Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses 9783835318441, 9783835329294


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Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
1 Einleitung
2 Forschungsstand, Gegenstand und Methode der Untersuchung
2.1 Realistische Theorien über Antisemitismus
2.2 Konstruktivistische Theorien über Antisemitismus
2.2.1 Sozialpsychologische Theorien
2.2.2 Kulturwissenschaftliche Theorien
2.3 Begriffe, Gegenstand und Methoden der Untersuchung
2.3.1 Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung, Klassen
2.3.2 Vergemeinschaftung und kollektive Handlungseinheiten
2.3.3 Deuten und Verfolgen
2.3.4 Methode der Untersuchung
3 Von der religiösen Differenzzur »Judenfrage«
3.1 Die Genese der »Judenfrage« aus gesellschaftlicher Differenzierung und der Aufrichtung neuer Homogenitätsideale
3.2 Die Problematisierung des sozialen Orts der Juden
3.2.1 Dohm und die »bürgerliche Verbesserung« der Juden
3.2.2 Assimilation als »unintendierte Folge« der Emanzipation
3.2.3 Der universalistische Humanismus und das Problem der Zugehörigkeit
4 Antisemitische Reaktionenauf die »Judenfrage«
4.1 Wer gehört dazu und wer nicht? Homogenisierung, Ethnisierung und Historisierung von »Volk«
4.1.1 Homogenisierung und Ethos des »Volkes«
4.1.2 Ethnisierung
4.1.3 Die Verbindung von Ethnos und Ethos: Historisierung und Rationalisierung von »Volk«
4.1.4 Die strukturelle Ambivalenz der Forderung nach Assimilation
4.2 Wandel der Zuschreibungen
4.2.1 Politisierung des antisemitischen Wissens
4.2.2 Feind aller Völker
4.2.3 Gemeinschaft und Gesellschaft
4.3 Übergangsphänomene: Der christliche Staat
4.4 Menschheit und Volk
4.4.1 Die Universalisierung des Gegensatzes: Jude – Mensch
4.4.2 Exkurs: Christ und Jude versus Mensch
4.5 Erste Ansätze zur Differenzierung des Antisemitismus
5 Die »Sattelung« antisemitischen Wissens
5.1 Verbürgerlichung der Lebenswelt
5.2 Nationalstaat, innere Einheit und gesellschaftliche Modernisierung
5.3 Von der Politisierung antisemitischen Wissens zur Politisierung der Antisemiten
5.4 Postemanzipatorischer Charakter
5.5 Weltanschaulichkeit
5.6 Rassismus und Antisemitismus
5.6.1 Der moderne Begriff der »Race«
5.6.2 »Race« und »Volk«
6 Typen der Wissensformation des modernen Antisemitismus
6.1 Christlich-nationaler Antisemitismus
6.2 Nationaler Antisemitismus
6.3 Nationalreligiöser Antisemitismus
6.4 Nationalrassistischer Antisemitismus
6.5 Historische Dynamik der Typen – Moderne und Antisemitismus
7 Literatur
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Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses
 9783835318441, 9783835329294

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Jan Weyand Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus

Jan Weyand Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses

Wallstein Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2016 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Druck: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-1844-1 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2929-4

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Forschungsstand, Gegenstand und Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Realistische Theorien über Antisemitismus . . . . . . 2.2 Konstruktivistische Theorien über Antisemitismus . . 2.2.1 Sozialpsychologische Theorien . . . . . . . . 2.2.2 Kulturwissenschaftliche Theorien . . . . . . . 2.3 Begriffe, Gegenstand und Methoden der Untersuchung . 2.3.1 Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung, Klassen 2.3.2 Vergemeinschaftung und kollektive Handlungseinheiten . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Deuten und Verfolgen . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Methode der Untersuchung . . . . . . . . . .

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3 Von der religiösen Differenz zur »Judenfrage« . . . . . . .

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3.1 Die Genese der »Judenfrage« aus gesellschaftlicher Differenzierung und der Aufrichtung neuer Homogenitätsideale . . 3.2 Die Problematisierung des sozialen Orts der Juden . . . . 3.2.1 Dohm und die »bürgerliche Verbesserung« der Juden . 3.2.2 Assimilation als »unintendierte Folge« der Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der universalistische Humanismus und das Problem der Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

. 95 . 118 . 122 . 126 . 132

4 Antisemitische Reaktionen auf die »Judenfrage« . . . . . . 137 4.1 Wer gehört dazu und wer nicht? Homogenisierung, Ethnisierung und Historisierung von »Volk« . . . . 4.1.1 Homogenisierung und Ethos des »Volkes« . . 4.1.2 Ethnisierung . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Verbindung von Ethnos und Ethos: Historisierung und Rationalisierung von »Volk« 4.1.4 Die strukturelle Ambivalenz der Forderung nach Assimilation . . . . . . . . . . . . .

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INHALT

4.2 Wandel der Zuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Politisierung des antisemitischen Wissens . . . . . . 4.2.2 Feind aller Völker . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Gemeinschaft und Gesellschaft . . . . . . . . . . 4.3 Übergangsphänomene: Der christliche Staat . . . . . . . 4.4 Menschheit und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Die Universalisierung des Gegensatzes: Jude – Mensch 4.4.2 Exkurs: Christ und Jude versus Mensch . . . . . . . 4.5 Erste Ansätze zur Differenzierung des Antisemitismus . . .

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5 Die »Sattelung« antisemitischen Wissens . . . . . . . . . . 222 5.1 Verbürgerlichung der Lebenswelt . . . . . . 5.2 Nationalstaat, innere Einheit und . . . . . . gesellschaftliche Modernisierung . . . . . . 5.3 Von der Politisierung antisemitischen Wissens zur Politisierung der Antisemiten . . . . . . 5.4 Postemanzipatorischer Charakter . . . . . . 5.5 Weltanschaulichkeit . . . . . . . . . . . 5.6 Rassismus und Antisemitismus . . . . . . . 5.6.1 Der moderne Begriff der »Race« . . . . 5.6.2 »Race« und »Volk« . . . . . . . . .

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6 Typen der Wissensformation des modernen Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Christlich-nationaler Antisemitismus Nationaler Antisemitismus . . . . Nationalreligiöser Antisemitismus . Nationalrassistischer Antisemitismus Historische Dynamik der Typen – Moderne und Antisemitismus . . .

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7 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

1 Einleitung Im Jahr 1833 erregt eine kleine, für die damalige Zeit typische Schrift zur »Judenfrage« öffentliches Interesse. Der für die Angelegenheiten der Juden zuständige Referent im preußischen Ministerium des Inneren, Oberregierungsrat Karl Streckfuß, fordert in Ueber das Verhältniß der Juden zu den christlichen Staaten, Staatsbürgerrechte den Juden zu gewähren, die dem »Staat nützlich« (Streckfuß 1833: 23) seien, nicht aber den anderen.1 Als »nützlich« bezeichnet Streckfuß Juden, die nicht umherziehen, bürgerliche Berufe ausüben und ihre Kinder an christlichen Schulen erziehen lassen, Juden, die »mit uns zu einem Volke verschmelzen«. Die anderen hingegen »blieben […] Glieder der jüdischen Nation, inmitten der Nation des Landes« (Streckfuß 1833: 15). Diese Juden, durch religiöse Vorschriften »im Verkehr mit den übrigen Staatsbürgern mannichfach beschränkt, selbst von dem gastlichen Tische der Christen ausgeschlossen« (Streckfuß 1833: 13), hofften auf eine zukünftige Rückkehr nach Palästina und nutzten die Einheimischen aus, indem sie sich »durch den Verkehr mit den Einheimischen […] ernähren, wo möglich […] bereichern« (Streckfuß 1833: 17). Streckfuß fordert nicht, wie viele Antisemiten seiner Zeit, die Taufe von Juden als eine Voraussetzung ihrer Rechtsgleichheit. Streckfuß fordert, das »unnatürliche« (Streckfuß 1833: 15) Verhältnis von Juden zu »uns« in ein »natürliches« Verhältnis zu verwandeln, und das bedeutet für Streckfuß die Abschaffung einer »jüdischen Nation, welche sich noch im Gegensatze der deutschen Nation unter uns geltend macht, und dadurch schon deutlich genug zu erkennen giebt, daß sie sich in Sitte und Gesinnung noch nicht mit uns verschmelzen will« (Streckfuß 1833: 32f.). Da »die Juden« nach Auffassung des Oberregierungsrats nicht willig seien, sich zu assimilieren, aber auch nicht als »Nation in der Nation« unter »uns« leben könnten, schlägt er administrative Maßnahmen vor, die Juden ihre Widerspenstigkeit austreiben, sie gleichmachen sollen, etwa die Unterrichtung jüdischer Kinder in christlichen Schulen (mit Ausnahme des Religionsunterrichts), staatliche Kontrolle der Besetzung der Rabbinate in den Gemeinden, bessere Integration von Juden in das Militär. Oberstes 1 Kurz zuvor war in der preußischen Provinz Posen eine Verordnung dieses Inhalts erlassen worden (vgl. Jehle 2011: 399; knapp zur Biografie von Streckfuß: Jehle 2009).

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Ziel aller Maßnahmen ist die Herstellung eines Homogenitätsideals, einer durch die Gemeinschaft von »Sitte und Gesinnung« charakterisierten Einheit eines »Volkes«, und das heißt, das Judentum zu »vernichten«.2 Nicht zu jeder Zeit kann man alles sagen, ja, noch nicht einmal denken. Hätte Streckfuß seine Forderungen 100 Jahre früher erhoben, er wäre nicht verstanden worden. Seine Auffassung, Juden sollten »mit uns« verschmelzen, wäre als befremdlich empfunden worden. Wie bei jeder besonderen gesellschaftlichen Gruppe wurde der größte Wert darauf gelegt, ihren Sonderstatus durch Kleidung und Verhalten zum Ausdruck zu bringen. Juden lebten zu dieser Zeit nicht in Gesellschaft mit »uns«, sondern in einer eigenen Gesellschaft. Dass Juden zu »uns« gehören könnten, ohne sich taufen zu lassen, hätte man bestenfalls für verdreht gehalten. Die für Streckfuß und seine Zeitgenossen so selbstverständliche Annahme, »wir« seien eine durch gemeinschaftliche Sitte und Gesinnung charakterisierte Gruppe, die alle Untertanen im Staat, ob Adeliger oder Bauer, Kleriker oder Laie, Meister oder Geselle, gleichermaßen umfasst, hätte niemand als angemessene Beschreibung der sozialen Welt empfunden, sondern als Aufruf zu umstürzlerischer, revolutionärer Gleichmacherei. Das »wir«, auf das sich Streckfuß bezieht, gab es nicht. Aber nicht genug mit der Behauptung, »wir« alle teilten eine gemeinschaftliche Lebensweise – andere sollen sie auch noch teilen! Hätte sich Streckfuß 100 Jahre später in dieser Weise geäußert, er wäre genauso wenig verstanden worden. Spätestens 50 Jahre nach Streckfuß vergisst kaum ein Antisemit zu betonen, dass sich sein Antisemitismus nicht gegen eine religiöse Glaubenspraxis und die mit ihr verbundene Lebensweise richtet, sondern gegen die »irreligiöse Macht« des »modernen Judentums« (Stoecker). Für eine wachsende Zahl von Antisemiten ist zudem »Verschmelzung« keine Lösung der »Judenfrage«, sondern eine »Bastardisierung« (Chamberlain) »unseres Volkskörpers«. Auch wenn sich der Antisemitismus im frühen 19.  Jahrhundert offenbar von dem des späten 19.  Jahrhunderts unterscheidet, lassen sich beide als Phasen eines Prozesses verstehen, der einer inneren 2 Dies ist auch das oberste und explizit erklärte Ziel in der 10 Jahre später publizierten zweiten Schrift von Streckfuß zu diesem Thema. Allerdings sind hier die Mittel andere. Streckfuß fordert an dieser Stelle die volle rechtliche Gleichstellung der Juden (Streckfuß 1843: 15, 23) als Mittel für eine »innigere Verschmelzung« (Streckfuß 1843: 95, 115).

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Logik gehorcht. Am Ende dieses Prozesses steht, was gemeinhin als moderner Antisemitismus bezeichnet wird. Diese Arbeit untersucht den Prozess der Modernisierung des Antisemitismus im ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 19.  Jahrhundert. Sie fragt danach, warum sich das, was über Juden von Antisemiten gesagt und gedacht wird, im ausgehenden 18. Jahrhundert fundamental zu verändern beginnt, wie diese Veränderung zu erklären ist und welchen Regeln sie folgt. Die zentrale These besagt, dass derselbe sozialhistorische Prozess der Modernisierung von Gesellschaft, der für die Verwandlung von Christen und Juden in formal gleiche, mit individuellen Freiheitsrechten ausgestatte Bürger verantwortlich ist, zu einer fundamentalen Veränderung des Antisemitismus führt. Es ist nicht so, dass die Antisemitismusforschung den Prozess der Modernisierung des Antisemitismus bisher nicht untersucht hätte. Die Unterscheidung zwischen einem christlichen Judenhass und einem modernen Antisemitismus bildet in der Antisemitismusforschung einen gut etablierten, nur von wenigen Autorinnen und Autoren in Frage gestellten (vgl. exemplarisch Langmuir 1990; Ruether 1978) Grundkonsens. Die beiden prominentesten Erklärungsweisen begreifen die Modernisierung des Antisemitismus unterschiedlich: Die eine argumentiert realistisch und hält einen Konflikt zwischen Personenverbänden, Deutschen, Franzosen usw. und Juden um knappe Güter, z.B. berufliche Positionen, für die Grundlage des modernen Antisemitismus. Nach dieser Deutung, zuletzt von Götz Aly in Warum die Deutschen? Warum die Juden? vertreten, passen sich Juden besser an eine sich modernisierende Gesellschaft an und fügen sich schneller in sie ein. In der Folge entwickelt sich Neid auf die Modernisierungsgewinner, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert gegen seine ursprünglich realen Grundlagen zu einem Wahnsystem verselbstständigt. Diese Erklärung kann sich auf die übereinstimmenden Ergebnisse sozialhistorischer Untersuchungen stützen, nach denen der Bildungserfolg von Juden im 19. Jahrhundert den von Nichtjuden in den sich industrialisierenden Staaten weit übertrifft (vgl. dazu hier, Kapitel 5.1). Die andere Erklärungsweise argumentiert konstruktivistisch. Sie geht davon aus, dass moderner Antisemitismus nichts mit einem Konflikt zwischen Angehörigen von Gruppen um knappe Güter zu tun hat, sondern aus der sozialen und psychischen Lage der Antisemiten erklärt werden muss. Nach dieser Auffassung ist Antisemitismus ein »Zerrbild« (Reinhard Rürup) gesellschaftlicher Wirklichkeit, in

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dem Juden fälschlicherweise für soziale Herrschaft und deren Folgen verantwortlich gemacht werden. Erklärt wird die Verzerrung aus der Psyche der Antisemiten. Gesellschaftliche Modernisierung ist in dieser Perspektive, verkürzt gesagt, ein Prozess der Transformation sozialer Herrschaft, für den Schuldige gesucht und in Juden gefunden werden. Diese Erklärungsweise kann sich darauf stützen, dass in den beiden mit Abstand bekanntesten und am häufigsten verwendeten Stereotypen des modernen Antisemitismus Juden zugeschrieben wird, »uns« durch die Kontrolle des Finanzkapitals zu beherrschen und auszubeuten und dies durch die Kontrolle der öffentlichen Meinung zu verschleiern. Bezieht man die Erklärungsweisen auf das anfangs genannte Beispiel, hat man keine Erklärung, sondern ein Problem. Streckfuß geht es nicht um die Konkurrenz von Personenverbänden, sondern um die »Verschmelzung« von »uns« und Juden. Nicht Neid, sondern Homogenität und Einheit sind sein Thema. Und Streckfuß ist kein Sonderfall, sondern ein typischer Fall. Über die Psyche des Oberregierungsrates Streckfuß wissen wir nichts. Deshalb können wir nicht ausschließen, dass in seinem Antisemitismus soziale Welt verzerrt verarbeitet wird. Besonders nahe liegt diese Annahme aber auch nicht. Streckfuß gehörte, wie die meisten Autoren antisemitischer Texte im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert, zu einer kleinen bildungsbürgerlichen Elite, bestens etabliert, beruflich erfolgreich, gesellschaftlich angesehen. Doch selbst wenn wir annehmen, es wäre so, erklärt uns das nur, warum Antisemiten Juden hassen, nicht aber das antisemitische Judenbild, nicht den Antisemitismus als ein Phänomen kultureller Deutung sozialer Welt. Deswegen reicht es nicht hin, den Antisemiten und seine soziale Lage zu untersuchen, wenn der Antisemitismus erklärt werden soll. Diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt jüngerer kulturwissenschaftlicher Theorien des modernen Antisemitismus. Diese fragen nicht nach den Ursachen verzerrter Wirklichkeitswahrnehmung, sondern nach der Bedeutung antisemitischen Weltverstehens. Im Zuge dieser Neuorientierung konnte sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf ein Phänomen richten, das in den anderen Erklärungsweisen zwar gesehen, aber nicht interpretiert worden ist: Streckfuß sieht nicht sich von Juden bedroht, sondern »uns«. Antisemiten sind nicht allein. Das ist vielleicht die einzige Konstante in der Geschichte des Antisemitismus. Antisemiten sagen nicht: Mir wird dieser oder jener Schaden von Juden zugefügt. Antisemiten sehen

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»uns« von Juden bedroht. Antisemiten begreifen sich als Teil eines Kollektivs. Antisemitismus, modern oder nicht, stellt eine Relation von Kollektiven her, das antisemitische Feindbild ist auf ein kollektives Selbstbild bezogen. Kollektive gibt es nur, wenn sie sich als Kollektive verstehen, d.h. wenn sie über Beschreibungen ihrer Selbst und Praktiken, in denen die Einheit des Kollektivs rituell bekräftigt wird, verfügen. Um sich als Kollektiv verstehen zu können, muss man wissen, was das eigene Kollektiv ausmacht, wie »man« ist, und man muss wissen, wer dazugehört. Kollektive legen durch Zuschreibungen fest, wie »wir« sind, indem sie »unsere« typischen Verhaltensweisen, Eigenschaften oder normativen Orientierungen von typischen Verhaltensweisen, Eigenschaften oder normativen Orientierungen anderer unterscheiden. Kollektive ordnen Personen Gruppen durch Regeln der Zugehörigkeit zu. Diese Regeln legen fest, wer zu »uns« gehört und wer nicht. Ich übernehme die Unterscheidung von Zugehörigkeit und Zuschreibung von Klaus Holz, der sie zuerst (Holz 2001) in die Antisemitismusforschung eingeführt hat.3 Was sich in der historischen Zeit verändert, ist das Verständnis der Kollektive. Im Zentrum des christlichen Judenhasses stehen die religiöse Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften und die Zuschreibung religiöser Vergehen (auch beim Vorwurf des Wuchers, der Christen aus religiösen Gründen als illegitim gilt),4 im Zentrum des modernen Antisemitismus steht die Zugehörigkeit zu historischgenealogisch verstandenen »Völkern« und die Zuschreibung, Juden würden Gemeinschaft und Existenz aller »Völker« untergraben. Im christlichen Judenhass werden Juden als eine Gruppe verstanden, die sich im Außenbereich der eigenen Gruppe befindet und die ihnen zugeschriebene Bedrohung als eine, welche die eigene Gruppe von außen angreift. Im modernen Antisemitismus werden Juden als Gruppe im Binnenbereich der eigenen Gruppe gedeutet, die ihnen 3 Holz unterscheidet im Anschluss an Haussendorf zwischen drei Funktionen (Festlegung von Zugehörigkeit, Zuschreibungen und Bewertungen). Da im Antisemitismus die Zuschreibungen grundsätzlich negativ sind (es handelt sich nicht um ein Fremd-, sondern um ein Feindbild), reicht es für die Zwecke dieser Arbeit, zwischen Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit und Zuschreibungen zu unterscheiden. 4 Das Stereotyp des jüdischen Wucherers gehört seit dem kirchlichen Verbot für Christen im 12. Jahrhundert, Geld gegen Zinsen zu verleihen, zu den verbreiteten Stereotypen (vgl. dazu Hortzitz 2005; zum Stereotyp des Wucherers Raphael 2000).

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zugeschriebene Bedrohung entsprechend als eine von innen. Dem Wandel der Zuschreibungen entspricht ein Wandel des kollektiven Selbst- und des antisemitischen Judenbilds: Im christlichen Judenhass gilt der durch seine Religion charakterisierte Jude als Feind der Christen. Im modernen Antisemitismus werden Gruppen ethnisch verstanden, Juden gelten als Feinde der Deutschen (und aller anderen Völker). Dass sich die Modernisierung des Antisemitismus als Prozess seiner Nationalisierung beschreiben lässt, ist in der Antisemitismusforschung in den letzten Jahren gesehen und betont worden (vgl. exemplarisch nur Almong 1990; Volkov 1996; Weyand 2006). Vor der Veröffentlichung von Klaus Holz’ Arbeit ist die systematische Beziehung von modernem Antisemitismus und Nationalismus allerdings mehr vermutet als systematisch untersucht worden. Holz (2001) hat gezeigt, dass das moderne antisemitische Wissen nach einer angebbaren Zahl von in der Zeit stabilen Regeln strukturiert ist (Holz 2001: 157ff.), nach denen Zugehörigkeit festgelegt und Zuschreibungen zu einer nationalen »Wir-Gruppe« und einer dieser feindlich gegenübergestellten Gruppe der Juden vorgenommen werden. Entsprechend charakterisiert er modernen Antisemitismus als nationalen Antisemitismus. Die Zuschreibungen in diesem Antisemitismus folgen einem Grundmuster, durch das er sich von anderen kollektiven Feindbildern unterscheidet: Im modernen Antisemitismus werden »Völker« von »Juden« unterschieden. Alle »Völker« gelten als Gemeinschaften, die Gruppe der Juden hingegen als Zerstörer aller Gemeinschaft. Ungeklärt ist die Genese dieser Semantik (vgl. Holz 1998: 4). Um sie aufzuklären, muss man den historischen Prozess der Entstehung nationaler Selbst- und antisemitischer Feindbilder auf seine gesellschaftlichen Voraussetzungen beziehen und zeigen, unter welchen Bedingungen sie sich bilden oder, in den Worten von Reinhart Koselleck ausgedrückt, »die Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung […] untersuchen« (Koselleck 1972: XIV). Das ist das Thema dieser Untersuchung. Sie wird erstmals zeigen, dass die Veränderung des antisemitischen Feindbildes von der Veränderung der kollektiven Selbstbilder abhängt. Ich schreibe diese Arbeit nach der millionenfachen Ermordung von Juden im Nationalsozialismus. Vor diesem Hintergrund kann und soll sie erklären, wie eine Formation des Wissens hat entstehen kön-

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nen, in der Juden als Feinde aller sozialen Ordnung gelten. Nach einer bis in die Gegenwart gut etablierten Position entsteht diese Wissensformation im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Verknüpfung von Antisemitismus und Rassismus. Diese Position, so werde ich zeigen, ist nicht länger zu halten.

2 Forschungsstand, Gegenstand und Methode der Untersuchung In diesem Kapitel entwickele ich den theoretischen Zugang zu meinem Gegenstand über eine Diskussion der Erklärungsleistungen etablierter Theorien über Antisemitismus. Zu diesem Zweck fasse ich Theorien zu Typen zusammen und diskutiere Erklärungsanspruch, Erklärungsansatz und Reichweite der Typen. Die Typologie tritt mit einem systematischen Anspruch auf: Sie basiert auf einem Schema, in dem sich alle Theorien über Antisemitismus ordnen lassen. Das Ordnungsprinzip des Schemas ist an der Anlage der Theorien orientiert, aus der sich unterschiedliche Erklärungsweisen des Gegenstands ergeben. Ich unterscheide die Theorien nicht im Hinblick auf ihre inhaltliche Erklärung des Gegenstands, auch nicht entlang der Fachgebiete, in denen sie formuliert werden, sondern in Bezug auf ihre theoretische Anlage. In der bisherigen Forschung wurden Antisemitismustheorien entweder entlang von Fachgebieten oder entlang von Erklärungsweisen geordnet.1 Diese  – auch aus anderen interdisziplinären Forschungsgebieten bekannten  – Ordnungsprinzipien haben den Nachteil, dass in den Typologien der sachliche und historische Bezug der Theorien aufeinander verloren geht. Was ich damit meine, lässt sich exemplarisch an der umfassenden Typologie von Klaus Holz (2001) zeigen: Die Grundlage seiner Typologie ist die Unterscheidung von antisemitischer Semantik und Kontext, die in den von ihm unterschiedenen vier Theorietypen jeweils unterschiedlich artikuliert wird.2 Holz gelingt es zwar, die vorfindlichen Theorien den vier Typen zuzuordnen, doch die Typen (und damit auch die Theorien) stehen gleichrangig nebeneinander und es entsteht der Eindruck, sie hätten nichts miteinander zu tun. Es handelt sich 1 Für einen Überblick nach Erklärungsweisen vgl. exemplarisch Gräfe (2010: 8699); für einen an Disziplinen orientierten Überblick exemplarisch Bergmann/ Körte (2004), für eine Kombination aus beiden exemplarisch Nonn (2008: 10-31). 2 Holz verwendet die Beziehung von antisemitischer Semantik und Kontext als Leitunterscheidung, weil er davon ausgeht, dass in der bisherigen Antisemitismusforschung (d.h. der Antisemitismusforschung bis 2000) vorschnell die Semantik des Antisemitismus auf den Kontext der Artikulation dieser Semantik bezogen worden ist. Aus diesem Grund habe die Antisemitismusforschung die Semantik – Holz lehnt sich an Luhmanns Begriff der Semantik an – als eigenständige Ebene des Antisemitismus lange unterschätzt bzw. nicht zur Kenntnis nehmen können.

FORSCHUNGSSTAND, GEGENSTAND UND METHODE

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um eine deskriptive Systematisierung von empirisch vorgefundenen Erklärungsweisen und es scheint so, als ob diese selbst keine Geschichte hätten. So ist es aber nicht. Jede wissenschaftliche Erklärung eines Gegenstands hat eine Geschichte, und diese Geschichte besteht in der Entwicklung neuer Problemstellungen und neuer Antworten, die sich aus der Reflexion des bisherigen Forschungsstandes ergeben. Versteht man Theoriebildung selbst als historischen Prozess der Entwicklung und Kritik von Fragestellungen und Antworten, stellen sich unterschiedliche Theorien nicht nur als paradigmatisch unterschiedliche Fragestellungen und Antworten, sondern auch als historisch aufeinander aufbauende Erklärungsmodelle dar. Versteht man Theoriegeschichte in dieser Weise, kann eine Typologie nicht deskriptiv angelegt werden. Vielmehr muss sie sich am sachlichen Bezug der Theorien aufeinander orientieren. Betrachtet man die Geschichte der Antisemitismusforschung als Problemgeschichte, lässt sich systematisch zwischen Theorien unterscheiden, die Antisemitismus realistisch, d.h. aus einem Konflikt zwischen der Gruppe der Juden und der Gruppe der Nichtjuden, erklären (2.1), und Theorien, die Antisemitismus konstruktivistisch, d.h. aus der psychischen oder sozialen Lage der Antisemiten erklären und damit Probleme lösen, die eine realistische Erklärung des Antisemitismus aufwirft (2.2.1). Diese Deutung wirft neue Probleme auf, welche die Antisemitismusforschung seit etwa den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts durch die Einführung des Begriffs der Kultur in die Antisemitismusforschung zu lösen versucht. In einer kulturwissenschaftlichen Perspektive wird es möglich, systematisch zwischen psychischen Dispositionen und sozialen Lagen von Antisemiten auf der einen Seite und Antisemitismus als Teil ihres kulturellen Wissensvorrats zu unterscheiden (2.2.2). Kulturwissenschaftliche Theorien des Antisemitismus untersuchen aber die kulturelle Semantik des Antisemitismus nicht wissenssoziologisch, d.h. sie fragen nicht danach, was die kulturelle Semantik des Antisemitismus mit der Struktur der Gesellschaft zu tun hat. Die Untersuchung dieser Beziehung steht bisher aus. Die vorliegende Arbeit will diese gegenstandsbezogene Frage, die aus der Diskussion des Standes der Theorien über Antisemitismus folgt, beantworten. Im Hinblick auf Theorien über Antisemitismus bedeutet das, ältere und neuere konstruktivistische Antisemitismusforschung zu integrieren. Die älteren und die neueren konstruktivistischen Stu-

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FORSCHUNGSSTAND, GEGENSTAND UND METHODE

dien zum modernen Antisemitismus stehen einander komplementär gegenüber: Die älteren konstruktivistischen Arbeiten unterschätzen die kulturelle Dimension des Antisemitismus bzw. können sie aufgrund ihres theoretischen Zugangs nicht in den Blick nehmen, die neueren seine gesellschaftliche Dimension. Beide in einer soziologischen Erklärung des modernen Antisemitismus zu verbinden, ist die gegenwärtige Aufgabe der Antisemitismusforschung. Auch wenn der in dieser Arbeit gewählte Zugang zum Gegenstand aus der Kritik der gegenwärtig verfügbaren Theorien über Antisemitismus folgt, sagt diese Begründung nur etwas über die Anlage, nicht über die Durchführung der Untersuchung aus. Jede neue Problemstellung erfordert Begriffe, in denen sie bearbeitet werden kann. Zugang und Begrifflichkeit erläutere ich in Kapitel 2.3.

2.1 Realistische Theorien über Antisemitismus Realistische Theorien über Antisemitismus begreifen Juden und verschiedene Gruppen von Nichtjuden als gegebene, der Untersuchung vorausgesetzte Größen und machen Konflikte zwischen ihnen für Antisemitismus verantwortlich. Prominente Vertreter dieses Theorietyps sind beispielsweise Norbert Elias (1929 [2002]), Hannah Arendt (1951 [1991]), Eva Reichmann3 (1954) oder, mit Abstrichen, Talcott Parsons (1942).4 Theoriegeschichtlich5 entwickelt er sich gegen zwei Positionen, erstens die Annahme, eine Erklärung des Antisemitismus habe nicht an der Beziehung von Juden und Nichtjuden anzusetzen, sondern dessen Ursachen im Antisemiten selbst zu suchen,6 zweitens

3 Albert Lichtblau (1994) hat den Ansatz von Reichmann in einer vergleichenden Arbeit empirisch untermauert. Für diese Arbeit gelten die gleich am Beispiel von Reichmann und Arendt diskutierten Einwände ebenfalls. 4 Massing (1959: 96f., vergleichbar auch Katz 1989: 242; 249; 251) erklärt aus der Konkurrenz zwischen Juden und Nichtjuden in den Städten, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert hier der Antisemitismus vor allem von Gebildeten getragen wird und er sich schärfer artikuliert als auf dem Lande. In dieser Weise argumentiert auch Parsons, allerdings im Hinblick auf unterschiedliche Einwanderergruppen in die USA. 5 Ich diskutiere die historischen Vorläufer dieser Position an dieser Stelle nicht, der bekannteste ist sicher Bernard Lazare, der als erster Historiker des modernen Antisemitismus gilt. 6 Arendt argumentiert gegen Sartre, Reichmann (1954: 28) gegen Bernstein und Arnold Zweig. Reichmann wendet sich gegen Bernsteins Auffassung, dass es für

REALISTISCHE THEORIEN ÜBER ANTISEMITISMUS

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die zu dieser Zeit noch verbreitete Annahme eines sich durch die Geschichte hindurchziehenden »ewigen Antisemitismus«. Ich erläutere die Argumentation dieses Theorietyps am Beispiel Hannah Arendts. Für Arendt zerfällt die Geschichte des modernen Antisemitismus in zwei Phasen, die mit der Geschichte des modernen Nationalstaats korrelieren: Sie erklärt die Entstehung einer antisemitischen Bewegung, in der sich das Judenbild der Antisemiten von der konkreten Erfahrung des Umgangs mit Juden ablöst, gegen diese verselbstständigt und im Nationalsozialismus schließlich einen tödlichen Ausdruck findet, aus einem Niedergang der Nationalstaaten und ihrer Transformation in imperialistische Staaten im ausgehenden 19.  Jahrhundert; die Gründe für die Entstehung des modernen Antisemitismus sieht sie in der besonderen Beziehung von jüdischen Bankhäusern zu den Regierungen der sich entwickelnden Nationalstaaten im 17. und 18. Jahrhundert, die auf Seiten der Nichtjuden zu erfahrungsbasierten antisemitischen Stereotypen führen.7 Für Arendt liegen die Anfänge des modernen Antisemitismus in den niedergehenden Feudalstaaten. Die absoluten Monarchien finanzierten sich vornehmlich durch große jüdische Bankhäuser. Mit dem Aufstieg der Bankhäuser entwickelte sich das Hofjudentum, das beeindruckende Reichtümer akkumulierte und über erhebliche Privilegien verfügte. Mit der durch die Französische Revolution beschleunigten Transformation der absoluten Monarchien in Nationalstaaten stieg der Finanzbedarf der Staaten erheblich an. Gedeckt wurde er von einer sich vergrößernden Gruppe vor allem jüdischer Bankiers. Das nichtjüdische höhere Bürgertum, traditionell eher randständig im staatlichen Finanzgeschäft, begann, in diesen Markt einzusteigen. das antisemitische Judenbild nebensächlich sei, »wie wir Juden in Wirklichkeit sind« (Bernstein 1926: 47). Zweig geht wie Bernstein davon aus, dass »das Wesen des Juden« (Zweig 1927: 30) für den Antisemitismus irrelevant ist. Wenn auch die Argumentationsweisen von Bernstein und Zweig vergleichbar sind (obwohl es sich in dem einen Fall um eine literarische, in dem anderen um eine soziologische Arbeit handelt), so weichen beide doch in der Einschätzung der Zukunft des Antisemitismus deutlich voneinander ab. Nach Zweig kann Antisemitismus durch aufklärerische Erziehung entgegengewirkt werden, für Bernstein lässt sich eine so verfestigte kulturhistorische Tradition wie der Antisemitismus nicht in wenigen hundert Jahren abschaffen (Bernstein 1927: 222). Die einzige Möglichkeit, dem Antisemitismus ein Ende zu bereiten, besteht für ihn in der Realisierung des zionistischen Projekts. 7 Die »Geschichte des Verhältnisses zwischen Juden und Staat [muß] den Schlüssel für die wachsende Feindseligkeit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gegen die Juden enthalten« (Arendt 1991: 35).

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Konflikte zwischen diesem und jüdischen Bankiers waren die Folge. Hierin liegt für Arendt die reale Basis des modernen Antisemitismus.8 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verloren Juden ihre Monopolstellung im staatlichen Anleihewesen und damit an politischem Einfluss. Geblieben sei Reichtum ohne Macht (vgl. Arendt 1991: 44f.). Mit dem Verlust an politischem Einfluss habe der Antisemitismus erheblich zugenommen, sich im ausgehenden 19. Jahrhundert gegen seine ursprünglich reale Basis verselbstständigt und einen Höhepunkt im Nationalsozialismus erfahren.9 »Was als unerträglich empfunden wird, sind selten Unterdrückung und Ausbeutung als solche; viel aufreizender ist Reichtum ohne jegliche sichtbare Funktion, weil niemand verstehen kann, warum er eigentlich geduldet werden soll« (Arendt 1991: 27).10 Als ein Beispiel für erfahrungsbasierten Antisemitismus führt Arendt Georg Ritter von Schönerer an. Schönerer war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts »die bekannteste alldeutsche Führungsfigur« (Schmid 2009: 18) in der österreichisch-ungarischen Monarchie, der u.a. die Trennung von den ärmeren Kronländern und eine stärkere Anbindung an das Deutsche Reich einforderte. Nach Hannah Arendt war Schönerer »zum Antisemiten geworden, als er als Mitglied des Reichsrats sich für die Nationalisierung der Eisenbahnen eingesetzt hatte, die sich seit 1836 in den Händen der Rothschilds befanden. Die Lizenz lief im Jahre 1886 ab, und es gelang Schönerer, vierzigtausend Unterschriften gegen eine Erneuerung zu sammeln und damit die Judenfrage in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Dadurch wurden die finanziellen Beziehungen zwischen der Monarchie und dem Hause Rothschild zum Greifen deutlich, weil die Regierung mit allen Mitteln versuchte, die Lizenz unter Bedingungen zu erneuern, die offensichtlich für den Staat wie für   8 Aus der besonderen Beziehung von Juden zur politischen Herrschaft in den sich entwickelnden Nationalstaaten erklärt Arendt die Herausbildung des Stereotyps der geheimen Macht der Juden (vgl. Arendt 1991: 66).   9 So auch Reichmann 1954: 68ff. 10 Das Modell dieser Erklärung, Arendt weist selbst darauf hin (Arendt 1991: 26), liefert Tocquevilles Deutung der recht plötzlichen und massiven Äußerung von Hass auf den Adel zu Beginn der Französischen Revolution.

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die Öffentlichkeit von Nachteil waren. Der Antisemitismus Schönerers entsprang zweifellos seinen eigenen Erfahrungen, und er hat daher auch niemals die Judenfrage als eine Propagandawaffe gebraucht« (Arendt 1991: 91).11 Vielmehr »entstammte« sein Antisemitismus einem »echten politischen Konflikt« (ebd.). Für Schönerer stellte sich der politische Konflikt zwischen dem Bankhaus Rothschild und der Regierung auf der einen und Teilen des Parlaments auf der anderen Seite als Konflikt zwischen dem »eigenen Volk« und »Juden« dar. Entsprechend erklärte er 1886 in einer Rede, »der Grundpfeiler des nationalen Gedankens« sei und bleibe der Antisemitismus (Schönerer 1892: 57). Aus dieser Verallgemeinerung leitete er politische Folgerungen ab, die keineswegs das Bankhaus Rothschild, sondern Juden insgesamt betrafen. 1885 wurde dem Parteiprogramm der österreichischen Deutschnationalen ein Absatz hinzugefügt, der den Ausschluss »jüdischen Einflusses« aus dem öffentlichen Leben forderte (vgl. Katz 1989: 293).12 Dieser Antisemitismus ist nach Arendt erfahrungsbasiert, weil er auf der Erfahrung eines realen Konflikts zwischen unterschiedlichen Interessen beruht. Die Annahme ist aber nicht plausibel: Der Groll Schönerers richtet sich offenbar nicht gegen die Rothschilds und Exponenten der österreichisch-ungarischen Monarchie, sondern gegen Juden, für die das Handeln der Rothschilds exemplarisch steht. Das setzt voraus, dass erstens die Spitzen des Bankhauses Rothschild als Exemplare der Gruppe der Juden betrachtet werden, sie zweitens als stellvertretend für diese Gruppe begriffen werden und dass deshalb drittens Juden insgesamt für das Handeln der Rothschilds haftbar gemacht werden können. Diese Beziehung von Exemplar und Gruppe hat mit der Erfahrung des Konflikts um die Eisenbahnkonzession nichts zu tun. Dies wäre nur dann der Fall, wenn das Handeln der Rothschilds als spezifisch »jüdisch« begriffen werden könnte. Eine solche Behauptung wäre jedoch unsinnig und Arendt stellt sie an 11 Hannah Arendt betont an dieser Stelle einen Unterschied in der politischen Funktion des Antisemitismus bei Schönerer und bei dem späteren Wiener Bürgermeister Karl Lueger, in dessen Selbstdarstellungen die antisemitische Agitation wesentlich ein politisches Instrument war. 12 Die treibende Kraft hinter dieser Etablierung des Antisemitismus in der Parteipolitik in Österreich-Ungarn war Schönerer. Das Phänomen selbst, die parteipolitische Organisation des Antisemitismus, lässt sich indes kaum auf einzelne Personen zurückführen, vgl. dazu hier, Kapitel 5.3.

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keiner Stelle auf. Daraus folgt, dass die von Schönerer unterstellte Beziehung von Exemplar und Gruppe, welche die Grundlage seiner antisemitischen Agitation bildet, keine Folge der Konflikterfahrung ist, sondern vielmehr deren Voraussetzung: Antisemitisch lässt sich die Konflikterfahrung nur wenden, wenn Individuen und deren Handlungen Kollektiven zugerechnet werden, wenn das Handeln der Rothschilds als exemplarisch für das Handeln von Juden gelten kann. Arendt erklärt die Zurechnung sozialhistorisch: Die rechtliche Gleichstellung der Juden habe sich deshalb so lange hingezogen, weil die sich entwickelnden Nationalstaaten zur Sicherung ihrer Finanzierung ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Sonderstellung der Juden gehabt hätten. Dem Interesse der Nationalstaaten habe auf jüdischer Seite ein Interesse an der Erhaltung des eigenen Kollektivs korrespondiert (vgl. Arendt 1991: 43). Beide Entwicklungen hätten Juden »ein Sonderschicksal« gesichert, »weil sie verhinderte[n], daß die Juden sich in das neu entstehende Klassensystem der Nationalstaaten eingliederten« (Arendt 1991: 41). In der Folge seien Juden im 19. Jahrhundert »stets eine von der Umwelt abgesonderte, leicht erkennbare Gruppe« (Arendt 1991: 43) geblieben, die einzige »Gruppe in den europäischen Staaten, deren Stellung und Funktion sich aus dem Verhältnis zum politischen Körper, und nicht aus ihrer Stellung in der Gesellschaft, ergab« (Arendt 1991: 44). Die »reale Basis« des politischen Antisemitismus sei durch diese Sonderstellung der Juden gegeben, zu deren Aufrechterhaltung »die Juden« selbst beigetragen hätten, indem sie »fortfuhren, einen mehr oder minder geschlossenen Körper innerhalb der Nation zu bilden; das gesellschaftliche Vorurteil wuchs in dem Maße, in welchem Juden auf Grund ihrer Assimiliertheit in die bürgerliche Gesellschaft einzudringen wünschten« (Arendt 1991: 108). Auch wenn man der Analyse Arendts zustimmen würde, so verweist sie doch auf ein Problem (a) und einen blinden Fleck (b). (a) Das Problem besteht darin, dass sich die Absonderung von Juden im 19.  Jahrhundert in den sich industrialisierenden Staaten Westeuropas auflöst  – und zwar vor allem in den ökonomisch erfolgreichen Milieus. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnen Auseinandersetzungen in jüdischen Gemeinden, vor allem in den großen Städten, in denen Traditionalisten sich gegen Reformer und

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eine wachsende Gruppe Indifferenter abgrenzen. Mitte des 19. Jahrhunderts sind Teile des ökonomisch erfolgreichen und des gebildeten jüdischen Bürgertums so verbürgerlicht, dass sie jedenfalls im öffentlich sichtbaren Lebensstil vom nichtjüdischen Bürgertum nicht zu unterscheiden sind. Dieses Milieu wiederum grenzt sich zum Teil massiv von einer Lebensweise ab, wie sie etwa von traditionell orientierten Juden und von vielen jüdischen Migranten aus dem Osten praktiziert wird. Die Gruppe »der Juden« gibt es im 19. Jahrhundert nicht mehr. Daraus folgt, dass Realkonflikttheorien ihrer Argumentation eine Homogenität der Gruppe unterstellen, die historisch nicht gegeben ist. Das aber heißt, dass diese Unterstellung nicht Teil der Erklärung sein kann, sondern selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen darstellt – die Homogenität der Juden als Gruppe ist eine erklärungsbedürftige Zuschreibung, die mit der tatsächlichen sozialen Lage der Juden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer weniger zu tun hat. In den Realkonflikttheorien führt die Verwechslung von Erklärung des Phänomens und zu erklärendem Phänomen zu der Nötigung, zwischen »echten« und »unechten« Gruppenkonflikten (Reichmann)13 bzw. zwischen einem erfahrungsbasierten und einem von der Konflikterfahrung emanzipierten und abstrahierten Antisemitismus (Arendt) zu unterscheiden, um die weitere Entwicklung des Antisemitismus seit dem späten 19. Jahrhundert erklären zu können.14 Realkonflikttheorien gehen davon aus, dass sich der moderne 13 Diese Unterscheidung wird durch Cosers 1956 publizierte Abhandlung The Functions of Social Conflict etabliert. Bezugspunkt ist in beiden Fällen Simmels Soziologie des Streits. Nach Reichmann sind »unechte« antisemitische Motive solche, die »vorgeschoben« sind (vgl. Reichmann 1954: 34-39); Coser versteht unter unechten Konflikte solche, die »nicht durch die gegensätzlichen Ziele der Gegner verursacht [sind], sondern durch die Notwendigkeit einer Spannungsentladung zumindest bei einem« (Coser 2009: 58). Für den Aggressor ist in diesem Fall von Bedeutung, dass es ein Objekt der Aggression gibt, um welches Objekt es sich handelt, ist »von zweitrangiger Bedeutung« (Coser 2009: 59). Die oben erwähnte Arbeit von Lichtblau greift die Unterscheidung zwischen realer und fiktiver Gruppenspannung auf (Lichtblau 1994: 240) und kommt zu dem Ergebnis, dass die Realkonflikttheorie (von ihm als »soziale Spannungstheorie« bezeichnet) modifiziert werden müsse, da sich solche Spannungen nur in einem Wirtschaftszweig (Handel) deutlich zeigten (Lichtblau 1994: 71). 14 Parsons, der Antisemitismus ebenfalls über Konflikte zwischen Gruppen erklärt, hat dieses Problem nicht, weil er seine Deutung des Antisemitismus als eines Konfliktes zwischen Gruppen an dem Einwanderungsland USA entwickelt. Nach seiner Auffassung ist für den im 20.  Jahrhundert zunehmenden Antisemitismus in den USA eine ins Stocken geratene soziale Aufstiegsmobilität von Einwanderergruppen verantwortlich.

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Antisemitismus im Verlauf seiner Entwicklung gegen seine »realen« Ursachen verselbstständigt. Daraus ergibt sich ein Widerspruch im Erklärungsmodell: Das Erklärungsmodell basiert auf der Annahme, dass Antisemitismus nicht allein auf die soziale oder psychische Lage des Antisemiten zurückgeführt werden kann, sondern als realer Konflikt zwischen Juden und Nichtjuden zu verstehen ist. Die Vertreter dieses Theorietyps nehmen aber das Erklärungsmodell, gegen das die eigene Theorie argumentiert, faktisch selbst in Anspruch. (b) Der blinde Fleck dieses Typs von Antisemitismustheorie hängt direkt damit zusammen. Er besteht darin, dass die Existenz sozialer Gruppen unterstellt wird.15 Um von einem realen Konflikt zwischen Juden und Nichtjuden sprechen zu können, sei es um knappe Güter wie Positionen im staatlichen Bildungswesen, ökonomische Ressourcen oder anderes, muss angenommen werden, dass die einzelnen Akteure als Exemplare ihrer jeweiligen Gruppen handeln. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, einen Konflikt als Gruppenkonflikt zu verstehen. Das wiederum setzt voraus, dass sich Gruppen selbst als Gruppen verstehen, d.h. Begriffe davon haben, worin die Angehörigen der einen Gruppe gleich sind und durch die sie sich von denen anderer unterscheiden. In den Worten von Reinhart Koselleck: »Eine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, d.h. kraft derer sie sich selbst bestimmt« (Koselleck 1989b: 212). Eine Untersuchung des modernen Antisemitismus muss folglich die Frage beantworten, wie es zur Konstitution solcher Gruppen kommt, d.h. die Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit von Individuen zu Kollektiven, durch die Kollektive wissen, wer dazugehört und wer nicht, und die Zuschreibungen, durch die Kollektive wissen, wer sie sind, nicht als Teil der Erklärung, sondern als Teil des zu erklärenden Gegenstands verstehen.16 15 Brubaker (2007a: 17) kritisiert diese Unterstellung als »groupism«. 16 Aus diesem Grund scheint mir die These Salzborns fraglich, das Problem der Argumentation Arendts liege darin, Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden im 18. und 19.  Jahrhundert als Ursache und nicht als »auslösende Dimension für eine jenseits des historischen Erfahrungsprozesses angesiedelte Genese des Antisemitismus zu sehen« (Salzborn 2010: 123). Das ist nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch unplausibel: Ich werde im Fortgang dieser Untersuchung zeigen, dass sich der moderne Antisemitismus schon im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht an Konflikten, sondern an Ängsten entwickelt, die mit der Realisierung der Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung von Juden und Christen verbunden werden.

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Dadurch verschiebt sich das Ausgangsproblem: Nach der Konstitution von Kollektiven zu fragen bedeutet, modernen Antisemitismus nicht aus realen Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden zu erklären, sondern die Untersuchung auf die Antisemiten selbst zu konzentrieren und danach zu fragen, wie und warum sie ihr Selbst- und das antisemitische Feindbild ausbilden, kurz: die Frage nach dem modernen Antisemitismus nicht realistisch, sondern konstruktivistisch zu stellen.17 Damit ist erstens in keiner Weise die Annahme verbunden, dass Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden für den modernen Antisemitismus keine Rolle spielten. Gesagt ist nur, dass die Frage geklärt werden muss, wie sich die Konfliktparteien als Gruppen konstituieren, woher und warum deren Angehörige sich zugehörig wissen und wie sie sich selbst als Kollektiv beschreiben, bevor sinnvoll untersucht werden kann, ob zwischen diesen Gruppen Konflikte bestehen. Zweitens behaupte ich nicht, dass es kein jüdisches Kollektiv gäbe. Wohl aber behaupte ich, dass die Selbstbeschreibung eines solchen Kollektivs nichts darüber aussagt, in welcher Weise es von Antisemiten als Gruppe verstanden wird, theoretisch gesprochen, dass das Selbstbild einer Gruppe nichts damit zu tun hat, welche Fremd- und Feindbilder18 andere Gruppen von dieser Gruppe haben. Die Frage lautet dann: Wie und warum bilden sich kollektive Selbstbilder und antisemitische Feindbilder? Auf diese Frage antworten konstruktivistische Theorien.

2.2 Konstruktivistische Theorien über Antisemitismus Dieser Typ von Theorien umfasst erstens viele und zweitens unterschiedliche Theorien, die sich nach zwei Gruppen unterscheiden lassen: Die eine setzt am sozialpsychologischen Aspekt der Gruppenbildung an (2.2.1), die andere am kulturellen Aspekt (2.2.2). 17 Vgl. zur Kritik an realistischen Analysen von Konflikten zwischen Gruppen auch Brubaker 2007a: 16-21. 18 Der wesentliche Unterschied zwischen Fremd- und Feindbild besteht darin, dass Feindbilder behaupten, die eigene Gruppe werde bedroht oder angegriffen, während der Terminus Fremdbild indifferent dagegen ist (d.h. sowohl Feindbilder wie Fremdbilder umfasst). Fremdbilder können im Unterschied zu Feindbildern die Differenz von Personenverbänden auf wohlwollende Weise charakterisieren. Das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannteste Beispiel dafür dürften die Nationalstereotype der Asterix & Obelix-Comics sein.

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2.2.1 Sozialpsychologische Theorien Dieser Theorietyp ist der bis heute vorherrschende. Er umfasst insbesondere psychologische und soziologische, aber auch geschichtswissenschaftliche Theorien. Ihr konstruktivistischer Grundzug wird prägnant von Sartre zum Ausdruck gebracht:19 Nicht die Erfahrung des Antisemiten »schafft den Juden, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung« (Sartre 1966: 111). Antisemitismus wird in diesem Theorietyp als eine besondere Form gruppenbezogener Stereotype begriffen, die aggressiven Stereotypisierungen der Antisemiten »suchen« sich ihren Gegenstand gleichsam, d.h. sie können Juden ebenso wie »Neger oder sonst eine Gruppe« (Coser 2009: 58) treffen. Diese Annahme folgt zwingend aus der Grundüberlegung, dass Antisemitismus mit Juden nichts zu tun habe. Die Mehrzahl der Theorien dieses Typs stammt aus den 30er, 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts,20 als sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Professionen unter dem Eindruck des Nationalsozialismus verstärkt der Erforschung von Antisemitismus im Besonderen und gruppenbezogenen Vorurteilen im Allgemeinen zugewandt hatten – einer Zeit, die von Werner Bergmann als »starker Auftakt« der Antisemitismusforschung bezeichnet wird, dem »in der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung 19 Dieser Gedanke wird schon in der knappen Einleitung zu einer Interviewreihe zum Antisemitismus 1894 von Hermann Bahr formuliert und später von vielen Autoren, unter anderen Sartre, in der einen oder anderen abgewandelten Form wieder aufgenommen: »Wenn es keine Juden gäbe, müßten die Antisemiten sie erfinden« (Bahr 1976: 15). Nach Bahr hat Antisemitismus mit dem Verhalten von Juden nichts zu tun: »Wer gehaßt wird, thut im Grunde dabei nichts« (ebd.). Von ihm stammt auch die Überlegung, dass der Antisemitismus eine Leidenschaft sei, die »nur sich selber« wolle, eine »Begierde nach dem Taumel und dem Rausche einer Leidenschaft« (Bahr 1976: 15 und 16), gegen die mit Argumenten nichts auszurichten sei. 20 »Vorarbeiten« finden sich schon im ausgehenden 19. Jahrhundert, z.B. bei Ludwig Bamberger, bei dem es heißt: »Es gab immer und überall und es gibt zur Zeit in Deutschland besonders viele Schwärmer, die den Feuereifer für ihr eigenes Ideal nicht wirksamer schüren zu können vermeinen, als indem sie alles andere geringschätzen oder hassen. Gerade der Cultus der Nationalität trägt diese Versuchung mehr als jeder andere in sich und artet leicht dahin aus, den Haß gegen andere Nationen zum Kennzeichen echter Gesinnung zu machen. Von diesem Haß gegen das, was sich etwa noch als fremdartig in der eigenen Heimat ausfindig machen läßt, ist nur ein Schritt. Je mehr Haß, desto mehr Tugend! Wo der Nationalhaß nach außen seine Schranke findet, wird der Feldzug nach innen eröffnet« (Bamberger 2003: 224).

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jahrzehntelang wenig« (Bergmann 2004: 221) nachfolgte. Die Authoritarian Personality von Adorno et al., Reichs Massenpsychologie des Faschismus (1986), Sartres Betrachtungen zur Judenfrage, Frustration and Aggression von Dollard et al. (1940) und Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1982) sind nur die bekanntesten Arbeiten dieses Typs. Ihnen stehen inzwischen weniger bekannte Studien wie Prophets of Deceit von Löwenthal und Guterman, eine Studie zu Struktur und Aufbau faschistischer Propaganda in den USA (Löwenthal 1982: 11-160), Bettelheims und Janowitz’ Social Change and Prejudice, die im Anschluss an Durkheim und Parsons gruppenbezogene Vorurteile von Veteranen gegenüber Juden und Schwarzen aus Verunsicherungen infolge sozialer Mobilität erklären (Bettelheim/Janowitz 1950), Das Gruppenexperiment, eine der ersten Studien zum Nachkriegsantisemitismus in Deutschland, die den Ausgangspunkt für Werner Mangolds innovative methodologische Überlegungen zur Gruppendiskussion bildete (Pollock 1955), die psychoanalytischen Arbeiten insbesondere von Ernst Simmel, der – wie die meisten anderen Autoren seiner Zeit  – Antisemitismus als Produkt der Zivilisation begreift und ihn als Flucht des Einzelnen vor dem Wahnsinn in eine Massenpsychose deutet (Simmel 1993: 58100), und dem früh verstorbenen Otto Fenichel, der im Unterschied zu den meisten anderen Psychoanalytikern seiner Zeit die Grenzen psychoanalytischer Deutungen des Antisemitismus betont (Fenichel 1981: 373f.), im Grad der theoretischen Durchdringung des Gegenstands in keiner Weise nach.21 Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein – in diesem Punkt ist Werner Bergmann sicher zuzustimmen – besteht die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung, sofern sie überhaupt theoretisch interessiert ist und sich nicht in der Erhebung und Auswertung von Umfragen erschöpft, vor allem in einer theoretischen Präzisierung der bis zur Jahrhundertmitte aufgestellten Theoreme und der methodischen Verfeinerung der in dieser Zeit entwickelten Erhebungsinstrumente.22 21 Ich habe hier nur einige Werke hervorgehoben, um die Breite der sozialwissenschaftlichen Diskussion zu verdeutlichen. Die Auswahl beansprucht selbstverständlich nicht, einen repräsentativen Querschnitt vorzustellen. 22 Die Sekundärliteratur zu The Authoritarian Personality ist unüberschaubar, Jos Meloen hat Anfang der 90er Jahre über 2300 Arbeiten gezählt, die direkt oder indirekt auf sie Bezug nehmen (Meloen 1993: 47). Die Arbeit hat eine heftige methodologische Kontroverse hervorgerufen, lesenswert dazu nach wie vor: Hyman/Sheatsley (1954).

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Der allgemeine Aufbau des Erklärungsmodells ist der folgende:23 Seine Grundannahme besagt, dass Antisemitismus wie andere gruppenbezogene Stereotype Muster der Weltdeutung sind, die aus der sozialen und psychischen Lage des Antisemiten zu erklären sind. Die Muster werden erstens durch Konflikterfahrungen erklärt, die mit Juden nichts zu tun haben und die im Einzelfall unterschiedlich analysiert werden (ökonomische Krisen etwa bei Rosenberg [1967: 88117],24 die Klassenstruktur moderner Gesellschaft etwa bei Horkheimer und Adorno [1987: 202-205; Horkheimer 1988a: 308-331] oder bei Sartre,25 Angst vor der eigenen, »nicht integrierten analen Trieb23 Bernstein (1926) hat eine gruppensoziologische Deutung vorgelegt, deren Erklärungsmodell von dem hier dargestellten abweicht: Auch Bernstein verortet den zentralen Konflikt im Individuum, der aber über die Entgegensetzung von Gruppen ausgetragen wird. Die Gruppe ist nach Bernstein eine »funktionelle Einheit und […] unentbehrliche Organisation, um den Genuß aller Vorteile, welche die menschliche Gemeinschaft bieten kann, mit der Möglichkeit zur Äußerung der fortwährend nach Entladung drängenden Unfreundlichkeitsgefühle kombinieren zu können« (Bernstein 1926: 80). In dieser Perspektive ist der Antisemitismus ein »Spezialfall« der Gruppenfeindschaft, »die ihrerseits in den Bereich der allgemeinen Gruppenerscheinungen gehört« (Bernstein 1926: 219). 24 Rosenberg hat den Zusammenhang von ökonomischer Krise und Antisemitismus so ausgedrückt: »Seit 1873 stieg der Antisemitismus, wenn der Aktienkurs fiel« (Rosenberg 1967: 96). Diese  – oft Rosenberg zugeschriebene  – Formulierung stammt nicht von Rosenberg selbst, sondern von Raymond Sonntag (den er an der besagten Stelle zitiert). Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass Rosenberg selbst eine strikte Beziehung von Antisemitismus und ökonomischer Krise auf den »ökonomisch fundierten Judenhaß« (Rosenberg 1967: 96) einschränkt, den er vom »Rassenantisemitismus«, vom »politischen Antisemitismus« (Rosenberg 1967: 93) und vom »kulturellen Antisemitismus« (Rosenberg 1967: 104) unterscheidet. 25 Wie bei Horkheimer und Adorno – und im Unterschied beispielsweise zu Parsons und Arendt – ist der Bezugspunkt von Sartres Antisemitismustheorie das Individuum. Die Übereinstimmungen zwischen beiden Theorien, die aus nicht nur unterschiedlichen, sondern konträren theoretischen Traditionen stammen, sind verblüffend: Antisemitismus ist nach Sartre eine erfahrungsresistente »Leidenschaft« (Sartre 1966: 109) des Antisemiten. Dessen Vorurteil sei nicht isoliert, sondern Teil einer Weltanschauung (vgl. Sartre 1966: 113), die den Lauf der Welt manichäisch als Kampf des Guten mit dem Bösen, für das die Juden stehen, erklärt. Für den Antisemiten gelte, dass er vom Bösen mehr oder minder magisch angezogen werde: Der Antisemit will das Böse verurteilen, es ist ihm gerade nicht egal. Sartres Analyse der antisemitischen Lebensweise (vgl. 146ff.) ist ausgesprochen hellsichtig und insbesondere die Ausarbeitung des manichäischen und weltanschaulichen Charakters des Antisemitismus hebt sich – wie die Überlegungen von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung – deutlich von der zu dieser Zeit üblichen Analyse einzelner Stereotype ab. Schließlich könnte Sartres Reflexion auf den Klassencharakter des Antisemitismus (Sartre 1966: 187) geradewegs der Dialektik der Aufklärung entnommen sein.

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regung« etwa bei Grunberger und Dessuant [2000: 335]). Zweitens wird ein in der Regel psychischer Mechanismus angegeben, in dem diese Konflikte verarbeitet werden (z.B. psychotische Konfliktverarbeitung bei Ernst Simmel [1993: 73] oder die Frustrations-/Aggressions-Hypothese von Dollard [1940]). Der psychische Mechanismus liegt einem schiefen, von der eigentlichen Problemursache abgelösten Verständnis sozialer Wirklichkeit zugrunde, einem »Zerrbild der Moderne« (Rürup 1987: 126), durch das die Juden zu »scapegoats« (Parkes 1963: Kapitel III) werden. Weil sowohl der ursprüngliche soziale Konflikt wie die Weise seiner Verarbeitung nichts mit Juden zu tun haben, müssen alle Theorien dieses Typs drittens erklären, warum der Konflikt antisemitisch verarbeitet wird und nicht in Stereotypen über Rothaarige oder Radfahrer. Die Erklärungen sind in aller Regel historisch angelegt und reichen entweder bis in die Anfangszeit des Christentums zurück (z.B. Freud 1982: 539, Claussen 1987a: 138ff.) oder verweisen auf Aspekte der Transformation ständischer in moderne Gesellschaften wie die lange Identifikation der Juden mit Geld und die Ausdehnung der Zirkulationssphäre im Kapitalismus (z.B. Postone 1982: Abschnitt III) oder auf beides (z.B. Parkes 1963: 57-73). Anders als in realistischen Theorien sind in diesem Theorietyp der Hass auf und das Stereotyp über Juden kein Spezifikum des Antisemitismus und können das auch nicht sein, weil sie aus Mechanismen erklärt werden, die mit Juden nichts zu tun haben. Es verhält sich genau umgekehrt: Antisemitismus ist eine besondere Form einer Konfliktverarbeitung, die auch andere Formen, etwa Rassismus oder Nationalismus, zulässt. Die Erklärung des Antisemitismus wird deshalb zu einem Teilgebiet der allgemeinen Vorurteils-26 oder Stereotypenforschung.27 26 Historisch hat sich diese Forschung unter dem Titel »Vorurteilsforschung« entwickelt. Wegen der Vieldeutigkeit des Begriffs »Vorurteil« war man genötigt zu erklären, welcher Typ von Vorurteilen eigentlich gemeint ist. Allport beispielsweise unterscheidet in The Nature of Prejudice zwischen Vorurteilen und Vorausurteilen. Letztere sind durch Erfahrung modifizierbar, Erstere nicht. Nach mehreren Versuchen begrifflicher Schärfung (»soziale Vorurteile«, »Stereotype«) hat sich inzwischen im deutschen Sprachraum im Anschluss an den großen Forschungsverbund von Heitmeyer und anderen die Bezeichnung »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« etabliert. Diese Bezeichnung stellt einen erheblichen Gewinn an begrifflicher Präzision dar und macht deutlich, dass »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« neben Antisemitismus unterschiedliche Ausprägungen haben kann. 27 Es ist ein bedenkenswertes und erklärungsbedürftiges Phänomen, warum eine Einordnung der Antisemitismuserklärung in eine allgemeine Theorie gruppen-

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Die Verortung der Antisemitismusforschung in der Forschung zu politischem Autoritarismus bzw. zu gruppenbezogenen Stereotypen, die gerade in der Einleitung der oft als Meilenstein einer theoretisch reflektierten empirischen Antisemitismusforschung28 apostrophierten Authoritarian Personality besonders deutlich wird (vgl. Adorno et al. 1967: 1-10; vgl. auch 57f. u.ö.), erklärt sich aus der historischen Situation ihrer Entstehung: Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand in den 30er, 40er und 50er Jahren des 20.  Jahrhunderts nicht allein und nicht vor allem der Antisemitismus, sondern der Antisemitismus als ein Element unter anderen Elementen autoritärer politischer Propaganda. In einer Zeit, in der viele Staaten Europas autoritär regiert wurden und der Nationalsozialismus wütete, galt ein Hauptinteresse der Forschung der Aufklärung der Frage, warum Individuen für autoritäre politische Propaganda empfänglich werden. Typischerweise argumentieren Theorien dieses Typs psychoanalytisch oder psychologisch29 im Hinblick auf die Wirklichkeitswahrnehmung des Antisemiten und den psychischen Mechanismus, der zu ihrer Verzerrung führt. Sie gehen davon aus, dass das antisemitische Fremdbild eine Projektion des Antisemiten ist, die es ihm ermöglicht, eigene psychische Konflikte so aufzuspalten, dass sie für ihn handhabbar werden. Der Antisemit projiziert kulturell tabuisierte oder delegitimierte Vorstellungen und Handlungswünsche, insbesondere sexuelle und aggressive Neigungen, auf Juden. Nicht er selbst oder Angehörige der eigenen Gruppe sind dann beispielsweise aggressiv, sondern »die Juden«, man selbst ist das Opfer einer jüdischen Aggression, was wiederum die eigene Aggression legitimiert. Die Projektion ermöglicht dem Antisemiten also, mit den eigenen tabuisierten oder delegitimierten Wünschen auf eine kulturell legitime Weise umzugehen: Mit sexuellen Ausschweifungen kann er sich beschäftigen und bezogener Stereotype in diesem Theorietyp so selten erfolgt. Dieses Phänomen wird noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass jede Studie dieses Typs mit erheblichem Aufwand erklären muss und auch tatsächlich erklärt, warum sich die Stereotype auf Juden und nicht auf andere richten. 28 Vgl. exemplarisch Nonn 2008: 17f., der den autoritären Charakter in »die Theorie der antisemitischen Persönlichkeit« verwandelt, oder Bergmann 2004: 220. 29 Ich erörtere im Folgenden nur die psychoanalytische Perspektive. Psychologische Theorien argumentieren mit anderen Vorannahmen und kommen mit einem anderen begrifflichen Instrumentarium zu einer anderen Beschreibung der Mechanismen. Da es mir hier nicht auf die Differenz der theoretischen Zugänge, sondern auf die allgemeine Struktur des Erklärungsmodells ankommt, scheint mir diese Einschränkung vertretbar.

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sie gleichzeitig verurteilen, gegen Juden zugeschriebene Aggressionen kann er sich wehren usw. Der Mechanismus selbst ist nicht spezifisch für den Antisemitismus.30 Wir kennen ihn beispielsweise aus den Medien, die gelegentlich über Feuerwehrleute berichten, die Brände legen, um sie bekämpfen zu können. Den Sinn des Antisemitismus, seine psychische Funktion für den Antisemiten, sehen psychoanalytisch orientierte Theorien in der psychischen Stabilisierung des Einzelnen in der Welt (vgl. etwa Simmel, E. 1993: 73).31 Der Unterschied zwischen einem Antisemiten im Besonderen bzw. einer vorurteilsvollen Persönlichkeit im Allgemeinen und einem Individuum, das innerpsychische Konflikte nicht verzerrt auf Juden bzw. andere Gruppen projiziert, wird psychologisch durch die Unterscheidung zwischen einem starken und einem schwachen Ich oder eine vergleichbare Unterscheidung bezeichnet.32 Ein starkes Ich kann seine eigenen Lebensbedingungen und die projektiven Anteile seiner eigenen Weltwahrnehmung angemessen deuten, während ein schwaches Ich dazu nicht in der Lage ist. Horkheimer und Adorno fassen diese Differenz im Hinblick auf den Mechanismus der Weltdeutung mit der Unterscheidung von bewusster und pathischer Projektion: Alles Verstehen und Deuten von Welt ist projektiv, d.h. 30 Vgl. exemplarisch Orr (1993: 116), der seine Reflexion zum Antisemitismus als Teil der Psychopathologie des Alltagslebens wie folgt beschließt: Er habe »weniger vom Antisemitismus als einem einzigartigen Problem gesprochen, sondern mehr von dem, was man die Psychologie des Vorurteils nennen könnte. Die meisten Argumente könnten auch in einer Diskussion über die Einstellungen von Mehrheiten zu beliebigen Minderheiten oder über die Einstellungen einer sozialen oder ökonomischen Schicht zu einer anderen vorgebracht werden.« 31 Die Notwendigkeit einer solchen Stabilisierung wird gerade in psychoanalytischen Arbeiten in der Tradition Freuds als Folge von psychischen Zwängen begriffen, welche die moderne Zivilisation den Individuen auferlegt (vgl. Simmel, E. 1993; Bezugspunkt ist Freud 1982a, insbes. Abschnitt VII, in dem Freud die These entwickelt, dass fortschreitende Zivilisation mit fortschreitendem Triebverzicht, fortschreitender Triebverzicht mit anwachsendem Schuldgefühl infolge der Wendung der Aggression nach innen verbunden sei). Ein zweiter Strang argumentiert stärker mit Bezug auf Freuds Mann Moses, in dem Freud den Narzissmus der kleinen Differenzen und die »schlechte Taufe« der Christen als Gründe für den Antisemitismus anführt (Freud 1982b: 538ff.), d.h. die Projektion der oft mit Zwang verbundenen Abkehr vom Polytheismus und das Bekenntnis zum Monotheismus auf den Ursprung des Christentums (die Studie von Grunberger und Dessuant (2000) verbindet die beiden Aspekte). 32 Die Unterscheidung stammt von Freud (1982e: 524), spielt dort systematisch aber keine Rolle und wird in dem hier erörterten Sinn von Fromm (1987 [1936]) verwendet.

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abhängig von der emotionalen und kognitiven Struktur des Deutenden und des Wissens, über das er verfügt und in dem er seine Deutung kontextuiert. Kann ein Individuum zwischen den eigenen Anteilen und den fremden Anteilen der Wahrnehmung reflexiv differenzieren, werden seine Projektionen als bewusst bezeichnet, kann es das nicht, gelten sie als »pathisch«.33 Das mit Abstand wichtigste Theorem zur Sozialpsychologie des Antisemiten ist die Theorie des autoritären Charakters. Sie ist mit erheblichem theoretischem Aufwand modifiziert und weiterentwickelt worden, insbesondere von Detlev Claussen, Zygmunt Bauman und Lars Rensmann.34 Ich erläutere sie knapp und stellvertretend für den hier zur Rede stehenden Theorietyp. Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, die Theorie im Detail vorzustellen, auch behaupte ich nicht, dass sie inhaltlich für andere Theorien dieses Typs repräsentativ wäre. Mir geht es ausschließlich darum, die eben entwickelte allgemeine Struktur dieses Theorietyps an einem Beispiel deutlich zu machen. Die Theorie des autoritären Charakters geht davon aus, dass die Auffassungen eines Individuums über die soziale Welt, so unterschiedliche Themen aus verschiedenen Bereichen sie auch betreffen 33 Vgl. zur Entwicklung der Unterscheidung Adorno und Horkheimer 1987: 217230; dazu Weyand 2001: 117-121. 34 Claussen versucht in Grenzen der Aufklärung die spezifische Differenz zwischen modernem Antisemitismus und vormodernem Judenhass präziser zu fassen, als dies den Autoren der Dialektik der Aufklärung gelungen war. Der Kern des Arguments ergibt sich aus einer Verbindung von Marx’scher Gesellschaftstheorie mit der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds. Ich bin an anderer Stelle auf die Argumentation eingegangen (vgl. Weyand 2006: 245f.). In der Konsequenz versteht Claussen die moderne Gesellschaft als strukturell antisemitisch (vgl. Claussen 1987b: 16). Die Annahme führt auf das Problem, nicht erklären zu können, warum Antisemitismus in allen europäischen Staaten erheblichen Schwankungen unterliegt und er in einigen Staaten, etwa in Frankreich und Deutschland, verbreiteter ist als in anderen, etwa den Niederlanden oder insbesondere Dänemark. Auf dieses Problem reagiert Rensmann (2005) mit einer Kulturalisierung der Antisemitismusforschung der Kritischen Theorie. Ein fundamentales Problem allerdings bleibt auch bei Rensmann ungelöst: Wenn die moderne Gesellschaft tatsächlich strukturell antisemitisch ist, muss entweder der Antisemitismusbegriff enorm ausgeweitet werden oder es ist kaum mehr zu verstehen, warum so viele Menschen keine Antisemiten sind. Tatsächlich fasst Rensmann Antisemitismus sehr weit, so dass schließlich einer Reihe von Autoren, bei denen man das gar nicht vermuten würde, die Verwendung antisemitischer Stereotype zugesprochen wird, z.B. Götz Aly (vgl. Rensmann 2005: 431f.). Auf Zygmunt Baumans Überlegungen komme ich gleich zu sprechen.

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mögen, oft ein zusammenhängendes Ganzes darstellen, »a broad and coherent pattern« (Adorno at al. 1967: 1), dessen Struktur sich aus dem Charakter dieses Individuums erklärt. Unter »Charakter« verstehen die Autoren eine sedimentierte, mehr oder minder festgefügte psychische Struktur, eine Organisation von Trieben, Wünschen und Affekten, die den emotionalen und kognitiven Gehalt der Weltauffassung seines Trägers festlegt. Der Charakter, so schreiben die Autoren an einer Stelle der Einleitung in The Authoritarian Personality, sei die Instanz, die Soziales und Weltdeutung vermittele, da er Wahrnehmung und Interpretation sozialer Phänomene festlege. Kennzeichnend für die autoritäre Charakterstruktur ist, was Adorno und Horkheimer einmal prägnant als »Radfahrersyndrom« bezeichnet haben: Nach unten treten, nach oben buckeln. Der Autoritäre rebelliert, aber er rebelliert konformistisch, er richtet seine Aggression nicht gegen die Autoritäten der eigenen Gruppe, denen er sich unterwirft, sondern gegen Fremdgruppen. Das literarische Modell dafür ist Heinrich Manns Roman Der Untertan. Sozialisationstheoretisch wird der autoritäre Charakter schon in der frühen Studie über Autorität und Familie35 auf eine Sedimentierung und charakterliche Verfestigung frühkindlicher Erfahrungen zurückgeführt.36 In der Familie, der »psychologischen Agentur der Gesellschaft« (Fromm 1980: 35), verinnerlicht die nachwachsende Generation Zwänge, deren Sinn sie später reflexiv nur teilweise einholen kann. Darunter fällt insbesondere die Akzeptanz von Autorität um ihrer selbst willen, und zwar nicht einfach auf der Ebene der 35 Die Studie zu Autorität und Familie reagiert, wie etwa auch die Arbeiten von Wilhelm Reich in den späten 20er und frühen 30er Jahren oder die Arbeiten von Siegfried Bernfeld Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, auf ein Erklärungsproblem, das sich in der Folge der Marx’schen Geschichtsphilosophie stellt: Nach ihrer Auffassung ist die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen so weit fortgeschritten, dass eine sozialistische Revolution historisch möglich ist. Daraus folgt zwingend die Frage, warum sie nicht eintritt, deren Beantwortung noch drängender wird durch den Aufschwung faschistischer Parteien. Reich nannte dies die »Schere« zwischen ökonomischer und sozialer Entwicklung. Diese Schere erklären Horkheimer und die an Marx orientierten Psychoanalytiker aus »Hinderungsgründen«. Horkheimer verortet die Hinderungsgründe in »der Kultur«, der er eine produktive wie eine hemmende Funktion in der geschichtlichen Entwicklung zuspricht. Ein zentrales hemmendes Element der Kultur ist nach der frühen Kritischen Theorie die Familie, in der die nachwachsende Generation »eine das Bewußtsein verfälschende Triebstruktur« (Horkheimer 1988c: 59) durch autoritäre Sozialisation erwirbt. 36 Die folgenden Ausführungen fassen Weyand 2006: 240-242 zusammen.

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Kognition, sondern auch auf der Ebene der Emotion und des Verhaltens. »Indem das Kind in der väterlichen Stärke ein sittliches Verhältnis respektiert und somit das, was es mit seinem Verstand als existierend feststellt, mit seinem Herzen lieben lernt, erfährt es die erste Ausbildung für das bürgerliche Autoritätsverhältnis« (Horkheimer 1988b: 391).37 Das Autoritätsverhältnis wird im Über-Ich, nach Auffassung der Psychoanalyse die Instanz der Gesellschaft im Individuum, also die Instanz, die normengeleitetes, regelkonformes, an anderen orientiertes Handeln ermöglicht, internalisiert. Doch die Integration des Über-Ichs in das Ich gelingt nicht, weil seine soziale Grundlage, das elterliche Autoritätsverhältnis, selbst nicht nur rational verstehbare, sondern repressive Züge hat. Das Über-Ich bleibt veräußerlicht, das Ich schwach. In der Folge wird das eigene Handeln an äußeren, mit politischer Macht ausgestatteten und daher als legitim angesehenen Autoritären orientiert.38 Weil das Über-Ich dem Ich fremd bleibt, ist die Funktionsweise dieses Mechanismus für den Autoritären reflexiv nur schwer einzuholen. Die Frage, warum einige eine autoritäre Charakterstruktur ausbilden, andere nicht, beantworten Adorno et al. in The Authoritarian Personality mit Verweis auf unterschiedliche Familienkonstellationen, psychologisch auf unterschiedliche Lösungen des Ödipus-Komplexes.39 Die in der frühen Kindheit erworbene autoritäre Charakterstruktur verfestigt sich nach Adornos Auffassung in der Bewältigung des 37 Horkheimer führt dies auf eine Veränderung im Verhältnis von familialer und gesellschaftlicher Stellung der Eltern in modernen Sozialordnungen zurück. Vgl. dazu näher Weyand 2001: 107f. 38 Zur Erklärung der Bildung autoritärer Massen aus diesem Mechanismus vgl. Freud (1982c) und Adorno (1971). 39 Vgl. Adorno et al. 1967: 744ff. Horkheimer hatte die Differenz von autoritären und nichtautoritären Charakteren in Autorität und Familie noch auf Unterschiede in der Beziehung zu Vater und Mutter zurückgeführt (die Mutterbeziehung galt dem frühen Horkheimer als Hort der Liebe, der Vater hingegen als Verkörperung gesellschaftlicher Rationalität), diese Auffassung in den späten 40er Jahren des letzten Jahrhunderts aber revidiert (vgl. Horkheimer 1987: 379ff.). In der sich in der Tradition der Kritischen Theorie verstehenden, auf Horkheimer und Adorno folgenden Generation ist die zentrale Stellung, die Adorno dem Ödipus-Komplex einräumt, massiv in die Kritik geraten, vgl. etwa Benjamin (1982) oder Deleuze/Guattari (1997).

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Alltags in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise, in der Individuen in einem »charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Misserfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen« (Adorno 1971: 68), stehen: Insbesondere im Bereich der Sicherung der eigenen Existenz sind Individuen genötigt, Schmied ihres eigenen Lebensglücks zu sein und ihr Selbst in erheblichem Maß narzisstisch zu besetzen, um ihre Handlungsziele durchzusetzen. Das setzt voraus, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Handlungsziele rational verstehen und auf sie beziehen zu können. Doch in zentralen Handlungsbereichen sind diese Rahmenbedingungen für das Individuum weder durchsichtig noch kontrollierbar.40 Keine Betriebsschließung, keine Veränderung von Berufsbildern lässt sich einem davon Betroffenen als für ihn überschaubare Randbedingung seines Handelns zurechnen. Die Anforderung, das eigene Leben selbst zu gestalten, kollidiert mit den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Gestaltung, und diese Kollision erfährt der Einzelne als narzisstische Kränkung (vgl. dazu ausführlich Weyand 2001: 134ff.).41 Eine Lösung für diese Dialektik des Narzissmus bietet nach Adorno die Identifikation mit einem Kollektiv: Man selbst wird zum Teil eines mächtigen Kollektivs, das sich gegen Angriffe von außen zur Wehr setzt. Tatsächlich kann Adorno mit dieser Überlegung eine Reihe von Mechanismen autoritärer Propaganda erklären, etwa, warum sich autoritäre politische Propagandisten grundsätzlich als zugleich groß und mächtig und als Menschen wie du und ich stilisieren  – ein Mechanismus, der sich auch in der Gegenwart hoher Beliebtheit erfreut.

40 Diese Überlegung findet sich auch bei Autoren, bei denen man das gar nicht erwarten würde, etwa bei Alfred Schütz (2011d). 41 Mit Bourdieu (und anderen Analytikern sozialer Ungleichheit) könnte man diese Überlegung stärker soziologisch formulieren: In das Alltagsleben übersetzt bedeutet eine narzisstische Besetzung der eigenen Person Aufstiegsorientierung. Der Zielpunkt der Aufstiegsorientierung mag eine abstrakte Spitze sein, konkret und lebensweltlich vertraut sind die Angehörigen des nächsten übergeordneten Milieus. Da der Aufstieg nur für einige möglich ist, die Aufstiegsorientierung diesen Kreis aber weit überschreitet, folgt, dass das Ziel typischerweise nicht erreicht wird und nicht erreicht werden kann. Bourdieu entwickelt die Folgen am Beispiel der französischen Bildungspolitik und bezeichnet die davon Betroffenen ausgesprochen treffend als »intern Ausgegrenzte« (vgl. Bourdieu/Champagne 1997).

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Sowohl die Ausbildung einer autoritären Charakterstruktur in der Sozialisation wie ihre Verfestigung in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise führen Adorno und die anderen Vertreter dieses Ansatzes auf die Klassenstruktur moderner Gesellschaft zurück. Am Ende dieser Überlegung steht, wie etwa auch bei Sartre (1966: 187), die Annahme, Antisemitismus und Autoritarismus seien Mittel zur Stabilisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Ökonomische Herrschaft erscheint in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise als Herrschaft des Geldkapitals.42 Dass der Hass Juden trifft, wird aus sozialgeschichtlichen Gründen erklärt, vor allem mit Verweis auf den vormodernen christlichen Antisemitismus, die Beschränkung der Juden im Mittelalter auf die Zirkulationssphäre und ihre Waffenlosigkeit (Horkheimer/Adorno 1987: 202ff.).43 42 Das Argument basiert auf der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie (1993): Der Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn ist  – wie jeder andere Warentausch auch – Äquivalententausch. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft und erhält ein Äquivalent ihres Wertes. Deswegen wird rätselhaft, wie Mehrwert produziert und angeeignet werden kann. Marx kann zeigen, dass dies in der Sphäre der Produktion, d.h. der Anwendung der Arbeitskraft geschieht (die Arbeitskraft schafft mehr Wert, als sie wert ist), aber dies erscheint nicht an der Oberfläche der kapitalistischen Ökonomie. Sichtbar ist lediglich die Differenz von Kapitaleinsatz und Kapitalertrag. Daher scheint die Zirkulationssphäre für ökonomische Herrschaft im Kapitalismus verantwortlich zu sein. »Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung«, ein »gesellschaftlich notwendiger Schein« (Adorno/Horkheimer 1987: 204), gilt als Grundlage des Antisemitismus in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise. Mit der Zirkulationssphäre werden dann »die Juden« identifiziert. Argumentationen, die darauf aufbauen, gelangen zwangsläufig zu der Annahme, eine Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise sei strukturell antisemitisch, eine »antisemitische Gesellschaft« (vgl. Adorno/Horkheimer 1987: 230; Claussen 1987a: 27f.; Claussen 1988; Postone 1982). 43 Für die Antisemitismustheorie der Kritischen Theorie ist insgesamt ein stark ökonomisch fokussierter Gesellschaftsbegriff kennzeichnend: »Der tragende Lebensprozeß, an dem die Soziologie ihren eigentlichen Gegenstand hat, ist zwar der ökonomische, aber die ökonomischen Gesetze stilisieren ihn bereits nach einem Begriffssystem streng rationaler Handlungen, das um so geflissentlicher sich als Erklärungsschema behauptet, je weniger es in der Welt verwirklicht war« (Institut für Sozialforschung 1983: 32). Sehr pointiert ausgedrückt: Die Ökonomie sitzt der Ideologie auf, Individuen würden rational handeln, während die Soziologie dies als Ideologie entziffern kann. Dieser stark auf die Ökonomie fokussierte Gesellschaftsbegriff erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Kritischen Theorie und zieht sich vom frühen Horkheimer (vgl. 1988c: 56-59) bis zum späten Adorno durch. In der Konsequenz führt er zu einer massiven Unterschätzung der symbolischen Dimension sozialer Phäno-

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Wir erfahren in diesem Typ von Theorie viel über den Antisemiten, soziale Konflikte in einer modernen Gesellschaft und deren psychische Verarbeitung, aber wenig über Antisemitismus. Antisemitismus ist in diesem Typ von Theorie ein Ensemble von abwertenden Meinungen über Juden, das nicht als kulturelles Deutungsmuster von Welt begriffen wird, sondern seiner psychischen und sozialen Funktion nach. Adorno artikuliert dies in Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda ganz deutlich: »Nun, da festgestellt ist, was die Bestandteile der Propaganda sind«, resümiert er den vierten Band der Studies in Prejudice, die Untersuchungen von Löwenthal und Guterman, »ist es an der Zeit, das psychische System, das diese Bestandteile umfaßt und sie produziert« (Adorno 1971: 36), zu untersuchen. Der Sinn des Antisemitismus im Besonderen und des Autoritarismus im Allgemeinen besteht psychologisch in der Stabilisierung des Individuums in der Welt, sozial in der Funktionalität der Stereotypen zur Legitimation und Aufrechterhaltung sozialer Herrschaft. Auch wenn wir die Plausibilität dieser Überlegung akzeptieren, sind zwei Schwierigkeiten kaum von der Hand zu weisen: (1) Allein auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs wurden im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert Tausende antisemitische Schriften zur »Judenfrage« publiziert, die zwischen Deutschen und Juden unterscheiden und fordern, dass Juden rechtlich nicht Deutschen gleichgestellt werden dürfen. Selbst wenn man annimmt, dass Antisemitismus seinen Propagandisten wie seinen Anhängern Orientierung verschafft und er funktional für die Abfuhr aggressiver Wünsche ist, so liegt doch die Überlegung nahe, dass dies nicht der einzige Sinn des Antisemitismus ist. Die Unterscheidung von »Deutschen« und »Juden« verweist auf Kollektive, damit über den psychologischen Mechanismus der Identifikation von Individuen mit Gruppen hinaus auf kulturelle Muster, in denen sich Kollektive verstehen. Was darüber hinaus die Unterscheidung zwischen »Deutschen« und »Juden« von anderen Differenzierungen zwischen Kollektiven unterscheidet, folgt weder aus dem psychologisch zu bestimmenden Sinn des Antisemitismus für den Antisemiten – für diesen Sinn ist es irrelevant, ob ein paranoides System sich an einer jüdischen Weltverschwörung, an außerirdischen Wesen oder an Geheimbünden festmacht – noch aus dem sozialen Sinn des Antisemitismus – soziale Herrschaft lässt sich mene. Jürgen Habermas hat bekanntlich seit Erkenntnis und Interesse erhebliche theoretische Anstrengungen unternommen, diese Verkürzung unter Beibehaltung des kritischen Anspruchs theoretisch aufzuarbeiten.

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auf alle möglichen Weisen legitimieren. Neben den »sozialpsychologischen Voraussetzungen des modernen totalitären Wahns« (Institut für Sozialforschung 1983: 152) gibt es offenbar noch weitere Voraussetzungen, deren Untersuchung für ein Verständnis des modernen Antisemitismus erforderlich ist. Insbesondere muss die Frage beantwortet werden, in welcher Beziehung Antisemitismus zu Formen kollektiver Selbstverständigung in einer modernen Gesellschaft steht. Um Formen der Selbstverständigung untersuchen zu können, bedarf es aber eines Begriffs der Kultur als einer eigenständigen Ebene symbolischer Weltdeutung. (2) Dass Antisemitismus ein System irrationaler Stereotype über Juden sei, dessen Einheit wegen dieser Irrationalität nur psychologisch erklärbar sei, ist eine bloße Behauptung, die in diesem Erklärungsmodell gemacht wird, weil anders sich die scheinbare Widersprüchlichkeit antisemitischer Stereotype nicht erklären lässt. Die Behauptung verwandelt sich in einen evidenten Satz, wenn man die Annahme akzeptiert, dass der Charakter die Instanz sei, die soziale Einflüsse auf die Denkmuster von Individuen vermittelt. Nur unter dieser Voraussetzung ist es plausibel, den Charakter eines Individuums zum großen Integrator seiner Alltagsreligion zu stilisieren. Der Charakter ist aber nicht die Instanz, die soziale Einflüsse auf die Denkmuster von Individuen vermittelt, sondern eine Instanz. Denkmuster etwa sind kulturelle Muster. Jedes Denkmuster eines Individuums, die Organisation seines Wissens, hat überindividuelle, kulturelle Voraussetzungen, Sprache, Traditionen, Gewohnheiten usw. Es ist Teil einer symbolischen kulturellen Ordnung, und nur in dieser Ordnung kann es sich artikulieren. Die Einheit des »Denkmusters« ist deshalb nicht nur und möglicherweise auch nicht zuerst in der Psyche zu verorten, sondern in der Kultur. Wenn wir den modernen Antisemitismus soziologischer Aufklärung zuführen wollen, müssen wir über die Frage nach den Antisemiten und ihren sozialen und psychischen Konflikten hinaus auch die Frage nach dem Antisemitismus als Element des kulturellen Wissensvorrats moderner Gesellschaft, auf das deren Angehörige zurückgreifen, stellen. Mit dieser Überlegung wird die Frage nach der Erklärung des modernen Antisemitismus erneut modifiziert: Es reicht nicht länger hin, zwischen Gesellschaft und Individuum zu unterscheiden, wenn wir Antisemitismus als symbolisches Deutungsmuster sozialer Wirklichkeit begreifen, das Individuen aufgreifen. Als solches ist er Teil des

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»selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes« (Geertz 1983: 9) der Kultur, Teil eines gemeinsam verfügbaren »Wissensvorrates, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in der Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen« (Habermas 1984: 594). In Frage steht nun, wie dieser »Wissensvorrat« strukturiert ist und in welcher Beziehung er zu der sozialen Struktur moderner Gesellschaft steht. Fragt man in dieser Weise wissenssoziologisch nach dem Antisemitismus, kann man zwischen dem Antisemiten, dem Antisemitismus als kulturellem Wissensvorrat und den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich ein solcher Wissensvorrat bildet, unterscheiden (vgl. meine Vorüberlegung in Weyand 2010b: 72f.). Die Umformulierung der Frage verspricht eine tiefere Einsicht in das Problem, was der moderne Antisemitismus mit der Konstitution der modernen Gesellschaft zu tun hat. Die Möglichkeit, diese Perspektive einzunehmen, hat selbst wieder theoriegeschichtliche Voraussetzungen, vor allem den sogenannten linguistic turn, dessen zentrale Leistung darin besteht, den konstruktivistischen Grundzug der modernen Erkenntnistheorie seit Kant auf die Sprache zu beziehen und diese als wirklichkeitskonstituierend zu begreifen.44 Sobald diese Perspektive eingenommen werden kann, wird die Unterscheidung von handelndem Akteur und den übersubjektiven kulturellen Bedingungen seines Handelns möglich.45 Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf Antisemitismus beginnt sich in der Antisemitismusforschung seit den 80er Jahren verstärkt zu etablieren.

2.2.2 Kulturwissenschaftliche Theorien Eine an der kulturellen Dimension sozialen Lebens orientierte Antisemitismusforschung begreift Antisemitismus als eigenständigen Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses moderner Gesellschaft. Mit der Etablierung dieser Forschungsrichtung wird es zum ersten Mal möglich, den Antisemitismus erstens in seiner semantischen Struktur als »symbolische Objektivation« im Sinne Cassirers (Cas44 Damit ist in keiner Weise gesagt, dass die Sprache das einzige Medium der Konstitution von Wirklichkeit sei. 45 Diese Unterscheidung findet sich schon bei Herder und bildet eine Grundlage der Religionssoziologie Durkheims. In der Antisemitismusforschung wird sie systematisch erst nach dem linguistic turn relevant.

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sirer 1985: 60ff.) zu untersuchen und zweitens in seiner sozialen und kulturellen Funktion umfassend zu analysieren. Shulamit Volkov gebührt das Verdienst, diese Entwicklung mit der 1978 publizierten Arbeit Antisemitism as a Cultural Code angestoßen zu haben. Während sich die historische Forschung zum Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich bis zu diesem Zeitpunkt auf den organisierten Antisemitismus konzentriert hatte, also gemacht hat, was alle bis zu diesem Zeitpunkt gemacht hatten, nämlich nicht den Antisemitismus, sondern seine Träger bzw. die Formen ihrer Organisation und Verflechtung zu untersuchen, begreift Volkov Antisemitismus als »ein kulturelles Muster«, »das dem Syndrom der autoritären Persönlichkeit analog« (Volkov 2000c: 19) ist. Unter Kultur versteht Volkov mit Rocher »das ›Gesamtgeflecht aller Arten des Denkens, Fühlens und Handelns‹«, eine »›große symbolische Einheit‹, die von Einzelnen gelernt und geteilt wird und dazu dient, sie in einer ›besonderen und eigentümlichen Kollektivität‹ zu vereinigen« (Volkov 2000c: 19f.). In dieser Bestimmung wird das Potenzial deutlich, das eine kulturwissenschaftlich orientierte Antisemitismusforschung hat: Über die symbolische Interpretation von Welt »vereinigen« sich Individuen zu Kollektiven. Volkov zeigt, dass Antisemitismus im Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu einem »kulturellen Code« (Volkov 2000c: 23) wird, der Zugehörigkeit zu einem der beiden von ihr in dieser Zeit ausgemachten großen kulturellen Lager ausweist, nämlich zum national- und kulturkonservativen, massiv antidemokratischen, antimodernistischen und von überkommenen Männlichkeitsidealen geprägten Lager (vergleichbar auch Jochmann 1988: 94f.). Volkovs Argumentation verlässt das bisher gängige Erklärungsmuster, nach psychischen Mechanismen zu forschen, diese Mechanismen auf Krisen, Herrschaft, Konkurrenz, die Warenform oder anderes zurückzuführen und daraus Antisemitismus zu erklären. »Selbst wenn man den Antisemitismus als besondere Therapie für verallgemeinerte Not betrachtet, bleibt immer noch ein ›missing link‹« (Volkov 2000c: 24). Stattdessen muss der »Prozeß der symbolischen Formulierung, der die […] antisemitische Ideologie produzierte« (Volkov 2000c: 25), untersucht werden. Das aber heißt, den Antisemitismus nicht auf den Antisemiten und seine gesellschaftlichen Konflikte zu reduzieren, sondern ihn auch als eine eigenständige, symbolische Form der Deutung von Welt zu begreifen, als eine Semantik, ein kulturell verfügbares Deutungsmuster von sozialer Welt.

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Den Prozess der »symbolischen Formulierung« des Antisemitismus versteht Volkov jedoch selbst wieder als ausschließlich kulturellen Prozess, d.h. sie verbleibt mit ihrer Analyse auf der Ebene der Kultur- bzw. Diskursgeschichte. Der »kulturelle Code« des Antisemitismus verweist auf ein anderes kulturelles Phänomen, das weltanschauliche System des konservativen Lagers im ausgehenden 19. Jahrhundert. Kultur verweist auf Kultur (vgl. Holz 2010: 324f.).46 Eine soziologische Analyse des Antisemitismus kann bei diesem Verweisungszusammenhang nicht enden – er lässt eine Kulturgeschichte nur als Diskurs- oder Mentalitätsgeschichte zu,47 ohne das Verhältnis von Kultur- und Gesellschaftsgeschichte zu reflektieren. 46 So auch bei Weiss (1997), der zu Recht kritisiert, dass in der Forschung zur Entstehungsgeschichte der Ermordung der Juden im Nationalsozialismus »einer antisemitisch geprägten Kultur« (Weiss 1997: 8) zu wenig Beachtung geschenkt worden sei, aber die Entstehung dieser Kultur nicht auf sozialgeschichtliche Entwicklungen zurückbezieht, sondern selbst wieder aus einer »antisemitischen Kultur« erklärt und deren Entwicklung aus einer Kombination von Kultur und Gruppenkonflikten (vgl. exemplarisch Weiss 1997: 190f.). Auch für Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker gilt dieser Einwand. Goldhagen geht davon aus, dass »normale Deutsche« durch »eine bestimmte Art des Antisemitismus motiviert waren […], daß die Juden sterben sollten. Die Überzeugungen der Täter, ihr spezifischer Antisemitismus, waren zwar offensichtlich nicht die einzige, aber doch […] die entscheidende Ursache ihres Handelns« (Goldhagen 1996: 28). Die Überzeugungen seien kulturell zu erklären (vgl. Goldhagen 1996: 60). Goldhagens kulturhistorische Erklärung des »eliminatorischen Antisemitismus« läuft darauf hinaus, ihn aus einer »Nationalkultur« zu erklären, der verbreiteten Auffassung, dass »der Jude in Deutschland immer als Fremdkörper« (Goldhagen 1996: 78) gegolten habe. Das ist sicher richtig, erklärt aber nur dann etwas, wenn man zusätzlich die Existenz von Gruppen als gegebene Größen annimmt. Genau das tut Goldhagen, wenn er »Deutschland« in das »Mittelalter« zurück verlängert (ebd.) und schon für das frühe 19. Jahrhundert von einer »ganzen Gesellschaft« spricht, die mit der Diskussion der Emanzipation der Juden beschäftigt gewesen sei (ebd.). Diese Annahme ist historisch falsch (nur eine kleine intellektuelle Elite war mit dieser Frage beschäftigt) und basiert auf einer unzulässigen Verlängerung der sozialen Ordnung moderner Gesellschaft in vormoderne sowie auf der Annahme, es gäbe sich durch die Geschichte hindurch haltende kollektive Wesenheiten. Alter/Bärsch/Berghoff (1999: 8) kennzeichnen die breite Debatte um Goldhagens These, die Deutschen seien ein Volk antisemitischer Gewalttäter, völlig zu Recht als »Beweis für den Glauben an ein deutsches Wesen oder einen Nationalcharakter«. 47 Das ist bei Foucault nicht anders, der den Rückbezug von kulturellen Mustern auf vorgängige, andere kulturelle Muster in den Sozialwissenschaften etabliert und damit der Diskursanalyse zu einem enormen Aufschwung verholfen hat. Foucault kann etwa plausibel zeigen, dass der Diskurs über den Wahnsinn mit dem sich entwickelnden aufklärerischen Diskurs zunimmt und die zugrundeliegende Unterscheidung von Vernunft und Wahnsinn als Handlungsorientie-

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Werner Bergmann und Rainer Erb gehen 1986 in einer ihrer frühen Arbeiten zum sekundären Antisemitismus einen Schritt über Volkov hinaus. Ein zentrales Merkmal des sekundären Antisemitismus ist dessen Latenz.48 In der Perspektive einer Antisemitismusforschung im Anschluss an die Kritische Theorie ist die Latenz auf der Ebene des Individuums zu verorten: Vor allem in Deutschland und Österreich wird nicht offen über Antisemitismus gesprochen, weil in der Bevölkerung dieser Staaten – mit Ausnahme der Immigranten – ein Tabu auf offenen Antisemitismus verinnerlicht worden sei. Auf den ersten Blick sollte diese Annahme für all diejenigen plausibel sein, die schon einmal im öffentlichen Raum über die Politik Israels mit anderen gesprochen oder zu diesem Thema Daten etwa in Gruppendiskussionen erhoben haben: In kaum einem Gespräch unter Personen, die einander nicht vertraut sind, wird nicht von einem oder mehreren Gesprächspartnern der Vorbehalt artikuliert, dass ›man ja nicht falsch verstanden werden wolle‹, oder der Angst Ausdruck verliehen, ›etwas Falsches‹ zu sagen. Aus der Tabuisierung des Antisemitismus lässt sich dann folgern, dass Antisemitismus im individuellen (etwa: Pohl 2010: 56) oder kollektiven Unbewussten (etwa: Rensmann 2005: 170ff.) zu verorten sei. Auf den zweiten Blick ist die Annahme wenig plausibel. Dieselben Personen, die sich in der Öffentlichkeit unter Fremden zurückhaltend äußern und fürchten, nicht richtig verstanden zu werden, haben im privaten Umfeld unter Bekannten oft kein Problem, ihrem sekundären Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Auch das ist lebensweltlich evident. Wenn aber der Grad der Offenheit antisemitischer Äußerungen vom sozialen Ort der Äußerung abhängt, kann die Erklärung der Latenz des sekundären Antisemitismus kaum über die individuelle Psyche erfolgen.49 Bergmann und rungen von dem vorgängigen Diskurs unterscheiden. Doch verlässt Foucault die Ebene des Diskurses nicht, weshalb die Frage, was die Transformation der Diskurse mit der Transformation der Gesellschaft zu tun hat, unbeantwortet bleibt (vgl. die faszinierende Studie Foucault [1978] oder die nicht weniger faszinierende Studie zur Veränderung der Praxis des Strafens [1977]). 48 Mit dem Terminus »sekundärer Antisemitismus« wird in der Antisemitismusforschung ein Antisemitismus nach 1945 in Europa bezeichnet, der sich vom Antisemitismus vor 1945 hauptsächlich dadurch unterscheidet, dass er erstens seinen weltanschaulichen Charakter verliert, zweitens in irgendeiner Weise auf die Ermordung der Juden bezogen ist, drittens ein Antisemitismus weitgehend ohne Juden und ohne Antisemiten ist, die im Unterschied zur Zeit vor 1945 erklären, gar keine Antisemiten zu sein, und viertens latent ist und nur in der besonderen Form des Skandals öffentlich thematisiert wird. 49 Ich behaupte nicht, dass kein verinnerlichtes Tabu auf antisemitischen Äu-

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Erb konnten zeigen, dass die Latenz nicht psychisch ist, sondern es sich um eine Kommunikationslatenz handelt, die nicht im Individuum, sondern in der Kultur besteht.50 Die Einsicht von Bergmann und Erb, dass die Latenz auf der Ebene der Kommunikation anzusiedeln ist, ist Teil eines Prozesses einer bis in die Gegenwart andauernden kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Antisemitismusforschung, in deren Verlauf Volkovs programmatische Überlegung umgesetzt und Antisemitismus als Teil kulturellen Wissens untersucht wird. Produkt dieses Prozesses sind unter anderen die Arbeiten von Zygmunt Bauman, Thomas Haury und Klaus Holz. Baumans Argumentation nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Überlegung, dass zwar »die Auswahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens aus der Geschichte des Antisemitismus abgeleitet werden kann« (Bauman 1992: 33). Die Ermordung der Juden begreift er aus dem Zusammentreffen eines Prozesses kultureller Modernisierung mit einer totalitären Macht (vgl. Bauman 2002: 108f.). Den Prozess kultureller Modernisierung analysiert Bauman im Anschluss an die Dialektik der Aufklärung als einen Prozess kultureller Rationalisierung, die sich als Ordnungsbildung durch Klassifikation vollzieht. Ordnung und Unordnung seien aufeinander bezogene Begriffe: Ordnung erzeuge ihr Gegenstück, die Unordnung,51 das, was nicht in das Ordnungsschema passe. Das zentrale soziale Ordnungsschema sei die Unterscheidung von Freund und Feind (entlang der Grenzen einer in Nationalstaaten segmentär differenzierten Welt). »Der Jude« ßerungen besteht, sondern nur, dass sich die Äußerungsform des sekundären Antisemitismus nicht auf diesem Weg erklären lässt. 50 Das Argument trägt auch, wenn man den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff, den Bergmann und Erb in dieser Arbeit verwenden, nicht teilt. In der von mir in dieser Studie verwendeten und weiter unten erläuterten Begrifflichkeit könnte man von einer kulturellen Latenz sprechen. Das Argument ist in beiden Fällen dasselbe: Die Rede von einem individuellen oder kollektiven Tabu wird problematisch, wenn man koinzidieren muss, dass es im privaten Alltagsleben und in teilöffentlichen Versammlungen laufend gebrochen wird. 51 Dieses klassische dialektische Argument ist im Kontext der Diskursanalyse von Foucault in den 70ern und 80ern des 20. Jahrhunderts neu einem breiten Publikum zugänglich gemacht worden. Foucault bezieht sich dabei nicht auf eine dialektische, sondern auf die postmoderne theoretische Tradition, die Dialektik auf der Ebene von Zeichen verortet. Das allgemeine Argumentationsmodell dieser Position wird nach wie vor besonders klar, knapp und präzise von Derrida in Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen artikuliert (vgl. Derrida 1976, insbesondere 441f.).

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aber sei weder Freund noch Feind, sondern ein Drittes, er lebe unter »uns«, also unter den Freunden, obwohl er, wie die Feinde, nicht zu »uns« gehöre. »Der Jude« füge sich nicht in das Ordnungsschema ein, er sei ein Fremder, der »rittlings auf den Barrikaden« (Bauman 2002: 55) sitze. Die Bedrohung, die vom Fremden – der ja erst durch die Klassifikation der sozialen Welt in Freunde und Feinde produziert wird – ausgehe, sei »erschreckender als die, die man vom Feind befürchten muß. Der Fremde bedroht die Vergesellschaftung selbst – die Möglichkeit der Vergesellschaftung« (Bauman 1992: 75). Verbindet sich der kulturelle Prozess der Ordnungsbildung mit einem autoritären Staat, kann die Ermordung der Fremden die Folge sein. Dass es sich bei dem Prozess der Ordnungsbildung um einen allgemeinen Prozess, d.h. um ein Kennzeichen moderner Sozialordnungen handelt, belegt Bauman am Beispiel der Gesetzgebung zur Eugenik in allen westlichen Staaten. Dieses Argument lässt sich durch die Diskussion um die Herstellung ethnisch homogener Bevölkerungen als Grundlage moderner (westlicher) Demokratien, wie sie etwa von Mann (2007) oder von Traverso (2003: Kapitel 1 und 2) geführt wird, unterstützen. Ich gehe darauf im nächsten Kapitel ein. Baumans Bild vom Staat als Gärtner, der Unkraut ausreißt, d.h. Ambivalenz beseitigt, ist oft als simplifizierend kritisiert worden (zuletzt und mit vielen Verweisen: Salzborn 2010: 179ff.). Für den hier zu erörternden Zusammenhang ist dieser Einwand nicht entscheidend. Vielmehr will ich die Leistung hervorheben, Antisemitismus als ein Phänomen kultureller Ordnungsbildung untersucht zu haben.52 Dieser Ansatz wird in den Arbeiten von Klaus Holz (2001) und Thomas Haury (2002) weiterentwickelt und insbesondere in den Arbeiten von Holz systematisch ausgearbeitet. Klaus Holz hat gezeigt, dass Antisemitismus nicht einfach ein Feindbild ist, sondern dass dieses Feindbild auf ein nationales Selbstbild bezogen ist. Mit der Arbeit von Holz ist es erstmals gelungen, den relationalen Charakter des antisemitischen Feindbildes, d.h. seinen Bezug auf ein kollektives Selbstbild, systematisch nachzuweisen. Holz hat diese Beziehung im Titel seiner 2001 publizierten Untersuchung prominent zum Ausdruck gebracht: Nationaler Antisemitismus. 52 Die zentrale Leistung der Arbeit Baumans ist allerdings auch zugleich ihre zentrale Schwäche: Bauman erklärt die Muster kultureller Ordnungsbildung nicht aus der Struktur moderner Sozialordnungen, sondern aus der Aufklärung, d.h. wie Shulamit Volkov auch kulturelle Muster aus kulturellen Mustern.

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Nach Holz sind das kollektive Selbst- und das antisemitische Feindbild nach identifizierbaren Regeln (ein knapper Überblick über diese Regeln in Holz 2001: 157ff.) strukturiert. Das Ensemble der Regeln zeichnet sich durch zwei Eigentümlichkeiten aus: Erstens gilt es weitgehend unabhängig von kulturellen Traditionen in Europa und Amerika, und zweitens ist es in der Zeit stabil. Die Regeln der Bildung eines antisemitischen Feindbildes und eines nationalen Selbstbildes können unabhängig davon festgestellt werden, ob das antisemitische Feindbild in Frankreich zur Zeit der Dreyfus-Affäre, im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, zur Zeit der Schauprozesse in der Tschechoslowakei oder der DDR oder zur Zeit der Waldheim-Affäre in Österreich gezeichnet wird. Haury hat nachgewiesen, dass die von Holz identifizierten Regeln auch für die Linke gelten, unabhängig davon, ob es sich um Verlautbarungen einer der vielen Fraktionen der Westlinken handelt oder um solche der sozialistischen Regierungen im Osten. Aus den Arbeiten von Holz lässt sich folgern, dass Antisemitismus, unabhängig von seiner psychischen Funktion für den Antisemiten, eine kulturelle Funktion hat, nämlich die Verbindung von Personen zu Kollektiven durch Selbst- und Feindbeschreibungen. Aus dieser Funktion ergibt sich eine soziale Funktion, die interne Integration von Kollektiven, die auf kollektiven Selbstbeschreibungen beruht, auf die Angehörige einer Kultur zurückgreifen können. Diese Funktion lässt sich erst untersuchen, wenn Antisemitismus wie von Volkov als auch kulturelles Phänomen begriffen wird und, wie in der daran anschließenden Antisemitismusforschung, an die Stelle eines an Mentalität orientierten Begriffs der Kultur (Kultur als Geflecht des Denkens, Fühlens, Handelns) ein Begriff von Kultur tritt, der Kultur als auch eigenständige symbolische Ordnung von Welt versteht, einen gemeinsamen, historisch entstandenen Wissensvorrat, der in Sprache, Sitten, Gebräuchen, Riten und habituellen Formen des Umgangs mit Dingen und Menschen objektiviert ist und pragmatisch in der Welt realisiert wird (vgl. Srubar 2009b). Eine so ausgerichtete kulturwissenschaftliche Antisemitismusforschung kann Antisemitismus als eine spezifische Form gruppenbezogener Stereotype begreifen und von anderen Formen gruppenbezogener Stereotype unterscheiden. Die Vermischung von rassistischen, nationalistischen oder fremdenfeindlichen Stereotypen ist bis in die Gegenwart eine der großen Schwachstellen der Antisemitismusforschung. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass sich in fast jedem Auf-

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satz zum nationalsozialistischen Antisemitismus die These findet, der nationalsozialistische Antisemitismus unterscheide sich von anderen Spielarten des Antisemitismus dadurch, dass er rassistisch sei und an die Stelle eines auf das Selbstbild einer Nation bezogenen Antisemitismus trete (vgl. exemplarisch Arendt 1991; Neumann 1984: 131f.). Im Unterschied zu solchen Interpretationen versteht Dirk Richter (1996) in Nation als Form, einer systemtheoretischen Arbeit aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, Antisemitismus als eine Form des Nationalismus. Das Gros der Vorurteilsforschung wiederum hält Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie für prinzipiell auswechselbare Ausdrucksformen aggressiver Wünsche autoritärer Charaktere. Um hier zu mehr begrifflicher Klarheit zu kommen – und das heißt: Antisemitismus von anderen gruppenbezogenen Stereotypen unterscheiden zu können –, muss zuerst die Regelstruktur antisemitischer Semantiken im Unterschied zu etwa xenophoben bekannt sein. Das setzt voraus, sie als Formen kulturellen Wissens zu untersuchen.

