischen Oppositionen: sie als tugendhafte Heldin, Robbie als finsterer Schurke. Interessanterweise bleibt auch Briony nicht verborgen, dass sie wieder in alte Erzählmuster verfällt (vgl. A 115). Bestärkt wird Briony in dieser Interpretation von ihrer Cousine Lola, die ebenfalls Robbies Brief liest. Auch Lola erkennt in Robbie eine irrational handelnde Bedrohung (“‘The man’s a maniac. […] Maniacs can attack anyone’”, A 120) und schlägt deshalb vor, die Polizei zu rufen (“‘I think the police should know about him’”, A 120). Die Worte der Cousine haben eine besondere Wirkung auf Briony, da Lolas Kategorisierung von Robbie als Wahnsinnigen ihr hilft, retrospektiv dessen (aus ihrer Sicht) irrationales Verhalten am Brunnen zu erklären: A maniac. The word has refinement, and the weight of medical diagnosis. […] She had already decided not to tell that story, suspecting that the explanation was simple and that it would be better not to expose her ignorance. (A 119)
Dieses Narrativ von sich als Heldin und von Robbie als Schurken bestimmt von nun an Brionys Wahrnehmung. Als sie auf dem Weg zum Speisesaal Geräusche in der Bibliothek hört und Robbie und Cecilia beim Liebesspiel überrascht, ist Briony daher überzeugt, dass sie Zeugin eines Angriffs auf ihre Schwester wird: Though they were immobile, her immediate understanding was that she had interrupted an attack, a hand-to-hand fight. The scene was so an entirely realisation of her worst fears that she sensed that her over-anxious imagination had projected the figures onto the packed spines of books. (A 123)
Bemerkenswert ist, dass sie aufgrund des schummrigen Lichts ihre Schwester und Robbie zunächst nur als „dark shapes in the furthest corner“ (A 115) erkennt. Wieder ist es das von ihr konstruierte Narrativ, das ihre Wahrnehmung steuert: “[S]he had seen Robbie’s letter, she had cast herself as her sister’s protector, and she had been instructed by her cousin: what she saw must have been shaped in part by what she already knew, or believed she knew.” (A 123) Noch stärker zeigt sich Brionys Drang, die Wirklichkeit nach ihrem vorgefertigten Narrativ zu konstruieren, als sie nach ihren Cousins sucht. Als Briony sich in der Dunkelheit auf die Suche macht, begreift sie sich als „a figure in a richer story“ (A 163). Diese Rolle meint sie kurze Zeit später ausfüllen zu können, als sie in der Dunkelheit eine vermeintliche Zeugin von Lolas Vergewaltigung wird.
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Obwohl sie den Täter aufgrund der Dunkelheit nicht erkennen kann, ist sie sich sicher, dass Robbie der Täter sein muss: As far as she was concerned, everything fitted. Events she herself witnessed foretold her cousin’s calamity. If only she, Briony, had been less innocent, less stupid. If she saw, the affair was too consistent, too symmetrical to be anything other than what she said it was. She blamed herself for the childish assumption that Robbie would limit his attention to Cecilia. What was she thinking of? He was a maniac after all. (A 168)
Ihre Schlussfolgerung, dass Robbie der Täter ist, beruht ausschließlich auf Brionys zuvor getätigten und – wie der Leser aufgrund des multiperspektivischen Erzählens weiß – falschen Hypothesen. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass ironische Unzuverlässigkeit im ersten Teil des Romans primär die Funktion hat, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die kognitiven Prozesse zu lenken, mit denen die Figuren ihr Bild von Wirklichkeit konstruieren. Bei Robbie und Cecilia werden besonders Mind- reading-Prozesse in den Vordergrund gerückt, mit denen die Verliebten versuchen, einander zu verstehen. Bei Briony hingegen sind es Narrativisierungsstrategien, mit denen sie einen Kontext zu generieren bestrebt ist, in dem sie das Verhalten ihrer Schwester und Robbies begreift. Ihr eigenes Dasein bekommt gleichzeitig eine neue Bedeutung, da sie sich als Beschützerin ihrer Schwester und Heldin in ihrer Geschichte inszenieren kann. An dieser Stelle offenbaren sich jedoch Unterschiede zwischen der ironischen Unzuverlässigkeit bei Robbie und Cecilia auf der einen Seite und Briony auf der anderen. Während Robbies und Cecilias falsche Wahrnehmungen lediglich in einem unbedeutenden Streit münden, schafft Briony mit ihrem Narrativ schließlich Fakten in der TAW (vgl. Tönnies 2005: 68). Durch ihre Aussage wird Robbie ein verurteilter Vergewaltiger, obwohl er (wie der Leser weiß) unschuldig ist. Brionys Verhalten wirft also die Frage nach ihrer ethischen Verantwortung auf: Zwar wird ein detaillierter Kontext aufgespannt, in dem Brionys falsche Wahrnehmung nachvollziehbar wird (Frust über die verpatzte Theaterprobe, der für Briony verstörende Brief, die Bestärkung ihres Verdachts durch Lola, Brionys Streben nach Ordnung sowie ihre Angst, eine bedeutungslose Existenz zu führen), gleichwohl macht der Text deutlich, dass diese Aspekte keine Entschuldigungen für ihre Aussage sein können – mehrfach wird Brionys Aussage als „crime“ (A 156, 162) bezeichnet und es wird deutlich, dass Briony mit zeitlichem Abstand immer klarer wird, dass sie Robbie eigentlich nicht gesehen hat. Dass sie ihre Aussage dennoch macht bzw. nicht revidiert, scheint daher nicht entschuldbar: “She would never be able to console herself that she was pressured or bullied. She never was. She trapped herself, she marched into a labyrinth of her own construction, and was too young, too awestruck, too keen to please, to insist on making her way back.” (A 170)
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2.2 Zum metakognitiven Funktionspotenzial alterierter Unzuverlässigkeit Doch Atonement belässt es nicht dabei, dem Leser aus einer sicheren Distanz die fehlerhaften Sinnstiftungsprozesse seiner Figuren vorzuführen. McEwans Roman führt den Leser durch alterierte Unzuverlässigkeit selbst in die Irre und regt ihn dazu an, retrospektiv die eigenen kognitiven Prozesse zu reflektieren, auf deren Grundlage er ein falsches Bild der fiktionalen Wirklichkeit gebildet hat. Die Täuschung des Rezipienten durch das alteriert-unzuverlässige Erzählen vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen wird der Leser in den ersten drei Teilen über den ontologischen Status der erzählten Welt getäuscht. Da dem Rezipienten die Information vorenthalten bleibt, dass er einen Roman im Roman – also eine intradiegetische Erzählung von Briony – liest, irrt er über die Erzählebene und die narrative Instanz. Zum anderen wird der Leser über zentrale Aspekte der Handlung getäuscht: entgegen den Annahmen des Lesers haben Robbie und Cecilia den Krieg nicht überlebt, Briony konnte keine Abbitte leisten. Im Folgenden soll daher die alterierte Unzuverlässigkeit untersucht und auf die Frage eingegangen werden, durch welche narrativen Strategien der Leser getäuscht wird und welche Funktionen die alterierte Unzuverlässigkeit übernimmt. Alterierte Unzuverlässigkeit in Bezug auf Brionys Autorschaft (Teile 1–3) Die Auflösung im vierten Teil des Romans, dass die zuvor gelesenen Teile aus der Feder der mittlerweile 77-jährigen Briony stammen und nicht aus der einer extradiegetischen, heterodiegetischen Erzählinstanz, stellt für die Mehrheit der Leser eine Überraschung dar (vgl. Bode 2011 [2005]: 246). Dennoch finden sich verschiedene Hinweise, die zumindest bei der zweiten Lektüre auf Brionys Autorschaft und die Konstrukthaftigkeit der Erzählung hindeuten. Auf inhaltlicher Ebene erfahren wir bereits im ersten Teil des Romans in einer Prolepse, dass aus der jungen Briony Jahre später tatsächlich eine berühmte Schriftstellerin werden wird und dass sie das Geschehen am Brunnen zu Papier bringen wird (vgl. Finney 2004: 75–76). Im dritten Teil des Romans schickt Briony ein Manuskript mit dem Titel Two Figures by a Fountain an die renommierte Literaturzeitschrift Horizon.389 Auf formaler Ebene gibt es Hinweise, welche die Künstlichkeit bzw. die „constructedness“ (Palmer 2011: 293) der Erzählung hervorheben. Das auffälligste Merkmal ist sicherlich, dass sich die ersten drei Teile stilistisch und in ihrer narrativen Inszenierung voneinander unterscheiden: Während der Stil im ersten Teil an Jane Austen und an Virginia Woolf erinnert,
389 Vgl. dazu auch Tönnies (2005: 68–69).
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ist die knappe, präzise Sprache der Kriegsschilderung im zweiten Teil an Ernest Hemingway angelehnt, während der dritte Teil wiederum eine gegenwärtige, selbstreflexive Erzählstimme gebraucht (vgl. Finney 2004: 74).390 Die Unterschiede werden auch an der Bezeichnung von Robbie Turner deutlich: während die Figur im ersten und dritten Teil primär als „Robbie“ bezeichnet wird, ist im zweiten Teil nur von „Turner“ die Rede (Palmer 2011: 293). Ferner sind im ersten Teil die Unterkapitel nummeriert. Eine solche Nummerierung der Unterkapitel fehlt in den folgenden zwei Teilen. Neben den stilistischen Unterschieden zwischen den drei Teilen sticht eine Vielzahl von „parallel or symmetrical motifs“ (Finney 2004: 75) hervor, die die Künstlichkeit der Narration betont. Lola wird beispielsweise in den Ruinen eines griechischen Tempels auf dem Anwesen der Tallis vergewaltigt. Die Hochzeit von Lola und ihrem Vergewaltiger Paul Marshall findet Jahre später in einer Kirche statt, die ebenfalls „like a Greek temple“ (A 323) aussieht.391 Dieser Sinn für Ordnung und Symmetrie durchzieht den Roman und kann freilich als typisches Merkmal des Erzählens der Schriftstellerin Briony identifiziert werden: “Briony’s concern with symmetry [is] making itself felt in the three parts of McEwan’s novel.” (Tönnies 2005: 71) Trotz dieser inhaltlichen und formalen Hinweise, die Erzählung in den ersten drei Teilen nicht als „an unmediated view of the whole storyworld“ (Palmer 2011: 292) zu begreifen, werden die meisten Leser am Ende von Atonement jedoch dennoch überrascht sein, dass sie zuvor einen intradiegetischen Roman von Briony Tallis gelesen haben (vgl. Bode 2011 [2005]: 246). Die Erkenntnis, dass Briony die intradiegetische Erzählerin der Geschichte ist, hat zentrale Auswirkungen auf das zuvor Gelesene. Zum einen führt es dazu, retrospektiv ein intratextuelles Kontextmodell zu bilden und alle in den Teilen eins bis drei erhaltenen Informationen aufgrund von source-monitoring der Autorin Briony Tallis zuzuschreiben. Wie die Autorin im letzten Teil zugibt, stimmt ihr Roman in zentralen Punkten nicht mit der Realität in der TAW überein – Robbie ist im Krieg an einer Blutvergiftung gestorben, Cecilia bei einem Fliegerangriff auf London, Briony hat Robbie und Cecilia nicht getroffen und konnte keine Abbitte leisten. Die Bildung eines intratextuellen Kontextmodells hat daher Auswirkun-
390 Dabei kann der spezifische an Hemingway angelehnte Stil gleichzeitig als impliziter Hinweis auf Robbies Tod gelesen werden. So etabliert der Roman auch auf der inhaltlichen Ebene eine Referenz an Hemingways Kurzgeschichte „The Snows of Kilimanjaro“, in dem die todgeweihte, an einem Wundbrand leidende Fokalisierungsinstanz ihre Rettung aus der Wildnis und damit ein mögliches Überleben imaginiert, während sie in Wirklichkeit stirbt. Darüber hinaus werden wie in Atonement Kriegserlebnisse und der Prozess des Schreibens vor dem Tod thematisiert. 391 Vgl. genauer Finney (2004: 75). Andere wiederkehrende Motive und Metaphern sind Spiegel (Menhard 2009: 270) oder die zerbrochene Vase (Finney 2004: 77).