2.3 Begriffe, Gegenstand und Methoden der Untersuchung Die – knappe – Skizze des Stands der Antisemitismusforschung hat die Entwicklung von Theorien über Antisemitismus als Geschichte aufeinander aufbauender Ansätze nachgezeichnet, in denen der jeweils spätere Ansatz theoretische Probleme bearbeitet, die der frühere aufgeworfen hat. Im Ergebnis steht die Frage, was Antisemitismus als Teil des kulturellen Wissensvorrats mit dem sozialhistorischen Prozess der Modernisierung von Gesellschaft zu tun hat. Die bisherige Antisemitismusforschung bildet den Hintergrund dieser Frage. Ihr ist es zu verdanken, dass wir über ein, vielleicht noch im Detail ergänzungs- oder präzisierungsbedürftiges, aber im Ganzen doch recht sicheres Wissen sowohl über den Antisemiten, seine sozialen Lebensbedingungen und deren psychische Verarbeitung als auch darüber verfügen, dass es einen Unterschied macht, Antisemitismus auf der Ebene von Akteuren und Antisemitismus auf der Ebene symbolischer Ordnungen zu untersuchen. Erst aus dieser Forschung heraus hat sich die wissenssoziologische Frage der vorliegenden Arbeit ergeben. Wenn wir soziologisch verstehen wollen, in welcher Beziehung moderner Antisemitismus und moderne Gesellschaft stehen, was das eine mit dem anderen zu tun hat, müssen wir genauer

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hinsehen und nach der Genese jenes Wissens fragen. Die Antwort wird deutlich machen, was – auf der Ebene des Wissens – modern am modernen Antisemitismus ist. Ich habe zu Beginn dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass von der Fragestellung auch die theoretischen und methodischen Mittel ihrer Beantwortung abhängen: Wer etwas über »reale« Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden wissen will, muss gesellschaftliche Handlungsbereiche ausfindig machen, in denen sich der Konflikt abspielt, z.B. freie oder akademische Berufe, sowie zeigen, dass der Konflikt tatsächlich besteht und ursächlich für Antisemitismus in diesem Berufsfeld ist, d.h. er benötigt zum einen statistische Angaben über die prozentuale Verteilung von Juden und Nichtjuden in bestimmten Berufsgruppen in einem bestimmten Zeitraum usw., zum anderen Daten, durch die sich der vermutete Zusammenhang belegen lässt, z.B. Verlautbarungen von Berufsverbänden usw. Wer etwas über die individuelle antisemitische Verarbeitung sozialer Konflikte wissen will, kommt sicher nicht ohne psychologische Theorie aus, ohne kultursoziologische aber sehr wohl. Da sich die wissenssoziologische Frage nach der Beziehung zwischen der Entwicklung der Wissensformation des modernen Antisemitismus und der Entwicklung moderner Gesellschaft von der Fragestellung der bisher vorgestellten Theorietypen unterscheidet, verändert sich auch das begriffliche und methodische Instrumentarium der Untersuchung. Dieses Kapitel stellt meinen begrifflichen und methodischen Zugang vor. Die – knappe – Erörterung des begrifflichen Rahmens konzentriert sich auf die Entwicklung der für die weitere Argumentation zentralen Unterscheidung von zwei Formen sozialer Beziehungen, Gesellschaft und Gemeinschaft, denen zwei Formen sozialer Integration, Vergesellschaftung bzw. Systemintegration und Vergemeinschaftung bzw. Sozialintegration, entsprechen (2.3.1). In einem zweiten Schritt diskutiere ich Konsequenzen, die sich aus dieser Unterscheidung für kollektive Selbstbilder in einer modernen Gesellschaft ergeben, die Unterscheidung von Staat und Nation (2.3.2). In einem dritten Schritt erörtere ich den Unterschied zwischen Antisemitismus als kulturellem Wissensvorrat und Antisemitismus als einer handgreiflichen Verfolgungspraxis (2.3.3) sowie schließlich meinen methodischen Zugang zum Gegenstand (2.3.4).

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2.3.1 Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung, Klassen Die in den Kapiteln 2.1 und 2.2 diskutierte Typologie von Theorien über Antisemitismus wurde entlang der Unterscheidung zwischen Antisemiten, ihren gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns und der Weise der Thematisierung ihres Daseins in der Welt entwickelt, allgemein gesprochen: zwischen Handeln, Gesellschaft und Kultur. Die folgende Erläuterung der Unterscheidung dient der Klärung meiner theoretischen Perspektive. Dabei versteht sich von selbst, dass diese Unterscheidung eine erhebliche Zahl an Folgefragen aufwirft, die nicht in einer soziologischen Untersuchung des modernen Antisemitismus, sondern in einem Beitrag zur soziologischen Theoriebildung zu beantworten wären.53 Ich erörtere sie hier nur als begrifflichen Rahmen, in den die für diese Untersuchung zentrale Unterscheidung von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, System- und Sozialintegration eingebettet ist.54 Alles Handeln in und alles Erleben der Welt vollzieht sich sukzessiv in Zeit und Raum und operiert im Medium des Sinns.55 Sinn, so kann 53 Adorno weist an einer Stelle (Adorno et al. 1967: 608) darauf hin, das eine umfassende Erklärung des Antisemitismus eine ausgearbeitete Theorie der Gesellschaft erfordert: »The problem of the ›uniqueness‹ of the Jewish phenomenon and hence of anti-Semitism could be approached only by recourse to a theory […] of modern society as a whole.« 54 Die Unterscheidung von Systemintegration und Sozialintegration stammt ursprünglich von Lockwood (1971: 125), der sie in einer vollständig anderen Absicht entwickelt hat: Lockwood bezeichnete mit der Unterscheidung unterschiedliche Ebenen von Integration in einer modernen Gesellschaft, einmal die Integration von Akteuren in soziale Ordnungen (Sozialintegration) und einmal die Integration von gesellschaftlichen Subsystemen (Systemintegration). Ich verwende sie in Anlehnung an Giddens, der sie wie folgt bestimmt hat: »Social integration then means systemness on the level of faceto-face interaction. System integration refers to connections with those who are physically absent in time or space. The mechanisms of system integration certainly presuppose those of social integration, but such mechanisms are also distinct in some key respects from those involved in relations of co-presence« (Giddens 1984: 28, vgl. auch 139ff.). Luhmann (1990: 113) hat darauf hingewiesen, dass Systemintegration in vormodernen sozialen Ordnungen, die weder institutionalisierte gleiche individuelle Freiheitsrechte kennen noch funktional differenziert sind, keine Rolle spielt. Von der Verwendung der Unterscheidung bei Giddens weiche ich in einem Punkt ab, vgl. dazu im Folgenden. 55 Vgl. dazu die Abschnitte zu »Sinn« in Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft (2002: 44-60) und in Soziale Systeme (1987: 92-147), auf die ich mich  – aus einer handlungstheoretischen Perspektive, wie sie sich im Anschluss an Alfred

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man mit Niklas Luhmann sagen, reduziert die Komplexität von Welt und macht sie uns dadurch zugänglich.56 Sinnhaftes Handeln verweist auf Intentionalität, Intentionalität auf Handlungsentwürfe, auf ein mehr oder weniger klares Wissen, was man tun will. Wissen verweist auf überindividuell geteilte Zeichen, etwa Sprache, die in der Sozialisation erworben bzw., wie Handlungsnormen, Geschmacksvorlieben usw., inkorporiert und habitualisiert werden. Geteilte Zeichen sind nichts anderes als Standardisierungen (Hansen 2003: 32ff.), Teil symbolischer Ordnungen, die ihre gemeinschaftliche Bedeutung festlegen.57 Was symbolische Ordnungen für das Wissen sind, sind soziale Ordnungen für das Verhalten: Sie legen das Spektrum der wechselseitigen Erwartungen an das Handeln der jeweils anderen fest. Während sich Individuen aus einem geteilten Wissensvorrat mit Deutungen versorgen, deren gemeinsamer Charakter ihnen Verständigung, Handlungskoordination und Streit ermöglicht, wird der Möglichkeitsraum ihres aufeinander und auf die Außenwelt bezogenen Handelns durch legitime soziale Ordnungen festgelegt (vgl. Habermas 1988, Bd. 2: 209). Unter einer sozialen Ordnung verstehe ich jede Form der Festlegung eines Spektrums von Handlungsmöglichkeiten durch Differenzierung sozialer Positionen (die gängigsten sind Differenzierungen nach Generation und Geschlecht) und der Regelung von Zugehörigkeit zu einer Gruppe (die ältesten Mechanismen sind Abstammungs- und Heiratsregeln). Soziale Ordnungen strukturieren Handeln durch die Festlegung von Erwartungen an soziale Positionen, die von Individuen eingenommen werden. Die Gesamtheit aufeinander bezogener sozialer Ordnungen nenne ich GesellSchütz’ Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1974) und Ilja Srubar (1988) entwickeln lässt – beziehe. 56 Das Verständnis von Sinn als Medium menschlichen Weltzugangs basiert auf dem hier vorausgesetzten und nicht weiter erläuterten Theorem der Weltoffenheit des Menschen, das in der Philosophischen Anthropologie Max Schelers (2007), Helmuth Plessners (2003) und Arnold Gehlens (1962) in unterschiedlichen Varianten entwickelt worden ist. 57 Diese Festlegung geschieht durch historische soziale Praxis. In einer soziologischen Perspektive sind Bedeutungen von Zeichen erstens weder willkürlich und zweitens keine ontologischen Qualitäten der Objekte, sondern historisch, d.h. sozial festgelegt. Um überhaupt auf die starke nominalistische Annahme, Bezeichnungen seien nichts als »Schall und Rauch«, kommen zu können, müssen diese eine historisch etablierte Bedeutung haben, weil sie sonst eben alles und daher nichts bedeuten würden.

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schaft.58 Wissen und Gesellschaft verweisen aufeinander oder sind durch den Begriff der Kultur verbunden: Soziale Ordnungen sind uns nur durch symbolische Ordnungen verfügbar und sie gelten nur, wenn sie legitim sind, d.h. in symbolischen Ordnungen gerechtfertigt sind.59 Eben diese Verbindung bezeichne ich als Kultur, »jene Sinnsysteme, über die die Akteure im Sinne von ›geteilten‹ Wissensordnungen verfügen, die ihre spezifische Form des Handelns ermöglichen und einschränken« (Reckwitz 2006: 85). Reproduktion und Veränderung von Kultur lassen sich als autogenetischer Kreislauf sozialer Wirklichkeit beschreiben:60 Ihre Autogenese ist ein Prozess der Selbsterhaltung einer Kultur durch Handeln, »dessen konstitutive Momente aber nicht gänzlich« seine »Produkte« sind (Srubar 2007a: 435).61 Stabilisierung wie Veränderung von Kultur erfordern Handlungskompetenz. Handlungskompetenz setzt die Konstitution einer handelnden Person, eines Selbst, in der Interaktion voraus, das sich wiederum nur in Wissensordnungen (Internalisierung) und Gesellschaft (Sozialisation) bilden und individuieren kann. Gesellschaft und Wissensordnungen ermöglichen Handlungskoordination, indem sie Sinn stiften, d.h. Möglichkeitsräume begrenzen, in denen die Handlungen anderer verstanden werden und in denen zwischen verschiedenen Möglichkeiten, an sie anzuschließen, gewählt werden kann.62 Die Festlegung von Räumen 58 Der Begriff der Gesellschaft wurde in der Soziologie äquivok verwendet und wird es oft noch: Er bezeichnet erstens die Einheit gesellschaftlicher Teilsysteme und zweitens die Einheit von Gruppen. Beide Verwendungen wurden lange nicht unterschieden, weshalb bis in die 90er Jahre des 20.  Jahrhunderts unter Gesellschaft in der Mehrheit der Fälle eine Kombination aus beiden Verwendungen verstanden wurde, ein Nationalstaat mit differenzierten Handlungsbereichen (das mit Abstand prominenteste Beispiel ist wohl Parsons). Seitdem dieses Verständnis problematisiert wurde, fallen beide Bedeutungen auseinander, und es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit der Begriff der Kultur, mit dem die nationalstaatliche, d.h. auch auf einen Personenverband bezogene Bedeutung abgedeckt wurde, einen enormen Aufschwung erfuhr. 59 Die Unterscheidung von Gesellschaft und Wissen entspricht im Grundsatz der Unterscheidung von Institution und Legitimation bei Berger und Luckmann (1987). 60 Die Formulierung »Kreislauf« hebt auf die formale Seite des Prozesses ab und ist an Srubar (2007a: 433ff.) angelehnt. 61 Marx hat dies in der bekannten Formulierung ausgedrückt, Menschen machten ihre eigene Geschichte, aber nicht unter selbstgewählten, sondern unter vorgefundenen und überlieferten Bedingungen (vgl. Marx 1969: 115). 62 Wer jene Möglichkeitsräume, die in einer Kultur etablierten Rezepte der Auslegung und des Handelns, nicht internalisiert hat, ist fremd (vgl. dazu Schütz

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möglichen Verstehens und möglichen Handelns schließt andere Räume möglichen Verstehens und möglichen Handelns aus. Eben das heißt: Die soziale Wirklichkeit ist eine sinnhafte Wirklichkeit. Gesellschaft und Wissensordnungen sind einerseits Bedingungen sozialen Handelns, diesem insofern vorgeordnet, als keine nichtkulturelle Welt des Menschen denkbar ist, weil dies eine Welt wäre, in der alles und damit nichts möglich wäre. Gesellschaft und Wissensordnungen sind dem Handeln andererseits nachgeordnet in dem Sinne, dass sie nur durch und in ihm reproduziert und verändert werden können. Anthony Giddens hat dafür den Begriff der Strukturierung von Struktur geprägt (Giddens 1984: Kapitel 1). Im Übergang zur modernen Gesellschaft wird der autogenetische Kreislauf sozialer Wirklichkeit dynamisiert. Dafür sind mindestens zwei Gründe verantwortlich: Eine kapitalistische Ökonomie – darin unterscheidet sie sich von allen bekannten Ökonomien – basiert auf Wachstum (Wallerstein 2014; knapp zum Mechanismus: Weyand 2001: 70-73; Krause 2013), das durch fortwährende technische Innovation realisiert wird. Maine hat zweitens den Übergang zu und den fortgesetzten Wandel moderner Gesellschaft als »Bewegung von Status zum Vertrag« bezeichnet. Damit ist ein sozialhistorischer Prozess charakterisiert, in dem zuerst männliche Eigentümer als Rechtspersonen mit gleichen (zunächst bürgerlichen, später politischen) Freiheitsrechten ausgestattet werden, die von einem Staat, der über das Monopol legitimer Gewalt verfügt, garantiert werden. Die Stellung der Rechtsperson wird von Status, der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, durch die in vormodernen Ordnungen die soziale Position von Individuen weitgehend festgelegt wurde, zusehends unabhängig.63 Mit der Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte trennen sich die Handlungssphären der Politik, des Rechts und der Ökonomie (vgl. Luhmann 1981: 101) und entwickeln sich zu eigenlogisch funktionierenden, durch symbolisch generalisierte 2011a). Fremd zu sein bezeichnet Grade der Unverfügbarkeit der in einer Kultur typischen Rezepte des Ausdrucks, der Auslegung und der Erwartung. Vgl. Dazu mit Blick auf Fragen interkultureller Kooperation Klemm/ Kraetsch/Weyand 2011: Einleitung; Göttlich/Sebald/Weyand 2011: 50; Srubar 2009a. 63 Ich kann an dieser Stelle nicht auf die breite Diskussion um die Frage statusbezogener Rechte in modernen Sozialordnungen eingehen, mir kommt es hier auf einen Punkt an, der mir unstrittig scheint, die Individualisierung vormals gruppenbezogener Rechte.

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Erfolgsmedien bzw. Codes64 gesteuerten Subsystemen der Gesellschaft. Symbolisch generalisierte Medien ermöglichen, »die Schwelle der Nichtakzeptanz von Kommunikation, die sehr naheliegt, wenn die Kommunikation über den Bereich der Interaktion unter Anwesenden hinausgreift« (Luhmann 2002, Bd. 1: 204), hinauszuschieben, das, was Giddens raumzeitliche Abstandsvergrößerung oder Elias Verlängerung der Interdependenzketten nennt. Das zentrale Medium dieser Verlängerung ist Geld, das »Transaktionen aus ihren spezifischen Austauschfeldern heraushebt« und die »Voraussetzungen für die Durchführung von Transaktionen zwischen Akteuren [schafft], die in Raum und Zeit weit voneinander entfernt sind« (Giddens 1996: 37). Den historischen Prozess der »Bewegung von Status zum Vertrag«, sofern er für die Entwicklung der Wissensformation des modernen Antisemitismus relevant ist, diskutiere ich in Kapitel 3. An dieser Stelle interessiere ich mich für die Unterscheidung von Status und Vertrag unter dem systematischen Gesichtspunkt der Struktur von Sozialbeziehungen in sozialen Ordnungen. Die »Bewegung von Status zum Vertrag« ist nur ein anderer Ausdruck für die Institutionalisierung, d.h. eine rechtliche Garantie von zunächst bürgerlichen Freiheitsrechten von Individuen. Mit dieser Institutionalisierung wird die soziale Beziehung, die sie als Rechtspersonen eingehen, abhängig von ihrer wechselseitigen Übereinkunft. Die »Bewegung von Status zu Vertrag« etabliert einen Typus sozialer Beziehungen als allgemeinen Typus sozialer Beziehungen, der in vormodernen sozialen Ordnungen zwar vorkommt, aber eben nicht allgemein, sondern auf bestimmte Statusgruppen beschränkt. Im Zentrum von modernen Vertragsbeziehungen steht die »freiwillige Übereinkunft […] zwischen Menschen, die ihrem Status nach frei und gleich, nicht notwendig aber auch gleich mächtig sind« (Marshall 1992: 57).65 Die Vertragsgemeinschaft realisiert die individuellen Interessen der Vertragspartner, und dieses individuelle Interesse, nicht die Gemeinschaft, ist auch der Referenzpunkt der Handlungs64 Vgl. dazu Luhmann 2002, Bd. 1: 312-412; zum Code ebd.: 360ff.; zur Unterscheidung von Verbreitungs- und Erfolgsmedien ebd.: 202ff. 65 Marshall bezeichnet die Differenz auf Status gegründeter und auf Vertrag gegründeter sozialer Ordnungen ganz deutlich: »Der moderne Vertrag entwickelte sich nicht aus dem feudalen Vertrag; er markierte eine neue Entwicklung, deren Fortschritt durch den Feudalismus aufgehalten wurde« (Marshall 1992: 57).

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orientierungen. Mit Gemeinschaft bezeichnet Ferdinand Tönnies, was Durkheim als organische Solidarität, Habermas als Lebenswelt, Giddens als Sozialintegration, Parsons als gesellschaftliche Gemeinschaft, die Kommunitaristen als »Vorrang des Guten« beschrieben haben: Handlungsorientierungen, die am Zusammenleben einer WirGruppe ausgerichtet sind. Nach Tönnies ist »in Gemeinschaft (als Status) Verbindung früher, die Einheit vor der Vielheit« (Tönnies 1991: 168). In Gesellschaft hingegen verhalte es sich genau umgekehrt: Die Vielheit sei vor der Einheit, die Einheit das Produkt individueller Entscheidung und als solches Produkt kündbar. Der Vertrag, die Übereinkunft zu einer wechselseitigen Verpflichtung von zwei Rechtspersonen, ist Resultat der Übereinkunft, vor der Übereinkunft steht die individuelle Entscheidung, übereinkommen zu wollen. Die Referenz der Handlungsorientierungen in Gesellschaft ist nicht das Zusammenleben einer Gruppe, sondern das individuelle Interesse, nicht ein »Wir«, sondern ein »Ich«. »Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten« (Tönnies 1991: 34). An die beiden Sozialformen Gemeinschaft und Gesellschaft sind unterschiedliche Modi sozialer Integration gebunden, die ich als Vergesellschaftung oder Systemintegration und Vergemeinschaftung oder Sozialintegration bezeichne. Man kann sich die Differenz klarmachen, wenn man sich die Beispiele vergegenwärtigt, die Tönnies für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Sozialbeziehungen beibringt: Tönnies unterscheidet die »Gemeinschaft des Blutes«, die »Gemeinschaft des Ortes« und die »Gemeinschaft des Geistes«, Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft (Tönnies 1991: 12). Die »Theorie der Gesellschaft« kennt nur eine Form der Verbindung, den Vertrag. Vergemeinschaftung oder Sozialintegration integriert Individuen in soziale Gruppen (Familien, Dörfer, Freundschaften bei Tönnies) und verpflichtet das Handeln von Individuen auf diese Gruppen (wie immer die Verpflichtung legitimiert sein mag). Vergemeinschaftung führt dazu, dass Individuen sich als Akteure eines »Wir« verstehen. Vergesellschaftung oder Systemintegration stattet

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Individuen mit zunächst bürgerlichen, später politischen individuellen Freiheitsrechten aus, d.h. sie institutionalisiert die Möglichkeit, in sozialen Ordnungen individuelle Ziele zu verfolgen. Das Band, das Individuen in Gesellschaft verbindet, ist das Recht, dessen Geltung wiederum, wie Kant an einer Stelle formuliert hat, mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. Moderne Staaten haben ein »Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen« (Weber 1956: 39). Deshalb sind die Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte und die Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols Wechselbegriffe. Vergesellschaftung also heißt, dass Individuen als Personen Träger von individuellen Freiheitsrechten sind, welche die Grundlage ihrer Übereinkunft in Verträgen bilden. Ich bezeichne dies als Systemintegration, weil sich dieser Modus sozialer Integration auf die Rechtsposition eines Individuums in einer sozialen Ordnung bezieht.66 Sozialintegration integriert Individuen in Gruppen, Systemintegration hingegen Individuen als Rechtspersonen in soziale Ordnungen. Für Tönnies folgt Gesellschaft historisch auf Gemeinschaft. Das ist sozialhistorisch alles andere als plausibel. Das, was Tönnies sozialhistorisch als »Gemeinschaft« bezeichnet, ist eine Idealisierung einer modernen Vorstellung, nämlich einer durchgängigen Gemeinschaftsorientierung des Handelns, in einem sozialhistorischen Zustand. Die Gemeinschaft, die Tönnies beschreibt, hat es nie gegeben. Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft kann gerade nicht besagen, dass es an individuellem Interesse orientiertes Handeln in vormodernen sozialen Ordnungen nicht gegeben hätte. Das wäre 66 Man kann sich dies auch an der Entwicklung der Unterscheidung von Handlungsnormen und Handlungszwecken klarmachen. In sozialen Ordnungen, in denen die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft nicht besteht, d.h. in vormodernen sozialen Ordnungen, werden Handlungen grundsätzlich nicht unabhängig von ihren normativen Implikationen betrachtet – eben deshalb ist die Lehre vom Handeln bis zur Moderne praktische Philosophie, basiert auf der Untrennbarkeit von Norm und Zweck und tritt als Lehre vom guten Handeln auf. Im Unterschied dazu basieren moderne Verständnisse von Handeln auf der Unterscheidung von individuellem Zweck und Norm. Die Entkoppelung von Norm und Zweck ist der Ausgangspunkt des von Zygmunt Bauman »Adiaphorisierung« genannten Prozesses der Substitution moralisch legitimierter Handlungsziele durch technisch-instrumentelle, die er in Dialektik der Ordnung als eine der wesentlichen Voraussetzungen des Holocaust begreift. Für die konservative Kulturkritik ist die Entkoppelung und die mit ihr einhergehende Pluralisierung von Konzepten guten Lebens »Verlust« (exemplarisch: MacIntyre 1995, insbesondere 89ff.).

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Unsinn. Die Unterscheidung bezeichnet vielmehr eine »Entbettung« (Giddens) von Handlungsorientierungen in modernen Sozialordnungen, in denen die Orientierung am individuellen Interesse rechtsförmig institutionalisiert wird (Systemintegration). Als Rechtspersonen werden Träger von individuellen Freiheitsrechten erstens individualisiert und zweitens aus Abhängigkeit, d.h. der Bestimmung ihres sozialen Orts in einer sozialen Ordnung durch die durch Geburt festgelegte Zugehörigkeit zu Gruppen, befreit. Die Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft mit der Unterscheidung von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit sozialer Beziehungen gleichzusetzen, wäre ebenfalls verkehrt. Jürgen Habermas hat gezeigt, dass Gemeinschaft nicht nur eine vorreflexive Form sozialer Beziehung darstellt, sondern sich Akteure in ihr durch und in Sprache auf gemeinschaftliche Ziele reflexiv verständigen, d.h. deren Geltung mit Argumenten begründen. Weil Gemeinschaft reflexiv und nicht reflexiv legitimierte soziale Beziehungen umfasst, ist der Begriff der Gemeinschaft indifferent gegen die Unterscheidung von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit. Gemeinschaft bezeichnet gerade nicht eine irgendwie empfundene, gefühlte, unmittelbar gewollte Beziehung. Gemeinschaft in einem präzisen Sinne bezeichnet soziale Beziehungen, die auf Handlungsorientierungen basieren, die am Zusammenleben in einer Gruppe ausgerichtet sind (an gemeinschaftlichen Normen, die tradiert sein können, die aber genauso gut das Ergebnis einer Verständigung über das, was man gemeinsam für richtig hält, sein können). Gesellschaft bezeichnet im Unterschied dazu soziale Beziehungen, denen Handlungsorientierungen zugrunde liegen, die an individuellen Zielen ausgerichtet sind, in denen daher die soziale Beziehung ein Mittel für die Realisierung eigener Zwecke ist. Pointiert formuliert: Gemeinschaftliches Handeln referiert auf ein »Wir«, gesellschaftliches auf ein »Ich«. Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft wird oft in Form einer polaren Opposition der beiden Begriffe diskutiert, so, als ob es »gesellschaftliche Beziehungen« auf der einen Seite und »gemeinschaftliche Beziehungen« auf der anderen Seite gäbe. Das ist schon bei Tönnies selbst der Fall, der Gemeinschaft Gesellschaft historisch vorordnet und diese als Verfall jener begreift (die Umkehrung dieser Polarität z.B. bei Klaus Holz [1998: 9], der »Gemeinschaft« als »modernitätsfeindliche Identitätssemantik in der modernen Gesellschaft und nicht [als, J.W.] eine Grundform der Sozialität, die als tatsächliche Alternative zur Gesellschaft gelten könnte«, fasst).

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Versteht man die Unterscheidung alternativ, sind theoretische Probleme die unausweichliche Folge: Seit Durkheims Untersuchungen zur Arbeitsteilung wissen wir, dass Vertragsbeziehungen auf nicht vertraglichen Voraussetzungen aufbauen, z.B. Vertrauen oder einem partiell gemeinsamen Wissensvorrat, die durch Vergemeinschaftung hergestellt werden. Talcott Parsons hat das Argument reformuliert und gezeigt, dass das sogenannte Hobbes’sche Problem67 nur lösbar ist, wenn man Vergesellschaftung (Herrschaftsvertrag) und Vergemeinschaftung (normative Gemeinschaft) unterstellt.68 Gesellschaft und Gemeinschaft sind also nicht als Gegensatz zu verstehen (darauf hat zuletzt Michael Opielka (2006) aufmerksam gemacht). Jede empirisch gegebene soziale Beziehung ist zu unterschiedlichen Graden vergemeinschaftet und vergesellschaftet. Auch der Bäcker an der Ecke ist über die Charaktermaske seiner sozialen Funktion hinaus Teil meiner Lebenswelt, was die wechselseitigen Handlungsmöglichkeiten nicht nur rechtlich, sondern durch normative (und emotive) Gemeinschaft reguliert. Doch sind Gemeinschaft und Gesellschaft nicht einfach unterschiedliche Typen sozialer Beziehungen, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung (Sozial- und Systemintegration) nicht einfach unterschiedliche Modi sozialer Integration (so begreift sie Michael Opielka [2006: 11 u.ö.]). Beide stehen in einer Spannung, und diese Spannung bestimmt die Dynamik der Entwicklung moderner Gesellschaft. Maine spricht von einer »Bewegung« von Status zu Vertrag. Die Geschichte der Ehe in moderner Gesellschaft z.B. ist nicht einfach eine Kombination von Vertrag und Gemeinschaft, sondern eine Geschichte fortschreitender Entbettung und Neueinbettung des Ver67 Das Hobbes’sche Problem besteht darin, dass den Akteuren im Naturzustand eine Fertigkeit zugesprochen werden muss, die den Gesellschaftszustand immer schon voraussetzt, die Fertigkeit, den Herrschaftsvertrag und den mit ihm antizipierten Zustand als in irgendeiner Weise »besser«, d.h. als normativ ausgezeichnet zu verstehen. Das lässt sich aus der den Akteuren unterstellten Nutzenorientierung nicht folgern. Parsons kann zeigen, dass die interessenrationale Begründung eines Herrschaftsvertrages sich konsistent nur lösen lässt, wenn man den Vertragspartnern eine gemeinschaftliche Normorientierung unterstellt (dazu knapp und klar: Joas/Knöbl 2004: 49ff.). 68 Genau das ist bis heute das zentrale Argument, das gegen Vertragstheorien des Politischen vorgebracht wird – so zuletzt in der Debatte um A Theory of Justice von Ralws, in der die kommunitaristische Gegenposition sich auf diesen Einwand stützte, oder in der Debatte um den sogenannten Verfassungspatriotismus, der sich nach Auffassung der Gegenposition auf Quellen berufen muss, die selbst nicht aus der individuellen Rechtsposition des Staatsbürgers folgen.

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ständnisses von und des gesellschaftlichen Umgangs mit den beiden Elementen, die einer recht eindeutigen Linie folgt, nämlich der – unabgeschlossenen – Entwicklung aus einem Abhängigkeitsverhältnis, in das sich eine Frau einem Mann gegenüber begibt (und in dem sie Individualrechte bis weit ins 20.  Jahrhundert hinein an den Mann abgibt), zu einem Verhältnis, in dem beide Seiten ihre individuellen Freiheitsrechte nicht verlieren. Zunehmende Vergesellschaftung der Ehe heißt aber nicht, dass das gemeinschaftliche Moment, in unserem Kulturkreis die Verbindung zweier Personen zu einer Einheit, verschwindet. Zunehmende Vergesellschaftung der Ehe heißt, dass es sich verändert – und zwar in zunehmende Abhängigkeit von der Entscheidung der beteiligten Partner gerät. Systemintegration »ersetzt« (Habermas 1988, Bd. 2: 232 u.ö., vergleichbar auch Tönnies oder Durkheim) nicht Sozialintegration, sie verändert sie. Eva Illouz hat, um ein anderes Beispiel zu nennen, in Der Konsum der Romantik gezeigt, dass die Kommodifizierung der romantischen Liebe nicht nur diese der Warenform unterwirft, sondern dem Paar gleichzeitig einen Raum romantischer Liebe eröffnet, weil Kommodifizierung institutionalisierte Räume der Privatheit schafft (das Auto, das Kino, das gemeinsame Abendessen im Lokal usw.), die unabhängig von Status und abhängig von der Verfügung über die entsprechenden Geldmittel betreten werden können. An den Beispielen wird deutlich, dass moderne Sozialbeziehungen offenbar nicht entweder gemeinschaftlich oder gesellschaftlich sind, sondern dass sie sowohl gemeinschaftlich wie gesellschaftlich sein können. Dies ist etwa der Fall, wenn sich vergesellschaftete Individuen als eine Einheit, eine »Wir-Gruppe«, verstehen. Für solche Sozialbeziehungen, also für kollektive Handlungseinheiten von Trägern individueller Rechte, ist die Spannung zwischen der Gemeinschaftsorientierung des Handelns und seiner Orientierung an individuellen Zielen charakteristisch. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat die Spannung auf die Formel gebracht, dass der »freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann« (Böckenförde 1991: 112), und die Frage gestellt, inwieweit »staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit des einzelnen leben [können] ohne ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausliegt?« (Böckenförde 1991: 111). Der Staat fordert die Gemeinschaftsverpflichtung seiner Bürger, z.B. in der im Grundgesetz verankerten Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, aber der Staat und das Recht können diese Gemeinwohlorientierung

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selbst nicht herstellen. Diese entwickelt sich als normative Verpflichtung der Handlungsorientierungen auf Gemeinschaft nicht in der Rechtsordnung, sondern in der Sozialisation der Träger von Rechten in der Lebenswelt. Die Spannung der beiden Typen sozialer Beziehungen findet in einer Debatte Ausdruck, die die Geschichte moderner Gesellschaft wie ein roter Faden durchzieht: die Debatte um das Verhältnis von Gemeinschaftsorientierung und Individualismus, von Volonté générale und Volonté de tous. Systemische Integration, das hat z.B. Durkheim in seiner Arbeit Über soziale Arbeitsteilung gezeigt, stellt eine negative Form der Integration her, d.h. eine Integration durch die Abhängigkeit sozialer Funktionen voneinander. Der »institutionalisierte Individualismus« (Parsons) entbettet Individuum und Gruppe und er tut dies zwangsläufig – die Unabhängigkeit des Individuums von Status ist die Grundlage der gleichen Zuschreibung von Individualrechten. Aus diesem Grund wird das Verhältnis des Individuums zur Gruppe zum theoretischen (und praktischen) Problem  – und zwar in allen Handlungsbereichen moderner Gesellschaft. Wie viel Individualismus ist nötig und möglich? Wie viel Gemeinschaftsverpflichtung ist nötig und möglich? Die Antworten auf diese Fragen unterscheiden sich selbstverständlich historisch und sind abhängig von unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Aber es sind eben unterschiedliche Antworten auf dieselbe Frage, und die Frage wird in modernen Sozialordnungen virulent, weil diese die Spannung von Individualismus und Gemeinschaftsorientierung institutionalisieren. Man kann auch sagen, dass der Prozess der Modernisierung von Gesellschaft nichts anderes ist als der Prozess der fortschreitenden Institutionalisierung dieser Spannung. Jeder Fortschritt des Individualismus führt zu einer Veränderung und Neudefinition des Verhältnisses der beiden Pole. Doch dies ist nur ein Aspekt der Spannung. Die Gleichheit von Rechtspersonen bezieht sich nur auf die gleiche Möglichkeit, individuelle Interessen zu realisieren. Die Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte vollzieht sich in einer sozialen Ordnung, die gleiche Rechtspersonen mit ungleicher Macht ausstattet. Individuelle Freiheitsrechte sind ihrer historischen Entstehung nach wesentlich Rechte der freien Verfügung über Eigentum (und Eigentümer sozialhistorisch die ersten Träger dieser Rechte). Für die Dynamik der Spannung ist die Koppelung von sozialen Eigentumsrechten und individuellen Freiheitsrechten, d.h. dem Recht, die Produktions-

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mittel und den Boden, die zur ökonomischen Reproduktion einer Gruppe erforderlich sind, in individuelles Eigentum zu verwandeln, entscheidend. Diese Koppelung verwandelt Träger von individuellen Freiheitsrechten in Träger gegensätzlicher sozialer Interessen. Mit dem auf die Güter, die zur materiellen Reproduktion einer Gruppe erforderlich sind, bezogenen Eigentumsrecht wird in einer Gruppe (dem Staatsvolk) ein Interessengegensatz institutionalisiert, der in der Gruppe mit friedlichen Mitteln (Verträgen) unter Verpflichtung beider Seiten auf ein »gemeinsames Wohl« bearbeitet werden muss. In einer modernen Gesellschaft wird dieser Gegensatz mit erheblichem Aufwand als ein Gegensatz legitimiert, der »für alle« »gut« sei (durch »den Kapitalismus« geht es »uns« heute besser als früher usw.). Der zweite Aspekt der Spannung zwischen individuellen Freiheitsrechten und der Verpflichtung des Handelns auf das Wohl einer Gemeinschaft in modernen sozialen Ordnungen besteht also in der Ausdehnung der individuellen Freiheitsrechte in Form von Eigentumsrechten auf die sachlichen Mittel der Selbsterhaltung einer Gruppe, durch die eine Minderheit in die Lage versetzt wird, diese Mittel als Eigentum zu privatisieren. Auch wenn beide Klassen (seit dem 20. Jahrhundert) über formal gleiche individuelle Rechte verfügen, verfügen ihre Angehörigen nicht in gleicher Weise über Mittel, ihr Belieben zu verwirklichen. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Legitimation der Einheit von Gruppen, die sich als Gemeinschaften verstehen (und über dieses Verständnis ihre Mitglieder auf Gemeinwohl verpflichten). Ich komme darauf gleich zurück.

2.3.2 Vergemeinschaftung und kollektive Handlungseinheiten Ich habe im letzten Unterkapitel die für eine moderne Gesellschaft charakteristische Spannung zwischen Gemeinwohlorientierung und Individualismus als Spannung zwischen Handlungsorientierungen, die an einem gemeinschaftlichen Zusammenleben einer Gruppe ausgerichtet sind, und Handlungsorientierungen, die an der Realisierung individueller Zwecke ausgerichtet sind, entwickelt und dabei deutlich gemacht, dass ein Strukturkonflikt moderner sozialer Ordnungen nicht einfach zwischen Individualismus und Gemeinwohlorientierung besteht, sondern zwischen Individualismus und Gemeinwohlorientierung unter der Bedingung eines Klassengegensatzes – individuelle Freiheitsrechte schließen das individuelle Eigen-

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tum an den Produktionsmitteln ein, die eine Gruppe zu ihrer Reproduktion bedarf. In diesem Kapitel frage ich nach dem Bezugspunkt von Gemeinschaftsorientierung, den ich im letzten Kapitel einfach unterstellt habe, der Gruppe. In einem ersten Schritt diskutiere ich einen allgemeinen Mechanismus der Gruppenbildung (2.3.2.1). In einem zweiten Schritt beziehe ich diesen auf die zentrale kollektive politische Handlungseinheit moderner Gesellschaft, den Staat und das Staatsvolk (2.3.2.2).

2.3.2.1 Gemeinschaft und Gemeinschaftsethos Gemeinschaft ist keine ontologische Qualität von Gruppen. Gemeinschaften gibt es dann und nur dann, wenn sich Individuen als WirGruppe verstehen, d.h. wenn sie gemeinsame Bilder ihrer selbst entwickeln, in denen sie sich in ihrer Eigenart beschreiben und dadurch von anderen unterscheiden. In der Selbstbeschreibung eines »Wir« verwandeln sich soziale Gruppen in kollektive Handlungseinheiten.69 Um sich als Handlungseinheit beschreiben zu können, muss erstens durch Regeln der Zugehörigkeit festgelegt werden, wer »wir« dem Umfang nach sind, d.h. wer dazugehört und wer nicht, und zweitens in Selbstbeschreibungen festgelegt werden, was »uns« als Einheit ausmacht, d.h. wodurch »wir« uns von anderen unterscheiden. Wer sich der sozialen Gruppe A zugehörig fühlt, muss sie von der Gruppe B, der er sich nicht zugehörig fühlt, unterscheiden.70 »Jede Identität ist relational und jede Identität erfordert zwangsläufig die Bestätigung einer Differenz, d.h. die Wahrnehmung von etwas ›anderem‹, das sein ›Außerhalb‹ konstituiert« (Mouffe 2010: 23). Die Selbstbeschreibung ist zugleich eine Differenzzuschreibung.71 69 Um als kollektiver Akteur auftreten zu können, reicht die Selbstbeschreibung als Kollektiv nicht hin, dazu ist, jedenfalls bei größeren Gruppen, Organisation erforderlich. Da es in dieser Arbeit um die Analyse kollektiver Selbst- und Feindbilder geht und nicht um kollektive Akteure, werde ich diese zweite Bedingung kollektiver Handlungsfähigkeit nicht weiter untersuchen. 70 Jedes Selbstbild basiert auf einer positiven Bestimmung des Selbst, die nur durch Unterscheidung gewonnen werden kann. Dies gilt nach der Grundeinsicht der Hegel’schen Logik für jede Bestimmung (vgl. Hegel 1986a, insbesondere 6579). Kein Bezeichnen ohne Unterscheiden. Für die soziologische Systemtheorie hat Luhmann diesen Gedanken erneut fruchtbar gemacht, allerdings ohne den Begriffsrealismus Hegels mitzugehen. 71 Ernest Renan hat das in der ihm eignen Lakonie 1870 für das Verhältnis von

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Nicht jede gefühlte oder gewusste Zugehörigkeit drückt die Einordnung in ein Kollektiv aus: Der Unterschied zwischen Gruppe und Kollektiv besteht darin, dass ich mich den unterschiedlichsten Gruppen zuordnen kann, ohne mich als Teil einer Handlungseinheit zu begreifen:72 Ich bin Deutscher, Protestant, gebürtiger Freiburger usw. In eine Handlungseinheit, ein Kollektivsubjekt, verwandelt sich die Zuordnung erst, wenn ich von »uns Deutschen«, »uns Freiburgern« usw. spreche oder als »Deutscher«, »Freiburger« usw. handele. Im ersten Fall ist ein Individuum als »Ich« Subjekt des Handelns, im zweiten ein Individuum als Teil eines »Wir«. Kollektivierung ist ein universelles Phänomen. Das Bedürfnis, sich selbst als Teil von Wir-Gruppen zu begreifen, ist fundamental und verweist auf die anthropologische Ausstattung des Menschen, der nur als soziales Wesen existieren kann.73 Deshalb ist die Zuordnung von Individuen zu Gruppen identitätsrelevant. Erst die Zuordnung zu Gruppen, die sich als Kollektive verstehen, verankert Individuen in der sozialen Welt und in der sozialen Zeit – in der sozialen Welt, weil sie soziale Zugehörigkeit ausweist, in der sozialen Zeit, weil die ZuDeutschland und Frankreich ausgedrückt: »Eine Nation erlangt im allgemeinen ein klares Bewusstsein seiner [gemeint: ihrer, J.W.] selbst nur unter dem Druck des Auslands. […] Ein Ich, um die Sprache der Philosophie zu verwenden, entwickelt sich immer in Opposition zu einem anderen Ich. Auf diese Weise wurde Frankreich zur Geburtshelferin der deutschen Nation« (Renan 1995b: 63). 72 »Der Begriff der ›Gruppe‹ selbst hat eine ganz andere Bedeutung für diejenigen, die sagen ›wir Protestanten‹, ›wir Amerikaner‹ usw., als für diejenigen, die sagen ›die Katholiken‹, ›die Russen‹, ›die Afro-Amerikaner‹« (Schütz 2011b: 203). Friedhelm Neidhardt hat 1985 einen Sonderband der KZfSS zur Gruppensoziologie herausgegeben, dessen Beiträge sich auf das Verhältnis von Gruppe und Institution bzw. Klein- und Großgruppe konzentrieren. Ich unterscheide hier nicht zwischen unterschiedlichen Formen von Gruppen (insbesondere nicht zwischen Primär- und Sekundärgruppe) und verzichte auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit Fragen der Gruppensoziologie, da es mir ausschließlich um einen bestimmten Typ von Gruppe, die »Wir-Gruppe«, geht und dies unabhängig von der Frage, inwieweit diese auf Interaktionsbeziehungen basiert oder nicht. 73 Bernstein (1926) erklärt die Gruppensolidarität aus der Hilflosigkeit des isolierten Individuums, das auf das Zusammenleben mit anderen verwiesen ist. Aus dem fragilen Gebilde der Gruppe müssen »Feindschaftsgefühle ferngehalten werden« (Bernstein 1926: 77). Die Gruppe ist eine »funktionelle Einheit, der in der menschlichen Gemeinschaft eine bestimmte Verteilung von Gefühlen der Liebe und des Hasses zufällt« (Bernstein 1926: 78): Da »alle Gruppierungen« (Bernstein 1926: 79) durch innere latente oder offene Konflikte gekennzeichnet seien, werde, da sich die Gruppe nicht anders erhalten kann, das Gefühl der Liebe nach innen, das des Hasses nach außen gerichtet.

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gehörigkeit zu Wir-Gruppen die Möglichkeit einer genealogischen Einordnung in der Weltzeit eröffnet und damit die Schranke des endlichen Selbst in der Zeit transzendiert. Die Zuordnung zu Wir-Gruppen macht Individuen sozial heimisch (vgl. Schütz 2011c). Damit ist nicht gesagt, dass Kollektive eine »Identität« ausbilden. Kollektive können keine Identität ausbilden, weil sie über kein Bewusstsein verfügen, durch das sie sich auf sich beziehen können, »die Gruppe als ganze kann […] keine ›Seele‹ haben« (Simmel 1992: 632).74 Kollektive entwickeln Selbstbilder und soziale Praktiken, durch die sich ihre Angehörigen auf sie beziehen und als ihre Glieder verstehen können. Was Kollektive ausbilden und pflegen, ist keine »kollektive Identität«, sondern ein Ethos – Robert MacIver hat dafür den Begriff des Zentralmythos geprägt75  –, in dem sich die Angehörigen auf Gemeinschaft verpflichten. Ein Ethos einer Gruppe hat eine kognitive Dimension, in der die Geschichte der Gemeinschaft erzählt wird, eine normative Dimension, welche die Angehörigen der Gemeinschaft auf Gemeinschaftsnormen verpflichtet, und eine emotive Dimension, welche die Gemeinschaftsangehörigen aneinander bindet. Alle drei Dimensionen sind nicht unabhängig voneinander: Das Ethos einer Gemeinschaft ist symbolisch in einer Gemeinschaftserzählung objektiviert, die den Rahmen des kognitiven Weltzugangs ihrer Angehörigen festlegt, aber, als Erzählung einer Gemeinschaft, nicht nur eine symbolische Ordnung darstellt, sondern ebenso eine imaginäre, in der der Einzelne emotional an die Gemeinschaft gebunden wird.76 74 Die breite Debatte um »kollektive Identität« in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stand vor dem oft bemerkten Problem der Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit und Fragwürdigkeit dieser Bezeichnung (vgl. dazu sehr zugespitzt Niethammer 2000). In der Debatte war unter kollektiver Identität typischerweise das Selbstbild eines kollektiven Akteurs verstanden worden (so exemplarisch bei Castells 2003: 8ff.) bzw. der konstruktive Charakter von Selbstbeschreibungen betont worden (so etwa Giesen [1991] in seiner Einleitung in den Band Nationale und kulturelle Identität). Gemäß dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen Zugang verweist die Bezeichnung »kollektive Identität« auf eine begrifflich unklare Unterscheidung zwischen Kultur als dem Bereich, in dem Selbstbeschreibungen ausgebildet werden, und Individuen, den Trägern solcher Selbstbeschreibungen. Nur für Individuen können solche Selbstbeschreibungen Teil ihrer Identität sein. 75 MacIver verwendet den Begriff des Zentralmythos in einem engeren Sinn und beschreibt damit die »Heiligung der Autorität« (M[a]cIver 1953: 44) als zentrales Prinzip der »Aufrechterhaltung einer jeden Gesellschaftsordnung« (ebd.). 76 Das Verhältnis dieser Dimensionen zueinander wird insbesondere in der ethnologischen, der sozialphilosophischen, der psychoanalytischen und der religionswissenschaftlichen Forschung als Verhältnis von Mythos und Ritus

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Diese Bindung vollzieht sich auf der Ebene der Erzählung als Vergewisserung über Gemeinschaftsnormen, Bindungskraft wird durch (rituelle) Praktiken hergestellt, welche die Gemeinschaftserzählung praktisch bestätigen und erneuern. Kollektive gibt es daher nicht außerhalb, sondern nur innerhalb von symbolischen Ordnungen, d.h. innerhalb einer Gemeinschaftserzählung und von auf Gemeinschaft bezogenen (rituellen) Handlungen.77 Die Selbstbeschreibungen, durch die sich Gruppen als Kollektive oder Solidargemeinschaften konstituieren, sind, sofern sie in der Zeit stabil sind – das setzt die Institutionalisierung von auf das Kollektiv bezogenen Praktiken voraus  –, Teil der kulturellen Semantik, d.h. Teil kulturellen Wissens. Kulturelle Semantiken legen Welt aus und sind deshalb eine Bedingung des Handelns in der Welt. Sie sind kein Teil charakterlicher Dispositionen von Individuen, sondern Teil des stabilen Wissens einer Kultur, auf das deren Angehörige zurückgreifen können. Semantiken geben Regeln an, wie Ausschnitte der äußeren, inneren oder sozialen Welt zu deuten sind und wie mit ihnen umzugehen ist. Schütz bezeichnet sie als »Rezepte« (Schütz 2011a: 63), Luhmann spricht von »Sinnverarbeitungsregeln« (Luhkontrovers diskutiert. Habermas (2012: 91ff.) nimmt an, dass die »Umstellung der Kognition und der Handlungskoordinierung von der vorsprachlichen zur sprachlichen Kommunikationsstufe« mit einer »individuierenden Vergesellschaftung der handelnden Subjekte« (2012: 93) einhergeht, d.h. ein Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft entsteht, der zunächst im Ritus und dann auch sprachlich im Mythos bearbeitet wird. Das entspricht weitgehend der Position Durkheims in den Elementaren Formen des religiösen Lebens. Ohne hier im Detail darauf einzugehen, sei darauf hingewiesen, dass das Problem der Gemeinschaftsbindung der einzelnen so unterschiedlichen Mythentheorien wie der von Freud (1982d), Girard (1987) oder Cassirer zugrunde liegt. Für alle drei wird man sagen können, dass der Mythos eine sprachliche Form der Organisation kollektiver Affekte darstellt, der (insbesondere bei Freud und Girard) der Gewalt in Wir-Gruppen Einhalt gebietet. 77 An diesem Punkt trennen sich ältere und neuere Nationalismusforschung. Die ältere Nationalismusforschung hat die Existenz nationaler Kollektive schlicht vorausgesetzt und nach verallgemeinerbaren Kriterien gefragt, durch die Kollektive bestimmt werden können. Im Ergebnis passte kein Begriff der Nation auf die empirische Vielfalt von Nationen und nationalen Bewegungen. Die neuere Nationalismusforschung hat jene Voraussetzung kritisiert und nach der sozialen Konstruktion der Kollektive gefragt. Während nach Auffassung der älteren Nationalismusforschung die Nation dem Nationalismus vorgeordnet ist, verhält es sich nach der neueren Nationalismusforschung genau umgekehrt. Vgl. insbesondere die instruktiven und für die Etablierung der neueren Forschung zentralen Arbeiten von Gellner (1984), Anderson (1983) und etwas später Hobsbawm (1992). Einen guten Überblick dazu bietet Langewiesche (2008).

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mann 1993: 19). Kollektivsemantiken sind nichts anderes als in der Zeit stabile Selbstbeschreibungen von Personenverbänden. Kollektivierung ist eine notwendige Bedingung kollektiven Handelns. Ich verdeutliche dies an einem Beispiel: Die Schüler der Schule A werden zu dem Kollektiv der Schüler der Schule A, wenn sie eine Regel der Zugehörigkeit festlegen (die in diesem Fall institutionell gegeben ist), sich als Einheit beschreiben und dadurch von den Schülern der Schule B abgrenzen. Um sich als Einheit beschreiben zu können, müssen sie sich die Geschichte ihrer Gemeinschaft erzählen. In solchen Gemeinschaftserzählungen verändern sich die Beziehungen der Angehörigen des Kollektivs der Schüler der Schule A zueinander: Als bloße Schüler der Schule A bildeten sie eine Gruppe, der sie sich zuordnen können, die Bedeutung der Zuordnung ist aber bloß klassifikatorisch (»Ich gehe auf die Schule A zusammen mit x Mitschülern«). Die Zuordnung zu einem Kollektiv ist keineswegs bloß klassifikatorisch: Sie verwandelt die Schüler in eine Handlungseinheit und stiftet eben dadurch eine neue Beziehung zwischen ihnen, eine Beziehung der Gemeinschaft. Sie werden zu Teilen eines auf Gemeinschaftsnormen verpflichteten Ganzen (in aller Regel Normen, die a) im Außenbezug die Solidarität mit Angehörigen der Solidarität mit Nichtangehörigen überordnen und b) im Binnenbezug die Selbsterhaltung der Gruppe als Gruppe sicherstellen). Als Glieder dieser Einheit sind sie in gleicher Weise dem Gemeinschaftsethos verpflichtet und von anderen Einheiten unterschieden. Die Individuen schrumpfen gleichsam,78 d.h. verwandeln sich in Träger von kollektiven Eigenschaften.79 Diese Schrumpfung ist nichts anderes als die Einhegung des Individualismus: Individuen verpflichten sich auf die Gemeinschaft eines Ethos und eine Mitgliedschaftsregel. Durch Kollektivierung 78 Simmel spricht von einer »Herabsetzung der praktischen Persönlichkeitswerte« (Simmel 1992: 113). Dies ist lebensweltlich und soziologisch evident, vgl. nur exemplarisch Simmel 1995c: 56: »Je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Und umgekehrt: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns betätigen und dem unsre Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unsrer Individualität, aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart.« 79 »Die Parteibildung schafft Zentralgebilde, an welche die Anlehnung dem einzelnen die inneren Gegenbewegungen erspart und seine Kräfte dadurch zu großer Wirkung bringt, daß sie dieselben in einen Kanal leitet« (Simmel 1995b: 66).

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verändern sich nicht nur die Beziehungen zwischen den Schülern der Schule A, sondern auch deren Beziehungen zu den Schülern der Schule B. Man verfolgt einen Schüler der Schule B, der einem Schüler der Schule A übel mitgespielt hat, nicht mehr einfach deshalb, weil dessen Handlung »ungerecht«, »gemein« usw. war, sondern auch deshalb, weil sie einen Angriff auf einen Angehörigen der eigenen Einheit darstellt. Man kann die Verfolgung nun gemeinschaftlich aufnehmen, weil er »uns« angegriffen hat. Sofern der Angriff als Angriff eines Angehörigen eines anderen Kollektivs verstanden wird (was nicht zwingend, aber möglich ist), lässt sich die Verfolgung praktischerweise ausdehnen (nämlich auf alle Angehörigen des Kollektivs »B«, dessen Vertreter ja in dessen Namen gehandelt hat, weshalb sei Tun »B« in Gesamtheit zugerechnet werden kann). Man kann nun irgendeinen Schüler der Schule B stellvertretend verfolgen und muss gar nicht mehr den ursprünglichen Übeltäter zur Rechenschaft ziehen. Durch Kollektivierung werden die Selbstbilder der Anderen in bestimmter Hinsicht irrelevant. Für die Bildung des Kollektivs der Schüler der Schule A ist es ausreichend, sich selbst als Kollektiv zu verstehen. In diesem Selbstverständnis liegt zwingend die Abgrenzung gegen ein von A konstruiertes Non-A. Diese Abgrenzung erklärt aber noch nicht, was die eigene Einheit ausmacht, dazu bedarf es eines symmetrischen oder asymmetrischen Gegenbildes, eines B (zu der Unterscheidung symmetrischer und asymmetrischer Gegenbegriffe: Koselleck 1989b). In meinem Beispiel ist das Gegenbild symmetrisch: das von A entworfene Bild eines Kollektivs der Schüler der Schule B. Dieses Gegenbild ist unabhängig davon, was die Schüler der Schule B glauben, und es ist unabhängig davon, ob und wie sich diese als eine Gruppe verstehen. Zygmunt Bauman hat dies deutlich formuliert: »Es sind die Freunde, die die Feinde definieren« (Bauman 1992: 73). Das ist der soziologische Grund, warum eine Untersuchung von sogenannten Gruppenkonflikten an den Selbstbildern anzusetzen hat. Das Selbstverständnis eines Personenverbandes als Kollektiv führt also nicht nur einen neuen Akteur ein, sondern verändert das Verstehen anderer Akteure und den Umgang mit ihnen. Diese anderen müssen nicht gleich »Feinde« werden. Sie können auch »Fremde« oder »Partner« sein. Zum eigenen Kollektiv aber gehören sie in beiden Fällen nicht. Sie sind keine »Freunde«. Kollektivierung verwandelt Individuen in solidarische Glieder einer Einheit. Darin besteht ihre große sozialintegrative Leistung. Mit der

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Verpflichtung von Individuen auf Gemeinschaftsnormen des Kollektivs ist eine zwangsläufige Folge verbunden: »Es scheint, als ob für uns Menschen, deren geistiges Wesen auf die Unterschiedsempfindlichkeit gebaut ist, immer ein Trennungsgefühl neben dem Einheitsgefühl bestehen müßte, um dieses letztere merkbar und wirksam zu machen« (Simmel 1992: 683f.). Keine »Freunde« ohne »Fremde« oder »Feinde«.80 Die soziale Welt verwandelt sich in eine Welt von Kollektiven, weil man sich nur selbst als Kollektiv verstehen kann, wenn man sich von anderen Kollektiven unterscheidet. Kollektivierung hat darüber hinaus eine »Nebenfolge«: Die soziale Welt schrumpft auf Kollektive, deren Angehörige sich wechselseitig zu Kollektiven zuordnen und als fremd, partnerschaftlich oder feindlich gesinnte Angehörige anderer Kollektive verstehen. Kollektivierung verwandelt »die« potenziell in Feinde (vgl. Bauman 1992: 73ff.). Dies gilt unabhängig von Struktur und Typ eines Kollektivs, unabhängig von seiner Größe und der Dichte der Beziehungen seiner Angehörigen. Jede Gemeinschaftsbildung basiert auf Selbstbeschreibungen einer Gruppe als Kollektiv, in denen Regeln der Zugehörigkeit festgelegt und kollektive Eigenschaften zugeschrieben werden. Ich untersuche dies im nächsten Abschnitt für den Staat.81

2.3.2.2 Demos und Ethnos Ich habe in Kapitel 2.3.1 erörtert, dass Vergesellschaftung, d.h. die Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte, die vergesellschafteten Individuen an den Staat als den Garanten der gemeinsamen Rechtsordnung bindet. Unter einem modernen Staat verstehe ich, 80 Dieses Phänomen ist oft beschrieben worden, ich verweise an dieser Stelle exemplarisch nur auf Freud, der es als »Narzissmus der kleinen Differenzen« (Freud 1982a: 243) gefasst hat. 81 Das Folgende gilt unter dem systematischen Aspekt, dass gesellschaftliche Organisationen nur als Einheiten auftreten können, wenn sie die Beziehungen ihrer Angehörigen »verpersönlichen« (Neidhardt 1983: 16), d.h. sich selbst als Gemeinschaft beschreiben, für jede moderne Organisation: Keine Organisation kann sich selbst steuern, wenn sie sich nicht als Einheit beschreibt. Deshalb betreiben gerade große Organisationen erheblichen Aufwand, ein »Wir« herzustellen, das die Angehörigen in eine Solidargemeinschaft integriert.

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ohne an dieser Stelle tiefer in die Diskussion des Begriffs einsteigen zu wollen, eine segmentär differenzierte Organisation des Politischen,82 in der kollektiv bindende Entscheidungen die allgemeinen Angelegenheiten eines Staatsvolkes regeln. Die vergesellschafteten Individuen bilden zusammen das Staatsvolk, den Demos,83 die Einheit des Demos ist die Verfassung. Eine Rechtsordnung stellt sich dann als legitim dar, wenn sie als Ordnung der Gruppe der Staatsangehörigen, des Staatsvolkes, anerkannt ist. Für das Staatsvolk gilt, was ich eben als allgemeinen Mechanismus der Kollektivierung entwickelt habe: Um als legitime politische Ordnung zu gelten, muss sich das Staatsvolk als Gemeinschaft verstehen, und das kann es nur durch die Festlegung von Regeln der Zugehörigkeit und Selbstbeschreibungen. Die Zugehörigkeitsregel, das Staatsangehörigkeitsrecht, grenzt die Gruppe ein und unterscheidet so das Staatsvolk von anderen Staatsvölkern. »Der moderne Staat identifiziert eine bestimmte Gruppe von Bürgern als seine Bürger und alle anderen als Nichtbürger, als Ausländer« (Brubaker 1994: 19). Teil eines Staatsvolkes zu sein, bezeichnet ein fundamentales, seit der rechtlichen Kodifizierung der Staatszugehörigkeit Mitte des 19. Jahrhunderts stetig an Bedeutung gewinnendes Rechtsverhältnis: Es legt nicht nur den politischen Handlungsraum fest, sondern strukturiert fast alle Handlungsräume von Individuen, insofern es diese entlang der Unterscheidung von Angehörigen und Nichtangehörigen unterschiedlich definiert. Die Zuordnung von Individuen zu Staats82 An diesem Punkt trennen sich die Systemtheorien von Parsons und Luhmann. Parsons ist davon ausgegangen, dass ein gemeinsames System von Werten und Normen die Einheit einer Gesellschaft in einer Art nationalstaatlichem Container sicherstellt. Luhmann argumentiert dagegen, dass erstens funktionale Differenzierung nicht an den Grenzen von Staaten endet und sie zweitens gerade keine Einheit mehr zulässt, da kein Teil diese Einheit repräsentieren kann. Ich gehe unter anderem mit Stichweh (2010: 303) davon aus, dass die Subsysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft unterschiedliche Reichweiten haben, gebe den Raumbezug des Gesellschaftsbegriffs auf staatliche Einheiten auf und spreche, wenn es um Gesellschaft geht, von Weltgesellschaft, in der sich unterschiedliche Differenzierungsmuster ausbilden. Münch spricht in Bezug auf die segmentäre Differenzierung von Nationalstaaten von einer »Überlagerung« funktionaler Differenzierung (Münch 2010: 284) bzw. von einer »Spannung« zwischen segmentärer und funktionaler Differenzierung (Münch 2010: 287ff.), doch tatsächlich handelt es sich um eine segmentäre Binnendifferenzierung funktionaler Differenzierung. 83 Die Unterscheidung von Demos und Ethnos stammt ursprünglich von Emerich K. Francis.

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völkern durch das Staatsangehörigkeitsrecht ist in einer modernen Gesellschaft das, was in vormodernen sozialen Ordnungen der Status war. Die Eingrenzung der Träger individueller Rechte durch das Staatsangehörigkeitsrecht bestimmt zwar die Grundgesamtheit, den Demos. Aber diese Eingrenzung steht inhaltlich in Konflikt mit der historischen Legitimation individueller gleicher Rechtsträgerschaft. Historischer Bezugspunkt der Individualrechte sind Menschenrechte, doch realisiert werden diese in partikularen Staaten in Form von Bürgerrechten. Exemplarisch wird der Konflikt in Durkheims Der Individualismus und die Intellektuellen deutlich: Durkheim geht in diesem Aufsatz  – wie auch in Über soziale Arbeitsteilung und Die elementaren Formen des religiösen Lebens  – davon aus, dass soziale Verbände eines gemeinsamen Glaubens (das, was ich das Ethos der Gemeinschaft genannt habe) bedürfen. In modernen Sozialordnungen hält Durkheim die »Religion des Individuums« für einen solchen gemeinsamen Glauben, das »einzige Band […], das uns miteinander verbindet« (Durkheim 1986: 65). Grundlage dieser Religion ist die Würde des Individuums, die es als Teil der Menschheit hat (Durkheim 1986: 59). Die Bindekraft dieser Religion bezieht sich auf die  – wie immer naturrechtlich oder auf andere Weise begründete  – Gleichheit der Träger von Individualrechten als Menschen. Durkheim geht es aber nicht um einen Weltstaat, sondern um ein partikulares politisches Kollektiv (vgl. Durkheim 1986: 65): Frankreich. Sozialhistorisch besteht für die Eingrenzung des Staatsvolkes und seine Unterscheidung von anderen Staatsvölkern zunächst keine Notwendigkeit. Tatsächlich ist das Staatsangehörigkeitsrecht ein spätes Produkt der Entwicklung moderner Staatlichkeit.84 Das Postulat gleicher bürgerlicher Freiheits- und Eigentumsrechte zielt sozialhistorisch nicht auf eine Unterscheidung von Staatsvölkern, sondern auf 84 In den Staaten des Deutschen Bundes war die Unterscheidung zwischen Mitgliedern, Inländern, und Nichtmitgliedern, Ausländern, zunächst ein administratives Instrument der Kontrolle von Migrationsbewegungen, das im 19. Jahrhundert mit der Durchsetzung moderner Staatlichkeit und ihrer Fähigkeit, Territorialgrenzen zu kontrollieren, an Bedeutung gewinnt. »Grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen und Erfordernisse der Staatsintegration führten zur systematischen Regelung der Staatsangehörigkeit zu Beginn des 19.  Jahrhunderts« (Gosewinkel 2001: 423; vgl. Brubaker 1994: 102). Dies gilt auch für die Durchsetzung des Abstammungsprinzips im Preußischen Staatsangehörigkeitsrecht 1842 (vgl. Gosewinkel 2001: 67-101; eine sehr knappe Übersicht über die Entwicklung mit Schwerpunkt auf der Zeit nach 1842 in Bös 2000: 99ff.).

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die ständische Binnendifferenzierung der absolutistischen Staaten. In der berühmten Flugschrift des Abbé Sieyès wird das ganz deutlich: Für Sieyès ist eine Nation eine »Gesellschaft, welche unter einem gemeinschaftlichen Gesetz lebt und durch ein und dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten wird« (Sieyès 1994: 37). Sie setzt sich zusammen aus dem Dritten Stand, der »Alles« ist, während die ersten beiden Stände aus der »gemeinsamen Ordnung und dem gemeinsamen Gesetz« heraustreten: »Ist es nicht eine Tatsache, daß der Adelsstand Vorrechte und Privilegien genießt, welche er seine Rechte zu nennen sich erdreistet und welche von den Rechten des großen Ganzen der Bürger abgesondert sind?« Der Adel ist nicht Nation, d.h. nicht Teil der Grundgesamtheit, sondern »ein eigenes Volk in der Nation« (Sieyès 1994: 37). Wen der dritte Stand im Raum umfasst, ist für Sieyès irrelevant. Relevant ist, dass die beiden ersten Stände nicht dazugehören.85 Zum Problem wird die Bestimmung der Grundgesamtheit des Demos in dem Moment, in dem moderne Staaten sich historisch durchsetzen, also im späten 18. Jahrhundert (vgl. Heckmann 1997: 69f.). Jürgen Habermas hat das Problem nicht in seiner historischen, aber in seiner systematischen Dimension exakt formuliert: »In der rechtlichen Konstruktion des Verfassungsstaates besteht eine Lücke, die dazu einlädt, mit einem naturalistischen Begriff des Volkes ausgefüllt zu werden. In normativen Begriffen allein lässt sich nämlich nicht erklären, wie sich die Grundgesamtheit jener Personen, die sich vereinigen, um ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim zu regeln, zusammensetzen soll. Normativ betrachtet, sind die sozialen Grenzen einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen kontingent« (Habermas 1999a: 139f.). Diese Grenzen müssen kontingent sein, weil der Referenzpunkt der Gleichheit der »Rechtsgenossen« Menschheit ist. Zur Unterschei85 Vgl. auch Breuilly (1999: 54) für die französische Verfassung von 1791: »Die Nation war die Summe aller Staatsbürger, deren Rechte sich aus ihrer menschlichen Existenz herleiteten.«

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dung der Träger von Bürgerrechten im Unterschied zu den Trägern von Menschenrechten bedarf es also einer weiteren Differenzierung der Menschheit in Untergruppen. Carl Schmitt hat dies so ausgedrückt: »Der demokratische Begriff der Gleichheit ist ein politischer Begriff und nimmt, wie jeder echte politische Begriff, auf die Möglichkeit einer Unterscheidung Bezug. Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen, sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, wobei diese Zugehörigkeit zu einem Volk durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Glauben, gemeinsames Schicksal und Tradition) bestimmt sein kann. […] Der zentrale Begriff der Demokratie ist Volk und nicht Menschheit« (Schmitt 1965: 227; 234). Vor diesem Problem steht jede Eingrenzung des Demos in einem kollektiven Selbstbild. Die »Lücke« füllt der Begriff der Nation. In nationalen Selbstbildern legitimiert sich der Demos nicht nur als politische Gemeinschaft der Staatsbürger, sondern als historische Gemeinschaft des Volkes. Diese Legitimation von Einheit ist aus zwei Gründen zwingend, erstens wegen der notwendigen Unterscheidung von Staatsbürgern und Menschen und zweitens wegen der Verpflichtung der Staatsbürger auf Gemeinschaftsnormen, d.h. ihrem Selbstverständnis als »Brüder«. Aus der systemischen Integration in der Rolle eines »Bürgers« folgt in keiner Weise die »Brüderlichkeit« dieser Träger von Individualrechten, also deren Sozialintegration in eine Solidargemeinschaft. Staat und Recht können individuelle Rechtspersonen nicht auf eine Solidargemeinschaft von Staatsangehörigen verpflichten. Die Solidargemeinschaft der »Bürger«, ihre »Brüderlichkeit«, verweist auf deren Sozialintegration, also auf eine Gemeinschaftserzählung, durch die sich »Bürger« als »Brüder« verstehen können. »Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und weiter vollbringen zu wollen – das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein« (Renan 1995a: 56). Verbunden ist die »große Solidargemeinschaft« (Renan 1995a: 57) in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch eine gemeinsame

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Geschichte, und sie versteht sich in der Gegenwart als Solidargemeinschaft durch die historische Erzählung der gemeinsamen Geschichte des deutschen, französischen usw. Volkes.86 Damit hat sich die Frage der Zugehörigkeit verschoben: Wie können sich »Völker« als distinkte Einheiten verstehen? Auf diese Frage gibt das Selbstbild einer Nation eine eindeutige Antwort. In ihm gelten »Völker« als historisch-genealogische Gemeinschaften, die sich im Staat eine politische Einheit geben. Die Eingrenzung des Demos verweist auf ein Ethnos, auf eine Wir-Gruppe, die sich als Wir-Gruppe in der historischen Zeit erhält. Aus diesem Grund schreiben historische Darstellungen der Entstehung der modernen europäischen Staaten diese Geschichte als Geschichte von Nationalstaaten und unterscheiden zwischen der politischen Geschichte und der Geschichte von genealogisch verstandenen »Völkern«, zwischen Staat und Nation (vgl. exemplarisch Habermas 1999a: 130ff.; Schulze 1995 z.B. gliedert seine Darstellung der Geschichte der europäischen Nationalstaaten entlang dieser Unterscheidung). Ethnos (die historisch-genealogische Gemeinschaft des »Volkes«) und Demos (das Staatsvolk) sind im Selbstbild der Nation verbunden: Nationale Selbstbilder sind Selbstbilder historisch-genealogischer Gemeinschaften, die sich im Staat eine politische Einheit geben. Rainer Lepsius hat Nation als »eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als eine Einheit bestimmt« (Lepsius 2009a: 33),87 charakterisiert.88 Ein Demos 86 Bendix spricht in diesem Sinne von einem »Akt der Resakralisierung im Namen des Volkes« (Bendix 1980, Bd. 2: 553). 87 Lepsisus lehnt diesen Begriff der Nation an Max Weber an: »›Nation‹ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an« (Weber 1956: 675). Für die stärker an der Objektivität von Merkmalen orientierte Forschung vgl. exemplarisch Lemberg 1964, Bd. 2: 52. 88 Lepsius’ Arbeit stammt aus den 80er Jahren des 20.  Jahrhunderts, einer hoch produktiven Zeit der Nationalismusforschung, in der die Konsequenzen der Einsicht ausgearbeitet wurden, dass die Einheit von Nationalstaaten sich nicht an Kriterien festmachen lässt, die ihnen ontologisch zukommen, sondern von diesen Nationalstaaten im Prozess der Nationalstaatsbildung selbst als kulturelles Wissen hergestellt wird – »die Nation, wenn sie entsteht, bestimmt selbst die Merkmale, die sie bestimmen« (Böckenförde 2000: 41). Im Rahmen der frühen konstruktivistischen Nationalismusforschung galt das Hauptinteresse der Nation als Vorstellung. Inzwischen hat sich, z.B. in den Arbeiten von Rogers

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grenzt sich im Selbstverständnis als Nation ein und weiß sich als souveräne Einheit seiner selbst, d.h. als Einheit, die sich regiert oder von Angehörigen des Personenverbandes regieren lassen will.89 Eben dadurch unterscheidet sich dieser Begriff der Nation von früheren. Das ganze Mittelalter hindurch ist die Idee unbekannt, Regierung und Regierte hätten der gleichen Grundgesamtheit zu entstammen.90 Das Selbstbild einer solchen Einheit formuliert der Nationalismus, »eine Form des politischen Denkens, die auf der Annahme beruht, daß soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt« (Gellner 1999: 17), nämlich einem gemeinschaftlichen Ethos, das alle Angehörigen zur wechselseitigen Solidarität verpflichtet. In der Nationalismusforschung werden oft zwei Typen der Legitimation der Eingrenzung eines Demos in Form eines republikanischen bzw. liberalen Modells91 auf der einen und eines völkischen Modells auf der anderen Seite einander gegenübergestellt. Von dem liberalen bzw. republikanischen Modell wird angenommen, dass dieses nicht auf Abstammung, sondern auf Territorialität als Prinzip der Eingrenzung rekurriere, was auch im Staatsangehörigkeitsrecht deutlich werde. In der völkischen Variante ist dagegen die Einheit des Volkes dem Staat vorgeordnet.92 Sozialhistorisch rekurriert

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Brubaker, das Interesse von der Vorstellung mehr auf die Herstellung verschoben. Insofern wäre Lepsius’ Bestimmung von Nation zu ergänzen erstens um den Aspekt der sozialen Verfertigung und Tradierung der »Vorstellung« durch soziale Praxen (rituelle Handlungen und Beschwörungen in der Öffentlichkeit, systematische Vermittlung einer Nationalgeschichte im Bildungssystem, Bezug des politischen Systems auf Nation usw.) und zweitens durch den Aspekt der Materialität von Nation (Denkmäler usw.). Entsprechend formuliert Gellner (1984: 1) als Regel: »If the rulers of the political unit belong to a nation other then the majority of the ruled, this, for nationalists, constitutes a quite outstanding intolerable breech of political propriety.« Hagen Schulze hat den historischen Prozess der Herausbildung dieser Semantik als Transformation einer Adelsnation, in der sich die herrschende Schicht von den Beherrschten dem Selbstbild nach unterscheidet, zu einer Volksnation, in der die Herrschaft und ihr Verwaltungsstab mit den Beherrschten eine Einheit bilden, charakterisiert (vgl. Schulze 1995: 108-125; vgl. auch Bendix 1980). Vgl. zu der Unterscheidung u.a. Habermas 1999b, insbes. 166ff. Im Kern besteht die Differenz darin, dass individuelle Freiheit für den Liberalismus wesentlich bürgerliche Freiheitsrechte meint, für den Republikanismus dagegen auch Rechte politischer Selbstbestimmung einschließt. So z.B. Dann, der Volk als soziale Großgruppe begreift, »gekennzeichnet durch eine gemeinsame Sprache, eine Kultur, eine Religion, eine gemeinsame Geschichte« (Dann 1994: 13), Nation als »politische Willensgemeinschaft« (Dann 1994b: 12). Damit ist allerdings ein bestimmter Nationenbegriff präformiert, der

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diese Gegenüberstellung auf unterschiedliche historische Typen der Nationalstaatsbildung. Dem völkischen Legitimationsmodus der Einheit des Demos wird typischerweise der französische oder der US-amerikanische entgegengesetzt (exemplarisch: Böckenförde 1999: 46f.).93 Dieser Gegensatz scheint mir zu stark zugespitzt zu sein. Beide Modi der Legitimation schließen Individuen in ein »Wir« ein und dadurch andere aus (Holz 2000: 18). Auch schließt das auf den  – in der Regel: revolutionären  – Konstitutionsakt der Nation konzentrierte Selbstverständnis einer Staatsbürgernation in keiner Weise die Verortung der Staatsbürger in der historisch-genealogischen Gemeinschaft eines Volkes aus (vgl. exemplarisch nur die Interpretationen von Maurice Barrès in Bielefeld 2003: 157-186 oder von Drumont in Holz 2001: 298-358; schon das décret infâme Napoleons von 180894 ist nur unter dieser Voraussetzung zu formulieren), im Gegenteil: Um die Grundgesamtheit des Demos zu bestimmen, muss diese über den individuellen Willen hinaus qualifiziert werden, d.h. Menschheit in Völker unterschieden werden. Und um die Angehörigen des Demos auf »Brüderlichkeit«, auf Gemeinschaftsnormen zu verpflichten, muss auf deren Zugehörigkeit zum »Volk« rekurriert werden. Egal, ob man das Volk dem Staat vorordnet oder den Staat dem Volk: In beiden Fällen referiert die Eingrenzung auf die historische Genealogie eines Volkes  – auch in der Deutung der Fran»Volk« »in der Regel« als Voraussetzung von Nation begreift (so explizit Dann 1994b: 13; 22 u.ö.). 93 Mann (2007, Kapitel 3) nimmt die Unterscheidung anders vor: Er differenziert zwischen einer liberalen Version und einer organischen Version. In der liberalen Version beziehe sich das »Wir« zunächst auf eine sozial privilegierte Klasse und würden Klassenkonflikte akzeptiert, in der organischen dagegen beziehe sich das »Wir« auf eine ethnische Gemeinschaft, in der das Selbstverständnis als Ethnie den Vorrang vor der Stratifikation der eigenen Gruppe habe. Beide Varianten führen zur Herstellung homogener Bevölkerungen, die liberale in einer »milderen« Form, die organische in einer repressiveren. Problematisch scheint mir an Manns Unterscheidung, dass in nationalistischen Texten in aller Regel in beiden Varianten Stratifikation akzeptiert und in eine übergeordnete, ethnisch verstandene Vergemeinschaftung integriert wird. Ja, gerade in den radikalisierten Varianten der von Mann so genannten organischen Version gilt die Stratifikation der eigenen Gruppe als legitim (die »großen Männer«, die das Ethos der Gemeinschaft am reinsten zum Ausdruck bringen). Mir scheint die Differenz in einem anderen Punkt zu liegen: Die liberale Variante fokussiert auf Individualismus, die organische Variante fokussiert stärker auf Volkszugehörigkeit. Ich diskutiere diesen Unterschied im Folgenden als Spannung innerhalb unterschiedlicher Verständnisse von »Volk«. 94 Vgl. dazu Elbogen/Sterling 1966: 173ff.; Weiss 1997: 88f.

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zösischen Revolution. In der französischen Nationalgeschichte war es ja nicht das Volk ohne weitere Bestimmung, das die Revolution gemacht hat, sondern das französische Volk  – und das französische Volk hat es im Selbstverständnis kollektiver politischer Handlungseinheiten als historisch-genealogischer Gemeinschaften vor wie nach der Revolution »gegeben«.95 In beiden Typen, auch im völkischen, kann ein Ausländer zugehörig werden – das gestehen selbst beinharte Rassisten zu (vgl. dazu hier, Kapitel 5.6 und 6.5). In beiden Typen wird man auf die gleiche Weise zugehörig: Durch den unbedingten Willen, zugehörig sein zu wollen, d.h. die Verpflichtung auf das Gemeinschaftsethos, und durch »Verschmelzung«, d.h. durch ethnische Mischung (daher die Rede vom »melting pot«). Die beiden Typen unterscheiden sich nicht dadurch, dass in dem einen Typus Zugehörigkeit durch kulturelle Assimilation festgelegt würde, in dem anderen durch Abstammung. Kulturelle Zugehörigkeit, die Verpflichtung auf das Gemeinschaftsethos und die Kenntnis der historischen Genealogie des »Volkes«, und ethnische Zugehörigkeit zu einem »Volk« sind keine gegensätzlichen Festlegungen von Zugehörigkeit, über die sich unterschiedliche Nationenverständnisse unterscheiden ließen. Vielmehr grenzen sich alle auf einen modernen Staat bezogenen politischen Kollektive historisch-genealogisch ein, weil sie sich anders nicht als Gemeinschaft in der Zeit verstehen können. Zwischen den beiden Festlegungen von Zugehörigkeit besteht kein Gegensatz, sondern eine Spannung: Man kann das eine oder das andere Moment stärker gewichten, in der deutschen Tradition ist dies die Seite der Abstammung, in der USamerikanischen und französischen ist dies die Seite der Verpflichtung auf das Gemeinschaftsethos. Aber auch in der US-amerikanischen und in der französischen Tradition bleiben der aus Mexiko stammende Amerikaner und der aus Algerien stammende Franzose ethnisch Mexikaner und Algerier.96 95 Eine vergleichbare Überlegung findet sich in Arendt (1991: 455): »Insofern die Französische Revolution die Menschheit als eine Familie von Nationen begriff, richtete sich der Begriff des Menschen, der den Menschenrechten zugrunde lag, nach dem Volk und nicht nach dem Individuum.« 96 Dass Demos auf Ethnos verweist, wird z.B. in der schönen Studie von Bellah et al. 1986 deutlich, die das Spektrum des Selbstverständnisses der US-Amerikaner als Spektrum unterschiedlicher Verständnisse der Beziehung von Individualismus und Gemeinschaftsorientierung diskutiert und diese unterschiedlichen Verständnisse aus der Sozialgeschichte Nordamerikas erklärt. Um Auskunft über die unterschiedlichen Typen von Gemeinschaftsorientierung der amerika-

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Es ist an dieser Stelle wichtig, sich Klarheit über jene Spannung zu verschaffen. Nach Lepsius (2009b: 249) besteht sie zwischen Demos und Ethnos. Nach Habermas besteht sie zwischen »dem Universalismus einer egalitären Rechtsgemeinschaft und dem Partikularismus einer historischen Schicksalsgemeinschaft« (Habermas 1999a: 139).97 Die Positionen von Lepsius wie von Habermas nehmen eine Spannung zwischen der Einheit des Volkes und der rechtlichen wie politischen Integration von Staatsbürgern an. Das scheint auf den ersten Blick plausibel. Auf den zweiten Blick indes ist die Annahme problematisch: Da das Selbstverständnis eines Personenverbandes als politisch souveräner Verband (»Demos«) zwangsläufig erstens diesen Verband von anderen Verbänden unterscheiden muss und zweitens die Legitimation des Verbands als Einheit, d.h. die Verpflichtung seiner Angehörigen auf Gemeinschaftsnormen, nicht aus der Einheit des Demos im Staat folgt, verweist Demos grundsätzlich nischen Bevölkerung zu erhalten, wurden nur weiße Amerikaner der Mittelschicht befragt. Die Autorinnen und Autoren erklären diese Einschränkung aus der Begrenzung der zur Verfügung stehenden Geldmittel. Darüber hinaus lässt sich jedoch noch ein inhaltlicher Grund angeben: Schwarze, Indianer oder Latinos haben vielleicht vergleichbare Orientierungen, aber sie waren sicher kein Teil der »Wir-Gruppe« der historischen Genealogie einer Siedlergesellschaft (sondern standen auf der anderen Seite des »Wir«). 97 Vergleichbar auch Heckmann 1991: 66ff.: Heckmann unterscheidet drei Nationenverständnisse, ein ethnisches und ein politisches mit zwei Ausprägungen (liberal und republikanisch). Ersterem schreibt er ein Selbstverständnis als historischer Abstammungsgemeinschaft zu, den politischen die Gemeinschaft des Wollens. Es ist aber nicht so, dass sich die beiden Aspekte nationaler Selbstbilder (Wollen und Geschichte) trennen und unterschiedlichen Nationenkonzepten zuordnen ließen; vielmehr sind sie beide Teil nationaler Selbstverständnisse, nur eben in unterschiedlicher Relation. Ich verweise an dieser Stelle für eine Vielzahl von Belegen auf Kapitel 4. Dies gilt auch für Friedrich Meineckes Unterscheidung von »Staatsbürgernation« oder »Staatsnation« (dem entspricht »Demos«) und einer »Volksnation« bzw. »Kulturnation« (dem entspricht »Ethnos«). Sowohl Staatsnation als auch Kulturnation verweisen auf Ethnos und Demos, aber in unterschiedlicher Weise: Im Fall der Staatsnation steht das Demos im Vordergrund – der idealtypische Fall ist bekanntlich Frankreich und die revolutionäre Konstitution der Nation –, von dem aus auf ein Ethnos, die gemeinsame Geschichte der Franzosen, verwiesen wird, im Fall der Kulturnation steht die Sprache oder ein anderes Kulturphänomen im Vordergrund, das historisch auf die Genealogie der Sprecher verweist – die idealtypischen Fälle sind Deutschland und Italien. Hagen Schulze weist auf den idealtypischen Charakter der Unterscheidung hin (Schulze 1996: 74); Otto Kallscheuer und Claus Leggewie zeigen in einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion des Gegensatzes von Kulturnation und Staatsnation, wie dieser selbst als Teil einer Nationalgeschichtsschreibung profiliert wird (vgl. Kallscheuer/Leggewie 1994).

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auf die historische Genealogie der »Brüder«, auf ein Ethnos. Da aus Demos gerade nicht folgt, wie es sich eingrenzt, stehen Demos und Ethnos nicht in einer polaren Beziehung zueinander, sondern verweisen aufeinander. Dass Rechtsgemeinschaften einen universalistischen Anspruch hätten oder auf einer universalistischen Grundlage fußten, betrifft nur die allgemeine Legitimation formal gleicher Freiheitsund Eigentumsrechte.98 Zwischen Universalismus (Menschenrechte) und Partikularismus (Bürgerrechte und die jeweilige Auslegung der Einheit des Herrschaftsverbandes) besteht keine Spannung, sondern ein Unterschied. Eine Spannung hingegen besteht in der Gewichtung der beiden Elemente von Zugehörigkeit, d.h. in der Verpflichtung auf das Gemeinschaftsethos, die auf den Willen der Individuen verweist, und der Zugehörigkeit dieser Individuen zu der historisch-genealogischen Einheit Volk. Stärker individualistische Konzeptionen der Einheit eines Herrschaftsverbandes gehen davon aus, dass der Entscheidung eines Individuums, einem Herrschaftsverband zugehören zu wollen, größeres Gewicht zukommt als seiner Zugehörigkeit zu einer Herkunftsgruppe. Das ist etwa in der US-amerikanischen Tradition der Fall, die aber – wie jede andere Form der Auslegung der Einheit eines Herrschaftsverbandes auch – eine kollektive Selbstauslegung entwickelt, den American way of life, die historisch-genealogisch (d.h. als Tradition des amerikanischen »Volkes« in der Zeit) verstanden wird. Bestimmt man die Verpflichtung auf das Gemeinschaftsethos und die Zugehörigkeit zu einem Ethnos als zwei in jedem historischen Fall unterschiedlich gewichtete Elemente der Festlegung von Zugehörigkeit zu einem modernen politischen Kollektiv, relativiert sich der oft aufgemachte scharfe Gegensatz zwischen einem französischen und einem deutschen Verständnis: »Das herrschende französische Selbstverständnis enthält ein starkes assimilatorisches Element, welches im deutschen Selbstverständnis fehlt« (Brubaker 1994: 238). Brubaker belegt diese Differenz mit dem unterschiedlichen Umgang mit nordafrikanischen und türkischen Einwanderern in Deutschland und Frankreich in der Gegenwart. Doch das assimilatorische 98 Die universale Geltung der Menschenrechte ist umstritten, da sie einer bestimmten kulturellen Tradition – der europäischen – entstammen, diesen historischen Kontext ihrer Entstehung aber universalisieren. Die Diskrepanz nutzt beispielsweise die Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990, die konkurrierende Menschenrechte auf einer anderen kulturellen Grundlage, der Schari’a, formuliert.

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Element fehlt im deutschen Selbstverständnis nicht, sondern ist nur schwächer ausgeprägt, weil die Differenz zwischen Inländern und Migranten aufgrund einer anderen Gewichtung von Abstammung und Bekenntnis eine andere ist und die Festlegung von Zugehörigkeit durch Abstammung stärker ins Gewicht fällt. Zweitens relativiert sich die These, insbesondere das US-amerikanische Selbstverständnis sei nicht homogenisierend, wie sie etwa von Habermas vertreten wird. »Das Gegenbeispiel der Vereinigten Staaten zeigt allerdings, daß der Nationalstaat auch ohne die Grundlage einer kulturell in dieser Weise homogenisierten Bevölkerung eine republikanische Gestalt annehmen und aufrechterhalten kann. An die Stelle des Nationalismus tritt hier jedoch eine in der Mehrheitskultur verwurzelte Zivilreligion« (Habermas 1999a: 137). Diese Zivilreligion ist aber im Selbstbild nichts anderes als die Geschichte des amerikanischen »Volkes«, und diese ist nicht die Geschichte der Sklaven und Indianer, sondern die Geschichte der europäischen Siedler (mit bedrückenden Folgen für diejenigen, die als dieser Gruppe nicht zugehörig galten). Der Unterschied zur deutschen Tradition scheint mir weniger darin zu liegen, dass die USamerikanischen Selbstverständnisse nicht homogenisierend wären, sondern darin, dass der Herkunft ein anderes Gewicht beigemessen wird.

2.3.2.3 Demos, Ethnos, Antisemitismus Weil mit der »Bewegung von Status zum Vertrag« die soziale Position eines Individuums in Gesellschaft unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und abhängig von seiner rechtlichen Stellung im Staat wird, kann die »Judenfrage« als moderne Frage, d.h. als Frage nach der rechtlichen Stellung der Juden im Staat, gestellt werden. Die Wissensformation des modernen Antisemitismus entwickelt sich als Antwort auf diese Frage. Im Antisemitismus können Juden nicht Teil des Demos sein, weil sie dem Ethnos nicht zugehören, nicht Träger gleicher Individualrechte im Staat sein, weil sie nicht der historisch-genealogischen Gemeinschaft des »Volkes« zugehören, das sich im Staat regiert bzw. von Angehörigen des eigenen »Volkes«

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regiert wird. Nach diesem  – in keiner Weise für den Antisemitismus spezifischen  – Grunddogma moderner kollektiver Selbstbilder politischer Handlungseinheiten bilden historisch-genealogische Gemeinschaften, »Völker«, Staaten. Wer nicht zum »Volk« gehört, kann im Staat des »Volkes« nicht die gleichen Rechte haben. Grundlage des Ausschlusses ist in allen Typen des modernen Antisemitismus die Annahme, der Staat sei die »politische Einheit eines Volkes« (Schmitt 1965: 3 u.ö.), Nation ein durch »politisches Sonderbewußtsein individualisiertes Volk« (Schmitt 1965: 231). Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auf dieses Wissen hat z.B. der Rostocker Bürgerschaftsabgeordnete Karlheinz Schmidt zurückgegriffen, als er den damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, gefragt hat, ob er »deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« sei, um daran die Feststellung anzuschließen: »Ihre Heimat ist Israel. Ist das richtig so? Wie beurteilen Sie die täglichen Gewalttaten zwischen Palästinensern und Israelis?« (Zit. nach Holz 2001: 13f., s. auch Aly 2002). Bubis hat darauf geantwortet: »Sie wollen mit anderen Worten wissen, was ich hier eigentlich zu suchen habe?« (Nach Holz 2001: 14) Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass das Selbstbild der historisch-genealogischen Handlungseinheit »Volk« prinzipiell offen ist, d.h. »Verschmelzung« mit Angehörigen anderer »Völker« zulässt. Dass diese Möglichkeit für Juden im modernen Antisemitismus in aller Regel nicht besteht, liegt nicht an der ethnischen Regel der Festlegung von Zugehörigkeit, sondern an den Zuschreibungen, die im modernen Antisemitismus vorgenommen werden. Diese Zuschreibungen folgen einem Grundmuster (vgl. hier, Kapitel 4.2), nach dem Juden von allen Völkern unterschieden werden und als existenzielle Bedrohung der Gemeinschaft dieser Völker und ihres Gemeinschaftsethos verstanden werden. Auch dieses Grundmuster weist über den Antisemitismus hinaus. Ich habe gezeigt, dass in einer modernen Gesellschaft die Verpflichtung der Angehörigen eines Staates auf das Gemeinwohl aus zwei Gründen prekär wird: Erstens durch die Institutionalisierung des Individualismus und zweitens dadurch, dass ein Teil der Gruppe über die zu ihrer Reproduktion notwendigen Mittel als Eigentum verfügt. Dies führt zu einer andauernden und konflikthaften Debatte über die Frage, wie das Verhältnis von Individualismus und Gemeinschaftsverpflichtung angemessen zu bestimmen sei. Darauf reagiert ein bestimmter Typus von antimoderner Kulturkritik, in dem das Ideal einer auf ein Gemeinschaftsethos

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verpflichteten Gemeinschaft gegen Gesellschaft profiliert wird. Antimodern ist diese Kulturkritik, weil sie Moderne nicht als permanente Rekombination von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung versteht, sondern als Bedrohung einer eigenen, als Gemeinschaft verstandenen Gruppe durch Gesellschaft. Diese Kulturkritik ist alles andere als ungewöhnlich, sie entsteht mit der Moderne und entwickelt sich mit ihr. Die Wissensformation des modernen Antisemitismus stellt eine Variante dieser Kritik moderner Lebensverhältnisse dar: Sie personalisiert Gemeinschaft in »Völkern« und Gesellschaft in »Juden«. Juden repräsentieren nicht, wie der eigene nationale Solidarverband und alle anderen nationalen Solidarverbände, Gemeinschaft, sondern Gesellschaft. In dieser Personalisierung werden Juden zum Zerstörer aller Gemeinschaft. Der Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus besteht daher nicht darin, dass die Nation gegen »die Juden« konstruiert wird. Dazu reichen »die Franzosen«. Der Zusammenhang von Antisemitismus und Nationalismus besteht vielmehr darin, dass der Antisemitismus eine Möglichkeit (neben anderen) eröffnet, den strukturellen Konflikt zwischen Gemeinschaftsorientierung und individualistischer Orientierung des Handelns im Binnenbereich moderner Staaten so auszudrücken, dass sich dieser Konflikt im kollektiven Selbstverständigungsdiskurs nicht als ein Konflikt im Binnenbereich darstellt, die eigene Gruppe nicht als in sich uneinheitlich, plural und zerrissen verstanden wird, sondern als Solidargemeinschaft, die von Gesellschaft (»Juden«) bedroht wird. Das antisemitische Feindbild verweist auf ein nationales Selbstbild, das sich, wie im Fortgang der Untersuchung deutlich werden wird, von nicht antisemitischen nationalen Selbstbildern nicht wesentlich unterscheidet. Es ist diese Übereinstimmung im kollektiven Selbstbild, die den Antisemitismus zu einem anschlussfähigen Begleiter von Modernisierung macht, und es ist die Persistenz des Konflikts zwischen individualistischen und gemeinschaftlichen Handlungsorientierungen im Binnenbereich moderner Staaten, die stabilen semantischen Mustern kollektiver Selbstverständigung zugrunde liegt, in denen eine Seite des Konflikts aus dem Binnenbereich der eigenen Solidargemeinschaft ausgeschlossen und als externe Bedrohung artikuliert wird. Deshalb ist der Antisemitismus nicht nur ein anschlussfähiger, sondern ein ständiger Begleiter von Modernisierung. Die historische Dynamik dieses Wissens ist Gegenstand der folgenden Kapitel.

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2.3.3 Deuten und Verfolgen Antisemitismus ist nicht nur eine Wissensformation, nicht nur ein Element im Selbstverständigungsdiskurs kollektiver Handlungseinheiten. Antisemitismus ist wesentlich eine Praxis handfester Verfolgung. »Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst« (Arendt 1991: 32). Für den Verfolgten ist es egal, aus welchen Gründen er verfolgt wird, solange ihm nicht die Kenntnis der Gründe auch Mittel an die Hand gibt, seine Gegen- oder Fluchtmaßnahmen zu verbessern. Was immer die Motive des Verfolgers sein mögen, der Verfolgte geht nicht mit dem Motiv, sondern mit den Wirkungen der Handlungen seines Verfolgers um. Weil die Gründe der Verfolgung etwas anderes sind als die Techniken der Verfolgung, ist in dieser Perspektive das antisemitische Wissen gegenüber einer handgreiflichen Verfolgungspraxis sekundär. Für das Verständnis des Antisemitismus ist es nicht sekundär. Um Juden sozial auszugrenzen, zu stigmatisieren, tätlich anzugreifen, zu verletzten oder zu töten, um sie Sonderrechten zu unterwerfen, sie zu ghettoisieren, aus dem Staatsgebiet auszuweisen oder in mehr oder weniger industrialisierten Verfahren zu töten, müssen Antisemiten wissen, für welche Vergehen sie ihr Urteil vollstrecken. Sie müssen wissen, wer Jude ist und was er in ihren Augen getan hat. Und Antisemiten müssen dieses Wissen mit einer ausreichenden Anzahl Gesinnungsgenossen teilen. Tun sie das nicht, ist ihr Antisemitismus kein sozial geteiltes Phänomen, sondern eine sozial randständige Verrücktheit. Geteilt werden kann das Wissen nur, wenn es kulturell verfügbar ist. Deshalb ist ein kulturell verfügbares und sozial geteiltes antisemitisches Wissen eine Voraussetzung handgreiflicher Verfolgung wie von alltäglichen, mehr oder minder indirekten kulturellen und sozialen Formen des Ausschlusses: der Publikation einer antisemitischen Schrift, der Aufführung eines antisemitischen Theaterstücks, antisemitischen Witzen, kaum wahrnehmbaren Formen von Ausschluss wie z.B. das Bestreben, die eigenen Kinder von der Heirat mit einer Jüdin oder einem Juden abzuhalten  – wofür sich immer Gründe finden lassen, die mit Antisemitismus gar nichts zu tun haben, die aber nicht ins Feld geführt worden wären, wenn es sich nicht um eine Jüdin oder einen Juden handelte – usw. Umgekehrt ist Wissen nur eine Bedingung kollektiven politischen Handelns. Organisation ist ebenfalls eine notwendige Bedingung.

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Ohne Organisation lässt sich kein kollektives Feindbild in eine Todesfabrik verwandeln,99 und eine solche Verwandlung kommt auch nur zustande, wenn sie in politischen Programmen nicht nur gefordert wird, sondern auch umgesetzt werden kann. Deshalb lässt sich aus den Formen des Wissens nicht auf handgreifliche Verfolgungspraxen schließen. Goldhagens Willige Vollstrecker hätte niemals das Aufsehen erregen können, das es erregt hat, wenn diese Differenz klar wäre. Der zentrale Fehlschluss Goldhagens besteht darin, nicht zwischen handgreiflicher Verfolgungspraxis und Wissensformation zu unterscheiden. Deshalb begreift er den Antisemitismus der Nationalsozialisten als kontinuierliche Fortsetzung100 eines »eliminatorischen Antisemitismus«, der schon vorher unter den Deutschen verbreitet gewesen sei, also als eine Formation des Wissens, die im Nationalsozialismus in Handlung übersetzt worden sei, aber als potenzielle Handlung schon im Wissen angelegt gewesen ist. Doch als Wissensformation unterscheidet sich der im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus verbreitete Antisemitismus nicht vom Antisemitismus der Dritten Republik oder eines anderen Staates in Zentraleuropa, »eliminatorische« Varianten gab es auf der Ebene des Wissens überall. 99 Vgl. dazu die organisationssoziologische Studie von Stefan Kühl (2014). 100 Über die Frage der Kontinuität bzw. Diskontinuität des Antisemitismus vor und im Nationalsozialismus besteht eine breite Diskussion. In der frühen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Tendenz verbreitet, den Antisemitismus im Kaiserreich als »Vorgeschichte« (Massing) der Ermordung der Juden im Nationalsozialismus zu begreifen (exemplarisch Massing 1959: 225; Sterling 1969). In der weiteren Forschung ist dies deutlich relativiert, aber von einigen Autoren beibehalten worden, vgl. exemplarisch etwa Katz 1989: 327f. Andere Autoren bestreiten diese Kontinuität, vgl. exemplarisch Levy 1975. Nach der in dieser Arbeit vertretenen Position ist die Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus auf der Ebene des Wissens kontinuierlich, d.h. Antisemitismus im Nationalsozialismus enthält – auf der Ebene des Wissens – im Kern keine neuen Elemente. Aber sosehr auch Antisemiten im Kaiserreich die rechtliche Gleichstellung der Juden in Frage stellten und deren Ungleichbehandlung in politischen Programmen forderten, so massiv Vertreibungsforderungen im ausgehenden 19.  Jahrhundert artikuliert wurden, so gilt doch für diese Zeit, dass alle Forderungen sich im Jenseits politischer Realität bewegten und in keiner Weise eine Aussicht bestand, sie in politische Handlungsprogramme von Regierung und Administration umzusetzen. Dies war im Nationalsozialismus bekanntlich anders. Ein Moment der Diskontinuität liegt also darin, dass er hier politisches Programm der Regierung war, dort nicht. Vgl. einführend in die Debatte um Kontinuität und Diskontinuität des Antisemitismus Berding 1999 und Volkov 1990.

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Dass Antisemitismus im Nationalsozialismus in die Tat umgesetzt wird, lässt sich aus der Wissensformation allein nicht erklären. Folglich müssen erstens andere Bedingungen hinzutreten (die ich in dieser Arbeit nicht untersuche), die mit dem antisemitischen Wissen nichts zu tun haben. Zweitens hat die Wissensformation nichts mit einer Besonderheit der Deutschen zu tun, sondern mit der Entstehung moderner Staaten und dem Wandel der kollektiven Selbst- und Feindbilder im Prozess dieser Entstehung. Sicher aber stellt die antisemitische Wissensformation eine notwendige Bedingung einer organisierten Verfolgungspraxis dar.

2.3.4 Methode der Untersuchung Eine Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus kann die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Wissen untersuchen, indem sie bestimmte Wissensformationen auf bestimmte soziale Lagen bezieht, in der Terminologie Mannheims: »zurechnet«. Im Grunde ist bei diesem Verfahren aber ein bestimmtes Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Wissensformation schon unterstellt: Die Gesellschaftsstruktur ist vorgeordnet, die Wissensformation nachgeordnet, der Wandel dieser wird aus dem Wandel jener erklärt – und genau so ist die Beziehung im soziologischen Mainstream von Marx bis Luhmann gefasst. Die Entstehung des modernen Antisemitismus lässt sich in dieses Schema, wie ich im Folgenden zeigen werde, kaum einordnen. Das erfordert eine Anlage der Untersuchung, die nicht dazu nötigt, das empirische Material immer schon vor dem Hintergrund jener Annahme zu interpretieren. Aus diesem Grund orientiere ich die Beantwortung meiner wissenssoziologischen Fragestellung an der historischen Soziologie. Die historische Soziologie ist  – im Unterschied zum angloamerikanischen Raum  – im deutschen Sprachraum kaum etabliert. Das muss nicht nur deshalb verwundern, weil die bekanntesten soziologischen Untersuchungen historisch-soziologische Studien sind: Max Webers Protestantische Ethik, Das Kapital von Karl Marx, Charles Tillys Arbeit zur Entstehung des modernen Staates, um nur drei Beispiele zu nennen. Weil jedes soziale Phänomen eine Geschichte seiner Entstehung hat und man es nicht unabhängig davon verstehen kann, kann man sagen, dass alle Soziologie historisch ist. Fernand Braudel hat dies an einer Stelle so ausgedrückt:

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Soziologie und Geschichte sind »ein und dasselbe Abenteuer des Geistes«. Eine historische Soziologie analysiert ihren Gegenstand nicht unter funktionalen Gesichtspunkten, sie modelliert ihn auch nicht, sondern begreift ihn als in sich selbst historisch verfasst und erklärt ihn durch die Analyse des historischen Prozesses seiner Entstehung. Die Funktion eines Phänomens wird aus der Erklärung seines Werdens verständlich. Mit »Phänomen« sind nicht kurzfristige, sondern langfristige sozialhistorische Prozesse gemeint, das, was Braudel die »lange Dauer« nennt. Eine historische Soziologie konzentriert sich »im Unterschied zu anderen Theorieprogrammen […] auf die temporale Dimension von Gesellschaftlichkeit und dem entsprechend auf die Untersuchung längerfristiger soziohistorischer Strukturen« (Adloff 2010: 174; einen Einstieg und Überblick zur historischen Soziologie bietet Schützeichel 2004). Von solchen Untersuchungen hat die gegenwärtige Wissenssoziologie in weiten Teilen Abstand genommen, sich auf die Analyse von Gegenwartsphänomenen konzentriert und die Untersuchung ihrer Gewordenheit den Historikern überlassen. An der Entwicklung der soziologischen Antisemitismusforschung wird dies deutlich: Es gibt keine neuere soziologische Arbeit, in der die Geschichte antisemitischen Wissens als historisches Phänomen untersucht würde. Diese Art der Arbeitsteilung, die  – überspitzt formuliert  – den Historikerinnen und Historikern »die Geschichte«, den Soziologinnen und Soziologen »die Gegenwart« zuweist, kann weder für die Wissenssoziologie im Besonderen noch für die Soziologie im Allgemeinen von Vorteil sein. Soziologie ist eine Wirklichkeitswissenschaft (Max Weber), und soziale Wirklichkeit zeichnet sich dadurch aus, geworden zu sein. Eine historische Wissenssoziologie ist im Grunde nichts anderes als eine auf ein besonderes Gebiet – Wissen – bezogene historische Soziologie, die sich in der Tradition verstehender Soziologie begreift. Sie untersucht die Wissensformation des modernen Antisemitismus dort, wo sie entsteht. Das ist in Europa im ausgehenden 18.  Jahrhundert der Fall. Im späten 19. Jahrhundert ist der moderne Antisemitismus als kulturell verfügbare Wissensformation voll entwickelt. Die vorliegende Arbeit zeichnet diesen Prozess101 als Prozess der 101 Klemens Felden hat in seiner Dissertation auf die Prozesshaftigkeit dieser Entwicklung hingewiesen: »Seit der Diskussion über die Stellung der Juden im Staat, die 1781 durch die Schrift Dohms in Gang gekommen war, lösten sich

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Sattelung antisemitischen Wissens nach. Sie fragt nach der Genese des modernen Antisemitismus auf der Grundlage von antisemitischen Texten, die hauptsächlich zwei Zeiträumen entstammen, dem Zeitraum zwischen 1780 und 1815 und dem zwischen etwa 1870 und etwa 1900. Die Textauswahl orientiert sich an zwei Kriterien: Die Texte müssen entweder zeitgeschichtlich relevant gewesen sein, d.h. zu Kontroversen Anlass gegeben haben, oder sie müssen in der Geschichte des Antisemitismus relevant gewesen sein, d.h., dass spätere Texte auf sie Bezug genommen haben. Texte, für die beides nicht zutrifft, werden in der Regel zur Absicherung der Argumentation herangezogen. Für die Texte zwischen 1780 und 1815 gilt, dass eine systematische Interpretation bisher nicht oder nur in Ansätzen vorliegt. Als Faustregel kann gelten: Je näher ein antisemitischer Text an der Zeit um 1870 ist, desto besser sind er selbst sowie seine historische Funktion untersucht.102 Die Untersuchung der Sattelung der Wissensformation des modernen Antisemitismus erfolgt aus der Perspektive der Gegenwart und kann nur aus dieser Perspektive erfolgen. Mit der fortlaufenden Gegenwart verändert sich die Bedeutung, die Aussagen in antisemitischen Texten haben  – ich interpretiere sie vor dem Hintergrund einer entwickelten Semantik des modernen Antisemitismus und vor dem Hintergrund der Ermordung der Juden im Nationalsozialismus. Vor diesem Hintergrund gewinnen Andeutungen oder Fragmente in den frühen antisemitischen Texten eine andere Bedeutung und auch die Argumente der Gegner der Emanzipation Schritt für Schritt aus den Bindungen an die christliche Lehre und rechtfertigten die Verweigerung der rechtlichen und politischen Gleichberechtigung mit der faktischen Andersartigkeit der Juden, die sie als eine unabänderliche moralische Inferiorität betrachteten. Diese Stufe der Entwicklung des antijüdischen Vorurteils war um die Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht. Sie fand ihren symbolkräftigen Ausdruck im Begriff der Rasse, der, entkleidet man ihn seiner mythischen Assoziationen, nichts anderes meint als den besonderen statischen Charakter einer Gruppe. Seitdem zeigte das antisemitische Stereotyp als eine im hohen Masse integrierte Reihe von Vorwürfen eine erstaunliche Konsistenz« (Felden 1963: 34). 102 Das antisemitische Wissen im 20. Jahrhundert ist kein Gegenstand dieser Untersuchung. Ein Vergleich zwischen den grundlegenden Regeln der antisemitischen Wissensformation vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert würde aller Voraussicht nach zu dem Ergebnis kommen, dass sich zwar die konkrete Ausgestaltung und die Bezugspunkte dieser Wissensformation verändern, die Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit und das Grundmuster der Zuschreibungen aber im Wesentlichen gleich bleiben. Jedenfalls deuten die Arbeiten u.a. von Holz (2001) und Haury (2002) darauf hin. Deswegen spreche ich von einer »Sattelung« dieses Wissens im 19. Jahrhundert.

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ein anderes Gewicht, als sie vor 100 oder 200 Jahren hatten: Sie deuten nun auf etwas hin, was sich vollständig erst später entwickelt hat und erst aus dieser Perspektive als solche An- oder Hindeutung verstanden werden kann.103 Das heißt gerade nicht, die Geschichte des modernen Antisemitismus als Vorgeschichte des nationalsozialistischen Antisemitismus in dem Sinne zu interpretieren, dass jene diesen schon im Keim enthalte. Es bedeutet vielmehr, nach Linien der Kontinuität wie nach Linien der Diskontinuität aus einer Perspektive zu fragen, die vom Resultat her einen historischen Prozess begreift, ohne zu unterstellen, dass dieses in seinen Anfängen implizit oder explizit angelegt ist. Zum Beispiel bestreiten die frühen Antisemiten im deutschen Sprachraum des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, dass Juden der Status eines »Bürgers« oder »Staatsbürgers« zugesprochen werden könne. Doch die Begriffe »Bürger« oder »Staatsbürger« hatten eine ganz andere Bedeutung als heute. Insbesondere der Umfang und der politische Gehalt, den wir heute selbstverständlich mit ihnen verbinden, sind in keiner Weise mitgemeint  – das Gegenteil ist der Fall (vgl. Riedel 1981: 18f.).104 Bei den frühen Antisemiten bezeichnet die Ablehnung der »Staatsbürgerschaft« für Juden die Ablehnung gleicher bürgerlicher Rechte (in Gesellschaft). Allgemeine politische Rechte wurden damit Juden weder zu- noch abgesprochen, dies geschieht erst später und in dem Moment, in dem die Verallgemeinerung politischer Partizipationsrechte (auf männliche Bürger) im Horizont des Denkbaren und damit auch des politisch Möglichen liegt. Eine historische Interpretation muss also berücksichtigen, dass sich das Spektrum der Bedeutungen von Begriffen verändert  – im 19. Jahrhundert in kürzester Zeit. Sie muss aber auch eine Gerichtetheit der Ereignisabläufe und semantischen Traditionen unterstellen, die diese selbst gar nicht hatten und überhaupt erst aus der gegenwärtigen Perspektive auf Vergangenes erhalten. Marx hat dies in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie deutlich formu103 Christoph Nonn hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass sich »jede Antisemitismustheorie« an der Einordnung »des Nationalsozialismus […] in ihr Erklärungsmuster« (Nonn 2008: 21) zu bewähren habe. 104 Riedel zeigt, dass das politische Moment des Begriffs des Bürgers, das ihm in der griechischen und in der christlichen Tradition zukam  – der Begriff war gerade durch die Teilhabe am Politischen ausgezeichnet  –, in dem Moment an Bedeutung verliert, in dem die Beschränkung des Begriffs aufgegeben wird und mit ihm eine die Stände übergreifende Gemeinsamkeit der Untertanen im Verhältnis zum Staat ausgedrückt wird. Vgl. dazu hier, Kapitel 3.

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liert: »Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert also den Schlüssel zu antiken etc.« (Marx 1978: 636). Die »Andeutungen« allerdings sind, um es noch einmal zu betonen, keine »Keime«, die sich »entwickeln«. An- oder Hindeutungen sind An- oder Hindeutungen nur aus der Perspektive der Gegenwart, d.h. rückblickend betrachtet. Aus dieser Überlegung folgt  – Nietzsche hat schon 1874 in den Unzeitgemässen Betrachtungen darauf hingewiesen – die Abhängigkeit der Geschichtsbetrachtung und damit in gewissem Sinne auch der Geschichte selbst von der fortlaufenden Gegenwart (vgl. Nietzsche 1999). Da der historische Betrachter sich nicht im Jenseits von Geschichte bewegt, sondern selbst Teil der fortlaufenden Gegenwart ist und deshalb keine Perspektive auf Geschichte unabhängig von dieser Gegenwart entwickeln kann, entsteht ein zweifaches hermeneutisches Problem: Mit der fortlaufenden Gegenwart verändern sich erstens unser Erfahrungshintergrund und unser Erwartungshorizont, damit unsere Perspektive auf historische Daten und unsere Begriffe, in denen wir sie deuten. Dadurch verändert sich zwar kein einzelnes historisches Faktum. Aber das einzelne historische Faktum hat für uns erst Bedeutung in seiner Beziehung zu anderen Fakten und die Konstellation105 dieser Fakten ist es, die sich mit der in der fortlaufenden Gegenwart sich verändernden Beziehung von Erfahrungshintergrund und Erwartungshorizont wandelt. Zweitens besteht das Material unserer Deutungen selbst aus Deutungen, die vor dem Hintergrund einer anderen Beziehung von Erfahrungshintergrund und Erwartungshorizont gefertigt wurden. Folglich müssen wir, wenn wir den Zusammenhang von Antisemitismus und Moderne untersuchen, aus der Analyse schon gedeuteten Materials und seiner Veränderung in der Zeit auf sozialgeschichtliche Prozesse schließen, deren Ausdruck diese Deutungen waren. Das erste Problem führt zur Einsicht in die prinzipielle Unabgeschlossenheit historisch-soziologischer Forschung. Das heißt gerade nicht, einem Relativismus in der Wissenschaft das Wort zu reden, sondern nur, die Qualität wissenschaftlicher Aussagen, »wahr« und »falsch«, als eine Qualität zu begreifen, die ihnen nicht unabhängig, sondern abhängig von der historischen Zeit zukommt: Wahrheit 105 Zu diesem Begriff: Adorno 1990b: 164ff.