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gen auf das zuvor konstruierte Situationsmodell, welches retrospektiv revidiert werden muss. Die Bildung des intratextuellen Kontextmodells und das sourcemonitoring zwingen den Leser darüber hinaus, die Wahrhaftigkeit anderer Teile der Geschichte anzuzweifeln. Wenn etwa im ersten Teil die Gedanken und Gefühle der Fokalisierungsinstanzen Robbie und Cecilia präsentiert werden, muss der Leser diese zuvor als wahr erachteten Informationen hinterfragen und mit einem zusätzlichen source tag versehen. Wenn im ersten Teil des Romans die Rede davon ist, dass Robbie seine Socken aus Scham ausgezogen hat (vgl. A 84), dann muss der Leser sich retrospektiv bewusst machen, dass dies lediglich Annahmen oder gar Imaginationen Brionys sind (vgl. auch Palmer 2011: 290)392 – sie war weder anwesend noch kann sie aufgrund der Ereignisse mit Robbie gesprochen haben. Zum anderen bewirkt die Bildung des intratextuellen Kontextmodells, dass sich das Thema des Romans ändert. Wir erfahren, dass Briony mittlerweile 77 Jahre alt und eine erfolgreiche Schriftstellerin ist. Da Cecilia und Robbie den Krieg nicht überlebt haben, konnte Briony die Liebenden nie um Vergebung bitten und ihren Fehler wiedergutmachen. Aus Sicht von Briony stellt das Niederschreiben des Geschehenen daher die einzige Möglichkeit dar, Abbitte („to achieve atonement“; A 371) für ihre verhängnisvolle Aussage 64 Jahre zuvor zu leisten. Damit bekommt das zuvor Gelesene eine neue Bedeutung: Thema des Romans ist also auch nicht, wie man nach Lektüre der Teile 1 bis 3 annehmen könnte, pubertäres Schuldigwerden und die Eröffnung der Möglichkeit, das wiedergutzumachen. Thema des Romans ist vielmehr die Frage, inwieweit Kunst, das Schreiben von Literatur, Abbitte für reale Schuld leisten kann und ob Wahrheit sich erst ergibt, wenn sich zuvor schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber eingestellt hat. (Bode 2011 [2005]: 246)
Die Frage, wie sie mit ihrer Erzählung Abbitte für ihre Tat leisten kann, beschäftigt Briony ihr gesamtes Leben als Autorin. Immer wieder schreibt und verwirft sie neue Versionen: “The earliest version, January 1940, the latest March 1999, and in between, half dozen different drafts. The second draft, June 1947, the third … who cares to know? My fifty-year-assignment is over.” (A 369) Der Leser erfährt, dass die Teile eins bis drei die finale Fassung darstellen. Retrospektiv stellt sich der Roman daher als Reflexion über das Schreiben von Erzählungen dar. In der Rückschau gewinnen die Passagen in den Teilen eins und drei an Bedeutung, in denen die fokalisierende Briony versucht, das Geschehen nieder-
392 “The mental states experienced by Briony, Cecilia, Robbie, and the others as presented in the heterodiegetic section of the novel are simply Briony’s descriptions of those mental states.” (Palmer 2011: 290)
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zuschreiben. Besonders Brionys Reflexionen über die stilistische und narrative Gestaltung ihrer Geschichte Two Figures by a Fountain im dritten Teil sind von Belang, da die Geschichte ihren ersten Versuch darstellt, das Geschehen zu Papier zu bringen. Wie der Titel der Erzählung bereits impliziert, umfasst die Geschichte primär das Geschehen des ersten Teils. Daher kann der Leser die erste Fassung – Two Figures by a Fountain – mit der finalen Fassung – also dem ersten Teil des Romans – vergleichen und nachvollziehen, welche ästhetischen und inhaltlichen Veränderungen Briony im Laufe der Jahrzehnte vorgenommen hat. Eine zentrale Frage betrifft dabei die Art der narrativen Inszenierung. Wieso schreibt Briony ihre Geschichte nicht in der ersten Person? Immerhin muss bedacht werden, dass der Roman unter ihrem Namen erscheinen wird und die Namen der Beteiligten unverändert bleiben. Warum kann Briony die eigenen Fehler nicht in der ersten Person eingestehen? Hinweise darauf erhalten wir im dritten Teil der Erzählung, in dem die 18-jährige Briony Two Figures by a Fountain niederzuschreiben beginnt. Dabei bedient sie sich einer modernistischen Ästhetik, nach der sich „,die Wirklichkeit‘ […] in eine potentiell unbegrenzte Anzahl von perspektivisch gebrochenen und subjektabhängigen Wirklichkeitsmodellen“ (Nünning 2007 [1998]: 45) auflöst und die Handlung hinter der Darstellung von Bewusstseinsströmen zurücksteht. So reflektiert die junge Autorin: The age of clear answers was over. So was the age of characters and plots. Despite her journal sketches, she no longer really believed in characters. They were quaint devices that belonged to the nineteenth century. The very concept of character was founded on errors that modern psychology had exposed. Plots too were like rusted machinery whose wheels would no longer turn. A modern novelist could no more write characters and plots than a modern composer could write a Mozart symphony. It was thought, perception, sensation that interested her, the conscious mind as a river through time, and how to represent its onward roll, as well as all the tributaries that would swell it, and the obstacles that would divert it. (A 281–282)
Der Versuch, das Geschehen am Brunnen aus drei Perspektiven mittels verschiedener streams-of-consciousness zu präsentieren, ist für Briony eine Möglichkeit, zu zeigen, dass sie nicht das Zentrum der Welt ist und andere Perspektiven genauso wichtig sind wie die eigene (vgl. Finney 2004: 81).393 Mithilfe des multi-
393 Die Überlegung, das Geschehen durch Stream-of-consciousness-Techniken zu inszenieren, hat ihren Ausgang in ihrer reflektierten theory of mind im ersten Teil des Romans: “It wasn’t only wickedness or scheming that makes people unhappy, it was confusion and misunderstanding; above all, it was the simple truth that other people are as real as you. And only in a story could you enter these different minds and show they had an equal value. That was the only moral a story need have.” (A 40)
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perspektivischen Erzählens kann sie sich somit durch ästhetische Mittel von dem 13-jährigen Mädchen abgrenzen, welches sich als Heldin und damit als Zentrum ihrer eigenen Geschichte wähnte und deshalb Robbie ins Gefängnis brachte. Allerdings ist die 18-jährige Briony später unzufrieden mit dem Resultat, da sie erkennen muss, dass diese Art der narrativen Darstellung sie von jeder moralischen Verantwortung enthebt: [A] narrative split between three different points of view, the hovering stillness of nothing much seeming to happen – none of this could conceal her cowardice. Did she really think she could hide behind some borrowed notions of modern writing, and drown her guilt in a stream – three streams – of consciousness? (A 320)
Aufgrund von Brionys Unzufriedenheit mit Two Figures by a Fountain ist es nicht verwunderlich, dass sich die Darstellung des Geschehens am Brunnen im ersten Teil des Romans verändert hat. So sind „die Wahrnehmungen und Gedanken jeder Figur spürbar gerichtet, geordnet [und] aufbereitet“ (Bode 2011 [2005]: 243), so dass „man es zwar mit jeweils einem central consciousness […], aber nie mit einem stream of consciousness“ (Bode 2011 [2005]: 243) zu tun hat. Auch tritt eine heterodiegetische Erzählinstanz explizit in Erscheinung und bezieht moralisch Stellung zum Geschehen. Zwar generiert die Autorin Briony im ersten Teil des Romans einen narrativen Kontext, der ihre Aussage gegen Robbie nachvollziehbar werden lässt, gleichwohl tituliert sie bzw. die heterodiegetische Erzählinstanz das Verhalten verschiedentlich als „crime“ (A 156, 162). Die Wahl der spezifischen narrativen Inszenierung im ersten Teil zeigt folglich Brionys Balanceakt, einerseits sich durch das multiperspektivische Erzählen nicht als Mittelpunkt der Welt zu inszenieren und andererseits das eigene Verhalten und die eigene Wahrnehmung kritisch zu bewerten. Neben formal-ästhetischen finden sich jedoch auch inhaltliche Unterschiede zwischen der ersten und der letzten Version von Brionys Abbitte. Als Briony die erste Fassung von Two Figures by a Fountain im Jahre 1940 an das renommierte Literaturmagazin Horizon schickt, erhält sie zwar eine Absage, aber auch aufmunternde Worte und Verbesserungsvorschläge, welche Rückschlüsse auf ihre erste Fassung zulassen. Die Anmerkungen umfassen zum einen Änderungen in Bezug auf Details, welche die Glaubwürdigkeit der Geschichte erhöhen,394 zum anderen dramaturgische Hinweise, die wesentlichen Einfluss auf die Handlung haben. So schlägt Cyril Conolly, Herausgeber von Horizon, unter anderem vor,
394 “More than one of us here thought Ming rather to priceless to take outdoors? Wouldn’t Sèvres or Nymphenburg suit your purpose?” (A 313)
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dass das beobachtende Mädchen von ihrem Fenster aus lieber nicht erkennen sollte, dass die Vase kaputt geht, so dass dem Mädchen verborgen bleibt, warum die Schwester in den Brunnen steigt.395 Der Hauptkritikpunkt aber ist das Fehlen einer Handlung, die den Leser bei der Stange halten könnte: “Your sophisticated readers might be well up on the latest Bergsonian theories of consciousness, but I’m sure they retain a childlike desire to be told a story, to be held in suspense, to know what happens.” (A 314) Daher macht Conolly konkrete Vorschläge, wie die Handlung ausgeweitet werden könnte: If this girl is so fully misunderstood or has been so wholly baffled by the strange little scene that has unfolded before her, how might it affect the lives of the two adults? Might she come between them in some disastrous fashion? Or bring them closer, either by design or accident? Might she innocently expose them somehow, to the young woman’s parents perhaps? They surely would not approve of a liason between their eldest daughter and their charlady’s son. Might the young couple come to use her as a messenger? (A 313)
Die ersten drei Teile des Romans lassen erkennen, dass sämtliche Hinweise Conollys umgesetzt wurden (vgl. Tönnies 2005: 69). Der Umfang der Geschichte ist gewachsen und umfasst nicht mehr nur das Geschehen am Brunnen. Die weitreichenden Konsequenzen des Geschehens am Brunnen für Robbie, Cecilia und Briony werden in der finalen Fassung nun dargestellt. So weiß Briony nicht, dass Cecilia wegen einer Vase in den Brunnen steigt (vgl. Tönnies 2005: 69). Es stellt sich daher die Frage, inwieweit sich Briony bei ihrer Darstellung an dem tatsächlichen Geschehen orientiert oder an den Anmerkungen Conollys (vgl. Tönnies 2005: 69). Die wohl größte Änderung der letzten Fassung betrifft jedoch das veränderte Ende. Cecilia und Robbie haben (scheinbar) überlebt: “It is only in my last version that my lovers end well, standing side by side on a Southern London pavement as I walk away.” (A 370) Dies führt unweigerlich zu der Frage, warum Briony zentrale Elemente des Geschehens so radikal ändert. Was sagt es über die 77-jährige Briony aus, dass sie den Leser über die Tatsachen täuscht? Lässt man den Kontext außer Acht, in dem sie den Roman schreibt, ist anzunehmen, dass die Verzerrung der Wirklichkeit zeigt, dass sich die 77-jährige Autorin nicht wesentlich von dem 13-jährigen Mädchen unterscheidet: Noch immer gelingt es ihr grandios wie schon als Teenager, andere etwas glauben zu lassen, was gar nicht stimmt – dieses Talent ist Quelle ihres größten moralischen Versagens und Quelle ihres Erfolges als Schriftstellerin zugleich. Sie flunkert und suggeriert anderen
395 “The woman goes fully dressed into the fountain to retrieve the pieces. Wouldn’t it help you if the watching girl did not actually realize that the vase had broken? It would be all the more of a mystery to her that the woman submerges herself?” (A 313)
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‚Wahrheiten‘. Sie hat das nicht nur damals, im Sommer 1935, getan – sie hat es gerade wieder getan, als wir ihren Roman lasen und ihr fasziniert glaubten. (Bode 2011 [2005]: 246)
Berücksichtigt man allerdings den Kontext der Entstehung der letzten Version, scheint eine Bewertung Brionys und ihrer Entscheidung, die Tatsachen zu verfälschen, schwieriger. Zum einen steht Briony vor dem juristischen Problem, das tatsächliche Geschehen zu veröffentlichen. Da die Marshalls nicht daran interessiert sind, dass die Wahrheit ans Licht kommt und über genug Geld und Einfluss verfügen, ihre Gegner vor Gericht mundtot zu machen, weigern sich die Verlage, Brionys Roman zu veröffentlichen: There was our crime – Lola’s, Marshall’s, mine – and from the second version onwards, I set out to describe it. I’ve regarded it as my duty to disguise nothing – the names, the places, the exact circumstances – I put it all there as a matter of historical matter. But as a matter of legal reality, so various editors have told me over the years, my forensic memoir could never be published while my fellow criminals were alive. You may only libel yourself and the dead. The Marshalls have been active about the courts since the late forties defending their good names with a most expensive ferocity. They could ruin a publishing house with ease from their current accounts. One might almost think they had something to hide. Think, yes, but not write. The obvious suggestions have been made – displace, transmute, dissemble. Bring down the fogs of the imagination! What are novelists for? Go just so far as is necessary, set up camp inches beyond the reach, the fingertips of the law. But no one knows the precise distances until a judgement is handed down. To be safe, one would have to bland and obscure. I know I cannot publish until they are dead. And as for this morning, I accept that will not be until I am. (A 369–370)
An dieser Stelle zeigt sich eine bittere Ironie von Atonement. Während die 13-jährige Briony mit ihrer falschen Erzählung Fakten im fiktionalen Universum schafft und Robbie verurteilt wird, ist es ihr nun unmöglich, die Fakten durch eine Erzählung, die den Tatsachen entspricht, zu korrigieren und die Schuldigen beim Namen zu nennen. Zudem wird das tatsächliche Geschehen bald dem Vergessen anheimfallen: Die 77-jährige Briony leidet an vaskulärer Demenz, einer Krankheit, die in absehbarer Zeit jedwede Erinnerung an ihre Kindheit und damit ihre Schuldgefühle auslöschen wird (vgl. A 354). Briony selbst wird sich nicht mehr an die Fakten erinnern können. Ab diesem Zeitpunkt ist es auch für Briony belanglos, was Fakt ist und was nicht: “Briony will be as much of a fantasy as the lovers who shared a bed in Belham and enraged their landlady.” (A 371) Aufgrund dieser Umstände entscheidet sich Briony für ein positives Ende von Cecilias und Robbies Geschichte. Da ihr Roman erst nach dem eigenen Ableben und dem Tod der Marshalls veröffentlicht wird, ist die Frage nach dem tatsächlichen Geschehen irrelevant: “When I am dead, and the Marshalls are dead, and
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the novel is finally published, we will only exist as my inventions.” (A 371) Sie schlussfolgert, dass es für den Leser egal ist, ob die Fakten stimmen oder nicht. Vielmehr sehnt sich der Leser nach Gerechtigkeit und einem happy ending: How could I constitute such an ending? What sense or hope or satisfaction could a reader draw from such an account? Who would want to believe that they never met again, never fulfilled their love? Who would want to believe that, except in the service of the bleakest realism? (A 371)
Dass Briony mit ihrer These recht hat, wird deutlich angesichts der Täuschung über Robbies und Cecilias happy ending. Alterierte Unzuverlässigkeit in Bezug auf Robbies und Cecilias Überleben Im Folgenden soll untersucht werden, warum der Rezipient in Teil zwei und drei des Romans falsche Hypothesen über Robbies Überleben aufstellt und daher von der Auflösung im vierten Teil überrascht ist, dass der Protagonist in Wirklichkeit im Krieg gestorben ist. Unter Berücksichtigung der Bedeutung des primacy effect für die Hypothesenbildung des Lesers erscheint es sinnvoll, zunächst den Beginn des zweiten Teils zu betrachten. Nachdem Teil eins mit Robbies Verhaftung am Landsitz der Tallis endete, beginnt Teil zwei in medias res mit einer Beschreibung, die für den Rezipienten zunächst nicht einzuordnen ist: There were horrors enough, but it was the unexpected detail that threw him and afterwards let him go. When they reached a level crossing, after a three-mile walk along a narrow road, he saw the path he was looking for meandering off to the right, then dipping and rising towards a copse that covered a low hill to the north-west. They stopped so that he could consult the map. But it wasn’t where he thought it should be. It wasn’t in his pocket, or tucked into his belt. Had he dropped it, or put it down at the last stop? He let his greatcoat fall on the ground and was reaching inside his jacket when he realised. The map was in his left hand and must have been there for over an hour. He glanced across at the other two but they were facing away from him, standing apart, smoking silently. It was still in his hand. He had prised it from the fingers of a captain in the West Kents lying in a ditch outside – outside where? These rear-area maps were rare. He also took the dead captain’s revolver. He wasn’t trying to impersonate an officer. He had lost his rifle and simply intended to survive. (A 191)
Vergleicht man die Situation der Figuren mit der des Rezipienten, wird offensichtlich, dass die Orientierungslosigkeit der Fokalisierungsinstanz die Verwirrung des Rezipienten spiegelt, da Letztgenanntem Angaben zu Raum, Zeit, Ort und den Personen fehlen. Der Leser muss sich zu Beginn des zweiten Teils genau wie die Figuren selbst neu orientieren. Der Leser kann mutmaßen, dass es sich bei der Fokalisierungsinstanz um Robbie handelt, da er die einzige männliche Fokalisierungsinstanz im ersten Teil ist. Auch kann er annehmen, dass sich der Pro
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tagonist im Krieg befindet. Obwohl viele Parameter in der Passage offenbleiben, wird dem Leser nichtsdestotrotz eine spezifische Konfliktlage vor Augen geführt. Durch den Verweis auf die Karte einerseits und den Überlebenswillen der Fokalisierungsinstanz (“[He] simply wanted to survive”) andererseits, wird dem Leser suggeriert, dass die Figuren versuchen, einen spezifischen Ort zu erreichen, an dem ihre Leben geschützt sind. Während das zentrale Problem demzufolge bereits im ersten Absatz etabliert wird und damit die weiteren Hypothesen des Rezipienten steuert, werden alle anderen Komponenten erst in den folgenden Absätzen präzisiert. Erst jetzt erfährt der Leser, dass es sich bei dem fokalisierenden Protagonisten tatsächlich um Robbie handelt und dass seine zwei Begleiter Mace und Nettle heißen. Und es wird deutlich, dass sich die Männer in Frankreich zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges befinden und das Ziel verfolgen, sich zur Küste nach Dünkirchen durchzuschlagen. Der Rezipient konstruiert folglich aufgrund dieser zu Beginn gegebenen Informationen und des daraus resultierenden primacy effect eine spezifische Konfliktlage: Robbie und seine Kameraden befinden sich im Krieg und können nur überleben und nach England zurückkehren, wenn sie Dünkirchen erreichen. Auch wenn der Rezipient diesen Konflikt grundsätzlich richtig erfasst, so nimmt er die verschiedenen Parameter des Konflikts falsch wahr. So erscheint es aufgrund der narrativen Informationen naheliegend, den Problemlösungsprozess als Überwindung eines bestimmten geographischen Raumes zu begreifen, nämlich die Durchquerung Frankreichs bis nach Dünkirchen, bevor die Kleinstadt an der Küste als Ziel – als „sicherer Hafen“ – und damit als Rettung bereitsteht. Dieses Ziel und die entgegenstehenden Hindernisse werden dem Rezipienten wiederholt vor Augen geführt, indem auf die Entfernung nach Dünkirchen und gleichzeitig auf die zunehmende Bedrohung durch deutsche Fliegerangriffe hingewiesen wird: He guessed they were twenty-five miles from Dunkirk. The closer they came, the harder it would be to stay off the roads. Everything converged. There were rivers and canals to cross. When they headed for the bridges they would only lose time if they cut away across the country. (A 214) Their road ran straight to the coast – there would be no shortcuts now. As they drew closer, the black cloud, which surely came from a burning refinery in Dunkirk, was beginning to rule the northern sky. There was nothing to do but walk toward it. (A 225–226) The road no longer had the protection of the plane trees. Vulnerable to attack and without shade, it uncoiled across the undulating land in long shallow S shapes. (A 226) Ahead, the cloud of burning oil stood over the landscape like an angry father. High-flying bombers droned above, a steady two-way stream moving into and returning from the target. (A 240)
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Gleichzeitig wird die zunächst abstrakte Gefahr im Verlauf des zweiten Teils dadurch konkretisiert, dass Robbie und seine Kameraden sich zwei Fliegerangriffen ausgesetzt sehen, bei denen andere Soldaten und Zivilisten getötet werden. Diese Episoden dienen zusätzlich dazu, dem Rezipienten zu suggerieren, Robbie sei Herr über sein Schicksal. So kann Robbie beiden deutschen Angriffen entkommen, indem er frühzeitig die Gefahr erkennen und sich in Deckung bringen kann. Robbies Überleben wird folglich als aktiver Vorgang inszeniert, was auch dadurch hervorgehoben wird, dass er immer wieder betont, überleben zu müssen (“He intended to survive, he had one good reason to survive, and he didn’t care whether they tagged along or not”, A 193; “To survive was to be selfish”, A 260). Der Rezipient konstruiert folglich einen Handlungskonflikt und identifiziert zwei mögliche Handlungsverläufe. Entweder Robbie überlebt, erreicht Dünkirchen und kehrt nach England zurück oder er stirbt auf dem Weg nach Dünkirchen. Dass der Rezipient dagegen nicht in Betracht zieht, dass Robbie an einer von der Wunde verursachten Blutvergiftung leidet und somit das Erreichen von Dünkirchen noch keine abschließende Rettung für ihn bedeutet, hat verschiedene Gründe. Der Rezipient kann aufgrund der narrativen Inszenierung die Gefahr, die von der Wunde ausgeht, nicht richtig einschätzen. Zwar wird mehrfach angedeutet, dass Robbie in Wahrheit an einer Blutvergiftung leidet (an der er schließlich sterben wird), da im Gegensatz zum ersten Teil des Romans allerdings eine explizit kommentierende heterodiegetische Erzählstimme in Teil zwei fehlt und das Geschehen stattdessen ausschließlich aus der Sicht der Fokalisierungsinstanz Robbie beschrieben wird, kann der Rezipient Robbies wahren Gesundheitszustand nur anhand von dessen Beobachtungen und dessen Wahrnehmung einschätzen. Der Erzählmodus verschleiert in ähnlicher Weise wie Robbie, der seine Wunde vor seinen Kameraden versteckt, das Ausmaß seiner Verletzung vor dem Rezipienten. Da der Rezipient auch nicht erfährt, in welcher Situation der Protagonist verwundet wurde, kann er keine eigenen Rückschlüsse über das Ausmaß bzw. die Gefahr der Wunde aufstellen. Das Äußere der Wunde erscheint zwar harmlos, aber Robbie vermutet darin einen Granatsplitter: He made use of the moment to look at his wound. It was on his right side, just below his rib cage, about the size of a half crown. It wasn’t looking so bad after he had washed away the dried blood yesterday. Though the skin around it was red, there wasn’t much swelling. But there was something in there. He could feel it move when he walked. A piece of shrapnel perhaps. (A 192)
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Der Schmerz verstärkt sich zusehends, wird leitmotivisch im gesamten zweiten Teil wiederholt und weist so auf den fragilen Gesundheitszustand Robbies hin.396 In Verbindung mit den zahlreichen Verweisen auf die Wunde kann darüber hinaus Robbies zunehmend getrübte Wahrnehmung als Indiz für sein gesundheitliches Befinden betrachtet werden. Im Laufe der Reise werden sein Zustand und damit auch seine Wahrnehmung immer schlechter. Als er Dünkirchen erreicht, verliert er schließlich jegliches Orts- und Zeitgefühl: It seemed to Turner that he and Nettle had set out to look for Mace, and then forgot about him. They must have wandered the streets for a while, wanting to congratulate him on the rescue and share the joke of it. Turner did not know how he and Nettle came to be here, in this particular narrow street. He remembered no intervening time, no sore feet […]. (A 254)
Robbie empfindet schließlich ein „feeling of familiar unreality“ (A 255), was auf seinen kritischen Gesundheitszustand und den bevorstehenden Tod hindeutet. Dass der Rezipient keinen kausalen Zusammenhang zwischen Wunde und der Wahrnehmung herstellt, liegt an drei Aspekten. Erstens stellt der Rezipient aufgrund des primacy effect keine Relation zwischen den beiden Elementen her. Wie bereits erwähnt, wird Robbies unzuverlässige Wahrnehmung bereits zu Beginn des zweiten Teils thematisiert, als er nach der Landkarte sucht, die sich die ganze Zeit in seiner Hand befindet. Erst einige Absätze später wird Robbies Wunde zum ersten Mal genannt, so dass eine kausale Beziehung zwischen beiden Komponenten für den Rezipienten nicht zwingend ist. Zudem negiert der Text im weiteren Verlauf (scheinbar) die Kausalität zwischen der Verletzung und der Wahrnehmung, da diese als autonome Probleme nebeneinandergestellt werden: It was in his clear moments he was troubled. It wasn’t the wound, though it hurt with every step, and it wasn’t the dive-bombers circling over the beach some miles to the north. It was his mind. Periodically, something slipped. Some everyday principle of continuity, the humdrum element that told him where he was in his own story, faded from his use, abandoning him to a waking dream in which there were thoughts, but no sense of who was having
396 “The wound throbbed uncomfortably, each beat precise and tight. Whatever was in there was sharp and close to the surface.” (A 202) “His side hurt whenever he put his right foot down. The sharp thing seemed to be protruding and snaggering on his shirt. Impossible to resist probing with a forefinger. But he felt only tender, ruptured flesh. […] Tiredness and pain were making him irritable, but he said nothing and tried to concentrate.” (A 215) “The inflammation round his wound, he sensed, was growing, and the skin was becoming tighter, harder, with something, not blood, leaking out of it onto his shirt.” (A 225) “As he was pushing debris away from under his buttocks, Turner felt his soaked shirt. It may have been blood, or some other fluid, but for the moment there was no pain.” (A 259).
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them. No responsibility, no memories of the hours before, no idea of what he was about, where he was going, what his plan was. And no curiosity about this matters. He would then find himself in the grip of illogical certainties. (A 246; eigene Hervorhebung)
Allerdings – und dies muss erneut betont werden – ist es der fokalisierende Robbie, der die Kausalität nicht erkennt bzw. nicht wahrhaben will und daher ausschließt. Darüber hinaus bietet der Text zweitens verschiedene Möglichkeiten an, Robbies unzuverlässige Wahrnehmung zu erklären. So kann der Rezipient die Ursachen von Robbies Wahrnehmung – „the feeling of unfamiliar reality“ – auch auf die psychischen und physischen Strapazen des Krieges zurückführen. Bereits zu Beginn des zweiten Teils macht Robbie eine traumatische Erfahrung, als er das abgeschnittene Bein eines Kindes in einem Baum entdeckt (A 192) und dieses Bild ihn fortan verfolgt (A 194). Überdies muss er erleben, wie eine Frau und ihr Kind vor seinen Augen bei einem deutschen Bomberangriff sterben (A 238). Auch die extremen physischen Belastungen, denen Robbie ausgesetzt ist, bieten eine Erklärung für seinen geistigen Zustand. So haben Robbie und seine Kameraden ihren Proviant aufgebraucht, sind auf Gaben der Bevölkerung angewiesen (A 195, 256) und erleiden die meiste Zeit ihres Marsches Hunger und Durst. Auch Momente der Ruhe sind für Robbie und seine Kameraden rar und unterstreichen die extremen Belastungen: “It is possible, Turner found, to fall asleep while walking. The roar of lorry engines would be suddenly cut, then his neck muscles relaxed, his head drooped, and he would wake with a start and a swerve to his step.” (A 218). Aus diesem Grund muss der Leser die unzuverlässige Wahrnehmung nicht auf die Wunde zurückführen, sondern kann diese auch mit Rückgriff auf die Kriegserfahrung und seine generelle Erschöpfung erklären. Ein deutlicher Hinweis auf Robbies tatsächlichen Zustand erfolgt erst am Ende des zweiten Teils durch die Perspektive einer anderen Figur. Als Robbies Kamerad Nettle den im Schlaf schreienden Robbie im Schein eines Streichholzes betrachtet, bemerkt er erschrocken: “‘Christ. You look fucking terrible.’” (A 263) In diesem Moment wird die Monoperspektive auf das Geschehen durchbrochen und der Leser erhält einen externen Blick auf Robbie. Da der Rezipient zu diesem Zeitpunkt aufgrund der textuellen Informationen bereits einen bestimmten Pfad der Interpretation eingeschlagen hat, wird der Rezipient höchstwahrscheinlich die aufgestellten Hypothesen nicht hinterfragen. Neben dieser fehlerhaften kognitiven Erfassung des Geschehens beeinflussen drittens auch die Emotionen des Lesers seine Hypothesenbildung. Der Leser konstruiert nicht ausschließlich aus rational-kognitiven Gründen Robbies Überleben, seine Hypothesen sind vielmehr „emotional aufgeladen“ (vgl. Eder 2007: 17). Der Leser selbst präferiert einen Handlungsverlauf mit Robbies Rückkehr nach
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England – aus zwei Gründen: Sympathielenkung einerseits und Betonung des Romance-Plots auf der anderen Seite. Robbie wird im Verlaufe des zweiten Teils als positiver Charakter etabliert, der den Tod aus Sicht des Lesers nicht verdient hat. So riskiert Robbie in Teil zwei mehrfach sein Leben, um andere Figuren zu retten. Er versucht unter Einsatz seines Lebens (letztlich erfolglos), eine Mutter und ihr Kind vor einer deutschen Fliegerattacke zu retten (A 235–240). Später gelingt es ihm mit der Hilfe seiner Kameraden, einen Bediensteten von der RAF vor einem Mob wütender Soldaten zu retten (A 250–254). Im letztgenannten Fall wird Robbies selbstloses Wesen explizit hervorgehoben: “Turner assumed that there was nothing he could do to help the man without risking a lynching himself. But it was impossible to do nothing. […] It was madness to go the man’s defence, it was loathsome not to.” (A 251) In der Tat wird Robbies altruistisches Wesen in Teil zwei auch in einer Analepse deutlich, als der Rezipient erfährt, dass Robbie einst Briony vor dem Ertrinken rettete (A 229–231). Darüber hinaus, und das sollte nicht vergessen werden, ist er derjenige, der die Zwillinge in der verhängnisvollen Nacht findet und nach Hause bringt. Robbie wird folglich als eine positive Figur etabliert, von der der Leser möchte, dass sie überlebt. Zugespitzt formuliert: Eine Figur, die ihr eigenes Leben für das von anderen opfern würde, hat es verdient, zu überleben. Darüber hinaus erscheint Robbies (möglicher) Tod ungerecht in Anbetracht der Tatsache, dass Robbie ein Opfer der Umstände ist. So ist durch die Kommentare der heterodiegetischen Erzählinstanz im ersten Teil des Romans ersichtlich, dass Robbie nicht der Vergewaltiger von Lola sein kann und er nur aufgrund der falschen Anschuldigungen in die Armee eingetreten ist, um so die Gefängnisstrafe zu verkürzen. Neben der Sympathielenkung ist die narrative Inszenierung des RomancePlots zwischen Robbie und Cecilia dafür verantwortlich, dass der Leser Robbies Rückkehr präferiert. Die Bedeutung des Romance-Plots im zweiten Teil wird dadurch betont, dass sich jeweils Unterkapitel, die Robbies Kriegserlebnisse schildern, mit solchen abwechseln, die retrospektiv Robbies und Cecilias Liebesbeziehung darstellen. Rückblickend erfährt der Leser von den Schwierigkeiten und Hindernissen, die der Liebe im Wege stehen. So wird den Liebenden ein Wiedersehen nach Robbies Verhaftung verwehrt, da Cecilia Robbie nicht im Gefängnis besuchen darf. Erst als er in die Armee eintritt und aus diesem Grund aus dem Gefängnis entlassen wird, können sich die beiden für eine halbe Stunde in einem Café treffen. Andere Treffen scheitern aufgrund unglücklicher Umstände, so dass Robbies und Cecilias Beziehung ausschließlich durch Briefe aufrechterhalten wird (A 210). Wie groß ihre Liebe zueinander ist, wird an den radikalen Entscheidungen deutlich, die beide treffen. Während Robbie in den Zweiten Weltkrieg zieht, um eine Haftverschonung zu erhalten und so Aussicht auf eine Wiederver-
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einigung mit Cecilia zu erlangen, bricht Letztere aus Liebe mit ihrer Familie, da diese nicht an Robbies Unschuld glaubt (A 209). Robbies Heimkehr nach England würde gleichzeitig die Wiedervereinigung der Liebenden bedeuten. Dies wird dem Leser mehrmalig durch Cecilias Worte „I’ll wait for you. Come back“ ins Gedächtnis gerufen, mit denen sie jeden Brief an Robbie abschließt und die leitmotivisch das gesamte Kapitel durchziehen (A 203, 209, 210, 213, 226, 261, 264, 265). Umgekehrt ist es dieses radikale Bekenntnis zu ihrer Liebe, das Robbie antreibt, zu überleben und nach England zurückzukehren: He knew these lines by heart and mouthed them now in the darkness. My reason for life. Not living, but life. That was the touch. And she was the reason for life, and why he must survive. He lay on his side, staring at where he thought the barn’s entrance was, waiting for the first signs of light. He was too restless for sleep now. He wanted only to be walking to the coast. (A 209)397
Die als ungerecht empfundene Trennung des Paares, die Unmöglichkeit des Wiedersehens in der Vergangenheit und das radikale Bekenntnis zu ihrer Liebe tragen dazu bei, dass der Rezipient einen Handlungsverlauf vorzieht, in dem Robbie überlebt. Gespeist wird Robbies unbedingter Wille, sich nach Dünkirchen durchzuschlagen, auch durch die Nachricht, dass Briony ihre Aussage widerrufen und damit Robbies Ehre wiederherstellen möchte (A 228). Die Rückkehr nach England bedeutet für Robbie folglich nicht nur die Vereinigung mit Cecilia, sondern gleichzeitig die Aussicht, sein altes Leben wieder aufnehmen zu können. The prospect was of a rebirth, a triumphant return. He could become again the man who had once crossed a Surrey park at dusk in his best suit, swaggering on the promise of life, who had entered the house and with the clarity of passion made love to Cecilia – no, let him rescue the word from the corporals, they had fucked while others sipped their cocktails on the terrace. The story could resume, the one that he had been planning on that evening walk. He and Cecilia would no longer be isolated. Their love would have space and a society to grow in. He would not go about cap in hand to collect apologies from friends who had shunned him. Nor would he sit back, proud and fierce, and, shunning them in return. He knew exactly how he would behave. He would simply resume. With his criminal record off, he could apply to medical college when the war was over, or even go for a commission now in the Medical Corps. If Cecilia made her peace with her family, he would keeping distance without being sour. (A 227)
397 Hervorzuheben an dieser Passage ist darüber hinaus, dass Robbies Überleben (“he must survive”) erneut mit dem Erreichen von Dünkirchen gleichgesetzt wird (“He wanted only to be walking to the coast”).