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und Falschheit haben keinen überhistorischen Sinn. Eine historische Soziologie des Wissens löst nicht relativistisch Wahrheit in Entstehungskontexte auf (nicht, in einer älteren Terminologie gesprochen, Geltung in Genese), sondern sie historisiert den materialen Aspekt des Wahrheitsbegriffs und geht davon aus, dass sowohl der Blick der Forschenden auf ihren Gegenstand als auch der Gegenstand selbst historisch verfasst sind.106 Für eine historische Wissenssoziologie hat Wahrheit einen »Zeitkern« (Adorno/Horkheimer 1987: 13; Adorno 1970: 12),107 der sich aus der unabdingbaren Perspektivität der Fragestellung und deren Veränderung in der fortlaufenden Gegenwart erklärt. Das zweite Problem tritt in dieser Untersuchung als Unverfügbarkeit des Erfahrungshintergrundes und des Erwartungshorizontes der interpretierten antisemitischen Texte auf. Während der Text erhalten ist, ist die Lebenswelt, in der er produziert wurde, vergangen, uns nicht als lebendige Gegenwart unseres Erfahrungsraums, sondern nur selbst in Form historischer Dokumente verfügbar. Man muss sicher nicht Cäsar sein, um Cäsar zu verstehen. Aber man muss die Lebenswelt Cäsars verstehen. Die Frage, wie weit dieses Verstehen gehen muss, lässt sich kaum stringent beantworten. Mit Sicherheit lässt sich allerdings sagen, dass auch die beste Kenntnis der Lebenswelt Cäsars uns nicht ermöglicht, Aussagen darüber zu treffen, »wie es wirklich war«. »Die Ausschöpfung des wahren Sinns aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß. Es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so daß der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren. Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen« (Gadamer 1990: 303).

106 So schon Horkheimer (1988d: 174): »Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert; durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.« 107 Die Formulierung hat Adorno von Walter Benjamin übernommen.

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Um Entwicklungsprozesse beschreiben zu können, müssen ein Zustand A und ein Zustand B unterschieden und in ihrem Verhältnis zueinander erklärt werden. Dies führt auf die Problematik des Kulturvergleichs (die in der Anlage im synchronen die gleiche wie im diachronen ist). Ich kann diese Problematik hier nicht im Detail diskutieren, möchte aber anmerken, dass ich (1) annehme, dass jede Form des Kulturvergleichs nicht ignorieren kann, dass die Perspektive des Vergleichs in einer bestimmten Kultur formuliert wird und es unmöglich ist, diese Perspektive zu verlassen, d.h. kulturunabhängige Maßstäbe des Kulturvergleichs zu formulieren.108 Folglich ist die Grundlage jedes Kulturvergleichs eine, in den Worten von Joachim Matthes ausgedrückt, »Nostrifizierung«. Dies wäre nur anders, wenn die Abhängigkeit der Perspektive des »Vergleichs« vom kulturellen Kontext des Vergleichenden aufgehoben werden könnte – was nicht möglich ist. Deshalb sind die Ergebnisse solcher Vergleiche relativ auf den Beobachter, bei historischen Vergleichen entsprechend relativ auf die kulturelle Gegenwart des Beobachters. Ändert sich diese, ändert sich auch die Perspektive des Vergleichs. Dies scheint mir ein, wenn nicht der zentrale Grund dafür zu sein, dass (2) mit der  – diachronen modernisierungstheoretischen  – Unterscheidung zweier Zustände eine Wertung verbunden ist, die in aller Regel den gegenwärtigen Zustand normativ auszeichnet und die in der Unterscheidung »vormodern« vs. »modern« oder »traditional« vs. »modern« zum Ausdruck gebracht wird. Wenn ich diese Unterscheidung übernehme und von Modernisierung spreche, so meine ich diese normative Differenz mit und muss sie mitmeinen. Ich kann und will damit weder zum Ausdruck bringen, dass eine moderne Gesellschaft »besser« oder »schlechter« als eine vormoderne ist (und wenn ja, in welcher Weise), noch nehme ich an, dass es eine »vormoderne« und eine »moderne« soziale Ordnung gibt. Vielmehr handelt es sich um Zuspitzungen, ideelle Typen, die ich bilde, um, wie Max Weber sagen würde, das Charakteristische von Kulturerscheinungen zum Ausdruck zu bringen. Geschichte ist keine Folge von Zuständen, sondern ein Prozess, der sich jedoch kaum anders als über die idealtypische Unterscheidung von Zuständen darstellen lässt. Sowohl in der soziologischen als auch in der historischen Forschung genießt der Vergleich historischer Entwicklungen zu Recht 108 Vgl. dazu nur die Beiträge in Matthes 1992, insbesondere Matthes 1992: 84ff. für den synchronen Vergleich sowie Srubar 2009b, für den diachronen nach wie vor Gadamer 1990, insbes. 270ff.

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allgemeine Anerkennung: Gerade kultursoziologische oder kulturhistorische Arbeiten, die auch synchron vergleichend angelegt sind, entsprechen nicht nur wegen der Pfadabhängigkeit gesellschaftlicher Entwicklung viel eher dem Anspruch wissenschaftlicher Texte an das Kriterium der Verallgemeinerbarkeit ihrer Aussagen, sie gewinnen zudem deutlich an Tiefenschärfe. So gut etabliert und berechtigt jedoch die Forderung nach einer Kombination von synchronem und diachronem Vergleich ist, so schwierig ist es, sie in einer Untersuchung zur Modernisierung des Antisemitismus einzulösen. Arbeiten, die historische Entwicklungen auch synchron vergleichend analysieren, setzen ein fundiertes wissenschaftliches Wissen über die zu vergleichenden Entwicklungen voraus. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich, Kriterien zu formulieren, in denen diese Entwicklungen verglichen werden. Ich hätte lieber eine synchron und diachron vergleichende Studie durchgeführt, aber dafür hätte ich zu Beginn wissen müssen, was ich heute weiß: Was sinnvolle Kriterien eines solchen Vergleichs sein könnten. In einem strengen Sinne können die folgenden Aussagen daher nur den deutschsprachigen Antisemitismus im Herrschaftsgebiet des späteren Deutschen Reiches Geltung beanspruchen. Umgekehrt gibt es eine erhebliche Zahl an historisch auch synchron vergleichenden Arbeiten, welche die Entwicklung des modernen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersuchen. Im Ergebnis dieser Studien steht, dass sich das antisemitische Wissen in seiner Grundstruktur, d.h. in den Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit und in dem Grundmuster der Zuschreibungen, in den sich industrialisierenden westlichen Nationalstaaten nicht unterscheidet. Daraus lässt sich schließen, dass eine auch synchron vergleichend angelegte Untersuchung zwar unterschiedliche Pfade der Entwicklung der Wissensformation des modernen Antisemitismus aufgezeigt hätte – z.B. spielt die Konfessionalisierung des Christentums für die Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs eine herausgehobene Rolle, nicht aber in Frankreich oder Italien –, am Ende aber zu vergleichbaren Aussagen über den Zusammenhang von gesellschaftlicher Modernisierung und modernem antisemitischen Wissen kommen würde.

3 Von der religiösen Differenz zur »Judenfrage« Die Entstehung des modernen Antisemitismus wurde in der Forschung lange im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts nach der Emanzipation der Juden, d.h. nach ihrer rechtlichen Gleichstellung, angesetzt. 1879 wurde auch der Terminus Antisemitismus zur Bezeichnung einer neuen, vom christlichen Judenhass unterschiedenen Form geprägt.1 Die in der Geschichtswissenschaft, aber auch in anderen Wissenschaften noch etablierte Auffassung,2 moderner Antisemitismus sei ein Produkt des späten 19.  Jahrhunderts, wurde von Reinhard Rürup auf den Punkt gebracht: »Bei der durch den Antisemitismus geschaffenen ›Judenfrage‹ der siebziger Jahre handelte es sich nicht um eine Wiederaufnahme der älteren, emanzipatorischen ›Judenfrage‹, sondern um einen qualitativ neuen Sachverhalt. Der moderne Antisemitismus ist nicht nur chronologisch, sondern auch sachlich ein postemanzipatorisches Phänomen« (Rürup 1987: 114). Nach dieser Position hätte eine Untersuchung zum modernen Antisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu beginnen. 1 Nipperdey/Rürup 1972: 138f.; ausführlich Zimmermann 1986: 112-115; mit einem Überblick über Bedeutung und Verwendung des Terminus Waldenegg 2000. Zimmermann merkt an, dass die Zurechnung des Terminus auf Wilhelm Marr nicht sicher, aber sehr wahrscheinlich sei. Ziege (2002: 25, FN 15) verweist auf das Umfeld Marrs. Körner führt in einer Neuauflage von Marrs Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum die Entstehung des Terminus Antisemitismus mit Verweis auf einen entlegen publizierten Aufsatz auf eine Kontroverse zwischen Ernest Renan und Moritz Steinschneider im Jahr 1860 zurück (Körner 2009: 3). Inzwischen scheint gesichert, dass der Terminus Antisemitismus keine Erfindung von Marr, sondern früheren Datum ist (vgl. Ferrari Zumbini 2003: 168f.; 171f.). Allerdings wird er durch Marr bzw. dessen Rezeption zur allgemeinen Bezeichnung der Gegnerschaft gegen Juden; er verbreitet sich in kürzester Zeit und ist innerhalb von wenigen Monaten etabliert (auch wenn er unter den Antisemiten wegen seiner terminologischen Uneindeutigkeit umstritten bleibt). Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Begriffs Ferrari Zumbini 2003: 168-174. Einführend zu der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antijudaismus vgl. die Überblicksdarstellung bei Heil (1997). 2 Vgl. Lenk 2009; Wyrwa 2010: 209f.; Hoffmann 1997; Nipperdey 1992: 291; Traverso 1993: 36f.; Ziege 2002: 28; Bein 1980a: 217f.; Schoeps 1998: 60; Heil 1997: 109; Levy 1991: 1-3; Schreiner 1990: 575.

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Der moderne Antisemitismus entwickelt sich jedoch nicht erst nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden, sondern bereits mit der Diskussion um sie, also etwa hundert Jahre früher.3 Angelpunkt der »ideologischen Verwandlung« der mittelalterlichen Judenfeindschaft war »die Idee« der Aufnahme der Juden »in den Staat, später Emanzipation genannt« (Katz 1994: 81).4 Diese Idee wird in Preußen 1781 mit der Publikation von Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung. Wenn ich meine Untersuchung an dem Punkt, an dem eine neue Wissensformation artikuliert werden kann, beginne, heißt dies nicht, dass ich annehme, dass auch der historische Prozess, der ihre Artikulation ermöglicht, in diesem Moment einsetzt. Er beginnt früher. Ich spitze ihn also zu einer Differenz zwischen der Wissensformation des christlichen und des modernen Antisemitismus zu, die ich an der Publikation von Dohms Schrift festmache.5 In einer christlich-ständischen Gesellschaft war klar, dass Juden als Angehörige einer zwar nicht heidnischen, aber auch nicht christlichen Religion auszuschließen sind, solange sie nicht ihr religiöses 3 Vgl. Arendt 1991: 121; Bergmann/Erb 1989: 7-13; Bergmann/Wyrwa 2011: Kapitel 1-3; Hortzitz 1988: 1f.; Albrecht 2010: 103-125; Sterling 1969; Greive 1983: 13ff.; Bergmann 2010a: 96-99; Katz 1994: 79-90; Broszat 1952: 7f., Altgeld 1992, Hess 2002: 51f.; Berding 1988: 11; Berding 1996: 193f. Umstritten ist die Datierung: Während eine Position ihn auf die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts datiert (exemplarisch: Sterling 1969; Berghahn 2000: 263ff., insbes. 276; Marco Puschner (2008: 6); Arendt (1991: 68); Almong (1990: 13-16), setzt ihn die andere 1781 an (exemplarisch: Katz 1994: 81ff.). Nicoline Hortzitz kann überzeugend zeigen, dass ein »rassisch motivierter Judenhass« (Hortzitz 1988: 263) sich nicht erst in antisemitischen Texten nach 1871 findet, sondern schon davor. Sie untersucht Strukturtypen in antijüdischen Texten zwischen 1789 und 1872 und identifiziert vier Typen (1988: 236ff.), ein religiöses Begründungsmuster von Judenfeindschaft, ein wirtschaftliches, ein völkisch-nationales und ein biologisch-anthropologisches (dieser Terminus stammt ursprünglich von Sterling 1969: 70). Zu der Unterscheidung der letzteren beiden merkt sie an, dass eine »Kategorisierung oft schwierig [ist], da die völkisch-nationale Argumentation zum Teil starke Tendenzen zu biologistischen Vorstellungen aufweist« (Hortzitz 1988: 255). Wie ich im Folgenden zeigen werde, lässt sich eine ethnisierende Konstruktion des antisemitischen Selbst- und Feindbildes im ausgehenden 18. Jahrhundert nachweisen. Zur begrifflichen Differenzierung von Ethnisierung und Rassismus vgl. hier, Kapitel 5.6. 4 Vgl. auch Erb 1987: 99; Katz 1985: 17-21; Berding 1988: 20ff. 5 Vereinzelt finden sich vorher schon Schriften, die sich mit der Frage der Emanzipation der Juden beschäftigen, vgl. die Angaben in der Bibliografie Eichstädts zur Geschichte der »Judenfrage« (1938: 7) und Best 2001: 174f. Die eigentliche Debatte entspinnt sich im deutschsprachigen Raum an der Schrift Dohms.

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Bekenntnis ablegen und den christlichen Glauben annehmen. In einem von einer »christlichen Kirche gelenkten Staat wäre die Aufnahme der Juden als gleichberechtigte Bürger undenkbar gewesen« (Katz 1982b: 85; vgl. auch Katz 1982e: 185; Mosse 1999: 15). Dass die gesellschaftliche Stellung der Juden problematisiert werden kann, setzt die Erosion der Gewissheit über den gesellschaftlichen Ort der Juden voraus und das heißt, dass eine Frage der Zugehörigkeit nicht mehr mit den bisher etablierten Mitteln beantwortet werden kann. Damit Juden dazugehören können, müssen sie im Hinblick auf das Kriterium der Zugehörigkeit gleich sein. In den zunächst naturrechtlich begründeten und oft in Opposition gegen die absolutistische Ordnung, immer gegen einen religiös legitimierten Staat konkretisierten Selbstbildern der Menschheit (vgl. dazu Bödeker 1995: 1079ff.; Koselleck 1989b: 244ff.) sind sie das. Erst in und mit diesem Selbstbild kann die »Judenfrage«,6 d.h. die Frage nach der Stellung der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft, als Frage entstehen.7 Mit der Frage fällt der Vorhang des Stücks »religiöse Judenfeindschaft«.8 Neue Akteure betreten die Bühne. Volk und Staat spie6 Der Terminus »Judenfrage« kam in der Zeit zwischen den späten 1820er (Katz 1986: 211) und 1830er (vgl. Volkov 1994: 21) Jahren über den Kampf der irischen Katholiken um religiöse und politische Gleichberechtigung, der seit 1823 unter dem Titel Catholic Emancipation geführt wurde, im deutschen Sprachraum (vgl. Katz 1986: 215f.) in Gebrauch. Seit 1843 wird der Terminus typischerweise in antisemitischen Publikationen verwendet, während er zuvor von Befürwortern wie Gegnern verwendet wurde (vgl. Bergmann 2010b: 147). 7 Die Formulierung ist angelehnt an Reinhart Rürup (1997: 122), der von der »Stellung der Juden in der modernen Gesellschaft« spricht. Rürup trennt, wie viele andere Autoren auch, die Entstehung der »Judenfrage«, die er auf den »Transformationsprozess von der ständisch-feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft« (Rürup 1987: 95) bezieht, von der Entstehung des modernen Antisemitismus, die er auf den Abschluss der Emanzipation bezieht. Diese Trennung erklärt sich daraus, dass er die Phase von 1780 bis etwa 1870 als liberale Phase der Judenemanzipation begreift, den Antisemitismus hingegen als ein postliberales Phänomen. Dem liegt die Annahme zugrunde, Liberalismus und Antisemitismus verhielten sich wie Feuer und Wasser zueinander (vgl. exemplarisch Rürup 1987: 102; Albrecht 2010: 537). Im Fortgang der Untersuchung werde ich zeigen, dass diese Annahme empirisch nicht gedeckt ist (was im Übrigen schon die Studie von Bergmann/Erb [1989] dokumentiert). 8 Das Stück wird, um im Bild zu bleiben, weiter aufgeführt. Schriftliche und mündliche Äußerungen evangelischer wie katholischer Kirchenfunktionäre vor allem bis 1945 liefern ein ebenso beredtes Zeugnis davon wie eine oft christlich legitimierte Verfolgungspraxis bis in das 20. Jahrhundert hinein. Aber es ist nicht mehr das einzige Stück, das aufgeführt wird und seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts auch nicht mehr das Stück mit den meisten Zuschauern. Auch wenn für

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len Hauptrollen in einem Stück, das den Titel »Modernisierung des Antisemitismus« trägt. Das Stück allerdings wird erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgeführt, bis dahin wird geprobt – es dauert seine Zeit, bis die Akteure sich in ihre Rollen gefunden haben, bis klar wird, was Staat, was Volk, was Bürger sind und in welcher Beziehung Juden zu diesen stehen. Die Entwicklung des modernen antisemitischen Wissens seit etwa 1780 ist ein Phänomen der »Sattelzeit« (vgl. zu diesem Begriff Koselleck 1972: XV-XIX).9 Inhaltlich unterscheidet sich das antisemitische Wissen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in drei wesentlichen Punkten vom christlichen Judenhass:10 Erstens tritt den religiösen Judenhass der Bürgerstatus so irrelevant ist wie die Volkszugehörigkeit, heißt das nicht, dass er keine modernen Stereotype adaptiert (vgl. dazu für den katholischen Judenhass Blaschke 1997: 84-91; 268ff.).   9 Der zuerst (vgl. Bergmann 2010a: 96) von Sterling verwendete Begriff »FrühAntisemitismus« (Sterling 1969: 115) hat sich zur Bezeichnung für den Antisemitismus in der Zeit zwischen etwa 1780 und 1870 weitgehend durchgesetzt. Die Unterscheidung selbst ist eine Folge der lange Zeit vorherrschenden Datierung des modernen Antisemitismus auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, die es erforderlich macht, den nicht mehr christlichen, aber auch noch nicht modernen Antisemitismus mit einer eigenen Bezeichnung zu versehen. Bergmann (2010a: 98f.) macht die Differenz daran fest, dass der frühe Antisemitismus erstens nicht zu einer Weltanschauung entwickelt worden sei und zweitens sich nicht in einer politischen Bewegung artikuliere. Für Berding (1988: 43) besteht der wesentliche Unterschied zwischen frühem und modernem Antisemitismus darin, dass jener noch »keine eigenständige politische Kraft« gewesen sei (vgl. auch Rürup 2004: 126). Ich zeige im Folgenden, dass moderner Antisemitismus weltanschauliche Elemente schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, etwa bei Michaelis, aufweist. Auch sind die Übereinstimmungen zwischen dem Antisemitismus vor 1870 und dem nach 1870 auf der Ebene der Wissensformation so erheblich, dass sich nach meinem Eindruck die Unterscheidung zwischen frühem modernen Antisemitismus und entwickeltem modernen Antisemitismus auf der Ebene der Wissensformation nicht länger halten lässt. Dass Antisemitismus im frühen 19.  Jahrhundert nicht in Form einer politischen Bewegung auftritt, kann als unstrittig gelten. Jedoch liegt dieses Kriterium nicht auf der Ebene des Wissens, sondern auf der der Praxis des Antisemitismus. 10 Jacob Katz betont in Vom Vorurteil bis zur Vernichtung das Moment der Kontinuität zwischen christlichem Judenhass und modernem Antisemitismus: »Kein Antisemit, selbst wenn er antichristlich war, verzichtete je auf den Gebrauch jener antijüdischen Argumente, die in der Ablehnung von Juden und Judentum durch frühere christliche Zeiten wurzelten« (Katz 1989: 323, s. auch 67 u.ö.; vgl. auch Bauer 1992: 77ff.). Diese Kontinuitätsthese ist auf der Ebene der Verwendung von Stereotypen plausibel – wie Hortzitz 2005 gezeigt hat, sind die weit überwiegende Mehrzahl der Stereotype, die der moderne Antisemitismus verwendet, schon im christlichen Judenhass verwendet worden. Was sich jedoch verändert (und auf diesen Punkt kommt es an), ist das Muster, nach dem die

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neben und zunehmend an die Stelle der alten Opposition von Christen und Juden die Unterscheidung von Deutschen und Juden (vgl. exemplarisch Alter/Bärsch/Berghoff 1999: 9). Der Antisemitismus entwickelt sich zum »nationalen Antisemitismus« (Holz). Es ist diese Unterscheidung und nicht, wie man auch erwarten könnte, die Differenzierung von Preußen, Bayern usw. und Juden. Man kann daher sagen, dass die Transformation des antisemitischen Wissens auf die deutsche Nationalbewegung verweist. In diesem Wandel der Selbstund Feindbilder wird Zugehörigkeit neu festgelegt. Neben und zunehmend an die Stelle eines religiösen Selbstbildes tritt das Selbstbild eines nationalen Kollektivs, dessen Angehörige sich durch die Gemeinschaft der Kultur und der Abstammung verbunden sehen.11 Stereotype gebildet werden, und das Verständnis der Kollektive, auf welche die Selbst- und Feindbilder bezogen werden. 11 Damit ist nicht gesagt, dass es nicht schon vor 1780 ethnisch bestimmte Festlegungen von Zugehörigkeit gegeben hat. Das Gegenteil ist der Fall. Werner Bergmann verweist (2009a: 462f.) auf die Schrift Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, in denen Johann Caspar Lavater 1775 den Nachweis zu führen versucht, dass sich von physiognomischen Eigenschaften auf charakterliche Eigenschaften schließen lasse und bei Juden eine Zuordnung von »lasterhaften, verwerflichen Zügen zu einer ethnischen Gruppe« (Bergmann 2009a: 462) vornimmt. Auch in der Kontroverse zwischen Moses Mendelssohn und Lavater (1769/70), die dadurch ausgelöst wurde, dass Lavater Mendelssohn in einer Widmung der von ihm verfassten Übersetzung von Charles de Bonnets Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum Mendelssohn öffentlich aufforderte, zu konvertieren oder die Beweisführung zu widerlegen, finden sich über die Religion hinausgehende Festlegungen von Zugehörigkeit. So unterscheidet Mendelssohn in seiner Antwort auf Lavater (Mendelssohn 1989: 311-322) zwischen Judentum und Religion. Auf diese Unterscheidung wird in der Kontroverse auch verwiesen (Brief von Lüdke an Lavater, in: Mendelssohn 1974: 311-315, hier: S. 312f.). Vgl. zu der Kontroverse: Allerhand 1980: 89-104, Bruer 1991: 109ff. und insbesondere Altmann 1973: 194-264. Im christlichen Judenhass ist die Festlegung ethnischer Zugehörigkeit ebenfalls verbreitet. Die Differenz zwischen modernem und vormodernem Antisemitismus wird nicht durch die Einführung eines neuen Kriteriums der Zugehörigkeit markiert (Abstammung ist das älteste überhaupt), sondern durch seine Verbindung mit nationalen Selbstbildern, in denen die ethnische Festlegung von Zugehörigkeit eine andere Rolle spielt als in religiösen Selbstbildern. Die genaue Datierung des Wandels des christlichen zum modernen antisemitischen Wissen ist für meine Untersuchung nicht entscheidend; die grobe Datierung (der Prozess beginnt vermutlich im 15. Jahrhundert und ist im späten 18. so weit fortgeschritten, dass sich eine neue Wissensformation artikulieren und verbreiten kann) wird durch eine Untersuchung antisemitischer Stereotype im Zeitraum zwischen 1450 und 1700 von Nicoline Hortzitz bestätigt. Sie zeigt, dass zwar die modernen antisemitischen Stereotype lange vor der Aufklärung ausgeprägt waren, der argumentative Bezugsrahmen aber religiös

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Religiöses und ethnisches Kollektiv werden anfangs in dem Terminus »christliches Volk« verknüpft. Dem neuartigen Selbstbild wird ein neuartiges Feindbild gegenübergestellt, das ebenfalls gemäß der – modernen – Vorstellung einer Einheit von Volk und Staat (Lenk 1971) konstruiert ist: Juden gelten als Ethnos mit politischer Verfassung. In der Transformation wird zweitens ein  – für die weitere Geschichte des modernen Antisemitismus entscheidendes  – Problem brennend, das Problem der Grenze zwischen den Gruppen. Die Grenze zwischen Christen und Juden konnte im vormodernen Judenhass durch Taufe überwunden werden. Seit dem 15. Jahrhundert ist eine Ethnisierung dieser Grenze zu beobachten, z.B. bei Luther, der davon ausgeht, Juden seien unfähig, »fleisch und blut, marck und bein« (Luther, zitiert nach Hortzitz 2005: 274) zu ändern. Luther bindet eine solche Änderung an göttlichen Eingriff: »Sie müssen so bleiben und verderben, wo Gott nicht sonderlich hohe wunder thut« (Luther, zitiert nach Hortzitz 2005: 274). In der Folge bleibt ein Jude der Abstammung nach Jude, auch wenn er sich zum christlichen Glauben bekannt hat: »Auß einem durchtriebenen Juden [konnte, J.W.] ein eifferiger Evangelischer Israelit werden« (B.F.Saltzmann, zitiert nach Hortzitz 2005: 274). Auch die spätestens seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Auffassung, ein zum Christentum bekehrter Jude sei ein »Taufjude« (dazu: Gutsche 2013), deutet darauf hin, dass die Zugehörigkeit zur Gruppe der Juden nach einem Bekenntnis zum Christentum erhalten bleibt. Aber die Taufe bleibt das zentrale Ziel der christlichen Judenfeindschaft. Im modernen Antisemitismus ist das, was den Christen die Taufe ist, die Forderung nach Assimilation der Juden. Weil die Zugehörigkeit zu dem  – nun national bestimmten  – eigenen Kollektiv ethnisch aufgefasst wird und Juden nicht mehr neben, sondern unter »uns« leben, entsteht die Frage, was blieb. Deshalb kommt sie zu dem Ergebnis, dass »in der frühen Neuzeit der religiös motivierte Antisemitismus als das entscheidende ›kulturelle Deutungsmuster‹ anzusehen ist, das anderen Welterklärungsmodellen noch keinen Raum ließ« (Hortzitz 2005: 567f.). Dem gegenüber steht die Position Langmuirs, der in Toward a Definition of Antisemitism davon ausgeht, dass Antisemitismus ein gruppenbezogenes Feindbild darstellt, das in seinem schimärischen Charakter seit dem 14.  Jahrhundert in Nordeuropa etabliert ist (vgl. insbesondere 1990: Kapitel 9-11). Diese Argumentation ist plausibel im Hinblick auf den schimärischen Inhalt des Feindbildes (unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich der moderne nicht vom christlichen Antisemitismus), nicht aber im Hinblick auf die Kollektive, die im Antisemitismus einander gegenübergestellt werden. Dies sind im modernen Antisemitismus nationale, im vormodernen religiöse Kollektive.

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»wir« mit einer Gruppe machen sollen, die unter »uns« lebt, aber nicht zu »uns« gehören kann. Die Forderung nach Assimilation, die von den Antisemiten als Voraussetzung der Emanzipation der Juden erhoben wird, wird strukturell ambivalent und viele Antisemiten des 19. Jahrhunderts kombinieren sie mit der Forderung nach Ausschluss der Juden, sei es in Form von Ghettoisierung (Grattenauer 1791: 17) oder Deportation.12 Drittens verändert sich mit dem Wandel von einer ständischchristlichen zu einer bürgerlichen Gesellschaft und der damit verbundenen Veränderung des sozialen Orts der Juden in Gesellschaft der Inhalt der antisemitischen Zuschreibungen. Im modernen Antisemitismus rückt die Juden zugeschriebene Bedrohung in das Zentrum der Gesellschaft und wird allgegenwärtig: Juden wird zugeschrieben, die Gemeinschaft der eigenen Gruppe und aller anderen Gruppen zu zersetzen. Diese Bedrohung wird politisiert und historisiert. Die Transformation des christlichen Judenhasses in den modernen Antisemitismus vollzieht sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, insbesondere ökonomischer und politischer Prozesse, in denen vormals stabile semantische Muster aufbrechen, neu zusammengesetzt werden und die von neuen Akteursgruppen getragen werden. Diese Prozesse werden in der Soziologie unter dem Theorem der funktionalen gesellschaftlichen Differenzierung gefasst, das eine der Grundeinsichten soziologischer Forschung bezeichnet.13 In einem ersten Schritt gehe ich – kurz – auf den sozialgeschichtlichen Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Handlungsbereiche, die mit ihm verbundenen semantischen Trans12 In der an Dohms Schrift anschließenden Debatte wurden früh Deportationsforderungen artikuliert, vgl. die entsprechenden Belege bei Bruer (1991: 66), Toury (1982: 20ff.), der die erste bekannte Deportationsforderung auf 1778 datiert, und Bergmann/Erb (97-173). 13 Die begriffliche Ausarbeitung des Theorems ist unabgeschlossen. Strittig sind die Bereiche, die als funktional differenziert beschrieben werden können, darüber hinaus Fragen der Rangordnung von Teilsystemen (die Antwort hat Konsequenzen für die Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen der Steuerbarkeit moderner Gesellschaften) und Fragen der Deutung von Differenzierungsformen (funktional, multipel). Für meine Zwecke reicht an dieser Stelle die Unterscheidung von segmentären, hierarchischen und funktionalen Differenzierungsformen. Ein elaborierter und ausgearbeiteter Vorschlag, diese Unterscheidung auf Milieus und Organisationen zu beziehen, findet sich in Renn 2006, eine handlungstheoretische Fassung des Theorems funktionaler Differenzierung in Schwinn 2001 (der Kerngedanke findet sich knapp entwickelt 415-423).

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formationen und seine Trägerschichten ein (3.1). Dieser Prozess liegt der emanzipatorischen Stellung der »Judenfrage« zugrunde (3.2). Die Antwort auf die emanzipatorisch gestellte »Judenfrage« lautet: In allen weltlichen Belangen sind Juden Christen gleichzustellen. Gegen diese Forderung nach Integration von Juden in eine bürgerliche Gesellschaft konstituiert sich das moderne antisemitische Wissen (4).

3.1 Die Genese der »Judenfrage« aus gesellschaftlicher Differenzierung und der Aufrichtung neuer Homogenitätsideale Für die Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang von gesellschaftlicher Transformation und der Transformation des antisemitischen Wissens sind zwei Formen funktionaler Differenzierung von zentraler Bedeutung: Erstens die Differenzierung von Religion14 und Politik und zweitens die Auflösung der ständischen Gesellschaftsstruktur durch einen Prozess der formalen Egalisierung sozialer Positionen im Zuge der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie sowie die Konstitution des modernen Staates durch die rechtliche Definition von Zugehörigkeit und die Verallgemeinerung der Rechtsordnung (d.h. des Gewaltmonopols). Im Ergebnis steht das Auseinanderfallen der societas civilis in die Handlungssphären Politik und Ökonomie (1).15 Mit der Transformation der Gesellschaft ist die Herausbildung neuer kultureller Muster der Legitimation und Begründung kollektiver Selbstbilder verbunden (2). Die soziale Stellung der Juden in der Gesellschaft verändert sich und wird 14 Wenn ich von einer Religion spreche, bezeichne ich im Anschluss an eine Einsicht der Durkheim’schen Religionssoziologie immer beides: ein System an Glaubenssätzen und eine Organisation, die die mit diesem System verbundenen rituellen Praktiken der Religionsausübung garantiert. Vgl. Durkheim 1981. 15 Manfred Riedel bezeichnet in den Geschichtlichen Grundbegriffen das Auseinanderfallen von Staat und bürgerlicher Gesellschaft als das »folgenreichste« begriffsgeschichtliche Datum (vgl. Riedel 1994b: 753). Die beiden Formen funktionaler Differenzierung werden in der Literatur typischerweise getrennt voneinander diskutiert (vgl. aber als Ausnahmen: Schulze 1995 und die sehr knappe und klare Darstellung in Breuer 1995: 10-12). Dies verweist einerseits auf ein Desiderat, weil für die Entwicklung moderner Staatlichkeit beide Prozesse konstitutiv sind, andererseits findet darin die Komplexität des Gegenstands einen Ausdruck. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, die Prozesse selbst zu rekonstruieren, sondern nur darum, diejenigen Elemente zu benennen, die für die Entstehung des modernen Antisemitismus zentral sind.

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anders wahrgenommen: sie wird vor dem Hintergrund bürgerlicher Gleichheit als moderne Frage nach der Beziehung von Mehrheit und Minderheit diskutiert. Getragen wird die Entwicklung von einer zunächst kleinen Gruppe von Bildungsbürgern, insbesondere Professoren, aufgeklärten Adeligen, Verwaltungsbeamten und aufstrebenden Besitzbürgern, die die sozialgeschichtliche und kulturelle Transformation nicht nur intellektuell, sondern praktisch vorantreibt (3). (1) Ernst Wolfgang Böckenförde hat in seinem Aufsatz Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation die Anfänge der Trennung von Religion und Staat aus dem Investiturstreit entwickelt. Nach der Glaubensspaltung und den an sie anschließenden konfessionellen Kriegen stand die Überordnung des Staates über die Kirche, d.h. die Toleranz der politischen Ordnung gegen die Konfessionen. »Erst dadurch, daß sich die Politik über die Forderungen der Religionsparteien stellte, sich von ihnen emanzipierte, ließ sich überhaupt eine befriedete politische Ordnung, Ruhe und Sicherheit für die Völker und die einzelnen, wieder herstellen« (Böckenförde 1991: 101). Zwar ist noch lange nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 die lutherische Kirche, später die aus der Vereinigung von Lutheranern und Reformierten entstandene protestantische Unionskirche  – ein Vorläufer der heutigen Evangelischen Kirche Deutschlands  – preußische Staatskirche, d.h. der König bekleidet zugleich das oberste Bischofsamt, doch sichert das Allgemeine Landrecht in der Tradition der Westfälischen Friedensverträge von 1648 den christlichen Konfessionen eine Gleichstellung zu.16 Die übergeordnete Einheit der unterschiedlichen Konfessionen ist nicht religiös, sondern politisch: der Staat. Die Untertanen sind einander als 16 Dies betraf nur Protestanten und Katholiken. »Aber die Tatsache, daß es nicht mehr eine einheitliche rechtgläubige christliche Kirche gab, führte mit der Zeit dazu, daß auch Sekten und Andersgläubigen die Toleranz nicht mehr vorenthalten werden konnte« (Elbogen/Sterling 1966: 117). Im Woellner’schen Religionsedikt von 1788, das allgemein als ein Rückschritt in der Geschichte der rechtlichen Garantie religiöser Toleranz betrachtet wird, wird die Gleichstellung der reformierten, der lutherischen und der römisch-katholischen Religion formuliert. Nicht gleichgestellt, aber toleriert werden die »übrigen Sekten« der Juden, Herrnhuter, Mennonisten, Böhmischen Brudergemeinde (vgl. Besier 1990: 507). Das Edikt zielte seinem Sinn nach jedoch nicht auf eine Gleichstellung der Religionen, sondern auf die Ermöglichung staatlicher Eingriffe in die Lehrfreiheit der Geistlichen und gilt daher als Ausdruck der konservativen politischen Wende von Friedrich II. zu Friedrich Wilhelm II.

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Untertanen unterschiedlicher Konfessionszugehörigkeit wenigstens formal gleichgestellt. Der Preis für den konfessionellen Frieden ist die Zentralisierung der Gewalt und die politische Neutralisierung der Untertanen in der bürgerlichen Gesellschaft, die in der Folge dieser Entwicklung entpolitisiert und zum Reich der Realisierung privater Zwecke wird (vgl. Habermas 1990: 179; Hegel 1986b: §183f.). Damit ist eine Dynamik in Gang gesetzt, in der das Herrschaftsverhältnis selbst rationalisiert, d.h. verrechtlicht wird: Der absolute Herrscher wird in der Mitte des 18.  Jahrhunderts zu einer Funktion des Staates, zu einem Amtsträger, und selbst an das Recht gebunden (vgl. Schulze 1995: 94-97; Conze 1990: 23f.). Herrschaft wird aus einer religiös legitimierten sozialen Position zu einer sozialen Funktion,17 deren Ausübung an die Zugehörigkeit zur Gruppe der Beherrschten gebunden ist  – eine Auffassung, die für alle vormodernen Souveränitätstheorien, auch für Marsilius von Padua, der ja gelegentlich als einer der Väter des modernen Souveränitätsverständnisses gilt, unvorstellbar war. Staaten verfolgen nun Zwecke ihrer Angehörigen, insbesondere die Beförderung der Privatglückseligkeit der Einzelnen (so bei Bentham oder, wie es bei Dohm heißen wird, die Beförderung der »allgemeinen Wohlfahrt«).18 Diese neue Bestimmung des Staates wird im Preußischen Allgemeinen Landrecht schon sichtbar: »Der Zweck der bürgerlichen Vereinigung ist nicht mehr das Gemeinwohl ihrer selbst, sondern er zielt auf das Wohl des Staates im Allgemeinen und der Individuen speziell« (Koselleck 1989a: 55).19 17 In der Herrschaftssoziologie im Anschluss an Max Weber markiert dieser Wandel den Übergang von traditionalen Herrschaftsverbänden, in denen das Amt an die Zugehörigkeit zu einer Familie gebunden ist, zu rational-bürokratischen, in denen sich Amt und Zugehörigkeit differenzieren und die Amtsausübung an Verbandszugehörigkeit gebunden wird (vgl. Parsons 1971: 63). 18 Das wird an der Karriere der pädagogischen Begriffe »Erziehung« (vor dem 19. Jahrhundert) und »Bildung« (nach der Wende zum 19. Jahrhundert) zur Beschreibung des Verhältnisses von Staat und Untertanen ganz deutlich. Dem Staat wird erst eine Erziehungsfunktion im Hinblick auf seine Untertanen zugesprochen, später soll er die Untertanen in ihrer selbsttätigen Bildung unterstützen. In beiden Varianten aber wird ein neues, eben pädagogisches Verhältnis von Staat und Untertan deutlich, ein Verhältnis, das ein etabliertes Wissen voraussetzt, der Staat sei die Form politischer Organisation seiner Untertanen, diese nicht nur ihren Herrschern, sondern die Herrscher ebenso ihren Untertanen verpflichtet. 19 Koselleck bezieht sich hier auf die Einleitung in das Allgemeine Gesetzbuch. Kant hat im §46 der Metaphysik der Sitten analog das Problem, den Begriff des Staatsbürgers mit einer ständischen Sozialordnung in Einklang zu bringen und führt zu diesem Zweck die Unterscheidung von Staatsbürger (mit politischem Stimmrecht) und Staatsgenosse (ohne dieses Stimmrecht) ein.

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Doch das Preußische Allgemeine Landrecht kennt noch keinen systematischen Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft, beide sind in der societas civilis vereint.20 Die Trennung ist erst vollzogen, wenn die Einheit von Ökonomie und Politik, für die das System der Lehnsherrschaft steht, zerbrochen ist, wenn der Staat als »Verwaltungs- und Steuerstaat« sich wesentlich auf administrative Aufgaben beschränkt und seinen »Finanzbedarf […] durch ein privat erwirtschaftetes Steueraufkommen« (Habermas 1999a: 132) deckt. Erst dann verfügt der Untertan über eine in der Trennung von privatem und öffentlichem Recht institutionalisierte private Autonomie. Die zentrale Voraussetzung dafür ist die beginnende Auflösung der ständischen Gliederung der Gesellschaft, insbesondere die Durchsetzung einer nach innen einheitlichen Rechtsordnung gegen Lokalmächte, d.h. die Enteignung selbstständiger Träger hoheitlicher Verwaltungsmacht (vgl. Weber 1988c: 510f.). Auch die Preußischen Reformen schaffen die Stände als Prinzip gesellschaftlicher Gliederung nicht ab, aber sie setzen die im Allgemeinen Landrecht angelegte Transformation der Stände in »staatlich definierte und gesetzlich geregelte Körperschaften« (Brubaker 1994: 91), in »staatliche Berufsstände« (Koselleck 1989a: 74) fort.21 In dieser Auflösung der ständischen Gliederung der Gesellschaft durch die Verallgemeinerung des Bürgerstandes verändern sich die Bedeutung des Bürgerbegriffs und die Funktion des Bürgers. Neben den städtisch-ständischen Bürgerbegriff tritt ein natur- und staatsrechtlich begründeter Bürgerbegriff, der die Angehörigen der Stände im Staat als Untertanen umfasst (vgl. Stolleis 1981, insbes. 67-71). Im Preußischen Allgemeinen Landrecht wird diese Entwicklung als Spannung zwischen der Formulierung bürgerlicher und der Formulierung ständischer Rechte ebenso thematisch wie in dem – erst 1814 durchgesetzten – Versuch, das Allgemeine Landrecht als übergeordnetes Recht, »die provinziellen Rechte dagegen als Ausnahmerecht« (Koselleck 1989a: 45) zu etab20 Die begriffliche Entwicklung in diesem Punkt vollzieht sich rasant – Während Kant in der Metaphysik der Sitten Staat und Gesellschaft noch als in der societas civilis vereint (Kant 1991a: B 196) begreift, ist bei Hegel in der Rechtsphilosophie nicht einmal 25 Jahre später die Trennung von Staat und Gesellschaft vollständig entwickelt. Während die bürgerliche Gesellschaft ein System zur Befriedigung von Bedürfnissen sei, in dem jeder sich selbst Zweck und alle anderen Mittel seien, sei der Staat die sittliche Einheit der Gesellschaft (vgl. Hegel 1986b, §§182ff., §§257ff., bes. §258). 21 Vgl. auch Nipperdey 1987: 33, der das Landrecht als »ambivalent« charakterisiert, und Breuilly 1999: 162f.

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lieren. Das Allgemeine Landrecht »beschwor die Mitgliedschaft zum Staat, kodifizierte jedoch die Mitgliedschaft zu Ständen« (Brubaker 1994: 56).22 Diese Differenz drückt die beginnende Differenzierung von Gesellschaft und Staat in der societas civilis aus. Der Staat konstituiert sich nach innen durch die Einschließung der Stände, aber das kann er nur, indem er das allgemeine Recht dem ständischen und lokalen Recht, eine allgemeine Mitgliedschaft der ständischen Zugehörigkeit und personalen lokalen Abhängigkeit, seinen Verwaltungsstab lokalen Verwaltungsstäben überordnet.23 Die Verrechtlichung der Staatsmacht wiederum erfordert eine neue, nicht auf persönlicher Abhängigkeit beruhende Beziehung zwischen Herrscher und Untertan einerseits und zwischen Herrscher und Verwaltungsstab andererseits – den bürokratischen, d.h. selbst nach unpersönlichen Regeln funktionierenden Verwaltungsstab,24 in dem Verwaltungsmittel und -stab getrennt sind und der sich zunächst aus Angehörigen des Adels, zunehmend aber auch aus dem Bildungsbürgertum25 rekrutiert.26

22 Vgl. auch Koselleck 1994: 52-77, auf den sich Brubaker in seiner Argumentation stützt. Der doppelte Bezug der »Bürger« auf den Staat und den Stand drückt sich bis weit in das 19.  Jahrhundert hinein in der Doppelung »Bürger und Untertan« aus. Der Untertan ist Untertan »im Bezug auf ein ständisches Gewaltverhältnis«, und er ist Untertan »im Bezug auf das allgemeine, staatliche Gewaltverhältnis (Staatsuntertan)« – im Hinblick auf diese Untertanenschaft ist er Bürger (Weinacht 1969: 45). 23 Wolfgang Hardtwig begreift die preußischen Reformen in diesem Sinne als »Fortsetzung der bisherigen Politik aufgeklärt-absolutistischer Staaten mit anderen Mitteln […]: Es ging […] darum, die Staatsmacht zu steigern, die innere Staatsbildung gegenüber der relativen Autonomie der intermediären Gewalten voranzutreiben, die Ausübung der staatlichen Gewalt […] zu monopolisieren« (Hartdwig 1994a: 169). 24 Folgen wir Charles Tilly, ist die Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols und einer einheitlichen staatlichen Verwaltung im Wesentlichen eine Nebenfolge des massiv erhöhten Finanzbedarfs der Fürsten und Könige infolge veränderter Kriegstechniken, namentlich der Etablierung stehender und stets vergrößerter Armeen (vgl. Tilly 1985). 25 Wenn ich im Folgendem von Bürgertum spreche, so bezeichne ich damit wesentlich Träger einer bürgerlichen Lebensweise (dazu Kocka 1987: 42ff.; Vierhaus 1987: 65ff.; Lepsius 1087: 96ff.), d.h. ich verwende einen kulturellen Begriff des Bürgertums – der ökonomische Voraussetzungen hat, z.B. gehört zu dieser Lebensweise im 19. Jahrhundert die Möglichkeit, eine Familie zu versorgen. 26 Max Weber erklärt aus der Kontrolle über diesen aus Fachbeamten, Experten für Finanzen, Krieg und Recht bestehenden Verwaltungsstab, Träger der Modernisierung in Preußen wie in den Rheinbundstaaten (vgl. Hardtwig 1994a: 169f.), den Aufstieg des absoluten Fürsten über die Stände (vgl. Weber 1988c: 517).

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Die Differenzierung von Staat und Gesellschaft und damit die Unterscheidung von einem Bereich politischen und einem Bereich privaten wirtschaftlichen Handelns, die Spaltung des Bürgers in den citoyen und den bourgeois (die durch die Verfügung über Eigentum als Voraussetzung politischer Teilhabe bis weit in das 19.  Jahrhundert gekoppelt bleiben) wird erheblich beschleunigt durch die mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise verbundene Tendenz zur formalen Egalisierung der sozialen Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft.27 Im absolutistischen Staat beginnen nicht nur Staat und Gesellschaft auseinanderzufallen, der Staat beginnt auch, Mitgliedschaft zu definieren. Nach dem Allgemeinen Landrecht ist Mitglied, d.h. Untertan, wer unter staatlicher Gerichtsbarkeit steht. »Staatsbürger war man nicht als politisches Mitglied des Staates, sondern als Teilhaber der freien Wirtschaft der modernen Gesellschaft« (Koselleck 1989a: 60). Bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts sind dessen Rechte indifferent gegen die Unterscheidung von Inländern und Ausländern – bürgerliche Rechte erwarb, wer Gewerbesteuern zahlte (vgl. Koselleck 1989a: 60).28 Insbesondere die Konfessionalisierung und Unterordnung der Religion unter den Staat eröffnet einen Raum der Selbstverständigung, den es so bisher nicht gegeben hat. Einerseits wird die religiöse Legitimation der Unterdrückung der Juden problematisch: Man kann Juden ohne Probleme in einer christlichen Gesellschaft ausgrenzen, weil sie keine Christen sind. Das wird in einer sozialen Ordnung schwieriger, in der Zugehörigkeit nicht nur und zunehmend weniger über Religion geregelt wird. Andererseits hat sich der Staat als die Institution herausgebildet, die die Einheit der verfeindeten Konfessionen garantiert. Katholik und Protestant sind beide Untertan im 27 Die formale Gleichheit von Personen ist einer Gesellschaft, in der sich Personen nicht als gleiche Eigentümer von Waren, sondern als ungleiche Angehörige von Ständen gegenüberstehen, diametral entgegengesetzt: Auf dem Markt treten Warenbesitzer einander gegenüber, die Rechtsform ihrer Beziehung ist der Vertrag. Die vertragliche Übereinkunft zweier Personen setzt voraus, dass beide die Eigentümer der getauschten Dinge sind und daher ihren Willen »in die Sache legen« (Marx), frei über sie und sich verfügen können – eben deshalb bestimmt Kant in der Metaphysik der Sitten gleich im ersten Paragraphen das »RechtlichMeine« als »dasjenige, mit dem ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde« (Kant 1991a: B 55). 28 Das Preußische Allgemeine Landrecht kennt noch keine Staatsbürger, kein Staatsgebiet und keine Staatsgrenze, d.h. es regelt die Zugehörigkeit noch nicht.

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Staat.29 Und sie treten sich in Gesellschaft nicht als Katholik und Protestant, sondern als Bürger gegenüber. Religiöse Selbstbilder und traditionelle Muster der Legitimation sozialer Herrschaft geraten ins Wanken, weil sich das gesellschaftliche Substrat, auf das sie bezogen sind, verändert hat. Damit entsteht die neue und moderne Frage nach einer Stände und religiöse Zugehörigkeiten übergreifenden Einheit von Bürgern im Staat, die in Gesellschaft ihre privaten Zwecke verfolgen. (2) Die Frage selbst ist eingebettet in einen durch die Aufklärung erheblich beschleunigten Prozess der Modernisierung des Weltverständnisses, den, um nur zwei Autoren zu nennen, Max Weber als Entzauberung der Welt und Karl Mannheim als neuzeitliche Rationalisierung (vgl. Mannheim 1984: 78ff.) bezeichnet haben: In den sich entwickelnden Naturwissenschaften treten Machbarkeit und damit die experimentelle Methode in den Mittelpunkt eines zunehmend instrumentellen menschlichen Weltverhältnisses und Weltverständnisses, in dem sich der Mensch selbst als Gravitationspunkt seiner Welt begreift.30 Das kontemplative Ideal des antiken Weltverhältnisses verändert sich in ein produktives, die Qualität der Dinge, deren Herstellung mit der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise zum ersten Mal nicht mehr am – endlichen – Bedarf, sondern an der Verfügung über die  – unendliche  – abstrakte Form des Reichtums orientiert ist (Marx drückt das in der Formel der Kapitalzirkulation, G-W-G’, aus), tritt in den Hintergrund und wird selbst ein Mittel zu eben diesem Zweck, die instrumentelle Beziehung 29 Schmidt (2001: 34f.) begründet aus der mehrkonfessionellen Entwicklung die These einer »frühzeitigen Entkonfessionalisierung des von Protestanten dominierten nationalen Diskurses«, d.h. der Propagierung von Werten und Tugenden über konfessionelle Grenzen hinweg. Vgl. auch Carl, der für die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg diagnostiziert, dass der Diskussion um Nation das »Reich … als doppelte Identifikationsebene« diente, »jenseits partikularer Vaterländer und jenseits konfessioneller Spaltung« (Carl 2001: 122f.). 30 Kant bezeichnet dieses neue Weltverständnis in der zweiten Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft als »Revolution der Denkart« und lässt ihre Geschichte in der Mathematik früh, mit Thales, in den Naturwissenschaften mit Galilei und der experimentellen Methode beginnen. Was mit diesem Wandel dem Inhalt nach bezeichnet ist, wird an keiner Stelle deutlicher als dort, wo Kant vom »Gerichtshof« der Vernunft spricht (Kant 1976: B 779), an dem die Vernunft die Rollen des Anklägers, Verteidigers und Richters einnimmt – außerhalb des Menschen existiert keine Instanz mehr, die über die legitime Geltung von Aussagen zu urteilen befugt ist.

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zu den Dingen tritt in den Vordergrund. Das »Zauberwort« dieser Praxis ist der »Nutzen«, seine Referenz wiederum der Mensch, ihr Organ die Aufklärung. Den Menschen und ihren Beziehungen ergeht es wie den Dingen: Sie werden ihres religiösen Gehäuses entkleidet, der Mensch wird zunehmend als Demiurg seiner sozialen Lebensweisen begriffen, die Legitimation dieser Lebensweisen – zunächst über die Herauslösung des Naturrechts aus dem göttlichen Recht etwa bei Grotius und Pufendorf  – schließlich an den Menschen selbst zurückgebunden. Hobbes’ Leviathan bricht mit der religiösen Legitimation staatlicher Gewalt und verlegt diese der Sache nach radikal ins Diesseits: Die Quelle legitimer Gewalt ist die vertragliche Übereinkunft derer, die sich ihr unterwerfen. In dieser Theorie des absolutistischen Staates ist eine Dynamik angelegt, die in der an Hobbes anschließenden Staatstheorie sukzessive entwickelt wird, die Ablehnung durch askriptive Zuschreibungen festgelegte soziale Ordnungen (vgl. Hobbes 1992: 94ff.), die Fähigkeit, soziale Verhältnisse qua Übereinkunft zu verändern und sie aus Vernunft zu legitimieren. Referenzpunkt der Dynamik ist der aufklärerische Begriff des Menschen, mit dem im 18. Jahrhundert eine neue Gleichheit artikuliert wird.31 Er bildet seit der Aufklärung von Hobbes über Locke, Rousseau und Kant bis zu Rawls die Grundlage einer rationalen Legitimation politischer Herrschaft, die sich auf vertragstheoretische Annahmen stützt. Der Bezug auf den Menschen, die Hochschätzung seiner Vernunft, die Verankerung von Rechten in seiner Natur haben in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts eine dezidiert kritische Funktion. »Sie zielte in drei Richtungen, gegen die verschiedenen Kirchen und Religionen, gegen ständische Rechtsabstufungen und gegen die persönliche Herrschaft der Fürsten. In diesem sozialen und politischen Kontext veränderte sich der Stellenwert des Ausdrucks Mensch oder Menschheit. Was wörtlich genommen nur ein Oberbegriff zur Erfassung aller Menschen sein mochte – die Mensch31 »In der offiziellen Sozialtheorie des Mittelalters spielte ›aequalitas‹ kaum eine Rolle« (Dann 1994a: 1004). Gleich war man erst vor Gott. Die Gleichheit der Christen vor Gott bildete den Ausgangspunkt oppositioneller Strömungen insbesondere im Mönchstum, die aus dieser Perspektive ihre Kritik an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums artikulierten. Die christliche Legitimation von Gleichheit beginnt sich seit dem Bauerkrieg Anfang des 16. Jahrhunderts zu verändern (vgl. Dann 1994a: 1004f.).

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heit –, wurde im politischen Sprachgebrauch zu einem negierenden Gegenbegriff« (Koselleck 1989b: 248). Der Rekurs auf den Menschen, Teil der Transformation der Legitimationsmodi sozialer und politischer Herrschaft, ist Element einer Übergangsphase des Kampfes für die Auflösung der ständischen Ordnung. In dieser Übergangsphase zerbrechen auch die etablierten kollektiven Selbstbilder. Ich habe im zweiten Kapitel gezeigt, dass die sozialintegrative Leistung kollektiver Selbstbilder wesentlich darin besteht, Individuen in Gemeinschaften zu verbinden. Wie immer eine soziale Ordnung differenziert sein mag, welcher Abstand zwischen einem Kardinal und einem Gläubigen, die ja im normalen Fall nicht über eine gemeinsame Sprache verfügten, bestehen mag – die Gemeinsamkeit der Zugehörigkeit zur Christenheit verbindet sie über die soziale Distanz hinweg in einer Einheit. Religiöse Legitimationen dieser Einheit geraten nicht nur in Bewegung, weil der Mensch selbst in der Aufklärung in die Position Gottes einrückt. Mit dem Schisma zwischen Protestanten und Katholiken war in Zentraleuropa die Einheit der Christen zerbrochen und damit auch das christliche Selbstbild erschüttert. Was das Christentum ausmacht, wurde strittig (vgl. Bödeker 1995: 1076; Koselleck 1989b: 249) und ist es bis heute – ist das Abendmahl ein Symbol oder nicht, der Protestantismus eine Häresie oder nicht? Die Beantwortung dieser Fragen war unproblematisch, solange Konflikte entweder externalisiert und als Konflikt zwischen zwei Einheiten oder intern durch die Herstellung von Asymmetrien bearbeitet werden konnten. Im ersten Fall spielt sich der Konflikt zwischen zwei Einheiten mit wechselseitig unterschiedlichen Selbstund Fremdbildern ab. Im zweiten Fall bleibt die Einheit gewahrt, solange sich die eine Seite der Differenz als Häresie o.ä. definieren lässt (und genau das war und ist die Praxis der christlichen Kirchen im Umgang mit abweichenden Richtungen). Die Ergebnisse der Bearbeitung mögen blutig sein, aber sie erschüttern das Selbstbild nicht zwangsläufig. Im normalen Fall bestätigen und bestärken sie es. Das ist in Westeuropa seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr möglich; spätestens nach dem Westfälischen Frieden ist die innere Einheit faktisch zerbrochen. »Man war Katholik, Calvinist, Lutheraner oder anderes, ohne daß Häresieverdikt, Bürgerkrieg und Krieg eine neue Einheit der Christen zu schaffen imstande gewesen wären« (Koselleck 1989b: 247). Theoretisch bestand natürlich die Möglichkeit, eine Einheit auf

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höherer Abstraktionsebene zu formulieren, Lutheraner und andere in der Gemeinsamkeit der Christen zu verbinden. Praktisch bestand sie nicht, weil gerade die Kernbestandteile dessen, was unter Christentum zu verstehen sei, strittig waren und diese neue Einheit zudem gegen die Konfessionen und ihre Organisationen hätte formuliert werden müssen. »Im gleichen Maß stieg der Begriff der Menschheit auf zu einem negativen Gegenbegriff, der die unter sich zerstrittenen Christen mit einem Minimum an Definition umfaßte« (Koselleck 1989b: 247).32 Die Transformation der ständischen in die bürgerliche Ordnung löst den Traditionsbestand der alten Legitimationsmodi in der neuen Semantik der Gleichheit des Menschen auf, aber sie löst ihn paradox auf: Menschen sind alle. Aus der Menschheit lässt sich nur der Unmensch (zuerst: der absolute Herrscher) ausschließen. Der Bezug auf Menschheit im Selbstbild taugt zwar zur semantischen Auflösung von porös gewordenen Legitimationsmustern, der aufklärerische Witz liegt ja gerade in der Indifferenz gegen askriptive Zuschreibungen. »Die Allgemeinbegriffe ›Menschheit‹, ›Humanität‹, ›Menschenwürde‹ erhalten ihre Subjektivität, die ihren sozialgeschichtlichen Ort in der Aufklärungsgesellschaft hat und deren Protagonisten die ›Bürgerlichen‹, die Gebildeten und die Kaufleute sind. Die bürgerliche Emanzipation des Menschen beginnt als Emanzipation des Menschen als solchen, jedenfalls wird sie von ihren Trägern so gedacht« (Bödeker 1995: 1083).33 Aber der Rekurs auf Menschheit taugt in einer segmentär differenzierten politischen Welt nicht zur Etablierung neuer kollektiver Selbstbilder. In der rationalen Legitimation des modernen Staates als eines »Rechtsinstituts« (Humboldt) bindet das Recht bzw. die mit ihm 32 Es ist sicher falsch, anzunehmen, dass eine Entwicklung für die Transformation der Selbstbilder verantwortlich zu machen wäre. Über die Konfessionalisierung des Christentums hinaus wird in der Regel auf die Entdeckung der Kugelförmigkeit der Erde samt ihren transatlantischen Bewohnern und die Differenzierung von Glauben und Wissen verwiesen, vgl. exemplarisch Koselleck 1989b: 246ff. 33 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, etwa bei Gabriel Riesser, einem der großen Streiter für die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert, gelten Bürgerrechte als Verwirklichung der Menschenrechte.

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verbundene Gewalt rechtlich gleiche Untertanen bzw. Bürger erstens ausschließlich als individuelle Rechtspersonen – seine Grundlage ist der Vertrag –, und zweitens qualifiziert diese Begründung die Bürger in keiner weiteren Hinsicht als zu einem bestimmten Staat zugehörig. Eben deshalb kann der Begriff des Menschen in einer segmentär differenzierten politischen Welt selbstbildrelevant nur als Oppositionsbegriff, nicht aber zu ihrer Legitimation werden. Der Rekurs auf den Menschen, in einem ständisch gegliederten absolutistischen Staat revolutionär, gewinnt seine revolutionäre Kraft paradoxerweise durch Abstraktion, durch Entgeschichtlichung.34 Um die partikulare Einheit eines Personenverbandes zu legitimieren, »bedurfte es einer Idee von gesinnungsbildender Kraft, die stärker als Volkssouveränität und Menschenrechte an Herz und Gemüt appelliert« (Habermas 1999a: 136). Hier liegt systematisch bis heute (vgl. Kapitel 2) der Eingriffspunkt einer Legitimation sozialer und politischer Herrschaft, die sich in ihrer Begründung nicht auf die rationale Entscheidung von Individuen, sondern auf die historische Tradition von Kollektiven bezieht. Gegen den Rationalismus der Aufklärung entwickelt sich eine Legitimation politischer Herrschaft, die auf eine vorgängige Verbundenheit des Staatsvolks als Nation fokussiert. Sie setzt an die Stelle der Gleichheit der Menschen die Gleichheit der Volksangehörigen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das aufklärerische Postulat der Gleichheit der Menschen abgelehnt würde.35 Es bedeutet aber, dass zu der Referenz auf Menschheit in Opposition zu ständischer Ungleichheit die Referenz auf Untergliederungen der Menschheit, »Völker« tritt (und in aller Regel die Gleichheitszuschreibung »Mensch« im Namen der Unterscheidung von »Völkern« kritisiert wird [exemplarisch für viele: Arndt 1934: 51]). Karl Mannheim hat darauf hingewiesen, dass diese Weise der Legitimation auf einem »völlig anderen« Denkstil 34 Paradox ist dies, weil erst durch die Abstraktion von askriptiven Zuschreibungen die Einsicht in die Gestaltbarkeit von Geschichte möglich wird, diese Gestaltbarkeit aber in der vorrevolutionären Zeit nicht als historisches Phänomen, sondern als abstrakte, in der Regel naturrechtlich begründete Möglichkeit begriffen wird. 35 Diese Ablehnung ist gerade in der Romantik oft der Fall, aber dann nicht im Hinblick auf die Grundlage politischer Gleichheit in bestimmter Hinsicht (als Bürger oder Untertan), von der ich hier spreche, sondern im Hinblick auf die romantische Kritik an der Behauptung der Aufklärung, Menschen seien von Natur gleich. Vgl. dazu den sehr knappen und sehr klaren Aufsatz von Simmel 1995a, insbes. 52ff.

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aufbaut (Mannheim 1984: 73), der durch die politischen Umwälzungen des ausgehenden 18.  Jahrhunderts überall als Gegenbewegung gegen die aufgeklärte Staatstheorie an Fahrt gewinnt:36 Der Rekurs auf Menschheit in der Aufklärung dient der Kritik bestehender politischer Systeme. Der Rekurs auf das Volk begründet ein neues Modell der Legitimation der Einheit eines Personenverbandes, dem gemäß Personen im Staat zusammenleben, weil sie Angehörige eines Volkes sind. Auch wenn sich diese Gegenbewegung politisch zunächst auf die Erhaltung einer auch ständischen Ordnung in einem religiös fundierten Staat richtet, so ist sie nicht einfach konservativ: Sie legitimiert das Politische nicht einfach traditionell, sondern stellt es auf eine neue Grundlage, das Volk, und reflektiert darin den wohl folgenreichsten Umbruch des 18. und 19. Jahrhunderts, die Entstehung der modernen Nationalstaaten. Diese Legitimation von Einheit ist modern wie die vertragstheoretische – sie postuliert die Gleichheit aller Untertanen bzw. Bürger, nur eben nicht als Individuen unter Rekurs auf Menschheit, sondern als Angehörige eines Volkes. Während die vertragstheoretische Legitimation des Politischen von aller Zugehörigkeit von Individuen zu Gruppen absieht und daraus ihren revolutionären Impetus gewinnt, bestimmt sie die Gegenbewegung als Teil der geschichtlichen Gemeinschaft eines Ethnos.37 Was aber ist: »ein Volk«? Der Terminus Volk ist eine Abstraktion, eine Leerformel, solange nicht bestimmt ist, was das Gemeinsame seiner Angehörigen ist und wer dazugehört. Im ausgehenden 18.  Jahrhundert gehört in dem für den Antisemitismus relevanten Volksbegriff dazu, wer aus der gleichen Abstammungsgemeinschaft stammt. Als das Gemeinsame des Ethnos gilt ein Ethos, »Volksgeist« oder »Nationalcharakter«, durch das sich das eine Volk von einem 36 Dabei handelt es sich um einen europäischen Prozess, der in den sich bildenden Staaten unterschiedlich zur Ausprägung kommt. Typischerweise werden die zentralen Unterschiede über die Nähe des sich bildenden Bürgertums zur Politik bestimmt und daraus wird die starke Orientierung des deutschen Bürgertums am Begriff der Kultur erklärt (vgl. Elias 1976: 1-64; Mannheim 1984: 61ff.). 37 Ich konzentriere mich hier auf die für die Entstehung des modernen Antisemitismus relevanten Punkte. Die Differenz der Semantiken geht über Affirmation und Kritik an der Vertragstheorie hinaus. Dies ist insgesamt in der breiten Literatur zur Geschichte des Konservativismus gut erforscht, vgl. exemplarisch nur die schon genannten Texte Mannheim (1984) und Lenk (1971), zum Zusammenhang von politischer Romantik und Antisemitismus Puschner (2008).

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anderen Volk unterscheidet und das in der Gemeinschaft einer Lebensweise Ausdruck findet. Dieses kulturelle Homogenitätsideal kommt als Verpflichtung allen Angehörigen des Volkes abseits aller ständischen, religiösen usw. Differenzierungen zu (vgl. exemplarisch nur die Diskussion der Bedeutung gemeinsamer Symbole wie einer Volkstracht in Arndt 1814: 226ff.).38 Ein Volk lebt nach Herder dann im »natürlichsten Staat«, wenn die Einheit des Volkes und die Einheit des Staates in Übereinstimmung sind: »Der natürlichste Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter. Jahrtausendelang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden; denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie, nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen unter einem Zepter. Der Menschenzepter ist viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staatsmaschine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander« (Herder 1965, Bd. 1: 368).39 In dieser Perspektive ist der Staat gerade kein Rechtsinstitut, das auf Verträgen aufruht, sondern ein Ausdruck einer vorgängigen Einheit des Volks und gemäß der Formel »›Staat = Nation = Volk‹« (Hobsbawm 1992: 34) mit ihm organisch verbunden.40 Volkstum werde er38 Auf den Zusammenhang von Differenzierung und Homogenisierung weist Heckmann (1991: 65) hin: »Die Herausbildung moderner Gesellschaften seit dem Mittelalter ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit und den Zusammenhang zunehmender Differenzierung und Vereinheitlichung.« 39 Bei Hegel heißt es: »Der Staat, seine Gesetze, seine Einrichtungen sind der Staatsindividuen Rechte; seine Natur, sein Boden, seine Berge, Luft und Gewässer sind ihr Land, ihr Vaterland, ihr äußerliches Eigentum; die Geschichte dieses Staates, ihrer Taten und das, was ihre Vorfahren hervorbrachten, gehört ihnen und lebt in ihrer Erinnerung. Alles ist ihr Besitz ebenso, wie sie von ihm besessen werden, denn es macht ihre Substanz, ihr Sein aus. Ihre Vorstellung ist damit erfüllt, und ihr Wille ist das Wollen dieser Gesetze und dieses Vaterlandes. Es ist diese geistige Gesamtheit, welche ein Wesen, der Geist eines Volkes ist. […] Das andere und weitere ist, daß der bestimmte Volksgeist selbst nur ein Individuum ist im Gange der Weltgeschichte« (Hegel 1986: 72f.). 40 Diese Formel liegt der These von Michael Mann zugrunde, »ethnische Säuberungen« seien nicht etwas, was in der Moderne unter anormalen Bedingungen

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zeugt, wenn »nicht der Staat über das Volk, sondern das Volk in den Staat gesetzt werde« (Jahn 1922b: 38). Einheit ist in diesem Selbstverständnis nicht gemacht, sondern historisch geworden. Friedrich Ludwig Jahn artikuliert einige Jahre später, was in Herders Konzeption in der »jahrhundertelangen« Erhaltung des Nationalcharakters im Volk freilich schon angelegt ist: Die Einheit des Volkes gilt ihm als transzendente Einheit. Völker können, so schreibt Jahn in Reaktion auf die Niederlage gegen die französischen Truppen, »äußerlich vertilgt, nach ihrem äußeren Verbande vernichtet« werden, ihre »Seele [bleibt] dabei unzerstörbar« (Jahn 1922a: 23). Entsprechend können Völker »wiedergeboren« werden (Jahn 1922b: 34).41 Die kollektiven Selbstbilder von »Völkern«, die sich im Staat eine politische Einheit geben, leisten, was religiöse Selbstbilder nicht mehr leisten können und der semantische Motor ihrer Kritik, der Rekurs auf menschliche Gleichheit, nicht erbringen kann: Sie bestimmen Personen als Angehörige von kollektiven Handlungseinheiten, sie ordnen Individuen Gruppen zu und erklären, was die Einheit der einen im Unterschied zu der der anderen Gruppe ausmacht, woher die Gruppe kommt und wohin sie geht.42 Sie stiften Identität durch Festlegung von Zugehörigkeit und Verankerung im Weltlauf. Mit der Semantik der Gleichheit der Angehörigen eines Volkes entsteht eine historisch neue Thematisierung von Homogenität im Staat: der Nationalstaat und seine Angehörigen auf der einen Seite und die Minderheit(en) auf der anderen Seite (vgl. Heckmann 1991: zustande kommt, sondern vielmehr mit dieser konstitutiv verbunden und bildeten die Grundlage der westlichen Demokratien. Vgl. Mann 2007. Allerdings steht die Forschung zu dieser Frage noch in den Anfängen. Manns vergleichender Überblick über Völkermorde führt auf die Schwierigkeit, dass sich die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus kaum in das von ihm gefundene Schema einordnen lässt – was Mann selbst bemerkt (vgl. Mann 2007: 311 u.ö.). 41 Die Vorstellung der »Wiedergeburt« zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des modernen Nationalismus. Eine säkulare Variante ist die Rede von der »Wiedervereinigung«, die, wie die Vorstellung der »Wiedergeburt«, die Einheit eines Volkes unabhängig von politischen, sozialen usw. Gegebenheiten annimmt. Vgl. dazu Griffin (2004), der die Idee der Neu- bzw. Wiedergeburt in das Zentrum seiner Faschismusanalyse gestellt hat. 42 Michels (1929: 1-21) bezeichnet den »Mythus des Woher« und den »Mythus des Wohin« als die beiden zentralen Ursprungsmythen nationaler Kollektive. Beide sind durch das Postulat der Ewigkeit (der Entstehung vor der Zeit und der überzeitlichen Existenz) miteinander verbunden. Michels, »Wegbereiter des italienischen Faschismus« (Pfahl-Traughber 1998: 112), ontologisiert jene Gruppen (für die Juden vgl. Michels 1929: 131f.).

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58). Die Juden sind dann nicht mehr eine Gruppe unter einer Vielzahl ungleicher Gruppen, sondern ungleich in einem Staat gleicher Untertanen. Erst in einer modernen Gesellschaft gibt es Mehrheit und Minderheit, weil erst in ihr das Gleichheitspostulat verallgemeinert wird.43 In diesem Moment entsteht die Frage nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden  – Shulamit Volkov hat in einem ebenso knappen wie klaren Kapitel in Germans, Jews and Antisemites darauf hingewiesen (vgl. Volkov 2006, insbesondere 160ff.). (3) Weil die Lebenswelt der Christen in eine Lebenswelt von – zunächst als Untertanen gleichen  – Bürgern transformiert wird, kann die Frage nach dem Bürgerstatus der Juden gestellt werden. Dass sie in Preußen 1780 gestellt wird, erklärt sich jedoch nicht nur aus der Transformation der gesellschaftlichen Struktur und der mit ihr verbundenen Transformation der Weltverständnisse und Selbstbilder, sondern auch daraus, dass sich eine bürgerliche Trägerschicht (vgl. Dann 1994b: 34)44 entwickelt, welche die neue Semantik der Gleichheit prägt, trägt und jene Frage artikuliert. Seit etwa 1750 beginnen sich die weitgehend getrennten Lebenswelten von Christen und Juden, der einzigen im vormodernen Europa geduldeten religiösen 43 Deshalb ist es terminologisch problematisch, in einer ständischen sozialen Welt von Minderheiten zu sprechen (so etwa Nipperdey 1992: 290). 44 Die Literatur zur Genese des Bürgertums und seinen Lebensverhältnissen im 18.  Jahrhundert ist dem Umfang nach kaum mehr überschaubar. Mir geht es an dieser Stelle ausschließlich um die für die Transformation des Judenhasses relevanten Aspekte. Ich stütze mich insbesondere auf Rainer M. Lepsius’ Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Vergesellschaftungsprozessen, durch die er aus der heterogenen Vielfalt des Bürgertums zwei unterscheidbare Lebensweisen hervorhebt: Wirtschaftsbürgertum und Bildungsbürgertum. Vgl. Lepsius 1987, insbes. 86ff. Das Bildungsbürgertum trägt als Teil des staatlichen Verwaltungsapparates wie als zentraler Träger der sich in Salons, Lesezirkeln, Geheimgesellschaften und öffentlichen kulturellen Einrichtungen wie Theatern bildenden bürgerlichen Öffentlichkeit die Reformen in Preußen und setzt sich reflexiv mit ihnen auseinander, während das Wirtschaftsbürgertum kein bewusster Träger, wohl aber durch sein ökonomisches Handeln ein Motor gesellschaftlicher Transformation ist. Zur Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit nach wie vor: Habermas 1990, insbes. 69ff. Lepsius erklärt die Bedeutung des Bürgertums für die Zersetzung der absolutistischen Ordnung über die Kraft einer »Ordnungsidee« (Lepsius 1987: 88), der Idee der bürgerlichen Gesellschaft, die eine neue politische Ordnungsidee (Volkssouveränität), eine neue Wirtschaftstheorie (Liberalismus), eine neue gesellschaftliche Strukturvorstellung (Gleichheit) und ein neues Prinzip der Besetzung sozialer Positionen (Bildung/Leistung) umfasst, die vom Bildungsbürgertum artikuliert wird und die die verschiedenen Fraktionen des Bürgertums eint.

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Minderheit (Pulzer 1966: 13), tendenziell aufzulösen. Dieser Prozess der Auflösung, selbst Ausdruck der sozialen Transformation, kennzeichnet ein fundamental neues Phänomen in der Geschichte der Beziehung zwischen Christen und Juden in Europa. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erhielten Juden in zahlreichen Städten Niederlassungsrechte (vgl. Reinke 2007: 10).45 Dies galt insbesondere für Preußen. Hier lebten die Juden im Unterschied etwa zu Bayern, wo ihnen dies meist verboten war, im ausgehenden 18. Jahrhundert zu großen Teilen in Städten (vgl. Volkov 1994: 4). Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung schwankte regional erheblich. In Preußen lag er Mitte des 18. Jahrhunderts bei knapp 1% der Gesamtbevölkerung, 1815 etwas über 1% (vgl. JerschWenzel 2000b: 57ff.). Die überwiegende Mehrheit lebte in unsicheren ökonomischen Verhältnissen oder in Armut (vgl. Volkov 1994: 6; ausführlich: Toury 1977a, insbesondere 139-152),46 die rechtliche Lage war abhängig vom sozialen Status und insgesamt prekär, da sie die Fürsten verändern konnten und dies gelegentlich auch taten – Grundlage der Ansiedlung waren Verträge zwischen jüdischen Gemeinden und Behörden, die gekündigt werden konnten (etwa in Wien 1670 [vgl. zu den vertraglichen Grundlagen der Ansiedlung Katz 1986: 26f.]).47 Wie andere soziale Gruppen in einer ständischen Gesellschaft auch waren Juden in ihrem kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben massiven Reglementierungen unterworfen. Doch bildeten die Juden »nicht einen Stand neben anderen Ständen, sondern führten, ebenso wie in wirtschaftlicher, so auch in bürgerlich-rechtlicher Hinsicht eine Marginalexistenz im Staate« (Toury 1977a: 141).48 Für die 45 Ismar Freund setzt den Beginn dieser Entwicklung in Preußen mit dem 1671 erlassenen Edict wegen auffgenommenen 50. Familien Schutz-Juden, jedoch dass sie keine Synagogen halten an (Freund 1912, Bd. 1: 7ff.). Als zentralen Grund nennt Freund die wirtschaftlich schlechte Situation, die – wie zu dieser Zeit oft – durch Ansiedlungspolitik verbessert werden sollte. Vgl. zur weiteren Entwicklung in Preußen Freund 1912, Bd. 1: 16-30. 46 Vgl. als plastisches Beispiel das Lebenszeugnis des Isaac Thannhäuser in Richarz 1976: 100-115. 47 Die 50 jüdischen Familien etwa, die von Friedrich I. 1671 in der Mark Brandenburg angesiedelt wurden, gehörten zu den aus Wien vertriebenen Juden (vgl. Wolbe 1937: 99f.). 48 Sozial sind die jüdischen Lebenswelten hoch differenziert und mit entsprechend unterschiedlichen Rechten ausgestattet, was etwa in den Gruppenunterscheidungen im preußischen Generaljudenreglement von 1750 zum Ausdruck kommt (vgl. zu den Regelungen für die einzelnen Gruppen: Berghahn

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Randexistenz der Juden und die Entwicklung getrennter Lebensweisen waren im Kern zwei Faktoren verantwortlich (vgl. auch Bergmann/Erb 1989: 20): Einerseits die Edikte und Erlasse der christlichen Fürsten, Teil einer langen, in das 11.  Jahrhundert zurückreichenden Tradition des christlichen Judenhasses,49 die die wirtschaftlichen Handlungsbereiche der Juden einschränkten, den Lebensraum und den Status der Kinder definierten, Kleidung, Aufenthaltsrechte usw. regelten, andererseits die religiös bestimmten unterschiedlichen Lebensformen von Juden und Christen (vgl. Katz 1982d: 165f.).50 Juden lebten gemäß ihren religiösen Vorschriften in ihren Gemeinden und waren durch jene Vorschriften in ihrem Alltagsleben weitgehend auf den Umgang mit Gleichgläubigen beschränkt (dazu plastisch: Toch 2003: 35ff.). Die Lebenswelten von Christen und Juden waren sozial und räumlich weitgehend getrennt, »die Menschen gehörten entweder der einen oder der anderen an« (Katz 1982a: 25, vgl. auch Katz 1986: 31).51 Bedingung des Aufstiegs für Juden in der christlich geprägten Welt war das Bekenntnis zum christlichen Glauben, also der Ausstieg aus der jüdischen Lebenswelt. Kontakte zwischen den Lebenswelten waren meist über die Waren- und Geldwirtschaft, über, modern gesprochen, Dienstleistungen wie ärztliche Konsultationen oder Unterricht und Dienstverhältnisse vermittelt und 2000: 32-36; das Reglement selbst ist abgedruckt in Freund 1912, Bd. 2, S. 2255). Das preußische Generaljudenreglement reflektiert im Grunde die soziale Hierarchie in den jüdischen Gemeinden. 49 Die Datierung ist strittig; Parkes (1963) datiert den christlichen Judenhass auf die Zeit nach der Legalisierung der christlichen Religion im Römischen Reich, Ruether (1978) etwas früher. Strittig ist auch die Beziehung zwischen vorchristlicher und christlicher Judenfeindschaft, vgl. dazu Yavetz 1997 und insbesondere Ruether (1978). Ruether hält den christlichen Judenhass für einen neuen Faktor, der theologisch auf die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Judentum über die Messianität Jesu verweist (Ruether 1978: 33). Zu der Beziehung von vorchristlichem und christlichem Antisemitismus nach wie vor: Isaac (1969). 50 Pulzer (1992: 4) erklärt aus diesen beiden Faktoren »the cohesion of pre-modern Jewry«. 51 Plastisch ausgedrückt wird diese Trennung in Zeichnungen aus der Zeit vor dem 17. Jahrhundert, die, wenn sie Juden und Christen gemeinsam darstellen, über die Zeichen des Unterschieds wie beispielsweise den Judenhut hinaus insbesondere die Differenz der Lebensweisen und oft auch die wechselseitige Fremdheit zum Ausdruck bringen. Mosse (1971: 42) sieht in der Trennung der Lebenswelten einen sozialgeschichtlichen Grund für die ambivalente Einstellung vieler Aufklärer Juden gegenüber.

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punktuell.52 Juden und Christen waren einander im Sinne Simmels fremd, aber eben nicht im Alltag, sondern an Berührungspunkten der räumlich getrennten Lebenswelten.53 In der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts begann sich das Nebeneinander von jüdischen und christlichen Lebenswelten zu verändern.54 Zum einen entwickelte sich mit dem im 17.  Jahrhundert aufkommenden Hofjudentum eine jüdische Finanzbourgeoisie (die selbst Indikator und Produkt des Wandels zum modernen Staat ist: ihre Bedeutung und Größe erklärt sich direkt aus dem steigenden Bedarf der Fürsten an Geldmitteln). Einzelne Vertreter wurden mit dem preußischen Generaljudenreglement von 1750 als Generalprivi52 Vgl. dazu Katz 1982a: 21ff. Im Unterschied zu Katz (1982a) und Volkov (1994) vertritt Battenberg die Auffassung, dass sich im »17./18. Jh. der Alltag der jüdischen Gemeinde nicht mehr in einer gettoisierten Isoliertheit abspielte, auch wenn in vielen Städten noch immer eine relative Geschlossenheit der sozialen Beziehungen innerhalb des eruw bestand« (Battenberg 2001: 55; vgl. auch 101). Toury (1977a: 149f.) formuliert die These von der strikten Trennung der Lebenswelten am Beginn des Verbürgerlichungsprozesses der Juden schwächer und geht davon aus, dass »nur vom rein Wirtschaftlichen oder Sozialen her« wahrscheinlich 2/3 der Juden in einer vollständig anderen Lebenswelt lebten. Als sicher kann gelten, dass nur Juden, die nach dem preußischen Generaljudenreglement zu der Gruppe der Generalprivilegierten, der ordentlichen oder der außerordentlichen Schutzjuden gehörten – eine kleine Minderheit –, sprachlich und sozial in der Lage waren, einen mehr als punktuellen Kontakt mit Nichtjuden einzugehen. Aus der kritischen Haltung, mit der die Mehrzahl der rabbinischen Gelehrten dem aufgeklärten Reformismus Mendelssohns gegenübertrat, kann man weiter schließen, dass die religiös begründete Distanz der Lebenswelten wechselseitig war, d.h. ein Kontaktaufbau durch die unterschiedlichen religiösen Selbstverständnisse unabhängig von der Möglichkeit des Kontakts erschwert wurde. 53 Der Fremde Simmels, der den Juden meint, ist im Kern ein moderner Fremder, ein Fremder, der »unter uns«, nicht »neben uns« lebt, während der Fremde im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht »unter uns«, sondern »neben uns« lebt. Vgl. Simmel 1992: 764-771. Dies schlägt sich auch in der Ausrichtung der an Dohms Schrift anschließenden Debatte nieder, in der sich das Augenmerk über weite Strecken auf die Trennung der Lebenswelten und die damit verbundenen unterschiedlichen Lebensweisen von Juden und Christen richtete: So wurden beispielsweise gegen die militärische Verwendung von Juden regelmäßig die unterschiedlichen Ruhe- und Feiertage ins Feld geführt und die Speisevorschriften der Juden für soziale und kulturelle Isolierung verantwortlich gemacht. Die »Hauptschwierigkeit«, so schreibt etwa Prediger Schwager in seiner Reaktion auf Dohms Schrift, liege »in den Juden selbst«: Sie erhielten sich »unter uns noch immer als eine völlig fremde Nation«, »ihre Sitten und Gebräuche sind ganz andere« (Schwager 1973: 98). 54 Vgl. Toury 1977a: 196; Katz 1982a: 32ff.; Volkov 1994: 10; Sterling 1969: 27; Schoeps 1998: 20.

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legierte christlichen Kaufleuten rechtlich gleichgestellt und konnten Bürgerrechte erwerben (vgl. Reinke 2007: 10; Breuer/Graetz 1996: 145).55 Daneben56 bildete sich in der jüdischen Aufklärung eine kleine bildungsbürgerliche Schicht, eine »Geisteselite« (Katz 1982a: 33), die, folgt man Katz, etwa zwischen 1770 und 1780 (Katz 1982b: 86) zuerst in Berlin in Vereinen und Salons,57 den Orten der Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und bürgerlicher Lebensstile, vermehrt mit einem ebenfalls in Entstehung begriffenen Bildungsbürgertum zusammentraf, das sich von seinem christlichen Hintergrund langsam emanzipierte.58 Wie man auch die Gewichtung der einzelnen Aspekte vornehmen mag, entscheidend ist, dass es ein »tatsächliches Einrücken in die Reihen der Bürger war, durch welche die Trennungslinie zwischen Juden und Nichtjuden verwischt wurde« (Toury 1977a: 172; vgl. auch Katz 1989: 58). In dem intellektuellen Milieu der »räsonierenden Öffentlichkeit« (Habermas) der Salons werden die Fragen der Zeit zwischen aufgeklärten Bildungsbürgern und reformorientierten Adeligen erörtert, hier entwickelt sich ein zunächst sporadischer Kontakt zwischen Juden und Christen. Die Berliner Salons und andere Formen von Zusammenkünften, in denen sich beide Milieus begegneten, waren eine Art »›offener Gesellschaft‹, in der man einen damals fast sensationellen Verkehr von Adeligen und Bürgerlichen, Christen und Juden, Männern und Frauen pflegte« (Volkov 1994: 13).59 55 Der Fokus lag in dieser Zeit nicht auf »Gleichstellung«, sondern auf »Privilegierung«. 56 »The Haskalah did not emerge merely through contact with German culture and society: it had autochtonic roots« (Sorkin 1991: 186). 57 Faulstich (2002: 22) charakterisiert den Salon treffend als »Prototyp der neuen bürgerlichen Kultur«. 58 Zum beginnenden Akkulturationsprozess in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts vgl. ausführlich Jensen 2005: 46-51. 59 Jacob Katz war in einer sehr frühen Arbeit noch davon ausgegangen, dass es sich hier um ein neues Milieu gehandelt hat, in dem sich aufgeklärte Individuen jenseits der Religionszugehörigkeit als Menschen begegnet seien und das als eine »neutralisierte Gesellschaftsform« (Katz 1982a: 32ff.; so auch der Sache nach Fischer 1968: 17f.) zu charakterisieren sei. Diese Auffassung hat er nach weiteren Untersuchungen insbesondere zum beschränkten Zugang von Juden zu den Logen der Freimaurer revidiert. »Selbst da, wo Juden zu den nichtjüdischen Kreisen grundsätzlich Zutritt fanden, hat ihre Zugehörigkeit niemals den Grad der Selbstverständlichkeit erreicht« (Katz 1982b: 90; Katz 1986: 62ff.). Diese Revision scheint vor dem Hintergrund einer Grundannahme jüngerer soziologischer Milieu- und Klassentheorien, wonach der Erwerb der Umgangsformen eines fremden Milieus zwar durch Lernen befördert werden kann, im Kern

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Die Akteure dieses Milieus im ausgehenden 18. Jahrhundert waren auf beiden Seiten neue Bürgerliche, eine »Aufsteigerschicht, die außerhalb der altständischen Sozialordnung« (Wehler 2008a: 204) emporkam. Zusammen mit der finanzstarken und der sich in Anfängen entwickelnden industriellen Bourgeoisie bildeten sie den »Grundstock der deutschen Bourgeoisie« und standen in Opposition zum ständisch orientierten, traditionalen Stadtbürgertum. Der bildungsbürgerliche Teil dieses Milieus bestand aus aufgeklärten Adeligen, Privatiers, Professoren, Angehörigen der freien Berufe und einzelnen Verwaltungsbeamten60 (vgl. Vierhaus 1987: 72). Ein Teil des aufgeklärten städtischen (und später gelegentlich geadelten) Bürgertums blickte, wie Christian Wilhelm Dohm, auf eine – modern gesprochen – »Aufsteigerbiografie« zurück. Dohm, Kind eines Pfarrhaushaltes, dessen Eltern früh starben, verschaffte sich Zugang zu jenem Milieu über ein Universitätsstudium, das er eingeklagt hatte. Kurzum: Ein Teil der Akteure verkörperte biografisch die meritokratischen Prinzipien, für die dieses Milieu stand und die es vertrat, sozialen Aufstieg durch individuelle Leistung auf der Grundlage von Bildung. Auf jüdischer Seite handelte es sich um eine sehr kleine Minderheit. »Am Ende des 18. Jahrhunderts lebten in Berlin etwa 20 privilegierte jüdische Familien« (Volkov 1994: 9),61 von denen ein Teil Zugang zum Milieu des aufgeklärten Berliner Bürgertums fand. Vertreter der aber nur durch den praktischen Umgang in diesen Milieus möglich ist, hoch plausibel (vgl. exemplarisch Bourdieu [1994], im Grunde auch schon Elias [1976]). Hannah Arendt (1991: 110ff.) hat darauf hingewiesen, dass der in den Salons akzeptierte Jude ein »Ausnahmejude« war, d.h. ein Jude, der sich in den Augen der anderen von »den Juden« unterschied (etwa durch den Habitus). 60 Bestimmte Beamtenpositionen wurden in der Regel mit Adeligen besetzt und es ist strittig, inwiefern diese dem Bürgertum zurechenbar sind oder nicht (vgl. Kocka 1987: 35f.). Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich von den Kriterien ab, durch die »Bürgertum« bzw. »Bildungsbürgertum« bestimmt wird (mentalitätsorientierte Kriterien führen zu anderen Ergebnissen als milieuorientierte usw.). Ich kann hier und im Folgenden den Begriff des Bürgertums nicht über die Standardunterscheidungen (ständisches Stadtbürgertum, Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts beschleunigt sich die Entwicklung des Kleinbürgertums durch den Zerfall des Stadtbürgertums und die Industrialisierung) hinaus spezifizieren, dies ist für eine Untersuchung der antisemitischen Wissensformation auch nicht nötig (anders wäre das etwa bei einer milieuorientierten Studie). 61 Bruer (2001: 53) kommt für 1750 auf eine höhere, aber im Grunde in die gleiche Richtung gehende Zahl, 9% von 802 Erwerbspersonen. Zu den Berliner Salons und den Akteuren insbesondere auf jüdischer Seite vgl. Wolbe 1937: 214-233; Geiger 1871: 62-148.

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kleinen jüdischen Bildungselite62 können, wie Moses Mendelssohn, Marcus Herz oder Salomon Maimon, ebenfalls auf »Aufsteigerbiografien« zurückblicken.63 In diesem, in Berlin besonders ausgeprägten Klima64 machte Dohm Bekanntschaft mit Mendelssohn.65 Das neue, selbst noch randständige Bürgertum beider Milieus stand den etablierten sozialen Strukturen kritisch und reformfreudig gegenüber; erste Voraussetzungen für eine Auflösung der Trennung der Lebenswelten wurden geschaffen. Nach Mendelssohns Bibelübersetzung, die den hebräischen Text und seine Übersetzung enthielt, gründete, da die Sprache ein zentrales Hemmnis für den Zugang zum bildungsbürgerlichen und bürgerlichen Milieu war, David Friedländer, ein Schüler von Mendelssohn, 178166 in Berlin eine Schule für arme jüdische Kinder, in der diese religiös und weltlich in der deutschen Sprache unterrichtet wurden (vgl. Volkov 1994: 12), weitere Schulgründungen in anderen Städten folgten kurz darauf. 1806 erschien die von David Fränkel und Joseph Wolf gegründete Zeitschrift Sulamith, die erste jüdische Zeitschrift in deutscher Sprache.67 Ein programmatisches Ziel war die Unterweisung der Juden in »wohlanständigen«, d.h. mit der christlich geprägten bürgerlichen Kultur kompatiblen Verhaltensweisen (vgl. Volkov 2000a: 119ff. und zur beginnenden Verbürgerlichung insbes. 116-123).68 62 Sorkin (1991: 178) spricht von »subculture«. 63 Vgl. zum Kreis um Mendelssohn und zur Haskalah Breuer/Graetz 1996: 279305, Bruer 1991: 118ff. und die ausführliche Biografie Mendelssohns von Altmann (1973). 64 Weil sowohl die Verbürgerlichung des Lebensstils der noch kleinen Gruppe ökonomisch erfolgreicher Juden wie die jüdische Aufklärungsbewegung in Berlin besonders ausgeprägt waren, hält es Rürup für keinen Zufall, dass die »politische Theorie der Emanzipation der Juden zuerst in Berlin formuliert wurde« (Rürup 2010: 27). 65 Die Zeit der Salons war kurz und endete nach der Wende zum 19. Jahrhundert; das deutsche Bürgertum machte einen Prozess nationaler Schließung durch, gegen die Assimilation gab es in den jüdischen Gemeinden teils erheblichen Widerstand. Unabhängig davon schreitet die Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft rasant voran. In keinem anderen europäischen Staat haben sich Aufstieg und Verbürgerlichung der Juden so rasch vollzogen (vgl. exemplarisch: Reinke 2007: 1), vgl. dazu auch hier, Kapitel 5.1. 66 Fischer 1968: 15 und Lässig 2004: 115 datieren die Gründung auf 1778. 67 Vgl. zu den jüdischen Reformschulen ausführlich Lässig 2004: 113-154; zur Durchsetzung der deutschen Sprache (bzw. anfangs Dialekte) gegen das Jiddisch (bzw. anfangs Dialekte) Volkov 2006: 181-189; zur Zeitschrift selbst Jensen 2005: 43ff. 68 »Im Rückblick bildeten die Reform und die Öffnung des jüdischen Bildungssystems zu Wissensdisziplinen wie der deutschen Sprache oder auch der Mathe-

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So kritisch die Haltung dieses neuen Bürgertums der etablierten Ordnung gegenüber war, so kritisch standen deren Vertreter zu ihm. Das galt in besonderem Maße für das aufgeklärte jüdische Bürgertum. Die »jüdische Vorhut des Verbürgerlichungsstrebens« kehrte »nicht nur traditionellen Lebensweisen den Rücken«, sondern verließ »gerade in ihren Spitzenfamilien die jüdische Gemeinschaft überhaupt« (Toury 1977a: 196; vgl. auch Frankel 1991: 8). In der ersten Ausgabe der Sulamith wurde erklärt, »that we no longer constitute a distinct entity; but rather as citizens are merely individual members of the state. We belong to no guild and therefore must consider our brother as neither Jew nor Christian but merely as a fellow citizen« (zitiert nach Sorkin 1991: 187). Konflikte zwischen Vertretern eines reformorientierten Judentums, das insbesondere die Verbindlichkeit des Zeremonialgesetzes ablehnte (vgl. Sterling 1969: 37), Vertretern eines traditionellen Judentums und einer zunächst kleinen Gruppe säkularer Juden waren die Folge.69 Die einsetzende Verbürgerlichung70 zunächst der jüdischen Oberschicht in Berlin hat Steven Lowenstein als »Krise des Berliner Judentums« beschrieben: Während bis etwa zur Mitte des 18.  Jahrhunderts die jüdische Gemeinde »nach der alten Überlieferung« (Lowenstein 1992: 83) lebte, nahmen im letzten Drittel die Scheidungsraten in der Oberschicht zu, in vielen Fällen aufgrund der Taufe eines der Ehegatten, der einen neuen, oft adeligen christlichen matik die Voraussetzung für das Entstehen einer breiten jüdischen Mittelklasse, die ihren Lebensunterhalt dank guter Ausbildung auch als Angestellte verdienen konnte. Wenn man bedenkt, daß noch an der Wende vom 18. zum 19. Jh. die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden in bitterster Armut gelebt hatte, stellte diese Entstehung einer jüdischen Mittelklasse einen der markantesten sozialgeschichtlichen Prozesse in der jüdischen Geschichte des 19. Jhs. dar« (Bruer 2001: 55). 69 Gegen Mendelssohns Bibelübersetzung beispielsweise entwickelte sich eine erhebliche Opposition von Rabbinern, die Lesern mit dem Bann drohten (vgl. Elbogen/Sterling 1966: 154). Zu den Schwierigkeiten der Generation nach Mendelssohn, sich kulturell in einer Welt abnehmender religiöser Bindekraft zu orientieren, vgl. die knappe und eindringliche Darstellung in Elbogen/Sterling 1966: 167ff. und 201-218. 70 Zum Begriff der Verbürgerlichung vgl. Hettling 2010: 178-181. Hettling weist darauf hin, dass es sich beim Begriff der Verbürgerlichung um einen Begriff handelt, der keinen Zustand, sondern einen Prozess beschreibt, in dem das Verständnis Bürgerlichkeit selbst einem Wandel unterworfen ist.

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Partner gefunden hatte. Ebenso finden sich Berichte von Familien, die die Speise- und Sabbatgesetze nicht mehr befolgen (vgl. ebd.: 86ff.). Einzelne wohlhabende Hofjuden und Kaufleute »weigerten sich, die Urteile der rabbinischen Gerichte anzuerkennen« (Elbogen/Sterling 1966: 156f.). Gleichwohl handelte es sich, auch wenn solche Fälle Aufmerksamkeit erfuhren, um ein Randphänomen – die Verbürgerlichung der Juden war auch im ausgehenden 19.  Jahrhundert keineswegs abgeschlossen (vgl. Katz 1982d: 167ff.; dazu hier, Kapitel 5.1). Der Konflikt zwischen reformorientiertem und traditionellem Judentum zieht sich durch das ganze 19.  Jahrhundert.71 Er wird eingeleitet durch die mit der Transformation des ständischen in den modernen Staat einhergehende Zentralisierung des Rechts, die eine Schwächung der Gemeindeautonomie (Verbot der Zivilgerichtsbarkeit in den Gemeinden) und eine Beschränkung der religiösen Autonomie der Rabbiner (Bannverbot) zur Folge hatte, und beschleunigt durch das seit dem Edikt von 1812 geltende Verbot, die Zahlung von Gemeindesteuern durchzusetzen (vgl. Meyer 2000a: 106ff.).72 Der Prozess der Verbürgerlichung durch die beginnende Integration in ein neues Bürgertum, das sich neben dem altständischen Bürgertum und gegen es entwickelte und die noch schmale soziale Basis der folgenden bürgerlichen Umwälzungen bildete, war eine Emanzipation der Lebensweise von ihrer religiösen Prägung – mit einem wesentlichen Unterschied: Für die christlichen Angehörigen des neuen Bürgertums vollzieht sich die Entkoppelung als – im Grunde bis heute fortdauernder  – mehr oder weniger kontinuierlicher, im Alltag typischerweise unproblematischer Prozess, für Juden war es ein massiver Bruch zwischen alter und neuer Lebenswelt: Der Preis 71 Langewiesche (2008: 76ff.) unterscheidet in Anlehnung an Brenner u.a. für das 19. und 20. Jahrhundert vier Positionen, die sich im Judentum als Reaktion auf seine veränderte Stellung in der Gesellschaft entwickeln: eine emanzipatorische und in unterschiedlichem Ausmaß assimilatorische, eine autonomistische, die gegen einen kulturell homogenen Nationalstaat und für eine Pluralität der Kulturen in ihm argumentiert, eine zionistische und, jüngeren Datums, eine pluralistische, welche die Historizität und Veränderbarkeit von Selbstverständnissen betont und für unterschiedliche Lebensweisen plädiert, ohne eine besonders auszuzeichnen. 72 Die Einschränkung der Gemeindeautonomie ist ein Prozess, der der Etablierung eines einheitlichen, staatlich garantierten und durchgesetzten Rechts parallel läuft und den Michael Brenner in seinen Folgen klar bezeichnet hat: »Der Preis für die rechtliche Gleichstellung des einzelnen Juden im modernen Nationalstaat war die Aufgabe der kollektiven Rechte der autonomen jüdischen Gemeinde« (Brenner 2001: 587).

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für die Verbürgerlichung war die Distanz zur traditionellen jüdischen Lebenswelt und insbesondere ihren Vorschriften zur Regulierung des Alltagslebens (an diesem Bruch entsteht das Reformjudentum, das religiöse Vorschriften mit einem veränderten Alltagsleben wieder in Einklang zu bringen sucht). Wer Teil des neuen Bürgertums sein wollte, musste mit der traditionellen Lebensweise brechen.

3.2 Die Problematisierung des sozialen Orts der Juden Im ausgehenden 18.  Jahrhundert sind die eben beschriebenen Prozesse so weit fortgeschritten,73 dass der bisherige soziale Ort der Juden in der Gesellschaft in Frage gestellt werden kann. Christian Konrad Wilhelm von Dohm reflektiert den Prozess der Verbürgerlichung von Juden und Christen,74 d.h. den Beginn des realen Prozesses der Auflösung der Trennung von christlichen und jüdischen Lebenswelten, in der 1781 publizierten Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden.75 Die in dieser Schrift von Dohm erhobene Forderung, Juden und Christen im Staat rechtlich gleichzustellen, weist ihrem Gehalt nach über den erreichten Stand des gesellschaftlichen Wandels im Preußen des späten 18. und frühen 19.  Jahrhunderts hinaus  – eine Gesellschaft, die in ihrer rechtlichen Verfassung, ihrer politischen und 73 In Österreich war durch das 1781 von Joseph II. erlassene Toleranzedikt die Lage der Juden deutlich verbessert worden, in Frankreich 1784 durch Ludwig XVI. der Leibzoll für Juden aufgehoben worden. Insofern kann man sagen, dass die Besserung der Lage der Juden »an der Zeit« war. Umgekehrt ging der Vorschlag Dohms über alle bisherigen Verbesserungen hinaus, da er nicht auf Privilegierung, sondern auf die Gleichstellung von Juden zielte. 74 Peter Pulzer (1999: 277f.) hat den Zusammenhang zwischen Verbürgerlichung und Emanzipationsforderung knapp formuliert: »Ohne die allmähliche Verbürgerlichung der jüdischen Bevölkerung hätte die rechtliche Gleichstellung wenig Sinn gehabt; es hätte auch nicht die Forderung nach ihr gegeben.« 75 Die Schrift des knapp 30-jährigen Dohm geht dem Anlass nach auf eine Bitte einer jüdischen Gemeinde im Elsass an Moses Mendelssohn im Jahr 1780 zurück, gegen welche die umliegende Bevölkerung aufgehetzt worden war. Die Gemeinde bat Mendelssohn, ein Memorandum zur Verbesserung ihrer Lage an den König zu verfassen (vgl. Altmann 1973: 449-462; Reuß 1973: 20ff.). Mendelssohn wiederum bat Dohm, dieses Memorandum zu schreiben (vgl. zur Biografie Dohms: Reuß 1973: 9ff.; Weigel 2009c: 180f.). Mendelssohns Anteil am Zustandekommen der Schrift Dohms ist umstritten.

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ihrer sozialen Struktur durch einen Konflikt zwischen ständischen und bürgerlichen Organisationsprinzipien gekennzeichnet war. Tatsächlich war noch das Emanzipationsedikt vom 11.  März 1812 betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate,76 mit dem die erste Phase der Judenemanzipation77 vorerst abgeschlossen war, ein verallgemeinertes Privileg (so auch Arendt 1991).78 Auch wenn Dohms Forderung ihrem Gehalt nach über die Zeit hinausweist, so ist sie in dem Sinne an der Zeit, als sie zur rechten Zeit gestellt wird, in einer historischen Situation, in der sie rezipiert und diskutiert werden kann.79 John Toland hatte die Gleichstellung der Juden in England80 1714 in der Schrift Reasons for Naturalizing 76 Das Edikt vom 11. März 1812 ist abgedruckt in Freund (1912, Bd. 2: 455-459). Ihm waren seit den 1780er Jahren vor allem Versuche der Juden selbst vorhergegangen, ihre Lage durch Eingabe von Bittschriften zu verbessern (vgl. dazu Jersch-Wenzel 2000a: 27f.). Das Edikt erklärt in §1: »Die in unsern Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten« (Freund 1912, Bd. 455). Die folgenden §§ binden die Staatsbürgerschaft an das Führen von Familiennamen und die Verwendung der deutschen Sprache im Geschäftsverkehr (§2-4). Werden die Bedingungen erfüllt, »genießen« sie »gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen« (§7); hervorgehoben werden Niederlassungsfreiheit (§10), Grundstückserwerbsfreiheit (§11), Gewerbefreiheit (§12), Aufhebung von Sonderabgaben (§14), Militärdienst (§16). Juden können Lehr-, Schul- und Gemeindeämter bekleiden, die Zulassung zu weiteren Stellen in der öffentlichen Verwaltung und der Justiz wird auf spätere Edikte verschoben (§8f.). 77 Vgl. zu dieser Phasenunterscheidung Rürup 1987: 14ff. 78 Vgl. auch Wehler (2008a: 408). Gleichwohl war mit dem Edikt in Preußen ein Prozess in Gang gesetzt, in dem »die Rechtsgleichheit aller Menschen als Kernbestand bürgerlich-liberaler Postulate« (Wehler 2008a: 408f.; so auch Koselleck 1989a: 60) zunehmend ernst genommen wurde. Arendt (1991: 69) vergleicht die politische Bedeutung des Edikts eben wegen der generalisierenden Regelung mit der Emanzipation der Juden in Frankreich 1792. 79 Der politische Einfluss der Schrift auf den Fortgang der rechtlichen Gleichstellung der Juden stand in keinem Verhältnis zu dem Einfluss auf die Debatte über diesen Fortgang. In Preußen war der politische Einfluss des Humboldt’schen Gutachtens erheblicher, außerhalb Preußens war die Emanzipation unter der französischen Besatzung vollzogen worden. »Verfolgt man den aufgeklärten Diskurs um die bürgerliche Verbesserung der Juden bis 1806, so wird deutlich, daß Dohms Minimalkonzept nicht einmal von der recht schmalen Aufklärungselite getragen wurde und die Regierungen der führenden deutschen Staaten trotz dringender Erfordernisse nicht in der Lage waren, die Reformkonzepte in die Realität umzusetzen« (Herzig 1991: 140). 80 In Frankreich begann die Diskussion um die Emanzipation der Juden in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. Da sie sich auf einer vergleichbaren Grundlage erhob, waren auch die Argumente vergleichbar, vgl. dazu Weiss 1997: 78ff.

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the Jews in Great Britain and Ireland mit vergleichbaren Argumenten  – Toleranz, bürgerliche Gleichheit, Bevölkerungswachstum als Grundlage staatlicher Wohlfahrt – ebenfalls gefordert.81 Doch diese Schrift war nicht in, sondern vor ihrer Zeit  – 1715 erschien eine Gegenschrift, die ebenso wie Tolands Schrift von den Zeitgenossen ignoriert wurde (vgl. Mainusch 1965: 9; Berding 1988: 21).82 Die Diskussion der »Judenfrage« nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen nicht nur auf, sondern verstärkt sie: Mit der Stellung der »Judenfrage« wird die Trennung von Staat und Gesellschaft nicht nur artikuliert, sondern semantisch vorangetrieben. Die Figur des Bürgers – in der Juden und Christen als Gleiche gedacht werden –, in der societas civilis der, der über politische Macht verfügt, wird bei Dohm verallgemeinert und entpolitisiert: Bürger ist der in der Handlungssphäre der Gesellschaft allen Gleichgestellte, der im Staat Untertan ist.83 Träger bürgerlicher Rechte realisieren in der bürgerlichen Gesellschaft individuelle Zwecke, und das können sie, weil ihr Status als Untertan im Staat allen anderen Zugehörigkeiten übergeordnet ist.84 So verhält es sich auch mit der Differenzierung von organisierter Religion und Staat: Die Figur des Untertanen, in der die Einheit der Konfessionen im Staat, einer von der religiösen getrennten und unter81 Vgl. Toland 1965: 42-48. Toland argumentiert, dass eine Einbürgerung der Juden erstrebenswerter als die einiger anderer Gruppen sei (vgl. Toland 1965: 52ff.). Das Argument, das auf die Bevölkerungszahl als Grundlage der Wohlfahrt verweist, taucht fast wortgleich bei Dohm wieder auf: »We all know that numbers of people are the true riches and power of any country« (Toland 1965: 46, vgl. auch 86). 82 Aus diesem Grund wird Toland bis heute eher beiläufig erwähnt (eine Ausnahme macht Katz 1989: 33f.). 83 Dohm selbst gebraucht den Begriff Staatsbürger nicht, er hätte im damaligen Kontext auch keinen Sinn gehabt. Als Kant in der Metaphysik der Sitten 1797 den Terminus Staatsbürger verwendete, wurde er »von den Zeitgenossen als Neologismus empfunden und stieß anfangs auf Ablehnung« (Riedel 1975: 253). Da der Sache nach die rechtliche Gleichstellung der Juden gemeint ist, sich die an Dohm anschließende Diskussion auf diesen Terminus bezieht und das Edikt 1812 explizit von den Juden als Staatsbürgern spricht, verwende ich ihn im Folgenden. 84 Die Unterscheidung von Bürger und Untertan bildet die Grundlage der Repolitisierung der Figur des Bürgers in der von Rousseau geprägten (und von Kant aufgenommenen) Unterscheidung von bourgeois und citoyen (vgl. Riedel 1994a: 692f.; Rousseau 1988: 49, FN 4; Kant 1973a: 92f.), in der der Begriff des citoyen allerdings noch lange an die Verfügung über Eigentum gebunden bleibt – nicht alle Untertanen sind auch Bürger (die Konsequenzen formaler politischer Gleichheit für das antisemitische Wissen diskutiere ich im übernächsten Kapitel).

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schiedenen Handlungssphäre, artikuliert wird, wird der Zugehörigkeit zu einer Religion übergeordnet, die Glaubenspraxis also der Tendenz nach privatisiert und individualisiert und einem vom politischen und ökonomischen getrennten Handlungsbereich überantwortet. Mit der Stellung der »Judenfrage« wird die bürgerliche Gleichheit von Christen und Juden zum ersten Mal in der Geschichte des christlichen Europas möglich. An Dohms Schrift von »epochemachender Bedeutung« (Berding 1988: 25; vgl. auch Berding 1996: 194; Rürup 1997: 120) – epochal, weil sie Anstoß und Bezugspunkt des folgenden Jahrhunderts der Emanzipation der Juden und der Debatte darum war  – schloss sich eine öffentliche Kontroverse zwischen Gegnern und Unterstützern seiner Forderungen an (vgl. Löwenbrück 1995: 154; zu einzelnen Beiträgen in dieser Kontroverse: Best 2001): Die Schrift war einerseits eine Grundlage der Reform der Judengesetzgebung in Preußen, sie bildete andererseits Anlass und Bezugspunkt der Formierung des modernen Antisemitismus. Für die Gegner der rechtlichen Gleichstellung der Juden änderte sich mit Dohms Vorstoß im Grunde alles: »Juden wurden nicht länger als am Rand der Gesellschaft und des Staates lebend gesehen, sondern man sah sie auf dem Vormarsch ins Zentrum« (Katz 1989: 63). Jede neue Judenordnung in den vorherigen Jahrhunderten ging von der gesellschaftlichen Randexistenz der Juden aus und bestätigte sie. Dohm forderte, die Judenordnungen selbst aufzuheben  – und damit den tradierten sozialen Ort der Juden. Juden sollten nicht mehr neben der christlichen Gesellschaft leben, sondern in einer bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Berding 2000: 65). Mit der Problematisierung des sozialen Orts der Juden geht erstens ein neues Verständnis der Beziehung von Juden und Nichtjuden einher: Juden werden zu einer Minderheit. Als Minderheit werden sie schon bei Dohm, der ein  – modern gesprochen – staatliches Integrationsprogramm entwirft, Objekt staatlicher Integrationspolitik. Zweitens eröffnet jene Problematisierung die Diskussion der »Judenfrage« als Assimilationsfrage. Drittens setzen an ihr die in der Diskussion der »Judenfrage« rasch geäußerten Forderungen nach Vertreibung an. Auch in den Jahrhunderten des christlichen Antisemitismus ist Vertreibung von Juden gefordert und praktiziert worden,85 aber in einem anderen Kontext: Die bürgerliche 85 Mit der Durchsetzung des Christentums in Europa »the expulsion of Jews began in earnest«, aus England und Süditalien 1290, aus Frankreich 1306 und 1394, aus vielen Teilen Deutschlands 1350, aus Spanien 1492 und Portugal 1497 (Langmuir 1990: 303).

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Forderung nach Vertreibung86 will in dieser frühen Phase verhindern, dass Juden Teil der Gesellschaft werden. Darauf hätte in einer christlichen Gesellschaft niemand kommen können.