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Robbies Fantasie führt dem Rezipienten zusätzlich plastisch vor Augen, wie das Leben des Protagonisten nach seiner Rückkehr aussehen könnte. Als Zwischenfazit kann folglich festgehalten werden, dass sowohl kognitive als auch emotionale Aspekte zur falschen Rekonstruktion des Geschehens in der TAW führen. Als Robbie in Dünkirchen ankommt, scheint für den Rezipienten dessen Überleben und damit dessen Rückkehr nach England gesichert, so dass die Liebenden schließlich zusammengeführt werden. Genau diese Aspekte – Überleben als aktiver Prozess und die Vereinigung der Liebenden – werden im vorletzten Absatz des zweiten Teils noch einmal betont, wenn Robbie reflektiert: “I’ll wait for you was elemental. It was the reason why he had survived. It was the ordinary way of saying she would refuse all other men. Only you. Come back.” (A 264; Hervorhebung im Original) Da Robbies Reflexionen über sein Überleben retrospektiv sind, wird die Gefahr seines (bevorstehenden) Todes weiter verschleiert. Folglich nimmt der Leser an, der zentrale Konflikt des zweiten Teils sei gelöst und Robbie kehre nach England zurück. Das Überleben und die Rückkehr des Protagonisten scheinen in Teil drei bestätigt, in dem Briony schließlich Cecilia und Robbie trifft. Doch auch diese Hypothese beruht auf einer falschen Interpretation des Lesers und baut auf der in Teil zwei getroffenen Inferenz über Robbies Überleben auf. Teil drei wechselt sowohl den Ort des Geschehens als auch die Fokalisierungsinstanz und etabliert einen neuen Konflikt. Im Zentrum des Geschehens steht die mittlerweile 18-jährige Briony, die eine Ausbildung zur Krankenschwester in London angetreten hat, wie der Rezipient bereits in Teil zwei durch einen Brief, den Cecilia an Robbie schreibt, erfährt: She’s saying that she wants to be useful in a practical way. But I get the impression she’s taken on nursing as a sort of penance. […] I keep thinking of her. To go nursing, to cut herself off from her background, is a bigger step for her than it was for me. I had three years at Cambridge at least, and I had an obvious reason to reject my family. She must have her reasons too. […]. (A 212)
In der Tat erfährt der Leser, dass Briony Krankenschwester geworden ist und unter ihrer Schuld leidet. Sie hat den Kontakt zu ihrer Familie weitgehend abgebrochen (A 279) und auf ein Studium verzichtet. Ihren Fehler kann sie nur gutmachen, wenn sie gegenüber Robbie und ihrer Schwester Abbitte leistet und ihre Aussage widerruft. Der zentrale Konflikt des dritten Teils ist somit ebenfalls klar formuliert. Gleichzeitig wird eine Kausalität zwischen den Spannungsfragen aus Teil zwei und drei erkennbar. Aus Sicht des Lesers können Brionys Probleme im dritten Teil erst gelöst werden, wenn Robbie und Cecilia ihr vergeben und sie es schafft, Robbies Ruf wiederherzustellen. Dafür ist aber Grundvoraussetzung, dass
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Robbie den Krieg im zweiten Teil überlebt. Diese Kausalität wird auch an verschiedenen Stellen im Roman explizit gemacht. So bemerkt die fokalisierende Briony im dritten Teil des Romans: “If something happened to Robbie, if Robbie and Cecilia were never to be together … Her secret torment and the public upheaval of war had always seemed separate worlds, but now she understood how the war might compound her crime. […] If he didn’t come back …” (A 288) Am Ende des dritten Teils scheinen die Voraussetzungen für ein happy ending gegeben und die Hypothese bestätigt, dass Robbie den Krieg überlebt hat. Als Briony ihre Schwester besucht und ihr ihre Schuld eingesteht, ist sie erleichtert, dort auf Robbie zu treffen: “Now she had seen him walk across the room, the other possibility, that he could have been killed, seemed outlandish, against all the odds. It would have made no sense.” (A 338) Doch ein genauerer Blick offenbart, dass der Realitätsstatus dieses Treffens in der Schwebe gehalten wird (vgl. Phelan 2005: 334). So heißt es, als Briony sich aufmacht, ihre Schwester zu besuchen: She [Briony] left the café, and as she walked along the Common she found the distance widen between her and another self, no less real, who was walking back towards the hospital. Perhaps the Briony who was walking in the direction of Balham was the imagined or ghostly persona. This unreal feeling was heightened when, after half an hour, she reached another High Street, more or less the same as the one she left behind. (A 329)
Dem Leser werden zwei Versionen des Geschehens angeboten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen, eine Fantasiewelt der Fokalisierungsinstanz Briony und eine Version, die mit der objektiven Realität der TAW korrespondiert (vgl. Phelan 2005: 334). Für den Leser ist jedoch aufgrund der textuellen Daten nicht zu entscheiden, welches Geschehen welcher Sphäre zuzuordnen ist. Besucht Briony ihre Schwester und tut sie dies nur in ihrer Imagination? Wie im zweiten Teil scheint es auch die emotionale Teilnahme am Schicksal der Figuren, die den Leser veranlasst, einen Handlungsverlauf vorzuziehen, in dem Briony Frieden mit Robbie und Cecilia schließen kann. Es scheint, als habe Briony genug gebüßt: Briony hat ihren Fehler eingesehen und möchte ihn gutmachen. Ihre Schuldgefühle gehen so weit, auf eine universitäre Ausbildung zu verzichten und mit ihrer Familie zu brechen. Dass der Leser annimmt, dass es zu dem Treffen zwischen den drei Protagonisten kommt, liegt auch am Titel des Romans Atonement, der suggeriert, dass Briony Abbitte für ihren Fehler leisten kann und damit auch der zentrale Konflikt des dritten Teils gelöst ist.
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Abb. 12: Annahmen des Rezipienten über den Handlungsverlauf in Atonement
2.3 Zum Zusammenspiel ironischer und alterierter Unzuverlässigkeit Um zu zeigen, dass das alteriert-unzuverlässige Erzählen in Atonement mehr als eine narrative Strategie ist, den Rezipienten zu täuschen und zu überraschen, ist es notwendig, das Rezeptionsverhalten des Lesers in den Teilen zwei und drei mit den Mechanismen zu vergleichen, welche die unzuverlässige Fokalisierungsinstanz Briony im ersten Teil des Romans veranlassen, fälschlicherweise Robbie als Vergewaltiger Lolas zu identifizieren. Wie der Rezipient ist auch die unzuverlässige Fokalisierungsinstanz Briony in Teil eins lediglich passive Beobachterin und Interpretierende des Geschehens (sie beobachtet das Geschehen am Brunnen, in der Bibliothek und schließlich die Vergewaltigung in der Nacht). Dabei ist Brionys Wahrnehmung immer eingeschränkt, d. h., die Fokalisierungsinstanz hat entweder keinen Zugang zu allen Informationen oder sie kennt nicht den gesamten Kontext. So betrachtet sie das Geschehen am Brunnen aus einiger Entfernung von einem Fenster aus, versteht aber den Anlass für den Streit nicht (A 38). Darüber hinaus bauen Brionys Hypothesen aufeinander auf: Sinn ergibt der Streit erst, als sie heimlich Robbies obszönen Brief liest. In ihrer kindlichen Unschuld versteht sie die Worte als Ausdruck eines Wahnsinngen, der eine Bedrohung für alle Frauen darstellt. Dass der Brief jedoch auch eine freizügige Liebeserklärung darstellen kann, zieht die kindliche Fokalisierungsinstanz nicht in Betracht. Auf dieser ersten Fehlinterpretation baut auch ihre zweite in der Bibliothek auf: da die Fokalisierungsinstanz Briony Robbie aufgrund des Briefes als Bedrohung wahrnimmt, deutet sie das Geschehen im vagen Licht der Schreibtischlampe als Angriff Robbies, obwohl ihre Augen das
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Geschehen nicht richtig erfassen können. Die alternative Deutungsmöglichkeit, das Geschehen als Liebesspiel zu interpretieren, scheidet daher für Briony aus. Da sich Briony in ihrem Bild der Wirklichkeit durch das Ereignis in der Bibliothek bestätigt fühlt, ist es für sie nur konsequent, dass für Briony als möglicher Vergewaltiger Lolas nur Robbie in Frage kommt. Interessant ist Brionys Schlussfolgerung auch deshalb, da sie den Täter aufgrund der Dunkelheit gar nicht erkennen kann (“The vertical mass was a figure, a person who was now backing away from her and beginning to fade into the darker backgrounds of the trees”, A 164) und ihre Schlussfolgerung sich ausschließlich auf ihre zuvor getätigten Hypothesen stützt.
Abb. 13: Brionys Annahmen über das Geschehen in der TAW in Atonement
Vergleicht man also die Mechanismen der kognitiven Hypothesenbildung bei der unzuverlässigen Fokalisierungsinstanz Briony und die des Rezipienten (s. o.), wird transparent, dass diese nahezu identisch sind. So bauen in beiden Fällen die einzelnen Fehlbewertungen aufeinander auf und steuern jeweils die weitere Wahrnehmung des Geschehens (vgl. Phelan 2005: 333). Während Briony im matten Licht der Bibliothek und in der Dunkelheit der Nacht das Geschehen kaum bzw. gar nicht mehr visuell wahrnehmen kann und ihr Bild der Wirklichkeit
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IX Narrative Unzuverlässigkeit in Ian McEwans Atonement
ausschließlich auf zuvor getroffenen Hypothesen aufbaut, wird dem Rezipienten der Realitätsstatus des Treffens Brionys, Cecilias und Robbies sprachlich auf vergleichbare Weise verschleiert, so dass sich seine Rekonstruktion der erzählten Wirklichkeit ebenfalls nur auf zuvor getätigten falschen Annahmen stützt. Wie beim Rezipienten spielen bei Briony auch emotionale Aspekte bei ihrer falschen Konstruktion des Geschehens eine Rolle. So finden sich verschiedene Anspielungen darauf, dass Briony Robbie deshalb als Bedrohung, als etwas Feindliches wahrnimmt, weil er ihre Liebe nicht erwidert und sich stattdessen für ihre ältere Schwester entscheidet. Diese Möglichkeit wird in Teil zwei explizit dargelegt. Dort erinnert sich Robbie daran, dass Briony in einen Fluss gesprungen ist, um sich von ihm retten zu lassen. Als er das Mädchen schließlich rettet, erkennt er, dass Briony ihn lediglich testen wollte. Sie gesteht ihm nach seiner Tat ihre Liebe, er dagegen ist überrascht und wütend über Brionys Verhalten. Brionys Liebesgeständnis dient Robbie als Ausgangspunkt, um Brionys Verhalten an jenem verhängnisvollen Tag zu erklären: This theory, or conviction, rested on the memory of a single encounter – the meeting at dusk on the bridge. For years he had dwelled on that walk across the park. She would have known he was invited for dinner. There she was, barefoot, in a dirty white frock. That was strange enough. She would have been waiting for him, perhaps preparing a little speech, even rehearsing it loud as she sat on the stone parapet. That was proof of a sort. Even at that time he thought it odd that she did not speak to him. He gave her a letter and she ran off. Minutes later, she was opening it. She was shocked, and not only by the word. In her mind he had betrayed her love by favouring her sister. Then, in the library, confirmation of the worst, at which point, the whole fantasy crashed. First, disappointment and despair, then a rising bitterness. Finally, an extraordinary opportunity in the dark, during the search for the twins, to avenge herself. (A 233)
Diese Passage ist höchst komplex in Bezug auf die metarepräsentationalen Ebenen. Robbie versucht, sich in Briony hineinzudenken und ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Robbies Deutung entspricht nicht den Gedanken der Fokalisierungsinstanz Briony in Teil eins: dort erfährt der Leser nichts von Brionys Gefühlen gegenüber Robbie. Jedoch muss bedacht werden, dass die 77-jährige Briony die Autorin des intradiegetischen Romans ist. Dies bedeutet, dass sich die gealterte Autorin selbst in Robbie hineinversetzt (der sich wiederum in die junge Briony hineinversetzt) und damit die Möglichkeit der verletzten Gefühle und des Rachemotivs ins Spiel bringt. Die Autorin bzw. intradiegetische Erzählerin Briony benutzt folglich die Figur Robbies als Medium, um ihrem eigenen Unterbewusstsein Ausdruck zu verleihen. Wie plausibel diese Deutung ist, wird offensichtlich angesichts der Bedeutung der Rettungsszene für Briony. So heißt es in Teil eins: “She herself had written a
3 Fazit
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tale in which a humble woodcutter saved a princess from drowning and ended by marrying her.” (A 38) Unterstützt wird Robbies These auch dadurch, dass das von Briony in Teil eins geschriebene Theaterstück The Trials of Arabella klare Referenzen auf sie und Robbie beinhaltet. So wird die Protagonistin Arabella von einem verarmten Arzt (der sich als verkleideter Prinz entpuppt) gerettet, bevor sie diesen heiratet (A 3). Die Figur des Arztes erscheint Robbie nachempfunden, der ebenfalls aus sozial schwachen Verhältnissen stammt und Medizin studiert, um Arzt zu werden. Gleichzeitig setzt Briony sich mit der titelgebenden Protagonistin gleich: “She was not playing Arabella because she wrote the play, she was taking the part because no other possibility had crossed her mind, because that was how Leon was to see her, because she was Arabella.” (A 13). Folglich kann angenommen werden, dass bei Brionys Fehlinterpretation bzw. falscher Wahrnehmung auch emotionale Aspekte eine Rolle spielen. Da sie die Liebesbeziehung zwischen ihrer Schwester und Robbie erkennt, konstruiert sie eine Realität, in welcher der junge Mann eine Bedrohung darstellt.