3.2.1 Dohm und die »bürgerliche Verbesserung« der Juden Im Zentrum von Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden steht eine Neubestimmung der Regeln der Zugehörigkeit, die ich im Folgenden entwickeln werde. Für Dohm sind Juden und Christen zuerst Menschen. Das qualifiziert beide zu Bürgern im Staat. Dohm entkoppelt im Hinblick auf den Status des Bürgers Herkunft und soziale Position (1). Infolge dieser Entkoppelung stellt sich die bisherige Geschichte von Christen und Juden als illegitime Unterdrückung von Juden durch Christen dar. Mit der Neubestimmung von Zugehörigkeit sind also veränderte Zuschreibungen verbunden (2). (1) Eine bürgerliche Gesellschaft ist nach Dohm durch »Glieder« gekennzeichnet, die »nach mannichfachen Beziehungen in verschiedene abgesonderte Verbindungen und einzelne kleinere Gesellschaften vereint« (Dohm 1973a: 25) sind. »Jede derselben hat ihre eigenthümliche[n] Grundsätze, flößt den Ihrigen eigne Gesinnungen und Vorurtheile ein, giebt ihnen eignen Kreiß und besondere Beweggründe der Thätigkeit und Ausbildung. Jede dieser Verbindungen legt sich selbst höhere Vorzüge bey, und unterscheidet sich von den Menschen ausser derselben auf eine für diese mehr oder weniger nachtheilige Art. So trennt sich Adel, Bürger und Bauer; Städter und Landmann, Krieger und Unbewafneter; Gelehrter und Laye; Künstler und Ungeweihter. So scheidet eine Zunft, ein Gewerbe, ein Geschäft im Staat, seine Genossen von allen übrigen ab, und so scheiden sich Christ, und Jud und Muselmann, die Anhänger des Ali und des Osmann, die Verehrer des Pabsts und Luthers, Socins und Calvins, die portugiesischen und die polnischen Hebräer« (Dohm 1973a: 25f.). Für Dohm ist die Gesellschaft nicht eine, sondern aus vielen unterschiedlichen sozialen Gruppen zusammengesetzt, die sich gegen86 Zu diesen Forderungen ein guter Überblick in Jansen 1997: 35-42; Bergmann/ Erb 1989: 97-135.

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einander isolieren und auf Prinzipien beruhen, die sich wechselseitig ausschließen. Die Aufgabe des Staates sei es, »die ausschliessenden Grundsätze aller dieser verschiedenen Gesellschaften« auf eine Weise zu mildern, dass sie für die »grosse Verbindung, die sie alle umfaßt«, nicht zum Nachteil werden, sondern zum Vorteil, d.h. dass die Trennungen »den Wetteifer und die Thätigkeit wecken, und daß sie sich alle in der grossen Harmonie des Staates auflösen« (Dohm 1973a: 26). Die Unterschiede zwischen den Gruppierungen sind nach dieser Auffassung nur sekundär und vereint in der alle umfassenden Gemeinsamkeit, Bürger des Staates zu sein.87 Die Regierung habe ihr Ziel, die soziale Integration der »Glieder«, erreicht, wenn »der Edelmann, der Bauer, der Gelehrte, der Handwerker, der Christ und der Jude noch mehr als dieses, Bürger, ist« (Dohm 1973a: 26). Dohm akzeptiert ständische Ungleichheit oder konfessionelle bzw. religiöse Unterschiede, er fordert ersichtlich nicht die Verleugnung oder Abkehr von religiösen oder anderen Zugehörigkeiten, sondern deren Unterordnung unter die Zugehörigkeit zum Staat. Weil die Staatszugehörigkeit, der Status des Untertanen, allen anderen Zugehörigkeiten übergeordnet ist, tritt der Staat seinen Angehörigen als eine einheitsstiftende Kraft gegenüber. Im Hinblick auf ihn sind sie unabhängig von aller anderen Zugehörigkeit »Bürger«, d.h. mit individuellen Rechten ausgestattete Personen, und in dieser Eigenschaft sind alle nicht ungleich, sondern gleich. Die Gleichheit als Bürger wird von Dohm auf ihr Dasein als Menschen bezogen,88 das allen Bürgern unterschiedslos zukommt. »Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude, und wie wäre es möglich, daß er einen Staat nicht lieben sollte, in dem er ein freyes Eigenthum erwerben, und desselben frey geniessen könnte, wo seine Abgaben nicht grösser als die anderer Bürger wären, und wo auch von ihm Ehre und Achtung erworben werden könnte?« (Dohm 1973a: 28) Dohm verankert die bürgerliche Gleichheit der Angehörigen der Stände, Religionen usw. anthropologisch in deren Mensch-Sein. 87 Dohm fordert nicht die Auflösung partikularer Gruppen, sondern ihre Unterordnung. Nur im ersten Fall hätte Pulzer (1992: 31) mit seiner These recht, »the ideal was a direct relationship between the individual and the state, unimpeded by the pluralism of autonomous groups or the retention of tradionalist practices«. 88 Das Argument findet sich ebenfalls bei Toland (1965: 42f.).

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Gleichheit bezeichnet nicht mehr – aber auch nicht weniger – als die Gleichheit von Angehörigen unterschiedlicher Stände usw. im Hinblick auf eine soziale Position im Staat, des Status des Bürgers, den er als (steuerzahlender) Untertan erlangt. Weil die Gemeinschaft den Status des Bürgers allen Differenzen gruppenspezifischer Wertorientierungen und Lebensführungen übergeordnet und nicht an die Zugehörigkeit zu einer besonderen Gemeinschaft gebunden ist, kann die Zugehörigkeit zu einer besonderen Gemeinschaft und insbesondere zu einer Religionsgemeinschaft kein Kriterium mehr sein, das sich auf die individuelle Rechtsstellung im Staat auswirkt. Daher können und sollen Juden über gleiche bürgerliche Rechte wie Christen verfügen. Der Begriff des Bürgers wird verallgemeinert89 – alle können Bürger sein  – und durch diese Verallgemeinerung gleichzeitig auf den Handlungsbereich der bürgerlichen Gesellschaft restringiert. Der Status eines Bürgers garantiert diesem die Verfolgung seiner privaten Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft. Im eigentlichen Sinne politisch agiert nicht der Bürger, sondern der Monarch. Diese aufgeklärt absolutistische Idee der Gleichheit ist »von der Notwendigkeit der Erhaltung und Abgrenzung der Stände überzeugt« (Vierhaus 1994: 119), aber eben unterhalb der Untertanenschaft der Angehörigen im Staat. Loyalität von Seiten der Bürger erfährt ein solcher Staat nach Dohm zum einen durch seine Indifferenz gegen religiöse Organisationen, die es zudem diesen Organisationen schwer mache, »ihren Verehrern ausschliessende Grundsätze einzuflössen« (Dohm 1973a: 87), zum anderen durch gleiche bürgerliche Freiheitsrechte: »Der Genuß der Freyheit in Absicht jener nur eigenen Einsichten folgen zu dürfen, macht den Bürgern den Staat, der ihn gestattet, noch lieber, und zugleich alle Pfeile der Schwärmerey stumpf« (Dohm 1973a: 86f.). (2) Wenn Juden und Christen »mehr Menschen« als Angehörige unterschiedlicher Religionen sind, können sich die Sonderrechte, denen Juden unterworfen sind, nicht länger aus einer religiösen Differenz legitimieren lassen. Diese Form der Legitimation wird bei Dohm konsequent zu einem Element einer »finsteren«, unaufgeklärten Vorzeit. Die unterschiedliche soziale Lage von Juden und Christen wird in dieser Perspektive als Folge der Unterdrückung von Juden durch Christen verstehbar. Mit der Überordnung der Zugehörigkeit zum 89 Claussen (1987c: 57) hebt diesen Punkt in seiner Interpretation hervor.

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Staat über andere Zugehörigkeiten wird also ein fundamental anderes Wissen über die Geschichte von Christen und Juden möglich, in dem die soziale Ungleichheit von Christen und Juden nicht durch ein christliches Selbstbild legitimiert ist. Umgekehrt: Die ungleiche soziale Stellung von Christen und Juden delegitimiert ein christliches Selbstbild. Die Geschichte der Beziehung von Christen und Juden stellt sich diesem Wissen als eine Geschichte ungerechtfertigter Unterdrückung dar, die in der Gegenwart durch eine Verbürgerlichung von beiden überwunden werden kann. Die »drückende Verfassung, in der sie noch izt in den meisten Staaten leben, [ist] nur ein Überbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurtheile der finsteren Jahrhunderte, also unwürdig sey in unsern Zeiten fortzudauern« (Dohm 1973a, Vorerinnerung: 3). In dieser Perspektive werden die »Fehler« der Juden, im christlichen Judenhass Anlass ihrer Verfolgung, zum Produkt dieser Verfolgung. Juden seien »nur deßhalb als Menschen und Bürger, verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beyder versagt« (Dohm 1973a, Vorerinnerung: 3) habe. Dohm übernimmt die meisten Stereotype seiner Zeit, aber diese legitimieren nicht die Ausgrenzung von Juden, sondern delegitimieren den christlichen Judenhass. Die Einsicht, dass es sich bei antisemitischen Stereotypen nicht um Eigenschaften von Juden, sondern um Produkte sozialhistorischer Prozesse handelt, ist nicht weniger als eine frühe Form der für eine Theorie des Antisemitismus grundlegenden Annahme, dass antisemitische Stereotype Zuschreibungen von Antisemiten sind. In diesem Sinne kann man sagen, dass Dohms Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Juden und Christen im Staat ein Wissen ermöglicht, in dem eine Theorie des Antisemitismus formuliert werden kann. Wenn die »Fehler« der Juden als Folge von Unterdrückung verstanden werden können, sind sie durch Aufhebung der Unterdrückung veränderbar. Entsprechend formuliert Dohm, dass eine »bürgerliche Verbesserung der Juden« diesen ermögliche, »nützlichere Glieder der bürgerlichen Gesellschaft« (Dohm 1973a, Vorerinnerung: 5) zu werden. Dies werde ›manche […] tief verwurzelte Fehler binnen drei oder vier Generationen ganz verschwinden‹ lassen (Dohm 1973a: 87).

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3.2.2 Assimilation als »unintendierte Folge« der Emanzipation Für Dohm ist ein administratives Bildungs- und Erziehungsprogramm das Mittel, die »Fehler« der Juden zum Verschwinden zu bringen.90 Im Staatsverständnis des aufgeklärten Absolutismus kommt dem Staat die Aufgabe zu, seine Untertanen zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu erziehen (vgl. Vierhaus 1994: 512ff.). In diesem Sinne ist es für Dohm die Aufgabe des Staates, nicht nur durch eine Veränderung der Rechtslage der Juden, sondern darüber hinaus durch staatsbürgerliche Erziehung von Juden und Christen (Dohm 1973a: 120-123) zu einem zukünftig auskömmlichen Miteinander beizutragen, d.h. zu einem Verhältnis der Religionsgemeinschaften im Staat, das der allgemeinen Wohlfahrt dienlich ist. Entsprechend kombinieren die Vorschläge, die Dohm schließlich zur Verbesserung der Lage der Juden macht, utilitaristisches Kalkül und staatliches Erziehungsprogramm: Juden müssten erstens »gleiche Rechte mit allen übrigen Unterthanen erhalten« (Dohm 1973a: 110), zweitens die »vollkommene Freiheit der Beschäftigungen und Mittel des Erwerbs« (Dohm 1973a: 111). Die Regierung solle insbesondere die Ausübung von Handwerksberufen fördern, etwa indem sie Regelungen erlässt, die Familienvorstände zwingen, die Erstgeborenen in einen Handwerksberuf zu geben. Drittens sollte der Ackerbau Juden freistehen, der Staat aber nicht den Großgrundbesitz von Juden unterstützen, sondern eine selbstarbeitende jüdische Bauernschaft (Dohm 1973a: 114f.). Viertens sollte »jede Art des Handels […] den Juden unverwehrt seyn« (Dohm 1973a: 116), der Staat aber Juden verpflichten, Handelsbücher in der Landessprache zu führen und Betrug hart bestrafen. Der Staatsdienst sollte Juden fünftens offenstehen. Solange sie aber nicht »zu völlig gleichen Bürgern umgeschaffen und alle Unterscheidungen abgeschliffen seyn werden« (Dohm 1973a: 120), solle der Staat bei konkurrierenden gleichwertigen Bewerbungen von Christen und Juden Christen den Vorzug geben. 90 Mit den aufklärerischen Ideen und den sich etablierenden Trägermilieus kam es im 18. Jahrhundert zu einer massiven Aufwertung des Bildungsbegriffs (Wehler 2008a: 214), der seit der Mitte des 18.  Jahrhunderts zunehmend pädagogisch gebraucht und in den 70er und 80er Jahren synonym mit Erziehung verwendet wurde (vgl. Vierhaus 1994: 511). Dass Gruppen in dieser Zeit als Objekte staatlicher Erziehungspolitik betrachtet wurden, war keineswegs ungewöhnlich. Für die »Zigeuner« wurde dies 1783 in einer Schrift von Heinrich Grellmann gefordert. Vgl. dazu Zimmermann 2007: 310f.

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»Sechstens müßte es ein besonders angelegenes Geschäft einer weisen Regierung seyn, für die sittliche Bildung und Aufklärung der Juden zu sorgen, und dadurch wenigstens die kommenden Geschlechter einer milderen Behandlung und des Genusses aller Vortheile der Gesellschaft empfänglicher zu machen« (Dohm 1973a: 120). Siebtens solle sich der Staat darum bemühen, durch Erziehung »den Christen ihre Vorurtheile und ihre lieblose Gesinnung zu benehmen« (Dohm 1973a: 122). Achtens müsste den Juden freie Religionsausübung gewährt werden, »wie jede kirchliche Gesellschaft müßte auch die jüdische das Recht der Ausschließung auf gewisse Zeiten oder immer haben, und im Fall einer Widersetzung das Erkenntniß der Rabbinen durch obrigkeitliche Hilfe unterstützt werden« (Dohm 1973a: 124).91 Der neunte und letzte Punkt vervollständigt den achten. Dohm fordert, dass der Staat Juden ermöglichen soll, nach ihren religiösen Gesetzen zu leben. Die Ambivalenz bzw. Widersprüchlichkeit der Vorschläge Dohms ist oft hervorgehoben worden (so schon Reuß 1973: 26-34; Berghahn 2000: 147). Sie ist eine Folge von Annahmen, die über die rechtliche Gleichbehandlung hinausgehen und das bürgerliche Alltagsleben betreffen, insbesondere eine annähernde Gleichverteilung der von Juden und Christen ausgeübten Berufe, worauf die ersten drei Vorschläge zielen. Weil bei Dohm formale Gleichheit als Bürger und Gleichverteilung der ausgeübten Berufe zusammenfallen, artikuliert er auf der Ebene der Forderungen Zwangsmaßnahmen, mit denen eine solche Gleichverteilung erreicht werden kann. Auch das staatliche Erziehungsprogramm lässt sich so nur formulieren und durchsetzen, wenn der »sittliche Bildungsauftrag des Staates« vom religiösen Bildungsauftrag unterschieden und diesem übergeordnet wird. Beides führt im Resultat zu einer Assimilation der Juden, die etwa ihre Sprache im bürgerlichen Alltag aufgeben und ihre religiöse Lebenspraxis ihm gemäß einrichten müssen. Doch ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Assimilation die Verwandlung von Angehörigen einer religiösen Ge91 In diesem Punkt stimmten Mendelssohn und Dohm nicht überein. Mendelssohn lehnte eine eigenständige jüdische Gerichtsbarkeit ab (vgl. Berghahn 2000: 145; Gründer 1994: 47).

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meinschaft in Träger individueller Rechte und deren Folgen bezeichnet. Assimilation bedeutet bei Dohm nicht die Aufgabe einer religiös motivierten Lebensweise, sondern deren Unterordnung unter eine bürgerliche Lebensweise. Das bedeutet: Unterordnung der Rechte religiöser Gemeinschaften unter die Rechte von Individuen als Untertanen im Staat. Dieser Zusammenhang von Emanzipation und Assimilation ist in der Sekundärliteratur bemerkt und in Ausnahmefällen als judenfeindlich interpretiert worden.92 Die Interpretation greift jedoch zu kurz: Dohm versteht unter Assimilation gerade nicht die Integration in »eine christliche oder nationale, sondern in die bürgerliche Gesellschaft« (Vierhaus 1994: 121). Aufgabe der Regierung ist es nach Dohm, den Einfluss der religiösen Grundsätze durch Beförderung der »allgemeine[n] Aufklärung der Nation und ihre von der Religion unabhängige Sittlichkeit« (Dohm 1973a: 27) einzuschränken. An dieser Stelle spricht Dohm – wie an vielen anderen auch – nicht von Juden, die ihre Religion aufgeben sollen, sondern von der Religion im Allgemeinen. Für Juden gilt, was für die Angehörigen der christlichen Konfessionen auch gilt: Religiöse Lebensweisen werden toleriert, solange sie mit dem Status des Bürgers vereinbar sind (so auch Schlegel 1785: 36). Diese Unterordnung religiöser Gruppenzugehörigkeiten unter individuelle Bürgerrechte führt langfristig zu einem Bedeutungsverlust religiöser Selbstbilder oder zur Assimilation von Angehörigen von Religionsgemeinschaften an eine bürgerliche Lebensweise: »Vorzüglich aber würde der Genuß der bürgerlichen Glückseligkeit, in einem wohlgeordneten Staat, und die solange versagten Freiheiten, die ungeselligen Religionsmeinungen verscheuchen« (Dohm 1973a: 27). Wenn mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft die religiösen Überzeugungen mit der Zeit die Fähigkeit verlieren, das Alltagsleben zu strukturieren, ist das für Dohm kein Nachteil und darüber hinaus seine Erwartung: Im Ergebnis werde die »religiöse Anhänglichkeit« von Juden »in eben dem Maaße abnehmen, in welchem sie durch bürgerliche sich fester an den

92 »Aus heutiger Sicht besteht Einvernehmen darüber, daß gerade dieser Erziehungsgedanke, der bis in die jüngste Zeit tradiert wurde, im Kern judenfeindlich war und sich verhängnisvoll ausgewirkt hat, weil er eine Minderheit gesellschaftlich unsichtbar machen wollte.« Zusammenfassung der Diskussion des Beitrags The Historical Context of Dohm’s Treatise on the Jews von Robert Liberles (1986: 68).

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Staat verbinden« (Dohm 1973b: 174).93 Die Forderung nach Assimilation, wie sie von Dohm artikuliert wird, reflektiert also das für eine moderne Gesellschaft charakteristische Auseinanderfallen der Integration von Personen in einen Personenverband und der Integration von Personen als Träger von Rechten in soziale Systeme, das ich im letzten Kapitel anhand der Unterscheidung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung oder Systemintegration erörtert habe. Die »Abnahme« religiöser Bindungen ist für Dohm weder eine bewusst intendierte Folge der bürgerlichen Verbesserung der Juden, noch, wie das in der späteren Emanzipationsdiskussion oft gefordert wurde, eine Voraussetzung der Emanzipation. Für Dohm ist sie eine Nebenfolge (diese Position ist unter den Befürwortern der Emanzipation gängig, vgl. exemplarisch Schlegel 1785: 37f.), und zwar eine zwingende: Assimilation meint Verbürgerlichung der Lebensweise, und Verbürgerlichung im Kern die Herauslösung von Individuen aus gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen durch Zuschreibung von bürgerlichen, an die Rechtsperson gebundenen Freiheitsrechten, also Individualisierung. Der Frage, ob Juden schließlich Juden blieben oder nicht, steht Dohm indifferent gegenüber: »Was kümmert dies einen Staat, der nichts weiter von ihnen verlangt, als daß sie gute Bürger werden, sie mögen es übrigens mit ihren Religionsmeynungen halten, wie sie wollen?« (Dohm 1973b: 174).94 93 Diese Position vertritt auch Heinrich Diez. Zur Unterstützung der Forderungen Dohms entwickelt er das folgende Argument: »Was Freyheit und Milde aus dem Judenthum machen werden, lässt sich am Beyspiel des Christenthums und der jüngsten Denkfreyheit sehr klar beweisen« (Diez 1783: 14f.). Der »aufgeklärtere Theil der Nazion würde sie vergessen oder mit eben der Gleichgültigkeit von ihr geredet haben, die wir bey einigen heydnischen Schriftstellern antreffen, wenn nicht unmenschliche Regenten […] die Religion immer höher geschwungen hätten« (Diez 1783: 15f.). Diez geht über Dohm hinaus. Er fordert die rechtliche Gleichstellung der Juden ohne weitere staatliche Einschränkungen und die Anerkennung des Judentums als Religion (Diez 1783: 13). Dann würden sich Juden an eine »freyere Denkungsart gewöhnen«; der aufgeklärtere Teil würde, wie bei den Christen auch, die Religion mit der Zeit »vergessen«. Der Tenor ist auch bei Diez nicht Assimilation, sondern Integration von Juden in eine bürgerliche Gesellschaft, in der nicht die Religion, sondern der Verstand die Lebensweise bestimme (vgl. Diez 1783: 29f.). 94 Berghahn (2000: 148f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer »kalten Indifferenz gegenüber der jüdischen Religion«. Das ist sicher richtig für die Person. Das Judentum war Dohm fremd, das Christentum nicht. Wenn man die Überlegung nicht auf die Person, sondern auf die Position bezieht, kommt man jedoch nicht umhin, für das Christentum die gleiche Indifferenz anzunehmen. Sie ist eine Folge der Überordnung des Staates über die Religion. Dass

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Dohms Begriff bürgerlicher Gleichheit ist folglich nicht mit Gleichförmigkeit zu verwechseln: Gleichheit im Sinne von Gleichförmigkeit postuliert über einen formalen Rechtsstatus von Individuen hinaus eine verbindliche Lebensweise. Auf Gleichförmigkeit zielt nach Dohm die Aufgabe des Staates »vor allem darin [bestehe], die religiöse Entwicklung der Menschheit voranzutreiben« (Detering 1985: 181), ist mit der bisherigen Darlegung der Position Dohms nicht vereinbar. Enzo Traverso geht davon aus, dass Dohms Position die Gleichheit der Menschen voraussetze, dies bei Dohm aber nicht eine »Gleichheit zwischen Juden und Deutschen bedeutete, sondern eher die Fähigkeit der Juden, sich zu germanisieren« (Traverso 1993: 25f.). In vergleichbarer Weise argumentieren auch Steffi Jersch-Wenzel, Renate Best und Christine Achinger: Nach Dohm solle die bürgerliche Verbesserung der Juden »schrittweise erfolgen, entsprechend den Ergebnissen des geplanten langwierigen Entwicklungsprozesses, der ihre Anpassung an Sprache, Sitten und Wertvorstellungen der christlichen Umgebung zum Ziel hatte« (JerschWenzel 1983: 24). Nach Best »setzt« Dohm darauf, »durch Erziehung eine völlige Assimilation an die nichtjüdische Gesellschaft zu erreichen« (Best 2001: 176). Achinger (2007: 43) geht ebenfalls davon aus, dass Dohm ein Modell einer »schrittweisen, an Bedingungen geknüpften Emanzipation« vertrete. Berding (1988: 25) nimmt an, das Dohm, »wie fast alle zeitgenössischen Befürworter des Emanzipationsgedankens«, davon ausging, »daß im Zuge der rechtlichen Gleichstellung und der gesellschaftlichen Integration die Juden wirtschaftlich, sozial und kulturell vollständig mit ihrer Umwelt verschmelzen, also ihre Gruppeneigenarten verlieren würden.« Diese Positionen sind durch den Dohm’schen Text in nur begrenztem Ausmaß gedeckt: Dohm unterscheidet erstens nicht zwischen Deutschen und Juden, sondern zwischen religiöser Zugehörigkeit und Untertanenschaft im Staat als Bürger und zweitens steht er der religiösen Praxis der Juden indifferent gegenüber. Dohm hat auch nicht, wie Jersch-Wenzel, Traverso (ebd.), Goldhagen (1996: 79f.) und Best behaupten, intentional auf eine Assimilation der Juden gezielt. In vergleichbarer Weise argumentiert auch Altgeld (1992: 102): »Dohm setzt von seinem Begriff des Menschen, der Religion und des Judentums her ganz selbstverständlich voraus, daß die Juden ihrerseits den Preis derartig vollständiger Assimilation, das heißt: weitgehenden Identitätsverlustes, für die bürgerliche Gleichberechtigung bereitwillig würden zahlen wollen.« Mosse (1991: 142) ist der Auffassung, dass Dohm die Emanzipation der Juden davon abhängig mache, dass diese sich ihrer »Religion entledigten«. Tatsächlich erklärt Dohm, dass »die Juden« in ihrer Religion »Vorurtheile« haben, »die sie in gewissem Grade unfähig machen, alle Pflichten zu erfüllen, die der Staat von seinen Bürgern verlangt« (Dohm 1973b: 175). Doch geht er erstens davon aus, dass diese nach einer Emanzipation an Bedeutung verlieren würden. Zweitens gilt bei Dohm für alle religiösen und anderen Zugehörigkeiten, dass sie nur so lange als legitim gelten können, als sie der Rechtsordnung nicht zuwiderlaufen. Anders als die bisher genannten Autorinnen und Autoren dagegen Pulzer 1999: 274f. und Salecker 1999: 98-114, insbes. 111. Salecker interpretiert Dohms Schrift als »liberal-aufklärerisches Lavieren zwischen der Anerkennung der Autonomie der Individuen und der Notwendigkeit, den Staat als Motor der Liberalisierung einzusetzen« (Salecker 1999: 113).

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die Forderung nach der Anpassung der Lebensweise einer Minderheit an die einer Mehrheit. Für Dohm kommt eine verbindliche, d.h. von allen zu teilende Lebensweise aber nur als negatives Kriterium in Betracht. Verbindlich ist die individuelle Freiheit der Untertanen in der bürgerlichen Gesellschaft, also, modern gesprochen, der Pluralismus der Lebensformen, solange dieser ihre Koexistenz im Staat nicht beeinträchtigt. Deshalb ist auch eine Autonomie der jüdischen Gemeinden in religiösen Fragen für Dohm so unproblematisch wie die anderer Gemeinden bzw. Kirchen. Eine Interpretation, die davon ausgeht, die Beschränkung der Gemeindeautonomie auf religiöse Fragen sei »nur ein Aspekt des modernen Drangs nach Gleichförmigkeit« (Bauman 1992: 145), geht daher zu weit. Baumans Kritik lässt sich in dieser Ausschließlichkeit nur formulieren, wenn man »Moderne« nicht auch als Differenzierung von Handlungsbereichen und Pluralisierung von Lebensweisen, sondern einzig als monolithischen Block begreift (diese Kritik äußert auch Volkov 2006: 168). Selbstverständlich ist mit der neuen Semantik bürgerlicher Gleichheit ein repressiver Homogenitätsanspruch verbunden. Homogenisierend ist das Konzept Dohms (und der anderen Befürworter der Emanzipation der Juden), insofern es die Trennung von Religion und Staat und  – jedenfalls der Tendenz nach  – den Individualismus der Lebensform in der bürgerlichen Gesellschaft als verbindlich für alle Untertanen setzt. Weil der Bürgerstatus ein Status von Personen in einer historischen Lebenswelt ist, die in einer christlichen Tradition steht, hat seine Durchsetzung lebensweltlich unterschiedlich verteilte homogenisierende Wirkungen. Die Unterordnung der religiösen Alltagspraxis unter einen säkularen Staat fordert von Christen andere Anpassungsleistungen als von Juden: Der Druck, der auf Christen lastet, ihre Alltagspraxis zu verändern, ist gering, der Druck, der auf Juden diesbezüglich lastet, ist hoch – das beginnt schon bei der Differenz der Teilung von Arbeits- und Ruhetagen in der Arbeitswoche, was in der anschließenden Debatte um Emanzipation und Assimilation etwa zu der Forderung führt, dass, da es »weder schicklich noch zulässig« sei, wenn die »Judenschaft« »allein an dem von der Mehrzahl gefeierten Wochentag öffentliche Arbeiten treiben wollte«, der siebte Wochentag zum »gemeinschaftlichen Ruhetag bestimmt« werden solle (Paulus 1831: 80).95 95 Heinrich Paulus war ein ausgesprochen liberaler Theologe, der eine rationalistische Bibelauslegung vertrat. Die Mehrzahl der Vertreter des deutschen Frühliberalismus war von ihm beeinflusst (vgl. Bergmann/Kimmel 2009: 618).

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Der Preis der Verbürgerlichung ist für Juden also ein anderer als für Christen: Da die Struktur des bürgerlichen Alltagslebens christlich geprägt ist, unterscheiden sich eine bürgerlich-säkulare Lebensweise und eine bürgerlich-christliche Lebensweise im Alltag nicht substanziell, wohl aber eine bürgerlich-säkulare und eine bürgerlichjüdische Lebensweise  – diese ist in einem christlich geprägten Alltag mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Der Prozess der Verbürgerlichung der Juden ist daher ein Prozess der Anpassung des Alltagslebens einer Minderheit an eine Mehrheit oder der Privatisierung der religiösen Praxis, und das heißt: Assimilation. Ein bürgerlich gleichgestellter Jude muss seine religiöse Praxis in die Nischen des christlich geprägten Alltagslebens verlegen, ein Christ nicht. Zwar hat die Forderung nach bürgerlicher Gleichstellung wie ihre Durchsetzung die Anpassung der Lebensweise einer Minderheit an die der Mehrheit oder die Herstellung einer nationalstaatlich homogenisierten Bevölkerung (Mann) zur Folge. Doch das Homogenitätsideal Dohms besteht in einer Welt, in der Träger individueller Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft ihre privaten Zwecke verfolgen, nicht in einer Welt, in der Angehörige eines Volks dessen Ethos zum Ausdruck bringen.96

3.2.3 Der universalistische Humanismus und das Problem der Zugehörigkeit Bei Dohm ist das Verhältnis der Regierung bzw. des Staates zur Religion ein Verhältnis der »Unpartheilichkeit«, d.h. der Toleranz.97 Paulus ist der Auffassung, dass »die Judenschaft« in keiner Nation »Staatsbürgerrechte« erhalten könne, weil »sie selbst eine abgesondert bestehende Nation bleiben will und es für ihre Religionsaufgabe hält, daß sie eine solche von alle Nationen, unter denen sie Schutz gefunden hat, immer geschiedene Nation bleiben« müsse (Paulus 1831: 2f.). Paulus’ Schrift, publiziert im Kontext der Debatten des Badischen Landtags über die Judenemanzipation, hat eine breite, über Baden hinausgehende, in Flugschriften ausgetragene Debatte entfacht (vgl. Sterling 1969: 81). Vgl. zu Paulus auch Katz 1989: 154158. 96 Mann (2007: 107) charakterisiert den auch in dieser liberalen Variante festzustellenden Drang zur Herstellung homogener Bevölkerungen zu Recht als »dunkle Seite« moderner demokratischer Nationalstaaten (die in der völkischen Variante dann noch etwas »dunkler«, d.h. gewaltförmiger, ist). 97 So schon Broszat 1952: 9, der jedoch nicht zwischen unterschiedlichen Formen von Toleranz unterscheidet, vgl. auch Bergmann/Wyrwa (2011: 16), die das

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Der Staat ist die in Rechtsform gegossene Toleranz unterschiedlicher Lebensweisen, und er steht der inhaltlichen Ausgestaltung der Lebensweisen indifferent gegenüber. Dies ist die allgemeine Idee politischer Toleranz, wie sie Locke 1686 in A Letter concerning Toleration formuliert.98 Sie wird auch von den beiden anderen bis heute bekannten Vorkämpfern der Emanzipation der Juden im deutschen Sprachraum formuliert, von Lessing als religiöse, von Humboldt als politische Toleranz. Was Dohm in der Rechtsform des Bürgers verankert, bezieht Lessing auf die Praxis des Zusammenlebens unterschiedlicher Religionsgemeinschaften selbst. So lässt Lessing seinen Nathan den Tempelherrn mit den Worten beschämen:99 »[…] Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Prinzip religiöser Toleranz als »Ausgangspunkt der neu auszuhandelnden Formen sozialer Beziehungen von Juden und Nichtjuden« begreifen. 98 »The magistrate ought not to forbid the preaching or professing of any speculative opinions in any church, because they have no manner of relation to the civil rights of the subjects« (Locke 1996: 78). Wie bei Dohm sind schon bei Locke die Grenzen der Toleranz durch Rechtsregeln bestimmt. Solange diese eingehalten werden, sind unterschiedliche Religionen zu tolerieren (vgl. Locke 1996: 106). Diese Position ist im späten 18. Jahrhundert breit etabliert, vgl. nur exemplarisch Svarez (1960: 55), und im Preußischen Allgemeinen Landrecht kodifiziert (allerdings nur für die anerkannten Religionen). 99 Mit den folgenden Zeilen hat Lessing nicht nur den Kern religiöser Toleranz formuliert, sondern sich darüber hinaus die Gegnerschaft der Antisemiten der nächsten 150 Jahre erschrieben. Die Kritik an Lessing fehlt in kaum einem antisemitischen Text insbesondere des späten 19. Jahrhunderts. Ich nenne drei exemplarische Beispiele: Stoecker z.B. gelangt zu der Einschätzung, dass auch »große Leute einmal einen Fehler« (Stoecker 2004d: 84) begingen, um ihn dann »für uns [die antisemitische Bewegung, J.W.] in Anspruch« (Stoecker 2004d: 85) zu nehmen: Man selbst sei tolerant und bekämpfe das intolerante Judentum. Langbehn (1908: 348) ist der Auffassung, dass Lessing, lebte er in der Gegenwart, »der größte Gegner der Juden« wäre. »Er nahm sie in Schutz, als sie die Bedrückten waren; jetzt da sie die Bedrücker sind, und die Feinde alles deutschen Wesens, würde er sie tödtlich bekämpfen.« Fritsch meint, dass Schulen, die das Stück »jungen Gehirnen« anbieten, sich der »geistigen Giftmischerei schuldig« (Fritsch 1921: 165) machen. Eine antisemitische Reaktion auf das Stück, die den Toleranzgedanken nicht nur als Irrweg bezeichnet, sondern so interpretiert, dass in der Konstruktion der Figur des Nathan als eines Kaufmanns »selbst Lessing, wider Willen, die Identität von Jude und Geldmacht darstellte«, findet sich bei Wilhelm Marr (Marr 2009: 17ff.; Zitat: 19).

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Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch Zu heißen.« (Lessing 1968: 50)100 Während Lessing die soziale Geltung der Norm der Toleranz an deren Verinnerlichung durch Angehörige von Religionsgemeinschaften bindet, knüpft sie Wilhelm von Humboldt wie Dohm auch an deren rechtliche Institutionalisierung. Humboldt kritisiert 1809, knapp dreißig Jahre nach der Publikation von Dohms Schrift, den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden, die Teil der nach der mit erheblichen Gebietsverlusten verbundenen Niederlage Preußens 1806 intensivierten Reformbestrebungen war und schließlich 1812 erlassen wurde.101 In seiner Stellungnahme fordert Humboldt eine sofortige und vorbehaltlose Emanzipation der Juden. Der Staat beurteile seine Bürger nicht »nach seiner Abstammung und Religion«, sondern »wie ein Individuum« (Humboldt 1964: 97). Alles andere sei »inhumane und vorurtheilsvolle Denkungsart« und widerspreche einem »wahren Begriff von Menschenwürde« (Humboldt 1964: 97). Für Humboldt ist nur eine »plötzliche Gleichstellung gerecht, politisch und consequent« (Humboldt 1964: 96): Gerecht, weil ein Jude, der die staatsbürgerlichen Pflichten eines Christen erfüllen will, auch der Rechte, über die dieser verfügt, teilhaftig werden sollte; politisch, weil zum einen nur so sich Vorurteile aufheben ließen und zum anderen der Staat den einzelnen als Individuum und nicht »wie zu einer Race gehörig« (Humboldt 1964: 97) betrachten solle; konsequent, weil eine sukzessive Gleichstellung die Aufmerksamkeit nur auf den Prozess der Gleichstellung lenke und ihr so entgegenarbeite. 100 Zur Entwicklung des religiösen Toleranzgedankens im Hinblick auf Juden vgl. Wyrwa 2003: 102-106. 101 Die Stellungnahme kam von Staatsminister von Schrötter und wurde von Humboldt in seiner Funktion als Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren begutachtet. Mit der 1808 erlassenen Städteordnung war zuvor der Zunftzwang aufgehoben und die Gewerbefreiheit unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, Stand oder Geburt garantiert worden (vgl. Aly 2011: 25). Die Städteordnung sicherte außerdem Juden, die über Grundbesitz verfügten oder ein selbstständiges Gewerbe betrieben, das aktive und passive Wahlrecht zu städtischen Ehrenämtern zu (vgl. JerschWenzel 2000a: 33f.). Das Edikt sollte die Rechtslage der Juden nach mehreren Reformanläufen seit 1808 allgemein regeln und musste das auch, da die Städteordnung von 1808 in Widerspruch zu den geltenden allgemeinen Verordnungen stand (Wyrwa 2003: 188).

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Außerdem sei es unmöglich, den Fortschritt der Assimilation angemessen zu bestimmen. Der Staat habe Juden als Religionsgemeinschaft zu akzeptieren und nicht in ihre religiöse Praxis eingreifen – wie das etwa der Entwurf mit der staatlichen Bestellung eines Oberrabbiners vorsehe. Befördere der Staat durch »natürliche und billige Toleranz vielmehr Schismen« und lockere er »die Bande zwischen einzelnen jüdischen Kirchen«, würden die Juden als Religionsgemeinschaft mit der Zeit in verschiedene Richtungen zerfallen und »sich von selbst zu der christlichen [Religion, J.W.] wenden« (vgl. Humboldt 1964: 104). Am Ende läuft Emanzipation bei Humboldt also im Unterschied zu Dohm auf eine Assimilation der Juden an die christliche Religion hinaus – bei Dohm war sie auf ein Verblassen der Bedeutung des religiösen Lebens hinausgelaufen.102 Wie bei Dohm aber ist die Assimilation keine intendierte Folge der Emanzipation, sondern eine Nebenfolge, die für die Frage der rechtlichen Gleichstellung von Juden und Christen als Bürger im Staat keine Rolle spielt. Für alle Varianten des universalistischen Humanismus gilt, dass sie den Bürgerstatus an Individuen binden und aus deren Gleichheit als Menschen legitimieren. Dohm verweist in seiner Schrift nur in wenigen Passagen auf ein »wir«, wo er es tut, ist von »unseren Staaten« die Rede. »Unsere Staaten« sind die Staaten der Regierungen und ihrer Fürsten. Dieses Selbstbild ist auf einen säkularen Staat bezogen, der als historischer Fortschritt gegenüber einem christlichen Staat verstanden wird (vgl. Dohm 1973a: 37f.). »Wir« bezeichnet Regierung und Verwaltungsstab, deren Teil Dohm ist, es schließt die regierten Untertanen aus, nicht ein. »Wir« sind die, die Politik zum Wohl der Untertanen machen, die »eine durch Barbaren und Religionsvorurtheile veranlaßte Drückung« (Dohm 1973b: 8) durch Eingriffe in das Recht und Erziehung aufheben. Humboldts »wir« fehlt, wie Dohms auch, jeder Bezug auf ein kollektives Selbstbild eines Volks, in dem dessen Angehörige über ihren individuellen Status als Bürger 102 Die Formulierung Humboldts ist nicht eindeutig zu interpretieren  – in dem ganzen Kommentar ist sie die einzige, in der eine positive Haltung Humboldts zur Assimilation der Juden an das Christentum sichtbar wird. Da diese Position dem starken Individualismus in der Argumentation Humboldts entgegenläuft und von Humboldt keine antisemitischen Äußerungen bekannt sind, neige ich zu der Ansicht, dass sie eine Folge der Auffassung Humboldts ist, dass das Christentum zum Kern der europäischen Kultur gehört (vgl. Meyer 2000c: 180), d.h. Humboldt unter christlicher Religion an dieser Stelle nicht ein Bekenntnis, sondern eine kulturelle Tradition versteht.

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hinaus als Glieder einer Einheit des Volkes begriffen würden.103 Die Perspektive des universalistischen Humanismus kennt Bürger und Menschen, aber keine historisch-genealogische Gemeinschaft eines »Volks«. Zwar spricht Humboldt von einem »Nationalcharakter« (Humboldt 1964: 99), doch sei dieser nicht zu fassen, so dass »ein gewissenhafter [Mann  …] nie Ertheilung oder Verweigerung von Rechten daran knüpfen wird« (Humboldt 1964: 99).104 Der universalistische Humanismus unterscheidet zwischen »Bürger« und »Mensch« und stellt zwischen beiden eine spezifische Beziehung her: Bürger kann prinzipiell jeder Mensch sein. An dieser Stelle setzt die antisemitische Ablehnung der Emanzipationsforderung an.

103 Die wesentliche Differenz zwischen den Positionen Dohms und Humboldts besteht im unterschiedlichen Verständnis des staatlichen Erziehungs- (Dohm) bzw. Bildungsauftrags (Humboldt). Während Dohm davon ausgeht, dass dem Staat die Aufgabe der sittlichen Erziehung seiner Bürger zukomme, ist Humboldt der Auffassung, dass der Staat die Aufgabe habe, dem Bürger zu ermöglichen, »sich selbst zu erziehen« (Humboldt 1964: 98). Tatsächlich hat Humboldt das einzige Gutachten verfasst, das darauf verzichtet, »die Gesetzgebung zu einem Instrument der Erziehung der Juden« (Baumgart 1992: 164) zu machen. 104 Meinecke zeigt schon für den frühen Humboldt, dass dieser nationale Eigenheiten zwar sieht, Nation als kollektives Selbstbild aber konsequent dem Begriff des Individuums unterordnet. Vgl. Meinecke 1963: 40-57.

4 Antisemitische Reaktionen auf die »Judenfrage« Die emanzipatorisch gestellte »Judenfrage« bildet den Anlass der Veränderung des antisemitischen Wissens. Im Mittelpunkt dieser Veränderung stehen die Neubestimmung von Zugehörigkeit und ein Wandel der Zuschreibungen in den Selbst- und Feindbildern. Selbstverständlich wird weiterhin behauptet, dass die Juden keine Bürger sein könnten, weil sie keine Christen seien. Aber schon diese Verknüpfung enthält ein modernes Element, eben die Abwehr der rechtlichen Gleichstellung  – eine Abwehr, die der christliche Judenhass nicht kennt, weil weder die Gesellschaftsstruktur noch die Selbstbilder, in denen sich ihre Angehörigen thematisieren, eine solche Forderung zulassen. Ansatzpunkt der Antisemiten ist die Lücke, die zwischen dem Bezugspunkt der bürgerlichen Gleichheit der Untertanen, der Gemeinschaft ihres Daseins als Menschen, und Bürgern in segmentär differenzierten Staaten besteht. Wer ist der Demos? Der universalistische Humanismus wie die aufklärerischen Vertragstheorien des Politischen können die Grundgesamtheit der Staatsbürger nur voluntaristisch bestimmen, weil sie jenseits der Vertragsfähigkeit von Individuen über kein Kriterium verfügen, diese einzugrenzen. Die aufklärerischen Vertragstheorien sind in ihrem Bezug auf die Unterscheidung von segmentär differenzierten Personenverbänden in segmentär differenzierten Staaten einerseits zu weit (Menschheit als Grundlage bürgerlicher Gleichheit im Staat), um die Grundgesamtheit des Demos bestimmen zu können.1 Andererseits sind jene Theorien zu eng, da sie Bürgergesellschaft als Besitzbürgergesellschaft begreifen: Sie behaupten zwar eine Gleichheit der Bürger als Untertanen, verknüpfen aber den Begriff des Bürgers mit dem des Eigentums. Bürger kann nach den immanenten Prämissen der Vertragstheorien jeder sein, sofern er über Eigentum verfügt. Die Vertragstheorien 1 Eben deshalb gelangt der konsequenteste Vertreter einer vertragstheoretischrationalen Grundlegung des Politischen, Immanuel Kant, zu der Auffassung, »die Idee eines Weltbürgerrechts« sei »keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats als des Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf« (Kant 1973b: 139; vgl. auch Kant 1973c: 17f.).

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ANTISEMITISCHE REAKTIONEN AUF DIE »JUDENFRAGE«

treten mit universalistischem Anspruch auf, beschränken aber die Vertragsfähigkeit auf eine bestimmte Gruppe.2 Das »wir« der Besitzbürger ist ein »wir«, dem man – dem vertragstheoretischen Selbstverständnis nach  – nicht zugehörig ist, sondern durch Arbeit und Leistung zugehörig wird. Aus diesem Grund spielen kollektive Selbstbilder, die Zugehörigkeit askriptiv bestimmen, in den Argumentationen Dohms und Humboldts keine Rolle. Das müssen sie auch nicht. Ihrem historischen Gehalt nach sind sie revolutionär, Vorschein einer modernen Gesellschaft und Kritik einer Welt, die soziale Herrschaft durch askriptive Zuordnungen von Personen zu Gruppen und diese durch Verweis auf transzendente Mächte legitimiert. »Volk« ist in dieser Perspektive keine Eingrenzung von Menschen zu einem Kollektiv, sondern im Grunde eine politische Mengenbezeichnung  – politisch, weil der aufklärerische Begriff des Volkes hierarchische und andere Differenzierungen übergreift. »Volk« ist das Staatsvolk, die Gesamtheit der Bürger. Dohm wie auch Humboldt denken das Volk vom Staat her, nicht den Staat vom Volk her. Einheit stiftet nicht das Volk, sondern der Staat, nicht die Lebensweise, sondern die Rechtsform, die unterschiedliche Lebensweisen unter sich vereinigt. Hier, im Selbstbild, liegen Eingriffsstelle und Ansatzpunkt des modernen Antisemitismus. Das antisemitische Feindbild verändert sich, weil sich im Selbstbild das Verständnis von Zugehörigkeit und die Selbstbeschreibung als Kollektiv wandeln. Die Eingriffsstelle des modernen Antisemitismus, die Eingrenzung der Bürger eines Staates als »Volk«, lässt sich an der Entwicklung Fichtes besonders deutlich machen. Fichte, ein großer Befürworter der Errungenschaften der Französischen Revolution, argumentiert in dem Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution von 1793 vertragstheoretisch. Unter dem Eindruck des sich Bahn brechenden »Befreiungsnationalismus« argumentiert er, immer noch ein 2 Bei Kant wird dies in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten deutlich. Kant leitet die Gleichheit aus der Freiheit, der Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür anderer, ab und begreift sie als das einzige ursprüngliche Menschenrecht (vgl. Kant 1991a: B 45). Das Gesinderecht aber, wie das Eherecht und das Elternrecht auch, wird dann unter dem Titel des auf dingliche Art persönlichen Rechts verhandelt. Wenn die aufklärerischen Vertragstheorien vom Bürger sprechen, dann meinen sie damit den Eigentümer, den Besitzbürger, legitimieren aber seine Gleichheit mit Verweis auf sein Mensch-Sein. Die Kritik an dieser Inkongruenz ist es, die den Kämpfen des 19. Jahrhunderts um die Verallgemeinerung der politischen Bürgerrechte ein Motor ist.

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Befürworter der Prinzipien der Französischen Revolution, 15 Jahre später in den Reden an die Deutsche Nation von 1808 national. In der frühen Schrift, einer frühliberalen Rechtfertigung der Französischen Revolution, argumentiert Fichte auf der Basis einer naturrechtlich begründeten Vertragstheorie (Fichte 1922: 75) in Anlehnung an Hobbes, Rousseau und Kant. Im Bürgervertrag seien alle Mitglieder eines Staates gleich. »Daß aber rechtmäßigerweise eine bürgerliche Gesellschaft sich auf nichts anderes gründen kann, als auf einen Vertrag zwischen ihren Mitgliedern, und daß jeder Staat völlig ungerecht verfahre und gegen das erste Recht der Menschheit, das Recht der Menschheit an sich, sündige, wenn er nicht wenigstens hinterher die Einwilligung jedes einzelnen Mitglieds zu jedem, was in ihm gesetzlich sein soll, sucht, ist ohne Mühe auch dem schwächsten Kopfe einleuchtend darzutun« (Fichte 1922: 45). Der Staat könne keinen Bürger in den Bürgervertrag zwingen, »beide Teile sind gleich frei, und der Bund wird freiwillig geschlossen« (Fichte 1922: 240). Entsprechend ist zugehörig, Bürger, wer Bürger sein will. »Volk« und »Geschichte der Völker« spielen zwar eine Rolle, haben aber in diesem Text die Funktion, die Genese der Adelsherrschaft zu erklären (vgl. Fichte 1922: 163ff.). Der Begriff des Volkes wird weder genealogisch noch kulturell bestimmt; überwiegend verwendet ihn Fichte als Oppositionsbegriff zur Kritik der Adelsherrschaft. Da der Bürgervertrag freiwillig geschlossen wird und der Austritt jederzeit möglich ist, entsteht das Problem unterschiedlicher Zugehörigkeiten. Eine Gefahr sei das weniger wegen der Neugründung von Staaten, was einem bestehenden Staat »unangenehm« (Fichte 1922: 113) sein könne, rechtlich aber nicht zu beanstanden sei und von ihm nicht verhindert werden dürfe. Eine Gefahr ergebe sich auch nicht daraus, dass zwei Staaten auf einem Territorium existierten – Fichtes Staatsbegriff bezieht sich noch ausschließlich auf den Personenverband  –, sondern daraus, dass ein Staat ein »dem anderen entgegengesetztes Interesse hat« (Fichte 1922: 118). Alle Gruppierungen, die eigene Interessen gegen andere im Staat vertreten und sich als Gruppierung erhalten, sind nach dieser Auffassung Staaten im Staat, die »Zünfte der Künstler und Handwerker, die man bloß darum weniger fühlt, weil man mit größeren Plagen zu kämpfen hat« (Fichte 1922:

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118), die Kirche, der Adel, das Militär und die Juden. Fichtes Anmerkungen zu den Juden sind in diesem Zusammenhang die ausführlichsten und wegen ihrer Schärfe und der Bedeutung ihres Autors allgemein bekannt geworden.3 Der in dem hier zu erörternden Zusammenhang entscheidende Punkt ist, dass die antisemitischen Invektiven Fichtes an dieser Stelle zwar Teil der Transformation des christlichen Judenhasses in den modernen Antisemitismus sind, insofern die Ablehnung der Bürgerrechte für Juden auf der Annahme aufbaut, dass Juden eine ursprünglich auf Religion gegründete politische Gruppierung seien, dass aber der Kontext von Fichtes Argumentation ein anderer ist als bei der überwiegenden Mehrheit der antisemitischen Autoren seiner Zeit: Fichte geht es um eine philosophische Erörterung der Folgen der vertragstheoretischen Grundlegung moderner Staaten. Der Vertrag setzt eine Übereinstimmung der sittlichen, auf das Allgemeine gerichteten Interessen der Vertragspartner voraus  – ein Problem, das bei Rousseau in der Unterscheidung von Volonté générale und Volonté de tous diskutiert wird und sich in anderen Worten auch bei Fichte findet (vgl. Fichte 1922: 93ff.)  – und schließt einander widerstreitende, auf das Allgemeine gerichtete Interessen, wie sie sich aus unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten ergeben, aus. Diese »Gefahr«, die von unterschiedlichen gruppenbezogenen Interessen im Staat ausgeht, erörtert Fichte an den genannten Beispielen.4 1808, in einer grundlegend veränderten politischen Lage in Europa, nimmt Fichte die Frage, wer den Bürgervertrag schließen kann, wieder auf. In den Reden an die Deutsche Nation ist der Gegenstand ebenfalls ein bürgerlicher Staat, aber dieser Staat ist nicht mehr das Produkt freien Entschlusses, sondern der Staat der Deutschen. 3 Juden seien Menschenrechte zuzubilligen, nicht aber Bürgerrechte, solange sie »an zwei verschiedene Sittengesetze und an einen menschfeindlichen Gott« (Fichte 1922: 115, Fn) glaubten. Die als Beleg für Fichtes Antisemitismus oft zitierte Passage lautet: »Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dorthin zu schicken« (Fichte 1922: 115, Fn). 4 In Fichtes Argumentation sind die Juden ein Beispiel, in den anderen antisemitischen Texten der Zeit sind die Juden nicht ein Beispiel eines allgemeinen Problems, sondern das Problem selbst. In Fichtes Text gibt es entsprechend mehrere Gruppierungen, die Staaten in Staaten bilden, in den anderen antisemitischen Texten nicht. Diesen Unterschied sieht Katz (1989: 61; 64) in seiner Interpretation nicht.

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»Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben« (Fichte 1978: 13). Unter »deutsch« versteht Fichte näher die »durcheinander verwachsene Einheit, in der kein Glied irgendeines andern Gliedes Schicksal, für ein ihm fremdes Schicksal hält, die da entstehen soll und muß, wenn wir nicht ganz zugrunde gehen sollten, – ich erblicke diese Einheit schon als entstanden, vollendet, und gegenwärtig dastehend« (Fichte 1978: 14). Das deutsche Volk wird als Kultur- (für seine Zeit typisch über Sprache [vgl. Fichte 1978: 60f.]) und Abstammungsgemeinschaft (vgl. ebd.) bestimmt, das sich historisch durch Nationalerziehung bildet (Fichte 1978: 23) und in diesem Prozess seine Einheit »bewahrt« (Fichte 1978: 27). »Dies nun ist in höherer vom Standpunkte der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommener Bedeutung des Wortes, ein Volk: das Ganze der in der Gesellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht. Die Gemeinsamkeit dieses besondern Gesetzes ist es, was in der ewigen Welt, und eben darum auch in der zeitlichen, diese Menge zu einem natürlichen, und von sich selbst durchdrungenen Ganzen verbindet. Dieses Gesetz selbst seinem Inhalte nach, kann wohl im ganzen erfaßt werden, so wie wir es an den Deutschen, als einem Urvolke, erfaßt haben; es kann sogar durch Erwägung der Erscheinungen eines solchen Volkes noch näher in manchen seiner weitern Bestimmungen begriffen werden; aber es kann niemals von irgendeinem, der ja selbst immerfort unter desselben ihm unbewußten Einflusse bleibt, ganz mit dem Begriffe durchdrungen werden« (Fichte 1978: 128f.). Fichte, und das ist ein entscheidender Punkt, gibt den vertragstheoretisch begründeten Liberalismus gar nicht auf, sondern schränkt ihn

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ein auf »Deutsche«.5 So kann Fichte ein Selbstbild formulieren, das den vertragstheoretischen Individualismus in ein Kollektiv einbindet und das erklärt, was die Einheit des einen Staates von der des anderen Staates unterscheidet: das Volk, das sich durch ein gemeinsames Wollen (dessen äußerer Ausdruck der deutsche Staat bzw. die Forderung nach einem solchen ist) und eine gemeinsame Geschichte bestimmt. Fichte denkt konsequent. Weil er die der Rechtsordnung eines Staates unterworfenen Bürger als Volk eingrenzt und das Volk dem Staat vorordnet, ist es nicht die Verfassung, sondern das Volk, dem die Identifikation des Bürgers in Zeiten der Not gilt: »Nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung, und der Gesetze, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle, der nur um des ersten willen da ist, sich eben opfern soll. Nicht jene bürgerliche Liebe der Verfassung ist es; diese vermag dies gar nicht, wenn sie bei Verstande bleibt« (Fichte 1978: 134). In der frühen Schrift war das Staatsvolk die abgeleitete Variable, der Staat bzw. der Bürgervertrag oder die Verfassung die unabhängige Variable. In der nationalen Deutung der Welt verhält es sich gerade umgekehrt: »Aus allem gehet hervor, daß der Staat, als bloßes Regiment des im gewöhnlichen friedlichen Gange fortschreitenden menschlichen Lebens, nichts Erstes, und für sich selbst Seiendes, sondern daß er bloß das Mittel ist für den höhern Zweck der ewig gleichmäßig fortgehenden Ausbildung des rein Menschlichen in dieser Nation« (Fichte 1978: 139). Solche Selbstbilder sind nicht konservativ, sondern modern, sie profilieren die Auflösung der ständischen Privilegien, die »Öffnung« nach innen, in einer »brüderlichen« Gemeinschaft des »wir«. Weil diese Selbstbilder nach innen auf die Auflösung der ständischen Ordnung gerichtet sind, ist ihr Grundzug oft liberal. Das lässt sich auch an Friedrich Jahn gut zeigen: Zwar schreibt Jahn von der na5 Aus diesem Grund ist der Liberalismus nicht so frei von Antisemitismus, wie das gelegentlich behauptet wird.

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türlichen Ungleichheit der Menschen und teilt sie in Stände ein (vgl. Jahn 1922b: 165ff.), doch liegt die Dynamik der Schrift Deutsches Volkstum in der diese Gliederung unterlaufenden Auffassung einer »Volkserziehung« und »Nationalbildung«, die auf die Einheit der Deutschen im Staat zielt6  – eine Einheit, in der alle einem Recht und einem Herrn unterworfen sind, eine Sprache sprechen, in der die Standesgrenzen durchlässig sind und die rituell bekräftigt wird (vgl. dazu Mosse 1976: 93-104).7 Wer sind »wir«, was unterscheidet »uns« und was macht »unsere« Einheit aus? Diese Fragen werden in einer sozialen Ordnung, die sich nach außen in segmentär differenzierten Staaten abgrenzt und im Inneren auf der Institutionalisierung von Individualismus basiert, zu einem Gegenstand fortgesetzter und andauernder Reflexion. Fichte sieht genau, dass das »wir« der Eigentümer eine politische Einheit nicht tragen kann. Nicht erst die politische Romantik beantwortet die Eingrenzung der Besitzbürger und damit ihre Unterscheidung von anderen durch den Rückgriff auf die historisch-genealogische Gemeinschaft der Nation. Aber nie vor und nie nach der politischen Romantik war die Frage, was deutsch sei, Gegenstand so brennenden Interesses und so leidenschaftlicher Erörterung. Nationale Selbstbilder kritisieren nicht mehr nur eine ständische, sondern legitimieren eine sich bildende neue Ordnung von segmentär differenzierten Nationalstaaten, die erst in den Köpfen einer »klaren Minderheit« (Nipperdey 1987: 31) existiert. Die große Leistung der Antwort besteht in der modernen kulturellen Selbstbeschreibung einer kollektiven Handlungseinheit – modern, weil sie erstens auf der Ebene von Zugehörigkeit in der Gleichheitszuschreibung ständische Schranken überschreitet, aber eben nicht mit dem Verweis auf menschliche Gleichheit, sondern auf die Gleichheit von Angehörigen eines Volkes, und weil sie zweitens auf der Ebene der Selbstbeschreibung den rechtsförmig »institutionalisierten Individualismus« (Parsons) in die Gemeinschaft eines Solidarverbandes übersetzt. In nationalen Selbst6 Echternkamp (1998: 355) zählt Jahn deshalb »zum Kreis der fortschrittlichsten politischen Wortführer, die der überkommenen feudalistischen Ordnung eine frühliberal-nationale entgegensetzten«. 7 Mosse zeigt in Die Nationalisierung der Massen, wie durch symbolische Praktiken und die Organisation dieser Praktiken in Vereinen sich im deutschsprachigen Raum nach 1800 ein kollektives Wir als politische Massenbewegung auf der Ebene der Alltagspraxis hergestellt wird  – in Turnvereinigungen zur Stärkung des »deutschen Körpers«, in Gesangsvereinen zur Entwicklung und Bewahrung »deutschen Liedguts« usw.

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beschreibungen grenzen sich Bürger nicht nur ein, sie verwandeln sich aus Trägern von Individualrechten in Glieder einer Gemeinschaft. Bürger kann in dieser Perspektive nur sein, wer dem Volk zugehört. Für die Gegner der Emanzipation der Juden können die Juden keine Bürger sein, weil sie einem anderen »Volk« zugehören, das »uns« feindlich gesinnt ist.8 In dieser Fokussierung auf den Bürgerstatus wird der Antisemitismus modern. »To the already oppressive burden of the religious clash between Christians and Jews was now added a national clash between Germans and Jews« (Almong 1990: 15).9 In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels werde ich die wesentlichen Veränderungen in der antisemitischen Wissensformation auf der Ebene der Zugehörigkeit und auf der Ebene der Zuschreibungen darstellen. Dabei kommt es mir darauf an, das Allgemeine zu 8 Die praktischen Konsequenzen der Modernisierung des Antisemitismus sieht Dohm in der im zweiten Teil von Über die bürgerliche Verbesserung der Juden publizierten Stellungnahme zu der Debatte klarer, als sie in der Debatte selbst artikuliert werden: Wenn seine Gegner recht hätten, Juden »durch ihre unabänderliche Natur dazu bestimmt sind, immer und ewig dem übrigen menschlichen Geschlecht zu schaden und sich selbst sittliches und politisches Elend« zu bereiten, »muß man die Juden von der Erde vertilgen, damit sie nicht länger der weisen Güte Dessen widersprechen, der sie gemacht und bisher geduldet hat« (Dohm 1973b: 21-22). Schon in dieser frühen Debatte artikuliert Dohm eine gewisse Hilflosigkeit, wie sie 100 Jahre später von Theodor Mommsen im Berliner Antisemitismusstreit erneut ausgedrückt wird: Den abstrusen Argumenten seiner Gegner könne er »nichts entgegensetzen« (Dohm 1973b: 24; vgl. das Interview mit Mommsen in Bahr 1979: 27). 9 Wolfgang Altgeld hat dies ebenfalls sehr klar bezeichnet und dabei stärker als Almong das Moment der Transformation des christlichen Judenhasses betont: »Die Umformung eines wesentlich religiös bestimmten kollektiven zu einem wesentlich nationalen kollektiven Begriff des ›Judentums‹ bedeutete den entscheidenden ideologischen Paradigmenwechsel in den Anfängen der modernen Judenfrage in Deutschland« (Altgeld 1992: 106). Almong unterschätzt die Bedeutung des Staates bzw. des Patriotismus in der antisemitischen Semantik der Romantik und gelangt zu der Einschätzung, dass erst in der Zeit nach 1870 »in the nationstates the state was perceived as the embodiment of the national entity and frequently became the object of loyalty and adoration« (Almong 1990: 49). Diese Unterschätzung mag damit zu tun haben, dass Almong die Geschichte des modernen Antisemitismus nach 1815 als Radikalisierungsgeschichte des nationalen Antisemitismus schreibt. Sowohl auf der Ebene des Wissens wie auf der Ebene der antisemitischen Praxis lässt sich dies kaum durchhalten. So fällt beispielsweise der Antisemitismus Treitschkes unter den Typus des nationalen Antisemitismus, ist aber in seinen Forderungen nicht radikaler, sondern moderater als etwa der Antisemitismus von Fries. Auf der Ebene der Verfolgungspraxis werden in der Zeit zwischen 1850 und 1870 kaum antisemitische Ausschreitungen bekannt, wohl aber in der Zeit der 48er Revolution.

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entwickeln, das, was Antisemitismus als Wissensformation auszeichnet, nicht darauf, wo die – vielfältigen – Unterschiede zwischen den antisemitischen Positionen liegen.

4.1 Wer gehört dazu und wer nicht? Homogenisierung, Ethnisierung und Historisierung von »Volk« Johann David Michaels war wahrscheinlich der Erste, in jedem Fall aber einer der Ersten, der auf der Grundlage eines auch nationalen Selbstbildes gegen die »bürgerliche Verbesserung« der Juden streitet.10 Deshalb ist seine 1782 publizierte Replik auf Dohm für eine Untersuchung der Modernisierung des antisemitischen Wissens zentral. Die Veränderung des Gegensatzpaares Christ–Jude zu Deutscher–Jude bzw. Völker–Jude ist erstaunlicherweise in der Literatur oft nicht bemerkt11 oder aber nicht weitergehend interpretiert worden.12 Löwenbrück (1995: 154-178) und im Anschluss an sie Best (2001: 180) weisen auf die Bedeutung von Michaelis’ Kommentar zu Dohms Forderung nach bürgerlicher Verbesserung der Juden hin, ohne die Veränderung zu deuten.13 Altgeld (1992: 103) merkt an, dass 10 Typischer als Michaelis’ Reaktion auf Dohm sind in dieser Zeit die Beiträge von Prediger Schwager oder Michael Hissmann in seiner Rezension von Dohm in den Göttingischen gelehrten Anzeigen, in denen die Differenz zwischen Juden und Christen traditionell, d.h. religiös, entwickelt wird, entsprechend auch das Selbst- und das Feindbild (vgl. Hissmann 1782; Schwager 1973). Eine bürgerliche Verbesserung, wie Dohm sie vorgeschlagen hat, kommt für Schwager nicht in Frage, da »unser Staat noch ein christlicher Staat« (Schwager 1973: 103) sei. 11 Vgl. Jersch-Wenzel 2000a: 21f.; Katz 1986: 105-108; Poliakov 1983: Bd. V: 200f.; Elbogen/Sterling 1966: 160; Bourke 1999: 47f. 12 Vgl. Altmann 1973: 465f.; Möller 1992: 69; Löwenbrück 1994: 324ff.; Blum (2009: 554) bezeichnet die Gegenüberstellung von Juden und Deutschen als »auffällig«. 13 Löwenbrück (1995) betont, dass uns »in Michaelis’ Ausführungen eine völlig neue, bisher noch nie dagewesene Argumentationsweise« (Löwenbrück 2005: 159) begegnet, die nicht mehr mit den traditionellen judenfeindlichen Stereotypen operiere. In der Interpretation der Replik von Mendelssohn auf die Schrift von Michaelis kommt sie zu der Einschätzung, dass Mendelssohn die Argumentation von Michaelis, in der es nicht mehr zuerst um eine religiöse Gruppe geht, sondern um die Aufnahme von Juden in »einen deutschen, ›nationalen‹ Staat« (Löwenbrück 2005: 164), »für Mendelssohn neu und seinen eigenen humanistischen Überzeugungen völlig fremd« (ebd.) war. Trotz dieser zutreffenden Einschätzung interpretiert Löwenbrück die Umstellung der Unterscheidung von Christ – Jude auf Deutsche – Juden nicht weiter.

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Michaelis die »Religion der Juden als wesentlich nationale politische Religion bestimmt« (so auch Volkov 2006: 162). Hess sieht die Differenz ebenfalls, interpretiert aber die Veränderung des Gegensatzpaares fälschlicherweise als rassistische (Hess 2002: 51-90, vergleichbar auch Bourke 1999: 48),14 Volkov (2002: 39) interpretiert sie als »a controversy over the nature of the modern state«. Michaelis, ein Orientalist, war einer der angesehensten Wissenschaftler und Intellektuellen seiner Zeit sowie hervorragender Kenner der jüdischen Religion (vgl. Blum 2009). Er wurde 1750 zum Ordinarius für Philosophie in Göttingen und 1762 zum Direktor der Göttingischen Gesellschaft der Wissenschaften ernannt, deren Sekretär er seit 1751 gewesen war. Von 1753 bis 1770 hatte er die Schriftleitung der Göttingischen gelehrten Anzeigen inne, eine der einflussreichsten Zeitschriften des späten 18. Jahrhunderts in Europa. Auch wegen der herausgehobenen Stellung ihres Autors ist seine Replik im zweiten, von Dohm 1783 herausgegebenen Band Über die bürgerliche Verbesserung der Juden abgedruckt und von Moses Mendelssohn kommentiert worden.15 Michaelis beginnt seine Entgegnung mit einer kurzen Zusammenfassung der zentralen Gedanken Dohms. Einig sei er mit Dohm, dass das »jüdische Volk lasterhafter und verdorbener sey, als andere Europäer« (Michaelis 1973: 33). Dass die Juden lasterhafter »als wenigstens wir Deutschen« seien, »zeiget sich am stärksten aus den Diebes14 Diese Interpretation ist ein Ausdruck der begrifflichen Unklarheit in der Bestimmung antisemitischer Feindbilder. Michaelis verwendet zwar den Terminus »Race« (Michaelis 1971: 51), aber keine rassistischen Argumentationsfiguren. »Race« bezeichnet bei ihm ethnische Zugehörigkeit. 15 Mendelssohn war der Erste, der 1783 auf die Verschiebung der tradierten Unterscheidungen bei Michaelis aufmerksam gemacht hat: »Anstatt Christen und Juden bedient sich Herr M. beständig des Ausdrucks Deutsche und Juden. Er entsteht sich wohl, den Unterschied blos in Religionsmeynungen zu setzen, und will uns lieber als Fremde betrachtet wissen, die sich die Bedingungen gefallen lassen müssen, welche ihnen von den Landeseigenthümern eingehämmert werden« (Mendelssohn 1973: 75). Mendelssohn sieht auch die Konsequenz von Michaelis’ Überlegung: Wenn die Juden an ihrer Religion festhalten, können sie nicht Deutsche werden. »Sodann möchte ich auch erörtert wissen: wie lange, wie viel Jahrtausende dieses Verhältniß, als Landeigenthümer und Fremdling fortdauern soll?« (Mendelssohn 1973: 76). Mendelssohn bemerkt zwar die Verschiebung, aber er deutet sie nicht. Ein Grund dafür mag auch sein, dass die gerade etwas mehr als zehn Jahre zurückliegende Kontroverse mit Lavater eine im Kern religiöse Kontroverse war und sich Überlegungen, die das Verhältnis von Juden und Christen vor Dohm betrafen, in einem religiösen Kontext bewegten. Auch die Auseinandersetzung mit Schulz 1784 blieb im Kern religiös.

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Inquisitions-Acten« (Michaelis 1973: 34). Während Juden weniger als 1/25 der »Einwohner Deutschlands« ausmachten, »giebt nun dieser 1/25 Theil eben so viel Spitzbuben, als die ganze deutsche Nation ausmachen kann« (Michaelis 1973: 34).16 Diese setze sich zusammen aus »drey eingeführten Religionen« (Michaelis 1973: 34).17 Michaelis unterscheidet zwischen den christlichen Konfessionen (die er selbst als »Religionen« bezeichnet) und rechnet sich selbst den Lutheranern zu (Michaelis 1973: 39). Zur »ganzen deutschen Nation« gehöre, wer einer dieser Konfessionen angehört.18 Aber die religiöse Zugehörigkeit ist nicht das einzige Kriterium der Zugehörigkeit zur Nation.19 Nationen werden von Michaelis als eigenständige Wesenheiten gefasst, ausgestattet mit einem »Temperament« (Michaelis 1973: 36) oder »Nationalcharacter« (ebd.), wodurch sie sich von anderen Nationen unterscheiden (bei späteren Autoren ist dies das »germanische Wesen«, die »germanische Seele«, der »Volksgeist« o.Ä.). Juden seien nicht »deutsch«, sondern Angehörige eines anderen Volkes. Ihr »Nationalcharacter« wird zwar von Michaelis auch religiös bestimmt, aber diese religiöse Bestimmung liegt nicht einer Differenz zwischen Glaubensgemeinschaften, sondern zwischen Völkern zugrunde: Die »Gesetze Mosis [… erschweren, J.W.] die völlige Naturalisation und Zusammenschmelzung der Juden mit 16 Die Lasterhaftigkeit erklärt Michaelis aus »Armuth«  – »unter reichen, das ist reichgebohrnen Juden, oder auch nur unter mittelmäßigen, findet man selten dieselbe Lasterhaftigkeit« (Michaelis 1973: 34). 17 Gemeint sind Reformierte, Lutheraner, Römisch-Katholische. Diese drei Konfessionen werden im Woellner’schen Religionsedikt von 1788 gleichgestellt, vgl. dazu hier, Kapitel 3.1. 18 Das Selbstbild eines christlichen Volkes ist im ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitet und findet in der Selbstbeschreibung eines »christlichen Staates« seinen Ausdruck (dazu hier, Kapitel 4.3). 19 Dieser Punkt ist zentral und es ist keineswegs so, dass in dieser Zeit »zumeist schlicht und kunterbunt von Deutschen, Christen und Juden gesprochen wurde, gleichgültig, ob der religiöse, nationale oder rassische Unterschied gemeint war, ob die Staatsbürgerrechte für Juden erstritten oder später deutschen Juden abgesprochen werden sollten« (Aly 2011: 22). Nur eine Analyse des begrifflichen Wandels kann Aufschluss darüber geben, worin der Zusammenhang zwischen modernem Antisemitismus und gesellschaftlicher Transformation besteht. Die These Alys ist daher erstaunlich. Ungewöhnlich ist die Konsequenz, die er aus seiner These zieht – zumal für einen Historiker: »Folglich verzichte ich auf die theoretisch wünschenswerte sprachliche Präzision, die ich nur um den Preis geschichtsferner Künstelei durchhalten könnte« (Aly 2011: 22). Damit beraubt sich Aly in der Anlage seiner Studie der Möglichkeit, Aussagen über jenen Zusammenhang treffen zu können.

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andern Völkern« bzw. machen sie »unmöglich« (Michaelis 1973: 40f.). »Die Absicht« jener Gesetze sei es, die Juden »als ein von anderen Völkern abgesondertes Volk zu erhalten, und die [= die Absicht, J.W.] ist so durch und durch in seine Gesetze selbst bis auf die von reinen und unreinen Speisen, eingewebt, daß sich das Volk nun, wider alles was wir bey andern Völkern sehen, in seiner Zerstreuung 1700 Jahr lang als abgesondertes Volk erhalten hat« (Michaelis 1973: 41). Solange »die Juden« an ihrem »Nationalcharacter«, den religiös begründeten Regeln ihrer Lebensweise und insbesondere an ihren Speisegesetzen festhielten, »werden sie (von einzelnen rede ich nicht, sondern von dem größten Theil) nie mit uns so zusammenschmelzen, wie Catholike und Lutheraner, Deutscher, Wende und Franzose, die in Einem Staat leben« (Michaelis 1973: 41). Michaelis unterscheidet also zwischen Völkern, die er erstens als Entitäten und zweitens als Handlungseinheiten begreift. Zugehörigkeit zu diesen Handlungseinheiten wird durch zwei Kriterien bestimmt. Erstens kulturell durch die Gemeinschaft eines Ethos, die er der Gemeinschaft einer Lebensweise zugrunde legt. »Welches Volk nicht mit uns essen und trinken kann, bleibt immer in seinen und unsern Augen ein sehr abgesondertes Volk« (Michaelis 1973: 61).20 Diesen Aspekt der Festlegung von Zugehörigkeit erläutere ich im nächsten Abschnitt unter dem Titel »Homogenisierung« (4.1.1). Zweitens genealogisch durch die Gemeinschaft der Abstammung. »Volk« bezeichnet eine kulturelle Gemeinschaft und eine Abstammungsgemeinschaft. Deshalb nennt Michaelis auch solche Personen »dem Namen und Geburt nach Juden«, die »von der jüdischen Religion […] nichts glauben« (Michaelis 1973: 37). Diesen Aspekt erläutere ich unter dem Titel »Ethnisierung« (4.1.2). Homogenisierung und Ethnisierung werden, so zeige ich anschließend, durch Historisierung in der Auffassung verbunden, »Völker« seien historisch-genealogische Gemeinschaften (4.1.3). 20 Dieser Topos hält sich die nächsten 100 Jahre, vgl. nur Lagarde 1937b: 291f.

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4.1.1 Homogenisierung und Ethos des »Volkes« Sicher ist die vom Michaelis angenommene »Verschmelzung« von Katholiken und Lutheranern für das ausgehende 18.  Jahrhundert (und auch noch lange im 19. Jahrhundert) ein Euphemismus für das weitgehend getrennte und spannungsreiche Zusammenleben der Konfessionen in einem Staat. Der entscheidende Punkt ist, dass beide als Teile einer Einheit, des »deutschen Volkes«, gedacht werden. Für die Zugehörigkeit zu dieser Einheit bleibt zwar das Bekenntnis zu einer der drei christlichen Konfessionen bei Michaelis und noch lange nach ihm zentral, aber es bestimmt die Zugehörigkeit zu »Volk« nicht hinreichend: Christlich sind mehrere Völker. Daher muss die Zugehörigkeit zum Kollektivsubjekt »Volk« über das Bekenntnis zum christlichen Glauben hinaus qualifiziert werden. Die Einheit des »deutschen Volkes«, sein »Temperament«, charakterisiert Michaelis durch ein Ethos, das von dem der Juden unterschieden wird: Juden seien »lasterhafter als wir« (Michaelis 1973: 44), scheuten »sich vor Handarbeit« (Michaelis 1973: 57) und man könne ihnen nicht trauen (vgl. Michaelis 1973: 68f. u.ö.). Das Ethos des »deutschen Volkes« wird durch ein Ethos profiliert, das kein Ethos einer Gemeinschaft ist, sondern das Andere eines Gemeinschaftsethos: Während ein »Volk« arbeite, um sich selbst zu erhalten, lebten Juden nicht von eigener Arbeit, sondern von der Arbeit anderer. »Wir« sind tugendsam, »Juden« »lasterhaft«. Dieser Gegensatz wird von Michaelis nicht nur für »uns«, sondern für alle Völker aufgemacht: Juden seien »ein von anderen Völkern abgesondertes Volk«. Der Gegensatz ist also zweifacher Art: Michaelis unterscheidet erstens zwischen »Völkern«. Von diesen »Völkern« unterscheidet er zweitens »Juden«. Ich komme auf diese Kernfigur modernen antisemitischen Wissens gleich zurück. Die Bejahung eines »geistigen Prinzips«,21 des »Gemeinschaftsgeistes« oder Ethos des »Volkes«, verwandelt Individuen in Glieder eines Ganzen. Es komme, so drückt Friedrich Rühs dies 1816 aus, 21 Ich habe die Formulierung Ernest Renans Aufsatz zur Nation entnommen: »Eine Nation ist eine Seele, ein geistige Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Das eine liegt in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat« (Renan 1995a: 56).

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»nur auf den Geist [an, J.W.], der ein Volk belebt, der es vereinigt und die Einzelnen zu einem unauflösbaren Ganzen an einander kettet, auf die Treue, die es bewahrt, auf die Liebe für das Vaterland, auf seinen Glauben an Gott und an sich, auf seine Bereitwilligkeit, die irdischen Güter gering zu achten, und alles, selbst das Leben, den unwandelbaren Heiligthümern und den Forderungen des Gemüths zum Opfer zu bringen« (Rühs 1816a: 4). Der »Volksgeist« liegt der Einheit des »Volkes« zugrunde. Diese Einheit kann mehr oder weniger verwirklicht sein, ein »Volk« kann mehr oder weniger zu einer Einheit »zusammengewachsen« sein. »Zusammenwachsen«, die Verpflichtung aller auf das Ethos der Gemeinschaft, ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Ein »Volk« wird eine Einheit in Geschichte und drückt in ihr seine Eigenart aus: Ein »Volk« kann »nur zu einem Ganzen werden durch ein inniges Zusammenwachsen aller seiner Eigenthümlichkeiten, durch die gleiche Art ihrer Aeußerung: durch Gesinnung, Sprache, Glauben, durch die Anhänglichkeit an seine Verfassung« (Rühs 1816a: 4, Hervorh. J.W.). Da »Volk« in dieser Auffassung als ontologische Entität gegeben ist und als praktische Einheit in Geschichte wird, wird »Volk« zu einem historischen Entwicklungsbegriff. Volkszugehörigkeit bildet nach dieser Position die Grundlage der Staatszugehörigkeit. Der Staat ist entsprechend mehr und anderes als ein Rechtsverhältnis – er ist der Staat eines »Volkes«. Die politische Einheit wird so zum Ausdruck der Einheit des Volkes. »Der Staat ist ein todter Begriff ohne ein Volk, und ein Volk ist Nichts ohne Volksgeist« (Rühs 2004: 184). Grundlage des Staates ist für Rühs nicht der Entschluss Einzelner, sich durch Vertrag an ein gemeinsames Recht in einem eben dadurch nach innen befriedeten Staat zu binden, sondern die Gemeinsamkeit einer Lebensweise, in der sich der »Volksgeist« oder »Nationalcharacter« ausdrückt. Zwar könne ein Volk in seinen »Eigenthümlichkeiten« auch uneinheitlich sein. Dann aber sei es ein »Nichts«, es habe seine »Volksthümlichkeit«, den »Inbegriff aller derjenigen Umstände und Eigenschaften, wodurch ein bestimmtes Volk, gerade dieses bestimmte Volk wird« und die »gleichsam die Seele seines ganzen Daseyns« ausmacht (Rühs 2004: 184), verloren.

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»Völker«, so können wir nun schließen, werden als zu einem Ganzen ›zusammengewachsene‹ Einheit von Teilen verstanden, die sich im Handeln dieser Teile als Gemeinsamkeit der Gesinnung, der Sprache, des Glaubens und der Treue zur gemeinsamen politischen Einheit im Staat ausdrückt. Bei Michaelis folgt aus der Vorordnung des Volkes vor den Staat, dass die rechtliche Gleichstellung der Juden im Staat ein »Unrecht gegen das Volk« wäre (Michaelis 1973: 56). Da Juden einem anderen »Volk« angehören, werden sie »unsern Bürgern […] doch nicht gleich zu schätzen seyn, also auch nicht völlig einerley Befreyungen mit ihnen geniessen sollen, weil es nie die Liebe gegen den Staat, das volle mit Stolz auf ihn […] durchdrungene Bürgerherz bekommt« (Michaelis 1973: 41f.). Solange Juden nicht mit »uns« »zusammenwachsen«, können »wir« ihnen nicht nur keine Bürgerrechte verleihen, vielmehr sei die räumliche Trennung der Lebenswelten aufrechtzuerhalten: »Ein solches Volk kann uns vielleicht durch Ackerbau und Manufacturen nützlich werden, wenn man es auf die rechte Weise anfängt, noch nützlicher wenn wir Zuckerinseln hätten, die bisweilen Entvölkerung des europäischen Vaterlandes werden, und bey dem Reichthum den sie bringen ein ungesundes Clima haben« (Michaelis 1973: 41f.; vgl. auch 93). Damit lässt sich die grundlegende Differenz zu Dohm klar formulieren:22 Bei Dohm ist das Rechtsverhältnis der Bürger im Staat unabhängig von der Zugehörigkeit zu Gruppen; der Status des Bürgers kommt einem Individuum als Rechtsperson unter bestimmten, von jener Zugehörigkeit unabhängigen Voraussetzungen, nämlich Eigentum, zu. Bei Michaelis ist es genau andersherum. Bürger im Staat kann nur sein, wer dem »Volk« angehört. Zugehörigkeit wird durch die Gemeinschaft der Kultur und der Abstammung festgelegt (auf Letztere komme ich gleich zu sprechen). Solange Juden ihre religiöse 22 Karlfried Gründer (1994: 42) ist zuzustimmen, dass eine wesentliche Differenz zwischen Michaelis und Dohm darin liegt, dass jener die religiösen Vorschriften der Juden viel ernster nehme als dieser, dass es sich aber um die zentrale Differenz handele, scheint mir zu stark. Vielmehr liegt die zentrale Differenz zwischen beiden in der unterschiedlichen Bedeutung des Selbstbilds »Volk«, das bei Michaelis als Wir-Gruppe identitätsrelevant ist, bei Dohm nicht.

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Lebensweise beibehielten, seien sie kein Teil von »uns« – sie müssen sich folglich erst von dieser Lebensweise abwenden, um Bürgerrechte erlangen zu können. Das Selbstbild ist in beiden Fällen, bei Dohm wie bei Michaelis oder Rühs, modern. Während aber Dohm unter »Volk« Individuen versteht, die durch eine Institution, Staat, als Träger von Individualrechten aufeinander bezogen sind, ist »Volk« für Michaelis wie für Rühs und im modernen Antisemitismus insgesamt eine durch ein Ethos getragene Gemeinschaft, die der politischen Gemeinschaft im Staat vorhergeht und sie begründet. Mit der Gleichheitszuschreibung »deutsch« überschreitet Michaelis – wie Dohm mit der Gleichheitszuschreibung »Bürger« auch – alle ständischen Schranken. Doch die Selbstbeschreibung »deutsch« verwandelt die darunter Befassten nicht in jeder Hinsicht in Gleiche, sondern nur in einer Hinsicht, nämlich im Hinblick auf das gemeinsame Leben in einem Staat und die Verpflichtung auf das gemeinschaftliche Ethos (vgl. dazu nur Rühs 1816a: 37). Im Hinblick darauf allerdings hat Michaelis eine in ihrem Kern auf Ungleichheit aufbauende Gesellschaft in eine transformiert, die im Kern auf Gleichheit aufbaut. Mit dieser Verwandlung, die de facto ja nichts anderes ist als eine – im Sinne Max Webers idealtypische – Reflexion auf den absolutistischen preußischen Staat, der im ausgehenden 18.  Jahrhundert seine Rechtsordnung in dieser Weise reformiert (vgl. hier, Kapitel 3), hat sich auch bei Michaelis der soziale Ort der Juden in der Gesellschaft verändert: Sie stehen wie bei Dohm nun als Minderheit einer Mehrheit gegenüber. Die Unterscheidung von Mehrheit und Minderheit ist eine Folge des Wandels der Selbstbilder (und nicht etwa der antisemitischen Feindbilder). Sie ist spezifisch modern,23 denn sie erfordert erstens eine Gleichheitszuschreibung im Selbstbild, die allen sonstigen Unterscheidungen übergeordnet ist und Herrscher und Beherrschte umfasst. Sie erfordert zweitens die Auflösung sozialräumlicher Distanzen. Mehrheit und Minderheit bewegen sich nicht in unterschiedlichen Sozialräumen, sondern im gleichen Sozialraum. So wird das Ethos eines »Volkes«, das sich in einer gemeinschaftlichen Lebensweise seiner Angehörigen, Herrschenden wie Beherrschten, ausprägt, zum allgemeinen Maß der Lebensweise und zur Grundlage einer 23 So auch Almong (1990: 143): »Modern antisemitism often dredged up the accusations levelled at the Jews in earlier times, but its principal allegation was that the Jews do not belong to the majority of peoples. That allegation is directly related to the emancipation of the Jews and the emergence of a society in which all – Jews included – are equal before the law.«

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neuen Forderung: Unter der Voraussetzung der Unterscheidung von Mehrheit und Minderheit kann man von der Minderheit fordern, sich der landesüblichen Lebensweise anzupassen, sich im Hinblick auf das Kriterium des Unterschieds zwischen Mehrheit und Minderheit der Mehrheit gleich zumachen, sich zu assimilieren, in Michaelis’ Worten: zu »verschmelzen«. Die Bewahrung eigener Lebensweisen, »Absonderung«, all das, was eine ständisch gegliederte Gesellschaft auszeichnet, verwandelt sich in die Abweichung einer Minderheit. Die Lebensweisen sind nicht einfach anders, sondern in ein hierarchisches Verhältnis gebracht, sie werden im Hinblick auf die der Mehrheit betrachtet. Folglich artikuliert die Unterscheidung von Mehrheit und Minderheit, sofern sie nicht analytisch getroffen wird, sondern eine eigene Lebensweise von anderen unterscheidet, ein modernes Homogenitätsideal. Wer »hier« leben will, soll so leben, wie »wir«, sich auf »unser« »Ethos« verpflichten und »mit uns essen und trinken«. Keine hundert Jahre früher wäre Michaelis für eine solche Forderung vom Hof getrieben worden. »Verschmelzung« bedeutet für Michaelis erstens das Bekenntnis zu einer der in Preußen anerkannten Konfessionen. Das heißt für Juden: Taufe. Doch die Taufe ist nicht mehr der, sondern nur der erste Schritt der Assimilation. Aus der Taufe folgt nur die Zugehörigkeit zu einer der christlichen Konfessionen. Der zweite Schritt der Assimilation ist die Anpassung an die als »deutsch« bezeichnete gemeinsame Lebensweise des Volkes und sein Ethos. Im Ergebnis bedeutet dies: Ein Jude gehört zu »uns«, wenn er seine religiöse Lebensweise zugunsten der christlichen aufgibt und die deutsche annimmt, wenn er also keine Jude mehr ist. Das meine ich mit Homogenisierung. Die Semantik der Gleichheit der Angehörigen eines Volkes, das sich im Staat eine politische (hier: absolutistische) Einheit gibt, ist weit mehr als eine Zuschreibung zur Klassifikation und Unterscheidung von Personengruppen (wie z.B. Steuerklassen nach Einkommen, Berufsgruppen nach ausgeübten Berufen usw.): Sie ist identitätsrelevant. Michaelis schreibt nicht über »die Deutschen«, sondern über »uns« Deutsche, er klassifiziert nicht Personengruppen, sondern unterscheidet Kollektive, Wir-Gruppen. Identitätsrelevanz meint, dass Michaelis das kollektive Selbstbild als Angehöriger einer WirGruppe, nicht als deren Beobachter artikuliert: Bei »uns« können Juden keine Bürgerrechte haben. Paul Ferdinand Buchholz24 bringt 24 Buchholz machte sich als Publizist in Berlin mit der 1805 veröffentlichten Schrift Der neue Leviathan einen Namen als Gegner adeliger Privilegien und Anhänger der französischen Revolution (vgl. zu Buchholz: Bergmann 2009c:

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die Identitätsrelevanz der Zugehörigkeit zum deutschen Volk im Selbstbild besonders deutlich zum Ausdruck: »Doch man sey beides in dem allerhöchsten Grade [Geschichtsforscher und Kosmopolit, J.W.], so gehört man immer einem Vaterlande, einem Volke an, und insofern man das letztere als den eigentlichen Entwicklungsgrund seiner (besseren) Individualität zu betrachten genöthigt ist, so hat man, vermöge einer natürlichen Dankbarkeit, die stärkste Aufforderung, durch selbsterworbene Einsicht, soweit es gestattet ist, auf seine Mitbürger zurückzuwirken« (Buchholz 1803: 203). Die »natürliche Dankbarkeit« ist nichts anderes als die Abhängigkeit des einzelnen von einer Gruppe, die ich in Kapitel 2 als Grundlage von Kollektivierung erörtert habe. Deswegen ist Zugehörigkeit für den einzelnen identitätsrelevant (womit nicht gesagt ist, welche).

4.1.2 Ethnisierung Kulturelle Homogenität, die Gemeinschaft einer Lebensweise, welche die Gemeinschaft des Bekenntnisses zu einem geistigen Prinzip, dem »Volksgeist«, zum Ausdruck bringt, ist nur die eine Seite der Bestimmung von Zugehörigkeit im Selbstbild. Michaelis unterscheidet nicht nur zwischen unterschiedlichen »Nationalcharacteren« von »Völkern«, sondern grenzt die Zugehörigkeit zu diesen darüber hinaus durch die Gemeinschaft der Abstammung ein. Auch ungläubige Juden sind für ihn deshalb der »Geburt nach Juden«. Die zweifache 110-113). Zwei Jahre vorher, 1803, publizierte er Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältniß der Juden und Christen, seine erste antisemitische Veröffentlichung. Buchholz galt Anfang des 19. Jahrhunderts als einer der wichtigsten politischen Publizisten im deutschen Sprachraum. Seine erste antisemitische Publikation fällt in den Beginn einer Zeit sich verstärkender publizistischer Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der rechtlichen Gleichstellung der Juden, die, anders als die Debatte im Anschluss an Dohm, ein breiteres Publikum erreichten. Von Grattenauers ebenfalls 1803 veröffentlichter Schrift Wider die Juden wurden 13.000 Exemplare aufgelegt; es gehörte »zu den erfolgreichsten Büchern dieser Epoche« (Jersch-Wenzel 2000a: 30). Ende des Jahres wurde schließlich eine Verfügung erlassen, »durch die alle Veröffentlichungen für oder gegen die Juden verboten wurden« (Jersch-Wenzel 2000a: 30), ohne dass dies die Akteure an weiteren Publikationen gehindert hätte (vgl. Bergmann 2011a: 154).

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Bestimmung von Zugehörigkeit über das Bekenntnis zum gemeinsamen Ethos, das in der Gemeinschaft der Kultur einen Ausdruck findet, und Abstammung ist der Standard im modernen Antisemitismus. In der Festlegung der Zugehörigkeit zur Gruppe der Deutschen und zur Gruppe der Juden unterscheiden sich die Autoren des späten 18. nicht von denen des späten 19. Jahrhunderts (der rassistische Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts legt Zugehörigkeit ebenfalls in dieser Weise fest), und auch im 20. Jahrhundert wird Zugehörigkeit zu »Volk« in dieser Weise bestimmt (vgl. die detaillierten Nachweise in Holz 2001). Diese Festlegung von Zugehörigkeit im Selbstbild ist in keiner Weise für den Antisemitismus spezifisch. Sie bildet vielmehr die Grundlage der uns in unserer Alltagspraxis vertrauten Unterscheidung von »Völkern«. Deshalb ist sie auch nicht per se antisemitisch. Auch die Unterscheidung eines »deutschen Volkes« und eines »jüdischen Volkes« als Kultur- und Abstammungsgemeinschaft wird nicht nur von Antisemiten vorgenommen. Vielmehr gehört die Annahme, »Völker« seien historisch-genealogisch Einheiten, die sich in Staaten selbst regieren, zum Grundbestand modernen Wissens. Vielleicht heißt nicht jeder gut, dass »die Kurden« einen eigenen Staat (wie die meisten anderen »Völker« auch) beanspruchen, aber der Anspruch von »Völkern« auf Selbstregierung in Staaten gilt als ebenso selbstverständlich wie die öffentliche Diskussion der Frage, ob ein polnischstämmiger Fußballnationalspieler der deutschen Mannschaft im Länderspiel zwischen Deutschland und Polen wohl in Loyalitätskonflikte gerät. Kurz: Antisemitisch wird die historisch-genealogische Unterscheidung zwischen einem deutschen oder einem anderen »Volk« und »Juden« nicht durch die Unterscheidung selbst, sondern durch die Feindbeschreibungen, auf die ich im nächsten Abschnitt zu sprechen komme. Umgekehrt ist die Frage der Festlegung von Zugehörigkeit für das Verständnis des modernen Antisemitismus hoch relevant: Von diesen Regeln hängt nicht nur ab, ob und wie man einem Volk zugehörig werden kann. Von den Zugehörigkeitsregeln hängt die Unterscheidung von »Völkern« und »Juden« insgesamt ab – ohne Regel der Zugehörigkeit kein Unterschied. Der springende Punkt an dieser Stelle ist nicht, diese oder eine andere Regel der Festlegung von Zugehörigkeit zu kritisieren. Vielmehr geht es darum, sie in ihrer historischen Entwicklung zunächst zu verstehen. Die Festlegung von Zugehörigkeit zu Gruppen durch Abstammung ist alles andere als neu. Abstammung ist vielmehr das älteste

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Kriterium der Festlegung von Zugehörigkeit. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass auch der christliche Judenhass Christen und Juden nicht nur als Religionsgemeinschaften, sondern spätestens seit dem 15. Jahrhundert auch als Abstammungsgemeinschaften begriffen hat25 und dass dies eher die Regel als die Ausnahme war. Die Grenze zwischen Christen und Juden blieb – kulturell, nicht der genealogischen Zugehörigkeit nach – allerdings in der Regel durch Bekehrung überschreitbar.26 Was sich mit dem Wandel von der vormodernen zur modernen Wissensformation des Antisemitismus verändert, ist also nicht das Kriterium der Bestimmung von Zugehörigkeit durch Abstammung. In diesem Wandel wird vielmehr genealogische Zugehörigkeit auf die Grundgesamtheit »Volk« bezogen, weil damit die neue Frage nach der Zugehörigkeit zum Staat beantwortet werden kann. Der bisher entwickelte Einwand von Michaelis gegen den Bürgerstatus der Juden (Gemeinschaft der Lebensweise als Voraussetzung für diesen Status) grenzt das eigene Kollektiv nur beschränkt ein. Die Praxis einer Lebensweise ist prinzipiell von jedem erlernbar. Die genealogische Festlegung von Zugehörigkeit grenzt das eigene Kollektiv eindeutig ein. »Deutsch« ist, wer eine »deutsche« Lebensweise praktiziert und genealogisch der Abstammungsgemeinschaft der Deutschen zugehört. Diese Form der Bestimmung von Zugehörigkeit nenne ich in Anlehnung an Max Weber Ethnisierung: »Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen 25 Dies ist auch in der Debatte um Dohms Emanzipationsforderung bei den Vertretern eines christlichen Judenhasses der Fall. So schreibt Schwager z.B. Juden bestimmte Eigenschaften zu, etwa eine besondere »Lebhaftigkeit« (Schwager 1973: 99), die sie zu bestimmten Tätigkeiten wie z.B. dem Ackerbau untauglich mache. 26 Vgl. Hortzitz 2005: 279f., Mosse 1996: 10. Zu Ethnisierungen in judenfeindlichen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts Hortzitz (2005: 257-280). Allerdings besteht zwischen dem individuellen christlichen Bekenntnis und der Gruppenzugehörigkeit eine strukturelle Spannung, weil sie »one of the basic tenets of the Christian Heilsgeschichte, the eschatological hope (in theory) and missionary zeal (in practice)« (Tal 1971a: 225; vgl. auch Tal 1971b: 6f.) bestreiten und das christliche Postulat der Gleichheit unterlaufen, indem sie im Begriff des Christen eine Unterscheidung vornehmen (zwischen Christ und Taufjude, zwischen, wie in Spanien, »Altchrist« und »Neuchrist«).

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wichtig wird, dann, wenn sie nicht ›Sippen‹ darstellen, ›ethnische‹ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht. Von einer ›Sippengemeinschaft‹ unterscheidet sich die ›ethnische‹ Gemeinsamkeit dadurch, daß sie eben an sich nur (geglaubte) ›Gemeinsamkeit‹, nicht aber ›Gemeinschaft‹ ist, wie die Sippe, zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftshandeln gehört« (Weber 1956: 307). Weil Ethnisierung ein »askriptives Kriterium der Zugehörigkeit« (Holz 2001: 208) angibt, stellt sie eine eindeutige Zuordnung von Personen zu Gruppen her. Erst diese Zuordnung von Individuen zu Gruppen verbindet eine Abstraktion, »Deutschheit« (das »germanische Wesen«, Michaelis’ »Temperament« usw.) eindeutig mit einem konkreten Träger, einzelnen Deutschen. Im ethnischen Gemeinschaftsglauben grenzen sich Gruppen als genealogische Gemeinschaften ein und unterscheiden sich eben dadurch von anderen. Die ethnische Bestimmung von Zugehörigkeit im nationalen Selbst- und im antisemitischen Feindbild ist der Grund, warum schon Michaelis von der »Race« der Juden spricht (Michaelis 1973: 51). »Race« bezeichnet bei Michaelis und seinen Nachfolgern (vgl. nur exemplarisch Grattenauer 1791: 39) die Festlegung von Zugehörigkeit zum »Volk« durch Abstammung. Die Ethnisierung von »Volk«  – und darin unterscheidet sie sich von anderen Formen der Ethnisierung – ist erstens politisch, insofern die Zugehörigkeit zur Abstammungsgemeinschaft die Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft begründet (Michaelis bindet den Bürgerstatus und das Bekleiden öffentlicher Ämter [z.B. Michaelis 1973: 58] daran). »A politically organized society should necessarily be ethnically homogenous« (Francis 1976: 41; vgl. auch Weber 1956: 307). Sie ist zweitens modern, weil sie impliziert, dass Herrscher nicht durch eine besondere Herkunft zur Herrschaft qualifiziert sind, sondern dadurch, dass sie der gleichen Abstammungsgemeinschaft wie die Beherrschten angehören. Modern ist der ethnische Gemeinschaftsglaube also, weil er »Volk« als ethnische Gemeinschaft ausweist, die den Anspruch hat, sich im Staat selbst zu regieren (bzw. von Angehörigen der eigenen Ethnie regiert zu werden).27 27 Ethnisierung stellt nicht nur eine eindeutige Beziehung zwischen Individuum und Gruppe her, sie verbindet auch das innerweltliche Dasein mit einer transzendenten Welt, sie setzt anstelle des christlichen Ursprungsmythos einen

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Weil Deutsche und Juden unterschiedlichen Abstammungsgemeinschaften mit unterschiedlichen »Temperamenten«, einem jeweils eigenen Ethnos mit eigenem »Volksgeist« angehören, können Juden im Staat der Deutschen keine Bürger sein. Friedrich Rühs formuliert diesen Zusammenhang von kultureller und ethnischer Bestimmung von Zugehörigkeit und Rechtsstatus im Staat 1816 klar: »Die Juden als Nation betrachtet, haben ihre Landsleute, mit denen sie durch Abstammung, Gesinnung, Pflicht, Glauben, Sprache, Neigung zusammenhängen, auf der ganzen Erde: sie machen mit ihnen eine Einheit aus, und müssen ihnen nothwendig inniger ergeben seyn als dem Volk, unter dem sie leben, das ihnen immer fremd bleiben muß« (Rühs 1816a: 4). »Völkern« kann man zugehörig werden (vgl. exemplarisch Arndt 1814: 197f.). So gut wie alle Antisemiten gehen davon aus, dass »Völker« keine sich selbst gleichen Entitäten sind, sondern sich in Geschichte entwickeln und im Zuge dieser Entwicklung auch mit anderen »Völkern« »zusammenwachsen« oder »verschmelzen«. »Nun darf ein Volk, ohne sich selbst zu schaden, sich nicht so scharf absondern, um die Aufnahme einem jeden Fremden zu versagen: aber nur unter der Bedingung, daß wer Mitglied eines andern Volks werden will, sich ihm ganz hingebe und gleich stelle; wenn der erste Erwerber eines neuen Volksrechts nicht ganz mit seinen neuen Landsleuten verschmilzt, so werden es seine nächsten Nachkommen: so sind ja unzählige Franzosen und selbst Juden, sobald sie aufhörten, Juden zu seyn, Deutsche geworden« (Rühs 1816a: 4). Das Selbstbild einer Abstammungsgemeinschaft schließt also die »Einschmelzung« von Fremden nicht aus, sondern ein. Bedingung für die »Verschmelzung« ist erstens der unbedingte Wille auf Seiten der Angehörigen eines anderen »Volkes«. Der Wechselwillige muss sich »ganz hingeben«, d.h. sich in seinem ganzen Verhalten, in seinem Denken und Fühlen dem jeweiligen »Geist« des Volkes assimilieren. Michaelis hatte dies in der Formulierung zum Ausdruck neuen Ursprungsmythos, indem sie die soziale Welt in neuen Letztinstanzen vorstellt, den Völkern. Ich erörtere diesen Punkt im nächsten Unterabschnitt.

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gebracht, mit »uns« zu essen und zu trinken. Der Wechselwillige muss zweitens seine bisherige Zugehörigkeit aufgeben und aufgeben wollen. Nicht nur das äußere Tun, sondern das Wollen ist das Maß der Hingabe. Auch Juden sind in den antisemitischen Selbstbildern grundsätzlich nicht davon ausgeschlossen, einem anderen »Volk« zugehörig zu werden. Ja, kaum ein Antisemit vergisst es, diese Möglichkeit besonders hervorzuheben. »Unmenschlich ist es, den Juden einen Vorwurf zu machen, daß sie Juden sind; nur darin liegt ihre Schuld, daß sie es bleiben, selbst wenn sie Gelegenheit haben, von ihren Irrthümern und den Ursachen ihres traurigen Zustands sich zu überzeugen« (Rühs 1816a: 35). Entgegen der landläufigen Vermutung, dies sei im Rassismus anders, gehen auch die Rassisten des späten 19.  Jahrhunderts davon aus, dass »Völker« Produkte historischer Entwicklung und Produkte der »Vermischung« sind – der bekannteste Rassist des ausgehenden 19.  Jahrhunderts, Houston Stewart Chamberlain, schreibt in den Grundlagen des 19.  Jahrhunderts die Geschichte der europäischen »Völker« als Geschichte ihrer »Mischung« und Abschließung, an deren Ende das deutsche »Volk« alle anderen überstrahlt. Daran ändert auch die Unterscheidung von angeborenen und erworbenen Merkmalen der Angehörigen eines »Volkes«, die sich schon bei Grattenauer (1791: 111) findet, nichts  – »Mischung« bedeutet ja gerade ethnische Mischung. Dass Ethnisierung nicht ausschließt, einem »Volk« zugehörig zu werden, scheint sich aus der Historisierung von »Volk« erklären zu lassen, der Auffassung, »Völker« würden sich in Geschichte entwickeln  – die »Einschmelzung« wird als selbst wieder historischer, mehrere Generationen dauernder Prozess verstanden. Während aber »Völker« »verschmelzen« können, wird diese Möglichkeit für Juden zwar einerseits zugestanden, sie wird aber andererseits zugleich bestritten. Dies kann nicht nur an der doppelten Bestimmung von Zugehörigkeit (Kultur, d.h. Verinnerlichung des Ethos, und Abstammung) liegen. Denn sie gilt für alle »Völker« in gleicher Weise. Dass beispielsweise Franzosen Deutsche werden können, Juden aber nicht, erklärt sich aus dem Inhalt der antisemitischen Zuschreibungen. Darauf komme ich in Kapitel 4.2 zu sprechen.

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4.1.3 Die Verbindung von Ethnos und Ethos: Historisierung und Rationalisierung von »Volk« In den Selbstbildern des modernen Antisemitismus sind »Völker« als Abstammungsgemeinschaften noch keine Einheit. Zu einem »Ganzen« (Rühs 1816a: 4) werden sie erst als Kulturgemeinschaften. »Völker« »verschmelzen«, »wachsen zusammen« oder werden »wiedergeboren«. »Volk« ist in dieser Konstruktion ein historischer Entwicklungsbegriff, und zwar in beide Richtungen: Mit Blick auf die gemeinsame Vergangenheit der Abstammungsgemeinschaft und mit Blick auf die gemeinsame Zukunft der Ausprägung des geistigen Prinzips, dessen unzureichende Verwirklichung in Vergangenheit und Gegenwart man nun kritisieren und  – in der Regel durch Erziehung oder Bildung  – in der Zukunft verbessern kann. Ethnos und Ethos »werden« in und durch Geschichte zu einem »Ganzen«. Entsprechend werden Geschichte in Gestalt der Geschichte des eigenen »Volkes« und Zukunft in Gestalt der normativen Qualität der Ausprägung der Besonderheiten dieses »Volkes« identitätsrelevant. »Wir« wissen, wer »wir« sind, wenn »wir« wissen, wer »wir« geworden sind, woher »wir« kommen und wohin »wir« gehen. In der Geschichte des Volkes verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Entwicklungsvorstellung (4.1.3.1). Zur Historisierung des Antisemitismus und seiner Darstellung als historischer Entwicklung eines feindlichen Gegensatzes von »Völkern« und »Juden« tritt die Verpflichtung auf Wissenschaftlichkeit, d.h. der Anspruch, eine Geschichte nach rationalen und verallgemeinerbaren Maßstäben zu erzählen (4.1.3.2).

4.1.3.1 Historisierung »Volk« ist schon bei Michaelis ein historischer Begriff, in dem »die Heilsgeschichte zur innerweltlichen »Volksgeschichte« ontologisiert« (Holz 2001: 208) wird. In jedem einzelnen »Volk« tritt, »seiner Eigenheit gemäß […], die Erscheinung der Gottheit in ihrem eigentlichen Spiegel heraus, so wie sie soll; und nur der, der entweder ohne alle Ahnung für Gesetzmäßigkeit, und göttliche Ordnung, oder ein verstockter Feind derselben wäre, könnte einen Eingriff in jenes höchste Gesetz der Geisterwelt wagen wollen.

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Nur in den unsichtbaren, und den eignen Augen verborgenen Eigentümlichkeiten der Nationen, als demjenigen, wodurch sie mit der Quelle ursprünglichen Lebens zusammenhängen, liegt die Bürgschaft ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Würde, Tugend, Verdienstes; werden diese durch Vermischung und Verreibung abgestumpft, so entsteht Abtrennung von der geistigen Natur, aus dieser Flachheit, aus dieser die Verschmelzung aller zu dem gleichmäßigen und aneinanderhangenden Verderben« (Fichte 1978: 214). Die Verwandlung eines religiösen heilsgeschichtlichen Weltverständnisses in ein historisches, das Geschichte als Geschichte von Völkern interpretiert, ist oft als Säkularisierung interpretiert worden. Doch handelt es sich dabei weniger um einen Prozess der Säkularisierung als um einen Prozess der Transformation religiösen Weltverstehens. Denn »Volk« wird zu einer Letztinstanz, die ontologisch verstanden wird (Abstammungsgemeinschaft) und sich in Geschichte entwickelt (Kulturgemeinschaft). Das Werden des »Volkes« ist nichts anderes als die historische Ausprägung seines »Wesens« oder »Nationalcharacters«. »Jede Nazion hat sich von den Schlacken der Barbarei, der Dummheit, und Faulheit, nach und nach gesäubert, sie hat ihre Sitten, ihre Religion, ihre Moral verbessert, verfeinert und umgeschaffen. Sie hat von den früher erlangten Einsichten anderer Völker Nutzen gezogen,  – der Irokose, der Kaffer, der Mongole bilden sich, sie verlassen selbst den Götzendienst, und entwickeln bei sich Tugenden, daran sie selbst in ihrem wilden und rohen Stande nie arm waren« (Grattenauer 1791: 112). Dieser Entwicklungsprozess, sei er nun, wie in der zitierten Passage von Grattenauer, als Prozess der Selbstbildung gefasst, oder, wie bei anderen Autoren, als Prozess der Bildung der Nation durch eine Elite, wird als ein historischer und prinzipiell unabgeschlossener Prozess der Kultivierung und Verfeinerung des »Wesens« der »Nazion« verstanden. »Nazion« aber ist nicht nur Produkt von Geschichte, sondern zugleich Grundlage von Geschichte  – bei Grattenauer ist dies ganz deutlich in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, Nationen würden sich in Geschichte »umschaffen«. »Umschaffen« kann sich nur, wer Voraussetzung und Produkt des Schaffens ist. Die »Identität in der Selbstformung des Deutschen postuliert ein sich

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in der Geschichte erhaltendes Wesen, das zu einer historisch und logisch nicht hintergehbaren Letztinstanz ontologisiert wird« (Holz 2001: 217). Das Werden, verstanden als Prozess der Ausprägung des geistigen Wesens, ist nicht in allen, aber in vielen Fällen vermittelt durch heroische Persönlichkeiten (die Nation Kants oder Goethes). Dieser Prozess wird nicht nur als geistiger, sondern auch als materieller Prozess gedeutet, in dem sich »Völker« durch Arbeit entwickeln. Wie zum Christentum eine religiöse Praxis gehört, ist das Bekenntnis zum Ethos des Volkes mit einer weltlichen Praxis des Alltagslebens und der »Nazionalarbeit«, die den materiellen Reichtum des Volkes sichert, verbunden. Paul Buchholz etwa sieht den »letzten Staatszweck« in einer »kraftvollen Nazionalexistenz« (Buchholz 1803: Vorrede: 3). Die »Nazionalexistenz« sei in der »Industrie der Staatsbürger« enthalten, weshalb alles, was diese nicht befördere, dem »letzten Staatszweck« entgegenstehe. Für einen Angehörigen eines christlichen Volkes sei Arbeit »das Mittel, wodurch er seinen Standort in der Gesellschaft behauptet. Er fühlt sich nicht als Individuum, sondern als Fragment eines kleineren oder größeren Ganzen«, dessen Bestreben »immer« dahin gehe, »sich anderen nützlich zu machen, indem diese ihm wieder nützlich werden« (Buchholz 1803: 82). Juden hingegen nähmen nicht an der »Nazionalarbeit« teil, sie lebten vielmehr von anderer Leute Arbeit. Daraus folge »bis zur Evidenz, daß, wenn es auch möglich wäre, alle übrigen Staatsbürger durch die allervollkommenste Stellung so ineinander zu fügen, daß alle nur Ein Interesse hätten, man es gleichwohl nie dahin bringen würde, die Juden für dieses Eine Interesse zu gewinnen« (Buchholz 1803: 73). Nach Grattenauer »arbeiten« Juden »nicht, sie säen nicht, sie erndten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern. – Sie leben im Müßiggange« (Grattenauer 1791: 32) und untergrüben durch diese andere Existenzweise die zentralen Tugenden der eigenen Gruppe, das eigene Ethos, »Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und Treue« und »befördern die Sittenlosigkeit« (Grattenauer 1791: 32; 33). Wären sie in »fremden Nazionen Feldarbeiter, Handwerker, Künstler« geworden, so wären sie keine Juden geblieben. Die Gemeinschaft der Tätigkeit hätte Juden vielmehr »auf das allervollkommenste mit diesen Nazionen identifizirt« (Buchholz 1803: 109). Daraus folgert Buchholz, dass Juden,

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wenn sie »Aufnahme bei uns finden« wollen, »Theil an unserer Arbeit nehmen« müssen (Buchholz 1803: 116). Doch schon Michaelis zweifelt, ob Juden »zum Ackerbau Lust haben werden« (Michaelis 1973: 57), sein Haupteinwand gegen die Emanzipation der Juden besteht in der Befürchtung, dass diese »unsere Deutschen auskaufen« (Michaelis 1973: 46). Arbeit gilt als wertschaffend und gemeinschaftsstiftend, der Handel als Aneignung der durch Arbeit geschaffenen Werte, der nicht an der Gemeinschaft, sondern am Eigennutz orientiert sei. Bei Rühs wird dieser Gegensatz in der Auffassung ausgedrückt, für Juden sei Arbeit eine »Strafe« (Rühs 1816a: 24-31).28 Was im Antisemitismus als historisierendes Bild der eigenen Wir-Gruppe artikuliert wird, das Selbstbild einer sich durch Arbeit und Bildung in der Zeit stetig verfeinernden Gruppe, ist offenbar in keiner Weise für den Antisemitismus spezifisch und geht weit über ihn hinaus (vgl. Holz/Weyand 2013). Dass Völker sich in Staaten durch Arbeit erhalten, gehört spätestens seit Smith’ Wealth of Nations ebenso zum Kernbestand der großen Nationalerzählungen wie die Auffassung, die Arbeit aller Angehörigen eines »Volkes« sei eine Pflicht des Einzelnen an der Gemeinschaft. Dies verweist auf einen fundamentalen sozialhistorischen Wandel im Verständnis von Arbeit, den Hannah Arendt plastisch in Vita activa (1997, insbes. Kapitel 6) nachgezeichnet hat. Während in der Bibel Arbeit als Folge der mit dem Sündenfall verbundenen Vertreibung aus dem Paradies verstanden wird, also eine Strafe darstellt  – eine Position, die der antiken Tradition der Hochschätzung der Kontemplation und der Befreiung von der Last des Herstellens korrespondiert und sich das ganze Mittelalter hindurch durch die theologischen Schriften zieht –, findet seit Luther im Protestantismus und seinen verschiedenen Spielarten eine Umwertung statt:29 Arbeit wird zusehends idealisiert 28 Rühs war protestantischer Theologe im beginnenden 19. Jahrhundert, zu einem Zeitpunkt also, als der im nächsten Absatz beschriebene Umwertungsprozess voll im Gange war. Im Umkehrschluss bedeutet die Zuschreibung, Juden fassten Arbeit als Strafe auf, dass »wir« sie nicht als Strafe auffassen. Dass »den Juden« Arbeit eine Last sei, verweist auf ein Selbstbild, in dem sie Ausweis gottgefälligen Lebens ist. 29 Diese Umwertung steht im Zentrum von Max Webers Protestantismusthese, in der die Entstehung einer der kapitalistischen Produktionsweise entsprechenden Maxime der Lebensführung darauf zurückgeführt wird, dass die durch Arbeit begründete innerweltliche Stellung des Einzelnen zunächst in der Prädestinationslehre in ein Zeichen eines gottgefälligen Lebens verwandelt wird. Im Zuge

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und schließlich als innerweltliches Mittel der Selbstverwirklichung begriffen. Aber nicht nur das Verständnis der Arbeit verändert sich, auch ihre Bedeutung für die Arbeitenden. Arbeit wird zum Mittel, durch das sich »Völker« entwickeln, Arbeit wird nationalisiert. Die Pflicht zur Arbeit ist keine allgemein-menschliche, sondern nationale Pflicht, das Arbeitshaus als das letzte Mittel ihrer Erzwingung ein Mittel der Nationalerziehung. Mit der historisierenden Nationalisierung der Arbeit wird der Gegensatz zwischen »Völkern« auf der einen und »den Juden« auf der anderen Seite historisch tief. Da in nationalen Selbstbildern »Völker« Voraussetzung und Produkt von Geschichte sind, reicht er entsprechend weit in die Vergangenheit zurück. Schon Michaelis entwickelt ihn als historischen Gegensatz zwischen arbeitsamen und ehrbaren »Völkern« und »Juden«. Juden arbeiteten nicht und seien ehrlos. Im Anschluss an Michaelis wird es zum Standard im Antisemitismus, den Gegensatz zu historisieren: Eine Vielzahl von Antisemiten zeichnet die Geschichte »der Juden« als Geschichte der Auspressung und moralischen Unterhöhlung anderer »Völker« nach, um schließlich in der Gegenwart beim Verhältnis der eigenen Gruppe zu Juden, das nach dem gleichen Modell konstruiert ist, zu enden. Historisierung von »Volk« als Entwicklungsbegriff bezeichnet also ein Verständnis der eigenen Wir-Gruppe als Abstammungsgemeinschaft, in dem diese sich sowohl kulturell in ihrem Ethos wie materiell in ihrer Praxis im Umgang mit Welt in der politischen Einheit Staat als Gemeinschaft praktisch entwickelt. Aus diesem Grund stehen die Zerstörung des eigenen Ethos (Moral) und die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen (Arbeit) im Zentrum der antisemitischen Zuschreibungen: Der Kern des modernen antisemitischen Wissens besteht in dem Vorwurf, Juden zersetzten »unsere« Moral und beuteten »uns« ökonomisch aus.

4.1.3.2 Rationalisierung Schon bei Michaelis hatte sich ein Charakteristikum modernen antisemitischen Wissens angedeutet, seine Verpflichtung auf Rationalität. Michaelis stellt keine verwerflichen Taten von Juden dar, sondern erder Verweltlichung des transzendenten Ziels arbeitsamen Lebens zu einem innerweltlichen Ziel wird Arbeit dann zum Instrument der Selbstverwirklichung.

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klärt und begründet, warum Juden keine Bürger sein könnten. Juden werden nicht einfach Vergehen vorgehalten, sondern die Schlechtigkeit der Juden wird in historischen Erzählungen mit wissenschaftlichem Anspruch dargelegt. Antisemiten führten einen »Beweis« und reklamierten damit die typischen Attribute von wissenschaftlichen Beweisen, Distanziertheit, Unvoreingenommenheit, Nachvollziehbarkeit, Objektivität und Wahrheitsanspruch für sich. Dies wird in Karl Wilhelm Grattenauers Ueber die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, einer 1791 als »Stimme eines Kosmopoliten« anonym publizierten Schrift eines gerade 19-Jährigen,30 die insbesondere wegen der Radikalität der in ihr erhobenen Forderung nach Ausweisung der Juden aus Berlin heftige Diskussionen auslöste (vgl. Benz, A. 2009: 307-308),31 besonders deutlich. Grattenauer »untersucht« das Handeln der Juden und versteht sich selbst als »Wahrheitsforscher« (Grattenauer 1791: 110; vgl. auch Grattenauer 1803b: 29). Der Antisemit hasst »den Juden« nicht, er benennt »wissenschaftliche Wahrheiten«.32 Entsprechend erwartet Grattenauer eine »bescheidene und gründliche Widerlegung der Irrthümer meines Verstandes« (Grattenauer 1791: 131), auf die er mit rationaler Gegenrede reagieren werde, solange sie von Nichtjuden stamme. Entgegnungen von Juden würden ignoriert. Auch dafür führt Grattenauer zwei »rationale« Motive an: Niemand könne in eigener Sache richten und darüber hinaus habe schon Shakespeare gezeigt, dass es unmöglich sei, »einen Juden zu überzeugen« (Grattenauer 1791: 132). Die Begründungspflicht, der sich die Antisemiten ausgesetzt sehen, ist über den akademischen Hintergrund der Diskutanten hinaus erstens eine Folge der Öffentlichkeit der Auseinandersetzung selbst, 30 Grattenauer selbst erklärt in der Vorrede zu Ueber die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, zum Zeitpunkt der Publikation der Schrift seine juristische Laufbahn schon einige Zeit abgeschlossen zu haben (vgl. Grattenauer 1791, Vorrede: 2 und 6). 31 In der im Nationalsozialismus erstellten Bibliografie Eichstädts ist diese Debatte unter dem Titel »Erste antisemitische Bewegung: Grattenauer« zusammengefasst (Eichstädt 1938: 30), eine Beschreibung, die den Charakter einer Debatte, die ausschließlich unter Intellektuellen geführt wurde, vielleicht nicht angemessen kennzeichnet, aber ihre Bedeutung in der Geschichte des modernen Antisemitismus deutlich macht. 32 Die Distanzierung der eigenen Person von Judenhass gehört im 19. und 20. Jahrhundert zu den Standards des Antisemitismus (vgl. exemplarisch nur Marr 2009: 38; Chamberlain 1905: 1, 25; Chamberlain 1903: 6-10) mit wenigen Ausnahmen (z.B. Wagner 2000). Aber auch bei Wagner spielt die Rationalisierung des Hasses eine Rolle: Er will ihn erklären.

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die in Zeitschriften und Buchpublikationen zwischen Befürwortern und Gegnern der rechtlichen Gleichstellung geführt wird. Darüber hinaus ist Begründungspflicht zweitens Teil des Wandels zu einem modernen, und das heißt: historisch-genealogischen Verständnis kollektiver Handlungseinheiten. Mit der abnehmenden Bindekraft religiöser Weltdeutungen und vor allem der schwindenden Macht der Kirche, diese auch durchzusetzen, tritt die wissenschaftliche, d.h. historisch erklärende Legitimation von Wissen neben und an die Stelle einer religiösen. Diese Entwicklung ist unhintergehbar zumal im Bildungsbürgertum, dem der Justizrat Grattenauer ebenso angehört wie der hoch angesehene Professor Michaelis und die anderen hier besprochenen Autoren. Natürlich kann man im frühen 19. Jahrhundert auch behaupten, Juden würden Ritualmorde begehen. Tatsächlich werden in Europa bis in das frühe 20.  Jahrhundert hinein Ritualmordprozesse geführt (im Deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1914 waren es 17, vgl. Groß 2002: 26, 28).33 Doch spielen solche traditionellen Stereotype in der bildungsbürgerlich geprägten Debatte um die Judenemanzipation keine zentrale Rolle. Gerade weil sich in dieser Debatte der Referenzrahmen verschoben hat, ändern sich auch die Legitimationsformen. Man kann Dohms Text nicht als Häresie definieren, sondern muss ihn widerlegen, d.h. sich auf die Ebene der Argumentation, des Erwägens von Gründen begeben. Und diese Gründe sind historisch. Die frühe Form der Rationalisierung des Judenhasses zu einer objektivierenden, »wissenschaftlichen« Darstellung der Geschichte von »Völkern« erfährt im 19.  Jahrhundert eine Wendung: Sie wird ausgebaut zu der Unterscheidung eines Antisemitismus des Gefühls und eines »Antisemitismus der Vernunft«.34 Diese Unterscheidung und die Abgrenzung von gefühlsbetonten Formen des Antisemitismus ist ein Charakteristikum antisemitischer Texte im gesamten 19. Jahrhundert; die Mehrzahl der prominenten Antisemiten vertreten sie in der einen oder anderen Form (vgl. Bergmann 2012).35 Auch dort, wo, wie z.B. bei 33 Allerdings endete kein Verfahren mit einer Verurteilung des bzw. der Beschuldigten (vgl. Groß 2002: 29f.). 34 Die Formulierung stammt aus einem Brief Hitlers an Adolf Gemlich (Hitler 1987: 192). 35 Bergmann unterscheidet für das ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert drei Typen, erstens den Versuch der rationalen Begründung des Antisemitismus, zweitens die Unterscheidung des eigenen Antisemitismus von einem »rohen« Antisemitismus des Volkes, drittens die Umcodierung von Emotionen, d.h. die Propagierung des Antisemitismus aus Liebe zum eigenen Volk. Der zweite

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Jakob Fries oder Karl Grattenauer, Juden leidenschaftlich gehasst werden, ist dieser Hass begründungspflichtig und wird in aller Regel mit wissenschaftlichem Anspruch begründet. Grattenauer »untersucht« »aus wahrer Menschenliebe, ohne Interesse und Leidenschaft, einen Gegenstand […,] der gewiß in unsern Tagen wichtig ist, und den unsere Reformatoren so ganz vernachlässigt haben, obgleich davon die Sittlichkeit unsers moralischen Characters, der Wohlstand, und die Ruhe unsers Lebens abhängt« (Grattenauer 1791: Vorrede: 5). Buchholz beschäftigt sich auf den ersten 200 Seiten seiner Abhandlung Moses und Jesus oder über das intellektuelle und moralische Verhältniß der Juden und Christen mit der historischen Entwicklung des Gegensatzes von Juden und Christen als »Geschichtsforscher« und »Kosmopolit« mit »Ruhe« und »Würde«, ohne »Übertreibung« oder »Partheilichkeit« (Buchholz 1803: 202f.). Ohne »Leidenschaft« nennt er die »nachtheiligen Folgen« jenes Gegensatzes, »das Schlimmste aller Verhältnisse« (Buchholz 1803: 202). In einer zweiten Bedeutung zieht sich die Unterscheidung eines rationalen von einem gefühlsmäßigen oder leidenschaftlichen Antisemitismus durch die weitere Geschichte des Antisemitismus hindurch. Die Debatte über den sozialen Ort der Juden in der Gesellschaft wird von Bildungsbürgern für Bildungsbürger in einer sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit geführt. Die Akteure wie die Rezipienten sind Teil einer – modern gesprochen – Bildungselite, und das ändert sich bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht. Die Abgrenzung dieses Milieus von allem, was außerhalb der eng umgrenzten Bereiche des Theaters und der Literatur mit Leidenschaft, Begehren, Emotionalität usw. zu tun hat, kurz: von allem, was nicht rationaler Überprüfung unterzogen wurde, gehört zur Lebensweise eines Milieus, in dem Bildung und damit die Distanz im Urteil eine der zentralen Identifikationen darstellt. Die Hochschätzung der Rationalität, des Vorbedachts und der Kultiviertheit und die Geringschätzung der ungelenkten Leidenschaft ist ein Distinktionsmerkmal,36 mit dem es sich von anderen gesellschaftlichen Gruppierungen abgrenzt. Man ist Typus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert prominent vertreten ist, spielt im frühen 19. Jahrhundert noch keine zentrale Rolle. 36 Wenn nicht ein Kennzeichen des Zivilisationsprozesses überhaupt (so jedenfalls Elias oder Foucault).

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Antisemit, aber ein kultivierter, und hat mit dem »Radauantisemitismus«, dem »Schmutz« und der »Rohheit« (Treitschke) der antisemitischen Bewegung nichts zu tun.37

4.1.4 Die strukturelle Ambivalenz der Forderung nach Assimilation Die doppelte Bestimmung von Zugehörigkeit (Ethos und Ethnos) ist die Grundlage der – das ganze 19. Jahrhundert hindurch erhobenen – Assimilationsforderung an Juden. Der moderne Antisemitismus findet seit Michaelis im »Nationalcharacter« »der Juden« Gründe, die eine »Verschmelzung der Juden mit anderen Völkern« (Michaelis 1973: 41) ver- oder behindern und propagiert Mittel, diese »Verschmelzung« herbeizuführen. So unterschiedlich diese Mittel sind (Aufgabe des religiösen Glaubens, Erziehung durch Militärdienst usw.), alle sind nach der Regel entworfen, dass sich ein Volk in einem Staat regiert. Assimilation bei Michaelis und den anderen Antisemiten meint einen Prozess der Anpassung von Juden an »unser« Ethos und ihre »Einschmelzung« durch sexuelle »Vermischung«. Assimilation meint also ein Verschwinden des Judentums und seiner Träger, der Juden, in einer homogenen Gemeinschaft »unseres Volkes«. Kulturell bezieht sich »Verschmelzung« im frühen modernen Antisemitismus auf das Bekenntnis zu einer der christlichen Konfessionen und zum Ethos des »Volkes«, d.h. auf eine innere (Gesinnung) und äußere (Lebensweise) Bejahung von Christentum und Volksethos. Bekenntnis und Lebensweise können zwar nicht von Kollektiven, aber von Individuen durch Taufe und kulturelles Lernen erworben werden. Grattenauer z.B. erklärt: Dass es Juden »giebt, die sich vom jüdischen Schmutz gereinigt, und mit der Aufklärung des Zeitalters, Fortschritte gemacht haben, ist nicht zu 37 Die bisher erörterten und die folgenden antisemitischen Texte enthalten eine mehr oder minder große Zahl an Stereotypen, die direkt auf sinnliche Erlebnisweisen bezogen sind, insbesondere auf Sexualität und den Geruchssinn, und die Überwältigungsfantasien artikulieren. Daher scheint es eine plausible Vermutung  – der ich im Rahmen dieser wissenssoziologischen Studie nicht weiter nachgehen kann  –, dass die Betonung wissenschaftlicher Distanz zum Gegenstand auch einen projektiven Aspekt hat (vgl. dazu insbesondere Adorno/Horkheimer 1987: 217ff.): Die Distanzierung eröffnet dem Antisemiten die Möglichkeit, sich ungehemmt mit den abgewehrten Anteilen des eigenen Alltagslebens projektiv, d.h. an anderen, zu beschäftigen.

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leugnen, diese unterscheidet man auch leicht von den andern, und da sie bessere Grundsätze der Moralität erlangt haben, so räumt man ihnen alle Rechte der Menschheit ein« (Grattenauer 1791: 116). Dagegen ist ethnische Zugehörigkeit weder durch Lernen noch durch Bekenntnis veränderbar. Derselbe Grattenauer erklärt keine vier Seiten nach der eben zitierten Passage: Juden würden »den Wucher Geist zeigen, da er bei ihnen von Kind auf Kindeskind vererbt, und angebohren ist« (Grattenauer 1791: 121). Der Abstammung nach seien Juden keine »angebohrnen Bürger« (Michaelis 1973: 54), sondern Juden, und zwar, unabhängig von der Lebensweise, mit angeborenen Eigenschaften.38 Dem Leser erscheinen die unterschiedlichen Folgen – wie in dem eben zitierten Beispiel von Grattenauer, in dem einerseits eine Assimilation gefordert und andererseits deren Möglichkeit bestritten wird – als widersprüchlich. Ich kläre diesen scheinbaren Widerspruch in Kapitel 4.2 auf. Hier erörtere ich seine Grundlage. Um einem »Volk« zugehörig zu sein, muss man sich ganz auf sein Ethos verpflichten und ihm der Abstammung nach zugehören. Das Ethos eines »Volkes« kann im Unterschied zur Abstammung verinnerlicht werden. Nach dem ersten Faktor kann ein Jude Deutscher werden, nach dem zweiten nicht. In Abhängigkeit davon, in welches Verhältnis die beiden Faktoren gestellt werden, durch die Zugehörigkeit festgelegt wird, fällt die Abstammung als askriptives Merkmal von Zugehörigkeit mehr oder weniger ins Gewicht. Geringer ist das Gewicht der Abstammung z.B. bei Paalzow (zur Person: s. weiter unten). Nach Paalzow müssen Juden nicht Christen werden, um Bürgerrechte zu erhalten,39 aber sie müssen ihren Gemeinschaftsglauben aufgeben 38 Nicht anders ist es im ausgehenden 19. Jahrhundert, ich nenne exemplarisch nur drei Beispiele: Nach Henrici bleibt ein Jude Jude, »auch wenn er getauft ist« (Henrici 1881b: 4). Juden könnten »infolge einer grundverschiedenen Veranlagung« »keine Deutsche« (Frymann1912: 78) werden. Nach Ahlwardt lassen sich Juden taufen, »um in der Rüstung des Feindes den Feind umsobesser bekämpfen zu können« (Ahlwardt 1892a: 7). 39 Die Instrumentalisierung der Taufe für diesen Zweck bezeichnet Paalzow als »Betrug« (Paalzow 1799: 48). So auch z.B. Grattenauer (1791: 19f.): »Warum werden die Juden Proselyten? stets aus Hofnung des Genusses, und irrdischer Vortheile willen; sehr lächerlich ist es, wenn Evangelische Prediger auf solche Acquisitionen stolz thun, da die Juden, so zum Christenthum übertreten, meist Taugenichtse sind, die ihr Vermögen vergaunert, oder eine christliche Phryne

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und sich mit der nichtjüdischen Bevölkerung »vermischen«.40 Bürgerrechte sollten den Juden gegeben werden, wenn sie keine Juden mehr seien: »Die Juden müssen keine besondre Klasse mehr ausmachen; und um dies zu bewirken, ist es nothwendig, daß sie alle die Ceremonialgesetze, die sie verhindern, die Pflichten der Bürger zu erfüllen, aufgeben, daß sie ihre Verfassung, die sie als eine besondere Gesellschaft oder als eine abgesonderte Colonie u.s.w. darstellt, ganz aufheben, ihre Zusammenkünfte im Tempel und in andern Privathäusern, die den jüdischen Cultus zum Endzwecke haben, unterlassen, ihre besondern Schulen für Kinder abschaffen, alles, was sie von andern Bürgern unterscheidet, ablegen, ihre Schriften, Akten u.s.w. wenn sie auch mit Israeliten zu thun haben, immer in der Landesprache abfassen, mit den andern Bürgern durch Heirathen u.s.w. zusammenschmelzen, und daß sie, kurz gesagt, alle Pflichten der wirklichen Bürger willig übernehmen, mithin sich auch nicht vom Soldatenstande ausschließen. Eine Judenschaft, die so beschaffen wäre, von der würde man sagen können, daß sie sich zur Einbürgerung qualificirt hätte« (Paalzow 1799: 56f.). Auch bei Paalzow bleibt die »Judenschaft« der Abstammung nach »Judenschaft«, aber sie verliert dieses askriptive Merkmal von Zugehörigkeit im Laufe der Zeit durch »Verschmelzung«. Wo in dem Verhältnis von ethnischer und kultureller Festlegung von Zugehörigkeit stärker das ethnische Moment betont wird, wird die Forderung nach Assimilation strukturell ambivalent: Von Juden wird einerseits gefordert, dass sie Deutsche werden sollen, bevor ihheirathen, um sich dadurch in christliche Gesellschaften einzuschleichen; lächerlich ist es, wenn Evangelische Prediger darüber in Schriften sogar Declamiren, die Verdienste Ihres Proselyten erheben, der ohnerachtet seiner Bekehrung, Jude bleibt« (vgl. auch 1803c: 50). Insgesamt betrachtet, bleibt Grattenauers Antwort auf die Frage nach einem Wechsel zwischen den Gruppen ambivalent (vgl. z.B. 1791: 2, 22, 24 oder 1803b: 34f. und 1803c: 28f.). An anderen Stellen bleibt die Möglichkeit eines Wechsels explizit offen (etwa 1791: 58; 127ff.; 1803a: 37; 1803c: 32). 40 Dass Paalzow »in der Diskussion eine besonders radikale Position einnimmt, indem er für die völlige Auflösung des Judentums plädierte« (Bergmann 2009b: 611), scheint nach meinen bisherigen Ausführungen nicht mehr plausibel: Ich habe gezeigt, dass diese Konsequenz nicht die radikale Ausnahme, sondern der Normalfall ist (und so bleibt es auch im 19. Jahrhundert).

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nen Bürgerrechte zugebilligt werden können, andererseits aber ausgesagt, dass sie keine Deutschen werden könnten. Einerseits sollen sich Juden »unserer« Lebensweise anpassen, andererseits ist gerade diese Anpassung Quell des Misstrauens: Für Michaelis ist es »unmöglich«, sich auf den Eid eines Juden zu verlassen, der »wol eigentlich zu Affront seiner Religion« »Schweinefleisch« isst (Michaelis 1973: 37). Die strukturelle Ambivalenz der Assimilationsforderung durchzieht das 19.  Jahrhundert. Heinrich von Treitschke bringt sie 100 Jahre nach Michaelis auf den Punkt: »Die harten deutschen Köpfe jüdisch zu machen ist doch unmöglich; so bleibt nur übrig, daß unsere jüdischen Mitbürger sich rückhaltlos entschließen Deutsche zu sein, wie es ihrer Viele zu ihrem und unserem Glück schon längst geworden sind. Die Aufgabe kann niemals ganz gelöst werden. Eine Kluft zwischen abendländischem und semitischem Wesen hat von jeher bestanden« (Treitschke 2003a: 15). Die »Aufgabe« der Assimilation ist nach dieser Position »niemals ganz« zu lösen, der Gegensatz zwischen den Gruppen nicht aufzuheben, sondern nur zu »mildern« (Treitschke 2003a: 15). Schon bei Michaelis hieß es, dass Juden »nie mit uns so zusammenschmelzen, wie Catholike und Lutheraner, Deutscher, Wende und Franzose, die in Einem Staat leben« (Hervorhebung J.W.); für Rühs, der die Christianisierung der Juden als ersten Schritt ihrer Verwandlung in Deutsche anempfiehlt, bleiben die »getauften Juden« Juden (Rühs 1816a: 36). Sofern die kollektiven nationalen Selbstbilder Zugehörigkeit ethnisieren – und im modernen Antisemitismus tun sie das –, können sie die von ihnen selbst als Voraussetzung der Rechtsgleichheit erhobene Forderung nach Assimilation nur ambivalent beantworten: Juden sollen so sein wie wir (kulturelle Homogenität), sie können aber nicht so sein wie wir (ethnische Differenz). Doch gilt diese doppelte Festlegung von Zugehörigkeit allgemein, d.h. für jede als »Volk« verstandene Gruppe. Obwohl sie für jedes »Volk« gilt, haben Antisemiten mit der Annahme, »Völker« könnten »verschmelzen«, kein Problem, im Gegenteil: Das eigene »Volk« wird in aller Regel als historisches Schmelzprodukt begriffen, d.h. die ethnische Differenz historisiert. Auch die Möglichkeit des Zusammenlebens von »Völkern verschiedener Abstammung«, die ihre »Eigenthümlichkeiten behaupten«, wird von einigen Autoren (die Zitate stammen von Rühs) eröffnet.

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Dazu bedarf es der »Idee des Herrschers oder der Verfassung«, also eines einheitlichen Staates. »Und es müssen zwischen ihnen nicht solche Gegensätze Statt finden, wodurch die Wirksamkeit einer solchen verbindenden Idee unmöglich gemacht und aufgehoben wird« (Rühs 1816a: 38). Auch »Völker« können demnach in einem Staat zusammenleben, wenn sie erstens über die Gemeinschaft eines Herrschaftsraums verfügen und zweitens das gemeinsame Ethos, die »verbindende Idee«, nicht durch »Gegensätze« verhindert wird. Nach dieser Position könnten Juden und Deutsche in einem Staat leben, wenn sie nicht in Gegensatz zueinander stünden. Egal, ob man das eigene »Volk« als Schmelzprodukt begreift oder ob man annimmt, »Völker« könnten unter bestimmten Bedingungen in einem Staat leben, in beiden Fällen folgt, dass die doppelte Bestimmung von Zugehörigkeit im modernen Antisemitismus nur die Möglichkeit erklärt, warum von den Juden einerseits Assimilation gefordert wird und andererseits behauptet wird, sie könnten nicht »verschmelzen« und blieben Juden. Allgemein formuliert: Die doppelte, kulturelle (Verinnerlichung des Ethos) und ethnische (Abstammung) Festlegung von Zugehörigkeit erklärt, warum die an die Juden gerichtete Assimilationsforderung ambivalent werden kann. Sie erklärt nicht, warum sie ambivalent wird. Die Gründe dafür, dass sich Juden im Antisemitismus nicht »einschmelzen« lassen, haben offenbar nichts mit den Regeln der Zugehörigkeit zu tun – sie erklären sich aus den Regeln der Zuschreibungen.

4.2 Wandel der Zuschreibungen In diesem Kapitel diskutiere ich die Veränderung zentraler Zuschreibungen im Selbstbild und im antisemitischen Judenbild in der Reaktion auf die emanzipatorische Stellung der »Judenfrage«. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen stehen die Politisierung des antisemitischen Wissens (4.2.1) und ein Judenbild, in dem Juden als Feinde aller »Völker« gezeichnet werden, nicht als ein anderes »Volk« wie etwa Franzosen oder Engländer, sondern als ein Gegenvolk (4.2.2). Die Erörterung soll erklären, warum von Juden gefordert wird, sich zu assimilieren, und gleichzeitig von ihnen, nicht aber von anderen Gruppen behauptet wird, sie wollten oder könnten nicht mit »uns« verschmelzen.

POLITISIERUNG DES ANTISEMITISCHEN WISSENS

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4.2.1 Politisierung des antisemitischen Wissens Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Juden habe ich als Reflexion eines Prozesses der Modernisierung interpretiert, in der mit veränderten Selbst- und Fremdbildern operiert wird. Die antisemitische Reaktion darauf nimmt diesen Wandel auf und zeichnet ein – keineswegs auf den Antisemitismus beschränktes, sondern weit darüber hinaus verbreitetes  – Selbstbild, in dem das eigene »Volk« wie andere »Völker« einen Anspruch auf Selbstregierung in Staaten haben, deren Regierungen das allgemeine Wohl befördern.41 Gemäß dieser Maßgabe haben die durch »National- und Religionsbande« (Michaelis 1973: 49) verbundenen Juden einen politischen Anspruch auf einen eigenen Staat. Daher würden Juden den Staat, in dem sie aktuell leben, »immer als Zweitwohnung betrachten, die sie einmal zu ihrem großen Glück verlassen« (Michaelis 1973: 42), um nach Palästina zurückzukehren. Ein Volk mit solchen Hoffnungen werde »nie völlig einheimisch« (Michaelis 1973: 43). Michaelis baut also den religiösen Gegensatz zu einem politischen Gegensatz aus, der nach der modernen Vorstellung der territorialen Einheit von Volk und Staat konstruiert ist. In Preußen hielten sich Juden nicht in ihrer Erstwohnung auf – der territoriale Ort der Einheit von jüdischem Volk und jüdischem Staat sei Palästina. Aus dieser Verknüpfung von Volk, Staat und Territorium schließt Michaelis, dass Juden zwar in ihrem, aber nicht in anderen Staaten patriotische Bürger seien. Juden seien keine »richtigen« Untertanen, weil sie auf einen eigenen Staat hofften. Zwar bleibt bei Michaelis (und noch lange nach ihm) die religiöse Lebensweise der Juden die Grundlage des politischen Gegensatzes von Deutschen und Juden. Doch ist schon hier die Politisierung des modernen Antisemitismus vollzogen. Politisierung kennzeichnet keineswegs nur die nach 1870 zu beobachtende Formierung des Antisemitismus als politischer Bewegung (Wyrwa 2010: 212; Massing 1959; Pulzer 1966: 7 und öfter) bzw. die politische Aufladung des Begriffs nach 1870 (Bein 1980a: 217f., 239ff.; Bein 1980b: 165f.). Politisierung des Antisemitismus charakterisiert einen spezifisch modernen Aspekt des antisemitischen Wissens, der eine Voraussetzung der späteren Konstitution des Antisemitismus als politischer Bewegung ist (vgl. dazu hier, Kapitel 5.3), 41 In diesem Punkt besteht Einigkeit zwischen Emanzipationsgegnern und -befürwortern. Was beide trennt, ist das Verständnis von »Allgemeinheit«.

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nämlich den Bezug auf den Staat.42 Der Staatsbezug ist eine Folge der – ebenfalls modernen und für alle früheren Staats- und Souveränitätstheorien unvorstellbaren  – Verknüpfung von Volk und Staat: Die Legitimation politischer Souveränität verschiebt sich von Gott auf Volk, das Herrschende und Beherrschte gleichermaßen umfasst. Daher wird der Souveränitätsbegriff selbst doppeldeutig, einerseits bezeichnet er nun die Souveränität der politischen Herrschaft – nach der bekannten Formulierung Carl Schmitts ist Souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt  –, anderseits das Volk als Souverän, das jene erst einsetzt und legitimiert (vgl. dazu Weyand 2010a). Diese Doppeldeutigkeit ist in dem Moment, in dem die politische Beteiligung des Volkes verallgemeinert wird, also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, voll entfaltet. Sie ist im absolutistischen Staatsverständnis – rückblickend betrachtet – in dem Sinne angelegt, als dieses von einer – noch paternalistisch gefassten – ethnischen Einheit von Herrschern und Beherrschten ausgeht. Diese Einheit von Herrschenden und Beherrschten fasst Carl Schmitt 150 Jahre später mit Blick auf den demokratischen Staat: Die »substantielle Gleichheit«, d.h. die Gleichartigkeit (kulturelle Homogenisierung) einer ethnischen Gruppe (Ethnisierung), »schließt es aus, daß innerhalb des demokratischen Staates die Unterscheidung von Herrschen und Beherrschtwerden, Regieren und Regiertwerden eine qualitative Verschiedenheit ausdrückt oder bewirkt« (Schmitt 1965: 235). Hinter der gleichen Volkszugehörigkeit werden alle anderen Unterschiede (Klassen-, Schicht-, Milieuzugehörigkeiten) und auch alle Gegensätze akzidentiell. Als »substantiell« gelten dagegen unterschiedliche Volkszugehörigkeiten. Um im Staat ein Amt ausfüllen zu können, muss man der gleichen Grundgesamtheit, d.h. dem gleichen Volk angehören. Daher könne man »dem Bürger […] nicht ein auswärtiges Volk zum Richter« (Michaelis 1973: 58) geben. Aus dieser Verknüpfung von Volk und Staat folgert schon der frühe moderne Antisemitismus, dass Juden zwar Anspruch auf Menschenrechte erheben könnten, aber eben nicht auf gleiche Bürgerrechte (so Rühs 42 Vgl. auch Arendt 1991: 66f. Arendt unterscheidet dort zwischen Judenhass und Antisemitismus und macht den Unterschied wesentlich am politischen Charakter des Antisemitismus im Unterschied zum »politisch sterilen Judenhaß« (Arendt 1991: 67) fest.

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1816a: 2f.). Ein Jude könne »Unterthan«, aber nicht »Bürger« sein, weil er sich »bereits früher in einer Beziehung der Art […] befindet, die eine zweite oder neue ausschließt« (Rühs 1816a: 5). Er trenne sich »von unserer Deutschen Volksgemeinschaft« (Fries 1816: 3) und bilde ein eigenes »Volk« mit eigenem Staat (Rühs 1816a: 5; Fries 1816: 3) in »unserem« Staat. Politisierung des antisemitischen Wissens bezeichnet die Verknüpfung von Volk und Staat im Anspruch der Selbstregierung des »Volkes« im Staat. Dem Antisemitismus des frühen wie des späten 19. Jahrhunderts ist die Annahme gemeinsam, Herrscher und Beherrschte seien homogen als kulturelle und als ethnische Gemeinschaft. Genau das meint auch Carl Schmitts »substantielle Gleichheit«. Die Grundlage der Politisierung des Antisemitismus, die Verknüpfung von Volk und Staat, hat hingegen nichts mit Antisemitismus zu tun. Diese kennzeichnet vielmehr das moderne Verständnis politischer Organisation, in dem Volk und Staat im Nationalstaat verbunden werden. Es wird zum »Selbstbestimmungsrecht der Völker« weiterentwickelt und im 20. Jahrhundert zu der Doktrin internationaler Politik.43 Das antisemitische Wissen unterscheidet sich also in diesem grundlegenden Aspekt des Selbstbildes nicht wesentlich von nicht antisemitischen kollektiven Selbstbildern. Man muss kein Antisemit sein, um im Selbstbild Prämissen antisemitischer Agitation zu teilen. Genau das macht das antisemitische Wissen vielleicht nicht akzeptabel, aber anschlussfähig und damit diskutabel. Die Politisierung des antisemitischen Wissens durchläuft zwei Phasen. In der ersten Phase bezieht sie sich auf die Einheit der Untertanen im Staat, in der zweiten Phase ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Selbstbestimmung der Bürger im Staat. Ich diskutiere diese zweite Phase im nächsten Kapitel. In der ersten Phase reagiert die Politisierung des antisemitischen Wissens auf die in der Forderung nach bürgerlicher Gleichstellung ausgedrückte gesellschaftliche Transformation, welche die Gleichstellung im Staat mit dem Argument begründet, die Handlungssphäre des Bürgers und die des Gläu43 Der Begriff ist in der Völkerrechtspraxis wegen seiner Unbestimmtheit umstritten und lässt sich eben deshalb für unterschiedliche politische Zwecke instrumentalisieren. Mit den bisherigen Ausführungen lässt sich der sachliche Grund der Unbestimmtheit angeben: Völker gibt es nur in und durch die Artikulation des Willens, ein Volk zu sein. Völker bestimmen sich selbst als Handlungseinheiten. Daher hängt der Begriff des Volkes wesentlich vom Selbstbild dieser Handlungseinheiten ab und lässt sich nicht über Merkmale (Gemeinsamkeit der Sprache usw.) objektivieren.

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bigen seien klar getrennt. Um dagegen einen Einwand zu formulieren, reicht es nicht hin, auf die religiöse Differenz der Lebensweisen zu verweisen. Diese wird von den Befürwortern erstens zugestanden und zweitens als irrelevant für den Bürgerstatus erklärt. Dass Juden keine gleichberechtigten Bürger im Staat sein können, erklären Michaelis und die Antisemiten im Anschluss an ihn entsprechend aus einer anderen Stellung der Juden zum Staat: »Zweitwohnung«. Noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert entwickelt sich die Politisierung des antisemitischen Wissens getreu der Grundannahme, »Völker« gäben sich im Staat eine äußere Einheit, zu der Auffassung, die Juden bildeten als politisches Kollektiv einen »Staat im Staate«.44 Diese Figur gehört zum Standardrepertoire des antisemitischen Wissens im 19. Jahrhundert.45 Die Figur des »Staates im Staate« ist nach modernem Staatsverständnis paradox. Sie bezeichnet etwas, das es eigentlich nicht geben kann.46 »Völker« bilden Staaten, »Juden« bilden Staaten in Staaten. 44 Vgl. zu dem Terminus Katz 1982c sowie knapp Katz 1989: 62f., ein Überblick in Bergmann 2010c. Katz weist darauf hin, dass der Ausdruck ursprünglich auf die Durchsetzung einer staatlichen Zentralgewalt bezogen war (und in eben dieser Bedeutung wird er ja im Antisemitismus verwendet). Er schreibt die erste antisemitische Verwendung der Rede vom »Staat im Staat« Johann Heinrich Schulz 1784 in einer durch Dohms Schrift ausgelösten Kontroverse mit Mendelssohn zu (vgl. Katz 1982c: 134; Katz 1989: 62; so auch Best 2001: 187). Schulz, der wegen seiner aufgeklärten Religionsauffassung, die für eine klare Trennung der normativen Grundlagen des staatlichen und des religiösen Lebens eintrat, 1791 als Pfarrer suspendiert wurde, argumentiert in der Schrift Philosophische Betrachtung über Theologie und Religion überhaupt und über die jüdische insonderheit allerdings im Kern religiös. Er sieht in der jüdischen Religion bzw. dem Festhalten der Juden an ihr den eigentlichen Hinderungsgrund ihrer bürgerlichen Verbesserung im Sinne Dohms, weil sie zu einer eigenen »Nation«, einer eigenen »bürgerlichen Gesellschaft« (Schulz 1786: 139) und einem »Staat im Staate« (Schulz 1786: 222) führe. Um rechtlich gleichgestellt werden zu können, müssten sich Juden von ihrer Religion lossagen. Wegen der klaren Trennung von Staat und Religion fordert Schulz kein Bekenntnis zum Christentum (Schulz 1786: 235). 45 Der »Klassiker« für die Rede vom Staat im Staat ist sicher Fichtes Argumentation in dem Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution. Ich habe diesen Text weiter oben erörtert (vgl. den Beginn von Kapitel 4). 46 Bei Grattenauer wird das Paradox besonders deutlich: Räume man in einem christlichen Staat Juden Bürgerrechte ein, würden sie »christifiziert«. Da sie aber nicht als Christen, sondern als Juden emanzipiert würden, entsteht in dieser Perspektive ein »Zwitter der bürgerlichen Gesellschaft«. Dies sei »nicht Recht, weder in religiöser, moralischer, noch politischer Rücksicht, daß man solche

POLITISIERUNG DES ANTISEMITISCHEN WISSENS

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Das ist im modernen Verständnis des Staates, der über das Monopol legitimer Gewalt verfügt, nicht möglich. In der Figur des »Staates im Staate« wird ein Unterschied zwischen »Völkern« und »Juden« deutlich: »Völker« bilden Staaten. »Juden« gelten wie jedes andere »Volk« als eine historisch-genealogische Gemeinschaft mit einem bestimmten Ethos. Wie jedem anderen »Volk« wird auch dem jüdischen zugeschrieben, Staaten zu bilden. Aber die Staatenbildung ist im Unterschied zu allen anderen »Völkern« paradox: »Staat im Staat«. Um die Wende zum 19.  Jahrhundert ist die Rede von Staaten im Staat einerseits nicht ungewöhnlich  – in einer Zeit, in der ein staatliches Gewaltmonopol noch durchgesetzt wird, gelten unterschiedliche Gruppen als konkurrierende Träger hoheitlicher Gewalt. Andererseits unterscheidet diese paradoxe Konstruktion das antisemitische Feindbild von anderen auf Kollektive bezogenen Feindbildern. Die Franzosen, Engländer usw. mögen als Feinde begriffen werden, aber sie bilden nicht Staaten in, sondern neben »unserem«. Kritisiert man im Inneren etwas als »undeutsch«, z.B. als »französisch«, so handelt es sich um »Ausländerei«. Wird Gruppen zugesprochen, einen Staat im Staat zu bilden (das betraf im Wesentlichen den Adel, das Militär und die Kirchen), so handelt es sich um eine Kritik konkurrierender Herrschaftsansprüche von Gruppen, deren Angehörige ganz oder zu Teilen (die »aus Rom gesteuerte« katholische Kirche mit Ausnahme der Steuerleute in Rom) »unserem« Volk zugerechnet werden. Ich komme auf die paradoxe Konstruktion des antisemitischen Feindbildes im Anschluss (Kapitel 4.2.2) zu sprechen.

4.2.1.1 Sattelung der Politisierung Die Politisierung des Antisemitismus war bei Michaelis mehr angedeutet als ausgearbeitet worden. Das wird im weiteren Verlauf der Entwicklung der Wissensformation des modernen Antisemitismus anders. Ich bestimme nun die Politisierung des Antisemitismus durch die Untersuchung zweier Varianten näher. Die erste Variante behauptet, dass Juden gar kein religiöses, sondern ein politisches Kollektiv seien. Nach der zweiten Variante folgt die politische Orientierung von Juden daraus, dass sie eine religiöse und ethnische Gemeinschaft Hermaphroditen in der Gesellschaft bildet, und der Menschheit die ursprüngliche Mannheit raubt« (Grattenauer 1791: 129).

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seien. Beide Varianten verfestigen sich im Fortgang des 19. Jahrhunderts; die erste bildet den Kern des nationalen Typus des modernen Antisemitismus, die zweite den Kern des christlich-nationalen Typus (zur Typologie vgl. hier, Kapitel 6). Die erste Variante erörtere ich am Beispiel von Christian Paalzow, die zweite am Beispiel von Paul Ferdinand Buchholz.

4.2.1.2 Vom religiösen zum politischen Kollektiv Christian Paalzow war ein Kollege Grattenauers am Berliner Kammergericht und in gewisser Weise auch auf dem Markt der judenfeindlichen Schriften, auf dem sich beide eine Art Überbietungswettbewerb lieferten. Seine erste judenfeindliche Schrift, Die Juden. Nebst einigen Bemerkungen über das Sendschreiben an Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion und die darauf erfolgte Tellersche Antwort, reagierte auf eine Publikation David Friedländers,47 in der die Frage einer Konvergenz von Judentum und Protestantismus aufgeworfen wurde. An diese Publikation schloss sich einerseits eine Kontroverse von Gegnern und Befürwortern der rechtlichen Gleichstellung der Juden und anderseits eine theologische Kontroverse an (Bergmann/Wyrwa 2011: 17f.; ausführlicher Bergmann 2011a: 153-156). Dies war der Auftakt zu einer erheblichen Zahl antisemitischer Publikationen Paalzows (vgl. Bergmann 2009b: 611-613). 47 In der 1799 publizierten Schrift Sendschreiben an Seine Hochwürden Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion argumentiert Friedländer, dass der Kern des Judentums in fünf Annahmen bestehe, der Einheit Gottes, der Unkörperlichkeit und der Unsterblichkeit der Seele, der Geschaffenheit des Menschen durch Gott und der Annahme, der Mensch strebe nach Vollkommenheit und Glückseligkeit (Friedländer 1799: 19f.). Insbesondere die Speisevorschriften seien dagegen eine vergängliche Zutat (Friedländer 1799: 46f.). Da diese die Erfüllung bürgerlicher Pflichten behinderten, sei man bereit, sie aufzugeben, man sei auch zur Taufe bereit, wenn diese als Akt der Aufnahme und nicht als Sakrament vollzogen werden könne, da man etwa die Annahme eines Gottessohnes nicht teilen könne. Das Sendschreiben endete mit der Frage, was nach Auffassung des Probsts die Juden tun sollten (vgl. Geiger 1871: 119-123). Die – aus heutiger Perspektive erwartbare – Reaktion des zu seiner Zeit als ausgesprochen liberal geltenden Probstes betonte die symbolische Bedeutung des Abendmahls. Das Schreiben Friedländers hat sowohl auf jüdischer wie auf christlicher Seite massiv ablehnende Reaktionen nach sich gezogen. Vgl. dazu Elbogen/Sterling 1966: 168ff.; Altgeld 1992: 92ff.

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Paalzow setzt sich in der genannten Schrift insbesondere mit Dohms Argument auseinander, dass es keinen Grund gebe, Juden als Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft den Angehörigen der christlichen Konfessionen nicht bürgerlich gleichzustellen (vgl. explizit Paalzow 1799: 24). Nach Paalzow liegt hier ein Denkfehler vor: Die Juden seien gar keine Religionsgemeinschaft (so auch z.B. Grattenauer 1803b: 32ff.). Bei der Begründung dieses Gedankens rekurriert er – wie andere auch – auf Kant, der ihn in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft entwickelt, der Öffentlichkeit vorgestellt und kraft seines Namens akzeptabel gemacht hat.48 Kant erläutert dort, dass das Judentum »eigentlich gar keine Religion [ist], sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten; vielmehr sollte es ein bloß weltlicher Staat sein, so daß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich zu ihm gehörige) politische Glaube übrig bliebe, ihn (bei Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen« (Kant 1991 b: B 186). Dass Juden keine religiöse, sondern eine politische Gruppe seien, hält Kant aus drei Gründen für bewiesen: Erstens zielten alle Gebote auf äußere Handlungen, nicht auf moralische Gesinnung; zweitens seien die Folgen der Übertretung der Gebote rein innerweltlich. Da eine Religion »ohne Glauben an ein künftiges Leben« (Kant 1991b: B 187) nicht zu denken sei, könne das Judentum nicht als Religion betrachtet werden. Drittens schließe das Judentum »das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft […] als ein besonders vom Jehova für sich auserwähltes Volk, welches alle anderen Völker anfeindete, und dafür von jedem angefeindet wurde« (Kant 1991b: B 188f.), aus. 48 Auch wenn Kants Argumentation ein Bezugspunkt von antisemitischen Schriften in dieser Zeit wird, so bleibt doch festzuhalten, dass Kant in der Perspektive eines rationalen Universalismus argumentiert und diesen Universalismus in kirchlicher Form im Christentum realisiert sieht (für eine abwägende Einordnung der verschiedenen Äußerungen Kants zum Judentum und zu Juden vgl. Brumlik 2000: 27-74; eine psychologisierende Relativierung hingegen bei Salecker 1999: 153).

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Paalzow baut seine Schrift auf dieser Argumentation Kants auf (vgl. Paalzow 1799: 20-24). Wenn die Verbindung der Juden gar keinen religiösen Charakter hat, läuft die auf der Unterscheidung von religiöser Lebensweise und Bürgerstatus beruhende Forderung nach rechtlicher Gleichstellung ins Leere: Da Juden über keine Religion verfügten, könne die »Religion der Reception der Juden als Bürger, in einem christlichen Staat, nicht entgegenstehen« (Paalzow 1799: 24).49 Juden bilden nach Paalzow kein religiöses, sondern ein politisches Kollektiv, das seine religiös begründeten Verhaltensregeln nur zum Zweck der Aufrechterhaltung einer politischen Verbindung entwickelt habe. Obwohl der »Kult« der Juden, so formuliert Paalzow in Anlehnung an d’Holbachs Priestertrugslehre, die er selbst übersetzt und herausgegeben hatte, »bloß zum Besten der Priester erfunden« (Paalzow 1799: 16) worden sei, seien Juden als »Nation […] weit enger verknüpft, als irgendein anderes Volk in der Welt« (Paalzow 1799: 45). Wie für die anderen hier erörterten Autoren auch sind Juden ein »Volk«; unter Volk versteht Paalzow die Gemeinschaft der Abstammung (weshalb getaufte Juden nicht Christen, sondern »Judenchristen« [Paalzow 1799: 48] würden) und der Kultur (Paalzow nennt das Juden verbindende geistige Prinzip »Kult«). Die engere Verbindung der Juden sei eine Folge ihres »Kultes« und der Verfolgung durch andere (vgl. Paalzow 1799: 36f.). Gemäß der Prämisse, dass sich »Völker« in Staaten eine politische Einheit geben, haben Juden einen eigenen politischen Anspruch. Aus diesem Grund könne ihre Emanzipation nicht zu einer Gleichstellung führen. Würden die Juden gleichgestellt, »so müsste man wohl blind seyn, wenn man nicht wahrnehmen wollte, daß die Juden ihres Charakters und ihrer engeren Verbindung wegen in einer kurzen Zeit allen Handel und alles Gewerbe der Christen an sich ziehen, diese zu Sklaven, zu bloßen Arbeitern erniedrigen […] würden« (Paalzow 1799: 46).

49 Paalzow vertritt die These, dass es sich beim jüdischen Glauben nicht um eine Religion, sondern einen politisch-kulturellen Kult handele, typischerweise, nicht aber durchgängig, vgl. z.B. Paalzow 1817: 71. Hundert Jahre später ist das Verhältnis von Religion und Nation klar und eindeutig bestimmt. Für Chamberlain (1899: 328) ist der jüdische Gottesglaube Teil des »Nationalgedankens, nicht umgekehrt«.

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Weil Juden ein eigenes »Volk« seien, führe die Gleichstellung dazu, dass sie sich nach einer Emanzipation den Staat aneigneten und die Angehörigen des im Staat lebenden christlichen Volkes unterdrückten.50 Daher müssten Juden »entweder ihr besonderes Gesetz, oder die Auforderung an das Bürgerrecht« (Paalzow 1817: 19) aufgeben. Mit der Verschiebung des Feindbildes von der Glaubensgemeinschaft zum ethnischen Kollektiv mit politischem Anspruch verändert sich die den Juden zugeschriebene Bedrohung: Sie stellen nicht die »Wahrheit« des Christentums in Frage, sondern bedrohen christliche »Völker« in ihrer bürgerlichen Existenz. Entsprechend droht nach Paalzow mit der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, dass diese alle christlichen Bürger eines Staates abhängig machen, indem sie »alles Gewerbe in ein Monopolium ihrer Nation verwandeln« (Paalzow 1799: 46).51 In dem Moment, in dem Juden als »Volk« mit politischem Anspruch konstruiert werden, verschwindet das Bekenntnis, die Taufe, als Möglichkeit, aus der einen in die andere Gruppe zu wechseln: Weil die Differenz zwischen »uns« und »Juden« keine religiöse mehr ist, kann das Kriterium ihrer Überwindung auch kein religiöses mehr sein. Man muss kein Christ sein, um im Staat Bürger zu sein. Tatsächlich gilt Paalzow die Taufe nur noch als ein instrumentelles, von Juden zur Erreichung ihrer Zwecke eingesetztes Mittel: »Weil wir aber«, so lässt er einen fiktiven Juden sagen, »doch etwas für jenes Recht, die Bürger aussaugen zu können, leisten sollen; so wollen wir euch den Gefallen thun, und uns taufen lassen, und alle eure Gebräuche mitmachen […]. Meines Erachtens kommt es darauf gar nicht an, ob der Jude ein Christ ist, wenn er Bürger wird oder nicht« (Paalzow 1799: 47f.). Paalzows von Kant übernommene Unterscheidung von politischem und religiösem Kollektiv spielt in der Debatte um die Judenemanzipation zwar eine Rolle – vor allem, weil sich auch andere Autoren auf Kant beziehen (vgl. etwa Kortum 1795: 30ff.),52 doch sie kennzeich50 Wie Michaelis entwickelt Paalzow eine Übermächtigungsfantasie, in der alle Folgen einer Emanzipation der Juden auf die bürgerliche Existenz der Christen bezogen sind. Ich gehe darauf in Abschnitt 4.2.2 ein. 51 Vgl. auch mit dann härteren Formulierungen Paalzow 1817: 20f. 52 Im Unterschied zu Paalzow entwickelt Kortum den politischen Gehalt des Judentums aus dem religiösen. So auch Rühs: Juden bilden »nicht blos ein Volk:

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net nicht das in dieser Zeit typische Argumentationsmuster. Typisch ist vielmehr bis in die Mitte des 19.  Jahrhunderts ein Selbstbild, in dem das Bekenntnis zum Christentum zentral bleibt (aber eben: nur ein Element das Selbstbildes »Volk« bildet). In diesem Sinne kann man sagen, dass das antisemitische Wissen Paalzows Teil einer Entwicklung ist, in deren Verlauf das christliche Bekenntnis zunehmend an Relevanz für das auf »Volk« bezogene Selbstbild verliert.

4.2.1.3 »Staat im Staat« Paul Ferdinand Buchholz verwendet die Figur des »Staates im Staate« im Rahmen einer religiösen Entgegensetzung von Christen und Juden. Deshalb ist sie für das Verständnis der Differenz von alter und neuer Wissensformation besonders aufschlussreich. In Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältniß der Juden und Christen entwickelt Buchholz den Gegensatz zwischen Juden und Christen religiös, versteht aber die Staaten, in denen Christen leben, als Staaten von »Völkern«. Konsequent wird der von Buchholz religiös entwickelte Gegensatz in einen politischen verwandelt, der sich nicht mehr religiös deuten lässt.53 Im Unterschied zu Paalzow geht Buchholz nicht davon aus, dass Juden keine religiöse Gruppierung seien. »Individuen jüdischer Nazion« (Buchholz 1803: 80) seien nur als Juden zu bezeichnen, wenn sie bilden zugleich einen Staat« (Rühs 1816a: 5). Ihre religiösen Regeln seien zugleich politische Regeln, ihre Rabbiner ihre »Vorsteher«, die die »gesetzgebende Gewalt« innehätten. Sie verfügten über »ein religiöses und bürgerliches Grundgesetz« (Rühs 2004: 224). Die politische Organisation des Judentums sei der Grund, warum die Juden als Volk noch existierten. »Hätten die Juden in ihrer Religion keinen politischen Mittelpunkt gefunden, so ist keine Frage, daß sie auch als Volk längst untergegangen seyn würden, d.h. sich mit den Völkern, worunter sie lebten, verschmolzen hätten« (Rühs 1816a: 6). 53 Hess interpretiert die Schriften von Paalzow, Grattenauer und Buchholz als moderne Reaktion auf die »Judenfrage«. Aber er schüttet das Kind gleichsam mit dem Bade aus, wenn er eine scharfe Trennung zwischen aufklärerischem Universalismus und Nationalismus zieht: »It is crucial that the debates of 1803 did not frame their Jew-hatred in nationalist terms. […] It was still the issue of citizenship in the modern state that was at stake, not the claims of German or even Prussian nationalism« (Hess 2002: 202). Ich habe dagegen gerade gezeigt, dass »Citizenship« bei den genannten Autoren auf Nation verweist, da die Ablehnung gleicher Bürgerrechte für Juden aus der Unterscheidung eines eigenen Volkes von dem der Juden begründet wird.

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sie auch die Glaubenspraxis teilten. Die Differenz der religiösen Lebensweise von Juden und Christen bildet die Basis seiner Überlegungen; sein Text steigt wie viele andere seiner Zeit mit einem historischen Abriss der jüdischen Geschichte ein. Aber dieser Einstieg dient nicht mehr der Profilierung des Gegensatzes von Juden und Christen, sondern dem Nachweis der Veränderung dieses Gegensatzes. Die Religiosität der Juden habe »das Verhältnis gestiftet […], worin sie mit den Christen stehen. Nachdem dies Verhältnis einmal da ist, bedarf es zur Immoralität der Juden gar der Religiosität nicht mehr; ihre demoralisirende Kraft ist in das Verhältnis übergegangen, und wird diesem auch dann noch bleiben, wenn die Juden mit der Zeit dahin gelangen sollten, nicht nur den Glauben an einen Nazionalgott, sondern auch den Glauben an einen Gott überhaupt aufzugeben« (Buchholz 1803: 172).54 Die »demoralisirende Kraft« besteht für Buchholz darin, nicht durch Arbeit zu einer »kraftvollen Nazionalexistenz« (Buchholz 1803: 2) beizutragen, sondern vielmehr durch Handel und insbesondere Geldhandel die anderen Staatsbürger auszubeuten. Der grundlegende Unterschied zwischen Juden und Christen sei, »nachdem dies Verhältnis einmal da ist«, nicht das unterschiedliche religiöse Bekenntnis, sondern das unterschiedliche Verhältnis von Juden und Christen zur Arbeit: Juden nähmen »keinen Antheil an der Nazionalarbeit«, sondern seien »nur immer darauf bedacht […], die Resultate derselben auf die eigennützigste Weise an sich zu reißen« (Buchholz 1803: 158). Deswegen seien Juden nicht nur keiner »Moralität fähig«, sie störten »die Moralität der übrigen Staatsbürger« und seien »nie« für deren 54 Der Topos des »Nationalgottes« wird später von Heinrich Paulus, Professor für Theologie in Jena und Würzburg, ausgearbeitet: In der Schrift Juden? Oder Israeliten? Sogar als Landstände?? beschäftigt sich Paulus mit den politischen Folgen des Landerwerbs von Juden, die dadurch einen Anspruch auf Landstandschaft bzw. auf Stimmrecht in der Kammervertretung erworben hatten. Diese Sache betreffe nicht »sowohl das Religiöse […], als das Nationale.« Juden begriffen sich »immer noch« als »eine besondere Nation«, deren religiöse Vorschriften dazu dienten, ein »eigenes Volk zu bilden. […] Sie weihen sich dadurch dem Jehovah nicht als der Gottheit, sondern als ihrem besondern National-König« (Paulus 1817b: 128). Daraus folgert er, dass, da die Juden zu einer anderen Nation gehörten, sie keinen Anspruch darauf erheben könnten, »Repräsentant von einer andern Nation zu werden« (Paulus 1817b: 129).

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Moral und Interessen zu gewinnen (Buchholz 1803: 173). Buchholz zeichnet das Ethos der Gruppe der Juden als Anti-Ethos: Christliche »Völker« haben ihm zufolge eine christliche Moral, Juden haben keine Moral. Nichtarbeit und Immoralität unterschieden Juden von allen anderen Gruppen, weshalb sich der Umgang aller Gruppen mit Juden gleiche: »Christen, Muhamedaner und sogenannte Heiden sind sich hierin immer gleich gewesen«, »großmüthig und edel« mit Juden zu verfahren, »immer« aber »mißbrauchten sie die Großmuth ihrer Beschützer so lange, bis diese nicht umhin konnten, das eingegangene Verhältniß wieder aufzuheben« (Buchholz 1803: 121). Da Juden nicht arbeiteten, nicht Teil an der »Nazionalarbeit« nähmen, bildeten sie einen Staat, der sich von anderen Staaten unterscheidet, »einen Staat im Staate« (Buchholz 1803: 173). Einen »Staat im Staate« bilden die Juden also als ursprünglich religiöse Vergemeinschaftung mit politischem Anspruch, als, um eine Formulierung von Eric Voegelin aus einem anderen Kontext aufzugreifen, »politische Religion«. Die Völker in den »nördlich-europäischen Staaten« sind bei Buchholz christliche Völker (Buchholz 1803: 203). Christen leben in unterschiedlichen Staaten, weil sie unterschiedlichen Völkern angehören (Buchholz 1803: 202f.), Juden in deren Staaten. Auf den ersten Blick könnte man diese Zuschreibung damit erklären, dass Juden tatsächlich in einer Mehrzahl von Staaten leben und als eigene Gruppe erkennbar sind. Doch griffe eine solche Erklärung erheblich zu kurz: Buchholz erklärt die paradoxe Staatenbildung nicht aus der tatsächlichen Lage der Juden, sondern aus einem anderen »Volkscharakter«, gekennzeichnet durch Egoismus, Ungeselligkeit (vgl. Buchholz 1803: 176f.), Unmoral und dadurch, dass Angehörigen der christlichen Völker das Geld dem Leben, Juden aber das Leben dem Geld diene. Diese mit der Paradoxie »Staat im Staat« verbundenen Zuschreibungen haben ersichtlich nichts mit der tatsächlichen Lage der Juden zu tun. Für Buchholz lässt sich der durch Juden verursachte »Staatskrebs« (Buchholz 1803: 203) »heilen«, wenn man die Juden zur Identifikation mit den Christen bewege.55 In der Schrift von Buchholz sind 55 Das staatliche Umerziehungsprogramm, das die Abkehr der Juden von ihrem »Nazionalgott« bewirken soll, ist ein säkulares Programm, das auf Pflichterfüllung durch Arbeit zielt: »Liebt aber der Jude nur erst die Arbeit, so findet sich die Identifikazion mit den übrigen Staatsbürgern ganz von selbst, so hört er in seinem ganzen Wesen auf, Jude zu sein« (Buchholz 1803: 234). Die dazu geeigneten Mittel seien die allgemeine Wehrpflicht für Juden (vgl. Buchholz 1803:

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vormoderner und moderner Antisemitismus in spezifischer Weise verbunden: Der Ausgangspunkt ist christlich, die Ausführung in weiten Teilen modern. Weder der gegenwärtige »Schaden«, der »uns« von Juden droht, noch die Mittel zu seiner Behebung haben einen religiösen Bezug: Der »Schaden« besteht in der Schwächung des Staates und des Wohlergehens seiner Bürger, »wir«, denen geschadet wird, sind »Staatsbürger«, die zentrale Differenz zwischen Juden und christlichen Völkern ist nicht der Glaube, sondern das Verhältnis zur Arbeit und die »Moral« dieser Völker. Die Mittel zur Schadensbehebung sind allesamt Teil eines staatlichen Erziehungsprogramms, seine Folgen sieht Buchholz nicht zentral in der Christianisierung der Juden, sondern in ihrer bürgerlichen Assimilation mit der – von ihm selbst bejahten – Folge ihrer Christianisierung. Umgekehrt bleibt die religiöse Differenz im Selbstbild identitätsrelevant und der Ankerpunkt der Erzählung: Juden sollen Christen werden.

4.2.2 Feind aller Völker Zur Erklärung der Politisierung des Antisemitismus könnte man bis zu dieser Stelle die im zweiten Kapitel vorgestellten Theorien anführen. Mit Hilfe von Realkonflikttheorien könnte man annehmen, dass im frühen 19.  Jahrhundert Juden eine von Nichtjuden unterscheidbare Gruppe auf dem Gebiet eines Territorialstaates bilden. Zwar schreitet der Prozess der Verbürgerlichung der Lebensweisen voran, aber Juden bleiben als Angehörige einer fremden Gruppe typischerweise erkennbar. Diese Gruppe versteht sich in ihren religiösen Texten selbst als genealogische Gemeinschaft und unterscheidet sich von 217), die Verwandlung der ehelichen »Verbindung einer Jüdin mit einem Christen in einen bloßen bürgerlichen Kontrakt« (Buchholz 1803: 249), wodurch eine Jüdin nicht von der Heirat abgeschreckt werde und schließlich unter der Hand in eine Christin verwandelt werde, und die staatliche Regulierung von »Wucher und […] Kontrebandehandel« (Buchholz 1803: 252). Beherzige die Regierung diese Vorschläge zur Assimilation der Juden, hätten es weder Christen weiterhin nötig, »ihre Zuflucht zu grausamen Mitteln zu nehmen« (Buchholz 1803: 252), noch müsse man den »Toleranzpredigern« (Buchholz 1803: 253) folgen. Die Interpretation von Bergmann und Erb, die Buchholz als Beispiel für einen für die Zeit typischen Diskussionsbeitrag vorstellen, in dem »Vertreibungs- und Vernichtungsmaßnahmen als nicht mehr möglich bezeichnet, aber dennoch ausführlich in ihrem Für und Wider diskutiert wurden« (Bergmann/Erb 1989: 112), scheint mir in diesem Punkt zu hart: Buchholz distanziert sich zwei Mal klar von Vertreibungsforderungen und setzt dagegen auf Assimilation.

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anderen durch ein eigenes Ethos. Es könnte sich also um einen realen Konflikt zwischen Gruppen handeln, der gerade in dieser Zeit im Zuge der Verbürgerlichung durch einen Konflikt um knappe berufliche Positionen auf dem sich entwickelnden Markt der freien Berufe angeheizt wird. Der Kampf gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden stellt sich dann als ein Mittel in der Konkurrenz um soziale Positionen dar, die semantischen Ausdrucksformen des Kampfes könnte man als Rückgriff auf alltagsweltlich naheliegende Themen wie Gruppenloyalität deuten. Stützen könnte sich eine solche Position darauf, dass eine andere Lebensweise von Juden und deren ökonomischer Erfolg im Zentrum der antisemitischen Texte stehen und diese Texte in einem Milieu verfasst werden, in dem freie Berufe eine erhebliche Rolle spielen. Auch wenn man kein Anhänger einer Realkonflikttheorie ist, könnte man bis zu dieser Stelle Antisemitismus über klassische Mechanismen der Gruppenbildung erklären. Damit die Deutschen oder irgendeine andere Gruppe sich als Kollektiv verstehen können, müssen sie sich unterscheiden. Sie vollziehen dies nach außen durch Differenzierung von anderen »Völkern« und nach innen von Juden. Dass die Stereotype sich gegen Juden richten, könnte man daraus erklären, dass Juden als Minderheit und als Objekt jahrhundertelanger christlicher Judenfeindschaft ein prädestiniertes Objekt gruppenbezogener Stereotype sind, zumal sie als Gruppe identifiziert werden können. Herrschaftssoziologische Ansätze könnten in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass die weit überwiegende Mehrzahl antisemitischer Texte ökonomische Aspekte der zeitgenössischen Lebensverhältnisse erörtert  – kaum ein Text vergisst, an zentraler Stelle Juden für ökonomische Ausbeutung der eigenen Gruppe verantwortlich zu machen. Untersucht man jedoch das antisemitische Feindbild und das zugehörige Selbstbild näher, springen drei Eigentümlichkeiten ins Auge, die mit beiden Theorietypen nicht mehr erklärbar sind: Juden werden erstens von allen Völkern unterschieden (a). Das geistige Prinzip ihrer Gemeinschaft, der »Volksgeist«, wird zweitens von allen anderen »Volksgeistern« differenziert und als Anti-Ethos dargestellt (b). Das antisemitische Feindbild malt drittens die Gefahr einer Überwältigung des eigenen und aller anderen Völker (c). (a) Die Entgegensetzung eines eigenen und eines jüdischen Volkes scheint auf den ersten Blick symmetrisch. Beide werden als Völker vorgestellt, die historisch und genealogisch als Kollektive ver-

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standen werden und sich politisch selbst bestimmen. Doch dieser erste Eindruck trügt: Während »die Deutschen«  – wie alle anderen »Völker« – einen Staat bilden, bilden »die Juden« einen Staat im Staat. Die Juden gehorchen im modernen Antisemitismus gerade nicht der nationalistischen Prämisse, dass homogene Einheiten, Völker, Staaten bilden. Sie werden zwar als homogene Einheit vorgestellt, aber als eine Einheit, die in anderen Einheiten lebt. Weil das so sei, entsteht ein Loyalitätskonflikt: »Wenn sie Mitglieder eines anderen Staates werden wollen, ohne dem Judenthume zu entsagen, [gerathen] sie in eine Collision von Pflichten […]. Niemand kann zweien Herren dienen« (Rühs 1816a: 5). In der Konsequenz wird für Rühs unverständlich, warum Juden überhaupt Bürgerrechte forderten: »Es ist doch in der That ein sonderbarer Widerspruch, daß ein Bürger eines jüdischen Staats oder Reiches zugleich Bürger eines christlichen Staats seyn will« (Rühs 1816a: 5). Die Sonderstellung der Juden unter den auf Kollektive bezogenen Feindbildern ist insbesondere von Zygmunt Bauman56 hervorgehoben und von Klaus Holz als Figur des Dritten analysiert worden (Holz 1998; 2001: 269 u.ö.; 2004 u.ö.). Diese Figur bezeichnet eine doppelte Unterscheidung: Im modernen Antisemitismus werden zunächst »Völker« unterschieden (Deutsche, Franzosen usw.) und von diesen Völkern wiederum »Juden«. Michaelis differenziert »Juden« von »anderen Völkern« (Michaelis 1973: 41), nach Fries sind »Juden« eine »Völkerkrankheit« (1816: 10), nach Rühs und Paalzow haben »Juden« einen schädlichen Einfluss auf »andere Völker« (Rühs 1816a: 20; Paalzow 1799: 18). Diese Unterscheidung ist nicht nur für den Antisemitismus des frühen 19.  Jahrhunderts charakteristisch, sondern auch für den des späten 19. und des 20. Jahrhunderts (vgl. nur die vielfältigen Belege in Holz 2001, mir ist kein Text bekannt, in dem diese Unterscheidung nicht vorgenommen wird). Juden werden im antisemitischen Judenbild als »Volk« verstanden und von allen anderen »Völkern« abgegrenzt. (b) Während die Unterscheidung zwischen einzelnen »Völkern« symmetrisch ist, ist die Unterscheidung zwischen »Völkern« und 56 Zygmunt Bauman (1992; 2002) begreift die Stellung der Juden im modernen Staat als Drittes zwischen Freund und Feind. Die Juden säßen »rittlings auf den Barrikaden«. Die Analyse ist im Hinblick auf die Unterscheidung der Juden von anderen Gruppen überzeugend, allerdings zeichnet das antisemitische Judenbild Juden nicht als Drittes zwischen Freund und Feind, sondern als Feind par excellence: Juden gelten im Antisemitismus als Feind aller Völker.

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»Juden« nicht symmetrisch, sondern symmetrisch und asymmetrisch. Wie andere »Völker« auch werden »Juden« als Ethnos bestimmt, das von einem gemeinschaftlichen Volksgeist getragen wird. Insofern ist die Unterscheidung symmetrisch, d.h. Juden werden als »Volk« wie andere »Völker« auch gezeichnet. In den bisherigen Ausführungen ist indes schon mehr als einmal deutlich geworden, dass die Gruppe der Juden im Antisemitismus anders konstruiert wird als andere »Völker«  – »Völker« bilden Staaten, »Juden« »Staaten in Staaten«; »Völker« haben ein Ethos, der »Nationalcharacter« der »Juden« wird als Anti-Ethos vorgestellt; »Völker« erhalten sich durch Arbeit, »Juden« hingegen arbeiten nicht wie andere »Völker«, sondern leben von der Arbeit anderer »Völker« usw. »Was macht den Juden zum Juden? Sein Glaube an einen Nationalgott, seine Anhänglichkeit an dem Gesetz der Väter, sein Festhalten der abgeschmacktesten Verheißungen, seine Gleichgültigkeit gegen die Fortschritte des menschlichen Geistes in Erkennung der Wahrheit, seine Verblendung gegen alle Gesetze der physischen und moralischen Welt, seine Verschlossenheit gegen jede große Idee und jedes vielumfassende Gefühl; mit einem Wort: seine Religiosität, die man, wie stolz er auch darauf seyn mag, eine thierische nennen kann, weil sie jeder freien Entwicklung widerstrebt, und den höchsten Vorzug des Menschen vor dem Thier, die Vervollkommnungsfähigkeit, vernichtet« (Buchholz 1803: 77f.). Nach Grattenauer ist die »Sittenlehre« der Juden »so falsch und schädlich, daß sie die ersten Pflichten der Menschheit verletzt, und das Band der Vereinigung unter Menschen auflöset«; ihr Glaube laufe den »ersten Grund-Principien einer jeden Moral, die selbst der Wilde, der Hurone und Neger nicht verleugnet« (Grattenauer 1791 Vorrede: 4), zuwider. Für Rühs zeigt »eine gründliche und unbefangene Betrachtung der Verhältnisse der Juden in den verschiedenen Ländern, wo sie seit ihrer Zerstreuung gewohnt haben […], daß man es den Christen nicht verdenken kann, wenn sie das Verhältniß scharf zu bestimmen suchten, worin sie zu einem Volk stehen wollten, das unter ihnen lebte, und seine Volkseigenthümlichkeit auf’s strengste behauptete; daß es überall nur an den Juden selbst gelegen hat, wenn sie sich auf keine andern Gewerbe als blos merkantilische legten, daß sie durch Hindernisse,

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die tief in ihrer religiösen und bürgerlichen Verfassung gegründet sind, davon zurück gehalten wurden, daß sie endlich überall, wo ihnen irgend eine freie Wirksamkeit verstattet war, dieselbe zum Verderben und Schaden der Nichtjuden gemißbraucht, und dadurch die Abneigung und den Haß derselben genährt und erhöht haben« (Rühs 1816a: 23). Ich könnte diese Auflistung fortsetzen, für sie gilt dasselbe wie für (a): Im späten 18., im frühen 19., im späten 19., im frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart ist für den modernen Antisemitismus die symmetrische und asymmetrische Beschreibung von »Juden« im Gegensatz zu »Völkern« charakteristisch.57 Das antisemitische Judenbild unterscheidet sich der Struktur nach von nationalistischen Feindbildern: Nur von Juden und von keinem anderen »Volk« wird behauptet, mit seiner Moral die Moral anderer »Völker« zu zersetzen oder von der Arbeit anderer zu leben. »Völker« geben sich in Nationalstaaten eine Einheit, »der Jude« im modernen Antisemitismus ist international. Das wird im Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlicher, aber diese Internationalität (und damit: die »Weltverschwörung«)58 ist im antisemitischen Wissen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in der Konstruktion des antisemitischen Feindbildes, d.h. in der Unterscheidung der »Juden« von allen an57 Ich nenne nur ein Beispiel aus dem späten 19.  Jahrhundert: Juden werden als für sich nicht lebensfähig beschrieben, weil sie nicht arbeiten. Doch diese für sich nicht lebensfähige Gruppe soll sich von anderen durch ihren inneren Zusammenhalt (Böckel 1901: 37; Ahlwardt 1890: VI; Frey [=  Fritsch] 1891: 14) unterscheiden, durch ein unerschütterlich festes Band, »das alle Juden in der Welt zu einer Einheit zusammenfasst« (Fritsch o.J.: 2). Das feste Band einer für sich nicht existenzfähigen Gruppe wiederum ist nicht das Band einer Solidargemeinschaft, sondern das Band des individuellen Eigennutzes, »Verrath« (Dühring 1881: 80). 58 Verschwörungstheorien sind kein Privileg des modernen Antisemitismus (vgl. exemplarisch nur Rohrbacher/Schmidt 1991: 194ff.), gewinnen aber im Zuge der fortschreitenden Modernisierung von Gesellschaft erheblich an Bedeutung (vgl. nur exemplarisch Paasch 1892b oder die Protokolle der Weisen von Zion). Systematisch ist die Weltverschwörung in dem Gegensatz »Völker« – »Juden« angelegt, bei Marr wird dies ganz deutlich: »Ein Vaterland hat der Jude nicht. Seinem einstigen Vaterlande wurde er mit jedem Tage mehr entfremdet und die Erinnerungen an dasselbe waren ihm nur Formeln. Dagegen hatte ihm die Natur die Gabe versagt, sich mit andern Völkern zu amalgamiren, zu assimiliren. Er blieb abstossend gegen ihre Religion, spröde gegen ihre Lebensweise. […] Und dieses Volk hat mit seinem jüdischen Geiste die Welt erobert!« (Marr 2009: 13, 15).

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deren »Völkern« und ihrer Zeichnung als eines Gegenvolkes, schon angelegt. Juden werden im antisemitischen Feindbild als ein »Volk« gezeichnet, das alle anderen »Völker« zerstört, ausbeutet, überwältigt, als ein durch Abstammung und Ethos bestimmtes »Volk« (Symmetrie), das anders ist als alle »Völker« (Asymmetrie). (c) Antisemitische Feindbilder artikulieren spezifische Überwältigungsszenarien, in deren Vordergrund die Einheit und die Existenz der eigenen Gruppe stehen.59 »Für das übrige Volk ist nun aber diese Kaste die schädlichste von allen, denn sie selbst lebt ohne eigne Mühe von fremder Arbeit, gibt weder materiell, noch geistig eine productive Arbeit, schmiegt sich also nur als Schmarotzerpflanze oder Blutsauger an ein fremdes Leben an und entkräftet dieses« (Rühs 1816a: 16). Für Herder sind Juden eine »parasitische Pflanze, die sich beinah allen europäischen Nationen angehängt und mehr oder minder von ihrem Saft an sich gezogen hat« (Herder 1965, Bd. 2: 286). Das Judentum beute »uns« aus, »ohne einen Kreuzer werth Arbeit geliefert zu haben, sind den Reichen unter ihnen ihre Bettelsäcke mit Millionen gefüllt worden, welche die Schacherteufel eurem christlichen Schweiß und Arbeit entwendet und dort zusammengehäuft haben. Dies Unwesen kann nicht ohne schreckliche Gewaltthat zu Ende gehen« (Fries 2004: 136), wenn die Regierung nicht bald handele. Den »Hauptzweifel« (Michaelis 1973: 44), den Michaelis gegen die Emanzipation der Juden vorbringt, bezieht er aus der spekulativen Überlegung, was nach ihrer rechtlichen Gleichstellung geschehen würde. 59 Gelegentlich wird auch das Bild einer befriedeten – dann judenfreien – sozialen Ordnung gezeichnet, z.B. bei Grattenauer, der eine Vision der Zukunft Berlins nach der Vertreibung der Juden artikuliert. Diese Zukunft ist zwar nicht als Paradies gemalt, aber doch als eine in alle Bereichen befriedete bürgerliche Gesellschaft: Die »christlichen Kaufleute [hätten] Nahrung«, »Militair und Civil-Bediente [würden] nicht banquerot, […] der Bürger [wäre] nicht arm, […] Redlichkeit [wäre] im Handel und Wandel […]. Wären keine Juden zu B**, so wäre die Gerechtigkeit keiner Schwächlichkeit unterworfen, so würde alte deutsche Redlichkeit nicht so gemisbraucht, so wäre der Staatsbürger redlicher und glücklicher! Bekehren werdet Ihr doch dies Volk nicht. – Dies ist ja ebenso vergeblich, als einen Mohren zu bleichen« (Grattenauer 1791: 19).

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»Juden, noch dazu den armen Juden, die nicht einmal Geld in das Land bringen, völlig gleiche Bürgerrechte mit uns zu geben, und ihnen alle Gewerbe Ackerbau, Handwerker u.s.f. zu öfnen, wäre zwar für sie Wohlthat, könnte aber den Staat äusserst ohnmächtig machen« (Michaelis 1973: 43). Staatliche Macht beruhe nicht nur auf Wohlstand, sondern auch »auf Arm und Bein, auf Soldaten, und die kann man aus dem jüdischen Volk, so lange es nicht seine jetzigen Religionsgedanken geändert hat, nicht haben« (Michaelis 1973: 44). Juden vermehrten sich, »wenn es nicht gehindert wird, ausnehmend«, weil sie früh heirateten und weniger unter Geschlechtskrankheiten litten, da sie »sich etwas mehr vor Hurerey hüten müssen, weil mit einer Christin zu thun gehabt zu haben in einigen Ländern viel Geld kosten möchte, das dem Juden über alles lieb ist« (Michaelis 1973: 44). Gäbe man Juden Gewerbefreiheit, würden sie sich noch stärker vermehren, »so wird wenigstens die Vermehrung des deutschen, kriegerischen Volks gemindert« (Michaelis 1973: 45), da »unsere Handwerkspursche und Bauern« später heirateten und Juden zunehmend die handwerklichen Berufe ausübten, die früher Deutsche gehabt hätten. Die »Söhne der deutschen Handwerker« müssten dann »entweder noch länger unverheyrathet bleiben, oder sich in auswärtigen Ländern setzen« (Michaelis 1973: 45). Da Juden vom Kriegsdienst befreit seien,60 würden Kriege die Verdrängung noch beschleunigen. »Stände gar den Juden frey, Acker, oder adeliche Güter an sich zu kaufen, und reiche Juden, die in andern Ländern nicht dergleichen Rechte hätten, wünschten ihr Geld anzulegen, so würden sie un-

60 In der Folge (vgl. auch Michaelis 1973: 63f.) erörtert Michaelis, warum Juden für den Kriegsdienst im Preußischen Staat untauglich seien – eines der Standardargumente, das von den Gegnern der Emanzipation regelmäßig in dieser Zeit ins Feld geführt wird: Zwar dürften nach seiner Auffassung (darin unterscheidet sich Michaelis von vielen späteren Gegnern der Emanzipation) Juden am Sabbat kämpfen, wenn auch nur zur Verteidigung (Michaelis 1973: 47ff.), doch seien sie aus anderen Gründen unbrauchbar: Wegen der Speisegesetze könne man sie kaum »unter unsere Regimenter […] mischen«, eigene Regimenter könne man aber wegen der Unzuverlässigkeit des »Judeneides« (Michaelis 1973: 50) nicht aufstellen. Schließlich hätten nur die wenigstens Juden das »Soldatenmaaß« (Michaelis 1973: 51), was möglicherweise eine Folge der frühen Ehen oder »der ungemischten Race eines südlichern Volks« (Michaelis 1973: 50) sei.

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sere Deutschen auskaufen, und dann hätten wir den wehrlosesten verächtlichsten Judenstaat« (Michaelis 1973: 46). Gäbe man Juden Bürgerrechte, so lässt sich Michaelis’ »Hauptzweifel« zusammenfassen, würden sie die Deutschen verdrängen, Volk und Staat schwächen und schließlich den Staat übernehmen.61 Auch diese Auflistung könnte ich für das frühe und das späte 19. wie für das 20.  Jahrhundert fortsetzen.62 Für den modernen Antisemitismus ist nicht nur die Unterscheidung zwischen »Juden« und allen anderen »Völkern« charakteristisch, vielmehr ist mit dieser Unterscheidung ein spezifisches Feindbild verbunden, in dem die Juden Einheit, Ethos und Existenz des eigenen »Volkes« und aller anderen »Völker« untergraben.63 Im Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts ist dies in der Parole Glagaus ausgedrückt, die soziale Frage sei die »Judenfrage«. Wenn auch das eigene »Volk« im Vordergrund der Überwältigungsszenarien steht, so ist es doch nicht 61 Was soll der Staat mit einer Gruppe machen, von der eine derartige Bedrohung ausgeht? Michaelis’ Antwort ist eindeutig: Der Staat könne Juden zur Landwirtschaft zulassen, wenn er sie aus der Lebenswelt der Deutschen entferne. »Wenn ein Staat wirklich wüste Gegenden hätte, so trete ich in dem Fall Herrn D. bey, daß man einen Versuch machen könnte, Juden als Colonisten zu gebrauchen.« Allerdings sei das nur die zweite Wahl, da »christliche zu Kriegsdiensten brauchbare Colonisten, selbst aus andern Ländern, wenn man sie haben kann, dem Staate vortheilhafter seyn, als jüdische« (Michaelis 1973: 57). Ansonsten sei die Trennung der Lebenswelten möglichst aufrechtzuerhalten und die rechtliche Lage der Juden nicht zu verändern. Ich kann Shulamit Volkovs Charakterisierung von Michaelis’ Replik auf Dohms Publikation als »relativ gemäßigte Kritik« (Volkov 1994: 18) nicht zustimmen. 62 Ich zitiere exemplarisch nur Paasch: »Den Machthabern, denen dieses Buch gewidmet ist, möchte ich vor die Augen führen, daß wir uns in einer Zeit befinden, wo wir mit dem Judenthum der ganzen Welt einen Kampf um die Oberherrschaft fechten, und wo es sich nur darum handelt, ob die Juden die Machthaber, oder die Machthaber die Juden verstaatlichen werden« (Paasch 1892a: IX). 63 Ich nenne hier nur wenige Beispiele aus dem späten 19. Jahrhundert: Treitschke etwa stellt den »schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet«, der »alten gemüthlichen Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes« (Treitschke 2003a: 13) gegenüber, Marr bestimmt die »Judenfrage« als »eine social-politische Frage« (Marr 2009: 41), dadurch gekennzeichnet, dass »das soziale Krebsgeschwür des Wuchers«, dessen Träger die Juden seien, »immer weiter um sich« greife und »das arme Volk aller Stände […] ein Opfer der Wucherer und der von ihnen corrumpirten germanischen Helfer« bleibe (Marr 2009: 42). Marr schreibt Juden zu, das Abendland nicht mit »Axt und Pflug«, sondern mit »List« und »Verschlagenheit des realistischen Schachergeistes« (Marr 2009: 10f.) erobert zu haben.

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so, dass nur das eigene »Volk« überwältigt würde. Die Geschichte, die der moderne Antisemitismus erzählt, ist eine Geschichte des fortwährenden Kampfes zwischen »Völkern« und »Juden«. Erzählt wird eine Geschichte fortgesetzter »Zersetzung« und »Zerstörung« von »Völkern« einerseits und der »Kampf« dieser »Völker« gegen jene »Zersetzung« andererseits. Eine solche historische Darstellung taucht im Unterschied zur Figur des Dritten zwar nicht in jedem antisemitischen Text auf. Wo aber der Konflikt zwischen Juden und anderen Völkern historisch entwickelt wird  – und das ist der Normalfall, weil das Selbstbild historisch-genealogisch angelegt ist  –, wird der Konflikt in der eben beschriebenen Weise erzählt. Die Unterscheidung zwischen »Juden« und allen anderen »Völkern« und die Zuschreibung von das eigene »Volk« und alle anderen »Völker« zersetzenden Eigenschaften zu Juden stellt das Grundmuster modernen antisemitischen Wissens dar. Dieses Grundmuster lässt sich für jeden gesellschaftlichen Handlungsbereich ausbuchstabieren und wird für jeden Handlungsbereich nach demselben Schema entwickelt (eben deshalb spreche ich von einem Grundmuster): »Wir« schaffen Kunstwerke, »Juden« sind dazu nicht in der Lage, sie zersetzen vielmehr den Kunstbetrieb durch Nachahmung und eigennütziges Handeln mit Kunstgegenständen; »wir« arbeiten für die Gemeinschaft, »Juden« arbeiten nicht für andere, sondern für sich und sie stellen keine Güter her, sondern handeln mit diesen zu »unserem« Nachteil usw. Die von »Juden« angewendeten Mittel zur Zerstörung sind Geld und Unmoral (seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts die Presse). Die Juden seien die »gefährlichste Nation«, »da sich die Geldmacht […] mit der höchsten Immoralität und Irreligiosität in ihr vereinigt hat« (Grattenauer 1803b: 36), sie störten den inneren Frieden, die gegenwärtig harmonische Koexistenz von Adel und Bürgertum (vgl. Grattenauer 1803c: 60). Da »Juden« sich an der materiellen Reproduktion von »Völkern« nicht beteiligten, sondern diese vielmehr ausbeuteten, »hört aller Vertrag mit ihnen von dem Augenblick an auf, wo sie auf die unvermeidlichste Weise die Zerstörer des politischen Lebens werden müssen« (Buchholz 1803: 158). Was dieses Muster mit moderner Gesellschaft zu tun hat, untersucht der folgende Abschnitt. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass sich das Grundmuster antisemitischen Wissens, die symmetrische und asymmetrische Konstruktion des Feindbildes und die Gegen-

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überstellung von allen »Völkern« und »Juden«, kaum mit den eingangs erwähnten theoretischen Modellen erklären lässt: Fasst man den Antisemitismus als realen Konflikt, stellt sich die Frage, warum im antisemitischen Wissen Juden nicht nur als »unsere« Feinde, sondern als Feinde aller Völker gezeichnet werden. Begreift man Antisemitismus als Teil der Konstitution sozialer Gruppen, stellt sich dieselbe Frage: Um zu wissen, wer »wir« sind, müssen »wir« »uns« unterscheiden. Aber warum werden im Antisemitismus »Juden« von allen »Völkern« differenziert? Man kann sich bei der Beantwortung dieser Frage mit der Erklärung behelfen, Antisemitismus sei eben »wirr«. Die Antisemitismusforschung hat eine Fülle von Erklärungen hervorgebracht, die ihn als ein »Zerrbild« der Gesellschaft verstehen und dieses Zerrbild aus diesen oder jenen psychischen Mechanismen erklären. Ich halte dies für politisch gefährlich und wissenschaftlich unzulässig  – für politisch gefährlich, weil solche Deutungen den Antisemitismus unterschätzen, für wissenschaftlich unzulässig, weil das, was nicht konsistent erklärt werden kann, einfach dem Gegenstand als Inkonsistenz zugeschrieben wird. Tatsächlich ist der moderne Antisemitismus kein wirres, sondern ein kohärentes Deutungsmuster von Welt. Bevor ich auf diesen Punkt zu sprechen komme, beantworte ich an dieser Stelle eine Frage, die die Untersuchung der Festlegung der Zugehörigkeitsregeln zu »Volk« aufgeworfen hat. Ich habe in Kapitel 4.1 darauf hingewiesen, dass die doppelte Bestimmung von Zugehörigkeit (Abstammung und Kultur, d.h. Verpflichtung auf das Ethos eines »Volkes«) im modernen Antisemitismus die Ambivalenz in der Assimilationsforderung, die im gesamten 19. Jahrhundert virulent ist, ermöglicht: Nach den Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit zu »Volk« bleiben Juden ethnisch Juden, auch wenn sie sich kulturell assimilieren. Ich habe weiter darauf hingewiesen, dass dies nur die Möglichkeit der Ambivalenz erklärt, weil die Regel der Festlegung von Zugehörigkeit durch Ethnisierung für alle »Völker« gilt. Während von »Völkern« (auch im späten 19. und im 20.  Jahrhundert) angenommen wird, sie könnten »verschmelzen«, wird von Juden »Verschmelzung« einerseits gefordert, andererseits wird behauptet, dass Juden sich nicht assimilieren könnten. Der Grund für diese strukturelle Ambivalenz der Assimilationsforderung im modernen Antisemitismus ist im Grundmuster der Zuschreibungen zu suchen: Sie wird strukturell ambivalent, weil Juden nicht als ein anderes »Volk«, sondern als ein Gegenvolk dargestellt

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werden.64 Angehörige anderer »Völker« können mit »uns« »verschmelzen«, weil die Unterscheidung zwischen »uns« und anderen »Völkern« symmetrisch ist, während die Unterscheidung zwischen allen »Völkern« und »Juden« symmetrisch und asymmetrisch ist, das antisemitische Feindbild nicht das Bild einer historisch-genealogischen Gemeinschaft mit einem anderen Ethos, sondern das Bild einer historisch-genealogischen Gemeinschaft mit einem Anti-Ethos zeichnet. »Juden« gelten im Unterschied zu anderen »Völkern« nicht als Gemeinschaft, sondern als Gegenteil einer Gemeinschaft, eine Gemeinschaft (Symmetrie), die keine Gemeinschaft, sondern Gesellschaft ist (Asymmetrie). Gesellschaft zerstört Gemeinschaft. Das ist der Kern aller Überwältigungsszenarien im modernen antisemitischen Wissen und der Grund für die Ambivalenz der Assimilationsforderung. Als Gemeinschaft (Symmetrie) sind Juden assimilierbar, als Gesellschaft (Asymmetrie) nicht. Die Ambivalenz in der Assimilationsforderung ist also eine Folge der für die Wissensformation des modernen Antisemitismus spezifischen Regeln, nach denen Zuschreibungen vorgenommen werden.

4.2.3 Gemeinschaft und Gesellschaft Ich habe bisher gezeigt, dass sich (nicht nur) im modernen Antisemitismus Gruppen im Selbstbild »Volk« als Solidargemeinschaften historisch-genealogisch eingrenzen. Die auf der Ebene der Semantik postulierte Internalisierung des »Volksgeistes«, d.h. der Gemeinschaftsnormen, unterscheidet nicht nur »Volkscharaktere«, sie bindet die Angehörigen des »Volkes« emotional: Verstehen »wir« uns als strebsam und fleißig, wird Faulheit zu einer Eigenschaft, die im Außenbereich von »uns« liegt und die, tritt sie im Binnenbereich auf, als »undeutsch« verstanden und moralisiert werden kann. Bei Rühs wird dieser Zusammenhang von emotionaler Bindung des Einzelnen, Moral und Gemeinschaft besonders deutlich. Die »allgemeinen Rechte und Pflichten eines Individuums« seien auf »fünf Hauptmomente« zurückführbar, erstens »das Recht, sich alle Vorzüge zuzueignen, die einem gegebenen Volk zukommen, die durch die Gesammtheit 64 Die Ambivalenz der Assimilationsforderung erklärt sich nicht daraus, dass Juden durch Akkulturation assimiliert wurden und daher kulturellen Normen des nationalen Personenverbands nicht ererbt, sondern erworben haben (Bauman 1992: 179), sondern dass Juden als Gegenvolk gezeichnet werden.

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erworben sind, und worauf der Einzelne Anspruch macht, unter der nothwendigen Verpflichtung, seines Volks würdig zu leben und zu wirken«, zweitens »der Zugang zu allen Ehren und Würden, die in einem Volk dem Verdienst offen stehen«, drittens die »Theilnahme an der Volksgegenwärtigung, wenn es verfassungsmäßig dazu berufen und berechtigt wird«, viertens die Pflicht der Übernahme von Gemeindeämtern und fünftens »die Pflicht der Vertheidigung« (Rühs 1816a: 37). Das erste und wichtigste Recht ist demnach die Teilhabe an den gemeinschaftlich erworbenen »Vorzügen«, die erste und wichtigste Pflicht besteht darin, in einer Weise »zu leben und zu wirken«, die des »Volkes würdig« ist. Das erste Recht und die erste Pflicht beziehen sich auf Handeln allgemein und das ökonomische Handeln im Besonderen: Ein »Volk« arbeitet gemeinschaftlich, erwirbt durch dieses gemeinschaftliche Handeln »Vorzüge«, an denen wiederum der Einzelne auf der Grundlage der Internalisierung der »Vorzüge«, also in Form einer intrinsischen Gemeinschaftsverpflichtung, teilhat. Als Pflicht ist die Gemeinschaftsorientierung des individuellen Handelns der Angehörigen einer Wir-Gruppe grundsätzlich prekär. Sie wird auf der Ebene der Semantik im kollektiven Selbstbild »Volk« artikuliert und hat mit tatsächlichen Handlungsorientierungen erst einmal nichts zu tun, im Gegenteil: Die postulierte Gemeinschaftsverpflichtung des Handelns macht nur Sinn, wenn die Handlungspraxis der Angehörigen der Gemeinschaft ihr nicht gemäß ist. Genau das kann sie in modernen Sozialordnungen auch nicht sein, da diese ihre Angehörigen als Träger individueller Freiheitsrechte integrieren, also ihnen soziale Positionen zuweisen, die ihnen die legitime Realisierung privater Handlungsziele ermöglichen. Das Problem, die Gemeinschaftsorientierung des Handelns der Angehörigen von »Volk«, stellt sich im Binnenbereich der eigenen Gruppe. In der Wissensformation des modernen Antisemitismus wird es in eine Bedrohung von außen übersetzt. »Aber unläugbar ist, daß Eigennutz und Gewinnsucht, die allemal in edlern Gemüthern nur weniger roh und empörend hervortreten und durch christliche und gesellige Tugenden sehr gemildert werden, von dem Handel unzertrennlich sind und die handelnden Völker zu großen Grausamkeiten verleitet haben« (Rühs 1816b: 52). »Schacherei« und »Geldhandel« haben nach Rühs einen »verderblichen Umfang« (Rühs 1816b: 53f.), der die »Volkseigenthümlich-

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keit« (Rühs 1816b: 36) beeinträchtige, weil er die normative Grundlage des eigenen »Volkes«, die Gemeinschaftsorientierung seiner Angehörigen in ihrem Handeln, untergräbt. Rühs setzt die Bedrohung der Gemeinschaftsorientierung des Handelns der Angehörigen von »Volk« nicht im Binnenbereich, sondern im Außenbereich von »Volk« an: »Eigennutz« und »Gewinnsucht« kennzeichnen nicht »uns«, sondern »die handelnden Völker«. Das grundsätzliche Problem jeder Wir-Gruppe, die Herstellung von »Brüderlichkeit«, stellt sich im Antisemitismus als Konflikt zwischen Gruppen (»Wir« und andere »Wir-Gruppen« vs. »Juden«) dar, als Konflikt zwischen Gemeinschaftsbildung (»Wir« und andere »Wir-Gruppen«) und Gemeinschaftszerstörung (»Juden«). »Will man die Differenz des Juden und Christen in einer allgemeinen Formel angeben, so muß man sagen: ›Der Jude liebt das Leben um des Geldes willen, indeß der Christ (und jeder Nicht-Jude) das Geld nur um des Lebens willen liebt‹« (Buchholz 1803: 163).65 Der Angehörige eines christlichen Volkes könne zwar gesetzwidrig, aber »nie unmoralisch handeln« (Buchholz 1803: 82), weil er sich immer schon als Teil eines vorgängigen Ganzen, als Teil einer Gemeinschaft begreife, dem Nächstenliebe sittliche Pflicht sei. Im Gegensatz von eigenem »Volk« und »Juden« werden Moral und Unmoral, Arbeit für andere und Arbeit für sich, Kreativität und Kalkulation, Spontaneität und Berechnung, Idealismus und Materialismus, Gemeinschaftsgefühl und egoistischer Utilitarismus einander feindlich gegenübergestellt. Die »Judenkaste, wie sie zugelassen wird, [hat] auf das ganze Volk, oben wie unten, auf hohe und niedere eine fürchterliche demoralisirende Kraft« (Fries 1816: 18). Zu der »demoralisirenden Kraft«, der Zerstörung der Gemeinschaftsorientierung, kommt die Ausbeutung der eigenen Gruppe, d.h. die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, hinzu. Demoralisierung und Ausbeutung im Sinne der Zerstörung der materiellen Lebensgrundlagen des eigenen »Volkes« sind die zentralen Vorwürfe, die Juden im modernen Antisemitismus gemacht werden. Die »demoralisirende Kraft« richtet sich auf die ideelle Einheit der eigenen Wir-Gruppe, die Juden zugeschriebene Ausbeutung auf deren materielle Einheit. Das Mittel der Zerstörung 65 Nach Naudh »verwandelt sich in der Hand des Juden jede Frage in eine Geldfrage« (Naudh 1861: 39), Reichtum sei ihm »nicht Mittel, sondern Zweck« (Naudh 1861: 40). Bei Heinrich Claß heißt es im frühen 20. Jahrhundert: Juden und Deutsche verhalten sich wie »Feuer und Wasser« (Frymann [= Heinrich Claß] 1912: 30).

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der Lebensgrundlage des eigenen »Volkes« ist das Medium moderner Ökonomie, Geld. Doch der Antisemitismus richtet sich nicht gegen das Geld als Medium der Ökonomie (wie das z.B. von Postone oder von Vertretern der Kritischen Theorie angenommen wird), sondern gegen die gemeinschaftszerstörende Anwendung desselben (weshalb die Antisemiten des späten 19. Jahrhunderts zwischen »schaffendem« und »raffendem« Kapital unterscheiden). »Judenschaft ist eine Völkerkrankheit, welche sich in Menge erzeugt und an Macht gewinnt durch Geld« (Fries 1816: 10). Der feindliche Gegensatz zwischen »Völkern« und »Juden« im Allgemeinen und eigenem »Volk« und »Juden« im Besonderen ist der Gegensatz von Gemeinschaft (»Volk«, Gemeinschaftsorientierung des Handelns) und Gesellschaft (»Juden«, Orientierung des Handelns an individuellen Interessen). Während »Juden« vom Handel lebten, ist dem Christen »Arbeit das Mittel, wodurch er seinen Standort in der Gesellschaft behauptet. Er fühlt sich nicht als Individuum, sondern als Fragment eines kleineren oder größeren Ganzen« (Buchholz 1803: 82). Der Antisemitismus verwandelt die beiden Modi sozialer Integration, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, in einen feindlichen Gegensatz der Sozialformen Gemeinschaft und Gesellschaft, indem er Gemeinschaft in einem eigenen und allen anderen »Völkern«, Gesellschaft in »Juden« personalisiert. Klaus Holz hat zuerst auf dieses Grundschema des modernen Antisemitismus aufmerksam gemacht (vgl. Holz 1998). Seinen Ausgangspunkt nimmt diese Form der Selbst- und Feindbeschreibung an dem für moderne Sozialordnungen charakteristischen Konflikt zwischen individualistischen und gemeinschaftlichen Handlungsorientierungen im Binnenbereich dieser Ordnungen. Dieser Konflikt wird in der Selbstbeschreibung eines historisch-genealogisch verstandenen »Volkes« von »Brüdern« eingehegt und Gesellschaft aus der »brüderlichen Gemeinschaft« ausgeschlossen. Nach der Grundannahme moderner kollektiver Selbstbilder, die soziale Welt sei eine Welt von »Völkern«, stellt sich auch Gesellschaft als Gemeinschaft dar. Das ist der Grund für das paradoxe Judenbild im modernen Antisemitismus: Juden müssen dann als »Volk« gezeichnet werden, das im Unterschied zu allen anderen »Völkern« aber keine Gemeinschaft, sondern eine Gesellschaft ist. Im Ergebnis entsteht das Bild einer gemeinschaftlichen Gesellschaft, ein »Volk«, das als AntiVolk beschrieben wird. Es ist diese Regel der Feindbildkonstruktion, die das paradoxe Judenbild vielen Antisemitismusforscherinnen

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und  -forschern als widersprüchlich und inkonsistent erscheinen lässt. Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft stammt von Ferdinand Tönnies, der sie als analytisches Instrument zuerst in die Soziologie eingeführt hat (vgl. Kapitel 2). Tönnies war weder Antisemit noch verwendet er die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in einem antisemitischen Sinn. Was den Antisemiten die Juden sind, ist Tönnies die Figur des Händlers, und wenn man sich die Zeichnung dieser Figur in Gemeinschaft und Gesellschaft ansieht, findet man eine verblüffende Parallele zur Figur des Juden im modernen Antisemitismus. Der Grund dafür ist, dass die Logik des Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft der des Gegensatzes von »Völkern« und »Juden« entspricht. Tönnies bezeichnet mit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft zwei unterschiedliche Formen von Vergesellschaftung, die er polarisiert und in eine historische Abfolge bringt (aus Gemeinschaft entwickelt sich Gesellschaft, welche Erstere zerstört). »Dieser Prozeß kann auch auf folgende Weise nach seinen Grundzügen geschildert werden. Die Substanz des Volkes bildet als ursprüngliche und beherrschende Kraft die Häuser, die Dörfer, die Städte des Landes. Sie bringt dann auch die mächtigen und willkürlichen Individuen hervor, in vielen verschiedenen Richtungen; in den Gestalten der Fürsten, Feudalherren, Ritter, aber auch als Geistliche, Künstler, Gelehrte. Alle diese bleiben jedoch im sozialen Sinne bedingt und bestimmt, solange sie es im ökonomischen Sinne sind, durch die Gesamtheit des Volkes, wie es sich in der Gliederung desselben darstellt, durch seinen Willen und seine Kraft. Ihre nationale Einigung, durch welche allein sie als Einheit übermächtig werden können, ist selber an ökonomische Bedingungen gebunden. Und ihre eigentliche und wesentliche Herrschaft ist die ökonomische Herrschaft, welche vor ihnen und mit ihnen  – zum Teil auch über sie  – die Kaufherren erobern, indem sie die Arbeitskraft der Nation sich unterwerfen, in mannigfachen Formen, deren höchste die planmäßige kapitalistische Produktion oder die große Industrie ist. Herstellung der Verkehrsbedingungen für die nationale Einigung der Willkür-Freien, und Herstellung der Bedingungen und Formen der kapitalistischen Produktion, ist das Werk der Handelsklasse, welche in ihrer Natur und Tendenz, und meistens auch in ihrem Ursprunge, ebenso international, als natio-

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nal, als großstädtisch ist, und d.h.: gesellschaftlich« (Tönnies 1991: 209, Hervorh. J.W.). Personalisiert man Gemeinschaft wie Tönnies als »Volk« und fasst die Träger des Gegenprinzips nicht in der Figur des Händlers, sondern personalisiert es in »Juden«, ist man im modernen Antisemitismus angelangt. Offensichtlich ist die Figur des Händlers in Tönnies’ Gesellschaftskritik etwas anderes als die Figur des Juden im Antisemitismus und sie hat darüber hinaus andere praktische Folgen. Abseits der inhaltlichen Differenz aber folgt das Muster, nach dem diese Figuren gebildet werden, der gleichen Regel: Externalisierung des Konflikts zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Binnenbereich von »Volk« durch Verwandlung in einen feindlichen Gegensatz zwischen einer Gemeinschaft (»Volk«) und einer gemeinschaftszerstörenden Macht (»Händler«, »Jude«). Antisemitisch wird die Unterscheidung, wenn sie personalisiert und »Juden« zugeordnet wird. Dann wird aus Gemeinschaft versus Gesellschaft »Völker« versus »Juden«. Man kann die Unterscheidung auf jedes gesellschaftliche Handlungsfeld beziehen (und Antisemiten haben sie auf jedes gesellschaftliche Handlungsfeld angewendet, ich komme darauf im nächsten Kapitel zu sprechen): »Juden« taugten nicht zur Wissenschaft und zur Kunst, weil sie nicht mit dem »Volk« verbunden und deshalb unkreativ seien; »Juden« taugten zur Ökonomie, aber nicht zu einer Ökonomie, in der gemeinschaftlich für andere gearbeitet werde, sondern in der gemeinschaftliche Arbeit ausgebeutet werde; »Juden« taugten nicht zum Militär und auch nicht zur Politik, weil sie illoyal seien. In jedem dieser Handlungsbereiche artikuliert der Antisemitismus den gleichen Vorwurf: Zerstörung der Einheit und Eigenart der eigenen Gruppe (die Musik verflacht, die Wissenschaft auch, die Politik wird laut und parteiisch usw.) durch Zersetzung der Verpflichtung ihrer Angehörigen auf Gemeinschaftsorientierung in ihrem Handeln.66 Der Hass der Antisemiten gilt Juden als Trägern der Prinzipien moderner Gesellschaft. Da im Antisemitismus die gemeinschaftszersetzenden Folgen moderner Vergesellschaftung, die Wirkungen des institutionalisierten Individualismus, aus dem Binnenbereich des eigenen Kollektivs ausgeschlossen und in der Gruppe der Juden 66 Nach Ahlwardt vertritt »der Jude« »das Prinzip des reinsten und erbarmungslosesten Egoismus« (Ahlwardt 1890: 114) und habe alle Revolutionen der Neuzeit »ins Werk gesetzt« (Ahlwardt 1980: 201).

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personalisiert werden, kann er als »negative Leitidee der Moderne« (Salzborn) bezeichnet werden. Fries spricht dies deutlich aus: »Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. […] Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judentum ausrotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler zerstören« (Fries 2004: 135). Schon bei Grattenauer heißt es: Wenn von den Juden die Rede sei, sei »von keinem jüdischen Individuum, sondern von Juden überhaupt, vom Juden überall und nirgends« (Grattenauer 1803b: 23) die Rede. Doch die »Gesellschaft prellsüchtiger Händler« ist keine Abstraktion. Fries erklärt zwar, dass es ein »Kategorienfehler« (Fries 2004: 135) sei, eine allgemeine Bezeichnung mit der »Wirklichkeit des Einzelnen« zu verwechseln. Konsequent fordert Fries, nicht den einzelnen Juden, sondern das Judentum, »ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, nicht [zu, J.W.] beschränken« – darauf liefen die Vorschläge seines Kollegen Rühs hinaus, mit denen er sich in der zitierten Passage auseinandersetzt  –, »sondern ganz aus[zu]rotten« (Fries 2004: 135). Aber es ist kein Zufall, dass Fries »Judenschaft« (eine Personengruppe) und »Judentum« (ein Prinzip) synonym verwendet. Das abstrakte Prinzip, der »Volksgeist«, das »Judentum«, wird von Personen, Juden, getragen – nach der allgemeinen Regel der Konstruktion von »Völkern« als Abstammungsgemeinschaften. Die Personalisierung der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in dem feindlichen Gegensatz von »Völkern« und »Juden«, das Grundmuster modernen antisemitischen Wissens, lässt sich aus der gesellschaftlichen Transformation einer vormodernen in eine moderne Gesellschaft erklären. Es handelt sich, ich habe das in der Einleitung als These formuliert, um denselben Prozess, der für die Modernisierung von Gesellschaft und die Veränderung der antisemitischen Wissensformation verantwortlich ist. Erst in dem Moment, in dem der soziale Ort der Juden in Bewegung gerät, können Juden als Minderheit in der Gesellschaft verstanden werden. Diese Bewegung in die Gesellschaft ist zugleich eine Bewegung der Auflösung traditionaler Gemeinschaftsbindungen, ein Prozess der Individualisierung durch Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte. Im Grund sind Individualisierung und Verbürgerlichung Wechselbegriffe. Die Bewegung betrifft Juden und Nichtjuden gleichermaßen. Beide rücken durch sie in eine moderne Gesellschaft ein, verbürgerlichen,

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werden als Untertanen im Staat Rechtspersonen mit institutionalisierten Freiheitsrechten in einer bürgerlichen Gesellschaft. Dieses grundlegende Prinzip moderner Vergesellschaftung aber macht den Zusammenhalt moderner Sozialordnungen zugleich prekär. Darauf reagieren kollektive Selbstbilder, in denen sich moderne Sozialordnungen als etwas beschreiben, was sie in ihrer sozialen Organisationsform nicht sind: Solidargemeinschaften. Diese Form der Selbstbeschreibung ist nicht einfach eine »Fiktion«, sondern Produkt einer historischen Entwicklung, in der moderne Sozialordnungen im Selbstbild einer Solidargemeinschaft des »Volkes« erstens den institutionalisierten Individualismus in ihrem Binnenbereich einhegen und zweitens in die Lage versetzt werden, sich von Angehörigen anderer Staaten zu unterscheiden. Individuelle Freiheitsrechte sind indifferent gegen die moralische Qualität ihres Gebrauchs, d.h. indifferent gegen die Beziehung von Gemeinschaft und Individuum. In der Selbstbeschreibung moderner Sozialordnungen wird diese Indifferenz in der Gegenüberstellung eines »schlechten« und eines »guten« Individualismus artikuliert. Schon Durkheim unterscheidet einen utilitaristischen Individualismus von einem moralischen Individualismus. Während der moralische Individualismus das Handeln an einer verallgemeinerbaren Norm orientiert und es dadurch auf Gemeinschaft verpflichtet, begreift der utilitaristische Individualismus andere und anderes als bloßes Mittel für seine Zwecke. Es ist an dieser Stelle wichtig zu sehen und zu verstehen, dass diese Kritik am utilitaristischen Individualismus etwas fundamental anderes ist als die in allen bekannten, auch vormodernen Sozialphilosophien artikulierte Kritik des Egoismus. Egoismus bezeichnet eine Handlungsmaxime eines Individuums, rechtlich institutionalisierter Individualismus eine Form der Vergesellschaftung. Weil eine moderne Gesellschaft Individuen vergesellschaftet, rückt die Frage nach dem Verhältnis von Individualismus und Gemeinschaftsverpflichtung ins Zentrum ihrer Selbstverständigungsdiskurse und wird zu einem Dauerbrenner. Kulturkritische Beschreibungen des »Niedergangs« das Ethos der Gemeinschaft und des Aufstiegs des utilitaristischen Individualismus füllen Bibliotheken und Feuilletons. Eine Bedingung der Einhegung des Konflikts in Gemeinschaftssemantiken ist die Personalisierung sozialer Verhältnisse. Ökonomische Strukturen verwandeln sich in Nationalökonomien, deren Leistungskraft vom mehr oder weniger ausgeprägten Fleiß der Arbeiter, dieser wiederum von dem historisch unterschiedlichen Ethos der

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Gruppe abhängen soll (»die Griechen« sind fauler als »wir« usw.). Auch hier ist die Kritik an angeblich von außen kommenden gemeinschaftszerstörenden Wirkungen Legion – das Kapital, das keine soziale Verantwortung gegenüber den Angehörigen der eigenen Gruppe kennt und Waren lieber von Angehörigen anderer Gruppen produzieren lässt; »Heuschrecken«, die sozial verantwortungslos »unsere« Unternehmen aufkaufen und zerschlagen; die Kommerzialisierung der Esskultur, die »unsere« Volksgesundheit untergräbt, um Lebensmittelkonzernen Profit zu sichern usw. Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft und ihre polare Entgegensetzung in Gruppen ist offenbar keine Besonderheit des Antisemitismus oder der Argumentation von Tönnies. Man muss die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft und ihre Personalisierung in Gruppen nicht antisemitisch ausdrücken, es gibt vielmehr mehrere Möglichkeiten, sie zu artikulieren. Die Regel, nach der der Antisemitismus Gemeinschaft und Gesellschaft einander feindlich gegenüberstellt, ist daher nicht spezifisch für den Antisemitismus. Vielmehr handelt es sich um eine semantische Regel, die zum Grundbestand modernen Weltverstehens gehört. Spezifisch für den Antisemitismus ist vielmehr, die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft in dem feindlichen Gegensatz von »Völkern« und »Juden« zu personalisieren. Die Kritik am »Verfall« des Gemeinschaftsethos ist ein Ausdruck der Sorge um es, und diese Sorge muss in einer modernen Sozialordnung endemisch werden, weil sie einerseits die Handlungsorientierungen ihrer Angehörigen entbettet, individualisiert und privatisiert, und die ökonomischen Grundlagen der Reproduktion der Solidargemeinschaft der gleichen »Brüder« (im 20. Jahrhundert dann: »Brüder und Schwestern«) gerade nicht nach »brüderlichen« Prinzipien organisiert, sie sich andererseits aber nur als Solidargemeinschaft von »Brüdern« legitimieren kann. Das Problem, das der moderne Antisemitismus thematisiert, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, ist ein Grundproblem moderner Gesellschaft, seine Antwort, der feindliche Gegensatz von »Völkern« und »Juden«, eine mögliche Antwort. Juden können in dem Moment als Feind der »Völker«, als »internationaler Feind« (diese Formulierung kommt später auf) gewusst werden, in dem die soziale Welt als Welt von »Völkern« begriffen wird, die sich selbst regieren. Antisemitismus und Nationalismus sind daher im Hinblick auf das Selbstbild zwei Seiten derselben Medaille.