3 Fazit Ziel dieses Kapitels war es, das metakognitive Funktionspotenzial narrativer Unzuverlässigkeit aufzuzeigen. Dabei wurde die These aufgestellt, dass ironische, ambige und alterierte Unzuverlässigkeit in unterschiedlicher Weise den Fokus des Lesers auf kognitive Prozesse lenken. Während bei ironischer Unzuverlässigkeit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Sinngenerierungsprozesse einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz kanalisiert wird, überprüft der Rezipient bei alterierter Unzuverlässigkeit in höherem Maße eigene kognitive Prozesse. Bei ambiger Unzuverlässigkeit überwacht und reflektiert der Rezipient sowohl die Sinngenerierungsprozesse des fiktionalen kognitiven Zentrums als auch die eigenen. Um das metakognitive Funktionspotenzial narrativer Unzuverlässigkeit zu illustrieren, wurde Ian McEwans Roman Atonement analysiert, in welchem sowohl ironische als auch alterierte Unzuverlässigkeit auftauchen. Dabei wurde gezeigt, dass die ironische Unzuverlässigkeit im ersten Teil des Romans die Aufmerksamkeit auf die kognitiven Prozesse verschiedener Fokalisierungsinstanzen (Cecilia, Robbie und Briony) lenkt, mit denen diese jeweils falsche Bilder von anderen Figuren und dem Geschehen konstruieren. Von besonderer Bedeutung ist die fehlerhafte Wahrnehmung von Briony, durch die sie das Leben Robbies und Cecilias zerstört. Dabei werden Brionys Narrativisierungsprozesse in einen detaillierten Kontext gestellt und es wird aufgezeigt, welche verschiedenen Faktoren Einfluss auf ihre Wahrnehmung des Geschehens haben. Zudem arbeitet der Roman mit alterierter Unzuverlässigkeit, welche den Fokus des Rezipienten auf
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IX Narrative Unzuverlässigkeit in Ian McEwans Atonement
die eigenen Wahrnehmungs- bzw. Rezeptionsprozesse lenkt. So muss der Leser erkennen, dass er trotz verschiedener Hinweise zunächst nicht erkannt hat, dass keine heterodiegetische Erzählinstanz das Geschehen schildert, sondern dass Briony die intradiegetische Erzählerin des Romans ist. Die Erkenntnis, dass Briony die Verfasserin des zuvor Gelesenen war, führt dazu, dass der Leser retrospektiv ein intratextuelles Kontextmodell entwerfen muss. Dies macht dem Leser bewusst, dass Erzählungen nicht autonom existieren, sondern grundsätzlich das Produkt einer kognitiven Leistung sind. Auch muss der Rezipient den Wahrheitsgehalt aller vorangegangenen Informationen hinterfragen. Wie kann Briony beispielsweise wissen, was in Robbies oder Cecilias Kopf vorgegangen ist? Mit der Konstruktion des intratextuellen Kontextmodells rückt für den Leser die Frage nach der Intention der Erzählerin in den Vordergrund und damit verbunden die spezifischere Frage, ob oder wie Briony durch ihren Roman tatsächlich Abbitte leisten kann. Zudem bezieht sich die alterierte Unzuverlässigkeit auf das scheinbare happy ending, in dem Robbie und Cecilia den Krieg überleben und als Liebespaar zusammenleben. Wie gezeigt wurde, entwirft der Leser trotz zahlreicher entgegenstehender Hinweise aufgrund der Bildung eines falschen Handlungskonflikts, einer emotionalen Teilnahme am Geschehen und der Gattungserwartungen ein positives Ende der Geschichte. Stellt man demnach die kognitiven Prozesse Brionys und des Lesers gegenüber, wird deutlich, dass beide auf der Basis ähnlicher Mechanismen ein falsches Bild des fiktionalen Geschehens erschaffen. Genau wie sich Briony trotz entgegenstehender Tatsachen ein Narrativ konstruiert, in dem sie die Heldin und Robbie der Schurke ist, entwickelt der Leser entgegen widersprechenden Hinweisen ein happy ending für das Liebespaar. Dies wirft verschiedene Fragen auf. Zum einen in Bezug auf die moralische Bewertung von Brionys Verhalten im ersten Teil des Romans. War der Leser bei der ironisch-unzuverlässigen Fokalisierung Brionys im ersten Teil des Romans geneigt, ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten kritischdistanziert zu sehen, muss er durch die alterierte Unzuverlässigkeit erkennen, dass er selbst nicht fehlbar ist (Phelan 2005: 335). Zum anderen stellt sich für den Leser die Frage, ob oder besser auf welche Art Briony Abbitte durch ihren Roman leisten kann. Briony kann aus juristisch-ökonomischen Gründen nicht zu Lebzeiten das wahre Geschehen veröffentlichen und Robbies Ruf wiederherstellen. Nach dem Tod aller Beteiligten aber, so Brionys These, ist es dem Leser egal, was tatsächlich geschehen ist. Der Leser möchte bei seiner Lektüre unterhalten werden und erwartet am Ende des Romans eine poetische Gerechtigkeit. Dass diese These durchaus zutrifft, wird dem Leser klar, da er selbst wollte, dass Robbie und Cecilia zusammenfinden und Frieden mit Briony schließen. Briony hat dem Leser genau die Informationen gegeben, mit denen er die von ihm gewünschte Geschichte konstruieren kann.
X Zusammenfassung und Ausblick Unzuverlässiges Erzählen ist eines der meistdiskutierten Problemfelder der Erzähltheorie. Die Diskussionen kreisen um verschiedene Fragen: Was bedeutet Unzuverlässigkeit im narrativen Kontext? Welche Fälle können darunter subsumiert werden? Welche Arten des unzuverlässigen Erzählens können unterschieden werden? Was ist der Maßstab für das (Un-)Zuverlässigkeitsurteil? Wie kann unzuverlässiges Erzählen erklärt werden? Bislang fehlte es an einer Arbeit, die sich systematisch diesen verschiedenen Fragestellungen annimmt. Da unzuverlässiges Erzählen (bzw. unreliable narration) ein zu enger Begriff für die höchst vielfältigen Erscheinungsformen des Phänomens ist, der den Akt des Erzählens einseitig hervorhebt, wurde dieser Arbeit das Konzept der narrativen Unzuverlässigkeit zugrunde gelegt. Durch diese terminologische Ausweitung ist es möglich, verschiedenste Ausprägungen wie etwa die (ironisch-)unzuverlässige Fokalisierung mit zu erfassen. Dies ermöglicht einen breiteren und differenzierten Blick auf die Vielfalt von unreliability in fiktionalen Erzähltexten. Die vorliegende Arbeit widmet sich den oben skizzierten Fragen in systematischer Reihenfolge. In Kapitel II wurde zunächst der Frage nachgegangen, was Unzuverlässigkeit im narratologischen Sinne bedeutet. Differenziert wurden drei Bedeutungen. Erstens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal einer Erzählerfigur oder einer Fokalisierungsinstanz bezeichnen, welches in einer zweifelhaften Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung des Geschehens in der fiktionalen Welt zum Ausdruck kommt. Da bei diesem Typus dramatische Ironie zulasten des kognitiven Zentrums vorliegt, wurde dieser als ironische Unzuverlässigkeit bezeichnet. Zweitens kann Unzuverlässigkeit als Merkmal des Erzähldiskurses verstanden werden, der den Leser darüber im Unklaren lässt, ob der Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung einer Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz zu trauen ist oder nicht. Da es eine Ambiguität bzgl. der (Un-)Zuverlässigkeit des kognitiven Zentrums gibt, die der Leser nicht auflösen kann, wurde dieser Typus ambige Unzuverlässigkeit genannt. Drittens kann Unzuverlässigkeit ein Merkmal des Erzähldiskurses bezeichnen, welchen den Leser in die Irre führt. Charakteristisch für diese Art der Unzuverlässigkeit ist ihre manipulative Informationsvergabe, die den Leser zunächst dazu bringt, ein falsches Bild vom Geschehen in der erzählten Welt zu entwerfen. Mit Rückgriff auf Genettes Konzept der Alteration wurde dieser Fall als alterierte Unzuverlässigkeit bezeichnet. Darüber hinaus wurde ein Repertoire weiterer Kategorien bereitgestellt, um ironisch-unzuverlässige, ambig-unzuverlässige und alteriert-unzuverlässige Werke genauer zu unterscheiden und terminologisch zu beschreiben. Nachdem in Kapitel II verschiedene Typen narrativer Unzuverlässigkeit vorgestellt wurden, widmete sich Kapitel III existierenden Beschreibungs- und https://doi.org/10.1515/9783110557619-011
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X Zusammenfassung und Ausblick
Erklärungsmodellen narrativer Unzuverlässigkeit, wobei festgehalten werden muss, dass sich bisherige Modelle fast ausschließlich auf ironische Unzuverlässigkeit beschränken. Im Zentrum des Kapitels standen zwei für ein Beschreibungs- und Erklärungsmodell wesentliche Fragen: Erstens wurde der Frage nachgegangen, was den Maßstab für Unzuverlässigkeit darstellt. Dabei wurden zwei Positionen unterschieden. Einige Erzähltheoretiker nehmen die Werte und Normen des impliziten Autors als Maßstab, während andere das Geschehen in der erzählten Welt als Gradmesser ansehen. Anhand verschiedener Beispiele wurde gezeigt, dass die erzählte Welt der wesentliche Maßstab für jedes Unzuverlässigkeitsurteil ist, während die ethisch-moralische Bewertung eine optionale Größe darstellt. Der Leser kann nur bewerten, ob die Darstellung und das Verhalten der Erzählerfigur mit den Werten und Normen des impliziten Autors übereinstimmen oder nicht, wenn er bestimmen kann, was in der erzählten Welt passiert. Nachdem der Maßstab für narrative Unzuverlässigkeit definiert wurde, stellte sich zweitens die Frage, wie narrative Unzuverlässigkeit erklärt werden kann. Es wurde gezeigt, dass gerade das Konzept der erzählten Welt ein Problem für Erklärungsmodelle darstellt. In der klassischen Narratologie wird auf der einen Seite angenommen, dass der Erzähler den alleinigen Zugang zur erzählten Welt bietet. Auf der anderen Seite fungiert die erzählte Welt gleichzeitig als Gradmesser zur Bestimmung der Zuverlässigkeit einer Erzählerfigur. Wie kann der Leser dann bestimmen, ob eine Erzählerfigur zuverlässig das Geschehen in der erzählten Welt schildert oder nicht? Wie gezeigt wurde, weichen viele Erklärungsmodelle diesem Problem aus, indem sie metaphorische Umschreibungen verwenden, beispielsweise von einer „geheimen Kommunikation hinter dem Rücken des Erzählers“ sprechen. Um dieses Problem zu lösen, wurde in Kapitel IV auf Grundlage der literaturwissenschaftlichen possible-worlds theory ein Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit entwickelt, welches gleichsam die Basis für ein Erklärungsmodell bildet. Als besonders nützlich erweist sich die Unterscheidung der possible-worlds theory zwischen intrauniversen Relationen (Relationen zwischen verschiedenen Welten innerhalb eines fiktionalen Universums) und transuniversen Relationen (Relationen zwischen der Welt des Lesers und der fiktionalen Universen). Auf Grundlage der intrauniversen Relationen wurde ein Beschreibungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit entworfen. Dabei wurde von der Prämisse ausgegangen, dass (fiktionale) Erzählungen sowohl eine objektive Realität (die sogenannte textual actual world oder TAW) als auch verschiedene subjektive, figurenabhängige Vorstellungen dieser Realität (sogenannte Figurenwelten) entwerfen. Da die Terminologie der possible-worlds theory jedoch nicht hinreichend zwischen subjektiven Welten unterscheidet, wurde der Vorschlag gemacht, diese zu erweitern und zwischen Erzähler-, Fokalisierer-, Figuren- und Adressatenwelten zu differenzieren.
X Zusammenfassung und Ausblick
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Als zentrales Merkmal narrativer Unzuverlässigkeit wurde das Auftreten von Weltkonflikten identifiziert. Weltkonflikte entstehen, wenn sich die Darstellung oder die Bewertung einer Erzählerfigur (also die Erzählerwelt) bzw. die Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz (also die Fokalisiererwelt) nicht mit den Geschehnissen in der TAW decken oder sich Diskrepanzen zu den subjektiven Welten von anderen Erzählern, Fokalisierungsinstanzen, Adressaten oder Figuren offenbaren. Auf Grundlage dieser Überlegungen wurden mögliche Konstellationen von Weltkonflikten anhand kurzer Beispiele skizziert. Gleichzeitig fungiert dieses entwickelte Beschreibungsmodell als Grundlage für ein Erklärungsmodell. Entgegen der Annahme der klassischen Narratologie kann die possible-worlds theory mitsamt dem Konzept der verschiedenen Welten darlegen, dass der Leser bei der Rekonstruktion der TAW nicht allein auf die Darstellung der Erzählerfigur angewiesen ist. Vielmehr können auch subjektive Weltentwürfe von Fokalisierungsinstanzen, Adressaten oder anderen Figuren vom Rezipienten herangezogen werden, um zu bestimmen, was in der TAW der Fall ist. Gerade durch Weltkonflikte, so die Annahme, können die Darstellungen einer Erzählerfigur oder die Wahrnehmungen einer Fokalisierungsinstanz in Zweifel gezogen werden. Von dieser These ausgehend wurden verschiedene Aspekte bei der Rezeption ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit unterschieden: (1) Das Erkennen und Unterscheiden von Welten, (2) das Erkennen von Weltkonflikten, (3) das Hierarchisieren von Welten und das Auflösen von Weltkonflikten sowie (4) die Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Welten. Bei ironischer Unzuverlässigkeit identifiziert der Rezipient eine Erzähler- und/oder Fokalisiererwelt, erkennt Weltkonflikte, hierarchisiert diese zulasten des kognitiven Zentrums und findet Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den Welten (etwa, dass er der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz einen kognitiven oder moralischen Makel zuschreibt). Bei ambiger Unzuverlässigkeit erkennt der Rezipient ebenfalls eine Erzähler- und/oder Fokalisiererwelt, kann aber nicht eindeutig entscheiden, ob Weltkonflikte vorliegen, bzw. kann die erkannten Weltkonflikte nicht hierarchisieren. Aus diesem Grund kann er sich kein eindeutiges Bild von der Erzählerfigur oder der Fokalisierungsinstanz machen. Bei alterierter Unzuverlässigkeit hingegen konstruiert der Leser aus verschiedenen Gründen zunächst ein falsches Bild des fiktionalen Universums. Denkbar ist, dass der Leser irrtümlicherweise nicht erkennt, dass das Geschehen durch eine Erzähler- oder Fokalisiererwelt gefiltert ist, dass er Weltkonflikte nicht wahrnimmt, diese falsch hierarchisiert oder falsche Erklärungen für die Diskrepanzen zwischen den Welten findet. Diese Annahmen führten zu der grundsätzlichen Frage, wie im Kopf des Lesers fiktionale Welten entstehen. Wie konstruiert der Leser Vorstellungen von der TAW, von den Erzähler-, Adressaten-, Fokalisierer- und Figurenwelten? Wie erkennt und unterscheidet der Leser die verschiedenen Welten? Wie erkennt der Leser Weltkonflikte?