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Beide stimmen zwar nicht im Feindbild (in nationalistischen Feindbildern wird Gesellschaft nicht in der Gruppe der Juden personalisiert), aber in grundlegenden Aspekten des Selbstbilds weitgehend überein. Auch liegt die Vermutung nahe, dass das Selbstbild eines »Volkes« als historisch-genalogischer Solidargemeinschaft zwingend mit der semantischen Externalisierung von Gesellschaft aus dem Binnenbereich dieser Solidargemeinschaft verbunden ist. Man kann das eigene »Volk« auch von einer internationalen politischen Elite, Heuschrecken oder »den Bankern« bedroht sehen.67 Diese Formen des Ausschlusses von Gesellschaft aus dem Binnenbereich der Sozialordnung gehorchen der gleichen semantischen Regel wie der Antisemitismus – mit einem wesentlichen Unterschied, der nicht die Regel der Polarisierung von Gemeinschaft und Gesellschaft betrifft, sondern die Gruppe, in der Gesellschaft personalisiert wird. Die Übereinstimmung in grundlegenden Mustern des Wissens scheint die wichtigste Bedingung für die Anschlussfähigkeit antisemitischer Weltdeutungen zu sein. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, Gesellschaft aus dem Selbstbild eines sich als Solidargemeinschaft verstehenden »Volkes« auszuschließen, stellt sich die Frage, warum sie auf Juden angewendet wird. Meine Antwort auf diese Frage verweist  – wie konstruktivistische Erklärungsmodelle von Antisemitismus allgemein – auf sozialhistorische Prozesse: Gesellschaft wird in Juden personalisiert, weil Juden erst mit und durch Vergesellschaftung Teil einer bürgerlichen Lebenswelt werden: Das »Einrücken« der Juden in eine bürgerliche Gesellschaft, der Prozess ihrer rechtlichen Gleichstellung, vollzieht sich durch den Prozess der Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte.

67 Deshalb lässt sich von nationalistischen Selbstbildern nicht auf antisemitische Feindbilder schließen (wohl aber von antisemitischen Feindbildern auf nationalistische Selbstbilder). Die These, man könne von nationalistischen Selbstbildern auf antisemitische Feindbilder schließen, wird z.B. von Michael Ley (2003: 104) formuliert: »Die religiöse Vergottung der auserwählten eigenen Nation hat zum Pendant die Erniedrigung der Juden als eine von der Verheißung ausgeschlossene Gemeinschaft. Es scheint vielen Interpreten des Nationalismus entgangen zu sein, daß die äußeren Feinde der Nationen wechseln können, doch ein Nationalismus ohne Antisemitismus dürfte schwerlich zu finden sein, auch wenn einzelne Nationalisten keine Antisemiten waren.« Dass diese These schief ist, wird daran deutlich, dass sie im gleichen Satz behauptet und bestritten wird. Empirisch ist sie nicht haltbar.

ÜBERGANGSPHÄNOMENE: DER CHRISTLICHE STAAT

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4.3 Übergangsphänomene: Der christliche Staat Modernisierung des antisemitischen Wissens bezeichnet einen sozialhistorischen Prozess, in dem sich das Wissen darüber, wer »wir« sind, wer Jude ist und was dieser »uns« getan hat, entwickelt oder sattelt. Gerade im ausgehenden 18. und frühen 19.  Jahrhundert verbinden sich Elemente der alten und der neuen Formation miteinander – zu den Standards gehört es, nach wie vor Christen und Juden zu unterscheiden, den Inhalt der Unterscheidung aber zu modernisieren und auf christliche Völker zu beziehen. In diesem Prozess der Sattelung entwickeln sich Phänomene, die nur in der Phase des Übergangs der älteren zur neueren Formation Bestand haben. In diesem Abschnitt erläutere ich ein bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zentrales Übergangsphänomen, den Rekurs auf den christlichen Staat im Selbstbild. Dieser Rekurs zeichnet sich dadurch aus, dass er Elemente der alten christlichen Selbstbilder mit Elementen der neuen nationalen Selbstbilder kombiniert. Im Selbstbild eines »christlichen Staates« (Grattenauer 1791: Vorrede: 5; 127 und öfter)68 beschreibt sich ein aus einer Mehrzahl von christlichen Kirchen bzw. Konfessionen bestehendes »Volk« als politische Einheit (in Preußen zur Zeit Grattenauers waren die reformierte, die lutherische und die römisch-katholische Kirche formal gleichgestellt). Die Einheit der Bürger im »christlichen Staat« kann sich nicht auf die Gemeinsamkeit des Glaubens und seine institutionelle Praxis beziehen – die Gemeinsamkeit ist erstens eine Abstraktion von Abweichungen, die alles andere als marginal und in unterschiedlichen Kirchen institutionalisiert sind, und umfasst zweitens Christen, die keine Deutschen sind. Grattenauer artikuliert dies an einer Stelle: 68 Zur Verwendung des Terminus insbesondere im Anschluss an die Auseinandersetzung um die Vorschläge des preußischen Staatsrats Streckfuß in den 1830er Jahren vgl. Katz 1989: 193-200. Katz diskutiert allerdings nicht das systematische Problem des Terminus und seine Beziehung zum Transformationsprozess des Antisemitismus. Dieses Problem besteht darin, dass der »christliche Staat« auf der Ebene der Institutionen unterschiedliche christliche Konfessionen und Kirchen integriert und auf der Ebene der Personenverbände auf unterschiedliche Grundgesamtheiten fokussiert, weshalb zwischen Staat und Religionszugehörigkeit unterschieden werden muss (vgl. dazu im weiteren Text). Katz übernimmt die gängige Auffassung, die den Terminus Friedrich Julius Stahl zuschreibt. Tatsächlich wird er früher, eben schon von Grattenauer 1791, verwendet.

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»Wenngleich Deisten, Naturalisten, Arrianer, Manichäer und andere Secten in gewissen Glaubens-Puncten von der herrschenden Kirche des Landes abweichen so kann man doch gegen ihre Moral nichts einwenden, und diese, nicht aber die Religion ist es, welche den Menschen, zum Menschen, und Bürger macht« (Grattenauer 1791: 39). Danach ist der Status des Bürgers nicht von der Religion, sondern von der Moral abhängig, die den Angehörigen unterschiedlicher Glaubensauffassungen gemeinsam ist. Allen, die sich zu »Christum« bekennen und über die Gemeinschaft der Moral verfügen, seien »auch alle Rechte, und Freyheiten anderer Bürger« zu gewähren (Grattenauer 1791: 127). Sie machten ein Volk aus, eine »in einem Landstriche vereinigte Menge Menschen, in sofern sie ein Ganzes ausmacht« (Grattenauer 1803c: 31).69 Wer nicht einer christlichen Religion bzw. Kirche angehört, ist danach nicht Teil der Ganzheit des Volkes. Aber diese Zugehörigkeit ist nur eine Voraussetzung des Bürgerstatus. Um Bürger im »christlichen Staat« zu sein, muss man auch dem »Ganzen« des Volkes zugehören. »Völker« sind, wie schon bei Michaelis, historisch-genealogische Gemeinschaften mit einem spezifischen Ethos (vgl. exemplarisch Grattenauer 1791: 111), das sie als sittliche Gemeinschaften qualifiziert und von anderen unterscheidet. Kriterium des Unterschieds zwischen den Angehörigen eines »christlichen Staates«, dem »christlichen Volk«, und Juden ist entsprechend nicht Religion, sondern Moral. Von »uns« werden Juden als »fremdes Volk«70 (in der Terminologie von 1803: als »Rotte«) differenziert, dessen moralischer Grundsatz sei, »Christen zu betrü69 Die Definition stammt wörtlich von Kant, von dem Grattenauer sie übernommen hat (Kant 1995: B 295). Schon 1791 findet sich bei Grattenauer eine kurze Überlegung zu diesem Punkt: Volk wird hier einerseits als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft bestimmt und mit Nation gleichgesetzt, andererseits als Gruppe der Untertanen. Vgl. Grattenauer 1791: 112. Das Volk zerfalle in die Nation und den Pöbel, als Nation gilt der Teil, »der sich durch gemeinschaftliche Abstammung zu einem bürgerlichen Ganzen anerkennt«, als Pöbel der Teil, der sich davon ausnimmt. Sofern dieser sich »gesetzwidrig« vereinige, nennt Grattenauer ihn »Rotte« (vgl. Grattenauer 1803c: 31f.). 70 So schon Friedrich Traugott Hartmann 1783. Hartmann geht davon aus, dass Juden sich durch ihren Glauben »zu einem ganz abgesonderten Volke« (Hartmann 1783: 12) gemacht und selbst »von der Erfüllung der wichtigsten Statspflichten ausschlossen« (Hartmann 1783: 9) haben, weshalb ihnen Bürgerrechte in einem christlichen Staat zu verwehren seien.

MENSCHHEIT UND VOLK

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gen« (Grattenauer 1791: 7) und das »einen Staat im Staat« (Grattenauer 1791: 112f.) bilde.71 Der Rekurs auf den »christlichen Staat«, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und teilweise noch darüber hinaus eine etablierte Variante der Kombination christlicher und nationaler Selbstbilder, auf deren vielfältige Facetten ich an dieser Stelle nicht eingehen kann, nimmt nicht nur Elemente christlicher Selbstbilder auf, er treibt zugleich die Nationalisierung des Antisemitismus voran, weil er christliche Völker unterscheiden und daher nicht religiöse Kriterien profilieren muss, welche die Grundgesamtheit »Volk« als Einheit qualifizieren, bei Grattenauer eben »Moral«.

4.4 Menschheit und Volk Ich habe in Kapitel 3 erläutert, wie und warum sich ein Selbstbild, in dem alle Christen vor Gott gleich sind, in ein Selbstbild wandelt, in dem zunächst die Gleichheit von Menschen, dann die Gleichheit von Angehörigen von Völkern, die sich als historisch-genealogische Solidargemeinschaften verstehen, artikuliert wird. Mit der universellen Gleichheitszuschreibung »Mensch« und der partikularen Gleichheitszuschreibung »Volk« können Juden prinzipiell aus »Volk« ausgeschlossen werden und es kann ihnen die Zuschreibung »Mensch« abgesprochen werden. Beide Formen des Ausschlusses kontrastieren in einem wesentlichen Punkt: Solange »Juden« von »Völkern« unterschieden werden, wird ihnen die Qualität des Mensch-Seins nicht abgesprochen. Dies ist aber der Fall, wenn Juden und Menschen unterschieden werden. Die beiden Positionen schließen sich nicht aus, sondern können kombiniert werden. Ich erläutere dies zunächst am Beispiel Grattenauers (4.4.1) und gehe dann in einem Exkurs auf eine besondere Form der Unterscheidung Christ–Jude–Mensch ein (4.4.2).

71 Grattenauer verwendet diese Formulierung schon in dieser Schrift und nicht, wie Brumlik (2000: 79) und Gurian (1946: 222) vermuten, erst in Wider die Juden von 1803. In beiden Schriften ist die Figur allerdings nicht zentral. In der Schrift von 1803 taucht sie nur am Anfang im Kontext des Zitats von Fichte auf.

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4.4.1 Die Universalisierung des Gegensatzes: Jude–Mensch Grattenauer unterscheidet zwischen Christen, Völkern und Menschen. Der Mensch »bleibt immer Mensch; hat immer gerechte Ansprüche auf die thätige Unterstützung seines Mitbruders, – jeder Nazionalhaß ist dahero ungerecht, weil er aus einem lächerlichen Stolz, und thörichter Eigenliebe entspringt« (Grattenauer 1791: 111). Alle Menschen hätten als Menschen ein brüderschaftliches Verhältnis zueinander. Juden können auf brüderschaftliche Solidarität keinen Anspruch erheben, weil sie keine Menschen seien, sondern sich »die volle Verachtung der Menschheit« (Grattenauer 1791: 111) zugezogen hätten. Grattenauer sieht selbst, »wie hart es sey, über eine ganze Nazion den Stab zu brechen«. Dies verdiene »weder der Türcke, noch der Mulatte und Hottentot, weil er doch angeborene und erworbene Tugenden zeigt« und für »bessere Einsichten« (Grattenauer 1791: 111) offen sei. Juden hingegen, »ohnerachtet sie unter den polizirtesten, und aufgeklärtesten Völkern wohnen, ohnerachtet die Fackel der Aufklärung auch sie erleuchten würde« (Grattenauer 1791: 112), blieben bei ihrer Religion und in ihrer Entwicklung stehen. Weil Juden sich selbst »unwürdig« verhielten, könnten sie keinen Anspruch auf Toleranz erheben – sie trennten »die Bande der Rechtschaffenheit […], welche allein die Menschen binden und ketten kann«, und könnten daher auch keine »Menschen-Rechte verlangen« (Grattenauer 1791: 23). In diesem Punkt unterscheidet sich Grattenauer von den meisten anderen Streitern gegen die Emanzipation, die Juden zwar Menschenrechte zubilligen, ihnen aber Bürgerrechte verwehren wollen.72 Zwar ist der Gegensatz von Jude und Mensch in gewissem Sinn schon in der feindlichen Gegenüberstellung von »Völkern« und »Juden« angelegt. Doch wird diese Gegenüberstellung im frühen modernen Antisemitismus normalerweise nicht zu dem Gegensatz von Jude und Mensch zugespitzt. Ein Grund dafür wird darin zu suchen sein, dass in diesem Antisemitismus der Begriff Mensch keine herausgehobene Referenz darstellt – vielmehr wird der Begriff 72 Das politische Korrelat dieser Konstruktion ist die Behauptung, die Juden strebten eine »Weltregierung« (Grattenauer 1803b: 38) an.

UNIVERSALISIERUNG DES GEGENSATZES: JUDE – MENSCH

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Volk als ein Gegenbegriff zur aufklärerischen Rede vom Menschen verwendet. Mit der Entgegensetzung von »Jude« und »Mensch« sind erstens radikale Forderungen verbunden. Wenn Juden von Menschen abgegrenzt werden  – ein Topos, der schon bei Paulus, allerdings in anderer Bedeutung, geäußert wird73  –, müssen sie auch nicht mehr wie Menschen behandelt werden. Grattenauer plädiert für die Ghettoisierung der Juden im Innern (Grattenauer 1791: 17) bzw. in »Kanaan« (Grattenauer 1791: 58). Auf Vertreibung zielt auch die – nicht ausformulierte  – Forderung, »auf Mittel zu denken, sie mit guter Manier los zu werden« (Grattenauer 1791: 18).74 Sie bildet zweitens die Grundlage der im Antisemitismus verbreiteten Tiermetaphorik. Das ist schon bei Grattenauer so, der die ihm besonders verhassten polnischen Juden als Affen bezeichnet. »Die Indischen Fakire abgerechnet, giebt es wohl keine Gattung von seyn sollenden Menschen, welche dem Ourangoutang näher kommt, als einen polnischen Juden« (Grattenauer 1791: 92).75

73 »Die haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind« (1. Thess 2,15). Allerdings scheint »Mensch« nicht Menschheit umfangslogisch oder als Gattungsbegriff zu bezeichnen, sondern die Idee der Auserwähltheit umzukehren. Jedenfalls ist die umfangslogische Bedeutung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts selten (vgl. Bödeker 1995: 1064). 74 Ein Grund für die sprachliche Härte des Textes mag auch in dem Aufkommen einer Publizistik unter Bedingungen kapitalistischer Marktwirtschaft zu verorten sein. Balzac beschreibt die damit verbundenen Veränderungen sehr plastisch und ausführlich  – eine Ausführlichkeit, die selbst Folge der Veränderung ist: Balzac wurde nach Seiten bezahlt  – in Verlorene Illusionen. Eine wesentliche Veränderung besteht in der Nötigung, zum Gegenstand öffentlichen Gesprächs werden zu müssen, um den Absatz der eigenen Publikationen zu erhöhen. Schlimmer, so lässt Balzac einen seiner Protagonisten erklären, als abschätzig zitiert zu werden, sei nur, nicht zitiert zu werden. Ein – bis in die Gegenwart beliebtes und oft genutztes – Mittel zur Steigerung öffentlicher Aufmerksamkeit ist die skandalisierende Äußerung zu skandalträchtigen Themen. In dieser Weise hat sich auch Grattenauer in einem Prozess im Anschluss an eine seiner antisemitischen Publikationen geäußert: Die Härte der Anwürfe und die Radikalität der Forderungen seien darauf zurückzuführen, dass er dadurch den Verkaufserfolg seines Buches und damit seine Einnahmen habe steigern wollen. 75 Grattenauer hat diese Passage aus einer Schrift von Johann Pezzl aus dem Jahr 1790 übernommen. Vgl. Bergmann/Erb (1989: 209, Fn 122). Allgemein zu dehumanisierenden Judenbildern bis zum Vormärz: Bergmann/Erb 1989: 195210.

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4.4.2 Exkurs: Christ und Jude versus Mensch Die Unterscheidung von Jude und Mensch erfährt im Zuge der Politisierung der aufklärerischen Religionskritik in den 40er Jahren des 19.  Jahrhunderts im deutschen Sprachraum  – in Frankreich hatte sich eine stark politisch ausgerichtete Religionskritik schon etwa 100 Jahre zuvor etabliert – eine neue Bedeutung, die oft in der Geschichte des Antisemitismus verortet wird. Auch weil diese Diskussion zentrale Termini der bisherigen Untersuchung, z.B. den des christlichen Staates, aufnimmt und aus einer liberaldemokratisch-säkularen Perspektive betrachtet, scheint es mir angemessen, sie in einem kurzen Exkurs zu betrachten. Hinzu kommt, dass sowohl der Junghegelianer Bruno Bauer76 wie Karl Marx, die heute noch bekannten Vertreter der politischen Religionskritik der 40er Jahre des 19.  Jahrhunderts, wegen ihrer gegenüber der jüdischen Religion feindlichen Äußerungen nicht selten einen Platz in der Geschichte des modernen antisemitischen Wissens finden, ohne dass die Texte in ihrem zeitgenössischen Kontext verstanden und interpretiert werden. Ausgangspunkt mehrerer Schriften zur politischen Religionskritik war Bruno Bauers 1843 publizierte Schrift Die Judenfrage. Bauer nimmt die schon von Lessing bekannte Unterscheidung von Christ und Jude und die Verortung der Einheit dieser Differenzierung im Begriff des Menschen auf und verbindet mit ihr eine religionskritische und politische Perspektive, in der die Gleichheit von Individuen als Bürgern eines säkularen Staates im Zentrum steht. Bauer geht davon aus, dass Juden so lange nicht emanzipiert werden könnten, solange sie an dem Selbstbild eines auserwählten, von allen anderen unterschiedenen Volkes festhielten. Auch die Taufe in einem christlichen Staat sei keine sinnvolle Grundlage ihrer Emanzipation. »Die Emancipation der Juden ist auf eine gründliche, erfolgreiche und sichre Weise erst möglich, wenn sie nicht als Juden, d.h. als Wesen, die den Christen immer fremd bleiben müssen, eman76 Die vormärzlich-revolutionäre Position Bauers hat sich noch in den 40er Jahren verändert. Bauers Arbeiten waren in den Jahren danach von einem stärker konservativ geprägten Antisemitismus geprägt (vgl. Kimmel 2009a: 58-59). Vgl. zu Bauers Religionsbegriff Rosen 1977: 85-108. Zu einer meiner vergleichbaren Interpretation der beiden Texte von Bauer und Marx, die sie im Junghegelianismus einerseits und in der Zeitgeschichte andererseits einordnet, vgl. Essbach 1988: 366-372. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Haury (2011) mit den entsprechenden Verweisen.

EXKURS: CHRIST UND JUDE VERSUS MENSCH

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cipirt werden, sondern wenn sie sich zu Menschen machen, die durch keine, auch durch keine fälschlich für wesentlich gehaltne Schranke mehr von ihren Mitmenschen getrennt sind. Die Emancipation kann also auch nicht an die Bedingung geknüpft werden, daß sie Christen würden  – eine Bedingung, unter der sie nur in einer andren Weise als sie es vorher waren, privilegirt würden« (Bauer 1843: 60). Der christliche Staat sei nicht der wahre Staat. Vielmehr müsse das Christentum der gleichen Kritik unterworfen werden wie das Judentum. Bauer tat das in der ein Jahr nach Die Judenfrage publizierten Schrift Das entdeckte Christentum, die sich im Titel an Eisenmengers judenfeindliche Publikation Entdecktes Judentum anlehnt. Der Publikumserfolg tendierte allerdings gegen Null, da die Schrift sofort nach ihrem Erscheinen konfisziert und deshalb kein Exemplar verkauft wurde (vgl. Eberlein 2009: 112f.). Bauer wendet sich gegen die in der Debatte um die Emanzipation erhobene Forderung, Juden könnten nur nach einer Taufe Bürgerrechte erlangen. Da die Religionszugehörigkeit mit der Rechtsstellung im Staat nichts zu tun habe, müssten Juden nicht Christen, sondern beide vielmehr Menschen werden, um in einem bürgerlichen Staat zusammenleben zu können. Entsprechend gelangt er zu der Auffassung, dass beide, Christen wie Juden, als Menschen (vgl. Bauer 1843: 61f.) in einem nicht mehr absolutistischen Staat, der dann eine »Angelegenheit Aller« sei (Bauer 1843: 88), emanzipiert werden. »Der Jude« müsse »die allgemeine Sache der Menschheit zu der seinigen, die seinige zu der allgemeinen Sache machen« (Bauer 1843: 92). Diese Überlegung ist Teil einer an Hegel angelehnten Geschichtsphilosophie (vgl. Bauer 1843: 4-12), die Geschichte und geschichtliche Entwicklung als Geschichte von »Völkern« begreift. Der »Geist« des »jüdischen Volkes« sei im Unterschied zu allen anderen Völkern auf Beharrung gerichtet, »Religion und Lebensart« verpflichteten Juden »zu ewiger Absonderung« (Bauer 1843: 19), die erst aufgehoben werden könne, wenn sie und die Christen, die Angehörigen des »vollendeten Judentuhms« (Bauer 1843: 45), das »besondere Wesen« (Bauer 1843: 19), das sie trennt, aufgäben und sich als Menschen betrachteten. Bis dahin sei das Verhältnis von Juden und Christen eines der Ausschließung, das durch Emanzipation der Juden in einem christlichen Staat nicht aufzuheben sei, weil erstens der Christ als Christ gar keine Menschenrechte gewähren könne und zweitens der

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ANTISEMITISCHE REAKTIONEN AUF DIE »JUDENFRAGE«

christliche Staat in seiner absolutistischen Form keine Bürger, sondern nur Untertanen kenne (vgl. Bauer 1843: 19f.). Die Unterscheidung zwischen Christ, Jude und Mensch wird von Bauer nicht in einem antisemitischen, sondern in einem religionskritischen Sinn verwendet. Die Forderung nach Aufgabe der Religion gilt für Christen und Juden gleichermaßen und als Voraussetzung ihres demokratischen Zusammenlebens. Um wahrhafter Mensch zu werden, so heißt es in Das entdeckte Christentum, müsse der Mensch den Unmenschen überwinden, der in der Religion seine Unmenschlichkeit verehre. Der Begriff des Menschen steht bei Bauer in der doppelten Opposition gegen Religion einerseits und gegen den absolutistischen Staat andererseits. Zwar trägt Bauers Argumentation antisemitische Züge (die in seinen späteren Arbeiten ausgebaut werden): Er begreift Juden als Angehörige eines Kollektivsubjekts, welche die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft ausbeuteten (vgl. Bauer 1843: 8f.), schreibt ihnen bestimmte negative Eigenschaften zu  – so verlören die Juden als Volk, das nicht mit der Geschichte fortschreite, die Fähigkeit, ihre Sittlichkeit zu heben (Bauer 1843: 12)  – und geht davon aus, dass ihr »Volksgeist« »Kunst und Wissenschaft« widerspricht (Bauer 1843: 10). Doch unterscheidet sich Bauers Position in Zur Judenfrage von allen bisher und im Folgenden diskutierten antisemitischen Positionen dadurch, dass erstens der Gegensatz als prinzipiell in einer religionskritischen Gesellschaft aufhebbar gedacht wird (so auch Katz 1989: 166f.), zweitens Bauer sich nicht selbst einem »Volk« zurechnet, sondern aus einer universalistischen Beobachterposition schreibt, und drittens Juden nicht für die soziale Lage einer anderen Gruppe verantwortlich gemacht werden.77 In der Auseinandersetzung mit Bauers Die Judenfrage ist Marx’ Zur Judenfrage entstanden. Marx geht über Bauer hinaus, indem er dessen Religionskritik gesellschaftskritisch wendet, d.h. Bauer dafür kritisiert, auf der Ebene der Religionskritik stehen zu bleiben und Religion nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen. 77 So auch Sterling 1969: 99, die argumentiert, dass Bauer und andere Junghegelianer keine »dezidierten« Antisemiten seien, diese aber »ungewollt« unterstützten, oder Volkov 2002: 41, die davon ausgeht, dass Bauer wie Marx »were using Jewish issues in order to discuss other matters«. Eine Gegenposition findet sich z.B. in Silberner 1962: 119f. oder in Eberlein 2009: 104-109. Eberleins Argumentation baut darauf auf, dass Bauer das Christentum dem Judentum als Religion überordnet. Das stimmt zwar, taugt aber kaum als Begründung für einen Antisemitismus in Bauers Publikation zur »Judenfrage«, da dieser die beiden Religionen als Entwicklungsverhältnis begreift.

EXKURS: CHRIST UND JUDE VERSUS MENSCH

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»Wir versuchen, die theologische Fassung der Frage zu brechen. Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondre gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben?« (Marx 1981: 372) Die Antwort gibt Marx im letzten Teil seiner Schrift:78 »Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum« (Marx 1981: 373). Er unterscheidet zwei Bedeutungen von Judentum, eine religiöse und eine weltliche: »Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden« (Marx 1981: 372). In der weltlichen Bedeutung bezeichnet es keine Personengruppe, sondern eine soziale Funktion, die der frühe Marx für gesellschaftliche Herrschaft in einer bürgerlichen Gesellschaft verantwortlich macht, das Geldkapital. Deswegen gelangt er zu der Überzeugung, dass »der Jude […] nur die besondere Erscheinung von dem Judentum der bürgerlichen Gesellschaft« sei und diese ihn fortwährend »aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt« (Marx 1981: 374). Diese Kritik ist offensichtlich nicht gegen Juden gerichtet, sondern gegen die bürgerliche Gesellschaft. »Emanzipation der Menschheit vom Judentum« bedeutet nicht mehr – aber auch nicht weniger – als die Aufhebung von »Entfremdung« in einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in welcher »der Mensch« zu sich selbst komme. Im Begriff der Entfremdung kulminiert die Gesellschaftskritik des jungen Marx. Der Terminus »Jude« hat in dieser Argumentation einen anderen Sinn, er profiliert nicht die Einheit eines Kollektivs gegen andere, sondern eine soziale Funktion. Der Sinn der Unterscheidung von Christ, Jude und Mensch bezieht sich nicht auf Personengruppen, sondern ist sozialrevolutionär und auf die Veränderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft bezogen. Diese am Beispiel von Bauer und Marx erörterte Sonderform der Unterscheidung von religiösen Gruppen und Mensch spielt in der 78 Dieser Teil ist auch derjenige, der in der Sekundärliteratur als antisemitisch kritisiert wird. Das materialreichste Beispiel für eine solche Kritik findet sich in Silberner 1983: 16-43 und Silberner 1962: 107-142. Vgl. dazu die ausführliche Kritik an Silberner in Claussen 1987a: 62-81. Die schärfste Polemik formuliert wohl Broder 1988: 211, der Marx in eine Reihe mit Treitschke, Dühring und Reventlow stellt. Auf der Linie der hier vertretenen Position liegt etwa Massing 1959: 165ff., explizit 167.

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Geschichte des Antisemitismus keine bedeutende Rolle, wo antisemitische Autoren auf sie Bezug nehmen, ist er eklektisch, d.h. man zitiert Passagen, die in den eigenen Argumentationsgang passen. Die Einordnung der frühen Schrift Bauers und der Schrift Marx’ in die Geschichte des Antisemitismus im Rahmen der Antisemitismusforschung basiert auf dem gleichen Prinzip.79 Jene Differenzierung ist vielmehr Teil aufklärerischer Religions- bzw. Gesellschaftskritik, die ihren historischen Sinn im 19.  Jahrhundert an der stark religiösen Prägung des Alltagslebens und Weltverstehens gewinnt und »den Menschen« als Überwindung von und Fortschritt über religiöse Weltdeutungen hinaus versteht. Diesen Sinn verliert die Kritik mit der Säkularisierung des Alltagslebens und Weltverstehens im 20.  Jahrhundert (weshalb sie auch nur im 18. und 19.  Jahrhundert artikuliert wird). Dass Bauer und vor allem Marx von einigen in die Geschichte des modernen Antisemitismus eingeordnet werden, mag politisch motiviert sein oder auch andere Gründe haben – der Sache nach basiert die Einordnung auf einem allzu vagen Begriff von Antisemitismus, der sich für dessen Kern, die Personifizierung und Entgegensetzung von Gesellschaft und Gemeinschaft in dem feindlichen Gegensatz von »Völkern« und »Juden«, nicht interessiert.

4.5 Erste Ansätze zur Differenzierung des Antisemitismus 1812, 30 Jahre nach Dohms Schrift,80 sind Juden Christen in Preußen zwar nicht rechtlich gleichgestellt, aber ihre rechtliche Lage ist mit dem Erlass des Edikts 1812 erheblich verbessert worden. Die soziale Lage der Juden hat sich, jedenfalls in den größeren Städten, vor allem in Berlin, im Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum deutlich verbessert, wenn auch die Trennung der Lebenswelten weitgehend Bestand hat und Juden auch im aufgeklärten preußischen Bürgertum eine Randexistenz führen. Die kurze Zeit der Salons, in denen sich das aufgeklärte christliche und das aufgeklärte jüdische Bürgertum tra79 Die von Katz (1985: 201) aufgemachte Parallelität zwischen dem Antisemitismus Wagners, Bauers und Marx’ ist aus den eben genannten Gründen nicht einleuchtend. 80 Einen knappen Überblick von Dohm bis zu Rühs und Fries gibt Greive 1983: 13-23.

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fen, gehört größtenteils der Vergangenheit an. Gerade das Bildungsbürgertum ›schwimmt‹ nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und der Expansion Frankreichs auf einer romantischen Welle nationaler Selbstfindung (vgl. dazu Dann 1994b: 63ff.; Nipperdey 1987: 305ff.). Die konfessionelle Spaltung wird zunehmend als »nationalpolitisches Problem« (Altgeld 1992: 125-145) diskutiert, Juden werden aus der deutschen Nation als intern nicht zugehörig ausgeschlossen (vgl. Volkov 2000a: 124f.). Allerdings verfügt das jüdische gebildete Bürgertum langsam und eher als zur Zeit Dohms über die publizistischen Mittel, sich gegen Angriffe der Emanzipationsgegner zu wehren (vgl. Jersch-Wenzel 2000a: 39)  – zu nennen wäre etwa Saul Aschers Eisenmenger der Zweite, eine Auseinandersetzung mit den religionsphilosophischen Überlegungen Kants und vor allem Fichtes Invektiven gegen die Juden von 1794 (Ascher 1991a: 5-80) oder seine Germanomanie, eine Diskussion der zeitgenössischen Nationalisierung der Selbstbilder und ihrer Folgen für die Emanzipationsdiskussion (Ascher 1991b: 191-232). Mit dem Wiener Kongress ist nicht nur Europa für die nächsten Jahrzehnte politisch neu geordnet worden, es hat sich zudem eine restaurative Entwicklung durchgesetzt, die auf der Ebene der Semantik mit einer Abkehr von den aufklärerischen Idealen verbunden ist, von denen die frühen Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung ebenso zehrten wie die Fortschritte in der Praxis dieser Gleichstellung. Der »Heiligen Allianz« gilt die christliche Religion als erklärter Bezugspunkt der Politik. In einer Vielzahl, insbesondere in den von Frankreich vormals besetzten, Staaten wird die Emanzipationsgesetzgebung wieder zurückgenommen (dazu Elbogen/Sterling 1966: 184ff.). Die erste Phase der Judenemanzipation ist abgeschlossen, der Emanzipationsprozess gewinnt erst wieder nach 1840 an Fahrt. In dieser Zeit bilden sich unterschiedliche Typen antisemitischen Wissens heraus. Bisher war das Selbstbild der Zugehörigkeit nach als »christliches Volk« in einem »christlichen Staat« bestimmt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt das religiöse Element im Selbstbild in den Hintergrund zu treten. Ich entwickele diese Differenz am Beispiel von Christian Friedrich Rühs und Jakob Fries, deren Texte den Auftakt zu einer breiten Diskussion der »Judenfrage« nach 1815 bilden  – zwischen 1815 und 1850 haben sich mit dieser Frage oder ihren Teilaspekten etwa 2500 Publikationen auseinandergesetzt (vgl. Jersch-Wenzel 2000a: 39; Fischer 2000: 34). Nirgendwo

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wurde die »Frage der Möglichkeit, der Modalität und der Grenzen der Eingliederung der Juden so lange und so leidenschaftlich diskutiert« (Katz 1982e: 189) wie im deutschen Sprachraum. Die antisemitischen Schriften von Jakob Fries und Christian Rühs zählen zu den »Klassikern« des frühen modernen Antisemitismus. Dies hat, neben dem Renommee, das beiden als herausragenden Fachgelehrten – Rühs war Historiker, Fries Philosoph, Mathematiker und Physiker – zuteilwurde, sicher mit der Klarheit der Argumentation und damit zu tun, dass beide eine unterschiedliche Klientel ansprechen, Rühs vertritt eher einen christlichen Nationalismus, Fries dagegen einen liberalen Nationalismus, der nicht christlich argumentiert, sondern auf »an acceptance of a secularized humanitarian belief« (Gurian 1946: 224) basiert. Gurian hebt die Schrift von Fries  – im Unterschied zu den meisten späteren Antisemitismusforscherinnen und -forschern – deshalb gegenüber der von Rühs besonders hervor. Allerdings rechnet er Rühs etwas schematisch einem christlichen, Fries einem säkularisierten Antisemitismus zu (so auch Berding 1988: 61ff.). Jersch-Wenzel (2000a: 40) ist der Auffassung, Rühs argumentiere eher christlich, Fries eher national. Ich werde dagegen im Folgenden zeigen, dass es sich bei den hier zur Rede stehenden Schriften von Fries und Rühs um zwei Typen des modernen Antisemitismus handelt, die sich nicht mehr mit Hilfe der Unterscheidung religiössäkular begreifen lassen: Das Selbstbild beider ist national, nur versteht Rühs unter Nation ein christliches »Volk«, Fries dagegen bestimmt es unabhängig von der Religion. Rühs wurde 1810 als Professor für skandinavische und germanische Geschichte nach Berlin berufen (zur Person: Weigel 2009a: 703-705) und 1817, drei Jahre vor seinem Tod, zum preußischen Hofhistoriografen ernannt. Vor seiner Berliner Zeit hatte er eine Professur in Göttingen inne. Seine antisemitischen Schriften fanden eine außerordentlich hohe Verbreitung (vgl. Erb 1987: 109, Fn 33). Zusammen mit der kurz danach erschienenen Publikation von Jakob Friedrich Fries Ueber die Gefährdung des Wohlstands und Charakters der Deutschen durch die Juden hat Rühs’ Schrift Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht »beträchtliches Aufsehen erregt« (Hubmann 1997: 10).81 Der 1773 geborene Jakob Fries habi81 Die Bibliografie Eichstädts trägt dem mit dem Titel »Zweite antisemitische Bewegung. Rühs und Fries« Rechnung (Eichstädt 1938: 49). In einem – nicht erschienenen – Überblick über die Judenfrage in Deutschland weist Eichstädt auf

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litierte 1801 bei Fichte und war ab 1805 Professor für Philosophie und elementare Mathematik in Heidelberg (vgl. zu Fries: Weigel 2009b: 256-258). Fries war politisch ein Liberaler, der als ein Vordenker des Prinzips der Menschenwürde gilt. Er selbst verstand sich als politischer Mensch, der für Bürgerrechte und liberale Freiheitsrechte eintritt. Nachdem sein Schüler Karl Ludwig Sand Kotzebue ermordet hatte, wurde Fries mit einem Lehr- und Publikationsverbot belegt und erst 1838, wenige Jahre vor seinem Tod, rehabilitiert (vgl. Hubmann 1997: 12f.). Adressat von Rühs’ Publikation ist »das deutsche Publikum« (Rühs 1816a: IV), ursprünglicher Anlass der Wunsch, nach den Siegen über die napoleonischen Truppen, »als die Sonne der Freiheit über das gemißhandelte Vaterland aufdämmerte« (Rühs 1816a: IV), ein Buch über den »Untergang des deutschen Reichs« (Rühs 1816a: IV f.) zu schreiben. Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht war als Teil dieses nicht geschriebenen Werkes gedacht. Rühs’ Argumentation basiert, wie die seiner Vorgänger auch, auf einem Selbstbild, das erstens christlich und zweitens national ist. Das »deutsche Volk« (Rühs 1816a: 1) sei ein christliches Volk, das in einem »christlichen Staat« (Rühs 1816a: 61; 1816b: 10 u.ö.) lebe. Dieser Staat sei keine »Maschine oder ein Uhrwerk« (Rühs 1816a: 4), sondern Ausdruck des organischen Ganzen des Volkes.82 Wer zum Volk gehöre, müsse den Glauben seiner »Volksgenossen« teilen, aber darüber hinaus noch mit ihnen durch Gesinnung, Sprache und die Bejahung der Einheit durch Verfassungstreue »zusammengewachsen« sein. Ein Volk sei erstens eine Abstammungsgemeinschaft (welche »ein Achtel oder Viertel Procent fremde Mischung« [Rühs 2004: 180] vertragen könne),83 zweitens eine Kulturgemeinschaft, ausgezeichnet durch »körperliche Eigenschaften, Gestalt, Bildung, die Bedeutung der Schriften affirmativ hin: Die »judenfeindliche Bewegung« sei »besonders bei Friedrich Rühs und J.F.Fries zum politischen Antisemitismus« (Eichstädt 1942: 408) vorgedrungen. 82 Vgl. dazu auch Sterling 1969: 121-123. Ich gehe auf die Unterscheidung Maschine/Organ hier nicht weiter ein. Sie zieht sich in unterschiedlichen Variationen (belebt/unbelebt, gemacht/geworden usw.) durch das nationalistische Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. 83 Weiss (1997: 109f.) ist der Auffassung, dass Rühs die Juden »für rassisch minderwertig« (109) hält. Zwar kann sich Weiss darauf stützen, dass der Terminus »Rasse« von Rühs, wenn auch selten, verwendet wird, aber er wird von Rühs nicht in einem rassistischen Sinn verwendet, sondern im Sinne der Zugehörigkeitsregel des ethnischen Nationalismus (Abstammung).

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Kräfte« (Rühs 2004: 180), die »Entwickelung der bürgerlichen Verfassung und der Gesetzgebung aus gemeinsamen Elementen« (Rühs 2004: 180), gemeinsame geschichtliche Erfahrung, eine gemeinsame Sprache und durch »Lebensart, Sitten, Nahrungsmittel« (Rühs 2004: 182). Historisch stehen die beiden Zugehörigkeiten zu »Volk«, Glaubensgemeinschaft und Volksgemeinschaft,84 wie in allen nationalen Ursprungsmythen in einer eindeutigen Beziehung: Die Zugehörigkeit zu »Volk« geht der religiösen Zugehörigkeit vorher. »Die christlichen Deutschen waren schon Deutsche, ehe sie Christen waren« (Rühs 2004: 180).85 Juden werden – ich habe die entsprechenden Passagen weiter oben zitiert  – allen als Gemeinschaften verstandenen »Völkern« als ein »Volk« gegenübergestellt, das Gesellschaft personifiziert. Den feindlichen Gegensatz entwickelt Rühs als historischen fortwährenden Kampf der »Völker« gegen »Juden«. Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen86 schließen  – meines Wissens erstmalig im modernen 84 In Die Rechte des Christenthums und des deutschen Volks, vertheidigt gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter drückt Rühs dies so aus: Er habe mit der ersten Schrift gegen die »unüberlegte Gleichstellung der Juden mit Christen und Deutschen« (Rühs 2004 b: 155) geschrieben. 85 Nach Rühs formt nicht das Christentum »die Deutschen«, sondern »die Deutschen« formen das Christentum. Ich nenne nur ein Beispiel aus dem späten 19. Jahrhundert: Naudh bestimmt Religion nicht als eigenständige Handlungssphäre neben der Politik, sondern funktional für diese als Mittel zur Unterstützung des »sittlichen Gefühls« des Volkes (vgl. Naudh 1879: 30). Die Staatsreligion muss folglich »national« (Naudh 1879: 30) sein, deshalb spricht er von der christlichen Religion »in deutscher Auffassung und Entwicklung« (Naudh 1879: 19) und unterscheidet diese von der Herrschaft der »römischen Kirche«, deren »Würdenträger« in Fürstentümern des »deutschen Reichs« mit für dessen »staatlichen Verfall« (Naudh 1879: 30) verantwortlich seien. 86 In seinen Forderungen ist Rühs in der Wortwahl härter als viele der bisher erörterten Autoren, in der Sache vergleichbar. Juden seien aus dem deutschen Volk »auszuscheiden«: »Jedes Volk, daß sich in seiner Eigenthümlichkeit und Würde zu behaupten und entwickeln wünscht, muß alle fremdartigen Theile, die es nicht innig und ganz in sich aufnehmen kann, zu entfernen und auszuscheiden suchen, dies ist der Fall mit den Juden« (Rühs 1816a: 32). 1816a: 38 wünscht Rühs Juden »ihre Verminderung und Ausrottung«. Gefordert wird, erstens den prozentualen Anteil der jüdischen Bevölkerung an der deutschen festzulegen, zweitens die Einwanderung von Juden zu verhindern und drittens den Übertritt »zum Christenthum als der ersten und unumgänglichen Bedingung, wodurch sie zu Deutschen werden können« (Rühs 1816a: 32), nach Kräften zu fördern. Solange dies nicht der Fall sei, sollten weitere Niederlassung verhindert (Rühs 1816a: 35) und Juden Sondergesetzen unterworfen werden (vgl. Rühs 1816a: 33).

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Antisemitismus  – eine Kennzeichnungspflicht (Rühs 1816a: 32) ein, die auf den fortschreitenden Prozess der Verbürgerlichung von Nichtjuden und Juden reagiert (auf diesen Punkt gehe ich im nächsten Kapitel ein).87 Sowohl dem Christentum wie dem Volk kann man nach Rühs zugehörig werden. Bedingung sind Taufe, Assimilation (vgl. Altgeld 1992: 61f.)88 und die ganze Hingabe an das Ethos, im Ergebnis steht nach einigen Generationen die »Verschmelzung«, d.h. die ethnische »Vermischung«. Der wichtigste Schritt ist die Taufe. Demjenigen, der sich »aufrichtig« zum Christentum bekenne, werde »irgend ein bürgerlicher Vorzug« (Rühs 1816a: 2) nicht verweigert. Einen Antisemitismus, der das eigene »Volk« als ethnische Gemeinschaft und das Ethos dieses Volkes über Gemeinschaftsverpflichtung sowie das Bekenntnis zu einer christlichen Konfession bestimmt und entsprechend Bekenntnis, Assimilation und Hingabe als Voraussetzung der Verleihung von Bürgerrechten fordert, bezeichne ich als christlichnationalen Antisemitismus. Dies ist der Standard im modernen Antisemitismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Neben diesem christlich-nationalen Antisemitismus bildet sich im frühen 19.  Jahrhundert  – meines Wissens zuerst bei Fries  – ein Antisemitismus heraus, der auf das Bekenntnis zu einer christlichen Konfession im Selbstbild verzichtet, den Staat nicht mehr als »christlichen Staat«, sondern als Staat des »Volkes« begreift und für den daher die Taufe als Kriterium von Zugehörigkeit keine Rolle mehr spielt. Dieser Antisemitismus ist nicht mehr christlich-national, sondern national. Ich stelle diesen Typus hier am Beispiel von Fries kurz vor, das historische Verhältnis der Typen zueinander diskutiere ich in Kapitel 6. Jakob Friedrich Fries’ Schrift Ueber die Gefährdung des Wohlstands und Charakters der Deutschen durch die Juden, kurz nach Rühs’ Schrift publiziert, schließt die eigene Position zur »Judenfrage« an ein zustimmendes Referat der zentralen Gedanken dieser Schrift an. Im Unterschied zu Rühs, der gegen das ›mechanistische‹ Staatsverständnis Dohms und dessen Annahme schreibt, die christ87 Diese Forderung findet sich schon bei Grattenauer (1803a: 14), aber als hypothetische Forderung für den Fall, dass »der Jude sich jemals ganz unkenntlich machen könnte«. 88 Auf S. 50 erklärt Altgeld die Taufe zu einer »hinreichenden Bedingung bürgerlicher Gleichberechtigung«. Sie ist eine notwendige Bedingung, hinzu kommen ganze Hingabe und Assimilation.

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lichen Staaten seien für die Unterdrückung der Juden im Mittelalter verantwortlich, argumentiert Fries gegen eine andere Prämisse der Schrift Dohms, die Begründung der Gleichheit von Juden und Christen als Bürger durch eine ihnen gemeinsame Menschlichkeit. In dieser anderen Akzentuierung kommt ein anderes Selbstbild zum Ausdruck, das die Grundgesamtheit des eigenen Personenverbandes nicht mehr über Religionszugehörigkeit bestimmt. Fries, ein aufgeklärter Liberaler, geht davon aus, dass jeder, welchen Ursprungs er auch sei, in »jedem gebildeten Staate« (Fries 2004: 137) Bürgerrechte erwerben könne, wenn er auch die Pflichten eines Bürgers übernehme und er sich, wenn er einer deutschen Regierung unterstehe, als Teil »unserer Deutschen Volksgemeinschaft« (Fries 1816: 4) begreife. Dies sei bei »den Juden«, die seit »Jahrtausenden zwischen allen andern Völkern der Erde [leben, J.W.], die nur so weit cultivirt sind, daß man durch Schacher bey ihnen reich werden kann« (Fries 2004: 137f.), nicht der Fall.89 Der Gegensatz selbst wird wie bei Rühs und allen anderen bisher und im Folgenden erörterten Antisemiten nach dem in Kapitel 4.2 vorgestellten Muster (»Völker«=Personalisierung von Gemeinschaften, »Juden«=Personalisierung von Gesellschaft) konstruiert: Als »Religionsparthey« erhöben die Juden den Anspruch, den anderen Religionen im Staat gleichgestellt zu werden. Die jüdische Religion sei aber nicht zu dulden, weil die »Religion eigentlich nur eine Zugabe zu einer eignen, sich selbst regierenden Staatsgesellschaft ist, deren Zwecke unter die aller schädlichsten gehören« (Fries 2004: 140). Die »Kaste der Juden« sei unter allen »politischen Gesellschaften und Staaten im Staat« die gefährlichste, weil hier nicht Einzelne als Individuen handelten, sondern als Teil einer »geschlossenen Gesellschaft« (Fries 2004: 145). Daher müsse sie »mit Stumpf und Stiel ausgerottet« (Fries 2004: 144) werden. Die entscheidende Differenz zu Rühs bezieht sich nicht auf die Konstruktionsregel der Zuschreibungen, sondern auf die Konstruktion von Zugehörigkeit. Sie wird von Fries selbst artikuliert. Zwei Hauptansichten stünden nebeneinander:

89 Der liberale Fries erklärt explizit, dass es sich hier um askriptive Merkmale handele und daher in diesem Punkt »am günstigsten für sie« zu entscheiden sei: »Kein gerechtigkeitsliebender Mann wird bey dem ehemaligen Satze, daß die schwarze Farbe Sklavenfarbe sey, oder bey irgend einem ähnlichen stehen bleiben wollen« (Fries 2004: 137).

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»Nach der einen sieht man das Deutsche Volk als ein christliches an, macht Christentum zur Staatsreligion, und sagt dann mit Rühs: die Juden können zu Deutschland in keiner andern Beziehung gedacht werden, als in der eines geduldeten Volks« (Fries 2004: 149). Nach der anderen Auffassung sei keine Religion Staatsreligion. Vielmehr gelte für Religionen im Staat, dass eine jede zu dulden sei, »die nur mit dem Rechtszweck des bürgerlichen Vereins – und, setzen wir noch hinzu, mit der sittlichen Ausbildung des Volkes verträglich ist« (Fries 2004: 138). Aus dieser Differenz ergeben sich handfeste Konsequenzen für die Frage, wie mit den Juden umzugehen sei. Während der christlich-nationale Antisemitismus von Rühs auf Duldung ohne Gleichstellung hinausläuft, also im Grunde auf die Wiederherstellung des vormodernen Rechtszustands, und als politisches Programm die Christianisierung der Juden als ersten und unabdingbaren Schritt ihrer Assimilation anempfiehlt, setzt nach Fries Duldung die Kompatibilität des den Juden zugeschriebenen Anti-Ethos mit Recht und Volkssitte der eigenen Wir-Gruppe voraus. Da das »Juden« zugesprochene Anti-Ethos mit dem Ethos von »Völkern« nicht kompatibel sein kann, wird das Relikt der christlichen Tradition, die Duldung der Juden als religiöser Gemeinschaft, aufgegeben. Juden müssen weg. Rühs »wünscht« Juden die Ausrottung, Fries fordert ihr Verschwinden. Niemand soll »an Schutz und Frieden unserer Staaten Antheil behalten […], der nicht geeignet ist, volles Bürgerrecht zu empfangen (Fries 2004: 150).

5 Die »Sattelung« antisemitischen Wissens In diesem Kapitel erörtere ich die »Sattelung«, die Entwicklung und Veränderung des antisemitischen Wissens im ausgehenden 19. Jahrhundert1 und seine Festigung zur Wissensformation des modernen Antisemitismus. In diesem Prozess werden einerseits typische Muster des Verstehens und Auslegens von Welt durch wiederholte Anwendung in der Zeit selbstverständlich, weil sie sich auf stabile Elemente der Gesellschaftsstruktur beziehen  – im Resultat der »Sattelung« steht eine, mit Luhmann gesprochen, »gepflegte Semantik«. Zwar verändert sich die im letzten Kapitel entwickelte Grundstruktur dieser Semantik weder im Hinblick auf die Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit noch im Hinblick auf das Grundmuster der Zuschreibungen, der Personalisierung von Gemeinschaft in »unserem Volk« und allen anderen »Völkern« und Gesellschaft in diesen feindlich gesinnten »Juden«. Jedoch werden in das Grundmuster neue Zuschreibungen integriert, die sich aus dem Prozess der Modernisierung im 19. Jahrhundert erklären. Erstens setzt das antisemitische Wissen am Anfang des 19.  Jahrhunderts an der Sichtbarkeit der Differenz der Lebensweisen von Juden und Nichtjuden an. Juden, so heißt es bei Michaelis und bis weit in das 19.  Jahrhundert hinein, wollten nicht »mit uns essen und trinken«, sondern nach eigenen, am Ende religiös begründeten Regeln leben. Dies ist der Antisemitismus einer Zeit, in der die Lebenswelten von Juden und Nichtjuden weit überwiegend getrennt und die unterschiedlichen Lebensweisen der alltäglichen Erfahrung zugänglich sind. Im Prozess der Verbürgerlichung von Christen und Juden gleichen sich die Lebensweisen in einigen Milieus an. Im ausgehenden 19.  Jahrhundert richtet sich der Antisemitismus gegen assimilierte, »moderne«, unsichtbare Juden, gegen eine »irreligiöse Macht« (Stoecker). Mit dieser Veränderung, welche die tatsächliche Integration vieler Juden in die bürgerliche Gesellschaft im Verlauf des 19.  Jahrhunderts reflektiert, sattelt sich die Wissensformation des modernen Antisemitismus, indem sie sich von ihrer ursprünglich religiösen Bindung befreit und den Gegen1 Zum Antisemitismus im Kaiserreich gibt es eine Vielzahl von Überblicksdarstellungen und Darstellungen seiner Entwicklung, vgl. exemplarisch: knapp Bergmann 2006: 40-51; Jochmann 1988: 99-171; Katz 1989: 236-306; Greive 1983: 47-103; Bergmann/Wyrwa 2011: 32-60; Berding 1988: 86-164; Massing 1959.

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satz innerweltlich als historischen Gegensatz von Völkern versteht (5.1). Zweitens hat die Gleichzeitigkeit von ökonomischer und politischer Transformation  – Hans-Ulrich Wehler hat dies mit dem einprägsamen Begriff der »deutschen Doppelrevolution« charakterisiert  – einen massiven Aufschwung des Antisemitismus im Kaiserreich zur Folge. Juden werden für Konflikte im deutschen Nationalstaat verantwortlich gemacht und als Bedrohung des »neuen Deutschland« (Treitschke 2003a: 15f.) aufgefasst (5.2). Drittens beginnen Antisemiten, sich politisch zu organisieren. War die Produktion antisemitischer Texte und Reden im frühen 19. Jahrhundert die Angelegenheit einer beruflich gut etablierten intellektuellen Elite, die zwar gelegentlich – wie z.B. Grattenauer – zu harschen Worten griff, um die Verkaufszahlen ihrer Publikationen in die Höhe zu treiben, aber davon nicht ökonomisch abhängig war, so entwickelt sich im ausgehenden 19. Jahrhundert der Antisemitismus zu einer Art Berufszweig, der auch zur Sicherung der ökonomischen Existenz von Journalisten wie Marr, in ihren Erstberufen gescheiterten Existenzen wie Ahlwardt oder Verlegern wie Fritsch beiträgt.2 Gerade die Organisation der Antisemiten in Parteien und Verbänden hat in der Antisemitismusforschung zu Recht viel Aufmerksamkeit gefunden, weil sich auf dieser Ebene rückblickend einigermaßen klare Linien der institutionellen und personellen Entwicklung vom Deutschen Reich über die Weimarer Republik bis zum Nationalsozialismus zeichnen lassen.3 Ich untersuche in diesem Unterkapitel nicht die institutionellen Formen der politischen Organisation des Antisemitismus. Mir geht es vielmehr um Veränderungen auf der Ebene des Wissens, 2 Ich habe es zugespitzt formuliert, um die Differenz zu verdeutlichen. Tatsächlich gilt die Aussage nur für einen Teil der Antisemiten. Massing (1959: 110) weist darauf hin, dass viele Antisemiten keinen ökonomischen Gewinn aus ihrem Antisemitismus zogen und einige (z.B. Bernhard Förster oder Henrici) wegen ihres Antisemitismus aus dem Schuldienst entlassen wurden. 3 Das heißt nicht, aber das dürfte inzwischen auch weitgehend Konsens sein, dass sich die Entwicklung des Antisemitismus im Nationalsozialismus teleologisch aus ihren Voraussetzungen erklären lässt. Vgl. exemplarisch Berding 1996: 192 oder Volkov 1990: 54ff., die beide – überzeugend – gegen die Kontinuitätsthese argumentieren. Vgl. dazu aber auch Volkov 1996: 210ff. Volkov weist in diesem Aufsatz auf eine zentrale Kontinuitätslinie zwischen Nationalismus und Antisemitismus hin und zeigt, dass gerade diese Kontinuitätslinie in der geschichtswissenschaftlichen Forschung »oft […] vergessen« (Volkov 1996: 213) wird. Die Literatur zur Frage der Kontinuität ist umfangreich, einen guten Einstieg und Überblick in Benz/Bergmann 1997.

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die Ausdruck und Folge einer grundlegenden Transformation des Politischen sind, in der sich Untertanen in citoyen verwandeln und Teil politischer Selbstorganisation und -bestimmung von Staatsbürgern werden. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und dem damit verbundenen Wandel der Honoratiorenparteien in moderne Massenorganisationen verändern sich Funktion und Bedeutung der politischen Öffentlichkeit und der Presse. Dieser Wandel bildet die Voraussetzung des für den modernen Antisemitismus zentralen Stereotyps einer Kontrolle der öffentlichen Meinung durch Juden – eine Zuschreibung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in keinem antisemitischen Text fehlt, im frühen 19. Jahrhundert dagegen keine herausgehobene Rolle spielt (5.3). Viertens richtet sich der Antisemitismus im frühen 19.  Jahrhundert gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden, nach vollzogener Emanzipation zielt er auf die Ungleichstellung der Juden, der Antisemitismus wird »postemanzipatorisch«. Dadurch verändert sich die Zeitdimension des Bedrohungsszenarios. Im frühen 19. Jahrhundert lag das Schreckensszenario vom Untergang des eigenen Kollektivs in der Zukunft, es handelte sich um eine Projektion, die auf der spekulativen Annahme einer zukünftigen rechtlichen Gleichstellung der Juden basierte. Nach der Emanzipation rückt das Untergangsszenario in die Gegenwart (5.4). Fünftens artikuliert sich der Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert als Weltanschauung, als eine die soziale Welt in ihrer Gesamtheit und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Deutung. Zwar umfasste auch das antisemitische Wissen im frühen 19. Jahrhundert in der Opposition von »Völkern« und »Juden« bzw. von »Menschen« und »Juden« die Menschheit insgesamt (vgl. hier, Kapitel 4). Dass aber Juden z.B. nicht zur Literatur fähig seien, spielt im antisemitischen Wissen des frühen 19.  Jahrhunderts keine Rolle. Das ist erst der Fall, wenn Juden in der Öffentlichkeit als Literaten bzw. Journalisten wahrgenommen werden. Man kann dann z.B. über Börne sagen, er spreche in einem »eigenthümlich schamlosen Ton […,] als gehöre man selber gar nicht mit dazu«, über »das Vaterland« (Treitschke 2003a: 13). Mit der zunehmenden Vergesellschaftung von Handlungsfeldern wird der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft sozial umfassend als feindlicher Gegensatz eines eigenen »Volkes« und »Juden« in allen Handlungsbereichen thematisiert (5.5). Sechstens werden rassistische Deutungsmuster in die Wissensformation des modernen Antisemitismus integriert. Die Aufnahme

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rassistischer Deutungsmuster führt nicht, wie in der Antisemitismusforschung häufig angenommen, zu einer neuen Form antisemitischen Wissens, die sich in ihrer Grundstruktur von der im letzten Kapitel entwickelten unterscheidet. Vielmehr handelt es sich um eine Variation dieser Grundstruktur: Zugehörigkeit wird in der gleichen Weise festgelegt wie bisher auch, nämlich durch Abstammung (eben deswegen ist schon im Antisemitismus des späten 18.  Jahrhunderts von einer jüdischen »Race« die Rede). Auch am Grundmuster der Zuschreibungen ändert sich nichts. Wohl aber verändert sich die historische Deutung des Gegensatzes, der nun in eine Weltgeschichte der Entwicklung von »Rassen« und »Völkern« eingebaut und vor dem Hintergrund einer Züchtungsidee verstanden wird. Die Verweltlichung von Geschichte zur Geschichte von »Völkern« wird modernisiert und unter eine Perfektionsidee gebracht, in der die »Reinzüchtung« »herausragender Eigenschaften« durch politische Maßnahmen realisiert werden kann. Rassismus in diesem Sinne ist wesentlich eine Anwendung der modernen Vorstellung fortschreitender Verbesserung auf ein Ethnos – mit in der Praxis oft tödlichen Folgen für Träger »minderwertigen« Erbguts (Homosexuelle, Kriminelle, »Geisteskranke«, Menschen mit körperlicher Behinderung) in allen industrialisierten westlichen Staaten und tödlichen Folgen für Juden im Nationalsozialismus (5.6). Ab diesem Zeitpunkt kann das moderne antisemitische Wissen als »gesattelt« gelten,4 weil alle zentralen Elemente der Wissensformation jedenfalls für eine intellektuelle Elite, aus der sich auch Ende des 19. Jahrhunderts die weit überwiegende Mehrzahl der Protagonisten des Antisemitismus rekrutiert, diskursiv verfügbar sind und genutzt werden und seine gesellschaftlichen Bezugspunkte, die moderne Staatlichkeit und ihr demokratischer Kern, die Souveränität des Volkes, die kapitalistische Ökonomie, der Individualismus als in der Rechtsordnung verankertes Prinzip der Lebensführung, verfestigt sind.

4 Berding 1996: 198ff. nennt nicht sechs, sondern drei zentrale Veränderungen zwischen dem Antisemitismus des frühen und des späten 19. Jahrhunderts: Politische, d.h. die parteipolitische Organisation der Antisemiten, gesellschaftliche, d.h. das Eindringen des Antisemitismus in Verbände, insbesondere Berufsverbände und Vereine, und ideologische, d.h. die Entstehung des rassistischen Antisemitismus.

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DIE »SATTELUNG« ANTISEMITISCHEN WISSENS

5.1 Verbürgerlichung der Lebenswelt Trotz der Hep-Hep-Unruhen 1819, der antisemitischen Ausschreitungen im Zuge der 1848er Revolution und einigen kleineren Unruhen waren die Jahre zwischen 1800 und 1870 eine  – im historischen Vergleich  – »ruhige Zeit«, das 19.  Jahrhundert insgesamt das Jahrhundert der Integration und Emanzipation der Juden. Dies gilt insbesondere für die Jahre zwischen 1849 und 1869, der »ruhigsten Phase der deutsch-jüdischen Integration« (Katz 1985: 40; Biefang 1999: 49f.).5 Die rechtliche Gleichstellung der Juden wurde im späteren Gebiet des Deutschen Reiches nach den breiten öffentlichen Auseinandersetzungen vor 1848 »fast unbemerkt« (Katz 1989: 207) vollzogen.6 Sie war in Baden 1862, in Württemberg 1864, in Bayern 1861, in Norddeutschland 1869 (vgl. Rürup 1975: 29; Gosewinkel 2001: 144),7 im Reichsgebiet mit der Inkraftsetzung der Verfassung am 16. April 1871 abgeschlossen. Im Unterschied zu der bis zur Emanzipation in der Richtung eindeutigen, im Detail aber uneinheitlichen rechtlichen Entwicklung8 veränderte sich die ökonomische Lage der Juden nicht nur in Preu5 Wolbe überschreibt diese Zeit in seiner Geschichte der Juden in Berlin mit »Glückliche Jahre« (Wolbe 1937: 277-283). Die antisemitische Agitation ging deutlich zurück, eine »quantitative Zunahme antisemitischer Schriften« ist erst nach 1870 zu beobachten (Albrecht 2010: 536). Höhepunkte gewalttätiger Übergriffe gegen Juden im 19. Jahrhundert waren 1819 und die Revolutionsjahre um 1848 (vgl. dazu die Arbeiten von Stefan Rohrbacher, insbesondere Rohrbacher 1993 und die knappere Darstellung 1997). Rohrbacher unterscheidet zwischen primär religiös und primär sozialpolitisch motivierten Formen der Gewalt und erklärt die Letzteren nicht ausschließlich, aber vornehmlich aus dem Widerstand gegen die Emanzipation. Zum Einstieg in die Debatte um antisemitische Gewalt im 19. Jahrhundert bietet sich der knappe Überblick mit weiteren Verweisen in Nonn 2008: 71 an. 6 Die kurze Zeit der Gleichberechtigung nach 1848 war mit der Verfassung vom Januar 1850 wieder beendet (vgl. Wyrwa 2003: 355f.). 7 Zur Entwicklung der Emanzipationsgesetzgebung nach 1815 vgl. Rürup 1975; Elbogen/Sterling 1966: 194-200 und 227ff.; ein knapper Überblick in Bergmann 2006: 26ff. 8 In einigen südlichen Staaten bzw. Städten des späteren Deutschen Reichs war die Lage der Juden nach 1815 verbessert worden, so etwa in Frankfurt (vgl. Katz 1989: 146), in Preußen war sie eher verschlechtert worden. Berufe in der preußischen Verwaltung standen Juden ebenso wenig offen wie solche, die einer staatlichen Approbation bedurften. Jüdische Professoren gab es bis 1848 nicht (vg. Brenner 2000a: 279), die Anstellung im Justizwesen war und blieb verschwindend (vgl. die Tabelle in Pulzer 1992: 45).

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ßen, sondern im gesamten Gebiet des späteren Deutschen Reichs mit einheitlicher Tendenz:9 Integration in das bürgerliche Berufsleben, und zwar auch in solche Berufszweige, in denen Juden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich unterrepräsentiert waren, z.B. das Handwerk.10 Dieser Trend galt für alle Staaten des späteren Deutschen Reichs und wurde durch die Gründung einer Vielzahl von Vereinen zur Förderung der handwerklichen Tätigkeit von Juden infolge der auf Erziehung und Assimilation angelegten Politik der Regierungen unterstützt. Da die Binnenmigration vom Land in die Stadt bei Juden ausgeprägter war als bei Nichtjuden, begann diese Entwicklung recht früh, ab etwa der Mitte des Jahrhunderts, zu stagnieren, weil sich die Berufsstruktur in den Städten infolge der Industrialisierung rascher veränderte und die Bedeutung handwerklicher Berufe abnahm.11 Im Geld- und Aktienhandel waren Juden – bezogen auf den Anteil an der Gesamtbevölkerung – deutlich stärker als Nichtjuden vertreten, ein industrielles Bürgertum war insbesondere in der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Nahrungs- und Genussmittelindustrie und der Luxusgüterproduktion entstanden. Die breite Masse der Kleinhändler entwickelte sich zu mittelständischen Kaufleuten mit festen Geschäftsadressen (zu den vorstehenden Angaben zur Berufsstruktur vgl. Jersch-Wenzel 2000b: 66-95; einen knappen Überblick in Berding 1988: 36ff.). Der Unterschied in der Verteilung der ausgeübten Berufe zwischen Juden und Nichtjuden, so lässt sich die Entwicklung im 19. Jahrhundert beschreiben, blieb – anders, als von vielen frühen Verfechtern der Emanzipation angenommen – erhalten, allerdings mit einer leichten Tendenz zur Verringerung (vgl. Ferrari Zumbini 2003: 69; Volkov   9 Dies gilt auch für die politische Beteiligung von Juden (für Ausnahmen vgl. Jersch-Wenzel 2000a: 46f.). In Preußen war diese Beteiligung auf kommunaler Ebene seit 1808 möglich, seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts auch in anderen Staaten des späteren Deutschen Reichs (vgl. Brenner 2000a: 270ff.). In überregionalen Parlamenten waren Juden – nach einem kurzen Zwischenspiel während der 1848er-Revolution – seit den späten 1850er Jahren vertreten (vgl. Brenner 2000b: 316ff.). Einen detaillierten Überblick gibt Pulzer 1992: 69-167. 10 »In Preußen stieg der Prozentanteil ausgebildeter Handwerker von 4,6% (1813, ohne Posen) auf 19,3% (1843), wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß rund die Hälfte davon auf die Provinz Posen entfiel, in der Juden traditionell im Handwerk tätig waren« (Jersch-Wenzel 2000b: 86). 11 Im Deutschen Reich waren in Handwerk und Industrie Ende des Jahrhunderts 20% der jüdischen, aber 35% der nichtjüdischen Werktätigen beschäftigt; der Anteil der Selbstständigen war bei den Juden deutlich höher (vgl. Volkov 2000e: 40).

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2000b: 136).12 Der zentrale Grund dafür liegt in der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Dynamik, welche traditionell etablierte Berufsorientierungen von Juden prämierte. Während die politischen Bestrebungen, Juden zur Ausübung von agrarischen und handwerklichen Berufen zu bewegen, der wirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise gegenläufig waren (und daher scheiterten), lagen traditionell von Juden ausgeübte Berufe im Zentrum der ökonomischen Dynamik. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Nichtjuden »erst allmählich […] den Entwicklungsstand« erreichten, den Juden »eine Generation zuvor erlangt« (Volkov 2000b: 145) hatten, Juden »Vorreiter« (Ferrari Zumbini 2003: 66f., dort auch weitere Verweise) waren bzw. einen »Modernitätsvorsprung« (Nipperdey 1992: 292) hatten. Vor allem zwischen 1848 und 1871 beschleunigte sich der Prozess der ökonomischen Etablierung von Juden im Bürgertum erheblich. Für das Gebiet des späteren Deutschen Reichs kommt Toury (1977b: 114) zu folgenden Zahlen: 1848

1871/74

Bürgerlich gesicherte Existenz (obere und mittlere Steuerstufe)

15%-33%

über 60%

Kleinbürgerliche Existenz (untere Steuerstufe)

25%-40%

15%-35%

Arme

40%-50%

5%-25%

12 Ende des 19. Jahrhunderts (1895) arbeiteten 56% der jüdischen Erwerbstätigen gegenüber 10% der nichtjüdischen Erwerbstätigen im Handel. Diese Differenz war in den Großstädten, in denen ein Viertel der Juden gegenüber 12% der übrigen Bevölkerung lebte (20% aller Juden lebten Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin oder in Frankfurt a.M., in 95% der Orte des Deutschen Reichs lebten zu dieser Zeit gar keine Juden [vgl. Volkov 2000 b: 135]), geringer (in Berlin 42% zu 25%, in Hamburg 55% zu 32%) (vgl. Volkov 2000b: 135f.). Dies gilt auch im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen selbstständigen und unselbstständigen Berufen. In Berlin, wo die Differenz besonders ausgeprägt war, waren 1871 38% der nichtjüdischen, aber 72% der jüdischen Bewohner selbstständig (vgl. Brenner 2000b: 314).

VERBÜRGERLICHUNG DER LEBENSWELT

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Diese ungewöhnliche Schichtung, die sich aus der besonderen Berufsstruktur erklärt, führte dazu, dass Juden in der städtischen Mittelschicht – wieder im Vergleich zur nichtjüdischen Bevölkerung – überrepräsentiert waren. Hier liegt ein sachlicher Ausgangspunkt von Antisemitismustheorien, die ihn aus »realen« Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden erklären (vgl. dazu Kapitel 2). Mit der ökonomischen Verbürgerlichung ging eine kulturelle Verbürgerlichung einher. Dieser Prozess der Enttraditionalisierung der Lebensweise durch Entwicklung eines bürgerlichen Lebensstils, an dem im ausgehenden 18. Jahrhundert nur eine kleine städtische Oberschicht teilhatte (vgl. Kapitel 3.1), vollzog sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts langsam, mit erheblichen regionalen Unterschieden sowie insbesondere Unterschieden zwischen Stadt und Land (vgl. Richarz 1976: 50; Brenner 2000a: 276; zur Mobilität nach 1871 Richarz 2000a: 28ff.)13 und zwischen unterschiedlichen Milieus. »Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten die an der Tradition orientierten Juden in Deutschland die Überzahl« (Meyer 2000a: 96). Reformjudentum und säkulare Lebensweisen waren nach wie vor die Angelegenheit einer  – wachsenden  – gebildeten städtischen Elite, die den Habitus des gebildeten Bürgertums verinnerlicht hatte (vgl. Katz 1989: 152).14 Entsprechend nahmen kulturelle Konflikte und insbesondere religiöse Konflikte zwischen Reformorientierten und Traditionalisten (die eine Folge der Verbürgerlichung der Lebensweise waren und daher auch schon Anfang des 19.  Jahrhunderts bestanden, vgl. Kapitel 3) in den jüdischen Gemeinden zum Teil massiv zu (vgl. dazu Meyer 2000b: 159-176).15 13 Pulzer (1992: 7) bringt dies auf die prägnante Formel: »The bigger the city, the faster the rate of secularization.« 14 Weder über diesen Habitus noch über die Sprachkompetenz verfügten sich akkulturierende Juden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert – aus naheliegenden Gründen: Sie waren in aller Regel in einem westjiddisch sprechenden Elternhaus groß geworden, die Akkulturation war normalerweise eine von schon Erwachsenen. Dies wird in einer Vielzahl zeitgenössischer, oft antisemitischer Possen deutlich, die sich mit Sprache und Umgangsformen von Juden in einem christlichen Umfeld auseinandersetzen. Vgl. dazu Meyer 2000d: 212-217. 15 Der rasche Fortschritt der Assimilation und die Folgen der Verbürgerlichung führten im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur zu Debatten um die Frage, wie das Judentum zu bestimmen, d.h. zu unterscheiden sei (vgl. dazu Brenner 2001). Einige Autoren sahen es in seiner Existenz bedroht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts publizierte Felix Theilhaber eine Studie, die den »Untergang der Juden« (Theilhaber 1911: 156) fürchtet, insbesondere infolge von Assimi-

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Mitte des 19.  Jahrhunderts beschleunigte sich der kulturelle Verbürgerlichungsprozess. Motor dieser Beschleunigung war die zunehmende Integration in das schulische und universitäre Bildungssystem (vgl. Meyer 2000a: 118; Lässig 2004: 115ff.). Diese ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil mit dem höheren Schulbesuch nicht nur Bildung, sondern ein spezifischer bildungsbürgerlicher Habitus erworben und verinnerlicht wird. Die Zahl der Ehen zwischen Juden und Nichtjuden stieg im ersten Drittel des 20.  Jahrhunderts ganz erheblich.16 Das setzt voraus, dass Juden und Nichtjuden über einen breiten Raum sozialer Kontakte verfügen,17 die Maximen der Lebensführung ähnlich (nämlich bürgerlich) sind und sowohl bei Juden wie bei Nichtjuden ein – quantitativ erhebliches – Milieu existiert, in dem solche Ehen als legitim gelten. Aufstiegswille und Aufstiegsbereitschaft waren bei großen Teilen der jüdischen Bevölkerung erheblich. Als zentrales Mittel sozialen Aufstiegs in modernen Gesellschaften galt und gilt durch Abschlüsse zertifizierte Bildung, durch die der Zugang zu Berufsklassen geregelt wird. In den 60er Jahren des 19.  Jahrhunderts besuchte jeder vierte jüdische Elementarschüler eine höhere Schule  – bei den Protestanten waren es jeder Zwanzigste, bei den Katholiken jeder Achtunddreißigste. In Berlin besuchten zu dieser Zeit 58% der männlichen und 66% der weiblichen jüdischen Heranwachsenden eine höhere Schule18 – bei den christlichen Konfessionen waren es 27% der jungen Männer und 16% der jungen Frauen (Toury 1977b: 173f.); Ende des 19.  Jahrhunderts waren 25% der Gymnasialschüler und 33% der Schülerinnen jüdisch, der Anteil der Juden an der Berliner Belation, zunehmenden Ehen zwischen Nichtjuden und Juden und Geburtenrückgang (der in der jüdischen Bevölkerung stärker ausgeprägt war und früher einsetzte als in der nichtjüdischen Bevölkerung). 16 Ehen zwischen Partnern unterschiedlicher Religionen werden in Deutschen Reich erst mit der Einführung der Zivilehe 1875 möglich. Die Zahl der sogenannten »Mischehen« nahm seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deutlich zu (1875-79: 4% der preuß. Juden, 1896-1900 knapp 9%, 1916-1920 knapp 21%, 1930-33 24%, vgl. Pulzer 1992: 7; Richarz 2000a: 19). 17 Dies gilt auch für das Vereinsleben. Juden war die Mitgliedschaft in Vereinen, auch in Freimaurerlogen, mit wenigen Ausnahmen und mit Ausnahme der kurzen Zeit der Berliner Salons im ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts kaum möglich (vgl. Volkov 2000a: 126f.). Dies änderte sich anschließend  – wenn auch langsam. Vergleichbares ist auch in den Turnvereinen und Burschenschaften der Fall (vgl. Brenner 2000a: 280). 18 Die Hälfte dieser Kinder besuchte in den 60er Jahren jüdische Schulen (vgl. Volkov 1994: 46).

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völkerung lag bei 4,3% (vgl. Volkov 2000: 142f.).19 Ähnlich verhielt es sich  – schon in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts  – bei den Studenten (vgl. Brenner 2000a: 278).20 Die Tendenz sowohl des ökonomischen wie des kulturellen Prozesses der Verbürgerlichung war eindeutig und lässt sich auf einen knappen Nenner bringen: Integration und sozialer Aufstieg in der bürgerlichen Gesellschaft durch Assimilation an eine bürgerliche Lebensweise. In diesem Sinne ist das 19.  Jahrhundert als »Erfolgsgeschichte« (exemplarisch für viele: Jensen 2005: 145; detailliert am Beispiel der Wissenschaft: Volkov 2000d: 155-161) bezeichnet worden. Lebensweltlich gilt dies indes nicht in gleichem Maße.21 Im 19 Vgl. insgesamt zur sozialen und kulturellen Entwicklung der Juden zwischen 1780 und 1871 auf dem Gebiet des Deutschen Reichs die Übersicht in Richarz 1976: 19-69. 20 Bei diesen Zahlen ist zu bedenken, dass Gymnasien und Universitäten im Kaiserreich und insbesondere in Preußen eine Domäne des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums waren und weitgehend der Elitenreproduktion dienten. Insgesamt studierte etwa 1% eines Jahrgangs. Schäfer (2001: 87) spitzt dies zu der Aussage zu, dass »die gesellschaftlichen Eliten mithilfe des Bildungssystems im Einklang mit dem preußischen Staat einen ›Klassenkampf von oben‹ [führten], indem sie den Zugang von Aufsteigern zwar nicht völlig verhinderten, aber doch stark begrenzten«. Etwas differenzierter für die Zeit nach 1850 Wehler 2003c: 410ff., der das Bildungssystem bis 1850 zwar insgesamt als Instrument der Selbstrekrutierung einer Elite betrachtet, aber eine zunehmende Durchlässigkeit nach unten (in das Kleinbürgertum) beobachtet, die sich im Kaiserreich fortsetzt. Die Dominanz bildungsbürgerlicher Elternhäuser unter den Studierenden schwächt sich in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ab, d.h. der Anteil Studierender aus wirtschaftsbürgerlichen und kleinbürgerlichen Elternhäusern steigt absolut und relativ. 21 Während für viele Juden Assimilation eine Hierarchisierung der Gruppenzugehörigkeit bedeutete, meinten viele Nichtjuden damit deren Aufgabe: »The spokesmen of the Jewish communities interpreted integration as a process that would enable them to retain some kind of separate identity as Jews without jeopardizing their full membership in the German nation. The Christians, however, understood Jewish integration as a process that would deprive Jewish identity, except for the Orthodox element, of all meaning or justification« (Tal 1971a: 63). Assimilierte Juden begreifen sich als Deutsche, Deutsche diese aber nicht als Deutsche. Vgl. für ein Beispiel unter vielen die assimilationskritische Schrift von Kohn: »Mit ihrem Bekenntnis zu verschiedenen Nationalitäten hatten die Juden bei einigen Völkern Erfolg, bei den meisten erzielten sie nur eine halbe Einigung: die Juden wollten. Die Anderen wollten aber nicht. So kamen die Juden auf einen köstlichen Gedanken und wurden ›Deutsche für sich‹, ›Slawen für sich‹« (Kohn 1894: 10). Juden traten in die deutsche Gesellschaft ein, »ohne von ihr absorbiert zu werden« (Katz 1982e: 195; Volkov 1994: 17; Brenner 2000b: 315f.). »Akkulturation und Assimilation hatten sich zwar an der Oberfläche durchgesetzt […]. Es muß als Tatsache festgehalten werden, daß

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ausgehenden 19.  Jahrhundert unterschied sich »die jüdische Sozialgruppe […] nicht mehr durch ihr Defizit, sondern vor allem durch ihr Übermaß an Bürgerlichkeit« (Lässig 2004: 668). Es ist nicht so, dass die »stillschweigende« Erwartung (Nipperdey 1992: 294), Juden würden sich infolge der Emanzipation assimilieren, nicht erfüllt worden wäre  – viele Juden haben sich assimiliert, das 19.  Jahrhundert ist das Jahrhundert der Verbürgerlichung der Juden. Aber die Assimilation an eine bürgerliche Lebensweise war den Antisemiten kein Anlass zur Freude, sondern Stachel ihres Hasses. Diese Assimilation an eine moderne Lebensweise war nicht gemeint, wenn Antisemiten »das völlige Aufgehen im fremden Staatskörper« (Böckel 1889: 3) forderten. Mit dem fortschreitenden Prozess der Verbürgerlichung von Christen und Juden verändert sich die Deutung des feindlichen Gegensatzes von »Völkern« und »Juden«: Im frühen 19. Jahrhundert liegt der Fokus der Deutung des Gegensatzes von Gemeinschaft (»Völker«) und Gesellschaft (»Juden«) auf der Differenz der Lebensweisen, auf ihrer Fremdheit. Dies ist der Antisemitismus einer Zeit, in der Juden als ethnische und religiöse Gruppe identifiziert werden, die sichtbar anders leben. Im späten 19.  Jahrhundert betont die weit überwiegende Mehrzahl der Antisemiten, dass ihr Antisemitismus nicht religiöser Natur sei.22 Die den Juden zugeschriebene Bedrohung geht die Mehrheit – wahrscheinlich sogar die große Mehrheit – der Deutschen die Juden, trotz des wachsenden Umfangs ihrer Bildung und ihrer bürgerlichen und kulturellen Leistungen und trotz der endlich gesetzlich festgelegten Gleichberechtigung, nicht als ihresgleichen akzeptierte« (Toury 1977b: 210, vgl. auch Hettling 2010: 177). Assimilierte Juden blieben weitgehend unter sich (vgl. Bauman 1992: 156). Gerade bei kulturell hoch assimilierten Juden finden sich eine Vielzahl von Zeugnissen, in denen ein Befremden über die Trennung der Lebenswelten artikuliert wird (das prominenteste und wohl auch am häufigsten angeführte Beispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Heinrich Heine). 22 Hier nur eine kleine Auswahl entsprechender Passagen: Marr (2009: 7) hält den religiösen Judenhass für »blödsinnig«; gegen »religiöse Verfolgung nehme ich somit die Juden unbedingt in Schutz« (Marr 2009: 8). Ahlwardt (1892a: 3) erklärt, dass »wir« »gegen den Juden, insofern er eine andere Religion hat als wir, […] gar nichts tun« wollen. Nach Böckel (1892: 3) werden Juden »von uns« nicht angegriffen wegen ihrer Religion, sondern »weil sie eine fremde parasitische Rasse sind, weil sie ein Staat im Staate sind, weil sie vor wie nach trotz Emanzipation sich nicht von ihrem Hange zum Schacher emanzipiert und zur Arbeit gegriffen haben«. Fritsch erklärt im Antisemitenkatechismus, dass sich der Antisemitismus gegen eine »Rasse«, »nicht gegen eine Religion« richtet (Fritsch 1887: 5f.); für Dühring (1881: 1) ist die Religion »Nebensache«, vielmehr habe das »niedere Volk« bemerkt, dass der »getaufte Jude, also der evan-

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nicht mehr von einer fremden Gruppe aus, die sich vom Rand der Gesellschaft in diese hineinbewegt, sondern von einer weitgehend verbürgerlichten, von Nichtjuden kaum oder nicht zu unterscheidenden Gruppe (vgl. auch Berding 1988: 141). Im Zentrum dieses Antisemitismus stehen assimilierte Juden. »In der Tat erscheint mir das moderne Judentum als eine große Gefahr für das deutsche Volksleben. Damit meine ich weder die Religion der Altgläubigen noch die Aufklärung der Reformer. […] Fährt das moderne Judentum wie bisher fort, die Kapitalskraft wie die Macht der Presse zum Ruin der Nation zu verwenden, so ist eine Katastrophe zuletzt unausweichlich« (Stoecker 2004a: 12 und 23, Hervorh. J.W.). Stoecker unterscheidet das »moderne Judentum« von den beiden religiösen Formen des traditionellen und des Reformjudentums durch seinen areligiösen Charakter, es sei eine »irreligiöse Macht […], welche überall das Christentum bitter bekämpft, in den Völkern den christlichen Glauben ebenso wie das nationale Gefühl entwurzelt und als Ersatz nichts bietet als die abgöttische Verehrung des Judentums so, wie es ist, das keinen andern Inhalt hat als seine Schwärmerei für sich selbst« (Stoecker 2004a: 18). Das gemeinschaftszerstörende Anti-Ethos »der Juden« wird im ausgehenden 19. Jahrhundert an der Bürgerlichkeit der Juden festgemacht. Deshalb wird es als innerweltliches Anti-Ethos gedeutet (zersetzende Moral, Zerstörung der Gemeinschaftsarbeit des »Volkes«). Die jüdische Religion, die im Antisemitismus des frühen 19.  Jahrhundert noch als konstitutiv für die Gruppe der Juden angesehen wurde, wird im antisemitischen Wissen zu einem Teil einer »jüdischen Volksgeschichte« historisiert, der Assimilierte, Reformer wie Traditionalisten durch Abstammung zugehörig sind. gelische oder katholische Jude«, Jude bleibe. Diese Position ist zwar dominant, aber nicht die einzige, vgl. exemplarisch nur die Rede des Abgeordneten Dräger im Reichstag 1880 (Dräger in o.V. 1880: 60). Die massive Distanzierung der Antisemiten von religiöser Verfolgung hat sicher auch zeitgeschichtliche Gründe: Die Befürworter von Gleichstellung und Emanzipation warfen den Antisemiten typischerweise vor, ihr Antisemitismus sei religiös motiviert.

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5.2 Nationalstaat, innere Einheit und gesellschaftliche Modernisierung Ich habe zu Beginn des letzten Unterkapitels darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Stellung der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Rechtsstatus zwischen 1850 und 1870 auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches an Bedeutung verliert. Betrachtet man die Entwicklung seit 1780 insgesamt, so lässt sich das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungssphären am besten modernisierungstheoretisch als ein Prozess der Integration beider in eine bürgerliche Lebensweise beschreiben. Aus der Perspektive des Jahres 1870 sind Integration und Assimilation nur eine Frage der Zeit. In den Jahren nach 1870 ergibt sich ein anderes Bild: Der Raum, den der Antisemitismus in der politischen Öffentlichkeit einnimmt, dehnt sich aus23 und sein Gewicht in ihr nimmt zu, Vereine schließen – verstärkt nach 1890 – Juden als Mitglieder aus, antisemitische Parteien und Verbände werden gegründet und jene in die Parlamente gewählt, die lebensweltliche Distanz zwischen Juden und Nichtjuden vergrößert sich (mit Ausnahme ausgesprochen kleiner liberaler Milieus, in denen sie sich verkleinert),24 ohne dass sich auf der Ebene systemischer Integration der Prozess der Verbürgerlichung verlangsamt hätte. Reinhard Rürup hat völlig zu Recht auf die Gleichzeitigkeit eines »rasanten sozialen Aufstiegs der Juden« nach 1870 und einer deutliche Zunahme antisemitischer Agitation hingewiesen (Rürup 2004: 134, vgl. auch Bergmann 2006: 40; Jochmann 1988: 27). Eines der auffälligsten Kennzeichen des Aufschwungs des Antisemitismus im Kaiserreich ist, wie Shulamit Volkov scharfsichtig 23 Felden (1963: 38) kommt für die Zeit zwischen 1870 und 1900 auf 1200 Publikationen zur Stellung der Juden. 24 Für das universitäre Milieu hat Norbert Kampe die Entwicklung und Ausbreitung einer antisemitischen Kultur im Kaiserreich detailliert untersucht. Bis zur Jahrhundertwende wurde Antisemitismus in den von ihm untersuchten Studentenorganisationen »zur rigiden sozialen Norm« (Kampe 1988: 13). Die Antisemitenpetition wurde von 19% aller Stundenten unterzeichnet, an einigen norddeutschen Universitäten von 30-50% (Kampe 1988: 23). Kampe erklärt die Zunahme des Antisemitismus an den Universitäten aus der Qualifikationskrise, in die die Studenten nach der massiven Zunahme der Studierendenzahlen geraten seien, also nach dem von mir in Kapitel 2 als »realistisch« bezeichneten Theorietyp.

INNERE EINHEIT UND GESELLSCHAFTLICHE MODERNISIERUNG

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bemerkt hat, dass »weder die Politiker noch die Ideologen der Bewegung irgendwelche konkreten Pläne« (Volkov 1990: 72) hatten. Diese Formulierung mag zugespitzt sein,25 aber sie weist darauf hin, dass die erhobenen Forderungen oft in keinem Verhältnis zu den Vergehen standen, die Juden angelastet wurden.26 Heinrich von Treitschke z.B. behauptet, dass die antisemitische Bewegung »eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt« (Treitschke 2003a: 11) habe, dass »der Jude« »in tausenden deutscher Dörfer sitzt [… und, J.W.] seine Nachbarn wuchernd ausverkauft« (Treitschke 2003a: 13). Aber von »Zurücknahme oder auch nur Schmälerung der vollzogenen Emanzipation kann unter Verständigen gar nicht die Rede sein« (Treitschke 2003a: 14). Vielmehr hätten »wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern«, dass sie »Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen« (Treitschke 2003a: 12). Gegen den Ausverkauf der Deutschen, das Übergewicht in der Presse, den drohenden Niedergang des eigenen »Volkes«, gegen all dies soll »unter Verständigen« ein probates Mittel der Appell an die Einstellung der dafür verantwortlich gemachten Täter sein? Eine derart absurde Forderung spricht nicht für eine ausgebildete politische Urteilskraft, aus dem Mund eines der angesehensten zeitgenössischen Intellektuellen klingt sie aufs Höchste befremdlich. Doch hat sie Treitschke nicht etwa in der politischen Öffentlichkeit desavouiert, vielmehr hat Unsere Aussichten eine Debatte ausgelöst, welche die politische Öffentlichkeit des Deutschen Reichs und insbesondere Berlins über Monate beschäftigte. Auch das Ansehen Treitschkes hat keinen Schaden genommen, bis heute gilt er als Säulenheiliger deutscher Nationalgeschichtsschreibung. Zwar ist bei Treitschke das Missverhältnis von Juden zugeschriebenen Vergehen und dagegen anzuwendenden Mitteln besonders

25 Tatsächlich hatte die Mehrzahl der Antisemiten konkrete politische Forderungen, insbesondere die Vertreter eines national-rassistischen Antisemitismus (vgl. exemplarisch Ahlwardt 1890: 241 oder Dühring 1881: 121ff.). Allerdings gilt auch für diese Forderungen das gleich im Text erläuterte Missverhältnis. 26 Das Missverhältnis zwischen Juden angelasteten Vergehen und dagegen ersonnenen Maßnahmen ist, näher betrachtet, keineswegs nur für das antisemitische Wissen nach 1870 charakteristisch. Auch für antisemitische Texte aus der Zeit nach 1780 gilt in aller Regel, dass die konkreten Maßnahmen kaum geeignet sind, den von den Autoren behaupteten Schaden zu bekämpfen, den Juden dem eigenen Kollektiv zufügen.

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krass,27 aber bei seinen Gesinnungsgenossen, die typischerweise »die Juden« für den drohenden Untergang des deutschen Volkes in deutlich härteren Formulierungen verantwortlich machen, besteht es nicht minder. Max Liebermann von Sonnenberg etwa erklärt seinen Hörern ausführlich, in welcher Weise Juden die »Daseinsfähigkeit unseres Volkes untergraben« (Liebermann von Sonnenberg 1892: 3), und fordert, dass »die vaterlandsliebenden Männer aller Parteien […] sich die Hand reichen [müssen] zum gemeinsamen Kampfe gegen den gemeinsamen Feind«, zu einem »Befreiungskampf« (Liebermann von Sonnenberg 1892: 35). Wer nun erwartet, dass vielleicht nicht an den Saaltüren die Waffen ausgegeben werden, aber doch wenigstens eine Forderung erhoben wird, durch deren Erfüllung Juden an ihrem bedrohlichen Treiben be- oder gehindert werden könnten – immerhin spricht Liebermann von Sonnenberg als Vertreter und Reichstagsabgeordneter der Deutsch-socialen Partei  –, wird enttäuscht: »Das einfachste Mittel, die schweren Gefahren zu besiegen, die uns bedrohen, ist: werden wir wieder ganz deutsch, dann sind wir die Juden los« (Liebermann von Sonnenberg 1892: 37). Juden, so erklärt er an anderer Stelle, konnten uns nur »unterjochen«, »weil wir uns selbst untreu geworden sind« (o.V. 1891: 9). Das Erstaunlichste an der Forderung von Liebermann von Sonnenberg ist, dass sie sich nicht auf Juden, sondern auf »uns« bezieht. Um »die Juden« »los« zu werden, müssen »wir« »wieder ganz deutsch« werden. Liebermann von Sonnenberg fordert, »die Juden« durch Selbstbesinnung auf das Ethos »der Deutschen« zu bekämpfen. Damit steht er nicht allein: »Aufwecken wollen wir Freunde deutscher Bildung und deutscher Erziehung das Volk, daß es zur Besinnung seiner selbst komme« (Förster 1906: 146). Richard Wagner erklärt in Was ist deutsch?: Im »Eindringen« der Juden »in das deutsche Wesen liegt mehr, als es beim ersten Augenblick dünken mag. Nur insoweit wollen wir hier jenes andere Wesen aber in Betrachtung ziehen, als wir in der Zusammenstellung mit 27 Sechzig Jahre später ist dies einer der wenigen Kritikpunkte an einem Autor, der »deutscher gefühlt hat als je ein Geschichtsschreiber zuvor« (Zierke 1939: 32). Zierke lobt in einer huldvollen Biografie Treitschkes Auftreten gegen Juden, ein Auftreten jedoch, das in seiner Zeit »befangen« gewesen sei, da er nicht »die letzte Folgerung [zog], daß das Judentum als solches ein Todfeind deutschen Wesens sei und daher keinen Raum beanspruchen dürfe in Deutschland« (Zierke 1939: 34).

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ihm uns klar darüber werden dürfen, was wir unter dem von ihnen ausgebeuteten ›deutschen‹ Wesen zu verstehen haben« (Wagner 1975: 89). In Das Judentum in der Musik heißt es, dass die Gefahr, die vom Juden ausgehe, von »uns« selbst erzeugt sei und von »uns« überwunden werden müsse (vgl. Wagner 2000: 193). Judenhetze, schreibt Chamberlain 1903, sei »öde«, wichtig sei der »rein innerliche Vorgang einer Ausscheidung alles Semitischen aus unserer eigenen Seele« (Chamberlain 1903: 25, vgl. auch Chamberlain 1899: 18). Auch bei Treitschke ist die antisemitische Bewegung ein Ausdruck der Besinnung der »Nation […] auf sich selber« (Treitschke 2003a: 8). Den Antisemiten, so lässt sich daraus schließen, geht es nicht nur – und in den zitierten Fällen auch nicht vor allem  – um die Abwehr einer Juden zugeschriebenen Bedrohung, sondern um die Herstellung einer innere Einheit des eigenen »Volkes«. Ich interpretiere dies und das damit verbundene Missverhältnis von zugeschriebener Bedrohung und geforderten Maßnahmen als Beleg dafür, dass Aufschwung und Sinn antisemitischer Feindbilder aus dem Selbstbild erklärt werden müssen, welches das antisemitische Feindbild profiliert  – und zwar nach dem im letzten Kapitel entwickelten Schema: Besinnen »wir« uns auf »unser« Ethos, d.h. auf die Verpflichtung zu wechselseitiger Solidarität, wird aus Entzweiung (Kulturkampf, Parteipolitik, Klassenkampf) Einheit. In einer Einheit der Solidargemeinschaft »Volk« gäbe es das Andere dieser Solidargemeinschaft, den »wuchernden« Ausverkauf des »Nachbarn«, den täglichen, in der Presse geführten Kampf von Partikularinteressen, die Zerrissenheit des »Volkes« nicht mehr unter »uns« – »wir sind die Juden los«, d.h. die moderne Gesellschaft los. Gemeinschaft wird zu einer Aufgabe, die Gemeinschaft des »Volkes« zu einem »Projekt« der inneren Reinigung von Gesellschaft. »In dem Maße, in welchen wir Wir werden, werden die Juden aufhören, Juden zu sein« (Lagarde 1937d: 425). Doch ist Anti-Modernität nicht gleichbedeutend mit Konservativismus oder dem Wunsch einer Rückkehr in eine Vormoderne. Der Antisemitismus will nicht hinter die Moderne zurück, sondern die Moderne überwinden. Diese Überlegung liegt zunächst auf einer Linie mit einer verbreiteten Deutung des Aufschwungs des Antisemitismus im Kaiserreich, welche die Eingrenzung von »Volk« und damit die Abgrenzung gegen andere »Völker« – die »Geschichte des deutschen Volkes ist auch eine

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Geschichte seiner Feinde« (Hoffmann 1993: 20)28 – mit der Sozialgeschichte des Kaiserreichs und der Konstruktion »innerer Feinde« (Nipperdey 1992, vgl. schon Bamberger 2003: 224) verbindet.29 Das Selbstbild einer erst herzustellenden Einheit des »Volkes« – die meisten Antisemiten im Kaiserreich entwickeln die Einheit des »Volkes« als eine in Zukunft durch Nationalerziehung und Feindbekämpfung zu verwirklichende  – wird danach gegen den »inneren Feind«, der sie durch Gründerkrise, Liberalismus und »soziale Frage« entzweit, profiliert. Mit der nach drei Kriegen nicht durch eine bürgerliche Revolution, sondern »von oben« vollzogenen Gründung des Deutschen Reiches 1871 war ein deutscher Nationalstaat unter Führung Preußens entstanden. Auch wenn dieser Staat verfassungsrechtlich eher ein Staatenbund unter preußischer Dominanz war (Jansen/Borggräfe 2007: 67; Wehler 2003 c: 356; Nipperdey 1992: 85ff.), so entwickelte er sich doch außen- wie innenpolitisch als moderner Nationalstaat – der Nationalismus organisiert sich: Die deutsche Sprache wurde als offizielle Sprache durchgesetzt und  – nicht amtlich verbindlich  – normiert (1880 erschien Konrad Dudens Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache), Maße und Zahlungsmittel wurden 28 So auch Heinrichs (2000: 694) für den protestantischen Antisemitismus im Kaiserreich: »Alle Judenbilder scheinen für die protestantische bürgerliche Gesellschaft Identitätsfragen auszudrücken, insofern sie sich als Gegenbilder oder Vorbilder zu einer eigenen auf die Juden projizierten Identität deuten lassen«. 29 Die Erklärung des Aufschwungs ist im Detail unterschiedlich, Ferrari Zumbini (2003: 77-150) betont die Folgen der sogenannten Gründerkrise und des Kulturkampfes, für Wehler und andere stehen kapitalistische Krisen im Vordergrund (Wehler 2003c: 925, vgl. auch Rosenberg 1967: 96; Massing 1959: 4; Nipperdey 1992: 294). Katz (1989: 253-267) und Jochmann (1988: 44) heben die Folgen der Wirtschaftskrise und die politische Wende Bismarcks hervor, Bergmann (2006: 40) und Holz (2001: 170) verweisen auf Reichsgründung, wirtschaftliche Krisen und den Niedergang des Liberalismus, andere auf Faktorenbündel (Jochmann 1988: 32-52 und 65f.; Bergmann/Wyrwa 2011: 32f.; Greive 1983: 47-72). Insbesondere bei Kampe wird das Bündel zu einem bunten Strauß an Ursachen: Für die Zunahme des Antisemitismus unter den Studierenden zwischen 1880 und 1900 seien »depressives Wirtschaftsklima und nationale Identifikationskrise, Legitimationskrise des politischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Liberalismus; Infragestellung der von den Liberalen durchgesetzten Judenemanzipation, politische Instrumentalisierungsversuche des aufgekommenen Antisemitismus; Bedrohung der ökonomischen Basis des Bildungsbürgertums […], Verkleinbürgerlichung, Arbeitsmarktkrise; künstliche Verschärfung der Arbeitsmarktlage durch die politische Elite zum Zweck der Abschreckung sozialer Aufsteiger und zur politischen Disziplinierung« und eine Reihe weiterer Faktoren (Kampe 2003: 100) verantwortlich.

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vereinheitlicht. Politische (u.a. ein – wenn auch anfangs schwaches – Parlament30 und eine  – erheblich stärkere  – Reichsregierung) und wirtschaftliche (z.B. die Gründung der Reichsbank 1875) nationalstaatliche Institutionen samt einem leistungsfähigen Verwaltungsapparat wurden ins Leben gerufen, ein nationalstaatliches Rechtssystem entstand, eine nationalstaatliche politische und kulturelle Öffentlichkeit bildete sich, ein Bildungssystem mit nationalkundlichen und -geschichtlichen Lehrplänen nationalisierte die Erziehung der nachwachsenden Generationen, das Militär drillte auf »Kaiser und Reich«. Nationale Symbole (die schwarz-weiß-rote Flagge offiziell seit 1891), Hymnen (»Heil dir im Siegerkranz«, ursprünglich Hymne des preußischen Königs, wurde übernommen) und Feiern (das Sedanfest wurde mit der Zeit zu einer Art nationalem Feiertag) wurden entwickelt sowie eine Reihe nationaler Monumente erbaut (z.B. die Germania oder die in die Hunderte gehenden Denkmäler für Bismarck)31. In diesem Staat entstand  – etwas zugespitzt formuliert32  – eine Bevölkerung, deren bürgerlicher und insbesondere bildungsbürgerlicher Teil sich zunehmend auch in seinen Organisationsformen (Verbände und Vereine) national verstand (vgl. Wehler 2001: 45ff.). »Das Loyalitätspostulat des gesamtdeutschen Nationalismus […] traf« nicht mehr »auf die straffe einzelstaatliche Integrationspolitik nach 1815« (Wehler 2008b: 396), die nach dem kurzen Intermezzo 1848 im Grunde beibehalten wurde, sondern auf einen deutschen Staat. Was vorher in Sänger-, Turn- und Schützenvereinen, Burschenschaften und anderen deutschnationalen Vereinigungen (vgl. zu deren Anfängen: Echternkamp 1998: 353-366; Mosse 1976: 153-189)33, insbesondere dem 1859 gegründeten Deutschen Nationalverein, aus dem später die Nationalliberalen hervorgingen, in der 30 Dies veranlasste Max Weber zu dem Ausspruch, »daß kein Mensch, der Führerqualität hatte, dauernd hineinging« (Weber 1988c: 541). 31 Vgl. zur Entwicklung der an der »Verherrlichung der Monarchie und einem etatistisch geprägten Verständnis des nationalen Machtstaats« (Hardtwig 1994b: 210) orientierten Symbolpolitik im Kaiserreich Hardtwig 1994b: 192-218, knapp Nipperdey 1992: 261f. 32 Gerade im Vereinswesen hatte es nach 1850 eine erhebliche Anzahl an überstaatlichen, auf »Deutschland« bezogenen Zusammenschlüssen gegeben (dazu vgl. exemplarisch Dann 1994b: 138f.). Allerdings macht es einen Unterschied ums Ganze, ob Nationalismus sich zivilgesellschaftlich oder staatlich organisiert. 33 Echternkamp datiert den Beginn des organisierten Nationalismus auf die Anfänge der Organisation der Turnvereine 1811, Mosse setzt ihn im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an.

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politischen Öffentlichkeit artikuliert und auf Festen, Kongressen und Kundgebungen zelebriert wurde, wurde mit der Reichsgründung zu einem Instrument organisierter staatlicher Politik. Mit der Reichsgründung veränderten sich Funktion und Charakter des Nationalismus:34 In den Jahrzehnten (vgl. Wehler 2008b: 397) vor der Reichsgründung war er – und zwar weitgehend unabhängig von der konkreten Ausformulierung – »primär eine liberale Oppositions- und Emanzipationsideologie« (Wehler 2008c: 945; vgl. auch Nipperdey 1992: 255f.), gerichtet auf die Durchsetzung einer bürgerlichen Gesellschaft in einem Staat (bzw. in einem Staatenbund, der bis 1871 eine etablierte Option in der Debatte war), insbesondere auf die Durchsetzung einer liberalen Wirtschafts- und Rechtsordnung und die Beteiligung der Bürger an der politischen Macht. Reich und bürgerliche Gesellschaft waren im Grunde gleichbedeutend, wer Reich sagte, meinte die Durchsetzung eines Nationalstaats mit bürgerlicher ökonomischer und rechtlicher Ordnung und umgekehrt (ich spreche hier von der bürgerlichen Reichsvorstellung. Zu den unterschiedlichen Reichsvorstellungen im 19.  Jahrhundert und ihrer Veränderung nach 1871 vgl. Langewiesche 2008: 225ff.). In den Jahrzehnten vor der Reichsgründung war der Nationalstaat  – heute würde man sagen – ein »Projekt« des Nationalismus einer wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Elite. Im neuen Staat verwandelte sich die bis dato auf die Zukunft gerichtete Utopie eines deutschen »Volkes«, das sich in einem »deutschen Staat« regiert, in dessen Legitimationsgrundlage: Die große Erzählung des borussischen Nationalismus durch ihre Herolde Droysen und Treitschke (vgl. dazu Wehler 2003c: 136ff.; Dann 1994b: 71; Breuilly 1999: 213),35 die das Reich unter preußischer Führung zum teleologischen Schlusspunkt einer mit der Reformation beginnenden deutschen Einigungsbewegung stilisierten (Becker 2001: 403).36 Damit war eine Kontinuität von »altem« und »neuem« Reich hergestellt, die die Tradition der Staatenvielfalt durch eine, die auf Einheit zulief, ersetzte (vgl. dazu Langewiesche 2008: 28ff.). 34 Ein Nationalismus, der, ich wiederhole mich an dieser Stelle, selbstverständlich nicht einheitlich war, weder im Hinblick auf die Eingrenzung der Grundgesamtheit des »Volkes« (wer ist deutsch?) noch im Hinblick auf die Grenzen (wo ist Deutschland?) und die innere politische und administrative Organisation des Staates noch im Hinblick auf die Inhalte des Selbstbildes (was ist deutsch?). 35 Prugel 1969b: 86 charakterisiert Treitschke treffend als »Prediger einer neuen militanten Staatsreligion«. 36 Zum Konflikt zwischen einer protestantischen und einer katholischen Deutung der Reichsgründung: Becker 2001: 403-407.

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Mit diesem Wandel der Funktion wurden und werden in der Antisemitismusforschung (exemplarisch Massing 1959: Kapitel 1-2; Holz 2001: 171f.; Rürup 1987: 111f.) wie in der Geschichtswissenschaft (Dann 1994b: 174ff.; Wehler 2003c: 938ff.) ein inhaltlicher Wandel eines liberalen zu einem stärker ausgrenzenden »Reichsnationalismus« verbunden und die Konjunktur antisemitischen Wissens im Deutschen Kaiserreich erklärt. Doch war erstens auch der liberale Nationalismus mehr oder weniger massiv ausgrenzend (Breuilly 1999: 70ff.)  – aus systematischen Gründen: Der »liberale Nationalstaat« war schon vor der Reichsgründung im Selbstbild der Staat einer Gruppe, die sich historisch-genealogisch als »Volk« eingrenzt, daher von anderen »Völkern« unterscheidet (Kapitel 2 und 3). Zweitens war der Nationalismus vor der Reichsgründung nicht nur liberal (vgl. dazu hier, Kapitel 4; Avraham 2008: 263-318; eine Vielzahl von antisemitischen Positionen aus dem liberalen Spektrum in Sterling 1969: 77-89). »Wandel« bezeichnet daher nicht einen »Bruch« zwischen einem »früheren, dem emanzipatorischen Liberalismus« und einem »rechten Nationalismus« (Winkler 1993: 35).37 In nationalen Selbstbildern artikulierte sich vorher wie nachher der Anspruch eines historisch-genealogisch verstandenen »Volkes« auf politische Einheit im Staat. Was die Zeit vor der Reichsgründung von der Zeit nach der Reichsgründung wesentlich unterscheidet, ist nicht die Regelstruktur der Semantik, sondern die einheitliche Territorialstaatlichkeit des »Volkes«. In der Perspektive des Nationalismus ist die Reichsgründung daher vor allem »Wiedergeburt« der Nation (eben deshalb schreiben Treitschke und andere Nationalisten von einem »neuen deutschen Leben«). Der Punkt ist also nicht ein Wandel eines vorher »emanzipatorischen« zu einem nach der Reichsgründung nicht mehr »emanzipatorischen« Nationalismus, sondern ein Wandel seiner Referenz. Er legitimiert nun eine staatliche Rechtsordnung als Ordnung des deutschen »Volkes« und beschreibt einen in sich uneinheitlichen Vergesellschaftungszusammenhang als Solidargemeinschaft:38 37 Zur Kritik der Unterscheidung zwischen einem normativ geschätzten emanzipatorischen Nationalismus und einem normativ abgelehnten undemokratischen usw. Nationalismus vgl. exemplarisch für viele Breuer 2005: 36-39. 38 Mosse (1991: 62ff.) bezeichnet diesen Wandel mit dem Terminus »Neuromantik« und unterscheidet diese durch zwei zentrale Veränderungen, erstens durch eine »gesteigerte Notwendigkeit, die völkische Ideologie in die Praxis umzusetzen« (1991: 62), also das, was ich hier als Funktionswandel des Nationalismus bezeichnet habe, zweitens durch eine schnelle Assimilierung rassistischen Denkens. Vgl. dazu Kapitel 5.6.