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X Zusammenfassung und Ausblick
Kapitel V widmete sich der Beantwortung dieser Fragen und skizzierte allgemein kognitionspsychologische Theorien zum Textverstehen und der Sinngenerierung. Da sich die possible-worlds theory primär mit dem Produkt von Rezeptionsprozessen beschäftigt und daher nicht hinreichend erklären kann, wie ein fiktionales Universum samt der verschiedenen Welten im Kopf des Rezipienten entsteht, kann sie nicht als alleinige Grundlage für ein Erklärungsmodell narrativer Unzuverlässigkeit dienen. Aus diesem Grund wurden in Kapitel V die Konzepte der possible-worlds theory mit denen der kognitiven Narratologie verknüpft und damit ein Vorschlag von Nünning (2008) aufgegriffen. In einem ersten Schritt wurde gezeigt, dass beide Ansätze sich mit demselben Untersuchungsgegenstand beschäftigen, aber eine andere Terminologie gebrauchen. In einem zweiten Schritt wurden Prämissen der Textverstehensforschung dargelegt. Dabei wurden zunächst verschiedene Arten mentaler Modelle vorgestellt, die ein Leser bei der Rezeption fiktionaler Literatur in unterschiedlicher Ausprägung bildet und die in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Zum einen bildet der Leser ein mentales Modell vom Geschehen in der TAW – ein sogenanntes Situationsmodell. Zum anderen bildet der Leser bei einer homodiegetischen Erzählerfigur ein mentales Modell der Situation, in dem der Erzähler seine Geschichte darbietet – ein intratextuelles Kontextmodell. Typischerweise bildet der Rezipient bei der Lektüre fiktionaler Literatur auch ein mentales Modell des Autors und des sozio-historischen Kontextes der Entstehungszeit. Dieses wurde als extratextuelles Kontextmodell bezeichnet. Nach diesen allgemeinen Darstellungen wurde erläutert, wie der Rezipient durch die Verarbeitung textueller Daten und die Aktivierung von Wissensstrukturen mentale Modelle entwirft.398 Dabei wurde im Einzelnen dargelegt, wie der Leser mentale Modelle der TAW, der Figuren-, Fokalisierer-, Erzähler- und Adressatenwelten sowie des Autors bildet. Bei der Bildung mentaler Modelle einer TAW spielt die vom Leser unterstellte storyworld logic eine zentrale Rolle, da diese bestimmt, was innerhalb des fiktionalen Universums möglich ist und was nicht. Bei der Bildung mentaler Modelle von Figurenwelten wurde zunächst zwischen der Zuschreibung von langfristigen Figureneigenschaften und kurzfristigen mentalen Zuständen differenziert. Obwohl kurzfristige mentale Zustände das sind, was Vertreter der possible-worlds theory als Figurenwelten bezeichnen, wurde auch auf die Zuschreibung von langfristigen Figureneigenschaften eingegangen (da diese auf die Zuschreibung von mentalen Zuständen einwirken). Als
398 Nach der constructionist theory greift der Leser im besonderen Maße auf Inferenzbildung zurück, wenn er Kohärenz erzeugen oder Erklärungen für formale oder inhaltliche Auffälligkeiten finden muss.
X Zusammenfassung und Ausblick
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wesentliche Prozesse bei der Zuschreibung langfristiger Persönlichkeitsmerkmale wurden Kategorisierung und Personalisierung identifiziert. Essenziell für das Attestieren kurzfristiger mentaler Zustände von Figuren ist das sogenannte mind-reading. Dabei schließt der Leser vom Verhalten einer Figur auf deren inneren Zustände. Dafür ist wiederum erforderlich, dass der Leser einen narrativen Kontext (eine sogenannte Kausalgeschichte) generiert, in dem das Verhalten plausibel erscheint. Nach diesen allgemeinen Beschreibungen zur Bildung mentaler Modelle von Figurenwelten wurde auf die Unterschiede bei der Bildung mentaler Modelle von Fokalisiererwelten und Erzählerwelten hingewiesen. Es wurde hervorgehoben, dass der Rezipient direkte Einblicke in die Gedankenwelt von Fokalisierungsinstanzen hat, weshalb mind-reading in diesem Fall wörtlich verstanden werden kann. Der Rezipient kann unmittelbar verfolgen, wie eine Fokalisierungsinstanz ihr eigenes Bild der erzählten Wirklichkeit konstruiert und eigenständige Bilder von anderen Figuren mithilfe von Kategorisierungs-, Personalisierungs- und Mind-reading-Prozessen entwirft. Bei der Bildung mentaler Modelle von Erzählerwelten dagegen muss der Leser in besonderem Maße verschiedene Aspekte des intratextuellen Kontextmodells berücksichtigen (etwa den Ort, den Zeitpunkt und den Adressaten des Erzählten). In einem weiteren Schritt wurden in Kapitel V die metarepräsentionalen Fähigkeiten des Lesers erläutert, die es ihm erlauben, Informationen unterschiedlichen Quellen zuzuweisen und auf diese Weise die verschiedenen Welten im fiktionalen Universum zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang wurde auch erläutert, dass ein Leser nicht unreflektiert alle textuellen Informationen in ein mentales Modell übernimmt. Vielmehr bestimmt der Leser mithilfe von source-monitoring den Wahrheitsgehalt einer Information auf Grundlage ihrer Quelle. Diese Fähigkeiten erlauben dem Leser trotz widersprüchlicher textueller Daten kohärente mentale Modelle zu bilden. Abgeschlossen wurde das Kapitel mit einer Betrachtung der Auswirkung der sukzessiven Informationsvergabe auf die Bildung mentaler Modelle. Mentale Modelle sind holistische Produkte, die dem Leser bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Lektüre Annahmen und Hypothesen ermöglichen. Gleichwohl elaboriert, modifiziert oder revidiert der Leser bei der Lektüre mentale Modelle im Lichte neuer Informationen. Darüber hinaus kann die Informationsvergabe auch strategisch eingesetzt werden, um beim Leser Spannung oder Neugier hervorzurufen. Diese Emotionen haben ihrerseits Auswirkungen auf die Rezeption, indem sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein in der Zukunft stattfindendes oder in der Vergangenheit liegendes Ereignis lenken und Einfluss auf andere Faktoren wie etwa die Lesegeschwindigkeit haben. Auf Basis dieser Prämissen wurden in den folgenden Kapiteln rezeptionstheoretische Erklärungsmodelle ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit entworfen. Voraussetzung für ironische Unzuverlässigkeit ist, wie in
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Kapitel VI argumentiert wurde, dass der Rezipient erstens erkennt, dass das Geschehen in der TAW durch eine Erzähler- oder Fokalisiererwelt gefiltert wird. Hier spielen besonders die metarepräsentationalen Fähigkeiten des Lesers eine Rolle. Darüber hinaus muss der Leser zweitens erkennen, dass es implizite oder explizite Konflikte zwischen der Erzähler- oder Fokalisiererwelt und anderen Welten im fiktionalen Universum gibt. Der Leser erkennt explizite Weltkonflikte, wenn er textuelle Widersprüche ausmacht und davon ausgeht, dass diese intentional vom Autor gesetzt wurden. Implizite Weltkonflikte konstruiert der Leser durch mind-reading, indem er aus dem Verhalten anderer Figuren folgert, dass diese das Geschehen anders wahrnehmen oder bewerten als die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz. Das Erkennen eines Weltkonflikts führt dazu, dass der Leser die Darstellung der Erzählerfigur oder die Wahrnehmung der Fokalisierungsinstanz in Zweifel zieht. Drittens muss er andere Welten im fiktionalen Universum für glaubhafter halten als die Erzähler- oder Fokalisiererwelt. Dies ist abhängig davon, welche mentalen Modelle der Leser von den verschiedenen Aktanten im fiktionalen Universum gebildet hat. Viertens muss der Leser eine Erklärung finden, warum die Erzählerfigur oder die Fokalisierungsinstanz das Geschehen falsch darstellt bzw. wahrnimmt. Erklärungen können dabei entweder im Text explizit gegeben sein oder müssen vom Leser durch Inferenzbildung selbst eruiert werden. Anhand von Charles Dickens’ David Copperfield und Kazuo Ishiguros The Remains of the Day wurde gezeigt, wie das semantische Beschreibungs- und das rezeptionstheoretische Erklärungsmodell ironischer Unzuverlässigkeit für die Analyse nutzbar gemacht werden können. Bei der Untersuchung von Charles Dickens’ Roman wurde zunächst illustriert, wie die Abnahme von Weltkonflikten im Laufe des Romans die Entwicklung des Protagonisten von einer ironisch-unzuverlässigen Fokalisierungsinstanz zu einer zuverlässigen Erzählerfigur inszeniert. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass Weltkonflikte während Davids Kindheit und Jugend in für den Plot irrelevanten Episoden auftreten. Dadurch wird in diesen Kapiteln die Aufmerksamkeit des Lesers auf die unschuldige Naivität des Jungen und die erbarmungslose Umwelt Davids gelegt, die ihn ohne sein Wissen gnadenlos ausnutzt. In den Kapiteln von Davids Adoleszenz und Erwachsenenalter dagegen hat die fragwürdige Wahrnehmung erhebliche Konsequenzen für den Plot und negative Auswirkungen auf andere Figuren. Obwohl David – wie gezeigt wurde – durch seine fragwürdige Wahrnehmung eine (Teil-)Schuld am Schicksal anderer Figuren trägt, reflektiert der Erzähler seine eigene Verantwortung im Geschehen kaum. Dies führte zu der Frage, ob der Leser den Erzähler nicht womöglich auch als ironisch-unzuverlässig begreifen könnte, weil Letzterer sich und sein Leben möglicherweise zu positiv darstellt. Obwohl dies nicht ausgeschlossen werden kann, zeigt sich an der Rezeption des Romans, dass David
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allgemein als zuverlässiger Erzähler wahrgenommen wird. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass es keine Weltkonflikte bzgl. seiner vermeintlichen Schuld im Roman gibt. In Kazuo Ishiguros The Remains of the Day dagegen kann sich der Erzähler nicht mit neuen Realitäten abfinden. Dies ist daran abzulesen, dass der Protagonist Stevens sowohl als Erzählerfigur als auch als Fokalisierungsinstanz ironisch-unzuverlässig ist. Stevens entwirft ein Narrativ seines Lebens, in dem er ein great butler ist. Um ein great butler sein zu können, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Er muss dignity zeigen und er muss einem Arbeitgeber dienen, welcher sich der Menschheit verdient gemacht hat. Durch eine Vielzahl expliziter Weltkonflikte wird dem Leser jedoch wiederholt vor Augen geführt, dass Stevens’ Konzept von dignity höchst problematisch ist, da es zur Selbstverleugnung eigener Standpunkte und Gefühle führt und darüber hinaus auf faschistoiden Prämissen beruht. Explizite Weltkonflikte lassen den Leser ferner gewahr werden, dass Stevens’ früherer Arbeitgeber Lord Darlington sich nicht um die Menschheit verdient gemacht hat, sondern vielmehr ein Antisemit und Faschist war. Durch eine Analyse des Zusammenspiels der verschiedenen Weltkonflikte wurde überdies gezeigt, dass Stevens sich bei seinem Versuch, die Deutungshoheit über sein Narrativ zu behalten, zusehends in Widersprüche verstrickt – ein Indiz dafür, dass er bestimmte Wahrheiten nicht anerkennen will. Kapitel VII skizzierte den Entwurf eines rezeptionstheoretischen Erklärungsmodells ambiger Unzuverlässigkeit. Dieses kann dann angenommen werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens ist dem Leser wie bei ironischer Unzuverlässigkeit bewusst, dass das Geschehen aus einer Erzähler- oder Fokalisiererwelt dargestellt wird. Zweitens ist für den Rezipienten teilweise nicht eindeutig entscheidbar, ob explizite oder implizite Konflikte zwischen der Erzähler- oder Fokalisiererwelt und anderen Welten vorliegen. Bei expliziten Weltkonflikten kann dies auf die Unsicherheit des Rezipienten zurückgeführt werden, zu entscheiden, ob ein Autor bestimmte textuelle Widersprüche intentional gesetzt hat oder nicht. Beim Erkennen impliziter Weltkonflikte kann das Problem auftreten, dass das Verhalten anderer Figuren mehrdeutig ist, so dass der Leser unsicher ist, was die entsprechende Figur denkt oder fühlt. Auch kann die Bestimmung der storyworld logic problematisch sein, so dass der Leser nicht sicher entscheiden kann, was innerhalb der TAW möglich ist und was nicht. Drittens kann der Leser bei ambiger Unzuverlässigkeit erkannte Weltkonflikte nicht eindeutig auflösen, so dass nicht entscheidbar ist, welche Welt den Tatsachen im fiktionalen Universum entspricht. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die in Konflikt stehenden Welten im gleichen Maße (nicht) vertrauenswürdig erscheinen. Aus diesem Grund kann der Leser viertens kein eindeutiges Bild des kognitiven Zentrums bilden, da unklar bleibt, ob dieses das Geschehen adäquat darstellt bzw. wahrnimmt.