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Erstens entsprachen die Grenzen des Kaiserreichs von 1871 in keiner Weise den bisher diskutierten Grenzen eines deutschen Nationalstaats. Dieses Auseinanderfallen wurde zum Problem, weil die Reichsgründung selbst keinen neuen Bezugspunkt für die Eingrenzung des »Volkes« lieferte, das in den neuen Grenzen lebte  – das Reich und seine Verfassung waren nicht durch einen revolutionären Akt, sondern politisch-militärisch, nicht »von unten«, sondern »von oben«, hergestellt worden. In diesem Sinne kann man sagen, dass der auf das Deutsche Reich bezogene Nationalismus der preußischen Historiker eine »Erfindung«39 war, insofern es dieses Reich vorher weder gegeben hatte noch seine Grenzen einen historischen Vorläufer gehabt hätten. Die traditionellen Bezugspunkte der Legitimation einer deutschen Einheit, Kultur, insbesondere Sprache, und Genealogie, blieben auch nach der Reichsgründung Grundlage ihrer Legitimation. Das Reich reagierte einerseits nach innen mit einer repressiven Germanisierungspolitik gegenüber Minderheiten, den Polen in Preußen, den Dänen in Nordschleswig und den Franzosen in Elsass-Lothringen (vgl. Wehler 2003c: 961-995; Dann 1994b: 162; Nipperdey 1992: 266-286). Auf der Ebene der Legitimation des Reichs blieb andererseits die weniger an politischen Faktizitäten, sondern an jahrzehntelang gepflegten Selbstbildern orientierte Auffassung präsent und virulent, die einen deutschen Staat als Einheit aller Deutschstämmigen begriff und diese im Wesentlichen mit den deutschsprachigen Gebieten in eins setzte. Das Auseinanderfallen von Staat und Nation, d.h. die Differenz zwischen den Grenzen des Staates und dem Siedlungsgebiet des »Volkes«, verstärkte den mit der Reichsgründung entstandenen Klärungsbedarf, was, wer und welches Gebiet »deutsch« sei, und bildete eine Grundlage der zunehmend pangermanistischen, expansiven Orientierung breiter Teile des deutschen Nationalismus in den 80er und 90er Jahren des 19.  Jahrhunderts. Zweitens musste sich der »reichsdeutsche Nationalismus« (Wehler 2008c: 938ff.) als eine neue Integrationssemantik erst gegen historisch etablierte, konkurrierende Selbstbilder durchsetzen, die sich auf vorherige staatliche Gebilde (Preußen, Bayern usw.) bezogen40 und 39 So Langewiesche in der pointierten Überschrift (2008: 28) »1871  – die deutsche Nationalgeschichte wird neu ›erfunden‹«, mit der bezeichnet sein soll, dass »Geschichte neu eingekleidet wird, aber aus dem Fundus der Vergangenheit« (Langewiesche 2008: 34). 40 Wehler (2008b: 396) fasst diese zweifache Loyalitätsbindung des deutschen Na-

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die in den Jahrzehnten zuvor in den Debatten um einen deutschen Nationalstaat41 als bundesstaatliche Variante virulent geblieben waren (vgl. Wehler 2001: 65), d.h. die konkurrierenden Selbstbilder in untergeordnete verwandeln. Die Hierarchisierung der Selbstbilder dauerte, folgt man Wehler (2008c: 946), bis in die 1890er Jahre hinein.42 Drittens brach der Konflikt zwischen katholischer Kirche und Bayern, Baden und Preußen nach der Gründung des protestantisch dominierten Reichs offen aus. Der »Kulturkampf« hatte zwar den Machtanspruch der katholischen Kirche eingeschränkt und insbesondere den Konflikt um die Kontrolle des Bildungswesens zugunsten des Staates entschieden, im neuen Reich aber zu erheblichen kulturellen Konflikten zwischen Protestanten und Katholiken geführt, die vom protestantisch dominierten borussischen Nationalismus kaum einzufangen waren. Dies ist einer der Gründe43 für die Anziehungskraft nationalreligiöser Selbstbilder, auf die ich weiter unten zu sprechen komme. Viertens war durch die »Doppelrevolution« (Wehler), die zeitliche Nähe von Nationalstaatsbildung und Industrialisierung, die innere Einheit prekär. Nationalen Semantiken der Einheit von Solidargenossen standen massive sozial Verwerfungen infolge der Industrialisierung gegenüber. »In den drei Jahrzehnten von 1845 bis 1875 erlebte die deutsche Bevölkerung den wohl tiefgreifendsten Wandel in ihrer neuzeitlichen Geschichte« (Dann 1994b: 112): Die letzten Reste feudaler Abhängigkeit waren mit der Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit bzw. der Polizeigewalt 1848/72 verschwunden (vgl. Breuer 1995: 12), der Adel auf eine Form bürgerlicher Existenzsicherung, die Grundrente, verwiesen, die Landarbeiter weitgehend in Lohnabhängige verwandelt; mit der endgültigen Durchsetzung der Gewerbefreiheit und der anderen wirtschaftsbürgerlichen Freiheitsrechte in tionalismus für die Zeit zwischen 1815 und 1848 mit dem Terminus »Doppelidentität«. 41 Schon Arndt setzt sich mit der Konkurrenz von unterschiedlichen Selbstbildern, in seiner Perspektive »Uebertreibungen der Stammverschiedenheiten« (Arndt 1814: 158), auseinander (Arndt 1814: 147-159). 42 Hobsbawm (1992: 104) nimmt allgemein für die Entwicklung eines auf einen modernen Nationalstaat bezogenen Patriotismus die Dauer von etwa einer Generation an. 43 Ein anderer Grund ist etwa die Tradition der konfessionellen Spaltung, in deren Folge schon früh verstärkt Ansätze nationalreligiöser Vorstellungen entwickelt wurden, in denen jene in einer neuen, eben auf Nation bezogenen Religion überwunden wurde (vgl. dazu Echternkamp 2001: 161ff.).

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den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte das Stadtbürgertum seine Sonderstellung eingebüßt44 und verwandelte sich in ein städtisches Kleinbürgertum bzw. verschmolz mit dem Wirtschaftsbürgertum (detailliert bei Wehler 2003c: 130ff.). Mit der zunehmenden Durchsetzung des Lohnarbeitsverhältnisses als Modus individueller bzw. familiärer Reproduktion und dem Wandel von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft entstand eine Klasse lohnabhängig Beschäftigter, die sich sowohl gewerkschaftlich wie politisch zu organisieren begann. Der rasante Wandel der Berufe und der Arbeitsverhältnisse infolge von Industrialisierung und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise führte, verstärkt nach 1880, zur größten Binnenmigration in der deutschen Geschichte (Wehler 2003c: 501) und einer gigantischen Welle der Urbanisierung, die mit einer grundlegenden Veränderung der Lebensweise verbunden war. Die sozialen Folgen der Industrialisierung wurden unter dem Titel »soziale Frage«, der am meisten diskutierten Frage dieser Zeit, erörtert. Die genannten Punkte, insbesondere die zeitliche Nähe von Staatsgründung und industrieller Revolution, machen die etablierte Deutung einer Zunahme des Antisemitismus nach 1870 durch eine »Konstruktion der Nation gegen die Juden« (Alter) ebenso plausibel wie das erörterte Missverhältnis von Juden zugeschriebenen Vergehen und den daraus gezogenen Konsequenzen verständlich. Juden bedrohen im deutschen Antisemitismus einen »neuen« oder »jungen« Nationalstaat, der in seiner Einheit noch nicht gefestigt ist.45 Bliebe es bei dieser Interpretation, wäre eine Neuauflage der These eines deutschen Sonderwegs die zwangsläufige Folge. Doch die oft in Anschlag gebrachte Gründerkrise, die allgemeine Suche nach Schuldigen für soziales Elend oder der politische Richtungswechsel 187846 reichen 44 Wehler (2003c: 134) fasst dies in die gelungene Formulierung, dass »die städtische Einwohnergemeinde, die Staatsbürgergesellschaft dem Stadtbürgertum seine Niederlage bereitet hatte, als sein politisches Gehäuse, seine ökonomische Grundlage und sein Exklusivrecht endgültig beseitigt wurden«. 45 Vgl. z.B. Heinrich von Treitschke, der die »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich von der in Frankreich und England in zweifacher Hinsicht unterscheidet: Franzosen und Engländer hätten erstens mit weniger Juden zu tun, die zudem einem anderen »Stamm« zugehörten (vgl. Treitschke 2003a: 11), und zweitens seien die Juden dort durch die »Energie des Nationalstolzes und die festgewurzelte Sitte dieser beiden alten Culturvölker« »zu einem unschädlichen und vielfach wohlthätigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft gemacht« worden (Treitschke 2003a: 14). 46 Vgl. exemplarisch Rürup (1987: 116): »Entscheidend dafür, daß der Antisemitismus der siebziger Jahre zu mehr als einem beliebigen, folgenlosen

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zur Erklärung der Konjunktur des Antisemitismus im Kaiserreich nicht aus. Viel spricht dafür, Krise und politischen Wechsel als verstärkende, nicht aber bedingende Faktoren zu begreifen: Mit Blick auf die Entwicklung des modernen Antisemitismus in Frankreich lässt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine deutliche Zunahme beobachten, ein Vergleich (Volkov 1990: 62-72) zeigt, dass sich Wissen, Organisationsformen und Funktionen (Volkov 1990: 68) zwar im Detail, aber nicht grundsätzlich unterscheiden. Insbesondere sind die Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit und das Grundmuster der Zuschreibungen identisch (vgl. exemplarisch die detaillierte Analyse von Drumonts La France Juive in Holz 2001: 298-358). Folglich kann sich eine Erklärung der Sattelung und des Aufschwungs antisemitischen Wissens im Kaiserreich nicht auf die Elemente dieses Wissens beschränken, die sich aus der historischen Besonderheit einer nationalstaatlichen Entwicklung begreifen lassen. Dass sich in Frankreich und anderen industrialisierten Staaten vergleichbare Entwicklungen (Sattelung und Zunahme des modernen Antisemitismus) beobachten lassen, muss aus den nicht historisch spezifischen, sondern vergleichbaren Elementen von Modernisierung erklärt werden.

Randphänomen der Krise werden konnte, ist die Tatsache, dass die »Gründerkrise« in Deutschland einen säkularen Trendwechsel nicht nur in der Konjunktur, sondern auch in der Politik einleitete.« Für Rürup bestehen weitere, »hinzu«kommende Faktoren, die »Aushöhlung liberaler Prinzipien durch Kulturkampf und Sozialistengesetz« und »die ungelösten Integrationsprobleme des eben erst geschaffenen Nationalstaats« (Rürup 1987: 117; eine vergleichbare Argumentation findet sich auch in Bergmann/Wyrwa 2011: 32f.). Mir scheint das Gewichtungsverhältnis genau andersherum zu sein, zu der Bestimmung eines kollektiven Selbstbildes treten der Niedergang des Liberalismus und die ökonomische Krise hinzu. Zu den im Text genannten Argumenten kommt noch eine Empirie hinzu, die ebenfalls für diese Deutung spricht: Der öffentlich artikulierte Antisemitismus nimmt schon vor der konservativen Wende Bismarcks zu, der erste Artikel Glagaus über den sogenannten »Börsen- und Gründerschwindel« z.B. erschien im Dezember 1875, Richard Wagners Das Judenthum in der Musik, das nach der Erstpublikation 1850 weitgehend unbeachtet blieb, erregte nach der zweiten Publikation 1869 erhebliches Aufsehen. Das sind nur zwei von vielen Beispielen, die darauf hindeuten, dass der Antisemitismus schon vor 1879 kein »Randphänomen« war  – die Gartenlaube war die auflagenstärkste Illustrierte dieser Zeit im Reich, Wagner einer der angesehensten zeitgenössischen Komponisten. Sicher gibt es vor 1879 weder eine antisemitische Bewegung noch antisemitische Parteien, jedoch scheint mir die Annahme nicht plausibel, dass der Antisemitismus derart plötzlich vom Rand ins Zentrum rücken kann.

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Wir müssen also annehmen, dass es historisch spezifische, auf die Geschichte des Deutschen Reichs bezogene, und historisch nicht spezifische Gründe für die Gleichzeitigkeit von Modernisierungsschüben und zunehmendem Antisemitismus gibt, die aus dem übergreifenden Prozess der Modernisierung erklärt werden müssen. Diese Gründe können auch nicht nur damit zu tun haben, dass das »Vaterland« ein »Vaterland der Feinde« (diese gelungene Formulierung stammt von Jeismann) ist, denn es ist klar und im Übrigen empirisch evident, dass Szenarien, in denen sich Kollektive durch äußere oder innere Feinde bedroht sehen, ein probates und gern genutztes Mittel zur Stabilisierung und Einheitsbildung sind. Doch »der Jude« ist ein anderer Feind als »der Franzose« (oder, nach innen: »der Katholik«, »der Sozialdemokrat«). »Katholiken« und »Sozialdemokraten« mögen »das Vaterland« »verraten«, aber sie gelten als sich »undeutsch« verhaltende Deutsche, nicht als Feind aller »Völker«. Ich habe darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen das Judentum für die Antisemiten ein Kampf gegen Juden und ein Kampf um »die Ausscheidung alles Semitischen aus unserer eigenen Seele« (Chamberlain) ist, der darauf zielt, »wieder ganz deutsch« zu werden. »Deutsch werden« heißt: Gemeinschaft als Projekt zu realisieren, die Gesellschaft aus der Gemeinschaft »auszuscheiden«, eine dem Ethos der ehrlichen und freudigen Arbeit für andere verpflichtete Gemeinschaft zu bilden, eine Einheit des »Volkes« zu schaffen, deren Glieder nicht durch gegensätzliche Interessen und institutionalisierte individuelle Freiheitsrechte getrennt, sondern »brüderlich« verbunden sind. Kurz: »Wieder ganz deutsch werden« heißt, die Moderne durch Vergemeinschaftung zu überwinden. Die Besinnung auf »uns« hat Konjunktur, weil rasche Industrialisierung nichts anderes ist als ein beschleunigter Prozess der Vergesellschaftung von Sozialbeziehungen. Vergesellschaftung von Sozialbeziehungen bedeutet nicht nur die Ausstattung von Individuen mit formal gleichen Freiheitsrechten, sie bedeutet im ausgehenden 19.  Jahrhundert auch die intensive Erfahrung von Klassenauseinandersetzungen. Diese läuft der Grundannahme jedes Nationalismus, ein »Volk« bilde eine durch ein Gemeinschaftsethos wechselseitig verpflichtete Solidargemeinschaft, zuwider. Im ausgehenden 19.  Jahrhundert vertritt daher so gut wie jeder Antisemit die Auffassung, die soziale Frage sei die »Judenfrage« (ich habe diesen Zusammenhang in Kapitel 4 erläutert). Ein über die Geschichte des Deutschen Reichs verallgemeinerbarer Grund für den Aufschwung des Antisemitismus in den sich indus-

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trialisierenden Staaten in Europa ist also im Prozess beschleunigter Modernisierung, d.h. beschleunigter Vergesellschaftung, selbst zu sehen. Dagegen stellt der Antisemitismus nicht nur im Deutschen Reich das anti- (nicht: vor- oder un)moderne Bild einer Überwindung der Moderne in der auf ein Gemeinschaftsethos verpflichteten Gemeinschaft des »Volkes«. Deswegen ist das antisemitische »Projekt Gemeinschaft« nicht nur Kampf gegen in Juden personalisierte Gesellschaft, sondern wesentlich auch »Selbstreinigung«. Weil das »Projekt Gemeinschaft« im Vordergrund steht, ist auch das Verhältnis von unterstellten Vergehen und geforderten Maßnahmen oft so befremdlich.

5.3 Von der Politisierung antisemitischen Wissens zur Politisierung der Antisemiten In Kapitel 4 habe ich gezeigt, dass der moderne Antisemitismus von Beginn an politisch ist, da er sich auf den Status der Juden im Staat »unseres Volkes« bezieht. Aber dieser politische Charakter betrifft nur den Inhalt des Wissens, nicht die Art und Weise seiner Artikulation. Vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren von Antisemiten in der Öffentlichkeit vorgebrachte Forderungen wesentlich Bedenken, die den Fürsten von Untertanen zur Kenntnis gebracht wurden. Dohm z.B. »wagt es« 1781, seine Schrift zur »bürgerlichen Verbesserung der Juden« den »Regierern […] mit Ehrfurcht zu widmen, und wird sich hinlänglich belohnt schätzen, wenn er fähig gewesen, ihre Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu leiten, der ihr bisher entgangen zu seyn scheint, und derselben doch so würdig ist« (Dohm 1973a, Vorerinnerung: 5). Constantin Frantz schreibt 60 Jahre später in Ahasverus oder die Judenfrage gegen eine rechtliche Gleichstellung der Juden, enthält sich aber jeder Forderung nach Umsetzung seiner Vorschläge, über welche Rechte Juden in einem »christlichen Staat« verfügen sollten: »So weit die Theorie. Die Regierungsweisheit aber hat zu entscheiden, ob durch das eine oder das andere nicht etwa zur Zeit größere Nachtheile entstehen würden, als mit dem bestehenden Zustande verknüpft sind« (Frantz 1844: 35).

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Grattenauer hält es für seine Pflicht, dem Fürsten, der »nicht alles durchschauen« kann, »die Gebrechen des Staats redlich aufzudecken« (Grattenauer 1791: 108). Was in den Ohren der gegenwärtig Lebenden wie eine Schutzbehauptung klingt, hatte zu jener Zeit ein hohes Maß an Plausibilität, weil Politik dem absolutistischen Verständnis nach eine Angelegenheit der Fürsten (und ihrer Verwaltungsstäbe, denen sie an Wissen und Kompetenz zunehmend unterlegen waren) war; politische Entscheidungsprozesse waren zwar Gegenstand öffentlicher Diskussion (Zeitschriften und Zeitungen sind im ausgehenden 18.  Jahrhundert Teil der »Politisierung der Öffentlichkeit« [Wilke 2008: 152]47), vollzogen sich aber grundsätzlich im Geheimen (vgl. Faulstich 2002: 12; dazu Luhmann 1989: 96ff.).48 Das unpolitische Selbstverständnis des Bürgers als Untertan ist einerseits konsequenter Ausdruck einer absolutistischen politischen Ordnung, andererseits Moment ihrer Auflösung, insofern Politik Gegenstand öffentlicher, in Schriften und Gegenschriften geführter Auseinandersetzung ist, Zeugnis – so devot Vorschläge auch artikuliert wurden – eines Anspruchs auf politische Macht und der Entwicklung einer deliberativen Öffentlichkeit. In den 70er Jahren des 19.  Jahrhunderts stellt sich der politische Charakter des Antisemitismus fundamental anders dar: Wie mit den inzwischen emanzipierten Juden umzugehen sei, wird dem Kaiser nicht als Bedenken unterbreitet, sondern in Form von Petitionen (1880/81) vom Reichskanzler gefordert und in politischen Programmen von in Parteien organisierten Antisemiten (die Christlich-sociale Partei wurde 1878 gegründet) dargelegt sowie von Politikern und Journalisten in der politischen Öffentlichkeit erklärt.49 Dieser Wan47 Unter Politisierung der Öffentlichkeit verstehe ich in dieser Zeit die öffentliche Thematisierung des Politischen. 48 Dem entspricht, dass bis in den Vormärz hinein Parteien im Normalfall der Sphäre der Gesellschaft zugeordnet wurden, in denen zwar politische Auffassungen diskutiert werden, die aber ohne Einfluss auf die eigentlich politische Sphäre bleiben (vgl. Beyme 2004: 703). 49 Zur Entwicklung der antisemitischen Parteien vgl. nach wie vor Wawrzinek 1965, Levy 1975 und Ferrari Zumbini 2003: 207-320; zum Niedergang Breuer 2008: 68ff. Insgesamt bestätigt sich die zuerst von Peter Pulzer (1966) geäußerte Annahme, dass die historische Verbindung zwischen dem Antisemitismus im Nationalsozialismus und dem im Kaiserreich über intermediäre Organisationen läuft (diese Annahme wurde wiederum von Massing 1959: Kapitel VIII und IX, insbesondere 147ff. zwar nicht explizit formuliert, aber doch nahegelegt; aus antisemitischer Perspektive schon Buch [1937: 56]). Vgl. als empirisches Beispiel

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del ist der zentrale Grund, warum in der bisherigen Antisemitismusforschung der moderne Antisemitismus erst seit 1871 als politischer Antisemitismus begriffen bzw. als »by-product of the vast electorates created by 19th-century democracy« (Parks 1963: XI) verstanden wurde. Diese Auffassung kann nun revidiert werden: Was sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzieht, ist nicht die Politisierung antisemitischen Wissens – das moderne antisemitische Wissen ist genuin politisch  –, sondern die Politisierung der Antisemiten. Diese wiederum hat Konsequenzen für das antisemitische Wissen. Den Zusammenhang zwischen der Politisierung der Antisemiten und der Veränderung antisemitischen Wissens erläutere ich im Folgenden. Die Transformation des Verständnisses und der Praxis von Politik50 ist Teil der gesellschaftlichen Transformation einer ständisch-absolutistischen in eine bürgerliche Gesellschaft, ihr signifikanter Ausdruck die Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer zunächst im Norddeutschen Bund (in Preußen galt weiterhin das Zensuswahlrecht), dann im Deutschen Reich. Mit ihr war die Verwandlung von männlichen Untertanen in Bürger auf der Ebene politischer Beteiligung weitgehend abgeschlossen. Zwar war das Kaiserreich kein demokratisches politisches System, der Demos kein Souverän (dies ist erst im 20. Jahrhundert der Fall), doch konnte unterschiedslos jeder männliche Staatsbürger ab dem 25. Lebensjahr durch das ihm zugestandene geheime und gleiche Wahlrecht Teil politischer Selbstbestimmung sein. Faktisch bedeutet die Demokratisierung von Politik und damit die Transformation der Souveränität des Herrschers in die – doppeldie Untersuchung der politischen Verbände der Handwerker in Volkov 2000e. Pulzers Überlegung kann derzeit als Konsens in der Antisemitismusforschung gelten. Vgl. nur Berding (1988: 86-140) und Nipperdey (1992: 297ff.), die ihre Darstellung zur »Ausbreitung des modernen Antisemitismus« nach 1870 entlang der Unterscheidung von politischen und intermediären Organisationen aufbauen und für Letztere von einer »ständigen« (Berding 1988: 110) Bedeutungszunahme des Antisemitismus sprechen (eine knappe Zusammenfassung in Berding 2000: 69f.). Nipperdey betont im Unterschied zu Berding, dass für die Geschichte des Antisemitismus der »Aufstieg der Rassentheorien« »wichtiger« (1992: 303) als die Verbände gewesen sei (was in meiner Perspektive nur schwer zu beurteilen ist, da »Rassentheorien« auf der Ebene des Wissens, »Verbände« auf der Ebene der Organisation sozialer Praktiken liegen. »Rassentheorien« können nur dann in der Praxis von Sozialordnungen relevant werden, wenn es Organisationen gibt, die sie in Handlungsprogramme übersetzen). 50 Vgl. dazu den Überblicksartikel von Volker Sellin (2004) in Verbindung mit Conze (1990), beide in den Geschichtlichen Grundbegriffen.

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deutige51 – Souveränität der (dazu berechtigten) Glieder eines Herrschaftsverbandes eine umfassende Politisierung der Gesellschaft: Aus in Kammern organisierten Interessen von Ständen (welche nicht als politische Interessen verstanden wurden) werden in Parteien organisierte Interessen sich als gleich verstehender Bürger (und entsprechend wurde im frühen 19. Jahrhundert das Verhältnis der Begriffe Stand und Partei diskutiert, vgl. dazu Beyme 2004: 708f.).52 Die Folgen dieser Verwandlung sind kaum zu überschätzen: »Der bloße Akt der Demokratisierung von Politik, das heißt die Verwandlung von Untertanen in Bürger, erzeugt ein populistisches Bewusstsein, das sich in mancher Hinsicht von einem nationalen oder gar chauvinistischen Patriotismus kaum unterscheiden lässt« (Hobsbawm 1992: 106). Die »Demokratisierung von Politik« hat zwei wesentliche Konsequenzen für das antisemitische Wissen: die Bildung schlagkräftiger, bürokratisch und reichsweit organisierter Parteien (vgl. Jochmann 1988: 33), die Wahlkämpfe führen (a) und zu diesem Zweck Massenmedien nutzen und nutzen müssen (b). (a) Die Partei der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Honoratiorenpartei, die Basis ihrer Macht das – in der Regel durch ökonomisches Handeln  – erworbene Ansehen ihrer Mitglieder, die durch Zugehörigkeit zum gleichen Milieu in Clubs verbunden sind und sich auf geeignete Vertreter verständigen. Honoratiorenparlamente basieren auf der internen Schließung von kleinen Milieus und dem in ihnen erworbenen Renommee, die Wahl ist weniger eine Wahl als eine Akklamation. Noch das Paulskirchenparlament war ein Honoratiorenparlament, und die Mehrheit seiner Angehörigen legte großen Wert darauf, diese exklusive, durch ökonomische Macht und soziales Ansehen begründete Form politischer Teilhabe als adäquate Form der Beteiligung des Bürgertums an politischer Macht zu erhal51 »Doppeldeutig« bezeichnet den Umstand, dass mit dieser Transformation einerseits das Volk, andererseits die Regierung als Souverän gilt. Dazu Weyand 2010a. 52 Die Ausdifferenzierung von Parteien, die nicht das Volk in seiner Gesamtheit, sondern einzelne Gruppen desselben repräsentieren, führt im 19.  Jahrhundert zu Auseinandersetzungen über die Frage, wie sich Teil und Ganzes zueinander verhalten. Grundlage ist der Widerspruch, dass eine Mehrzahl eine Einheit (Volksparteien) bzw. ein Teil ein Ganzes (Volkspartei) repräsentiert.

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ten – das allgemeine Wahlrecht für Männer ist unter Bismarck gegen den Widerstand der meisten Liberalen53 durchgesetzt worden.54 Ein solches Modell exklusiver Politik kann unter der Bedingung eines allgemeinen Männerwahlrechts nicht funktionieren. Ein Mandat in einem mit allgemeinem Männerwahlrecht gewählten Parlament erfordert nicht zuerst die Absprache im kleinen Kreis, sondern das Führen eines Wahlkampfes in der politischen Öffentlichkeit. Persönliche Gefolgschaft wandelt sich in durch Parteiapparate organisierte Anhängerschaft. Dies ist der systematische Ort der Entstehung des sogenannten Populismus, den ein Parteiführer aufbringen muss, um die Gefolgschaft hinter sich zu einen. Grundlage solcher Wahlkämpfe sind moderne, mit einem bürokratischen Apparat und Personal ausgestattete, an Programme gebundene Parteien, die über Niederlassungen in der Fläche verfügen. Parteien werden zu Massenorganisationen, »Kinder der Demokratie, des Massenwahlrechts, der Notwendigkeit der Massenwerbung und der Massenorganisation, der Entwicklung höchster Einheit der Leitung und strengster Disziplin« (Weber 1988c: 532; vgl. auch Habermas 1990: 302). Schlagkräftige Massenparteien bedürfen eines professionalisierten Verwaltungsapparats, d.h. das Berufsfeld der Politik, das zu Zeiten der Honoratiorenparlamente weitgehend auf die staatlichen Verwaltungsstäbe beschränkt war, wird auf die Organisation der politischen Willensbildung ausgeweitet. Parteien machen Politik in Regierung und Opposition, und da Parteien nichts anderes als eine organisierte Form der Selbstbestimmung des »Volkes« sind, kontinuierlich, von Wahl zu Wahl darauf angewiesen sind, Gefolgschaft zu mobilisieren und in Stimmenanteile zu verwandeln, wird die Gesellschaft insgesamt und andauernd politisiert. Kurz: Ende des 19. Jahrhunderts ist ein Prozess weitgehend abgeschlossen, der die Entpolitisierung des Bürgers im Untertan, die im absolutistischen Staat ihren Höhepunkt erreicht hatte, in ihr Gegenteil verwandelte. 53 Das grundlegende Argument, die Gleichstellung von Individuen sei auf deren bürgerliche, d.h. ökonomische, nicht aber auf deren politische Existenz zu beziehen, veränderte sich seit den Debatten um ein allgemeines Wahlrecht kaum. Vgl. dazu Avraham 2008: 70ff. 54 Das Beibehalten der Organisationsform einer Honoratiorenpartei war einer der Gründe für den zunehmenden Bedeutungsverlust der Nationalliberalen im Kaiserreich wie in Preußen und den anderen Staaten des Reiches nach 1874 (vgl. dazu Wehler 2003c: 868ff.).

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Die Politisierung der Gesellschaft bildet nicht nur die Grundlage der parteipolitischen Organisation der Antisemiten, sondern ebenso die Grundlage (nicht: den Auslöser oder Anlass) der antisemitischen Bewegung,55 die sich in den 70er Jahren des 19.  Jahrhunderts entwickelt. Politische Bewegung und Partei sind zwei Seiten derselben Medaille: Die Partei ist das Instrument der Organisation parlamentarischer Macht, die Bewegung das Instrument der Organisation von außerparlamentarischer Macht in der politischen Öffentlichkeit. Die antisemitische Bewegung organisiert, bündelt und artikuliert  – wie jede politische Bewegung  – politische Forderungen in einer politischen Öffentlichkeit. Politisierung der Antisemiten heißt also, dass der Strukturwandel des Politischen im 19.  Jahrhundert dazu führt, dass sich ein von Beginn an politischer Antisemitismus in Parteien und Bewegungen organisiert. (b) Mit der Demokratisierung des Politischen, seiner parteipolitischen Organisation, dem auf Dauer gestellten Streben der Parteien nach Gefolgschaft und dem ebenfalls auf Dauer gestellten, öffentlich ausgetragenen Konflikt von Regierungs- und Oppositionspartei erfahren die medialen Instrumente der Mobilisierung und der Austragung politischer Auseinandersetzungen ein neues Gewicht – wie ohne entwickelte, bürokratisierte Parteiapparate eine reichsweite Organisation des Kampfes um Wählerstimmen kaum denkbar ist, so ist die Massenmobilisierung von Gefolgsleuten ohne ein entwickeltes Pressewesen schwer vorstellbar. Helmut Berding ist sicher zuzustimmen, dass die Auseinandersetzung um den Antisemitismus auch schon vorher publizistisch geführt wurde (Berding 1999: 92). Aber die Art und Weise, in der sie geführt wird, verändert sich, weil sie nun als Teil der politischen Selbstverständigung von Bürgern vor einem und für ein anonymes Massenpublikum geführt wird, während es sich vorher um eine Auseinandersetzung weitgehend unter Bildungsbürgern handelte. Tatsächlich hat sich das Zeitschriften-56 und Zeitungswesen seit den 60er Jahren des 19.  Jahrhunderts vor dem Hintergrund kurz 55 Gewiss hat es antisemitische »Bewegungen«, etwa in Gestalt von Pogromen, auch früher gegeben. Aber dies waren keine politischen Bewegungen, wie sie in der Zeit nach 1870 entstanden sind. Vor 1870 werden keine Ansprüche an den Staat bzw. die Regierung gestellt, es handelt sich überhaupt nicht um politische Bewegungen, weil das politische Handeln eine Domäne der Fürsten war. Nach 1870 kann man von einer explizit politischen Bewegung mit explizit politischen, an die Regierung gerichteten Forderungen sprechen. 56 Faulstich (2002) begreift die Zeitschrift als »Schlüsselmedium« der bürgerlichen

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aufeinanderfolgender technischer Innovationen, durch die Produktionskosten und -zeiten erheblich gesenkt wurden, und der Entwicklung der verkehrstechnischen Infrastruktur rasant entwickelt (Wilke 2008: 156ff.).57 Illustrierte Familienblätter (die Vorläufer der heutigen Illustrierten) konnten ihre Auflagen in ungeahnte Höhen steigern.58 Vergleichbares galt auch für das Zeitungswesen. 1870 liefert die Post 150 Mio. Zeitungen aus, 1900 1.2 Mrd.; Ende der 60er Jahre liegen sechs Zeitungen bei einer Auflage von über 10.000 Exemplaren, Anfang 1900 kämpfen die auflagenstärksten Zeitungen um Auflagenhöhen von 250.000 Exemplaren (Wehler 2003c: 1232; 1238).59 Auch wenn mit der zunehmenden Orientierung an einem Massenpublikum der politische Anteil der Berichterstattung zurückging (Stöber 2005), waren Zeitungen das Organ massenmedial geführter politischer Auseinandersetzung (vgl. Wilke 2008: 286). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich auch das journalistische Selbstverständnis: War bis ins frühe 19. Jahrhundert Unparteilichkeit Kern dieses Selbstverständnisses, so steht danach politische Positionierung (vgl. Wilke 2008: 294) im Zentrum. Entsprechend konträr und gegensätzlich waren die in unterschiedlichen Blättern vertretenen Positionen. Zwar lockerte sich die parteipolitische Bindung der Zeitungen mit der zunehmenden Bedeutung des Anzeigengeschäfts, doch blieben die politischen Orientierungen der Zeitungen eindeutig. Zeitungen waren zu einem politischen Machtinstrument geworden, mittels dessen politisches Handeln und die öffentliche Meinung erheblich beeinflusst werden konnten.

Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Ich kann an dieser Stelle nicht detailliert auf die Entwicklung der unterschiedlichen Medien eingehen, vgl. dazu für das 18. und frühe 19. Jahrhundert: Faulstich 2002: 225ff. und Wilke 2008: 94ff. (Zeitschriften); Faulstich 2002: 29ff. und Wilke 2008: 78ff. (Zeitungen); für das 19. Jahrhundert Wilke 2008: Kapitel 7 und Faulstich 2004: 28ff. und 60ff. 57 Die Steigerung vor 1850 war ebenfalls beträchtlich, Preußen hatte 1824 96 Zeitungen mit einer Auflage von 35.000, 1847 118 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 96.000 Exemplaren (vgl. Stöber 2005: 159). 58 Die Gartenlaube, das erfolgreichste Blatt dieser Art, startete 1853 mit einer Auflage von 5.000, hatte 1861 eine Auflage von 100.000 und erreichte ihr Maximum 1875 bei einer Auflage von 382.000 (bei einem Lesekoeffizienten von 10, also einer Leserschaft von etwa 3.8 Millionen; vgl. Wehler 2003c: 434f.; Stöber 2005: 267; Wilke 2008: 276). 59 Wilke (2008: 258, 274) charakterisiert die Expansion des Pressewesens im Kaiserreich als »Entfesselung der Massenkommunikation«.

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In dem Moment, in dem der Antisemitismus Teil massenmedialer Auseinandersetzung in einer politisierten Gesellschaft wird, wird die liberale Presse, die den Zeitungsmarkt das ganze Kaiserreich hindurch dominierte (vgl. Wehler 2003c: 446), zum Angriffspunkt der Antisemiten. Aus diesem Grund spielt das Stereotyp der Kontrolle der Presse durch Juden in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts praktisch keine Rolle im antisemitischen Wissen, während es in der zweiten Hälfte endemisch wird. Die Presse, das Medium politischer Öffentlichkeit, artikuliert Positionen unterschiedlicher Interessengruppen und Milieus, sie steht nicht für die Einheit eines nationalen Kollektivs, sondern für seine Gespaltenheit und Zerrissenheit. Die Presse ist der handgreifliche Ausdruck der Uneinheit eines Personenverbandes, der in nationalen Selbstbildern als Einheit verstanden wird. »Die Berliner Witzblätter, lauter jüdisches Giftgeschmeiß«, »verhöhnen und verspotten« »die christlichen Dinge […] in einer einzigen Nummer drei, vier Mal« (Stoecker 2004b: 34). Die Zeitungen förderten »sittliche Verwilderung« (Fritsch 1887: 17). »Lest die Zeitungen, fragt wer sie schreibt oder in wessen Auftrag sie schreiben, und euch ist alles klar: Hier habt ihr ein Fieber, das die Krankheit andeutet – die Krankheit aber heißt das Chaos« (Frymann 1912: 38). Das Besondere an Presse und Geld, an dem Medium der Integration von Individuen in eine politische Öffentlichkeit und dem Medium der Integration von Individuen in die Ökonomie, besteht im Unterschied zu anderen Medien sozialer Systeme in ihrem dinglichen Charakter. Geld und Zeitungen sind greifbar. Macht und Wahrheit z.B. sind es nicht. Vermutlich erklärt dieser dingliche Charakter der Medien über ihre herausgehobene Bedeutung (Presse als Medium politischer Selbstverständigung, Geld als Medium materieller Reproduktion) für die Reproduktion einer modernen Gesellschaft hinaus, warum diese beiden Medien in das Zentrum antisemitischer Agitation rücken.

5.4 Postemanzipatorischer Charakter Mit der rechtlichen Emanzipation der Juden verändert sich der Inhalt des antisemitischen Wissens auf der Ebene sowohl der Forderungen als auch der zeitlichen Verortung des Überwältigungsszenarios. Zielte die antisemitische Agitation zuvor darauf ab, die Emanzipation der Juden zu verhindern, so geht es nun darum, die rechtliche Gleichstellung der Juden aufzuheben; in Frage steht nicht mehr, warum Juden

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nicht die gleichen Rechte haben können, sondern, warum sie Sondergesetzen zu unterwerfen seien. Vor der Emanzipation wird das Überwältigungsszenario als zeitliche Folge der rechtlichen Gleichstellung der Juden entworfen und liegt daher in der Zukunft. Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden verschiebt sich das apokalyptische Szenario von der Zukunft in die zukünftige Gegenwart oder, wie bei Marr, in die Gegenwart, es ist nicht die Folge eines zukünftigen politischen Eingriffs (der rechtlichen Gleichstellung), sondern Folge eines vergangenen politischen Eingriffs. Ich zitiere exemplarisch nur Otto Böckel, einer der führenden Köpfe der antisemitischen Bewegung nach 1885: »Mit der Vollendung der Emancipation im Jahre 1869 fing der Prozeß der Unterwerfung der nichtjüdischen Wirtsvölker, getreu der hebräischen heiligen Schriften, an« (Böckel 1901: 3, vgl. auch Naudh 1879: 12).60 Aus diesem Grund hat Reinhart Rürup den Antisemitismus nach der Emanzipation als »postemanzipatorisch« bezeichnet (Rürup 1987: 114; so auch Nipperdey 1992: 291).61 Im postemanzipatorischen Antisemitismus werden die rechtliche Beschränkung oder andere Formen der Ausgrenzung von Juden gefordert. Die Zukunft ist  – in aller Regel, Marr (2009) z.B. bildet eine Ausnahme – im Vergleich zur Gegenwart besser, wenn sie sich 60 Der Unterschied lässt sich an zwei Schriften von Constantin Frantz exemplarisch verdeutlichen: In dem 1844 publizierten Text Ahasverus oder die Judenfrage wendet sich Frantz gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden mit der Begründung, dass Juden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit nicht Teil des christlichen Volkes der Deutschen sein könnten. Das von Frantz in dieser Schrift nur benannte, nicht ausgemalte Schreckensszenario, eine atheistische, liberale und materialistische Gesellschaft, liegt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. »Das Ende aller Emancipation ist der Materialismus, und folglich bleibt’s dabei, es findet keine Judenemancipation statt« (Frantz 1844: 37). Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft hingegen sieht die mit der Emanzipation verbundene Erwartung einer »inneren Verschmelzung der jüdischen Bevölkerung mit der christlichen« enttäuscht. Stattdessen sei in der Gegenwart deutlich geworden, wie »zersetzend« der Einfluss von Juden »in Staat und Gesellschaft bereits wirkte« (Frantz 1874: 19); »schon ist es dahin gekommen, daß dort [in Berlin, J.W.] überhaupt kein öffentliches Unternehmen irgend welcher Art mehr möglich ist, wobei nicht Juden ihre Hand im Spiele hätten und bald das große Wort führten« (Frantz 1874: 7). 61 Nach Rürup (2004: 126) und Nipperdey (1992: 291) ist der Wandel eines präzu einem postemanzipatorischen Antisemitismus ein Grund dafür, den Begriff des modernen Antisemitismus erst nach 1870 anzusetzen. Dagegen ist einzuwenden, dass sich moderner Antisemitismus vor und nach der Emanzipation sowohl im Hinblick auf die Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit wie im Hinblick auf das Grundmuster der Zuschreibungen nicht unterscheiden. Die Differenz betrifft nur die im Text erörterten Zuschreibungen.

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den Antisemiten als Realisierung des Projekts Gemeinschaft und als Zurückdrängen von Gesellschaft (»Juden«) darstellt. Im modernen Antisemitismus vor der Emanzipation  – hier wüsste ich keine Ausnahme – war die Zukunft im Vergleich zur Gegenwart düsterer gezeichnet, weil er das Bild der in den Augen der Antisemiten für das eigene Kollektiv fürchterlichen Folgen der Emanzipation malt, während der postemanzipatorische Antisemitismus die Gegenwart schwarz und die Zukunft hell entwirft.

5.5 Weltanschaulichkeit Der weltanschauliche Charakter des Antisemitismus seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist häufig betont (exemplarisch: Volkov 2000c: 18f., 31; Rürup 1987: 115) und von Klaus Holz aus der Figur des Dritten erklärt worden. Mit Weltanschaulichkeit bezeichne ich in Anlehnung an Holz (2001: 29) eine Auffassung, die a) dem Umfang der eingeschlossenen Personen nach, b) der umschlossenen Zeitspanne nach und c) den erklärten gesellschaftlichen Handlungsbereichen nach umfassend ist. Grundlage der Weltanschaulichkeit des modernen Antisemitismus ist das im letzten Kapitel beschriebene Grundmuster der Zuschreibungen, in dem alle »Völker« als Gemeinschaften vorgestellt und diesen die gemeinschaftszerstörende Gesellschaft der Juden feindlich gegenübergestellt werden. Dieser sozial umfassende Gegensatz (alle »Völker«–»Juden«) wird als »große Erzählung« der Geschichte des Kampfes der »Völker« mit »Juden« historisch umfassend. In diesen beiden Punkten unterscheidet sich das antisemitische Wissen des späten 18. nicht von dem des späten 19. Jahrhunderts. Sie unterscheiden sich jedoch dem Umfang der Handlungsbereiche nach, in denen der feindliche Gegensatz ausbuchstabiert wird – Literatur, Musik und Wissenschaft z.B. spielen im Antisemitismus des späten 19.  Jahrhunderts, nicht aber im frühen Antisemitismus eine Rolle. Dass der Gegensatz sozial umfassend wird, setzt sozialhistorisch einen weit fortgeschrittenen Prozess der Vergesellschaftung von Sozialbeziehungen voraus. Vergesellschaftung von Sozialbeziehungen ist, wie ich in Kapitel 2 erläutert habe, erstens als ein Prozess fortschreitender Entbettung und Wiedereinbettung von Sozialbeziehungen zu verstehen, in dem sich Handlungsorientierungen von »Wir« zu »Ich« verschieben. Der Bezug auf ein »Wir« verschwindet nicht, aber er wird fragiler. Moderne Sozialordnungen werden deshalb nicht

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fortschreitend instabiler. Vielmehr stabilisieren sie sich durch Organisation (was von vielen Autoren, etwa Max Weber oder Adorno, als »Verlust« individueller Freiheitsspielräume beschrieben wird). Auf Gesellschaft insgesamt bezogen bezeichnet Vergesellschaftung von Sozialbeziehungen zweitens eine fortschreitende Kommodifizierung von Handlungsbereichen (und damit die Bindung von Sozialbeziehungen an Vertrag und individuelle Entscheidung). In dem Moment, in dem Handlungsbereiche weitgehend kommodifiziert, also marktförmig organisiert sind, können individuelles Kalkül, Berechnung, die »Kälte« der Sozialbeziehungen im Namen von Gemeinschaft kritisiert werden. Künstlerische, medizinische, wissenschaftliche Beziehungen können dann als »Geschäft« betrachtet (was sie ja auch sind), ihre Entwicklung kann als »Verfall« gezeichnet werden: Der Prozess der Individualisierung der Ehe erscheint in dieser kulturkritischen Perspektive als Niedergang, die Zunahme von Scheidungen kann unter dem Titel der »Ehe als Geschäft« kritisiert werden. Das lässt sich für alle sozialen Handlungsbereiche durchspielen, wenn diese Handlungsbereiche entsprechend vergesellschaftet sind. Mit anderen Worten: Die Ausdehnung des feindlichen Gegensatzes von »Völkern« und »Juden« auf soziale Handlungsbereiche hängt direkt ab vom Stand der Vergesellschaftung. Denn Vergesellschaftung bedeutet, dass Handlungsentscheidungen von Trägern individueller Rechte getroffen werden, ihre Gemeinschaftsverpflichtung deshalb unsicher wird. Entsprechend lässt sich für jeden vergesellschafteten Handlungsbereich zwischen einem der Gemeinschaft verpflichteten Handeln (»deutsch«) und einem nicht »unserer« Gemeinschaft verpflichteten, kalkulierenden, auf den individuellen Vorteil bedachten Handeln (»jüdisch«) unterscheiden. Wagner z.B. antwortet auf die Kommerzialisierung der Musik mit einer Kritik des Judentums in der Musik.62 »Der Jude« sei zur »Beherrschung des öffentlichen Geschmacks« (Wagner 2000: 153) gekommen, nachdem das Geld zum »wirklich machtgebenden Adel erhoben ward« (Wagner 2000: 153) und »der Jude« sich Zugang zur Bildung verschaffen konnte, deren 62 Die Erstpublikation des Textes 1850 (unter dem Pseudonym K. Freigedank) wurde kaum rezipiert (vgl. Fischer 2000a: 29f.). Der Grund für die erneute Publikation 1869 ist unklar, Katz (1985: 40) kommt zu der Einschätzung, dass der Text als »durchaus unzeitgemäß« galt. Fischer (2000b: 44) sieht gerade in der relativ ruhigen Phase zwischen 1850 und 1870 ein Motiv für die erneute Publikation des Textes, da Wagner die fortschreitende Integration der Juden mit erheblicher Wut erfüllt habe. Für diese Auffassung bringt er eine Reihe von Belegen aus den Briefen Wagners bei.

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»Teil […] auch unsere modernen Künste« (Wagner 2000: 155) geworden seien. »Der Jude« aber mache Musik nicht um der Musik willen – was er gar nicht könne, da ihm die Verwurzelung in »unserem Volk« fehle –, sondern um des Effekts, des eigenen Vorteils willen. »Der Deutsche« hingegen zeichne sich dadurch aus, dass in seinen künstlerischen Werken das »Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt« (Wagner 1975: 96).63 Einem Juden dagegen »wird […] die gefälligste Äußerlichkeit der Erscheinungen auf unserem musikalischen Lebens- und Kunstgebiete als deren Wesen gelten müssen, daher seine Empfängnisse davon, wenn er sie als Künstler uns zurückspiegelt, uns fremdartig, kalt, sonderlich, gleichgültig, unnatürlich und verdreht erscheinen, so daß jüdische Musikwerke auf uns oft den Eindruck hervorbringen, als ob z.B. ein Goethesches Gedicht im jüdischen Jargon uns vorgetragen würde« (Wagner 2000: 161).64 Die Weltanschaulichkeit des Antisemitismus im Sinne einer alle sozialen Handlungsbereiche umfassenden, antimodernen Kritik der Moderne ist ein Produkt der umfassenden Modernisierung. Das antisemitische Wissen erklärt Politik und Ökonomie, die Beziehungen der Geschlechter zueinander, die Lage der Kunst, die Entwicklung der Literatur und des Theaters usw. nach der Regel des Grundmusters in polaren Gegensätzen: Wissenschaft und Kunst, Literatur und Recht, Politik und Liebe, solange sie im Dienste eines »Volkes« betrieben werden, gelten als Ausdruck seines »Nationalcharakters«. Unschöpferisch, kalt und gemacht sind Wissenschaft, Literatur usw. 63 Deutsch sein heißt nach einem Aphorismus Wagners, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, sie nicht oder nicht vor allem als Mittel zu betrachten. 64 Wagners Antisemitismus ist wegen seiner anhaltenden Prominenz in einer inzwischen erheblichen Zahl an Publikationen erörtert worden. Vgl. für eine Interpretation, die nicht zuerst nach der Person und ihren Motiven fragt, sondern nach dem Beitrag Wagners zur Entwicklung des Antisemitismus Katz (1985), für eine stark personalisierende Interpretation, die den Antisemitismus Wagners auf seine Konkurrenz mit Meyerbeer zurückführt, exemplarisch Scholz (1993: 152; 160). In Fischer (2000: 199-358) findet sich eine ausgesprochen lesenswerte Auswahl von zeitgenössischen Reaktionen auf die Erst- wie die Zweitpublikation, u.a. von Gustav Freytag, dessen Entgegnung in die These mündet, dass die Eigenschaften, die Wagner den Juden zuschreibt, für ihn und sein Werk selbst zuträfen, so dass er »im Sinne seiner Broschüre […] selbst […] der größte Jude« (Freytag 2000: 271) sei.

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nicht, wenn sie von Angehörigen anderer »Völker« ausgeübt werden (dann sind sie höchstens nicht so »rein« und »durchgebildet« wie bei »uns«), sondern wenn sie von auf das Anti-Ethos des Eigennutzes und der Gemeinschaftszerstörung verpflichteten Juden praktiziert werden. Ich nenne zur Verdeutlichung nur einige Beispiele aus einem Text von Naudh (ein anderes gutes Beispiel ist Liebermann von Sonnenberg 1892: 13-22): »Der Jude« behandele Tiere »grausam« (37), suche in allem seinen Vorteil und mache auch aus dem »Sabbath ein Geschäft« (39), habe kein »ästhetisches Gefühl« (39), betrachte Familienmitglieder, Freundschaft und Ehe unter dem Gesichtspunkt von Vorteil und Geschäft (38-43), habe eine schlechte Moral (44ff.). »Von jüdischer Philosophie, jüdischer Wissenschaft, jüdischer Kunst oder schöner Literatur hat sich nichts in der Geschichte bemerkbar gemacht« (49-56, Zitat auf S. 49). »Der Deutsche« dagegen »hat das Bedürfniß, sein Leben nach allen Seiten zu entwickeln und zu vervollkommnen. Er sucht nur nebenbei äußeren Erfolg, und die ästhetische Befriedigung in seiner Existenz ist ihm Hauptsache. Er hat Ideale in seinen Beziehungen zum Staate, zu seiner Familie und zu seiner eigenen Person, die er zu verwirklichen strebt;  – die ganze Peripherie seines Lebenskreises ist ihm daher wichtig und er konzentriert all’ sein Interesse nicht so auf den einen Punkt des materiellen Erfolges, als der Jude. Er wird deshalb von diesem leicht überlistet« (56).65

5.6 Rassismus und Antisemitismus Seit etwa der Mitte des 19.  Jahrhunderts wird die Erzählung des Kampfes von »Völkern« und »Juden« in rassistische Deutungs65 Das Ergebnis kann nicht verwundern: Ein »normaler Staat« verlange »die Begrenzung des Eigennutzes durch Rücksicht auf die Gesammtheit […] und […] diese Rücksicht [müsse] in der Natur der Bürger liegen. Dem ist das jüdische Wesen, wie es sich uns entwickelt hat, entgegen. Eine Race, welche das Dogma vom auserwählten Volke erfunden hat, welche in ihrer Religion nur den Cultus des materiellen Nutzens übt, welche in ihrer Rechtsanschauung nur durch den Vortheil bestimmt wird, welche die sittlichen Kategorien arithmetisch behandelt, welche die Familie zu einem Gegenstande des Geschäfts macht und den Eigennutz als das Princip ihrer Existenz anerkennt, während sie doch die Arbeit haßt, eine solche Race ist jedem Staate zuwider« (Naudh 1861: 46). In der zehnten Auflage endet dieser Satz mit dem Zusatz: »und der Menschheit Feind« (Naudh 1879: 59).

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muster eingebunden. In der Antisemitismusforschung wird diese Veränderung unter dem Titel »rassistischer Antisemitismus« von einer weit überwiegenden Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als eine eigenständige Form antisemitischen Wissens begriffen.66 Diese Einschätzung wäre plausibel, wenn entweder sich die einander gegenübergestellten Grundgesamtheiten (»Völker« und »Juden«) verändern würden oder sich die Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit bzw. das Grundmuster der Zuschreibungen verändern würden. Ich werde in diesem Kapitel das Verhältnis von Rassismus zur Grundstruktur des modernen Antisemitismus diskutieren.67 66 Ich nenne an dieser Stelle exemplarisch ein Beispiel für diesen common sense: Fischer (2000b: 38) bezeichnet das antisemitische Feindbild Wagners als »frührassistisch«, da es »ein unveränderbares jüdisches Wesen hypostasiert«. Dies führt Fischer zu der Annahme, der Text von Wagner sei in sich widersprüchlich: »Zwischen dem deutlichen Frührassismus des Textes und dieser berüchtigten Schlußpassage, die im Vergleich damit eher wie eine versöhnliche Volte anmutet, klafft ein nicht zu überwölbender Abgrund« (Fischer 2000b: 39; vergleichbar auch für Wagner Large [2000, insbes. 154]). Nach der hier gleich entwickelten Argumentation handelt es sich um eine ethnische Festlegung von Zugehörigkeit und dem Grundmuster entsprechende Zuschreibungen. Was Fischer als »Abgrund« beschreibt, ist die von mir in Kapitel 4 erörterte Ambivalenz in der Assimilationsforderung. 67 Die Blutreinheitsgesetze in »Spanien« (das zu dieser Zeit kein Staat im modernen Sinn und auch kein einheitliches Reich war) gelten in der Literatur als »erste reale Vorform« (Fredrickson 2004: 46) bzw. als »erste Ausbildung« (Geulen 2007: 36, so auch Poliakov 1993: 160; Mann 2007: 77; Maccoby 2006: 30 [Maccoby begreift die Blutreinheitsgesetze als Phänomen, das der Unterscheidung zwischen vormodernem und modernem Antisemitismus zuwiderläuft]) des modernen Rassismus (ein Überblick über die in der Forschung vertretenen Positionen hinsichtlich der Frage, inwiefern jene Gesetze als Rassismus zu verstehen sind, findet sich in Hering Torres 2006: 205-210). Die ersten Blutreinheitsgesetze wurden 1449 in Toledo erlassen (Hering Torres 2006: 36ff.). Sie verboten »Neuchristen« den Zugang zu öffentlichen Ämtern. Nach einigen Verschärfungen musste die Herkunft über bis zu 21 Generationen nachgewiesen werden, vgl. Studemund-Halévy 2011: 56. Ohne hier detailliert auf einzelne Argumente einzugehen, ist doch festzuhalten, dass die Aufmerksamkeit, die den Blutreinheitsgesetzen als früher Form rassistischer Praxis zukommt, auf der Bedeutung beruht, die der Abstammung als Kriterium der Festlegung von Zugehörigkeit beigemessen wird. Da Abstammung erstens in einer ständischen Gesellschaft das zentrale Kriterium zur Besetzung sozialer Positionen darstellt und zweitens für die spanischen Blutreinheitsgesetzte gilt, dass die Möglichkeit einer »echten« Bekehrung nicht ausgeschlossen wurde (Fredrickson 2004: 65), scheint es angemessener, die Blutreinheitsgesetze nicht als frühe Form des Rassismus, sondern als Ethnisierung von Zugehörigkeit zu interpretieren – was im vormodernen Antisemitismus nicht unüblich war, vgl. dazu hier, Kapitel 3 und 4. Auch ist festzuhalten, dass das christliche Bekenntnis und die Festlegung

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Im Ergebnis wird sich zeigen, dass sich durch die Integration von Rassismus und Antisemitismus weder die Regel der Festlegung von Zugehörigkeit durch Abstammung wandelt noch das Grundmuster der Zuschreibungen. Der rassistische Antisemitismus ist deshalb nicht als eigenständige Form von den bisher entwickelten Formen zu unterscheiden, sondern stellt eine Variation derselben dar – Klaus Holz hat ihn als »Variation der Regel der Ethnisierung« (Holz 2001: 355) bezeichnet.68 Die Regel der Zugehörigkeit ist bei »Rasse« und bei »Volk« dieselbe: Abstammung. Deshalb taucht auch der Terminus »Race« im Antisemitismus nicht erst in der Mitte des 19.  Jahrhunderts auf, sondern schon im späten 18. Jahrhundert bei Michaelis. »Race« bezeichnet bei den frühen Antisemiten eine Regel der Festlegung von Zugehörigkeit durch Abstammung. Und in genau dieser Weise wird er auch im späten 19. Jahrhundert verwendet.69 von Zugehörigkeit durch Abstammung in einer strukturellen Spannung stehen, weil damit die Taufe als Ausdruck des Bekenntnisses zum christlichen Gott »aufgeweicht und untergraben« (Geulen 2007: 35) wird und eines der zentralen Dogmen, die Gleichheit der Gläubigen vor Gott, unterlaufen wird. Eine Besonderheit der Situation in Spanien ist sicherlich, dass Zwangsbekehrungen ein erhebliches Ausmaß hatten (bis zu einer halben Million zwangsbekehrter Juden), was zur Folge hatte, dass eine große Zahl der Zwangsbekehrten tradierte Lebensstile beibehielt, d.h. die sogenannten »Neuchristen« zwar dem Glauben nach Christen, dem Lebensalltag nach aber Muslime und Juden waren. 68 Vgl. auch Léon Poliakov, Christian Delacampagne und Patrick Girard, die zwischen einer soziologischen und einer biologischen Bedeutung von Rasse unterscheiden. In einem biologischen Sinn bezeichnet Rasse die zunächst physiologisch, also phänotypisch, dann genetisch bestimmte Differenz von Personengruppen. In der soziologischen Bedeutung bezeichnet der Terminus eine »Gruppe von Menschen, denen man einen gemeinsamen Ursprung und infolgedessen gemeinsame Züge – geistige wie körperliche – zuschreibt. In der Regel sind diese Merkmale, besonders wenn es sich um geistige handelt, bei der Rasse, der man sich selbst zugehörig glaubt, gut, bei anderen Rassen aber tadelnswert oder sogar verabscheuungswürdig« (Poliakov/Delacampagne/Girard 1984: 12). Zentral für diese Bedeutung von Rasse sei »der Glaube an einen gemeinsamen und besonderen Ursprung, ein Glaube, der häufig eine Haltung der Feindseligkeit oder Verachtung in Bezug auf eine andere Gruppe mit sich bringt – und eben das ist Rassismus« (Poliakov/ Delacampagne/Girard 1984: 13; vergleichbar auch Geiss 1988: 15). Nach Poliakov, Delacampagne und Girard erzeugt (explizit: 1984: 29) der Rassismus durch seine Zuschreibungen Rassen. Weil der soziale Sinn dieser Zuschreibungen in der wertenden Unterscheidung einer eigenen von anderen Gruppen gesehen wird, wird Rassismus entsprechend als eine biologische Version des Ethnozentrismus (Poliakov/Delacampagne/Girard 1984: 39; Delacampagne 2005: 9) verstanden. 69 Vgl. als exemplarisches Beispiel Böckel (1889: 3 und 1901: 25, 27) oder Stoecker (2004b: 40, 2004a: 21).

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Auf der anderen Seite wandelt sich das antisemitische Wissen durch die Integration von Rassismus: Sie ermöglicht erstens, »Volk« in eine die Geschichte der Menschheit von Anbeginn an umfassende Geschichte von Abstammungsgemeinschaften (»Rassen«, »Stämmen« und »Völkern«) einzubetten und diese durch die Definition eines identischen Entwicklungsprinzips (»survival of the fittest«) an die Naturgeschichte anzuschließen. In diesem Sinne ist Rassismus ein Fortschritt in der innerweltlichen Historisierung der früheren Heilsgeschichte, der Natur und Kultur insgesamt in ihrer Entwicklung als fortschreitenden Prozess verbesserter Anpassung durch Spezialisierung innerweltlich deuten und aus einem Entwicklungsprinzip verstehen kann. Zweitens verbindet Rassismus Natur und Kultur in spezifischer Weise: Er ordnet Merkmale und Eigenschaften Abstammungsgemeinschaften zu  – »jüdisches Blut und jüdischer Sinn« (Naudh 1861: 24) werden »untrennbar«, der »jüdische Körper« an seinen Merkmalsausprägungen identifizierbar und vom »arischen Körper« unterscheidbar. Drittens macht die Entdeckung der Prinzipien der Vererbung den wissenschaftlich kontrollierten Eingriff in die Entwicklung der Arten, der Pflanzen, Tiere, und »Völker« möglich. Die Verknüpfung von körperlichen und sozialen Eigenschaften mit der Geschichte von Abstammungsgemeinschaften ist Teil eines umfassenden Wandels des Verständnisses von Natur und Kultur, an dessen Ende der biologische Körper zum Objekt politischer Maßnahmen wird. Das schon der Völkergeschichte zugrunde liegende Entwicklungsmodell, d.h. die Annahme einer fortschreitenden Verbesserung des eigenen »Volkes« insbesondere durch die auf das Gemeinschaftsethos verpflichtete Arbeit der Angehörigen des Ethnos, sattelt sich zu einem Züchtungsmodell, in dem die Verbesserung der Anlagen des »Volkes« administrativem Eingriff zugänglich wird. »Völker« werden, wie andere Naturobjekte auch, zum Objekt von positiver (»Auslese«) und negativer (»Ausmerzung«) Züchtung  – mit den entsprechenden Folgen für »minderwertige« Ausgangsprodukte. Der Nationalsozialismus unterscheidet sich von anderen industrialisierten Staaten nicht durch den eugenischen Bezug auf »Volk«, sondern wesentlich dadurch, die entsprechenden Maßnahmen (Sterilisationsprogramme usw.) radikaler (Tötungsprogramme) umgesetzt und auf »Völker« bzw. »Rassen« angewendet zu haben (Ermordung der Juden). Viertens verbinden sich Rassismus und das Grundmuster des modernen Antisemitismus in einer veränderten Bewertung der Assimila-

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tion der Juden. Im frühen 19. Jahrhundert hatte man noch die »Vermischung« von »deutschem« und »jüdischem« Blut zum Zweck der vollständigen Assimilation der Juden gefordert – ich erinnere an den in der Einleitung zitierten Geheimen Oberregierungsrat Karl Streckfuß. Der Rassismus nimmt fast durchgängig an, dass »Vermischung« nur bei nahestehenden »Rassen« zu »hochwertigen« Nachkommen führt, im Falle von weit entfernten »Rassen« oder der Vermischung mit einer so verwerflichen »Rasse« wie »den Juden« aber zu »Bastardisierung«. Deshalb läuft diese Variante des modernen Antisemitismus grundsätzlich auf Trennung der Gruppen bzw. Vertreibung hinaus. Ich erörtere in einem ersten Schritt die Entstehung des modernen Begriffs der »Rasse« (5.6.1), im Anschluss werde ich die genannten Aspekte der rassistischen Variante des modernen Antisemitismus an einem Beispiel diskutieren und dabei einen Schwerpunkt auf die Diskussion der Beziehung von »Volk« und »Rasse« legen (5.6.2). Ein klarer Begriff von Rassismus ist von besonderer Bedeutung. Nicht nur in der öffentlichen Diskussion besteht eine »Konfusion darüber […], was als rassistisch zu bezeichnen sei, was als fremdenfeindlich, was als nationalistisch, was als antisemitisch, was als ethnozentrisch oder xenophob« (Claussen 1994: 1). Vielfältig70 und gelegentlich auch inkohärent71 ist auch das wissenschaftliche Verständnis davon, was unter Rassismus im Allgemeinen und rassistischem Antisemitismus im Besonderen zu verstehen ist.72 Ein Grund dafür 70 Fast jede Abhandlung zu Rasse und Rassismus betont die Schwierigkeit, das Phänomen begrifflich zu fassen sowie die Unterschiedlichkeit dieser Versuche (vgl. exemplarisch Claussen 1994: 2; Geiss 1988: 9). 71 Exemplarisch Geiss 1988: 180ff.: Geiss spricht für das ausgehende 19. Jahrhundert von einem ›sich zunehmend rassistisch artikulierenden Antisemitismus‹ (Geiss 1988: 180), aber auch von seiner Formierung als ›moderner christlicher oder unterschiedlich (nach extrem rechts bzw. extrem links säkularisierter Fundamentalismus‹ (Geiss 1988: 183). Andere Autoren unterstellen, dass die Leserinnen und Leser schon wüssten, was gemeint sei, wenn von rassistischem Antisemitismus die Rede sei. Katz (1989) etwa hat zwar ein Kapitel zum Rassismus, kommt aber ohne eine Diskussion des Begriffs aus – so auch Berding (1988). 72 Definitionsversuche führen oft auf theoretische und vor allem auf empirische Schwierigkeiten, weil sie aufgrund der Breite der Verwendung und Bedeutung von »Rasse« und »Rassismus« den Begriff entweder zu weit oder zu eng bestimmen. Ich erläutere dies exemplarisch an zwei Beispielen: Geiss bestimmt Rassismus näher durch fünf Elemente (Geiss 1988: 27-34). Rassismus sei erstens

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ist, dass »Rasse« seit dem 18. Jahrhundert auf die unterschiedlichsten Grundgesamtheiten bezogen wird, und zwar nicht nur von verschiedenen Autoren, sondern normalerweise auch von demselben Autor.73 »So gut wie jede denkbare Gemeinschaft ist bereits als Rasse beschrieben worden: Familien, lokale, regionale und kontinentale Bevölkerungen, die Menschheit als Ganzes, Nationen, Völker und Staaten, Kulturen, Religionsgemeinschaften und ethnische Gruppen, aber auch Klassen, Schichten und Eliten, sowie Männer, Frauen oder Homosexuelle  – die Liste ließe sich verlängern. Es sind nicht zuletzt diese Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Rassebegriffs, die dem Rassismus seine hohe Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit garantiert haben« (Geulen 2007: 15). »Rassen« gibt es offenbar in erheblicher Anzahl. Man kann dies als Inkonsistenz verbuchen und, da diese Inkonsistenz typisch für das antisemitische Wissen der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ist, zu der Auffassung gelangen, »deutschvölkischer Idealismus und sozialdarwinistischer Biologismus« hätten sich »im Bewußtsein der Antisemiten zu einem unvergorenen Gebräu widersprüchlicher Gedanken« (Berding 1988: 148; vgl. auch Berding 1999: 95) vermischt. von der Xenophobie »klar […] zu unterscheiden«, aber auch »eine auf ganze ›Rassen‹ bezogene Fremdenfeindschaft, eine moderne Variante der Xenophobie« (Geiss 1988: 28). Zweitens sei einer der »elementarsten Faktoren, die Rassismus hervorbringen können, […] die Verweigerung des Konnubiums« (Geiss 1988: 29), drittens sei ein Charakteristikum des Rassismus die Idee der Blutreinheit. Viertens sei für Rassismus »Ethnozentrik« charakteristisch, die aber schwer von der Xenophobie zu trennen sei. Unter Ethnozentrik versteht Geiss die Höherschätzung des eigenen Personenverbands im Vergleich zu anderen. Während die »Ethnozentrik eine ganz normale, weil überall und zu allen Zeiten anzutreffende Haltung von Völkern« sei, blähe sich der »Rassismus zu einer Super-Ethnozentrik für eine ganze ›Rasse‹ auf« (Geiss 1988: 33). Schließlich habe die Sklaverei eine rassismusfördernde Wirkung. Am Ende dieser Charakterisierung hat die Klarheit der Unklarheit Platz gemacht  – von Xenophobie sei der Rassismus zu unterscheiden, er sei aber auch ihre Steigerung usw. Für Christian Geulen verweisen so unterschiedliche Phänomene wie z.B. »die ausländerfeindlichen, antisemitischen oder antimuslimischen Stimmungen und Übergriffe in Europa« oder die »strukturelle Diskriminierung der Schwarzen in den USA […] in so unterschiedlicher wie signifikanter Weise auf die Geschichte des Rassismus« (Geulen 2007: 8f.). Wenn die unterschiedlichsten Praxen von Diskriminierung auf Rassismus verweisen, dann ist der Begriff zu weit gefasst. 73 Schon Kant weist auf die Vieldeutigkeit der Verwendung hin (Kant 1993b: A 390).

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Auch wenn eine solche Deutung nach wie vor vertreten wird – Berding ist nicht der Einzige, der zu diesem Ergebnis kommt  –, halte ich es für sinnvoll, zunächst nach dem Sinn und dem Grund für die unterschiedliche Verwendung von »Rasse« zu fragen. Findet die Antwort Sinn und Grund, wäre der wissenschaftliche Gewinn nicht geringzuschätzen: Wenn man die Regel kennt, nach der das »Gebräu« zustande kommt, ist es in ein  – vielleicht schlecht bekömmliches  – Getränk verwandelt, das sich vom Gebräu dadurch unterscheidet, dass man seine Rezeptur angeben kann. Ich ziehe also aus der Unterschiedlichkeit der als Rasse bezeichneten Personengruppen wie Christian Geulen (2007: 16 u.ö.) die Konsequenz, begriffliche Klarheit aus der Entwicklung des historischen Problems zu gewinnen, auf das »Rasse« und »Rassismus« antworten. Eine solche Untersuchung kann gegen die These Geulens (und anderer) zeigen, dass der Rassebegriff keineswegs »vieldeutig« verwendet wird, sondern eindeutig.74 Uneindeutig oder »dehnbar« ist der Rassebegriff nur 74 »Vieldeutigkeit« scheint mir nur in einer, von den Vertretern der genannten These aber gerade nicht gemeinten, Hinsicht gegeben: Alle Rassisten ordnen mit »Rasse« Personen Abstammungsgemeinschaften zu, aber nicht alle Rassisten bringen die körperlichen oder sozialen Eigenschaften, die diesen Abstammungsgemeinschaften zugesprochen werden, in eine Hierarchie, und nicht alle, die sie in eine Hierarchie bringen, behaupten, dass Vermischung von Übel sei. Vgl. zur Vielfalt der Verwendung Breuer (2008: 31f., insbes. S. 32, Fn 38, Fn 39), im Protestantismus Heinrichs 2000: 682f., im Hinblick auf Juden die Interviews in Bahr 1979, insbesondere mit Moritz von Egidy, Ernst Häckel, Adolph Wagner und dezidiert antirassistisch mit Heinrich Rickert. Zur Verdeutlichung der Bedeutungsvielfalt und der Normalität der Verwendung von »Rasse« einerseits und der Eindeutigkeit des Terminus andererseits zwei exemplarische Beispiele: Rudolf Virchow, ein durch und durch Liberaler und sowohl wissenschaftlicher wie politischer Kritiker des Rassismus, diskutiert in Rassenbildung und Erblichkeit die Fragen nach der Entstehung und Klassifikation von menschlichen Rassen und den Mechanismen der Vererbung auf dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit – mit dem Ergebnis, dass die Frage der Rassenbildung beim Menschen bis heute nicht zu beantworten sei (vgl. Virchow 1896: 41). Die Annahme, es gäbe eine weiße, gelbe und schwarze Rasse (Virchow 1896: 13), ist für Virchow so unproblematisch wie die Annahme, Juden bildeten eine »nationale Rasse« (Virchow 1896: 3). Virchow meint damit, dass Juden in einer auf »theokratischem Boden« erwachsenen »verhältnismässigen Abgeschlossenheit« gelebt hätten, in der sich »einzelne Stämme« und »einzelne Familien« ausgebildet hätten, die »große Verschiedenheit« (Virchow 1896: 3) aufwiesen. Virchow, neben Theodor Mommsen der heute bekannteste Gegner Treitschkes im Berliner Antisemitismusstreit, nimmt dem zeitgenössischen Diskurs entsprechend an, dass die Schädelform ein Rassemerkmal sei und führt im ausgehenden 19. Jahrhundert eine große Untersuchung an »arischen« Schülern (Juden und Ausländer [nicht aber: Österreicher, Schweizer, Belgier] waren ausgenommen, da keine »Arier«)

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in einer Hinsicht, nämlich im Hinblick auf die damit bezeichnete Abstammungsgemeinschaft (»Familie«, »Indogermanen«, »Weiße« usw.). Diese Unbestimmtheit ist jedoch nicht das Problem, sondern eine zentrale Leistung des Terminus »Rasse«.

5.6.1 Der moderne Begriff der »Race« Die Rassenidee entsteht »an einer Wende der Zeiten; ihr Aufgang ist eine Teilerscheinung in einem umfassenden geschichtlichen Prozeß, der für uns bezeichnet ist durch den Wandel der Urbilder vom Menschen« (Voegelin 1933: 1). Mit »Rasse« wird im 15. (Geulen 2007: 14) bzw. 16.  Jahrhundert (Conze 1984: 135ff.) beim Menschen die edle Abstammung von einer Familie, bei Tieren  – insbesondere in der Pferdezucht  – die Qualität des Züchtungsprodukts bezeichnet, bestimmte Eigenschaften, die das »rassigere« Geschlecht oder das zur Schädelform durch. Virchow war – wie gesagt – liberal. Konsequent fordert er die »Rassenmischung« von »Ariern« und »Semiten«. Der frühe Max Weber, zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied des Alldeutschen Verbandes, ist in seiner Antrittsvorlesung der Auffassung, dass die Scheidung von Deutschen und Polen auf eine »auf physischen und psychischen Rassenqualitäten beruhende Verschiedenheit der Anpassungsfähigkeit der beiden Nationalitäten an die verschiedenen ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen« (Weber 1993: 548) zurückgehe. Dass sich die polnischen Bauern in »Gegenden mit tiefem Kulturstand« vermehrten, sei auf die »niedrigeren Ansprüche an die Lebenshaltung« zurückzuführen, »welche der slawischen Rasse von der Natur auf den Weg gegeben oder im Verlaufe ihrer Vergangenheit angezüchtet sind« (Weber 1993: 551). Im Unterschied zum deutschen Bauern gewinne der polnische an Boden »nicht trotz, sondern wegen seiner tieferstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten« (Weber 1993: 553). Weber resümiert diese Überlegung wie folgt: »Nicht immer  – das sehen wir  – schlägt, wie die Optimisten unter uns meinen, die Auslese im freien Spiel der Kräfte zu Gunsten der ökonomisch höher entwickelten oder veranlagten Nationalität aus. Die Menschengeschichte kennt den Sieg von niedriger entwickelten Typen der Menschlichkeit und das Absterben hoher Blüthen des Geistes- und Gemütslebens, wenn die menschliche Gemeinschaft, welche deren Träger war, die Anpassungsfähigkeit an ihre Lebensbedingungen verlor, es sei ihrer sozialen Organisation oder ihrer Rassenqualitäten wegen« (Weber 1993: 554). Weber, der diese Auffassung spätestens 1904 revidiert hat (vgl. Weber 1988 b: 167f.), verwendet den Begriff »Rasse« offensichtlich in einer anderen – und für Virchow befremdlichen – Weise; er hat bei ihm die Funktion, Geschichte als Auseinandersetzung von unterschiedlich ausgestatteten Personenverbänden verständlich zu machen. In einem aber sind sich beide einig: »Rasse« legt die Zugehörigkeit von Personen zu Gruppen fest. Was Virchow und Weber unterscheidet, sind die liberalen (Virchow) und illiberalen (Weber) Konsequenzen, die daraus gezogen werden.

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»rassigere« Pferd vor anderen auszeichnen.75 »Rasse« kennzeichnet in dieser Bedeutung nicht eine Eigenschaft, sondern eine Unterscheidung, eine Relation von Eigenschaften – die Rede von einem »edlen« Geschlecht, einem »edlen« Hengst hat Sinn nur im Hinblick auf die Unterscheidung des edlen vom weniger edlen. »Rasse« verweist auf Abstammung (»das edle Geschlecht«), das zentrale Kriterium zur Festlegung von sozialen Positionen in jener Zeit. Seit etwa dem 18.  Jahrhundert werden die vorwissenschaftliche Bedeutung von »Rasse« und die wissenschaftliche Verwendung der Bezeichnung verbunden. Die wissenschaftliche Verwendung ist ein Produkt der Transformation des Weltverständnisses, das im Kern auf drei sozialhistorische Prozesse reagiert, erstens auf die mit der Entdeckung und Kolonisierung der außereuropäischen Welt insbesondere durch Reiseberichte zunehmende Kenntnis der Verschiedenartigkeit und Unterschiedlichkeit menschlicher Lebensweisen und der physiognomischen Unterschiede zwischen Menschengruppen, zweitens auf die im letzten Kapitel an »Volk« schon erörterte Historisierung des Weltverstehens in einer Entwicklungsvorstellung (Kern der Rassekonzepte ist die Historisierung der Schöpfungsgeschichte zur Naturgeschichte), drittens auf die Auflösung der ständischen Gliederung sozialer Ordnungen. In den Reisebeschreibungen und den Bildern der »Wilden« werden Fremdheitserfahrungen, Legitimationen von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung in der außereuropäischen Welt und Kritiken der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft in Europa (z.B. Montaignes gute Wilde) artikuliert. Solche  – heute würde man sagen: ethnografischen – Beschreibungen verbinden sich im 18. Jahrhundert mit naturwissenschaftlichen Versuchen, pflanzliches und tierisches Leben 75 Zum Folgenden vgl. Conze 1984, Geulen 2007, Geulen 2004, Geiss 1988, Delacampagne 2005, Mosse 1996, Poliakov 1993, Voegelin 1933, Fredrickson 2004, Miles 1991. Die genannten Autoren unterscheiden sich a) in der Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem von Rassismus bzw. modernem Rassismus gesprochen werden kann (Poliakov etwa lässt einen »diffusen Volksrassismus« mit der Geschichte der Menschheit selbst beginnen [Poliakov 1993: 169], Geiss 1988 setzt ihn in der Antike an, Fredrickson 2004 im 14./15.  Jahrhundert, Mosse 1996, Voegelin 1933, Geulen 2004 und 2007 sowie die Mehrzahl der Autoren im 18.  Jahrhundert), b) in der Gewichtung der einzelnen Momente und c) in deren Rückführung auf sozialhistorische Prozesse. Da es mir hier nicht um eine Geschichte des Rassismus, sondern um die Einbettung des Antisemitismus in Rassismus im ausgehenden 19. Jahrhundert geht, beschränke ich mich auf eine knappe Darstellung der dafür relevanten Entwicklung und verzichte auf eine Diskussion der Plausibilität einzelner Argumente der genannten Autoren.

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einer einheitlichen und systematischen Klassifikation zu unterwerfen. Die phänotypisch angelegten frühen Klassifikationen – etwa die von Linné 1753 – versuchen noch, religiöses und naturwissenschaftliches Weltverständnis in Einklang zu bringen. Die in der Diskussion der Zoologen und Botaniker im 18. Jahrhundert vorherrschende Auffassung geht von der Artkonstanz aus, d.h. davon, dass jede Spezies eine Einheit darstellt, die gleichartige Nachkommen erzeugt. Ursprung der Spezies ist Gott (vgl. Voegelin 1933: 24ff.; 38). So verhält es sich zunächst auch bei der phänotypischen Klassifikation von Menschengruppen – mit einem Unterschied: Die Klassifikation von Menschenrassen etwa bei Buffon trennt nicht zwischen körperlichen Merkmalen und sozialen und kulturellen Merkmalen. Neben augenfälligen Kriterien, z.B. Körpergestalt oder Hautfarbe, gehen Annahmen über kulturelle und soziale Eigenheiten von Gruppen in die Klassifikation ein. Voegelin erklärt dies damit, dass Körper und Geist noch nicht als unterschiedliche Seinsbereiche begriffen werden (Voegelin 1933: 51; vergleichbar Geulen 2007: 37),76 entsprechend werden auch keine Beziehungen zwischen einer menschlichen Natur und kulturellen, sozialen und individuellen Eigenschaften der Träger dieser Natur hergestellt. Doch schon bei Buffon, dem frühen Vertreter der monogenetischen Position, sind die unterschiedlichen menschlichen Rassen in eine Ordnung gebracht  – die exotischen Typen stellen eine Abweichung von der Norm dar. Die Norm bestimmt sich durch die eigene Lebenswelt, d.h. als Norm gilt der nordwestliche Mitteleuropäer. Mit anderen Worten: Die Klassifikationen menschlicher Rassen orientieren sich an Phänotypen, in denen klassifizierende Beobachtung und Norm verschmelzen – George L. Mosse (1996) hat in seiner Geschichte des Rassismus überzeugend gezeigt, dass das Schmelzprodukt ein ästhetisches Ideal ist, welches auf das griechische Schönheitsideal zurückgeht. Mit der Auffassung, es gebe verschiedene Menschenrassen, entsteht unter der Bedingung des Postulats der Artkonstanz ein Problem, das die gelehrte Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Dynamik der weiteren Entwicklung von Rassentheorien bestimmt: Gilt die Schöpfungsgeschichte, muss die Differenz der Menschenras76 Eben deshalb können neben klassifizierenden Auffassungen von Rassen problemlos historisierende stehen, die im frühen 18.  Jahrhundert den Vorrang des Adels erklären (vgl. dazu Geulen 2007: 48). Auf die Tradition ständischer Differenzierung führt Anderson (1983) die Entstehung des modernen Rassebegriffs zurück.

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sen ein Resultat sein – die Antwort der monogenetischen Position (wie sie neben Buffon etwa von Blumenbach oder Kant vertreten wird) verweist insbesondere auf das Klima als Hauptfaktor der Differenzierung (eine Position, auf die noch im ausgehenden 19.  Jahrhundert Bezug genommen wird, vgl. etwa Virchow 1896). Die Antwort der polygenetischen Position nimmt dagegen das Prinzip der Artkonstanz ernst und geht davon aus, dass menschliche Rassen nicht einen Ursprung, sondern mehrere Ursprünge haben. Während die erste Position den Entwicklungsgedanken, die Geschichtlichkeit in das Rassenkonzept integriert und damit eine Voraussetzung der späteren Entwicklungstheorien bildet, stellt die zweite de facto einen massiven Angriff auf die Schöpfungstheorie dar, da sie diese nur noch mit Hilfsannahmen aufrechterhalten kann und damit deren Historisierung befördert. Beiden Positionen gemeinsam ist die Historisierung der Körper, also ein Ansatz zur Transformation der Schöpfungsgeschichte in Naturgeschichte. Bei Blumenbach und vor allem bei Kant wird ein weiterer Schritt hin zur modernen Auffassung von »Rasse« vollzogen, die Trennung von Natur und Kultur. Diese Trennung ist die Voraussetzung dafür, dass menschliche Rassen als natürliche Einheiten begriffen werden können  – und in der Folge Beziehungen zwischen naturaler und sozialer Einheit, zwischen Abstammungsgemeinschaft und sozialen Eigenschaften, hergestellt werden können. Das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gattung ist für Kant die Fähigkeit zur Zeugung fruchtbarer Nachkommen; alle Menschen gehören danach einer Gattung an. Rassen entstehen durch das »ungestörte« Wirken der »Natur«, d.h. durch die sexuelle Reproduktion abgeschlossener und nicht »vermischter« Völker (Kant 1993a: B133).77 Kant beschränkt den Terminus ganz auf erbliche Naturphänomene78 (Statur, Haut77 Kant unterscheidet vier Rassen, die »Rasse der Weißen«, »die Negerrasse«, die »hunnische Rasse« und die »hinduische Rasse«, aus denen er ›alle übrigen erblichen Völkercharaktere‹ (Kant 1993a: B 134f.; vgl. 1993b: A 394f.) ableitet. Auch für Kant gilt, dass der Begriff Rasse auf Grundgesamtheiten unterschiedlicher Größe (z.B. Weiße und einzelne weiße Völker; die vier Rassen gelten auch aus »Gattungen«, die in Rassen untergliedert werden [exemplarisch: Kant 1993a: B160]) Anwendung findet. Abseits davon ist der Kant’sche Text weit vor seiner Zeit, insofern er die Entwicklung von Arten in der Zeit als naturgeschichtlichen Prozess ihrer Veränderung diskutiert (allerdings von Anlagen, die in der Art angelegt sind) und schließlich eine »Geschichte der Natur« fordert, um das Phänomen besser verstehen zu können (Kant 1993a: B 164). 78 »Der Begriff einer Rasse ist also: der Klassenunterschied der Tiere eines und desselben Stammes, so fern er unausbleiblich erblich ist« (Kant 1993 b: A 406f.).

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farbe usw.) und macht für die Unterschiede das Klima (Kant 1993b: A 404) verantwortlich.79 Von den physischen Eigenheiten einer Gruppe (Gattung, Stamm, Rasse, Menschenschlag) unterscheidet Kant den Volkscharakter. »Volk« bezeichnet eine »in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, in so fern sie ein Ganzes ausmacht« (Kant 1995: B 295).80 Die Ganzheit dieser Menge, der »Volkscharakter«, kann Produkt kultureller Entwicklung einer Gruppe sein (Franzosen und Engländer) oder Produkt von Vermischungen (Spanier, Italiener, Deutsche; vgl. die Charakteristik der europäischen Völker in Kant 1995: B 299ff.). Kant verbindet die historisch-genealogische Einheit »Volk« mit bestimmten physiologischen und psychologischen Eigenschaften, die Griechen etwa hätten eine bestimmte Sinnesart (»Lebhaftigkeit und Leichtsinn«) und eine bestimmte »Gestalt und Gesichtszüge« (Kant 1995: B 310).81 Die Geschichte der »Völker« verkörperlicht sich in der Geschichte ihrer Angehörigen, die ebenfalls als Entwicklungsprozess gedacht werden kann. Geschichte wird zur innerweltlichen Geschichte von »Völkern« und »Rassen«, deren physiologische und soziale Eigenschaften zu einem Produkt von Geschichte, das die Voraussetzung weiterer Entwicklung bildet. In der Kant’schen Charakteristik der Völker schwingt ein ästhetisches Ideal nicht nur mit, es bildet vielmehr ihr Fundament – was in der Charakterisierung der Schwarzen und Indianer in den früheren Schriften noch deutlicher wird.82 Kant fällt dabei keineswegs aus dem Rahmen, im Gegenteil: seine Formulierungen sind eher moderat. Die 79 Konsequent besteht für ihn »die größte Schwierigkeit« darin, das Phänomen zu erklären, dass ähnliche Klimazonen von unterschiedlichen Rassen besiedelt werden. 80 Zeittypisch begreift Kant die Sprache als das Medium der Ausbildung des »Volkscharakters«, vgl. Kant 1995: B 297. 81 Kant beendet den Gedanken mit einer These, die Gobineau 50 Jahre später in das Zentrum seiner Überlegungen stellt: »So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urteilen: daß die Vermischung der Stämme (bei großen Eroberungen), welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht, alles vorgeblichen Philanthropismus ungeachtet, nicht zuträglich ist« (Kant 1995: B 311). 82 Wenn auch die These, Kant argumentiere rassistisch (Hund 1999: 110-126, dort auch ein Überblick über die entsprechenden Passagen bei Kant), einer praktischen Philosophie, die an der vernünftigen Bestimmung des freien Willens von Individuen ansetzt, nicht ganz gerecht wird, so ist doch die Biologisierung von Eigenschaften in der Abstammungsgemeinschaft »Volk« nicht von der Hand zu weisen.

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Annahme, die Europäer seien die Krone der menschlichen Spezies, reflektiert eine Kolonialgeschichte, in der nicht die außereuropäischen Völker Europa, sondern Europäer diese kolonisiert haben. Die Hierarchisierung der Rassen ist weniger der »sozialen Integration antagonistischer Klassen« (Hund 1999: 125) verpflichtet  – dies ist kein Problem agrarisch strukturierter Gesellschaften im ausgehenden 18. Jahrhundert –, sondern sie erklärt, d.h. legitimiert die Praxis kolonialer Ausbeutung. In der Charakterisierung von Völkern als Rassen verbinden sich kulturgeschichtliche und sozialgeschichtliche Transformation zu einer neuen Wissensformation: Frühere Rassetheorien erklären die Vorrangstellung des Adels. Aus der Legitimation der Vorrangstellung des Adels, ich habe das in Kapitel 3 erläutert, entwickelt sich das Selbstbild der historisch-genealogischen Gemeinschaft eines »Volkes« von Gleichen. Die Legitimation einer sozialen Hierarchie (das edle Geschlecht) wandelt sich zu einer Hierarchie von »Völkern«. Rassismus verbindet den physischen »Volkscharakter«, ein Set von körperlichen Merkmalen und Eigenschaften (Schädelform usw.), mit den Angehörigen eines Volkes in dessen historischer Genealogie: Abstammungsgemeinschaften (»Völker«) entwickeln sich historisch in ihrer physischen und psychischen Besonderheit durch Abschließung (ethnische Homogenisierung) und Mischung (ethnische Pluralisierung), durch die in der historischen Zeit neue, ethnisch homogene Einheiten entstehen. Weil physischer und psychischer »Volkscharakter« in der historischen Genealogie des »Volkes« verbunden werden  – ich habe darauf hingewiesen, dass diese Verbindung sich schon bei Grattenauer in der Unterscheidung von angeborenen und erworbenen Eigenschaften findet –, können die Frage nach der Beziehung von Angehörigen unterschiedlicher Völker und die Frage nach der unterschiedlichen Verteilung von physischen Merkmalen und psychischen wie sozialen Eigenschaften im eigenen Volk unter dem Gesichtspunkt der Züchtung gestellt werden: Ist das Produkt der Kombination eines Angehörigen von Volk A mit einer Angehörigen von Volk B »höherwertiger« oder »minderwertiger« als seine Voraussetzungen? Im ausgehenden 18. und frühen 19.  Jahrhundert wird dieser für die späteren Rassenkonzepte entscheidende Entwicklungsschritt vollzogen. An die Stelle der Schöpfungstheorie und die Annahme, die Entwicklung unterschiedlicher Menschenrassen sei eine Folge des Umgangs mit externen Umweltbedingungen, tritt zunehmend die

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Auffassung, Rassen entwickelten sich nach inneren Prinzipen (und nicht zufällig tritt in der Romantik an die Stelle der Auffassung der Erziehbarkeit des Menschengeschlechts zunehmend die der Bildung desselben). Dies war der Grundgedanke Lamarcks.83 Mit ihm stand die Tür offen für die reflexive Anwendung der Idee einer fortschreitenden Entwicklung von »Völkern« auf diese selbst durch Züchtung. Aufgestoßen wird die Tür durch Historisierung: In dem Moment, in dem Körper und Eigenschaften als Produkt historischer Entwicklung verstanden werden können, sind sie zugleich veränderbare Voraussetzungen weiterer Entwicklung, eine historische Bestandsaufnahme in einem prinzipiell unabschließbaren Progress. Mit der Evolutionstheorie Darwins wird jene Tür durchschritten: Nach Darwin vollzieht sich die Entwicklung der Arten vom Niederen zum Höheren, das Prinzip der Entwicklung ist jedoch kein den Arten innewohnendes Telos, sondern der evolutive Mechanismus der Konkurrenz: Variationen ermöglichen Arten, die in beständiger Konkurrenz um knappe Güter stehen, sich besser an Umweltbedingungen anzupassen. Motor der Evolution ist die Konkurrenz, d.h. der Selektionsdruck, Mittel die Variation. Die am besten angepasste Art erweist sich als die stärkere. Die Übertragung einer aus dem naturwissenschaftlichen Bemühen um eine wissenschaftliche Erklärung der Ausprägung und Entwicklung des Lebens in der Welt gewonnenen Theorie auf das historische Verhältnis von »Völkern« zueinander wurde praktisch sofort und mit durchschlagendem Erfolg vollzogen. Darwin selbst hat sich in dieser Weise geäußert: »With savages, the weak in body or mind are soon eliminated; and those that survive commonly exhibit a vigorous state of health. We civilised men, on the other hand, do our utmost to check the process of elimination; we build asylums for the imbecile, the maimed, and the sick; we institute poor-laws; and our medical men exert their utmost skill to save the life of every one to the last moment. There is reason to believe that vaccination has preserved thousands, who from a weak constitution would formerly have succumbed to small-pox. Thus the weak members of civilised societies propagate their kind. No one who has attended to the breeding of domestic 83 Im Grunde wird er auch schon von Kant vertreten, vgl. nur die ersten drei Sätze seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant 1973: 6-8).

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animals will doubt that this must be highly injurious to the race of man. It is surprising how soon a want of care, or care wrongly directed, leads to the degeneration of a domestic race; but excepting in the case of man himself, hardly any one is so ignorant as to allow his worst animals to breed« (Darwin 1871: 168). Darwin behauptet indes in dem Kapitel, dem das Zitat entstammt, gerade nicht, dass Zivilisation zu Verfall führe. Vielmehr verlöre »the noblest part of our nature« (ebd.) an Wert, würde den Hilflosen nicht geholfen. Auch kommen die Überlegungen zur Einwirkung der natürlichen Zuchtwahl auf »civilised nations« zu dem Ergebnis, dass in »highly civilised nations continued progress depends in a subordinate degree on natural selection; for such nations do not supplant and exterminate one another as do savage tribes. Nevertheless the more intelligent members within the same community will succeed better in the long run than the inferior, and leave a more numerous progeny, and this is a form of natural selection« (Darwin 1871: 180).84 Tatsächlich liegt die Übertragung nahe. Darwin macht nichts anderes, als ein naturgeschichtliches Entwicklungsprinzip zu formulieren, das in seiner Grundidee homolog zu einer ökonomischen Praxis ist, und dieses auf Kollektivsubjekte, »Völker«, zu beziehen. Marx hat das klar gesehen: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthus’schem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt.« Darwin, so resümiert Marx, figuriere »das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft« (MEW 30: 249). Nur wer sich der Dynamik sich in der Zeit verändernder Märkte anpassen kann, ist in der Lage, in der Konkurrenz zu bestehen. Das Produkt der Verbindung von Nationalgeschichtsschreibung und Evolutionstheorie ist eine  – im Einzelnen unterschiedlich ausbuchstabierte  – Geschichtsauffassung, in der historische Entwicklung eine Folge des Kampfes der »Völker«, Sieg und Niederlage in diesem Kampf eine Folge der »Gesundheit« der Rassenmischung sind. 84 Darwins Relativierung der natürlichen Zuchtwahl bei »zivilisierten Nationen« wird in der Sekundärliteratur gelegentlich unterschlagen, vgl. etwa Weingart/ Kroll/Bayertz 1988: 75f.

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Eine solche Theorie klassifiziert nicht nur, sie erklärt geschichtliche Dynamik und sie erklärt sie umfassend, d.h. die Geschichte menschlicher Kultur aus der Natur der im Kampf befindlichen nationalen Kollektive. Die Geschichte von »Völkern« wird in dieser Perspektive von einem Entwicklungsprinzip gesteuert, in dem sich Natur- und Kulturgeschichte mit dem Grundverständnis der Moderne, das jedes naturale und soziale Phänomen unter dem Gesichtspunkt fortschreitender, prinzipiell unabgeschlossener und unabschließbarer Entwicklung denkt, verbinden  – »Völker« kämpfen um knappe Güter wie die Arten. Der Reiche verwandelt sich wie der Kluge in einen Teil einer anders ausgestatteten Elite, der Pole und der Russe in den Angehörigen einer »minderwertigen« Rasse, der Schwarze in den einer »wilden« Rasse. Die unglaubliche Attraktivität, die rassistische Weltdeutungen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20.  Jahrhunderts hatten, ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass mit »Rasse« Ungleichheit zwischen und in Personenverbänden historisch-genealogisch in einer Weise gedeutet werden kann, die erstens menschliche Geschichte an Naturgeschichte anschließt und nach demselben Entwicklungsprinzip versteht und zweitens soziale Ungleichheit naturalisiert. Elite und Masse stehen nicht in einem Interessen- oder Machtgegensatz, die Elite wird vielmehr zu »unserer Elite«, zu einer Gruppe großer Männer, die »unsere besten Eigenschaften« verkörpern und zur Entfaltung bringen.85 85 Die Ausführungen zum Rassismus bieten einen Anlass, ein frühes und bis heute persistentes Problem soziologischer Forschung zwar nicht zu lösen, aber zu zeigen, dass das Problem, so wie es gestellt wurde und bis heute noch gestellt wird, falsch gestellt und deshalb unlösbar ist: das Problem des Verhältnisses von Basis und Überbau (Marx), ethischen Maximen der Lebensführung und Sozialstruktur (Max Weber), Realfaktoren und Idealfaktoren (Scheler) oder Gesellschaftsstruktur und Semantik (Luhmann) – um nur einige Varianten der Problemexposition zu nennen. Als Problem stellt sich regelmäßig die Frage, ob die Veränderung symbolischer Ordnungen Folge oder Voraussetzung der Veränderung sozialer Institutionen ist. Diese Frage ist unbeantwortbar. Ich habe im dritten und vierten Kapitel gezeigt, dass die Transformation antisemitischen Wissens eine Folge der Veränderung sozialer Ordnungen ist: Dass die Frage nach der rechtlichen Stellung der Juden im Staat gestellt wird, reagiert auf Veränderungen der sozialen Ordnungsbildung. Beim Rassismus ist das Verhältnis von Grund und Folge nicht in gleicher Weise eindeutig: Hier geht die Wissensformation der Selbstoptimierung von »Völkern« durch Züchtungspolitik voran. Mit der Transformation von Klassifikationen in politische und administrative Programme aber wird die Wissensformation selbst auf der Ebene der sozialen Ordnungsbildung in Form z.B. von Gesetzen real, und in diesem Sinne kann man sagen, dass harte soziale Institutionen wie die Praxis der Eugenik eine

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Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass dieses Wissen einer durch Wissenschaft, Technik und Demokratisierung längst überwundenen finsteren Vorzeit der modernen Gesellschaft angehört. Es steht nicht am Rande der Moderne, sondern in ihrem Zentrum  – Züchtungspolitik z.B. gehört längst zum etablierten Selbstoptimierungsprogramm von Staaten im Umgang mit ihren Bevölkerungen, die diesen biopolitische Optimierungsprogramme anbieten. Die Gegenwart hat mit der Vergangenheit die Praxis eugenischer Maßnahmen gemeinsam. Sie unterscheidet sich allerdings wesentlich dadurch, dass die Entscheidungen über solche Maßnahmen in aller Regel nicht administrativ, sondern von den Betroffenen selbst gefällt werden (was zu Effizienzsteigerungen führt).

5.6.2 »Race« und »Volk« Ich erörtere in diesem Abschnitt die Aufnahme rassistischen Wissens im Antisemitismus an einem Beispiel. Dabei werde ich besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von »Race« und »Volk« legen, weil davon abhängt, ob der sogenannte rassistische Antisemitismus den bisher erörterten Fällen als neuartige Form nebengeordnet werden muss (das wäre etwa der Fall, wenn an die Stelle der Grundgesamtheit »Volk« die Grundgesamtheit »Rasse« träte), oder als Variante untergeordnet werden muss. Heinrich Nordmann hat unter dem Pseudonym H. Naudh86 1860 die Schrift Die Juden und der Deutsche Staat publiziert, die erste Folge der Entwicklung symbolischer Ordnungen sind. Wenn symbolische Ordnungen sowohl Folge als auch Voraussetzung der Entwicklung sozialer Ordnungen sein können, lässt sich weder ein Vorrang der sozialen Ordnung einer Gesellschaft noch ein Vorrang ihrer symbolischen Ordnung behaupten. Wenn beides möglich ist, kann es nicht darauf ankommen, den Vorrang einer Seite allgemein zu behaupten, es muss vielmehr darauf ankommen, die konkrete Gestalt der Beziehung in jedem Einzelfall zu untersuchen. Tut man das, findet man keine eindeutigen kausalen Beziehungen, sondern Wechselwirkungen. 86 Über Heinrich G. Nordmann ist heute nichts mehr bekannt. Das Buch erscheint in einer Phase geringer öffentlicher Aufmerksamkeit für die »Judenfrage« (vgl. Katz 1989: 206f.)  – was nichts daran ändert, dass 1861 die dritte Auflage publiziert wird. 1883 erscheint die zwölfte Auflage. Die Publikation gehört zu den von Antisemiten im Kaiserreich häufig zitierten (Bergmann 2009d: 594f.) »Standardtexten«. Berding (1988: 145) ist der Auffassung, Naudh habe mit Die Juden und der Deutsche Staat »einen wichtigen Anteil« an der »Übernahme sozialdarwinistischer Rassentheorien« gehabt. Tatsächlich nimmt Naudh viele

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Schrift im deutschen Sprachraum, in der rassistische Deutungsmuster verwendet werden (vgl. Katz 1989: 209).87 In Die Juden und der Deutsche Staat streitet Naudh gegen eine Ausdehnung der Gleichstellung der Juden über die Ökonomie hinaus auf die Politik. Juden seien politische Bürgerrechte zu verweigern (vgl. Naudh 1879: 15, 89), da sie weder imstande noch bereit seien, »sich ganz einem deutschen Staate hinzugeben« (Naudh 1879: 16). Die zentralen Elemente des Gegensatzes von »Völkern« und »Juden« entsprechen dem schon bekannten Muster, das ich an dieser Stelle knapp rekapituliere: Nach Naudh sind Juden »alle übrigen Völker […] nur Objekte der Beraubung und Benutzung« (Naudh 1861: 20). »Völker« werden als Ethnos mit einem jeweils spezifischen Ethos verstanden, Juden allen Völkern gegenübergestellt und mit einem gemeinschaftszerstörenden Anti-Ethos gezeichnet.88 »Völker« gäben sich im Staat eine politische Einheit (Naudh 1861: 24f.). »Der Zweck des Staates ist kein äußerlich gegebener, sondern ein der menschlichen Natur innewohnender, modificirt nach den Eigenthümlichkeiten des besonderen Volkes« (Naudh 1861: 25). Da der »deutsche Staat die Personifikation des deutschen Volkes ist«, »gehören die in Deutschland lebenden Juden so wenig zum deutschen Staate, als der Bandwurm zur Person des Patienten« (Naudh 1879: 32). Sie redeten zwar deutsch, das aber mache sie nicht zu »jüdischen Deutschen«, sondern nur zu »deutschredenden Juden« (Naudh 1879: 32).89 Da ein »Volk« »gelähmt und verderbt« werde, »wenn es gegen prominente Argumentationsfiguren der Jahrhundertwende vorweg. Die Entwicklung der unterschiedlichen Auflagen der Schrift wie die des Antisemitismus von Naudh insgesamt sind ein erstaunliches Dokument der Sattelung der rassistischen Einbettung des Antisemitismus: In der zehnten Auflage (1879) haben sich die Gewichte deutlich zugunsten einer rassistischen Argumentation verschoben; in der Schrift Professoren über Israel, eine 1880 publizierte Auseinandersetzung mit Treitschkes Unsere Aussichten und den darauf Bezug nehmenden Publikationen im Rahmen des sogenannten Berliner Antisemitismusstreits, ist sie zentral (vgl. z.B. Naudh 2003: 379). Da es mir an dieser Stelle auf die Sattelung des modernen Antisemitismus ankommt, zitiere ich sowohl aus der Publikation von 1861 wie aus der von 1879. 87 Buch (1937: 5), ein antisemitischer Aktivist aus der Zeit des Nationalsozialismus, bezeichnet Naudhs Schrift als »erste klassische Schrift der antisemitischen Bewegung der neueren Zeit«. 88 »Wie die Wölfe zwar auch sich untereinander auffressen, beim Rauben aber sich das Rudel zusammenhält, so bildet trotz gegenseitiger Gehässigkeit eine gemeinsame, solidarische Selbstsucht die Stärke der Juden und erhöht ihre Gefährlichkeit« (Naudh 1879: 37). 89 Diese Unterscheidung reflektiert die Geschichte der Verbürgerlichung der

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seine Eigenthümlichkeit regiert wird« (Naudh 1879: 30),90 seien Juden von politischen Funktionen auszuschließen. »Die Unmöglichkeit einer ersprießlichen und vollkommenen Gemeinschaft beschränkt sich aber nicht allein auf die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. In dem Wesen der Ersteren liegen noch andere Elemente der Unverträglichkeit« (Naudh 1861: 23, Hervorh. J.W.). Diese »anderen Elemente der Unverträglichkeit« entwickelt Naudh im Folgenden: »Der Jude« sei, egal, wo er lebe, »überall derselbe […]  – er ist der ächte und unverfälschte Jude geblieben« (Naudh 1861: 24), was an »mehrtausendjähriger Abschließung und Inzucht« liege. Durch Inzucht seien »jüdisches Blut und jüdischer Sinn […] untrennbar geworden, und wir müssen das Judenthum nicht allein als Religion und Kirche, sondern auch als den Ausdruck einer Raceneigenthümlichkeit auffassen« (Naudh 1861: 24). Die »natürliche Anlage eines Volkes« (Naudh 1861: 26) könne besser, dem »Sittengesetz« entsprechender, oder schlechter sein. Wie zu erwarten, hält Naudh sie bei Juden für schlecht. Insbesondere mache die »parasitische Selbstsucht« Juden »zur Bildung eines eigenen Staates« unfähig (Naudh 1879: 61), weshalb sie danach strebten, »in andere Völker einzudringen und deren Nationalität zu zersetzen« (Naudh 1879: 58). Diese durch »mehrtausendjährige Abschließung« immer weiter entwickelte Schlechtigkeit erklärt Naudh aus der Entstehungsgeschichte der jüdischen »Race«, die aus dem »Ausschuß der Juden im 19. Jahrhundert und gehört zum Standardrepertoire der Antisemiten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, vgl. exemplarisch Stoecker 2004g: 131; Wagner 2000. 90 Naudh nennt dafür zwei Beispiele, die Französische Revolution, in der »die Entwickelung der bürgerlichen Freiheit in Frankreich durch rohe und gedankenlose Zermalmung aller historischen Verhältnisse auf lange hinaus gehindert worden« (Naudh 1879: 30) sei, und den »staatlichen Verfall des deutschen Reichs« (Naudh 1879: 30), der bedingt gewesen sei durch das »Streben der deutschen Kaiser, ein römisches daraus zu machen«, durch »die Herrschaft der römischen Kirche, deren Würdenträger deutsche Reichsfürsten waren«, und die »Einführung des römischen Rechts durch fremdländisch gebildete Juristen« (Naudh 1879: 30).

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verschiedensten Völker« entstanden sei. Sie habe sich wie die »Römer aus zusammengelaufenem Gesindel« (Naudh 1861: 29) gebildet, unterscheide sich aber von diesen dadurch, dass »die Römer« die Besten der Schlechten in sich vereint hätten, während »die Juden« »Sammelplatz der Faulen, Lasterhaften und Aussätzigen, die sich dort der Arbeit entzogen«, gewesen seien (Naudh 1861: 29f.). Naudh verwendet die Termini »Rasse« und »Volk« in bestimmter Hinsicht gleichbedeutend, nämlich als Regel der Festlegung von Zugehörigkeit durch Abstammung. Dabei ist die Verwendung von »Race« erstens indifferent gegen die Art der Gruppe: »Neger« bilden eine Rasse (Naudh 1861: 45), in der zehnten Auflage auch »Indogermanen« und »Semiten« (vgl. Naudh 1879: 34). Der Terminus Rasse wird von Naudh auf Personengruppen unterschiedlicher Art und Zusammensetzung angewendet. Zweitens sind »Rasse« und »Volk« nicht die einzigen Bezeichnungen, durch die Zugehörigkeit markiert wird. Die Indogermanen sind gleichzeitig »Stamm«, »Familie« von »Völkern« und »Race«; die Juden sind ein »Stamm« und eine »Race« wie die Semiten. Die Verwendung der Begriffe scheint also nicht eindeutig. »Stamm« und »Race« können dieselbe Gruppe bezeichnen. Ich halte zunächst fest, dass der Begriff der »Race« den des »Volkes« nicht ersetzt, sondern – wie bei allen anderen Antisemiten, die das antisemitische Feind- und das kollektive Selbstbild rassistisch einbetten, auch  – neben ihn tritt: »Volk«, »Stamm«, »Familie«, »Race« ordnen Personen Gruppen durch Abstammung zu. Ich habe zu Anfang des Kapitels darauf hingewiesen, dass »Race« als Regel der Festlegung von Zugehörigkeit von Personen zu Gruppen auf beliebige Grundgesamtheiten angewendet werden kann und angewendet worden ist  – was eine der Schwierigkeiten ausmacht, den Terminus »Rasse« begrifflich zu fassen. So ist es auch bei Naudh. Versteht man die Verwendung von »Race« nicht über die Grundgesamtheit (»Volk«, »Stamm« usw.), sondern als Regel der Festlegung von Zugehörigkeit von Personen zu Gruppen, dann ist die Verwendung des Terminus bei Naudh eindeutig: »Rasse« bezeichnet eine Regel der Zuordnung von Personen zu (unterschiedlichen) Gruppen durch Abstammung. Der entscheidende Punkt ist  – wie bei der Selbstbeschreibung »Volk« auch  – die Identitätsrelevanz der Selbstzuordnung. Das hat Houston Stewart Chamberlain besonders klar ausgedrückt: Chamberlain, der die Schwierigkeiten einer wissenschaftlich klaren Be-

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stimmung des Begriffs der Rasse gesehen hat (Chamberlain 1899: 263ff.), sieht sich durch die Probleme der Begriffsbildung in keiner Weise daran gehindert, »Rasse« als Grundbegriff der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts zu verwenden. »Dem Leben« angehörige Männer müssten nicht »nach verborgenen Ursprüngen und Ursachen […] forschen« (Chamberlain 1899: 270). Die Bedeutung von »Rasse« sei vielmehr evident. Wer einer solchen angehöre, empfinde dies »täglich« (Chamberlain 1899: 272). Allerdings stellt sich eine Anschlussfrage: Was intendiert die Rede von »Race«, wenn schon durch »Volk« die Regel der Zugehörigkeit eindeutig bezeichnet wird? Sie eröffnet Naudh  – und den anderen Rassisten – erstens die Möglichkeit, Charaktereigenschaften (Naudh 1861: 26ff.) und physiologische Eigenschaften91 von Personen mit einer bestimmten Lebensweise (z.B. »Selbstsucht«) und der Genealogie einer Gruppe, Kultur und Natur, historisch zu verknüpfen. Zu der historischen Genealogie der »Völker« tritt die historische Genealogie ihrer Körper. Juden haben »nicht die Fülle der Muskeln der nordischen Völker und es fehlen ihnen die straffen Sehnen der Araber. […] Ihre Knochen sind nicht stark, wie bei den Germanen, und nicht fest, wie bei den Südländern […,] die Schultern nicht gerade und flach, Hals und Kopf nicht aufrecht« usw. (Naudh 1861: 30). Diese Physis legt Naudh sozialen Eigenschaften zugrunde: »Aus diesem unrichtigen Bau, aus der fehlenden Spannkraft ihrer Muskeln entstehen jene energielosen und unschönen Bewegungen, die wir an ihnen belächeln, und jene Scheu vor körperlicher Arbeit und Anstrengung, die eine so wesentliche Einwirkung auf ihre Geschichte gehabt hat« (Naudh 1861: 30). Naudh personalisiert soziale Verhältnisse nicht nur in einem Konflikt von Gruppen, er naturalisiert sie. Zugehörigkeit bestimmt die 91 »Wenn man ein Volk auf seine Zweckmäßigkeit prüft, so ist nicht allein die geistige Anlage, sondern auch die körperliche wesentlich, und die entspricht bei den Juden ihrem Ursprung. In dieser Beziehung besitzen sie gegenüber den germanischen Stämmen die Mängel der südlichen Racen, ohne ihre Vorzüge. – Es fehlt ihnen die körperliche Kraft und das rüstige Temperament« usw. (Naudh 1861: 30).

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Erwartung eines bestimmten sozialen Verhaltens, und sie ist an der Physiognomie erkennbar. Dies eröffnet Naudh zweitens die Möglichkeit, eine Universalgeschichte zu entwerfen, diese an Naturgeschichte anzuschließen und sie nach demselben Entwicklungsprinzip zu fassen. Dieser Punkt, der im Zentrum der Rassisten nach Naudh steht (vgl. hier, Kapitel 6.6), ist bei ihm selbst noch nicht voll entwickelt. Aber schon Naudh legt eine universale Geschichte sozialer Entwicklung vor, deren Prinzip Einheit und Uneinheit von »Völkern« ist. »Völker« dürften nicht zusammengewürfelt, sondern müssten homogen sein, d.h. über eine Abstammungslinie und eine Lebensweise verfügen. Zwar sei es möglich, dass »Mischvölker« entstünden. Bis diese aber einen »neuen und vielleicht sogar besseren Charakter« (Naudh 1879: 31) hätten, »ist ein halbes Jahrtausend politischer Leiden und nationaler Tod der ursprünglichen Elemente vergangen« (Naudh 1879: 31). Solche Beispiele der Völkermischung gebe es nur bei nahe verwandten »Zweigen« (Naudh 1879: 34) von Stämmen. Unreinheit (ethnische Inhomogenität) erzeugt demnach Uneinheit. Juden bringen nicht nur Uneinheit in die Einheit (»Volk« im »Volk«), sondern verkörpern das Prinzip der Uneinheit im »unrichtigen Bau«, also in der unreinen ethnischen »Mischung«. Damit wird drittens die – bei Naudh ebenfalls noch nicht ausgeführte  – Möglichkeit eröffnet, den »besseren« oder »schlechteren« Körper eines Volkes administrativen Eingriffen zu unterwerfen, und viertens ändert sich die Perspektive auf die »Judenfrage«: Da die Angehörigen von »Völkern« deren Eigenschaften als Anlage verkörpern, wird die »Mischung« der Gruppen zu einer biologischen Gefahr. Zwar werde ein Jude »durch die Taufe  … zugleich von seinem Stamme abgelöst und der Kultur zugänglicher« (Naudh 1861: 6f.), aber die »Taufe allein kann den Juden nicht zum Germanen machen« (Naudh 1861: 24). Ein »Germane« konnte ein Jude schon bei einem ethnischen Selbstbild nicht werden (höchstens ein »deutsch redender« [Wagner] Jude). Doch der auf ein ethnisierendes Selbstbild bezogene moderne Antisemitismus bleibt in diesem Punkt ambivalent (vgl. Kapitel 4): Er fordert »Verschmelzung« und bestreitet ihre Möglichkeit. Für Naudh und die Rassisten nach ihm ist die Forderung nach »Verschmelzung« keine Forderung mehr, sondern eine Drohung. Die »Aufhebung der religiösen Absonderung zwischen Juden und Deutschen« würde nicht bedeuten, dass »jeder wesentliche Unterschied beider Völker aufhören und daß bei einer

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weiteren Verschmelzung derselben der jüdische Charakter ohne Einwirkung auf die Deutschen bleiben würde« (Naudh 1861: 24). Eben diese »Einwirkung« ist die Drohung: »Wir hegen keine Hoffnung auf Besserung der Juden durch ihre Adoption Seitens anderer Völker, wenigstens nicht innerhalb einer Zeit, die uns noch interessieren könnte. Sollte nach zehntausend Jahren diese unsere Schrift auf dem Herzen eines fossilen Juden gefunden werden, so fürchten wir, auch dann noch wegen der Uebereinstimmung mit den dann lebenden Exemplaren gelobt zu werden« (Naudh 1879: 60). Die Konsequenz daraus kann nur in der Trennung von »Juden« und »Völkern« liegen. Entsprechend heißt es bei Naudh: Es wäre »doch möglich, daß ›Michel‹ eine gründliche Reinigung seines Hauses der Beschneidung vorzöge« (Naudh 1861: 63). Offenbar führt die Einbindung rassistischen Wissens in den Antisemitismus nicht dazu, dass sich dessen Grundelemente, die Festlegung von Zugehörigkeit durch Ethnisierung und das Grundmuster der Zuschreibungen, verändern. Lediglich die Konsequenzen, die sich aus der feindlichen Gegenüberstellung von »Völkern« und »Juden« ergeben, unterscheiden sich in einem Punkt: »Vermischung« kann dieser Typ antisemitischen Wissens nicht mehr fordern. Doch die Trennung von »Völkern« und »Juden« ist wegen der feindlichen Gegenüberstellung von Gemeinschaft (»Völker«) und Gesellschaft (»Juden«) strukturell schon in den bisher diskutieren Varianten angelegt und oft auch ausgesprochen. Daher scheinen mir die in der Antisemitismusforschung verbreitete Auszeichnung eines »rassistischen Antisemitismus« und seine strikte Unterscheidung von einem nationalen Antisemitismus nicht länger haltbar. Der so genannte rassistische Antisemitismus stellt vielmehr eine Variante des nationalen Antisemitismus dar. Diese Variante nimmt – im Unterschied zu einer verbreiteten Auffassung – gerade nicht an, dass »eine ethnische Gruppe von Natur aus zu erblicher Minderwertigkeit verdammt ist« (Benedict 1974: 131). Der rassistische Antisemitismus geht stattdessen davon aus, dass sich »Rassen« in und durch Kultur entwickeln. Er konzipiert deren Entwicklung jedoch auf eine andere Weise: Soziale Eigenschaften von Gruppen werden der nächsten Generation als Anlagen vererbt, die Entwicklung dieser Anlagen wird als ein kultureller Prozess verstanden. Wie im nicht rassistischen

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Antisemitismus wird das Ethos der »Rasse« durch kulturelles Lernen verinnerlicht. Anders als in jenem ist im rassistischen Antisemitismus das Ethos jedoch nicht nur das Produkt kultureller, durch Arbeit und Bildung vermittelter Tätigkeit, sondern wird als deren Produkt in Form verkörperlichter Anlagen zur Voraussetzung von Tätigkeit im Generationenverlauf, die Anlage zum Objekt von Züchtungspolitik.