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Diese Schwierigkeiten bei der Rezeption ambig-unzuverlässiger Werke wurden anhand von Ford Madox Fords The Good Soldier und Bret Easton Ellis’ American Psycho veranschaulicht. Bei der Analyse von The Good Soldier wurde demonstriert, wie die Erzählerfigur Dowell sich durch explizite Weltkonflikte von ihren früheren Ansichten durch ironisch-unzuverlässige Fokalisierung distanziert und ihre eigenen Defizite beim mind-reading und source-monitoring reflektiert. Gleichzeitig entwirft sie ein neues Narrativ des Geschehens – dabei ist sie jedoch erneut auf andere Quellen sowie auf mind-reading angewiesen. Dowell entwirft Fokalisiererwelten der beteiligten Figuren und erkennt deutliche Konflikte zwischen ihnen. Aus diesem Grund ist es ihm nicht möglich, ein Narrativ des Geschehens zu konstruieren. Diese Einsicht verbietet es ihm, das Verhalten der beteiligten Figuren moralisch zu bewerten. Für den Leser stellt sich jedoch die Frage, ob Dowell tatsächlich gereift und damit ein zuverlässiger Erzähler ist. Die Unmöglichkeit zu bestimmen, ob Dowell unzuverlässig ist oder nicht, wurde in Bezug auf verschiedene Faktoren hin untersucht – in Bezug auf die moralische Bewertung des Geschehens, auf die Rekonstruktion des Geschehens sowie auf die Rekonstruktion der verschiedenen Fokalisiererwelten. Es zeigte sich, dass der Leser auf höchst unterschiedliche Weise die expliziten Weltkonflikte auflösen kann, was jeweils eine andere Bewertung der Zuverlässigkeit Dowells zur Folge hat. Eine weitere Schwierigkeit besteht für den Rezipienten darüber hinaus darin, verschiedene textuelle Widersprüche aufzulösen. Sind diese Unachtsamkeiten des Autors Ford Madox Ford oder sind sie Weltkonflikte und damit Ausdruck der Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur? Als zweites Beispiel für ambige Unzuverlässigkeit wurde Bret Easton Ellis’ American Psycho eingehend analysiert. Die Unmöglichkeit für den Leser, die (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers Patrick Bateman zu bestimmen, wurde auf zwei Faktoren zurückgeführt. Zum einen kann der Rezipient die expliziten Weltkonflikte bzgl. des (vermeintlichen) Mordes an Paul Owen nicht auflösen, da sowohl Bateman als Quelle als auch die anderen Figuren gleichsam (un) glaubwürdig erscheinen. Zum anderen kann der Leser nicht eindeutig erkennen, ob implizite Weltkonflikte vorliegen oder nicht. So ist das Verhalten der verschiedenen Figuren gegenüber Bateman höchst ambivalent, so dass die Gründe für ihr Verhalten nicht eindeutig zu ermitteln sind. Ein anderes Problem für den Leser ist die Bestimmung der storyworld logic. Durch die Streuung intertextueller Referenzen und die intermedialen Bezugnahmen bleibt unklar, inwieweit die TAW mit der Erfahrungswelt des Lesers übereinstimmt. Insofern kann der Leser nicht eindeutig auflösen, ob das von Bateman geschilderte Geschehen in der TAW möglich wäre. Als letzter Fall wurden die Voraussetzungen für alterierte Unzuverlässigkeit in Kapitel VIII erläutert. Gründe dafür, warum der Leser zunächst ein falsches mentales Modell vom Geschehen in der TAW rekonstruiert, welches er retrospek-
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tiv revidieren muss, können mannigfaltig sein. Ein möglicher Grund ist, dass der Rezipient zunächst nicht erkennt, dass das Geschehen im fiktionalen Universum durch eine Erzähler- oder Fokalisiererwelt gefiltert ist. Zweitens ist denkbar, dass er implizite Weltkonflikte zunächst nicht erkennt, so dass er die Darstellung einer Erzählerfigur oder die Wahrnehmung einer Fokalisierungsinstanz nicht in Zweifel zieht. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass er aufgrund falscher Kausalgeschichten das Verhalten anderer Figuren fehlinterpretiert oder dass er falsche Vorstellungen von der storyworld logic der TAW hat. Eine dritte Ursache für die fehlerhafte Konstruktion des fiktionalen Universums kann darin begründet liegen, dass der Rezipient die Erzähler- oder Fokalisiererwelten und die anderen Welten falsch hierarchisiert. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Leser die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Figuren falsch einschätzt. Ein vierter Grund kann darin liegen, dass der Leser falsche Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den in Konflikt stehenden Welten findet. Diese verschiedenen Möglichkeiten wurden anhand der Analysen von Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ und Chuck Palahniuks Fight Club erläutert. Bei der Analyse von Bierces Kurzgeschichte wurden zunächst die verschiedenen impliziten und expliziten Weltkonflikte präsentiert, auf deren Grundlage ein Leser erkennen könnte, dass die „Flucht“ des Protagonisten in Wirklichkeit nur in seinem Kopf stattfindet. Dass der Leser trotz dieser Hinweise von der Auflösung am Ende der Geschichte überrascht ist, wurde auf verschiedene Faktoren zurückgeführt. Wesentlich für die Rezeption ist die Informationsvergabe, die zur Generierung von Spannung und zur emotionalen Teilhabe am Schicksal des Protagonisten führt. Die Spannung und die emotionale Bindung zum Protagonisten haben zur Folge, dass der Leser einzelne entgegenstehende Hinweise bei der ersten Lektüre nicht angemessen würdigt, da er möchte, dass der Protagonist überlebt. Mit Bezug auf die Weltkonflikte wurde zum einen gezeigt, dass der Leser für die expliziten Weltkonflikte während der Flucht des Protagonisten falsche Erklärungen findet. Statt diese mit einem Traum zu erklären, werden sie vielmehr auf Strapazen und den Überlebensdrang des Protagonisten zurückgeführt. Zum anderen erkennt der Leser bei der ersten Lektüre die impliziten Weltkonflikte nicht, weil er falsche Annahmen über die storyworld logic der TAW aufstellt. Bei der Analyse von Palahniuks Fight Club stellte sich die zentrale Frage, warum der Leser zunächst nicht merkt, dass der Antagonist Tyler nur im Kopf der Erzählerfigur bzw. der Fokalisierungsinstanz existiert. Zunächst wurde die manipulative Informationsvergabe im ersten Kapitel untersucht. Es wurde gezeigt, dass der Leser einen falschen Handlungskonflikt konstruiert, welcher die Bildung weiterer mentaler Modelle im Laufe der Rezeption beeinflusst. So erkennt der Leser zahlreiche implizite Weltkonflikte nicht, weil er das Verhalten verschiedener Figuren falsch interpretiert. Darüber hinaus wurde der plot twist analysiert
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und gezeigt, wie die Glaubwürdigkeit der Fokalisierungsinstanz durch drei explizite Weltkonflikte untergraben wird und wie der Roman Erklärungen bereithält, warum die Fokalisierungsinstanz (ähnlich wie der Leser) nicht erkannt hat, dass der Protagonist und Tyler dieselbe Person sind. Abgeschlossen wurde die Arbeit in Kapitel IX mit einer Betrachtung der Funktionspotenziale narrativer Unzuverlässigkeit. Es wurde die These aufgestellt, dass narrativer Unzuverlässigkeit ein großes metakognitives Potenzial innewohnt. Es wurde argumentiert, dass bei ironischer Unzuverlässigkeit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die kognitiven Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion von Erzählerfiguren und Fokalisierungsinstanzen gelenkt wird. Bei ambiger Unzuverlässigkeit dagegen reflektiert und überwacht der Leser die kognitiven Prozesse der Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz ebenso wie die eigenen. Bei alterierter Unzuverlässigkeit dagegen reflektiert der Leser die eigenen kognitiven Prozesse, um nachzuvollziehen, warum er ein falsches Bild der erzählten Wirklichkeit konstruierte. Um das metakognitive Funktionspotenzial narrativer Unzuverlässigkeit zu illustrieren, wurde mit Ian McEwans Roman Atonement ein Werk gewählt, in dem sowohl ironische als auch alterierte Unzuverlässigkeit auftreten und in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Im ersten Teil des Romans werden anhand von ironischer Unzuverlässigkeit die kognitiven Prozesse der drei Protagonisten Briony, Robbie und Cecilia fokussiert, mit denen sie ein falsches Bild vom Geschehen in der TAW konstruieren. Im Vordergrund stehen besonders die Wahrnehmungsprozesse von Briony, die in einen detaillierten Kontext gebettet sind und erklären (wenn auch nicht rechtfertigen), warum sie Robbie fälschlicherweise als Vergewaltiger ihrer Cousine identifiziert und dadurch sein Leben und das seiner Liebe Cecilia zerstört. Die alterierte Unzuverlässigkeit im letzten Teil des Romans zwingt den Leser zu einer Revision seiner Vorstellung vom Geschehen in der TAW. Zum einen erfährt er im letzten Teil des Romans, dass Briony die Verfasserin des zuvor Gelesenen ist. Aus diesem Grund muss der Leser nicht nur retrospektiv ein intratextuelles Kontextmodell bilden, sondern auch Brionys Intentionen reflektieren und den Wahrheitsgehalt der zuvor erhaltenen Informationen neu bewerten. Zum anderen entwirft der Rezipient ein falsches Bild vom Geschehen, wenn er annimmt, Robbie und Cecilia überleben den Krieg und finden zueinander. Wenn der Rezipient nachvollzieht, warum er eine falsche Vorstellung vom Geschehen entwickelt hat, stellt er fest, dass er denselben Fehlern bei der Sinngenerierung erlegen ist. Insofern wird der Leser angehalten, die eigene moralische Bewertung von Brionys Verhalten neu zu überdenken. Als Fazit kann damit festgehalten werden, dass die in dieser Arbeit vorgestellten Typologien, Beschreibungs- und Erklärungsmodelle narrativer Unzuverlässigkeit ein breites Repertoire an Kategorien bereitstellen, um fiktionale Erzähltexte detaillierter und terminologisch differenzierter zu analysieren. Die entwickelten
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Typologien erlauben eine präzise Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der narrativen Unzuverlässigkeit. Das Beschreibungsmodell hingegen ermöglicht eine differenzierte Beschreibung der intrauniversen Relationen mitsamt den verschiedenen Weltkonflikten. Mithilfe des Erklärungsmodells ist es möglich nachzuvollziehen, wie der Leser fiktionale Universen im Falle ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit konstruiert. Natürlich ist mit dieser Typologie und Theorie der narrativen Unzuverlässigkeit lediglich ein Grundstein für weitere Forschung gelegt. Daher soll die Arbeit abschließen mit einem Ausblick auf weitere notwendige Forschungsthemen. Erstens fehlt es weiterhin an einer umfassenden historischen Untersuchung zur narrativen Unzuverlässigkeit (vgl. Nünning 1998, 2005, 2008). Bruno Zerweck (2001), Ansgar Nünning (1997a, 2008) und Vera Nünning (1998, 2004) sowie Felicitas Menhard (2009) haben hier bereits Grundlagenforschung betrieben, auf der weiter aufgebaut werden kann. Mit der in dieser Arbeit entwickelten Typologie lässt sich narrative Unzuverlässigkeit auch aus historischer Sicht präziser untersuchen: Welche Typen der narrativen Unzuverlässigkeit hatten zu welcher literarischen Epoche besondere Konjunktur? Welche Gründe gibt es dafür? Auch der in dieser Arbeit erarbeitete theoretische Rahmen mag bei einer historischen Untersuchung nützlich sein. Während bei den in dieser Arbeit untersuchten Werken der Fokus primär auf der Bildung von Situationsmodellen und den intratextuellen Kontextmodellen lag, muss bei einer stärker historisch ausgelegten Untersuchung der Schwerpunkt im höheren Maße auf der Rekonstruktion des extratextuellen Kontextmodells liegen (d. h. auf den Normen und Werten der jeweiligen Zeit sowie den Besonderheiten der verschiedenen Autoren). Ein zweites Desiderat ist die systematische Untersuchung der narrativen Unzuverlässigkeit und Gattungen (vgl. Nünning 1998, 2005, 2008). Auch hier verspricht die aufgestellte Typologie der narrativen Unzuverlässigkeit eine differenzierte Betrachtungsmöglichkeit. Bei ironischer Unzuverlässigkeit werden die Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion einer Erzählerfigur und/oder einer Fokalisierungsinstanz in den Vordergrund gerückt. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass beispielsweise in literarischen Gattungen wie dem Entwicklungs- oder dem Bildungsroman, welche die persönliche Entwicklung einer Figur thematisieren, häufig ironische Unzuverlässigkeit auftritt. Bei ambiger Unzuverlässigkeit werden hingegen die kognitiven Prozesse fiktionaler Figuren als auch des Lesers gleichermaßen hervorgehoben. Ambige Unzuverlässigkeit findet sich etwa in fantastischen Werken, folgt man Todorovs (1975) klassischer Definition des Genres, wonach der Leser nicht entscheiden kann, ob die übernatürlichen Geschehnisse tatsächlich Teil der erzählten Welt sind oder nur Halluzinationen des Erzählers. Bei alterierter Unzuverlässigkeit, bei der der Leser zunächst ein falsches Bild vom Geschehen im fiktionalen Universum konstruiert, gestaltet sich
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die Gattungsfrage komplizierter. Hier scheint es besonders um die Untersuchung der Frage zu gehen, welches Wissen über Gattungskonventionen der Leser bei der Lektüre zunächst (fälschlicherweise) aktiviert, bis er seinen Fehler bemerkt. Hier geht es also besonders um die (fälschliche oder vorschnelle) Aktivierung von Wissen über typische Gattungsmerkmale bei der Rekonstruktion fiktionaler Wirklichkeit. Drittens kann die hier getroffene Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit auch die Basis für eine transmediale Untersuchung dieses Phänomens sein. So finden sich zahllose filmische Beispiele ironischer (Robert Zemeckis Forrest Gump, Terrence Malicks Badlands), ambiger (Akira Kurosawas Rashomon, Jeff Nichols Take Shelter) und alterierter Unzuverlässigkeit (Bryan Singers The Usual Suspects, Adrian Lynes Jacob’s Ladder). Während es in den letzten Jahren viele Veröffentlichungen zur narrativen Unzuverlässigkeit im Film gab, stellen Untersuchungen zu dieser narrativen Technik in TV-Serien bislang ein Desiderat dar. Doch gerade in populären Serien wie How I Met Your Mother (2005–2014) oder True Detective (2014) lassen sich zahlreiche Beispiele ironischer, ambiger und alterierter Unzuverlässigkeit finden und bieten sich daher für eine detaillierte Analyse an. Von theoretischem Nutzen kann dafür der hier entwickelte theoretische Rahmen sein. Bei einer film- oder fernsehwissenschaftlichen Untersuchung steht die Frage im Raum, mit welchen medienspezifischen Mitteln eine TAW, eine Erzähler- oder eine Fokalisiererwelt markiert und Weltkonflikte indiziert werden können. Ähnliches gilt für Untersuchungen in Bezug auf narrative Unzuverlässigkeit in Comics und in Computerspielen. Ein viertes Desiderat stellt die Untersuchung narrativer Unzuverlässigkeit und Emotionen dar (vgl. Hillebrandt 2011; Nünning 2013). Wurde in Kapitel V.4 kurz auf das Thema eingegangen, bedarf es einer differenzierteren Betrachtung. In dieser Hinsicht scheint eine genauere Untersuchung zwischen narrativer Empathie und narrativer Unzuverlässigkeit lohnenswert. Als vielversprechender Einstieg mag Phelans Unterscheidung zwischen verschiedenen Wirkungen der ironischen Unzuverlässigkeit auf den Leser dienen (Phelan 2008). Für Phelan (2008: 11) bezeichnet estranging unreliability eine zunehmende Distanz zwischen dem Erzähler und dem (auktorialen) Leser, während bonding unreliability zu einer Annäherung zwischen den beiden Instanzen führt. Wie aus Phelans Überlegungen hervorgeht, wird die Wirkung der narrativen Unzuverlässigkeit durch die empathische Nähe des Lesers zur Erzählerfigur oder Fokalisierungsinstanz bestimmt. Phelans rhetorische Überlegungen bleiben aus kognitiver Sicht jedoch spekulativ und vage. Hier bedarf es einer weiteren Präzisierung.
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4 Filme und Fernsehserien Badlands. Reg. Terence Malick (1973). Warner Bros. Forrest Gump. Reg. Robert Zemeckis (1994). Paramount Pictures. How I Met Your Mother. Reg. Pamela Fryman; Rob Greenberg; Michael Shea et al. (2005–2014). 20th Century Fox Television. Jacob’s Ladder. Reg. Adrian Lyne (1990). Tristar Pictures. Rashomon. Reg. Akira Kurosawa (1950). Daiei Film. Take Shelter. Reg. Jeff Nichols (2011). Sony. The Usual Suspects. Reg. Bryan Singer (1994). PolyGram Film Entertainment. True Detective. Reg. Cary Joji Fukunaga (2014). HBO.
Register Albow,Rachel 158 Allrath, Gaby 12, 13, 20, 22, 26, 31, 42, 63, 65, 84, 273, 286 Àlvarez Amorós, José Antonio 6, 20, 55, 57, 81, 82, 93, 202 Ames, Clifford R. 258, 260, 261, 264, 265, 266, 267 Andrade, Mary Ann 164 Armstrong, Paul B. 205, 206, 208, 216, 218, 220 Austen, Jane 45, 306 –– Emma 45 Bachorz, Stephanie 279 Baelo-Allué, Sonia 229, 242 Bandelin, Carl 164, 169 Berkove, Lawrence 257, 258, 260, 261, 267, 272 Bernaets, Lars 94, 273 Bierce, Ambrose 258, 266, 290 –– „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ 18, 20, 26, 50, 51, 52, 54, 256, 257–272, 273, 287, 288, 290, 335 –– „Chickamauga“ 86 –– „Oil of Dog“ 41, 45 –– „The Famous Gilson Bequest“ 48 –– „The Moonlit Road“ 87 Bilandzic, Helena & Rick Bussele 134 Bilton, Alan 229, 244 Birke, Dorothee 155, 157, 171, 177, 178, 184, 186, 196 Bläß, Ronny 20, 26, 292 Bode, Christoph 65, 152, 253, 306, 307, 308, 310, 312 Booth, Wayne C. 3, 4, 6, 7, 8, 10, 11, 12, 21, 22, 31, 41, 55, 56, 57, 59, 60, 61, 67, 68, 69, 82 Bort, Barry 223 Bortolussi, Marisa & Peter Dixon 6, 57, 70, 105, 108, 119, 148, 293, 294 Brandt, Stefan 33 Brewer, Wiilliam F. 141 Brewer, William F. & Edward H. Lichtenstein 137 https://doi.org/10.1515/9783110557619-013
Bruner, Jerome S. 119, 122, 158, 293, 294 Carroll, Lewis –– Alice’s Adventures in Wonderland 77 Chatman, Seymour 6, 8, 11, 20, 21, 22, 24, 29, 30, 31, 32, 44, 45, 56, 57, 60, 61, 62, 63, 67, 68, 107, 125, 137, 152, 162, 164 Cheatham, George & Judy Cheatham 261, 265 Cheng, Vincent 204, 207 Christie, Agatha –– Endless Night 50, 51 –– The Murder of Roger Ackroyd 20, 26, 27, 28, 35, 36, 41, 49, 58 Claassen, Eefje 103, 104, 106, 107, 108, 113, 126, 127, 151 Cohn, Dorrit 5, 6, 7, 22, 29, 42, 44 Collins, Philip 175 Cormier, Robert –– I am the Cheese 49, 50, 254 Cosmides, Leda & John Tooby 129, 130, 131 Crane, Stephen 257 –– Maggie: A Girl of the Street 89 Crawford, Iain 169, 173 Creed, Walter G. 205, 209, 221 Culpeper, Jonathan 103, 104, 106, 119, 120, 121 Cupchik, Gerald C. 137, 266 Dannenberg, Hilary P. 77, 79 Davidson, Cathy N. 258, 260, 266, 271, 272 Däwes, Birgit 26, 230, 244, 247, 286 de Cervantes, Miguel –– Don Quijote 149 D’hoker, Elke & Gunther Martens 11, 12 Dickens, Charles –– Great Expectations 7, 87 –– The Personal History and Experience of David Copperfield the Younger 18, 45, 87, 91, 150, 154, 155, 156, 157, 158, 163, 171, 174, 176, 177, 194, 198, 199, 204, 207, 228, 250, 296, 332 Diengott, Nilli 8, 29, 57, 62, 66 Doležel, Lubomír 74, 99, 100
362
Register
Eco, Umberto 74, 80, 99, 137, 138 Eder, Jens 101, 317 Eggenschwiler, David 223, 225 Ekelund, Bo G. 177 Ellis, Bret Easton –– American Psycho 18, 47, 88, 101, 202, 203, 229–249, 250, 251, 274, 296, 334 Evans, Robert 263 Fahs, Alice 270 Faulkner, William –– The Sound and the Fury 20, 44 Faulks, Sebastian –– Engleby 90 Ferenz, Volker 10 Finney, Brian 299, 301, 306, 307, 309 Flint, Kate 4, 6, 21, 26, 44, 167, 169 Fludernik, Monika 1, 2, 7, 8, 20, 27, 29, 40, 57 Ford, Ford Madox –– The Good Soldier 18, 47, 53, 54, 70, 126, 152, 201, 203, 204–228, 250, 296, 334 Fowles, John –– The Collector 32 Freccero, Carla 244 Freißmann, Stephan 101, 133 Fryman, Pamela & Rob Greenberg & Michael Shea –– How I Met Your Mother 338 Fukunaga, Cary Joji –– True Detective 338 Galbraith, Robert –– The Cukoo’s Calling 136 Ganzel, Dewey 205, 216, 222, 224, 225, 228 Gavins, Joanna 117, 135 Genette, Gérard 8, 11, 35, 37, 128, 157, 158, 327 Gerrig, Richard J. 137, 138, 139, 140 Gerrig, Richard J. & David N. Rapp 130, 139 Gerrig, Richard J. & David W. Allbritton 119 Gilman, Charlotte Perkins –– „The Yellow Wallpaper“ 1, 91, 150 Golding, William –– Pincher Martin 135 Goodheart, Eugene 204, 205, 226 Grabes, Herbert 40, 119, 203
Graesser, Arthur C. & Brent Olde & Bianca Klettke 103, 104, 105, 113 Graesser, Arthur C. & Cheryl Bowers & Brent Olde & Katherine White & Natalie K. Person 108 Graesser, Arthur C. & Cheryl Bowers & Ute J. Bayen & Xiangen Hu 108 Graesser, Arthur C. & Katja Wiemer-Hastings 102, 108, 113, 115 Graesser, Arthur C. & Morton A. Gernsbacher & Susan R. Goldman 113 Graesser, Arthur C. & Murray Singer & Tom Trabasso 113 Grant, Barry Keith 229, 233, 244, 245 Grenander, Mary Elizabeth 258 Groeben, Norbert 18, 146 Guglielmo, Steve & Andrew E. Monroe & Bertram F. Malle 123 Gutenberg, Andrea 6, 57, 73, 74, 77, 79, 80, 82, 83, 84, 100, 151 Habibi, Don Asher 258 Haddon, Mark –– The Curious Incident of the Dog in the Night-Time 46 Hager, Kelly 167, 175 Hallet, Wolfgang 98 Hansen, Per Krogh 5, 41 Hartmann, Britta 38, 50, 134 Hartner, Marcus 16, 101, 104, 111, 112, 114, 116, 117, 121, 129 Helyer, Ruth 229, 242, 246 Hemingway, Ernest 307 –– „Hills like White Elephants“ 83 –– „The Snows Of Kilimanjaro“ 52 Herman, David 6, 57, 58, 101, 121, 148, 293 Heyd, Theresa 3, 10, 26, 27, 57, 58, 68, 69, 70, 71, 176 Hillebrandt, Claudia 12, 137, 292, 338 Hoffmann, Karen A. 205, 226 Hof, Renate 100 Hogan, Patrick Colm 139, 264 Hood, Richard A. 206 Huber, Martin & Simone Winko 101 Hynes, Samuel 204, 205, 220, 221, 223, 224
Register
Irving, John –– A Widow for One Year 85 Ishiguro, Kazuo –– A Pale View of Hills 25, 47, 84 –– The Remains of the Day 18, 44, 152, 154, 174, 176–197, 198, 199, 204, 228, 296, 332, 333 Iversen, Stefan 128, 130, 131 Jahn, Manfred 2, 4, 7, 9, 21, 29, 36, 40, 44, 52, 56, 63, 112, 133, 229 James, Henry –– Daisy Miller 47 –– „The Liar“ 44, 83 –– The Turn of the Screw 20, 25, 26, 27, 32, 33, 41, 47, 48, 54, 59, 60, 86, 101, 201, 202, 203 Jannidis, Fotis 100, 101, 103, 118, 119, 120, 121, 122 Jedličková, Alice 81 Jess-Cooke, Carolyn –– The Boy Who Could See Demons 89, 150 Jochum, Klaus Peter 157 Johnson-Laird, P. N. 104, 115 Joyce, James –– A Portrait of the Artist as a Young Man 7, 45 Kasischke, Laura –– The Life Before Her Eyes 50 Keen, Suzanne 139, 263 Kern, Stephen 222 Kesey, Ken –– One Flew Over The Cukoo’s Nest 125, 153 Kiefer, Bernd 20, 26 Kindt, Tom 5, 6, 10, 12, 13, 42, 68, 69, 70, 71 Kindt, Tom & Hans-Harald Müller 9, 61, 62 Kneepkens, E.W.E.M & Rolf A. Zwaan 137, 138 Koebner, Thomas 20, 24, 26 Kooijman, Jaap & Tarja Laine 230, 247 Köppe, Tilmann & Tom Kindt 6, 7, 12, 26, 37 Kurosawa, Akira –– Rashomon 338 Laass, Eva 10, 12, 65 Langland, Elizabeth 169 Lankford, William T. 172, 173, 174, 175
363
Lardner, Ring –– „Haircut“ 88 Lehane, Dennis –– Shutter Island 36, 40, 41, 90, 254, 256 Levenson, Michael 205, 215, 228 Lewis, Barry 85 Linkin, Harriet Kramer 258, 263, 268 Liptay, Fabienne & Yvonne Wolf 2, 12, 65 Logan, F. J. 258, 260, 261, 266, 268 Löschnigg, Martin 157, 158, 164 Lyne, Adrian –– Jacob’s Ladder 338 Lynn, David H. 205, 218, 221, 222 MacMahon, Barbara 24, 25, 50, 79, 130 Maître, Doreen 74 Malick, Terrence –– Badlands 338 Malle, Bertram 122, 123, 127 Marcus, Amit 13, 40, 68, 183, 184, 185 Margolin, Uri 111, 119, 123, 124, 125, 128 Martens, Gunther 7, 29 Martinez, Matías & Michael Scheffel 3, 5, 6, 15, 20, 21, 22, 33, 42, 43, 57, 149, 267 McEwan, Ian –– Atonement 19, 20, 26, 54, 292, 296, 297–325, 336 –– „Dead as They Come“ 20, 23, 24, 25, 26, 27, 40, 41, 42, 43 –– Enduring Love 254, 255 –– On Chesil Beach 87 –– Sweet Tooth 51, 253 McGrath, Patrick –– Spider 85, 255 McHale, Brian 14, 202 Meixner, John A. 205, 222, 228 Menhard, Felicitas 2, 6, 13, 20, 25, 26, 32, 57, 65, 299, 307, 337 Miller, J. Hillis 171 Millis, Keith K. 123 Mizener, Arthur 205, 221 Moore, Anthony R. 201 Morgan, Monique 25 Moser, Thomas C. 205, 227 Murdoch, Iris –– The Philosopher’s Pupil 51, 252
364
Register
Nabokov, Vladimir –– Lolita 32, 45, 47, 87, 125, 126, 201, 203 –– Pale Fire 25, 34, 47, 202 –– Pnin 51, 252, 253 Needham, Gwendolyn B. 165 Neumann, Birgit & Ansgar Nünning 5 Newsom, Robert 175 Nichols, Jeff –– Take Shelter 338 Nicol, Bran 229, 230, 231, 241 Nünning, Ansgar 2, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 20, 21, 22, 23, 24, 41, 56, 62, 63, 65, 66, 68, 71, 72, 84, 88, 89, 93, 105, 108, 109, 149, 150, 195, 207, 293, 294, 309, 330, 337, 338 Nünning, Ansgar & Carola Surkamp & Bruno Zerweck 11 Nünning, Ansgar & Vera Nünning 8, 21, 29, 31, 74, 84, 90, 294 Nünning, Vera 1, 2, 8, 12, 65, 293, 294, 337 Olson, Greta 4, 10, 12, 20, 21, 22, 31, 41, 66, 152 Palahniuk, Chuck –– Fight Club 18, 26, 50, 254, 256, 257, 272–289, 290, 335 Palmer, Alan 124, 135, 294, 301, 306, 307, 308 Papaleontiou-Louca, Eleonora 292 Pascal, Roy 216 Pavel, Thomas G. 74 Perry, Menakhem 133 Petry, Mike 176, 182 Petterson, Bo 42 Phelan, James 3, 6, 7, 8, 10, 12, 24, 26, 27, 37, 42, 57, 66, 67, 68, 197, 321, 323, 326, 338 Phelan, James & Mary Patricia Martin 5, 42, 57, 176, 181 Phillips, Jennifer 230, 235 Poe, Edgar Allan –– „The Tell-Tale Heart“ 41, 46, 90, 93 Poole, Roger 205, 227, 228, 244 Prince, Gerald 11 Pynchon, Thomas –– The Crying of Lot 49 33, 47, 48, 86 Pyrhönen, Heta 296
Rajewsky, Irina O. 244 Rapp, David N. & Panayiota Kendeou 135, 136 Richardson, Brian 51, 116, 117, 252 Richler, Mordecai –– Barney’s Version 90 Riggan, William 1, 4, 11, 21, 22, 26, 27, 40, 57, 62 Rimmon-Kenan, Shlomith 11, 15, 20, 21, 25, 26, 32, 33, 34, 55, 57, 59, 63, 64, 65, 84, 152, 201, 202, 203 Rohwer-Happe, Gislind 13 Ronen, Ruth 74, 98, 100 Rowling, J. K. –– Harry Potter and the Prisoner of Azkaban 136 Ryan, Marie-Laure 6, 7, 36, 50, 57, 60, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 92, 94, 98, 99, 100, 108, 138, 141 Sanford, Anthony J. & Catherine Emmot 138, 139 Saunders, Max 227, 228 Schneider, Ralf 17, 18, 40, 101, 102, 103, 104, 105, 109, 111, 112, 114, 115, 117, 119, 120, 121, 128, 133, 134, 135, 138, 139, 140, 145, 146, 152, 153, 295 Schnotz, Wolfgang 103, 104, 295 Schorer, Mark 205, 208, 209, 221, 227 Schow, Wayne 205, 226 Schraw, Gregory & David Moshman 292, 293 Schweinitz, Jörg 137 Segal, Erwin M. 115, 116, 117 Seibel, Klaudia 117 Sell, Roger S. 171, 172, 173, 175 Semino, Elena 73, 74, 82, 92, 101, 112 Shen, Dan 8, 29, 41, 68 Shiel, M.P. –– The Purple Cloud 24, 47 Shriver, Lionel –– We Need to Talk About Kevin 47, 48, 51, 53, 88, 202 Simpson, Philip L. 230, 241, 244, 248, 249 Singer, Bryan –– The Usual Suspects 338
Register
Singer, Isaac Bashevis –– „Gimpel the Fool“ 58, 59 Skinner, John 204 Sniader Lanser, Susan 45, 126 Sperber, Dan 69, 121, 129 Stannard, Martin 228 Stanzel, Franz K. 8, 29, 30, 31, 32, 44, 45, 263 Sternberg, Meir 114, 138, 141 Stockwell, Peter 101, 135 Storey, Mark 230, 237, 246 Strasen, Sven 103, 104, 109, 111, 112, 133 Strawson, Galen 293 Stühring, Jan 6, 26, 37, 55 Surkamp, Carola 73, 74, 77, 81, 84, 99, 101, 128, 148, 151 Sutherland, John 225 Sutton, Henry 1 Tan, Ed S. 138 Thurber, James –– „The Secret Life of Walter Mitty“ 52 Tietz, Stephen 266, 272 Todorov, Tzvetan 337 Tönnies, Merle 305, 306, 307, 311 Toolan, Michael J. 126, 127 Twain, Mark –– The Adventures of Huckleberry Finn 1, 20, 39, 86 van Dijk, Teun A. 106, 125 van Dijk, Teun A. & Walter Kintsch 104, 106, 107 Vermeule, Blakey 300 Vogt, Jochen 158, 160 Vogt, Robert 6, 7, 20, 26, 37, 55, 81, 94, 154, 207, 257, 271, 273
365
Vogt Wehrli, Marianne & Modestin, Jiri 121 Vonnegut, Kurt 257 Wald, Christina 26, 205, 222, 226, 273, 286, 288 Wall, Kathleen 20, 22, 44, 57, 63, 65, 84, 148, 176, 182, 185, 294 Walsh, Richard 29, 108 Walton, Kendall L. 60, 99, 151 Weinreich, Martin 229, 245 Wilkomirski, Binjamin –– Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 136 Wolf, Werner 84 Wong,Cynthia F. 85 Woodruff, Stuart C. 258, 265, 266 Woolf, Virginia 306 –– Mrs Dalloway 87 Yacobi, Tamar 7, 24, 56, 57, 58, 59, 63, 64, 65, 66 Young, Elizabeth 230, 233, 237, 238, 241, 242, 243, 247 Zemeckis, Robert –– Forrest Gump 338 Zerweck, Bruno 11, 20, 21, 22, 24, 34, 40, 63, 65, 66, 101, 229, 230, 255, 337 Zipfel, Frank 81, 94, 99 Zondergeld, Rein A. & Holger E. Wiedenstried 230, 246 Zunshine, Lisa 121, 127, 128, 129, 130, 131, 286 Zwaan, Rolf A. 103, 107, 111, 117 Zwaan, Rolf A. & Gabriel A. Radvansky 102, 105, 114, 115
FRONTIERS OF NARRATIVE STUDIES NEW JOURNAL AT DE GRUYTER Editor-in-Chief: Shang Biwu 2 issues per year LANGUAGE OF PUBLICATION English ISSN 2509-4882 e-ISSN 2509-4890 Further information: www.degruyter.com/journals/fns
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2017 and 2018
A peer-reviewed journal of international scope, Frontiers of Narrative Studies features articles reporting results of research in all branches of narrative studies, in-depth reviews of selected current literature in the field, and occasional guest editorials and reports. Its broad range of scholarship includes narratives across a variety of media, including literary writing, film and television, journalism, and graphic narratives. EDITOR
Shang Biwu, Shanghai Jiao Tong University, China. CO-EDITORS
William Baker, Northern Illinois University, USA; Wolfgang G. Müller, Friedrich Schiller University Jena, Germany. degruyter.com