6 Typen der Wissensformation des modernen Antisemitismus Wie ich am Ende des 4. Kapitels schon angedeutet habe, bilden sich im Zuge der Sattelung der antisemitischen Wissensformation unterscheidbare Typen aus. Allen Typen gemeinsam sind die Festlegung von Zugehörigkeit zu »Volk« durch Ethnisierung und das Grundmuster der Zuschreibungen, die Personalisierung von Gemeinschaft und Gesellschaft in dem feindlichen Gegensatz von »Völkern« (Gemeinschaft) und »Juden« (Gesellschaft). Die Festlegung von Zugehörigkeit durch Ethnisierung ist jedoch nicht die einzige Regel, durch die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe festgelegt wird. Zugehörigkeit kann ethnische Herkunft und Bekenntnis zum Ethos des eigenen »Volkes« bedeuten, sie kann darüber hinaus auch das Bekenntnis zum christlichen Glauben einschließen. Die Art und Weise der Festlegung von Zugehörigkeit ist im modernen Antisemitismus nicht immer gleich. Die unterschiedlichen Kombinationen von Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit im Selbstbild (und damit auch im Feindbild) bilden die Grundlage meiner Typologie (nicht, welche Eigenschaften oder Vergehen Juden zu- oder abgesprochen werden, welche praktischen Folgerungen gezogen werden, ob es sich um einen »säkularen« oder einen nicht säkularen Antisemitismus handelt o.ä.).1 Systematisch differenziere ich die Typen nach den Grundgesamtheiten, die für das Selbstbild relevant sind: »Volk«, »Christenheit« und »Rasse«. In allen Fällen steht »Volk« im Zentrum. Der moderne Antisemitismus ist ein nationaler Antisemitismus (Holz). Zugehörigkeit zu »Volk« wird in allen Fällen durch Abstammung und das Bekenntnis zum Ethos des »Volkes« festgelegt. In einigen Fällen ist das »Volk« ein »christliches Volk«, Zugehörigkeit entsprechend durch Bekenntnis zum christ1 Gräfe (2011: 160) unterscheidet für das Kaiserreich katholischen, protestantischen und völkischen Antisemitismus und begreift die religiösen Formen auf der einen und die säkularen auf der anderen als »zwei Varianten […], die gleichzeitig existieren, sich aber bezüglich ihrer Inhalte, Ziele und Trägerschichten voneinander unterscheiden«. In der Folge entsteht das Problem der »Schnittmengen« (Gräfe 2011: 160f.) und die Frage, wie sich »Schnittmenge« und »Typ« zueinander verhalten. Aus diesem Grund scheint es mir sinnvoller, die Typologie in der hier vorgeschlagenen Weise anzulegen. Darüber hinaus lassen sich im Kaiserreich kaum religiöse von völkischen Typen trennen, da »Volk« auch im Mittelpunkt der Selbstbilder des sogenannten religiösen Antisemitismus steht.

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lichen Glauben und durch Abstammung und Bekenntnis zum Ethos des »Volkes« bestimmt. Die Beziehung zwischen der Grundgesamtheit »Christen« und der Grundgesamtheit »Volk« ist dynamisch: Im späten 18. und frühen 19.  Jahrhundert gehört das Christentum in aller Regel als Bekenntnis zum Selbstbild des »deutschen Volkes«, im späten 19.  Jahrhundert ist es häufig zu einem kulturgeschichtlichen Bestandteil dieses »Volkes« historisiert. Wo der Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft der Primat zugesprochen wird, spreche ich vom Typus des christlich-nationalen Antisemitismus. In diesem Typus geht es um das Christentum als Bekenntnis. Ist dagegen die Zugehörigkeit zur Abstammungsgemeinschaft eines Volkes primär, handelt es sich um den Typus des nationalen Antisemitismus. In diesem Typus ist das Christentum nicht als Bekenntnis relevant, sondern als Element der Kulturgeschichte von »Volk«. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wird ein Typus prominent, der Christentum und »Volk« nicht kombiniert, sondern beide Zugehörigkeiten als Gegensatz begreift, das Bekenntnis zur christlichen Religion ablehnt und an ihre Stelle eine Nationalreligion setzt. Diesen Typus bezeichne ich als nationalreligiös. Schließlich ist in einigen Fällen die Zugehörigkeit zu »Volk« in die Zugehörigkeit zu Großgruppen, »Rassen«, eingebettet. Diesen Typus bezeichne ich als nationalrassistisch. Die Typologie ist dem Anspruch nach umfassend, d.h. sie deckt das Spektrum der modernen antisemitischen Wissensformation bis in das frühe 20.  Jahrhundert ab. Sie lässt sich darüber hinaus ohne Schwierigkeiten auch auf die Gegenwart beziehen. Untersucht man, um nur ein Beispiel zu nennen, die Charta der Hamas, findet man sowohl das Grundmuster der Zuschreibungen (»Völker« [Gemeinschaften] und »Juden« [Gesellschaft], vgl. Artikel 22) als auch die hier genannten Grundgesamtheiten, die Hamas nennt sie »Kreise« (Artikel 14): Dem »palästinensischen Kreis« entspricht »Volk« (das als Abstammungsgemeinschaft verstanden wird), der »muslimische Kreis« bezeichnet die Glaubensgemeinschaft der Moslems, dem »arabischen Kreis« entspricht »Rasse« (dieser wird ebenfalls als Abstammungsgemeinschaft verstanden). Ich stelle die Typen in einem ersten Schritt vor (6.1-6.4) und frage in einem zweiten nach der historischen Dynamik der Typen (6.5). Bevor ich in die typologische Darstellung einsteige, mache ich zwei Vorbemerkungen, eine methodische (1) und eine inhaltliche (2). (1) Typologien lassen sich in unterschiedlicher Weise anlegen. Man kann einen Typus, auch einen historischen Typus (Weber 1988b:

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203), mit Max Weber so verstehen, dass er »die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein« (Weber 1988b: 202) bringt. In diesem Verständnis ist ein Typus »ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist« (Weber 1988b: 194). Vielmehr stehen der Typus im Allgemeinen und der historische Typus im Besonderen auf der einen Seite, die »historische Wirklichkeit« auf der anderen, »Theorie und Geschichte« (Weber 1988b: 195) sind scharf getrennt. Typen gelten als ideelle Typen, die einen heuristischen Nutzen haben. Typen »gibt« es nicht, ihr heuristischer Nutzen erweist sich daran, dass sich empirisch vorfindbare Phänomene in Graden als Fälle des idealen Typus bestimmen lassen. Wie aber ist das möglich? Alle empirischen Fälle, die wir etwa zum Beleg der heuristischen Qualität des ideellen Typus der legalen Herrschaft beibringen können, sind Beispiele, d.h. in Begriffen, Urteilen und Schlüssen ausgedrückte Typisierungen. Wir wissen also nichts von der Welt außerhalb unserer Typisierungen. Deshalb können wir »Wirklichkeit« nicht, wie Weber behauptet, »vergleichend« an den ideellen Typen »messen« (Weber 1988b: 199). Aus diesem Grund werde ich im Folgenden nicht »ideelle Typen« bilden, um an diesen nach einem rätselhaften Verfahren einzelne Fälle zu »messen«, sondern das Charakteristische des Typus am Fall selbst deutlich zum Ausdruck bringen. Die Fälle sind antisemitische Texte. Jeder empirisch gegebene antisemitische Text stellt eine Anwendung von Regeln dar, in denen Zugehörigkeiten festgelegt und Zuschreibungen vorgenommen werden. Der Typus ist dann nichts anderes als die Angabe spezifischer Regeln, nach denen eine Mehrzahl von Texten strukturiert ist. Der Typus ist das Allgemeine, aber das Allgemeine ist in dieser Weise der Typenbildung kein bloß ausgedachtes »Gedankenbild«, sondern eine Regel, die einzelne Texte (symbolische Ordnungen) strukturiert. Während in einer historischen Typologie nach Max Weber der Typus das Andere des empirischen Falls ist, verstehe ich den einzelnen Fall als in sich selbst typisch (allgemein), ohne das er in dieser Allgemeinheit aufgehen würde. Weil diese Position nicht davon ausgeht, dass Typen historischer Prozesse nur heuristische Mittel seien, ausgedachte »Blasen« (Adorno 1993: 202), kann eine historische Typologie die in den Typen zum Ausdruck kommenden Spannungen, aus denen sich die Dynamik eines Typus erklärt, als das begreifen, was Weber so vehement ablehnt, als Bestimmungen des »›Wesens‹ der geschichtlichen Wirklichkeit« (Weber 1988b: 195).

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Aber auch in dieser Form der Typenbildung sind Typologien Zuspitzungen, die bestimmte Aspekte des Gegenstands besonders hervorheben und betonen, andere dagegen vernachlässigen. Tatsächlich sind die gleich vorgestellten Typen in ihrer Trennschärfe überzeichnet. Z.B. findet man bei Treitschke, nicht nur in meinen Augen ein Lehrbeispiel für nationalen Antisemitismus (so auch Holz 2001: 165-247, insbes. 237f.), auch Passagen, in denen das Bekenntnis zum christlichen Glauben sehr wohl für die Beschreibung des Selbstbildes »Volk« relevant ist (z.B. Treitschke 2003a: 9 oder 2003b: 117, am deutlichsten 2003c: 285). (2) Alle im Folgenden vorgestellten Typen sind Typen des modernen Antisemitismus, d.h. selbst Variationen oder Subtypen eines nationalen Antisemitismus, der sich als Typus vom vormodernen oder christlichen Judenhass unterscheiden lässt. Wenn ich am Ende dieser Untersuchung den Typus des modernen Antisemitismus in Subtypen differenziere und nach der Beziehung der Typen untereinander frage, sollte dabei im Blick bleiben, dass das Grundmuster, nach dem Zuschreibungen vorgenommen werden, und die grundlegende Regel der Festlegung von Zugehörigkeit zu »Volk« durch Ethnisierung allen Typen gemeinsam sind – eben deshalb sind sie Typen der Wissensformation des modernen oder nationalen Antisemitismus.

6.1 Christlich-nationaler Antisemitismus Für alle Formen des christlich-nationalen Antisemitismus gilt,2 dass das Bekenntnis zum christlichen Glauben selbstbildrelevant ist, d.h. zugehörig nur sein kann, wer sich dazu bekennt. Zugehörigkeit zum eigenen »Volk« basiert auf Abstammung (»deutsches Volk«) und Bekenntnis zu dessen Ethos. Teil des Ethos ist der christliche Glaube 2 Die Literatur zu diesem Thema ist umfangreich. Ich verweise an dieser Stelle nur auf vier Überblicksarbeiten, die ausgezeichnete konfessionsübergreifende Studie von Altgeld 1992 mit Schwerpunkt auf dem frühen 19.  Jahrhundert; zum protestantischen Antisemitismus im Kaiserreich Heinrichs 2000, der in einer mentalitätsgeschichtlichen Studie die unterschiedlichen protestantischen Judenbilder analysiert (knapp zusammengefasst in Heinrichs 2000: 685-695), die milieugeschichtlich orientierte Arbeit von Olaf Blaschke zur Formierung eines katholischen Milieus durch den Antisemitismus im Kaiserreich (Blaschke 1997), einen Vergleich zwischen dem Antisemitismus im Kaiserreich und in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf der unterschiedlichen konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung (Heil 2000).

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(das »deutsche Volk« ist ein »christliches Volk«). Zwischen beiden Regeln der Festlegung von Zugehörigkeit, Bekenntnis und Abstammung, besteht eine Spannung. Das Bekenntnis ist unabhängig von der askriptiven Zugehörigkeit zu Gruppen und auf die Grundgesamtheit aller Christen bezogen, die Zugehörigkeit zu »Volk« hingegen ist unabhängig vom Bekenntnis zum christlichen Glauben und auf ein Ethnos bezogen. Beide Regeln sind  – vermutlich wegen dieser Spannung  – nicht gleichrangig. Steht das christliche Element der Festlegung von Zugehörigkeit im Vordergrund, wird der ethnischen Zugehörigkeit sekundäre Bedeutung beigemessen. In diesem Fall spreche ich von christlich-nationalem Antisemitismus. Ist das Rangverhältnis umgekehrt, spreche ich von nationalem Antisemitismus. Der Unterschied zwischen beiden Typen besteht in dem relativen Gewicht, das dem Bekenntnis zum Christentum im Selbstbild zugesprochen wird. Im christlich-nationalen Antisemitismus ist das Bekenntnis zum christlichen Glauben für das Selbstbild des »christlichen Volkes« konstitutiv, das Bekenntnis daher exklusiv3  – nur ein Christ kann Deutscher sein. Dieser Typus schließt einerseits an den christlichen Judenhass an und setzt ihn fort. Andererseits transformiert er ihn durch den Wandel der Referenz (»deutsche Christen«). Auch wenn er seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert langsam und seit dem späten 19. Jahrhundert beschleunigt an Bedeutung verliert, so ist er der im 19.  Jahrhundert dominante Typus des modernen Antisemitismus. Ich verdeutliche ihn an drei Beispielen, die auch das breite Spektrum dieses Typus deutlich machen sollen, August Rohling (1), Constantin Frantz (2) und Adolf Stoecker (3). (1) August Rohling, katholischer Theologe und von 1877 bis zu seiner Suspendierung 1885 (infolge seines Auftretens in Ritualmordprozessen) Lehrstuhlinhaber an der deutschen Universität Prag, publiziert 1871 Der Talmudjude (vgl. zu Person und Leben Kimmel 2009b: 692f.; Ferrari Zumbini 2003: 134f.; Langer 1994: 102-120). Damit war der Auftakt für eine Reihe von antisemitischen Schriften Rohlings gemacht, von denen allerdings keine den Bekanntheitsgrad des Talmudjuden erreicht, auf den sich Antisemiten im letzten Drit3 Die Formulierung geht auf Assmann (2003: 52f.) zurück, der die etablierte Unterscheidung von Mono- und Polytheismen präziser als Differenz von »exklusiven und nichtexklusiven Religionen« fasst.

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tel des 19. Jahrhunderts in ihren Publikationen beziehen (und zwar unabhängig von Art und Umfang ihrer konfessionellen Bindung).4 Zweck von Rohlings Der Talmudjude, der im Wesentlichen auf Eisenmengers Entdecktes Judentum basiert, ist die Bekehrung der Falschgläubigen. Rohling will Juden »die Verirrungen zu Gemüthe führen, denen [… sie, J.W.] seit 18 Jahrhunderten verfallen« seien, damit sie »es Ferne wie Nahe hören und aufgestört in ihrem Innern das verachten lernen, was sie fern hält von der Wahrheit, von der Kirche des Erlösers« (Rohling 1876: 4). Im Mittelpunkt des Talmudjuden stehen Aussagen über die »verderbte« Glaubens- und Sittenlehre der Juden. Rohling will in einem ersten Schritt zeigen, dass das Reformjudentum im Grunde ein traditionelles Judentum sei. Nach Rohling behaupte das Reformjudentum zwar, dass »der Talmud […] ihm kein Gesetzbuch« (Rohling 1873: 17) sei. Aber es stelle ihn doch über die Bibel und schwöre darauf, wenn sich die Gelegenheit böte. Folglich bleibe auch das Reformjudentum der Tradition und dem Talmud verhaftet. Daraus schließt Rohling, dass traditionelles Judentum und Reformjudentum ein gemeinsames, religiös bestimmtes Ganzes bilden, das durch falschen Glauben und verabscheuungswürdige Sitten charakterisiert sei. So lehre der Talmud, dass Juden die ganze Welt gehöre, man Goi betrügen dürfe und verbiete, ihnen ohne Wucher zu leihen, beschränke das Tötungsverbot und das Verbot des Ehebruchs auf Juden, empfehle das Schänden von nichtjüdischen Jungfrauen und die sodomische Behandlung des eigenen Weibes usw. (Rohling 1873: 32-50). Zu dem religiös entwickelten und in Ritualmordlegenden (vgl. Rohling 1873: 55ff.) ausgeführten Gegensatz tritt ein nationaler. Während Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Christen durch das individuelle Bekenntnis festgelegt wird, ist die Zugehörigkeit zu »Volk« durch Bekenntnis zu dessen Ethos und Abstammung bestimmt. Um dem eigenen »Volk« zugehörig zu werden, müssen Juden folglich Deutsche sein wollen und sich mit ihnen sexuell »mischen«. Diese »Mischung« wird durch das Grundmuster der Zuschreibungen faktisch ausgeschlossen. Juden könnten zwar Christen, nicht aber Deutsche usw. werden: Da Juden aus »ihrem Geist die Idee des jüdischen Staates nicht verbannen« könnten, »wird der Jude nie Pole, nie Franzose, nie Engländer, er bleibt ewig Jude« (Rohling 4 1877 wird die siebte Auflage publiziert, 1879 erscheint eine französische Übersetzung (Ferrari Zumbini 2003: 135). Der Paderborner Bonifatius-Verein verteilt 38.000 Exemplare der sechsten Auflage kostenlos (vgl. Pulzer 2000: 199).

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1873: 61). Die Zuschreibungen folgen auch bei Rohling, der ja eigentlich als Lehrbeispiel eines katholischen Antisemitismus gilt (vgl. z.B. Pulzer 2000: 194),5 dem Grundmuster des feindlichen Gegensatzes von »Völkern« (Gemeinschaft) und »Juden« (Gesellschaft): Juden könnten »keine Gemeinschaft mit den christlichen Völkern haben«, da sie »in allem deren Gegenteil sind« (Rohling 1873: 61). Auch zeigten sie keine »Dankbarkeit gegen die Völker, welche sie gastlich aufnahmen«, sondern betrachteten diese als Usurpatoren, förderten in diesen Völkern innere Konflikte und Revolution und strebten nach Weltherrschaft (Rohling 1873: 61ff.). So aggressiv und voller Hass dieser Typus judenfeindlichen Wissens auch sein mag, sein Hass erlischt, wenn sein Ziel, die Bekehrung, erreicht ist. In diesem stark religiös geprägten Antisemitismus kann ein Jude zwar eine Zugehörigkeit zu »Volk« »nie« erlangen, doch ist diese Zugehörigkeit für ihn nicht das vordringliche Problem. Vielmehr geht es darum, dass Juden sich für das Bekenntnis zum christlichen Glauben entscheiden. Ein Jude kann nicht nur Christ werden, er soll Christ werden  – und zwar nicht einfach Christ, sondern Katholik. Dieses repressive Homogenitätsideal, Folge der Identitätsrelevanz des katholischen Bekenntnisses im Selbstbild, gilt nicht nur für Juden, sondern auch für andere Falschgläubige, z.B. Protestanten. Konsequent schreibt Rohling ein ganzes Buch, in dem er Protestanten und Juden die katholische Wahrheit nahebringt. »Zwar gibt es gar viele unter ihnen, welche nur die Wahrheit im Munde führen und denen es um nichts weniger zu thun ist, als um die Wahrheit. Aber eine vielfältige Erfahrung hat mich gelehrt, daß auch manche von ihnen aufrichtig verlangen, die Wahrheit kennen zu lernen« (Rohling 1877: V f.). Diesen sei Der Katechismus des Neunzehnten Jahrhunderts für Juden und Protestanten zugeeignet. (2) Stärker auf den Staat bezogen – und weniger hasserfüllt – argumentiert Constantin Frantz (1817-1891), ein politischer Publizist, der als Publizist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht unwichtig, in der antisemitischen Bewegung allerdings eher eine Randfigur 5 Vgl. z.B. auch Langer 1994: 7f., der in seiner Studie zum Judenbild in der katholischen Volksbildung die von ihm untersuchte Form des Judenhasses als »Antijudaismus« bezeichnet und vom Antisemitismus unterscheidet.

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(Ferrari Zumbini 2003: 144) war.6 Frantz hatte 1874, einige Zeit vor dem Beginn der massiven antisemitischen Agitation nach 1879 und kurz vor dem Start von Otto Glagaus Artikelserie zum sogenannten Gründerkrach in der Gartenlaube im Dezember 1874, mit Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft eine antisemitische Kulturkritik des Deutschen Reiches publiziert: In dem Maße, in dem das Judentum an Einfluss im Staat gewonnen habe, habe der Staat seine christlichen Grundlagen preisgegeben. Beides sei eine Folge der Durchsetzung nationalliberaler politischer Prinzipien, die von der von Juden kontrollierten Presse befördert werde. »Bravo also, wenn ein Reich gegründet wurde, welches vom Christenthum so rund weg abstrahiert, daß es selbst die Existenz desselben ignorirt, und damit eine Verfassung entstand, welche ganz ebenso gut für Türken und Heiden als für ein christliches Volk gelten könnte« (Frantz 1874: 7). Gegenstand der Frantz’schen Kulturkritik ist der säkulare Staat, in dem die Gleichstellung der Juden die »tiefgreifendste Veränderung« (Frantz 1874: 11) gewesen sei, da mit ihr das Christentum seinen Einfluss auf das bürgerliche und politische Leben verloren habe. Im Zentrum des Selbstbildes steht das Bekenntnis zum Christentum als Grundlage des Staates, der politischen Einheit des »Volkes«. Frantz sieht die Differenz im Umfang der Grundgesamtheiten ganz klar und sich infolgedessen genötigt, die unterschiedlichen Zugehörigkeiten in eine Hierarchie zu bringen: »Eigenthümlich« sei die Einheit von Volk und Religion, weil »die Nationalität […] nur eine secundäre Bedeutung« für die Völker habe,7 »so daß sie in erster Linie nicht Deutsche oder Franzosen sondern Christen sind, wie sie auch durch die christliche Religion selbst 6 Eine Biografie mit ausführlichem Überblick über die antisemitischen Schriften von Constantin Frantz und deren Einordnung in dessen politisches Weltbild bietet Dreyer 2009b. 7 So auch in einem Brief an Richard Wagner, der auf dessen Aufsatz Was ist deutsch? reagiert, vgl. Frantz 1935: 19-37, insbes. 36f. Allerdings gilt auch für Frantz, was ich gleich in dem Kapitel zur historischen Dynamik der Typen erörtern werde: In späteren Schriften ändert sich die Gewichtung von religiösen und nationalen Elementen in der Bestimmung des Selbstbildes, vgl. exemplarisch Frantz 1935: 130 und 137f.

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dazu angewiesen werden, sich in erster Linie als Christen zu betrachten« (Frantz 1874: 10).8 Der Gegensatz von Selbst- und Feindbild folgt dem bekannten Grundmuster des feindlichen Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft: Der »Volkscharakter« der Juden wird von allen anderen »Völkern« unterschieden. Juden seien im Unterschied zu allen anderen »Völkern« durch Internationalität9 gekennzeichnet, ihr Ziel sei es, »die entchristlichten Völker […] ihrer Börsenherrschaft unterwerfen zu können« (Frantz 1874: 37).10 Dies sei »keine bloße Staatsfrage«, d.h. keine Frage, die nur einen einzelnen Staat betreffe. Da Juden ein über die ganze Welt verstreutes Ganzes bildeten, handele es sich um eine »überstaatliche oder metapolitische Frage« (Frantz 1874: 58). Die zentrale Juden zugeschriebene Bedrohung ist die »Entchristlichung« (Frantz 1874: 10), der auch der Nationalliberalismus vorarbeite (daher der Titel: Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft). Die »Judenherrschaft« begreift Frantz als göttliche Strafe für den Abfall der christlichen Völker vom Christentum (Frantz 1874: 63), den einzigen Ausweg sieht er in der »vollen Rückkehr zum Christentum« (Frantz 1874: 63) und in der Rücknahme der Emanzipation (vgl. den entsprechenden Beleg in Dreyer 2009b: 48 und Frantz 1935: 127). Die Taufe ist für Frantz der erste – und wichtigste – Schritt, einem »Volk« zugehörig zu werden: »Das Eingangsthor zu der deutschen oder französischen Nationalität ist damit das Christenthum, und folglich können Juden, solange sie Juden bleiben, auch niemals zu Deutschen oder Franzo  8 In der frühen, 1844 publizierten Schrift wird die Hierarchie in der Bestimmung der Zugehörigkeitsregeln noch deutlicher: Ein Volk werde durch die »Gemeinsamkeit des Gottes gebildet« (Frantz 1844: 16) und die Gemeinsamkeit der Religion sei Bedingung eines »vollkommenen« sittlichen Gemeinwesens. Aus diesem Grund könnten Juden keine Bürger in einem christlichen Staat sein und entsprechend in diesem auch keine Funktionen übernehmen. Was den Juden zu gewähren sei, könne ihnen in einem christlichen Staat nicht als Recht gegeben werden, sondern nur als Ausdruck von Menschenliebe: Schutz als passive Staatsgenossen, Teilhabe am bürgerlichen Erwerbsleben. Staatsbürger könnten Juden erst als Glaubensbrüder werden.   9 In einer späteren Arbeit spricht Frantz vom »Weltvolk« (Frantz 1935: 139). 10 Presse und Börse sind die von Frantz identifizierten »Hauptmachtmittel« (Frantz 1874: 29) der Juden. In der unterschiedlichen Betonung dieser »Machtmittel« in der späteren Schrift von 1874 und der früheren von 1844 drückt sich die Entwicklung der politischen Öffentlichkeit aus, vgl. Kapitel 5.3.

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sen werden, – außer es müsste andrerseits das deutsche Volk oder französische Volk erst wieder aufhören, christlich zu sein« (Frantz 1874: 10).11 (3) Adolf Stoecker (1835-1909) zählt neben Heinrich von Treitschke zu den heute bekanntesten Antisemiten des ausgehenden 19.  Jahrhunderts im Kaiserreich. Während Treitschke dem Antisemitismus seine professorale Autorität verlieh, weihte ihn Stoecker, der prominenteste evangelische Parteipolitiker und Parlamentarier des späten 19. Jahrhunderts (Brakelmann 2004, Teil 1: 173), durch seine Funktion als Hofprediger, die er von 1874 bis zu seiner Entlassung 1890 einnahm.12 Im Unterschied zu Treitschke, dem Gewährsmann eines bildungsbürgerlichen Antisemitismus, war Stoecker ein Gewährsmann des Antisemitismus eines evangelischen Kleinbürgertums (vgl. Holz 2001: 251 und die entsprechenden Verweise dort), was zu vielfältigen Abgrenzungen der Antisemiten aus dem bürgerlich-intellektuellen Milieu führte.13 Stoecker war nicht nur Propagandist des 11 Der Auffassung von Michael Dreyer (2009a: 247; 2009b: 46), der Antisemitismus von Frantz verbinde rassistische und religiöse Elemente, ist nicht zuzustimmen. Dreyer verweist auf die Aussage von Frantz, dass Juden immer Juden blieben, doch ist diese Aussage nicht rassistisch, sondern ethnisierend – sie weist die Zugehörigkeit von Personen zu einer Gruppe durch Abstammung aus. Die Festlegung von Zugehörigkeit durch Abstammung ist, wie in Kapitel 4 entwickelt, die Bedingung der Möglichkeit einer Ambivalenz in der Assimilationsforderung: Juden sollen sich zum christlichen Glauben bekennen, bleiben aber der Abstammung nach Juden. So ist es auch in der von Dreyer als Beleg zitierten Passage: Frantz erklärt die Emanzipation zu einem »leeren Wort«, da Juden ihre Abstammung von Abraham und ihre Verheißung »nie vergessen« könnten und daher »innerlich von der christlichen Geschichte ausgeschlossen« (Frantz 1844: 28) seien. Das Kapitel endet mit der Auskunft, dass Juden durch die »weltgeschichtliche Buße, die ihnen auferlegt ist, allmälig erreicht werden, und am Tage der Vollendung ihren Unglauben bekennen« (Frantz 1844: 28) würden. Von einer rassistischen Position grenzt sich Frantz in einer späteren Schrift explizit ab, vgl. Frantz 1874: 9; in einer Schrift aus den 80ern wird »Rasse« als Zugehörigkeitsregel im Sinne von Ethnie (vgl. Frantz 1935: 127) verwendet. 12 Stoecker hatte politisch – anders als Treitschke – keine liberale Vergangenheit, vielmehr gehörte er, wie z.B. Frantz, Liebermann von Sonnenberg und viele andere dem breiten Lager der Monarchisten an. 13 Typischerweise distanziert sich der bildungsbürgerliche Antisemitismus, der in gewählten und gesetzten Worten – immer abwägend, wie seine Vertreter das aus einem universitären Milieu gewohnt sind – Juden de facto dieselben Vorwürfe macht, dem aber die Massen auf politischen Versammlungen, die Protestmärsche auf der Straße, die so gar nicht bürgerlich distanzierte Wortwahl der antisemitischen Hetzschriften fremd, die wohlartikulierte Hetze im Salon oder im

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Antisemitismus, sondern dessen politischer Organisator. Ihm kommt für das Spektrum des politisch gemäßigten Antisemitismus, d.h. des Spektrums, das sich in seinen Forderungen auf die Einführung weniger Sondergesetze beschränkte,14 eine vergleichbare Funktion zu, wie sie Theodor Fritsch für das radikale Spektrum zugesprochen werden kann.15 Stoecker, »der erste Politiker, der den Antisemitismus erfolgreich als Instrument der Massenmobilisierung einsetzte« (Berding 1988: 87),16 war von 1879 bis 1898 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, von 1881-93 und von 1898-1908 Abgeordneter im Reichstag.17 Zugehörigkeit bestimmt Stoecker wie Rohling und Frantz ethnisch und religiös. Zum »Nationalcharakter« des »Volkes«, von Stoecker »germanisches Wesen« (Stoecker 2004a: 21) bzw. »Deutschtum« (Stoecker 2004c: 51) genannt, gehört das Bekenntnis zum christlichen Glauben (Stoecker 2004a: 21, 2004c: 51). Anders als z.B. Rohling führt er die »Judenfrage« nicht auf Religion, sondern auf andere Elemente des »Volkscharakters« der Juden zurück (Juden, so heißt es in Unsere Forderungen an das moderne Judenthum, hätten »an

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Hörsaal vor einem andächtig lauschenden, die Anstandsregeln beherrschenden Publikum dagegen vertraut sind, von dem sogenannten »Radauantisemitismus« (Treitschke). Seine Vertreter waren in der antisemitischen Bewegung auch nicht aktiv. Rosenberg (1967: 105) hat diesen Antisemitismus als »Antisemitismus der ›besseren Leute‹« bezeichnet, ein »salonfähiger, elitebewußter, esoterisch angehauchter Antisemitismus geistig exklusiver Notabeln«. Ausschluss der Juden aus Staatsdienst, Justiz und Militär, Ausschluss vom Beruf des Volksschullehrers, Zuwanderungsbeschränkung, Wiedereinführung der konfessionellen Statistik, vgl. Stoecker 2004a: 24; 2004f: 125f. Wie von vielen anderen Antisemiten wird auch von Stoecker die Einführung von Regulierungen der Ökonomie gefordert, welche Juden indirekt treffen sollen, etwa die Einführung einer Börsensteuer (vgl. Stoecker 2004f: 126). Fritsch war Verleger und eine der wichtigsten Figuren des organisierten Antisemitismus im Kaiserreich, in der Terminologie der Gegenwart würde man ihn als »Netzwerker« beschreiben. Sein Antisemitenkatechismus (ab 1907 Handbuch zur Judenfrage) wurde zwischen 1887 und 1944 49 Mal aufgelegt. Vgl. zu Fritsch Albanis 2009 und Puschner 2001: 57ff. Stoecker war ein begnadeter Redner, diese Fähigkeit und seine Bekanntheit füllten die Orte, an denen er auftrat (ein Überblick über Besuchszahlen 1880/81 bei einigen Reden in Massing 1959: 31). Eine ausführliche Biografie mit Schwerpunkt auf der Entwicklung des Antisemitismus bei Stoecker findet sich in Brakelmann 2004, Teil 1: 117-270; ein knapper Überblick in Bergmann 2009e und Massing 1959: 22ff.; eine kurze zeitgeschichtliche Einordnung Stoeckers in die 1870er in Ferrari-Zumbini 2003: 151ff. Die Literatur zu Stoecker ist umfangreich. Ich verweise an dieser Stelle auf den Überblick in Brakelmann 2004, Teil 1: 271-296.

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der Arbeit keine Freude« usw., vgl. Stoecker 2004a). Die »Judenfrage« sei eine »sozial-ethische und sozial-politische Frage« (Stoecker 2004e: 105), die unabhängig von religiöser Zugehörigkeit sei: »Wenn die Juden unter den Völkern nur ihre Existenz suchten, ihre religiösen Bräuche lebten und die eingeborene Bevölkerung hierin nicht störten, so gäbe es keine Judenfrage« (Stoecker 2004g: 131, vgl. auch 2004i: 61). Stoecker unterscheidet drei Gruppen von Juden, traditionelle, reformorientierte und moderne (vgl. Stoecker 2004a: 12 u.ö.), deren Einheit die Gemeinschaft der Abstammung bildet. Auf das »moderne Judentum« richtet sich sein Antisemitismus (vgl. auch Brakelmann 2004, Teil 1: 170 u.ö.; Holz 2001: 259ff.). »Juden« werden nach dem bekannten Grundmuster von allen »Völkern« unterschieden (ein »Volk im Volke, ein Staat im Staat, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse«)18 und diesen als gemeinschaftszerstörend gegenübergestellt (»Entwurzelung« des nationalen Gefühls und des christlichen Glaubens, Verantwortlichkeit für die »soziale Frage« usw., vgl. Stoecker 2004a: 18, 2004e, 2004i: 61 u.ö.).19 Es gehe um »Sein oder Nichtsein«, Juden griffen »unsre besten Güter, christliche Religion, Kirche, deutsche Kultur und deutsches Wesen« (Stoecker 2004g: 130; 131) an. Auch wenn für Stoecker die »Judenfrage« keine Frage religiöser Zugehörigkeit ist, so bleiben die Mittel ihrer Überwindung doch religiöser Natur, weil das Bekenntnis zum Christentum im Selbstbild des eigenen »Volkes« identitätsrelevant ist: »Wir müssen wieder die Eigentümlichkeiten des nationalen Genius pflegen, deutsches Gemüt, Redlichkeit, Arbeitsamkeit und Frömmigkeit, die sonst unser Erbteil waren. Völker und einzelne Menschen können wiedergeboren werden, aber sie können es nur durch die Kraft aus der Höhe. Besinnen wir uns darauf, dass wir ein christliches Volk sind, dass wir eine christliche 18 Stoecker verwendet »Rasse« ausschließlich im Sinne der Festlegung von Zugehörigkeit durch Abstammung. Im eigentlichen Sinne rassistische Verwendungen kritisiert er explizit, vgl. exemplarisch Stoecker 2004h: 198f. 19 In 2004b: 34 findet sich eine Passage, in der die Kritik moderner Gesellschaft aus der Perspektive von Gemeinschaft sehr deutlich wird: »Ich bin von einem anständigen Juden gefragt, was ich eigentlich mit meinem Angriff [gemeint ist die Rede Unsere Forderungen an das moderne Judentum, die erhebliches Aufsehen erregt hat, J.W.] gegen das moderne Judentum bezwecke. Meine Antwort ist die, dass ich in dem zügellosen Kapitalismus das Unheil unsrer Epoche sehe und deshalb naturgemäß auch durch meine sozialpolitischen Anschauungen ein Gegner des modernen Judentums bin, in welchem jene Richtung ihre hauptsächlichen Vertreter hat.«

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Obrigkeit haben« (Stoecker 2004d: 97).20 Weil »wir« ein »christliches Volk« sind, bleibt die Taufe bei Stoecker durchgehend das erste Mittel einer Distanzierung vom Judentum (Stoecker 2004g: 129).21 Weil »wir« ein »christliches Volk« sind, verhilft dieses Mittel nur zur Aufnahme in die Christengemeinschaft, nicht aber in die »Volksgemeinschaft« – der Gegensatz »Völker«–»Juden« ist nicht als ein Gegensatz des Glaubensbekenntnisses gefasst, sondern als Gegensatz von »Völkern« (Gemeinschaften) und dem gemeinschaftszerstörenden Prinzip Gesellschaft. Da die Selbstbeschreibung als Glaubensgemeinschaft der Selbstbeschreibung als Abstammungsgemeinschaft des »Volkes« übergeordnet ist, bleibt der Antisemitismus von Stoecker wie der von Frantz in der Sprache wie in den Forderungen – im Vergleich – moderat.22 Dies gilt nicht in der Sprache, aber in der Sache auch für August Rohling. Der Grund dafür liegt in der Struktur dieses Typus: Zwar kann ein Jude nicht, wie in allen anderen Typen auch, dem »Volk« zugehörig werden, aber er kann und soll Teil der »Wir-Gruppe« der Christenheit werden. Entsprechend richtet sich die Anstrengung dieses Typus auf Bekehrung. Wie alle Typen des modernen Antisemitismus will der christlich-nationale Antisemitismus Juden und Judentum zum Verschwinden bringen. Aber »Verschwinden« bedeutet für ihn nicht Vertreibung, sondern Taufe. Diesen »moderaten« Zug verliert der christlich-nationale Antisemitismus in dem Moment, in dem sich das Gewicht des religiösen Elements im Selbstbild verringert. Mit dieser Gewichtsverschiebung ändert sich der Charakter des antisemitischen Wissens insgesamt. 20 So auch Stoecker 2004b: 40f.: »Die große Frage ist, wie wir die Gefahr dieses modernen Judentums beseitigen oder verkleinern. Die Gesetzgebung, wenn sie die Herrschaft des Kapitals einschränkt und damit den Juden ihre Domäne einengt, kann einiges tun. Das Beste muss aus dem Wiedererwachen des lebendigen Christentums kommen. Wenn das deutsche Volk wieder ein christliches Volk wird, gläubig an Jesum Christum, frei von Geldgier, voll Ehrfurcht für seine Kirche, dann wird das moderne Judentum mit seinem Mammonsgeist, seiner schnöden Presse, seinem Hass gegen die Kirche nichts ausrichten. Vielmehr wird das lebendige Christentum eine mächtige und unwiderstehliche Mission treiben am dem altgläubigen wie an dem modernen Judentum« (vgl. auch 2004c: 49). Jochmann (1982: 148) charakterisiert das Selbstbild in Stoeckers Antisemitismus treffend als »religiös unterbauten Nationalismus«. 21 In 2004h: 198 erklärt Stoecker, dass eine Leugnung der »Wirksamkeit der Taufe […] ein Widerspruch gegen das Christentum, ein Zweifel an seiner Universalität, ein Rückfall in die Nationalreligionen« sei. 22 In Frantz’ späteren Arbeiten wird der Ton erheblich schroffer, vgl. zum Beleg Dreyer 2009b: 56 sowie Frantz 1935: 133f.

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6.2 Nationaler Antisemitismus Wie im christlich-nationalen Antisemitismus spielt das Christentum im Typus des nationalen Antisemitismus eine Rolle in der Bestimmung des Ethos von »Volk«, aber das Bekenntnis steht nicht mehr im Zentrum. Im Typus des nationalen Antisemitismus rücken die ethnische Bestimmung von »Volk« und dessen weltliches Ethos in den Vordergrund. Dieser Typus ist in sich dynamisch, d.h. er lässt sich als historischer Typus beschreiben, in dem sich die Bedeutung des Bekenntnisses zum christlichen Glauben fortschreitend verringert. Je mehr Gewicht der Selbstbeschreibung als historisch-genealogischer Gemeinschaft eines »Volkes« zukommt, desto stärker wird das Bekenntnis historisiert, d.h. in diese Geschichte eingebunden. Historisierung des Bekenntnisses bedeutet seine Verwandlung in einen Traditionsbestand der eigenen Gruppe, Veränderung der Identitätsrelevanz des Christentums als Bekenntnis hin zum unverzichtbaren (vgl. Treitschke 2003c: 285) Teil »unseres« kulturgeschichtlichen Erbes. Das Ende der Dynamik ist erreicht, wenn das Bekenntnis zum christlichen Glauben seine Identitätsrelevanz für das Selbstbild verloren hat und das Christentum komplett zu einem kulturhistorischen Bestandteil der Geschichte des eigenen »Volkes« historisiert worden ist. Unter den Typus des nationalen Antisemitismus fasse ich Fälle, in denen Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe ausschließlich oder dominant durch Abstammung und das Bekenntnis zu einem weltlichen Ethos eines Volkes bestimmt ist. Das Grundmuster der Zuschreibungen unterscheidet sich nicht vom christlich-nationalen Typus, auch nicht von den anderen Typen, es ist in allen Typen dasselbe. Die im Vergleich zum christlich-nationalen Typus andere Gewichtung der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Christen führt im nationalen Antisemitismus jedoch dazu, dass das Grundmuster anders historisiert wird. Der Unterschied zwischen nationalem und christlich-nationalem Antisemitismus liegt nicht in der Historisierung selbst. Alle Typen des modernen Antisemitismus historisieren die Differenz zwischen »Völkern« und »Juden« in einer historischen Erzählung. Historisierung der Differenz heißt in allen Varianten nichts anderes als seine Verzeitlichung in der Vergangenheit. Was den nationalen vom christlich-nationalen Typus unterscheidet, ist das Ausmaß der Historisierung. Im christlich-nationalen Antisemitismus ist das Christentum als Bekenntnis selbstbildrelevant, im nationa-

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len ist das Christentum der Tendenz nach als historisches Datum selbstbildrelevant. Dadurch verändert sich das Wissen über die religiöse Differenz von Christen und Juden: Dass Juden den in den Augen der Christen wahren Messias nicht anerkennen wollen, ist für den nationalen Antisemitismus nicht das zentrale Problem. In das Zentrum des historisch-genealogischen Interesses tritt vielmehr das historische Verhältnis von Judentum und Christentum, aber nicht als theologisches Problem, als Verhältnis von Altem und Neuem Testament, sondern als historisches Verhältnis von »Völkern«. Bernhard Försters23 Vortrag über das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst ist dafür ein exemplarisches Beispiel: Nicht die Nichtanerkennung des »Erlösers«, sondern die Herkunft des »Erlösers« wird zum Problem.24 Dem entsprechend wird in diesem Typus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt die Frage disku23 Bernhard Förster (1843-1889), Lehrer in Berlin, war eine der zentralen Figuren in der antisemitischen Bewegung im Kaiserreich und Mitinitiator der Antisemitenpetition. Bis 1881 war er in der Christlich-socialen Arbeiterpartei aktiv, später war er Mitbegründer der Deutschsozialen Partei. Infolge seiner Aktivitäten wurde er aus dem Militär und dem Schuldienst entlassen (Pulzer 1966: 84). Förster ging schließlich 1887 nach Paraguay, um dort ein »Deutschland der Zukunft« (zit. nach Kraus 2008: 176) aufzubauen, scheiterte damit aber (dazu: Kraus 2008: 180-188; zur Biografie insgesamt: Kraus 2009b: 236f.). 24 Das historische Verhältnis von Judentum und Christentum darf nach Förster nicht so verstanden werden, dass das Christentum ein »Product des Judenthums« sei. Zwar sei es innerhalb des Judentums entstanden, aber nicht aus »den Voraussetzungen des Judenthums allein zu verstehen« (Förster 1881: 13). Erstens sei die Bezeichnung Christi als Gottes Sohn ein Beleg dafür, dass er kein Jude sei (vgl. Förster 1881: 14). Zweitens hätten zwei parallel laufende weltgeschichtliche Ereignisse stattgefunden, welche die weitere Geschichte in herausragender Weise bestimmt hätten (Förster 1881: 17): In der Zeit der Entstehung des Christentums hätten die Juden ihre »nationale Selbstständigkeit« verloren und seien über die »ganze Welt zerstreut« (Förster 1881: 15) worden. In der Folge hätten sie nur die Wahl gehabt, entweder sich »ihrer Nationalität die Form als Staat wiederzuschaffen« oder sich anderen Völkern zu assimilieren (Förster 1881: 15). Da sich »die Juden«, von einzelnen abgesehen, seit 2000 Jahren weder in der einen noch in der anderen Richtung bemühten – da sie also die nationalistische Norm der Einheit von Volk und Staat auf einem Territorium verletzten –, seien sie zu »Parasiten« (Förster 1881: 16) geworden. Mit der Entstehung neuer »germanischer Staaten« (Förster 1881: 18) sei das  – nichtjüdische  – Christentum in »Form einer Cultur zu den Germanen« gekommen. Beide seien eine »Ehe« eingegangen (Förster 1881: 19), wodurch das Christentum umgeformt worden sei  – die »Concession, welche das Christenthum dem arischen Bewusstsein machte, war der Heiligen-Cultus« (Förster 1881: 20). Daher seien »Deutschthum« und »Christenthum« aufs engste »einander verwachsen« (Förster 1881: 31).

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tiert, ob Jesus Jude war, und nach Gründen gesucht, warum er genau das nicht war.25 In dem Moment, in dem diese Frage diskutiert wird, tritt das Kriterium religiöser Zugehörigkeit, das Bekenntnis, weiter hinter das genealogischer Zugehörigkeit zurück. Gewichtsverschiebung heißt nicht einfach Verweltlichung oder Säkularisierung. Vielmehr verstehe ich darunter eine Verschiebung der Bezugspunkte des antisemitischen Wissens, in der Glaubenslehre und institutionalisierte Glaubenspraxis aus seinem Zentrum herausrücken und zunehmend randständig werden, während im Gegenzug die historische Genealogie von »Volk« und dessen institutionalisierte staatliche Herrschaftspraxis in das Zentrum dieses Wissens einrücken. Seiner religiösen Bedeutung entkleidet, ist das Christentum Teil »unserer« Kulturgeschichte. Diese Geschichte ist zwar innerweltlich, aber nicht säkular: An die Stelle Gottes tritt »Volk«, das in nationalen Selbstbildern zu einer Letztinstanz wird, zum Produkt und zur Voraussetzung von Geschichte (vgl. Kapitel 3). Ein derart innerweltlichhistorisches Verständnis von »Volk« ist auch im Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts nicht dominant. Doch lassen sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend Autoren finden, die sich im kollektiven Selbstbild nicht mehr positiv auf das Christentum als Bekenntnis beziehen. Vereinzelt tritt dieser Typus schon im frühen 19. Jahrhundert auf – ich habe in Kapitel 4 einen solchen Fall, Jakob Fries, erörtert –, häufiger wird er erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die weitere Entwicklung der Wissensformation des modernen Antisemitismus bis zur Mitte des 20.  Jahrhunderts besteht wesentlich in der fortschreitenden Historisierung des christlichen Elements des Selbstbildes und des fortschreitenden Bedeutungsverlusts des christlichnationalen Typs. Ich stelle den Typus des nationalen Antisemitismus am Beispiel von Max Hugo Liebermann von Sonnenberg (1) und Heinrich von Treitschke (2) dar. 25 Die Antworten auf diese Frage reichen von der Behauptung, es bestünde die Möglichkeit, dass Jesus Arier war (Langbehn 1908: 353), über die Auffassung, dass vieles dafür spreche, dass Jesus »nicht reiner Nationaljude« (Dühring 1883: 21) war, bis zu der These, dass Jesus unmöglich Jude (vgl. Chamberlain 1899: 210ff.) gewesen sein kann. Chamberlain unterscheidet zwischen der »Stammeszugehörigkeit«, nach der Jesus kein Jude gewesen sei, und seiner Religionszugehörigkeit und Erziehung, nach der er »unzweifelhaft« (Chamberlain 1899: 211) Jude gewesen sei. Wo, wie im nationalreligiösen Antisemitismus, das Christentum kein positiver Bezug im Selbstbild mehr ist, wird die Herkunft von Jesus bzw. Maria ebenfalls diskutiert, aber nicht in gleicher Weise problematisiert vgl. z.B. Lagarde 1924b: 168ff. oder 1924a: 124ff.

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(1) Max Hugo Liebermann von Sonnenberg war ein Protagonist der antisemitischen Bewegung im Kaiserreich. Der Mitinitiator der von über 250.000 Personen (Rürup 1987: 130) unterzeichneten Antisemitenpetition, in der u.a. eine teilweise Rücknahme der Emanzipation der Juden und Zuwanderungsbeschränkungen gefordert werden, war Mitgründer des Deutschen Volksvereins sowie der Deutsch-socialen Partei 1889 (nach der Vereinigung mit der Deutschen Reformpartei ab 1894: Deutschsoziale Reformpartei), die er im Reichstag von 1890 bis 1911 vertrat. Liebermann von Sonnenberg war auch publizistisch aktiv, unter anderem einige Jahre als Chefredakteur der von ihm gegründeten Deutschen Volkszeitung und der Deutsch-sozialen Blätter (vgl. zu Biografie und Aktivitäten: Kimmel 2009c: 482f.; Ferrari Zumbini 2003: 232f.). »Unser Volk«, so der Reichstagsabgeordnete Liebermann von Sonnenberg in einer Parlamentsdebatte zur sogenannten Umsturzvorlage,26 »steht auf dem Boden der christlichen Weltanschauung« (Liebermann von Sonnenberg 1895: 14). Was »unser Volk« über die »christliche Weltanschauung«, die es mit anderen Völkern gemein haben kann, hinaus von anderen unterscheide, seien deutsches Gewissen und Eigenstaatlichkeit (vgl. Liebermann von Sonnenberg 1895: 5), »christliche Religion« und »Monarchie« seien »seit Jahrtausenden, […] seit den Uranfängen unserer Nation«, »tief eingewurzelt« (Liebermann von Sonnenberg 1895: 6).27 Bei Liebermann von Sonnenberg ist die Selbstbeschreibung wie im christlich-nationalen Typus religiös und national,28 aber das nationale Element ist nicht, wie bei Frantz, »secundär«. Das Verhältnis hat 26 Die »Umsturzvorlage« war ein im Wesentlichen gegen die Sozialdemokratie gerichteter Gesetzentwurf der Regierung Hohenlohe, welcher die Meinungsfreiheit einschränken hätte sollen. 27 »Mit Gott für Kaiser und Reich« war die auch von Liebermann von Sonnenberg artikulierte (z.B. 1885a: 104) populäre Losung des monarchistisch gesinnten Nationalismus. Zum Bedeutungswandel dieser Parole im 19.  Jahrhundert vgl. Dann 1994b: 83. 28 Bei Liebermann von Sonnenberg finden sich auch rassistische Argumentationsfiguren (z.B. Liebermann von Sonnenberg 1885d: 52 oder Liebermann von Sonnenberg 1892). Aus diesem Grund wird der Antisemitismus Liebermann von Sonnenbergs nicht selten als »rassistisch« charakterisiert. Ich verwende ihn als Beispiel für nationalen Antisemitismus, weil 1) rassistische Argumentationsfiguren bei Liebermann von Sonnenberg nicht dominant sind, 2) die Historisierung des christlichen Bekenntnisses in beiden Typen in gleicher Weise vollzogen wird und 3) der hier entscheidende Aspekt der Historisierung einer religiösen Differenz bei ihm besonders deutlich wird.

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sich vielmehr gerade umgedreht: In einer Rede zum Johannisfest des deutschen Volksvereins erklärt Liebermann von Sonnenberg, warum »wir christlichen Deutschen dies heidnische Fest erneuern« (Liebermann von Sonnenberg 1885b: 83): Das christliche Johannisfest sei die Fortsetzung der altgermanischen Sommersonnenwendfeier der heidnischen »Vorfahren«.29 Zwischen diesen »Vorfahren« und dem heutigen deutschen Volk bestehe eine historisch-genealogische Kontinuität, die sich im Wissen über die Geschichte des eigenen »Volkes« ausdrücke: »Nur ein Volk, welches mit Liebe und Verständnis seiner Vergangenheit gedenkt [hier ist gemeint: die heidnische Tradition des Johannisfestes, J.W.], in welchem das Bewußtsein der ununterbrochen fortdauernden Zusammengehörigkeit mit seinen Altvorderen nicht erlischt, kann ein starkes Stammesbewußtsein und damit ausreichende Widerstandsfähigkeit gegen die verderblichen Einflüsse landfremder Leute entwickeln« (Liebermann von Sonnenberg 1885b: 84). Konsequent wird das Christentum historisiert und zu einem Glauben, der von diesem »Volk« in seiner historischen Entwicklung angenommen wurde – das »Volk« war historisch zuerst (ich habe auf dieses Element nationaler Ursprungsmythen schon am Beispiel von Rühs hingewiesen). Aus diesem Grund verändert sich das Verhältnis zu heidnischen Festen, die nun nicht mehr als das Andere des eigenen Glaubensbekenntnisses, sondern als Teil der eigenen Tradition verstanden werden: »Wir« waren erst Heiden und dann Christen, aus dem Gegensatz von Christ und Heide wird eine in der historischen Genealogie des »Volkes« verankerte Kontinuität. Folglich versteht Liebermann von Sonnenberg das Christentum nicht in Differenz zu altgermanischen Riten, sondern als deren Fortsetzung, eben das Johannisfest als Fortsetzung der Sommersonnenwendfeier. In dieser Perspektive ist die historische Genealogie des »christlichen Volkes« für das Selbstbild primär, das Bekenntnis zum Christentum sekundär (vgl. auch Liebermann von Sonnenberg 1892: 13).30 Mit der Verringerung des Gewichts des Bekenntnisses im Selbstbild verändert sich die Erzählung, in die das Grundmuster der Zu29 Zur Bedeutung dieses Festes in der deutschnationalen Bewegung vgl. Schmid 2009: 136ff. 30 Vergleichbar aus einer rassistischen Perspektive: Dühring 1883: 4ff.

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schreibungen eingebettet wird. Auch bei Liebermann von Sonnenberg »entgöttern« Juden im Bündnis mit dem Liberalismus31 »die Welt« und zerstören die Nation. Aber die Erzählung der »Entgötterung« tritt hinter die Erzählung des historischen Gegensatzes von »Völkern« und »Juden« zurück, in dessen Zentrum die Opposition von »wirklicher Arbeit« und »jüdischem Kapital« (vgl. Liebermann von Sonnenberg 1984c: 7; 1892: 15f.) steht. »Deutsche« leisteten gewissenhaft »wirkliche Arbeit«, »Juden« dagegen betrachteten »Arbeit als Fluch« (Liebermann von Sonnenberg 1892: 15), beuteten »Deutsche« systematisch mit Hilfe »schädlichen« Börsenkapitals aus (Liebermann von Sonnenberg 1894a: 5, vgl. auch 1894b: 13)32 und zerstörten die Einheit des »Volkes«, indem sie sich als »Hetzer zur Revolution« (Liebermann von Sonnenberg 1895: 8) betätigten. (2) Heinrich von Treitschke (1834-1896) war – im Rückblick betrachtet – der für die weitere Geschichte des Antisemitismus bedeutendste Antisemit im Kaiserreich. Treitschke stammte im Unterschied zu den oft monarchistisch und antidemokratisch orientierten Antisemiten aus einer liberalen politischen Tradition und vertrat die Nationalliberalen bis zu Bismarcks innenpolitischer Wende 1879 im Reichstag (nach seinem Parteiaustritt blieb er bis 1884 fraktionsloser Abgeordneter). Vor allem aber gehörte Treitschke, seit 1863 Professor für Ge31 Die Liberalismuskritik wird von fast allen Antisemiten artikuliert und ebenfalls entlang des Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft entwickelt, ich verweise exemplarisch nur auf Stoecker, der zwischen einem »falschen« und einem »wahren« Liberalismus unterscheidet: Der »falsche« Liberalismus sei im Unterschied zum »wahren« durch drei »große Fehler« gekennzeichnet: Erstens »weiß [der falsche Liberalismus, J.W.] nichts davon, dass wir Deutsche und Christen sind, er erkennt nur ein kosmopolitisches Weltbürgertum ohne Erkenntnis des nationalen Wesens«. Zweitens vertrete der »falsche« Liberalismus ökonomisch die verkehrte Idee einer »schrankenlosen Freiheit«, drittens habe er »kein festes Bekenntnis als Fundament« (Stoecker 2004g: 132). 32 Auf der Seite der »wirklichen Arbeit« steht nach Liebermann von Sonnenberg das »nützliche Kapital«, auf der Seite der Ausbeutung der »wirklichen Arbeit« das »schädliche Kapital«: »Nützlich ist dasjenige Kapital, welches sich erst in bescheidenen Grenzen vermehrt, wenn wirklich Arbeit für diese Vermehrung geleistet wurde«, es arbeite z.B. in der Landwirtschaft, der Industrie, dem »redlichen Handel«, den »Spar-Vermögen«. Das schädliche Kapital, das »meist ein jüdisches ist« (Liebermann von Sonnenberg 1894a: 5), sei an der Börse zu finden. Konsequent spricht sich Liebermann von Sonnenberg im Unterschied etwa zu Stoecker gegen eine Börsensteuer aus, diese sei zwar besser als nichts, aber sie mache aus der Börse keine moralischere Institution, daher sei eine Börsenreform die bessere Lösung (Liebermann von Sonnenberg 1894a: 4; 1894b: 16).

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schichte und 1874 als Nachfolger Rankes nach Berlin berufen, einer intellektuellen bildungsbürgerlichen Elite an; seine Stimme wurde gehört und diskutiert. Seine zwischen 1879 und 1894 publizierte Deutsche Geschichte zierte private und öffentliche Bibliotheken, sie war ein »Verkaufsschlager« (Krieger 2003: XXVIII, Fn 47). 1879 veröffentlichte Heinrich von Treitschke in den von ihm herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern den Aufsatz Unsere Aussichten. Eben weil der Text von Treitschke, einem Vertreter des »intellektuellen und liberalen Establishments« (Hoffmann 1997: 222) stammte und nicht von einem Marr, Glagau oder Stoecker, zog er eine heftige Kontroverse nach sich, die unter dem Titel »Berliner Antisemitismusstreit« bekannt geworden ist. »Kein antisemitischer Aufsatz löste jemals eine so heftige Reaktion aus, wie ›Unsere Aussichten‹, und kein antisemitisches Pamphlet erzielte jemals eine derart weite Verbreitung wie die unter dem Titel ›Ein Wort über unser Judentum‹ im Januar 1880 für einen großen Leserkreis veröffentlichte preisgünstige Broschüre, in der Treitschke seine bis dahin erschienenen ›Judenartikel‹ zusammengefaßt hatte« (Krieger 2003: XVIIf.). Wegen der Bedeutung des Textes ist er in der Antisemitismusforschung breit diskutiert (vgl. nur exemplarisch Krieger 2003 und Hoffmann 1997 mit den entsprechenden Verweisen) und immer wieder interpretiert worden (am ausführlichsten und präzisesten: Holz 2001: 165-247). Der Mittelpunkt, um den Treitschkes Arbeiten und sein Lebenswerk, die Deutsche Geschichte, kreisen, ist die nationale Einheit der Deutschen. Nationale Einheit ist auch das Thema Treitschkes in Unsere Aussichten. Treitschke unterscheidet zwischen »Völkern«, Deutschen, Franzosen usw., und einem »jüdischen Charakter«.33 33 Treitschke fasst die Zugehörigkeit zur Gruppe der Juden nach der gleichen Regel wie die Zugehörigkeit zu allen anderen »Völkern«, bezeichnet sie aber nicht als »Volk«, sondern als »fremdes Voksthum«, »Israeliten« (Treitschke 2003a: 11, 15), als »Stamm« (Treitschke 2003a: 11), »israelitische Mitbürger« (Treitschke 2003a: 12) bzw. »jüdische Mitbürger« (Treitschke 2003a: 15), »Judenthum« (Treitschke 2003a: 10, 12, 13, 15), »Semitenthum« (Treitschke 2003a: 13), »fremdes Element« (Treitschke 2003a: 14). An einer einzigen Stelle spricht Treitschke von »Volk« (Treitschke 2003a: 11). Dieser Unterschied erklärt sich aus dem Grundmuster der Zuschreibungen, nach dem Juden als Gemeinschaft gedacht werden, die Gesellschaft verkörpert.

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Beide, »Völker« und »Juden«, werden als Abstammungs- (vgl. Treitschke 2003a: 11, 12) und Kulturgemeinschaften vorgestellt: Da das Ethos der Juden als gemeinschaftszerstörendes Anti-Ethos gezeichnet wird, werden sie von Treitschke als Einheit gefasst, die in sich uneinheitlich ist, als eine Gemeinschaft, die Gesellschaft ist.34 Nach dem Grundmuster der Personalisierung des feindlichen Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft in »Völkern« und »Juden« wird die »gesunde, natürliche Entwicklung« der »nationalen Gebilde« durch die »neue internationale Partei des Großkapitals«, die vom »vaterlandslosen Judentum« gestützt werde, (Treitschke 1934, Bd. II: 645) untergraben. Gegen die »alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes«, gegen »Christenthum und Germanenthum« (Treitschke 2003b: 125, vgl. auch 2003a: 13f.) stehen die Betrachtung der »Arbeit als Geschäft« (Treitschke 2003a: 13), »unheimische, radicale, abstracte Ideen«, »undeutsche Ideale«, »internationale Witze« (Treitschke 2003c: 286f.). Treitschke hat die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf eine griffige Formel gebracht: »Die Juden sind unser Unglück!« (Treitschke 2003a: 14) Dagegen stelle sich das deutsche Volk in Gestalt der antisemitischen Bewegung, die für ihn »das erwachte Gewissen des Volkes« (Treitschke 2003a: 9) ausdrückt, das sich im »neuen Deutschland« (Treitschke 2003a: 15f.) zur Wehr setze. Nach Treitschke hat das Ethos der Abstammungsgemeinschaft der Deutschen, die »Eigenart des Volkstums« (Treitschke 1934, Bd. II: 645) oder »deutsche Gesittung«, »drei großen Quellen«, das klassischen Altertum, das Christentum und das Germanentum (Treitschke 2003c: 285). Aber diese Quellen sind historische Quellen unterschiedlichen Gewichts: »Unsere Gesittung« sei »durchaus nicht eine Mischcultur«, weil »wir«, die »Germanen«, »die classischen wie die christlichen Ideale mit unserem eigenen Wesen so völlig verschmolzen [haben], daß sie uns in Fleisch und Blut übergegangen sind« (Treitschke 2003c: 285). Das Christentum ist zu einem »Ideal«, in der Sprache der Gegenwart: zu einer »Wertegemeinschaft«, historisiert. Freilich sind auch bei Treitschke »wir Deutschen ein christliches Volk«, aber eben nicht mehr in der Bedeutung einer Bekenntnisgemeinschaft, sondern als historischer Traditionsbestand »unserer« Geschichte (und entsprechend leben »wir« auch nicht in einem »christlichen Staat«, eine Formulierung, die Treitschke explizit kritisiert). 34 Z.B. »fressen« Juden Juden, vgl. Treitschke 2003a: 10f.

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Diese Verwandlung ist für Treitschke gerade nicht damit verbunden, dass das Christentum in der Geschichte des deutschen »Volkes« eine geringere Bedeutung hätte. Diese sei vielmehr nicht zu unterschätzen: »Mit jedem Schritte, den ich in der Erkenntniß der vaterländischen Geschichte vorwärts thue, wird mir klarer, wie fest das Christenthum mit allen Fasern des deutschen Volkes verwachsen ist […]. Christliche Gedanken befruchten unsere Kunst und Wissenschaft; christlicher Geist lebt in allen gesunden Institutionen unseres Staates und unserer Gesellschaft« (Treitschke 2003c: 288). Der Unterschied zum Typus des christlich-nationalen Antisemitismus besteht nicht darin, dass der nationale Antisemitismus dem Christentum weniger Bedeutung zumisst, sondern darin, dass er ihm eine andere Bedeutung gibt. Weil das Christentum zum »eingeschmolzenen« Ideal der Geschichte des »Volkes« historisiert wird, muss man kein Christ sein, um Deutscher zu sein. Vielmehr nimmt man als Deutscher die christlichen »Ideale« auf. Entsprechend fordert Treitschke an keiner Stelle von Juden die Taufe. Auch für den christlich-nationalen Antisemitismus ist die Taufe nur das »Eingangsthor« (Frantz) zur eigenen Gruppe. Weil die Taufe im nationalen Antisemitismus keine Türen mehr öffnet, tritt die Ambivalenz der an die Juden gerichteten Assimilationsforderung deutlich hervor: Juden sollen sich assimilieren, »Deutsche werden« (Treitschke 2003a: 12). Doch »Mischung« ist keine Perspektive: Treitschke fordert Assimilation, und das bedeutet im Verständnis von »Volk« als historisch-genealogischer Gemeinschaft »Vermischung« der »Völker«, aber diese »Vermischung« gibt Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen, weil nach dem Grundmuster der Zuschreibungen »wir« eine Gemeinschaft, »Juden« aber das gemeinschaftszerstörende Gegenprinzip zu aller Gemeinschaft verkörpern. »Wir wollen aber nicht, daß […] noch das neujüdische Wesen […] hinzutrete; […] wir wollen dies nicht« (Treitschke 2003c: 285, vgl. auch 2003a: 12). Stattdessen sollen sich Juden an »Jahrhunderte germanischer Gesittung« (Treitschke 1003c: 285) anpassen. Doch »die Aufgabe kann niemals ganz gelöst werden« (Treitschke 2003a: 15; vgl. auch 2003b: 119). Wegen der Übereinstimmung des Grundmusters der Zuschreibungen im nationalen und im christlich-nationalen Antisemitismus ist auch

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der christlich-nationale durch die Ambivalenz in der Assimilationsforderung gekennzeichnet. Weil aber im nationalen Antisemitismus das Christentum als Bekenntnis an Identitätsrelevanz verliert, sind die Konsequenzen der »Lösung« der »Judenfrage« unterschiedlich: Im christlich-nationalen Antisemitismus waren die Rückbesinnung auf das Christentum im eigenen »Volk« und die Christianisierung der Juden die Mittel, um die Juden zugeschriebenen Bedrohungen zu bekämpfen. Im nationalen Typus dagegen wird eine »Lösung« strukturell ausweglos. Juden sollen so werden wir »wir«, können aber in keiner Hinsicht so werden wie »wir« (sie verkörpern ja das Andere von Gemeinschaft). Weil es »auf Dauer« »unmöglich« sei, dass »die Angehörigen zweier verschiedener Volksstämme im Lande« »gleichberechtigt nebeneinander« wohnen (Liebermann von Sonnenberg 1895: 5),35 läuft der nationale Antisemitismus strukturell hinaus auf Trennung der Gruppen und die Rückbesinnung auf das »Deutschthum«, eine der »thörichten, undeutschen und weltbürgerlichen Erziehung« (Liebermann von Sonnenberg 1885b: 87) entgegengesetzte Erziehung des »Volkes«, welche »die Nebel der grauen, das Judasmetall der goldenen und die Flammen der rothen Internationale« (Liebermann von Sonnenberg 1885a: 104) zurückdrängt.

6.3 Nationalreligiöser Antisemitismus Der Typus des nationalreligiösen Antisemitismus unterscheidet sich vom nationalen Antisemitismus dadurch, dass er im Selbstbild das christliche Bekenntnis nicht nur historisiert, sondern auch ablehnt. Dieser Typus gewinnt in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts an Bedeutung.36 Jüdische wie christliche Religion sind diesem Typus »alle miteinander unerwünscht« (Lagarde 1937b: 291), Taufe wird entsprechend dezidiert als falsches Bekenntnis abgelehnt. Der nationalreligiöse Antisemitismus überwindet das christliche Bekenntnis, indem er an seine Stelle das Bekenntnis zur Nation setzt (vgl. 35 Dass Treitschke diese Konsequenz, die sich aus der Struktur dieses Wissens ergibt, nicht explizit formuliert, erklärt sich wesentlich aus seiner Zugehörigkeit zu einer humanistisch gebildeten bildungsbürgerlichen Oberschicht (vgl. Massing 1959: 99). 36 Historisch beginnt die Entwicklung nationalreligiöser Positionen selbstverständlich früher (vgl. dazu Altgeld 1992: 48ff.) und hat unterschiedliche Spielarten, auf die im späten 19.  Jahrhundert zurückgegriffen werden kann (dazu Altgeld 1992: 165ff.).

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Heil 2000: 218). Der Typus des nationalreligiösen Antisemitismus sakralisiert einen Aspekt nationaler Selbstbilder in erheblich stärkerem Maß als die anderen Typen: Das Verhältnis des Individuums zur nationalen Gemeinschaft, die Verpflichtung zur Gemeinschaftsorientierung, die »Liebe« zum »Volk«. Alle Typen verpflichten die Angehörigen des eigenen »Volkes« auf das Ethos des »Volkes« durch »Vaterlandsliebe« oder »Patriotismus«. Der nationalreligiöse Typus bestimmt diese Bindung als einzig legitime Loyalitätsbindung und begreift andere Loyalitätsbindungen als Konkurrenz. Daher der schwärmerische Zug dieses Typus, der bei Paul de Lagarde, seinem bekanntesten Vertreter im ausgehenden 19.  Jahrhundert, besonders deutlich wird. Ich stelle den Typus an ihm (2) und an Paul Förster (1) vor. (1) Paul Förster (1844-1925) war wie sein Bruder Bernhard Förster einer der Initiatoren der Antisemitenpetition, mit Liebermann von Sonnenberg und Fritsch Mitbegründer der Deutschsozialen Partei 1889 (später: Deutschsoziale Reformpartei), die er im Reichstag von 1893 bis 1898 als Abgeordneter vertrat, und einer der Köpfe des Antisemitismus im Kaiserreich (zur Person: Kraus 2009a: 238f.). Förster ist ein exemplarisches Beispiel für die Nähe der Typen: Förster vertritt in den 90er Jahren des 19.  Jahrhunderts noch einen nationalen Antisemitismus.37 Im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts versteht er das Verhältnis von Christentum und »Volk« in einer anderen Weise: Das Selbstbild ist nun national und in Opposition zu den christlichen Konfessionen bestimmt. Gegen diese wendet Förster ein, dass sie Einheit nicht fördern, sondern zerstören, indem Menschen »derselben Art, desselben Stammes, desselben Geistes und – im besseren Sinne  – desselben Glaubens […] gegeneinander gestimmt und gehetzt werden« (Förster 1906: 110). Bewahrenswert seien die 37 Zwischen »uns als christlichen und deutschen Männern und dem internationalen Judentum« bestehe eine »unausfüllbare Kluft« (Förster 1892b: 7, vgl. auch 5), weshalb »ein einheitlicher wohleingerichteter Staat, aus ihnen und den deutschen Staatsbürgern deutschen Stammes aufgebaut, nicht gedacht« (Förster 1892b: 14) werden könne. Weil die Zugehörigkeit zum Christentum mit der zum »Volk« nichts zu tun habe (vgl. Förster 1892b: 20), tritt in der Lösungsperspektive der »Judenfrage« die Forderung nach Vertreibung nicht neben die Taufe, sondern an ihre Stelle. Juden seien zu »bekämpfen und auszustoßen« (Förster 1892b: 6); in 1892a: 8 wird »eine gewaltsame Abtreibung lästiger Fremdstoffe […], welche in dem deutschen Volkskörper dauernde Krankheit und heilloses Siechtum erregen«, angeraten.

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»heiligen Schriften aller Völker, aller Lande, nicht die Heilige Schrift« (Förster 1906: 109). Die Bibel wird bei Förster zum Gegenstand der Kritik, weil ihre Lehre die Grenzen der Völker weder kennt noch durch sie in irgendeiner Weise beeinflusst ist, die christlichen Kirchen, weil deren Dogmen das Volk spalteten. Försters Kritik an Kirche und christlicher Religion fordert aber nicht die Abschaffung von Religion, sondern eine Religion, die »uns« vereint, einen, in Dührings Worten ausgedrückt, »deutschen Glauben« (Dühring 1883: 142), der das Christentum von sich weist und einen neuen »Gott« postuliert, der »im Herzen der Nation selbst heimisch« (Dühring 1883: 143) ist. »Die wahre Religion, d.h. die Versenkung in die Tiefe des Gemütes, die Verpflichtung zu werktätiger Liebe am Nächsten, am Volke, am Vaterlande, die Gewöhnung zum Guten, und dann das Licht der Erkenntnis, warum dies gut ist, jenes böse […,] solcher deutscher, gemeinverständlicher Glaube […] ist die höchste Vollendung des Menschen und das alle Volksgenossen einende Band und die sicherste Gewähr gegen Volkszerrüttung, Entartung und Niedergang: und nur mit solcher Religion können wir uns eine große Zukunft bauen und das persönliche Glück und das unseres Vaterlandes zimmern« (Förster 1906: 115).38 (2) In gleicher Weise argumentiert Paul de Lagarde, »Ikone der Jugendbewegung« (Sieg 2009b: 448) und »Gründer der völkischen Bewegung« (Mosse 1991: 40),39 zu dessen Nachwirkung Fritz Stern knapp und pointiert bemerkt, dass seine Bedeutung stetig wuchs (vgl. Stern 1963: 111ff.). Paul de Lagarde (1827-1891) war Orientalist und, nach langen Jahren als Gymnasiallehrer, seit 1869 Inhaber eines Lehrstuhls in Göttingen. Das zentrale Thema dieser »Zentralfigur des deutschen nationalistischen Diskurses« (Sieg 2009a: 104) war 38 Entsprechend heißt es im Schlusswort: »Lasset die alte Welt in ihrer Erhabenheit und in ihrem Grabe ruhen! Uns ist unser Heim heiliges Land; Vaterlandsliebe die höchste irdische Religion; eigener deutscher Glaube die höchste jenseitige; Sorge um des Volkes Wohl die höchste Pflicht. […] Reichen wir einander durch die ganze deutsche Welt die Hand; so soll es uns doch gelingen. Schon wird für Geistesohren der neue Tag geboren, der Tag deutscher Herrlichkeit: Ein Volk, ein Geist, ein Recht, eine Sprache, eine Kunst, eine Bildung und Erziehung!« (Förster 1906: 146f.; vgl. auch Dühring 1883: 88). 39 Ein guter Überblick über die Entwicklung des antisemitischen Teils dieser Bewegung in der Zeit vor 1900 findet sich in Breuer 2008: 36-66 und Bergmann 1996.

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die innere Einheit (vgl. Sieg 2007: 63). Lagardes Deutsche Schriften, erstmals 1878 publiziert, wurden in und vor dem Nationalsozialismus begeistert rezipiert; ihr Einfluss auf die »völkische Rechte« (Sieg 2007: 356) ist kaum zu überschätzen (zur Biografie: knapp Sieg 2009b, 2009a und Paul 1996, ausführlich Stern 1963 und Sieg 2007).40 Der  – im Zuge der Neuauflagen der Deutschen Schriften41 sukzessive verschärfte (vgl. Paul 1996: 70; Sieg 2007) – Antisemitismus steht nicht im Zentrum von Lagardes Schriften.42 Er steht im Kontext des Themas, um das Lagardes Deutsche Schriften kreisen, eine alle Deutschen einschließende und einende »nationale Religion« (Lagarde 1937e: 470). Infolge der »Judenemanzipation und dem Kulturkampfe« seien die Deutschen »uneiniger denn je« (Lagarde 1937e: 470). Lagarde kritisiert die zeitgenössische Gesellschaft entlang der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft und begreift Vergesellschaftung als Zerstörung von Gemeinschaft. Dieses Grundmodell moderner Kulturkritik wendet Lagarde auf die unter40 Nach Einschätzung von Ulrich Sieg kann Lagarde nicht als der »Vorläufer des Nationalsozialismus« (Sieg 2007: 356) interpretiert werden, zu dem er insbesondere von Alfred Rosenberg stilisiert wurde. So ist etwa Lagardes Antisemitismus dezidiert nicht rassistisch – eine Einschätzung, über die in der Sekundärliteratur weithin Konsens besteht (Sieg 2007: 335; Stern 1963: 89f.; Paul 1996: 70; Mosse 1991: 48) und die von Lagarde auch selbst formuliert wird (vgl. Lagarde 1934a: 223). Bekannt ist sein Ausspruch, das »Deutschthum« liege »nicht im Geblüte, sondern im Gemüte« (Lagarde 1937a: 30, vgl. auch Lagarde 1924a: 62). Dafür wird Lagarde von Vertretern des nationalrassistischen Typus in der Regel kritisiert, vgl. exemplarisch Chamberlain 1899: 483. Umgekehrt muss man kein Rassist sein, um – wie Lagarde – die räumliche Trennung von »Völkern« und »Juden« zu fordern, das ist in allen Typen des modernen Antisemitismus üblich. Auch ist die nicht nur von Lagarde geteilte Auffassung, dass Deutschland nach Osten expandieren und diese Gebiete kolonisieren solle (Stern 1963: 94ff.; Sieg 2009b: 447; Ferrari Zumbini 2003: 354ff.; Prugel 1969a), auf der Ebene des Wissens eine Voraussetzung der späteren »Großraumkonzepte« der Nationalsozialisten. 41 Ich zitiere Über die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs und Die Religion der Zukunft nach der 1924 publizierten Zusammenstellung in Drei deutsche Schriften, die dezidiert antisemitischen Texte Lipmann Zunz und seine Verehrer und Juden und Indogermanen nach der 1934 publizierten zweiten Auflage der Ausgewählten Schriften, alle anderen Texte aus den Deutschen Schriften nach der 1937 publizierten dritten Auflage. 42 Er ist aber auch nicht marginal. Lagarde gilt als der Erste, der die Vertreibung von Juden nach Madagaskar gefordert hat: Im Kontext eines Entwurfs einer Neuordnung Europas unter Federführung Deutschlands merkt er an, die rumänischen Juden seien nach »Palästina oder noch lieber nach Madagaskar abzuschaffen« (Lagarde 1937e: 449). Vgl. dazu Brechtken 1997: 16ff.; Jansen 1997: 43-60, insbes. 48ff.

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schiedlichsten Bereiche an: den Individualismus (1924a: 45), das Parteiensystem (1924a: 46ff.), die Konfessionen (1924a: 85ff. u.ö.), die Ökonomisierung der Bildung und das Erziehungswesen (1924a: 145ff.), die jüdische wie die christliche Religion (Lagarde 1937b: 290ff.), die Industrie, die im Unterschied zu Ackerbau, Viehzucht und Handel nicht Grundlage des Reichtums der Deutschen sei (Lagarde 1937a: 35), den Liberalismus (in allen Schriften) und den allgemeinen Werteverfall (in allen Schriften). Da Gemeinschaft als »deutsch« gilt, ist alles Gemeinschaftszersetzende »undeutsch und widerdeutsch« (Lagarde 1937b: 291). Lagarde ist ein Lehrbeispiel für die in Kapitel 4 entwickelte Überlegung, dass die Attraktivität des modernen Antisemitismus wesentlich darauf basiert, dass er ein allgemeines, weit über den Antisemitismus hinausgehendes Muster der antimodernen Kritik der modernen Gesellschaft aufgreift. Die verbreitete und von Lagarde auch geäußerte antimoderne Kritik an Liberalismus, Individualismus, Geldkapital, Konsumismus usw. im Namen einer Gemeinschaft eines »Volkes« bildete und bildet ein Grundelement der Selbstverständigung von Kollektiven in einer modernen Gesellschaft. Weil das Selbstbild dieser Kritik personalisiert ist, d.h. sich als Selbstbild einer durch Vergesellschaftung bedrohten Gemeinschaft eines »Volkes« darstellt, ist der Schritt von der antimodernen Kulturkritik zum Antisemitismus im Grunde klein: Man muss Lagardes antimoderne Gesellschaftskritik nur in der Gruppe der Juden personalisieren, schon hat man nicht Prinzipien (Liberalismus usw.), sondern Personen (Juden) als Verantwortliche für die Zerstörung der Gemeinschaft des »Volkes« identifiziert. Der Kern der Kritik ist in beiden Fällen derselbe: die Bedrohung der Einheit und Existenz eines als Solidargemeinschaft vorgestellten »Volkes«. Wo Lagarde jene Personalisierung vornimmt, verändert sich nicht das Muster der Kritik, wohl aber das Objekt. Um das Ideal einer Gemeinschaft des »Volkes« herzustellen, müssen »wir« nach Lagarde allen »fremden Plunder abtun, in den Deutschland vermummt ist« (Lagarde 1924b: 222), auch das Christentum. »Wir« benötigen »ein neues Leben, das die absterbenden Reste alten, kranken Lebens [des christlichen Lebens, J.W.] totlebt« (Lagarde 1924a: 105). Systematisch erklärt Lagarde den Konflikt zwischen Christentum und Nation aus konkurrierenden Geltungsansprüchen von Religion und »Vaterland«: Beide hätten einen ausschließlichen Herrschaftsanspruch, daher

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»ist einem Konflikte der Religion mit dem Vaterlande nur aus dem Weg zu gehen, daß man mit allen Kräften des Gebets und der Zucht eine nationale Religion zu erringen trachtet, in welcher die Interessen der Religion und des Vaterlandes vermählt sind« (Lagarde 1924a: 86). Lagarde ordnet also weder die Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe der Christen in die Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe »Volk« ein (»christliches Volk«) noch jene dieser durch Historisierung unter (Christentum als Traditionsbestand des Ethos von »Volk«). Er ordnet sie vielmehr nebeneinander und begreift sie entsprechend als konkurrierend, weshalb die christliche Religion nicht Teil des Ethos von »Volk« ist, sondern diesem gegenübersteht. In dessen Zentrum steht vielmehr eine das historisch-genealogisch verstandene »Volk« einende »nationale Religion«. Auch die Juden, die mit Hilfe des Mediums Geld (Lagarde 1937c: 368) die Deutschen beherrschten, stünden als »fremder Plunder« dem Ideal einer herzustellenden Einheit des »Volkes« im Wege. Das aber eben nicht, »weil der Staat christlich sei«  – eine solche Annahme sei »albern« (Lagarde 1937a: 30). Der Staat sei nicht christlich »und das, was man jetzt sein Christentum nennt, geradezu gemeingefährlich. Juden dürfen am Staatsleben nicht teilnehmen, wann und weil sie unfähig dazu sind« (Lagarde 1937a: 30) und eine »Nation in der Nation«43 bildeten (Lagarde 1937a: 30).44 In der Konsequenz bedeutet die Verwirklichung des »Projekts« Gemeinschaft Selbstbesinnung auf das eigene Ethos und, anders als im christlich-nationalen Typus, der auf Taufe oder Vertreibung von Juden setzte, die Alternative Assimilation (die wie im nationalen Antisemitismus wegen des Grundmusters der Zuschreibungen ambivalent ist) oder Auswanderung (Lagarde 1937d: 422).45

43 Dies gilt nicht nur für Juden, sondern auch für Zigeuner, Basken und Iren (vgl. Lagarde 1934b: 231f.). Lagarde unterscheidet Juden nach der bekannten Regel der Zuschreibungen von den anderen Gruppen: Die Juden seien »vaterlandslos« wie Sozialdemokraten und Jesuiten, strebten aber im Unterschied zu den anderen Gruppen nach Weltherrschaft (Lagarde 1934b: 236). 44 Auf dieser Linie liegt auch die Unterscheidung von »einzelnen Juden« und der »Nation der Juden« in Lagarde 1934b: 231. 45 So auch in Lagarde 1937e: 570: »Schafft uns alle Juden fort, welche beanspruchen, in Deutschland als Juden existieren zu dürfen.«

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6.4 Nationalrassistischer Antisemitismus Der nationalrassistische Antisemitismus ist das späteste Produkt der Sattelung modernen antisemitischen Wissens. Das Grundmuster der Zuschreibungen entspricht den anderen Typen; Zugehörigkeit wird im nationalrassistischen Typus durch Abstammung und Bekenntnis zum Ethos der eigenen Wir-Gruppe bestimmt. Was diesen Typus von den anderen Typen unterscheidet, ist die universelle Historisierung des Selbstbildes »Volk« in einer an die Naturgeschichte anschließenden Entwicklungsgeschichte der »Völker«, »Stämme« und »Rassen«, in der Naturgeschichte und Kulturgeschichte nach einem identischen Entwicklungsprinzip (survival of the fittest) funktionieren und in der das eigene »Volk« zum Objekt der Optimierung durch Züchtung wird. Dieser Typus nimmt an, dass nur die Paarung von Angehörigen »artverwandter« »Rassen« zur Verbesserung der »Rassequalität« ihrer Nachkommen führt. Der nationalrassistische Typus teilt mit den anderen Typen die mit der Historisierung des feindlichen Gegensatzes von »Völkern« und »Juden« verbundene Ontologisierung der Differenz. Wie Treitschke oder Stoecker ist Ahlwardt (1890: 14) der Auffassung, dass sich der Charakter der Juden »in all den Jahrtausenden […] gleich geblieben« sei, weshalb »der Jude« sich »nicht acclimatisiren« (Henrici 1881a: 7) könne. Andererseits nimmt (wie bei den anderen Typen auch) kaum ein Vertreter dieses Typus an, dass Juden ihre »Rasse« nicht ablegen könnten (z.B. Chamberlain [1899: 457f.]).46 Der Grund dafür ist das kulturelle Element von Zugehörigkeit: Zum Ethos des Volkes bekennt man sich, indem man es lebt. Der nationalrassistische Typus unterscheidet sich von den anderen durch die Radikalisierung der Differenz: Die Assimilationsforderung verliert an Bedeutung. Weil dieser Typus die den Juden zugeschriebene Bedrohung auf deren Körper ausdehnt, stellen auch die im nationalen Antisemitismus geforderte (und in ihrer Möglichkeit zugleich bestrittene) Assimilation und »Vermischung« keine Perspektive mehr dar. Da Juden die fremdeste »Rasse« (vgl. exemplarisch Dühring 1883: 38; 53)47 seien, führe »Vermischung« 46 Das ist auch bei Dühring so. Allerdings seien Ausnahmen von der »Race« »äusserst selten« (Dühring 1906: 212). 47 Eugen Dühring war einer der frühen und radikalen Vertreter dieses Typus im Kaiserreich, der nicht als Person, wohl aber durch seine Texte erheblichen Einfluss auf die antisemitische Bewegung hatte (vgl. zu Dühring Bergmann 2009f.;

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zu »Bastardisierung«.48 Nach Ernst Henrici49 sollten sich deutschen Mädchen »schämen, sich zu Trägerinnen von halb-jüdischen Geburten zu machen« (Henrici 1881a: 6). Vertreibung oder härtere Maßnahmen bis hin zur Tötung der Juden liegen in der inneren Logik dieses Wissens. Wegen des Grundmusters der Zuschreibungen liegt Vertreibung zwar in der Logik aller Typen des modernen Antisemitismus (und sie wird in allen Typen artikuliert). Der nationalrassistische Typus unterscheidet sich von den anderen jedoch dadurch, dass sich die »Lösung« der »Judenfrage« darauf zuspitzt. »Der Jude ist […] der unbedingte Feind eines jeden Kulturfortschritts und muß unter allen Umständen beseitigt werden« (Ahlwardt 1890: 115, vgl. auch 239 oder 1892b: 30; Fritsch 1921: 155). Für Dühring gibt es in der »Judenfrage« nur noch eine Politik, »nämlich die der äusserlichen Einschränkung, Einpferchung und Abschliessung« (Dühring 1881: 114), auch die Aussiedelung nütze nichts (Dühring 1881: 109, diese schlägt Chamberlain vor [1918: 12]).

Ferrari-Zumbini 2003: 174ff.; Kaltenbrunner 1969b). Dühring war ein Einzelgänger, der sich verfolgt sah. Möglicherweise ist diese etwas isolierte Stellung dafür verantwortlich, dass die Bedeutung Dührings für die Entwicklung dieses Typus nach wie vor unterschätzt wird (vgl. z.B. den Band von Bergmann und Sieg [2009], in dem Frantz, Marr, Treitschke, Lagarde, Langbehn, Chamberlain, Fritsch, Claß, Rosenberg, nicht aber Dühring verhandelt werden). 48 Nach Sombart nähmen Mischehen zu, aber sie blieben oft kinderlos und wenn sie Kinder hätten, schienen »diese doch des Gleichgewichts zu entbehren, das rassereine Blutsmischungen gewährleisten« (1912: 44). Sombart zieht daraus die Konsequenz, dass die »unnatürliche Vermengung« (1912: 58) von Deutschen und Juden beendet werden müsse. 49 Ernst Henrici (1854-1915) war einer der Köpfe der antisemitischen Bewegung im Kaiserreich. In der Folge seiner Auftritte als Redner kam es am Silvesterabend 1880 in Berlin zu antisemitischen Ausschreitungen (vgl. Hoffmann 1998: 13f.), im Februar brannte in Neustettin die Synagoge. Eine Rede Henricis war vermutlich – die tatsächliche Brandursache konnte nicht festgestellt werden – der Anlass. In den umliegenden Dörfern hielt er ebenfalls Vorträge, die von antisemitischen Zusammenrottungen begleitet waren. Auf einer zweiten Vortragsreise Henricis ein halbes Jahr später war das Bild ähnlich, auch hier kam es zu Krawallen. 1883 wurde schließlich Anklage erhoben – gegen fünf Mitglieder der jüdischen Gemeinde Neustettins, die erstinstanzlich verurteilt, später aber freigesprochen wurden (vgl. dazu die Studie von Hoffmann 1998). 1881 wurde Henrici aus dem Schuldienst entlassen (vgl. zur Biografie: Kimmel 2009d: 350f.; ausführlich Hoffmann 1998: 247-271), in der Folge versuchte er sich als Pflanzer in Togo und Venezuela, als Ingenieur in den USA und kehrte 1912 nach Deutschland zurück.

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»Der letzte Erfolg systematischer Einschränkungsmaassregeln muss nothwendig das Zusammenschrumpfen des Judenwesens in Bevölkerungszahl und Reichthum sowie überhaupt in der Theilnahme an Staat und Gesellschaft sein« (Dühring 1881: 116; vgl. auch Dühring 1903: 405).50 Ich stelle diesen Typus knapp am Beispiel Chamberlains vor. Houston Stewart Chamberlains (zur Biografie nach wie vor: Kaltenbrunner 1969a) Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts ist einer der einflussreichsten Texte des modernen Antisemitismus im ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20.  Jahrhunderts. Das Buch hat bis 1944 30 Auflagen erfahren (Lobenstein-Reichmann 2009: 145, Fn), im frühen 20. Jahrhundert gehörte es zum Standardinventar eines gutbürgerlichen Haushalts  – bis zum Ende des Ersten Weltkrieges waren über 100.000 Exemplare verkauft (Katz 1989: 313). Chamberlain war »salonfähig« (Lobenstein-Reichmann 2008: 40). Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts präsentieren ein Geschichtsverständnis, das Geschichte nicht wie Gobineau als Verfall,51 sondern als Geschichte einer fortschreitenden Entwicklung 50 Dühring hat seine Formulierungen im Laufe der Jahre mehr oder minder kontinuierlich verschärft (die Position in der Sache ist weitgehend gleich geblieben [vgl. auch Bergmann 2009f: 189]). In der modifizierten Neuauflage von Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und die Ausscheidung alles Judäerthums durch den modernen Volksgeist von 1906 fordert Dühring »Ausmerzung« und »Vernichtung« (Dühring 1906: 211). 51 Gobineau versucht in Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen zu begründen, dass der Niedergang von Reichen eine Folge der »Durchmischung« von Völkern sei, »daß die großen Völker im Augenblicke ihres Todes nur noch einen ganz schwachen, ganz unwägbaren Theil des Blutes der Stifter, von denen sie geerbt haben, besitzen« (Gobineau 1898: 32f.). Er unterscheidet grundlegend zwischen einer schwarzen, einer gelben und einer weißen Rasse. Im Ergebnis gelangt er zu der Auffassung, dass die arische Rasse allen anderen überlegen sei. Mit der deutschen Übersetzung von Ludwig Schemann 1898ff. begann eine zunächst zögerliche Rezeption (vgl. Puschner 2001: 78). Verbreitung fand das Werk Gobineaus im Kaiserreich vor allem durch die Gobineau-Vereinigung, der eine erhebliche Zahl führender Personen der völkischen Bewegung angehörte (vgl. Puschner 2001: 78; Mosse 1991: 102; Bergmann 2006: 50; Berding 1988: 142f.). Da um die Jahrhundertwende rassistische Deutungsmuster im Antisemitismus bereits lange (seit etwa 40 Jahren) und breit (seit etwa 20 Jahren) etabliert waren, kann Gobineau nicht, wie dies gelegentlich angenommen wird, als Bezugspunkt des nationalrassistischen Typus gelten (so etwa: Bergmann 2006: 49). Vertreter diese Typus grenzen sich von Gobineau in aller Regel aus zwei Gründen ab: Erstens war Gobineau kein Antisemit, zweitens war seine

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von Völkern begreift und die Deutschen an die Spitze der Völker stellt. Chamberlain erklärt, warum die Adressaten des Buches, eine wachsende bildungsbürgerliche Schicht von Deutschen, die von deren Heroen geschaffene kulturelle Spitze der Völker repräsentieren.52 Ein Grund für die enorme Wirkung Chamberlains53 wird sicher in der integrativen Leistung des Textes zu suchen sein. Chamberlain bekämpft nicht, wie z.B. Dühring oder andere, die »lebensfeindliche Lehre« (Dühring 1916: 5) der christlichen Religion, er erklärt sie auch nicht für unvereinbar mit einer zeitgemäßen Weltanschauung. Chamberlain integriert vielmehr Evolutionstheorie und Rassismus, Nationalismus und Christentum in einer gut lesbaren – heute würde man sagen: populärwissenschaftlichen – Entwicklungsgeschichte des deutschen Volkes.54 Rassengeschichte eine Verfallsgeschichte. Dass Gobineau nicht umstandslos in die Geschichte der Entwicklung des modernen Antisemitismus eingereiht werden kann, ist in der Forschung weitgehend Konsens, vgl. exemplarisch Poliakov/Delacampange/Girard 1984: 97ff.; Mosse 1996: 79ff., früh schon Cassirer 1985 [1949]: 290f.). Was Gobineau Rassen nennt, sind eigentlich Stände, seine Verfallsgeschichte ist die Geschichte des Niedergangs einer ständischen Gesellschaft (wofür Gobineau von anderen Antisemiten kritisiert wurde, vgl. z.B. Dühring [1906: 210]). 52 Detlev Claussen hat dies in der Formulierung ausgedrückt, dass sich Chamberlains Leser »zugleich als Mitglieder einer Elite und einer vage umgrenzten Mehrheit fühlen« (Claussen 1994: 92) können. 53 Kaiser Wilhelm II. äußerte sich in einem Brief an Chamberlain vom 31.12.1901 in den folgenden Worten: »Und nun mußte all das Urarisch-Germanische, was in mir mächtig geschichtet schlief, sich allmählich in schwerem Kampf hervorarbeiten. Kam in offene Gegnerschaft zum ›Althergebrachten‹, äußerte sich oft in bizarrer Form, oft formlos, weil es mehr als dunkle Ahnung, oft unbewußt in mir sich regte und sich bahnbrechen wollte! Da kommen Sie, mit einem Zauberschlage bringen Sie Ordnung in den Wirrwarr, Licht in die Dunkelheit; […] Und nun Gottes Segen und unseres Heilandes Stärkung zum neuen Jahr 1902 wünsche ich meinem Streitkumpan und Bundesgenossen im Kampf für Germanen gegen Rom, Jerusalem usw. Das Gefühl, für eine absolut gute, göttliche Sache zu streiten, bringt die Gewähr des Sieges!« Zit. nach Kaltenbrunner 1969a: 120f. 54 Vgl. auch Lobenstein-Reichmann (2009: 141). Lobenstein-Reichmann (2008: 364) weist darauf hin, dass die Wirkung Chamberlains auch daraus zu erklären sei, dass er einen zeitgeschichtlichen Diskurs bündelt. »Es war die Gesamtheit der Ideologie, die Form, in der sie dargeboten wurde, wie ihre Inhalte, speziell die Verbindung von Höherwertigkeit, selbstbespiegelnder Erbaulichkeit mit allem daraus Folgenden, das sie soziologisch so erfolgreich ›nach unten und vielen anderen Seiten‹ vermittelbar machte.« Chamberlain biete seinen Leserinnen und Lesern, »was sie längst diskutiert haben, allerdings in der Art, dass er die verschiedenen geistesgeschichtlichen Diskurse seiner Zeit zu einem einzigen

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Nach Chamberlain machen Rasse und Nationalidee »zusammen die Persönlichkeit des Menschen aus; sie beantworten die Frage: wer bist du?« (Chamberlain 1899: 348). »Soll eine Nation groß werden«, schreibt Chamberlain in Rasse und Nation von 1918, »so kann sie von einem Grunderfordernis nicht absehen, und dieses ist: die Bildung eines Nationalcharakters, d.h. einer besonderen, unterschiedenen Rasse« (Chamberlain 1918: 9). Was in den anderen Typen »Volksgeist«, »Nationalcharakter«, »Temperament« heißt, nennt Chamberlain hier »Rasse«, das Ethos eines Ethnos. Wie bei den anderen Typen vollzieht sich die Bildung einer »Rasse« in Geschichte. Chamberlain erläutert dies am Beispiel Englands: Die »Völkerschaften« Englands entstammten alle »derselben Familie, der nordeuropäischen Menschenart«, aus der im »Laufe der Jahrhunderte, durch Kreuzung gefolgt von Inzucht, eine ganz neue, durchaus eigenartige und unvergleichlich scharf ausgeprägte Rasse hervorgegangen [ist, J.W.]. In dieser besonderen Rasse wurzelt alles, was Englands Größe ausmacht« (Chamberlain 1918: 9). Die Rasse präge sich physiologisch, insbesondere in der Schädelform  – Ende des 19.  Jahrhunderts war dies eine gängige Annahme (vgl. Chamberlain 1899: 217) – und psychologisch in den Eigenschaften und Verhaltensweisen derer, die ihr angehörten, aus.55 Doch »Rasse« bedeutet mehr als die historische Entwicklung eines »Volksgeists«. Mit »Rasse« ist eine Regel der Festlegung von Zugehörigkeit einer Person zu einer Gruppe durch Abstammung bezeichnet.56 Rassen können Völkern übergeordnete Einheiten (Arier, komplexitätsreduzierenden Strang zusammenwebt« (Lobenstein-Reichmann 2008: 654). 55 Ein immer wieder erörterter Punkt im Rassismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Frage nach der Gewichtung von physischen und geistigen »Rassenmerkmalen«. Henrici und Fritsch (Henrici 1881b: 5f.; Fritsch 1894: 82) z.B. verwehren sich gegen eine zu starke Fokussierung auf Körpermerkmale, weil geistige Differenzen (insbesondere Vaterlandsliebe, Produktivität und Kreativität) zwischen »Deutschen« und »Juden« entscheidender seien. 56 Darauf und auf das jeweilige Ethos der Abstammungsgemeinschaft beziehen sich die von Lobenstein-Reichmann (2009: 146; vgl. auch dies. 2008: 113ff. mit entsprechenden Belegen) ausgemachten vier Verwendungsweisen des Terminus Rasse bei Chamberlain: Nationen, Völkerschaften (d.h. Großgruppen) wie Indogermanen, Arier usw., »Arier als Ideal«, »angesetzte Entitäten wie Juden, Israeliten« usw. mit negativen Zuschreibungen. Ihrer Auffassung (2008: 122),

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Semiten), Nationen (Engländer, Franzosen) und untergeordnete Einheiten (Schwaben und Franken, Sephardim und Aschkenazim [so Chamberlain 1899: 275f.]) sein. Die Regel der Festlegung von Zugehörigkeit ist die gleiche wie bei der Ethnisierung. Ein Unterschied besteht darin, dass die Ethnisierung Personen »Völkern« durch Abstammung zuordnet, der Rassismus die Regel hingegen sowohl auf über- wie auf untergeordnete Einheiten bezieht. Auf welche Einheit auch immer die Regel bezogen ist, sie bezeichnet Bindung durch Abstammung. »Was uns alle aneinander bindet und zu einer organischen Einheit verknüpft, das ist germanisches Blut« (Chamberlain 1899: 260). Durch die Verallgemeinerung der Regel der Zugehörigkeit auf Gruppen beliebiger Größe kann die historische Entwicklung von »Völkern«, »Rassen«, »Stämmen« der Entwicklung der nichtmenschlichen Gattungen und Arten parallelisiert und unter ein Prinzip, den »Kampf ums Dasein« (Chamberlain 1905: 32), um knappe Güter, gebracht werden. In diesem »Kampf« erweisen sich die besser Angepassten als die Stärkeren, d.h. als Träger besonderer »Rassequalitäten«. In einem solchen universalhistorischen Modell kann die Entwicklung der nichtmenschlichen Arten wie der »Völker« als ein Prozess fortschreitender Höherentwicklung verstanden werden. Höherentwicklung wird zur Folge der Ausbildung der »Rasseeigenschaften« durch »Vermischung« (mit »artnahen« »Rassen«) einerseits und sexueller Abschließung von Gruppen andererseits. »Rassen« sind im Rassismus, das wird in der einschlägigen Diskussion gelegentlich übersehen, Produkte historischer Entwicklung.57 »Rasse ist nicht ein Urphänomen, sondern sie wird erzeugt: physiologisch durch charakteristische Blutmischung, gefolgt von Inzucht: psychisch, durch Einfluss, welche lang anhaltende, historisch-geographische Bedingungen auf jene besonderen, spezifischen, physiologischen Anlagen ausüben« (Chamberlain 1899: 343, Hervorh. J.W.).

Chamberlains Rassebegriff bleibe »stets im Allgemeinen und so undefiniert, dass letztlich jeder hinzugezählt werden kann, den man hinzurechnen möchte«, ist nicht zuzustimmen. Nur die Grundgesamtheit ist unbestimmt, nicht aber die Regel, nach der Personen auf Gruppen zugerechnet werden. 57 Deswegen geht die Auffassung Breuillys, die »Idee der Rasse« habe »strenggenommen überhaupt keinen kulturellen Bezug« (Breuilly 1999: 219), in die Irre.

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Die »Rassequalitäten« in einer »Rasse« sind nach Chamberlain ungleich verteilt. Sie seien besonders in großen Persönlichkeiten ausgeprägt, die dadurch zu herausragenden künstlerischen, wissenschaftlichen, militärischen usw. Leistungen in die Lage versetzt würden. Diese Leistungen »großer Männer« seien aber immer als Ausdruck der besonderen »Rassequalität« zu betrachten. Das Geblüt »verbürgt« keine »germanische Gesinnung und Befähigung«, aber es »ermöglicht« sie (Chamberlain 1899: 485). Die Entstehung edler Rassen hänge von fünf »Naturgesetzen« (Chamberlain 1899: 277ff.) ab. Erstens müsse »vortreffliches Material« vorhanden sein, zweitens müssten sie sich rein erhalten  – als Beispiele nennt Chamberlain Griechen, Römer, Franken, Schwaben, Spanier und Italiener, drittens müsse die Inzucht mit Zuchtwahl einhergehen, viertens gehe der Entstehung außerordentlicher Rassen »ausnahmslos eine Blutmischung voraus« (Chamberlain 1899: 279), was bei »allen Nationen Europas, die sich durch Gesamtleistungen und durch die Hervorbringung einer grossen Zahl ›überschwänglich‹ begabter Individuen ausgezeichnet haben« (Chamberlain 1899: 279) deutlich werde, fünftens aber seien nur »ganz bestimmte, beschränkte Blutmischungen […] für die Veredelung einer Rasse, resp. für die Entstehung einer neuen, förderlich« (Chamberlain 1899: 284). Die Phase der Mischung sei zeitlich zu beschränken und es sei darauf zu achten, dass sie nicht zu »Entartung« führe.58 Außer von diesen fünf »Naturgesetzen« hänge die Entstehung »edler Rassen« noch von »historisch-geographischen Bedingungen« und weiteren Faktoren, etwa der »relativen Zeugungskraft« (Chamberlain 1899: 288) ab, deren nähere Bestimmung Chamberlain an die weitere Forschung verweist (Chamberlain 1899: 288). »Rassen« sind für Chamberlain, im Unterschied etwa zu Gobineau, für den Rassen Ursprung historischer Entwicklung sind, Voraussetzung und Produkt der Geschichte. Die Idee fortschreitender Entwicklung von »Völkern« teilt der nationalrassistische Antisemitismus mit den anderen Typen ebenso wie die Auffassung, die staatliche Einheit von »Völkern« sei die Triebkraft dieser Entwicklung. Geschichte wird nach Chamberlain durch politische Einheiten, Nationen, bestimmt. »Fast immer ist es die Nation, als politisches Gebilde, welche 58 In diesem Sinne positiv sei etwa die Auffrischung des Blutes des Berliner Bevölkerung durch Hugenotten gewesen, zu einer Entartung hingegen habe die Mischung bei den Peruanern geführt, welche »Blendlinge aus zwei (und oft mehr) unvereinbaren Rassen« (Chamberlain 1899: 286) seien.

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die Bedingungen zur Rassenbildung schafft« (Chamberlain 1899: 290); wo, wie etwa in Indien, die Nationenbildung ausbleibe, »verkümmert der durch Rasse angesammelte Kraftvorrat« (Chamberlain 1899: 290). Anders in Deutschland nach 1870, wo die Rassenerzeugung durch Nationenbildung befördert worden sei (Chamberlain 1899: 290). »Der feste nationale Verband ist aber das sicherste Schutzmittel gegen Verirrung; er bedeutet gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Hoffnung, gemeinsame geistige Nahrung; er festet das bestehende Blutsband und treibt es an, es immer enger zu schließen« (Chamberlain 1899: 294). Der Staat ist bei Chamberlain die Instanz, durch die »Vermischung« und »Reinzucht« gesteuert werden, weil der Staat die Einheit der »Rasse« nach außen (und innen) garantiert. »Rassen« kann und soll man züchten. Züchtung bedeutet auch, bei der Zuchtwahl auf die »förderlichen« »Blutmischungen« zu achten. »Rassen« können edel und unedel sein. Am edelsten seien die Germanen, Kelten und Slawen, sozusagen die »Ursuppe« der Deutschen. Eine edle »Rasse« verfüge nicht nur typischerweise über einen ansprechenden und kräftigen Körperbau, sondern auch über bestimmte geistige und moralische Charakteristika, bei den Germanen seien dies »Freiheit und Treue« (Chamberlain 1899: 528). Mische man Angehörige dieser edlen Rasse mit Angehörigen unedler Rassen, stehe nichts Gutes zu erwarten. Die Juden seien die unedelste »Rasse« überhaupt, nicht aus einer Mischung, wie »alle historisch großen Rassen und Nationen« (Chamberlain 1899: 372), hervorgegangen, sondern aus einer »Bastardisierung«59 »ver59 Die »Bastardisierung« wird von Chamberlain begrifflich von der »Mischung« unterschieden und zur Erklärung der Unterscheidung von edlen und unedlen Rassen genutzt: Aus »Mischungen« gehen historisch »große Rassen« hervor, »Bastarde« hingegen entstünden, wenn der Unterschied der Typen »unüberbrückbar« (Chamberlain 1899: 372) sei. Die Rede von der Bastardisierung ist im Antisemitismus der Jahrhundertwende gängig, vgl. nur exemplarisch Naudh (1893: 9): Zwischen »Pferd und Esel sind Bastarde eben so möglich, als zwischen Deutschen und Juden und beide gleich widernatürlich«. Mit Eugen Fischers Publikation zu den »Rehoboter Bastards« (1913), in der mit Verweis auf dieses »Mischlingsvolk« aus »Buren« und »Hottentotten« gezeigt wird, dass die weißen europäischen Völker den anderen überlegen und »Rassenmischungen« schädlich seien, war »die These der Schädlichkeit von Rassenmischung […] als

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schiedener Menschentypen« (Chamberlain 1899: 347, vgl. auch 1905: 31), ein »blutschänderisches Verbrechen gegen die Natur« (Chamberlain 1899: 372), ein »Entartungsprodukt der Rassenmischung« (Fritsch 1921: 155). Vermischungen mit derart unedlen Rassen seien zu vermeiden, da sie ebenfalls zur »Bastardisierung« und nicht zur Verbesserung der »Rassequalität« führen. Alle Erfahrung »beweist«, »daß eine Verschmelzung mit Juden durch geschlechtliche Kreuzung, erstens ein verderbliches und zweitens ein illusorisches Unternehmen ist« (Chamberlain 1918: 9), sie führe zu »Wesen«, deren »Charakter Charakterlosigkeit« (Chamberlain 1918: 10) sei. Dühring spricht die Konsequenz nur deutlicher als die anderen aus: »Fort also mit diesen racengemischten Ehen und fort überhaupt mit allem racengemischten Verkehr« (Dühring 1903: 403). Juden werden auch im nationalrassistischen Antisemitismus von allen anderen »Völkern« unterschieden (vgl. Chamberlain 1899: 328 u.ö.) und diesen feindlich entgegengesetzt – weil sie im Unterschied zu allen anderen Gemeinschaften Gesellschaft verkörpern, gelten sie als die schlechteste und allen anderen gefährliche Rasse. Juden verfolgten keine idealen Zwecke (wie alle anderen »Völker«), sondern materielle (Chamberlain 1899: 400), sie bedrohen »uns« in unserer Einheit und Existenz, »zernagen und zersetzen« (Chamberlain 1899: 935) »mit dem ihnen angeborenen Talent der Schlauheit und Überlistung« (Marr 2009: 9) »das Beste in uns« (Chamberlain 1899: 935). In der Gegenwart stehe »nichts weniger als die Existenz und die fernere Entwicklung unserer nordeuropäischen Kultur« (Chamberlain 1903: 11) auf dem Spiel, die »Rassenfrage […] ist eine Lebensfrage in dem bedrohlichen neuen Kampf ums Dasein, in den wir jetzt eintreten« (Chamberlain 1903: 11). Um in diesem welthistorischen »Kampf« zu bestehen, müssten »wir« »uns« auf »unsere Eigenart« (Chamberlain 1905: 32) besinnen, das »Semitische aus unserer eigenen Seele« »ausscheiden«. Und »wir« müssen dafür Sorge tragen, die »Rassequalität« unseres »Volkes« nicht durch »Vermischung« zu untergraben. Genau das heißt: Die Vertreibung liegt in der inneren Logik dieses Typus.

ein Grunddogma der Rassenhygiene« (Weingart/Kroll/Bayertz 1988: 102) etabliert (vgl. dazu auch Kiefer 1991: 125).

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6.5 Historische Dynamik der Typen – Moderne und Antisemitismus Die in dieser Arbeit entwickelte historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus nahm ihren systematischen Ausgangspunkt bei einer empirischen Beobachtung: Antisemiten ordnen sich einer Wir-Gruppe zu, der alle Übel, die »den Juden« zugeschrieben werden, zugefügt werden. Eine Soziologie des modernen Antisemitismus greift daher zu kurz, wenn sie neben dem antisemitischen Judenbild nicht auch das kollektive Selbstbild untersucht, auf das jenes bezogen ist. Kollektive Selbstbilder, und das gilt keineswegs nur für moderne Sozialordnungen, sondern für Sozialordnungen im Allgemeinen, sind eine notwendige Bedingung von Vergemeinschaftung. Kollektive gibt es nur,60 wenn sie sich als Kollektive verstehen, wenn sie sich die Geschichte ihrer Gemeinschaft erzählen und diese in rituellen Praktiken feiern. Aus der Abhängigkeit einer Gemeinschaft von einer Gemeinschaftserzählung folgt zunächst, dass kollektive Selbstbilder grundsätzlich ein mythologisches Element haben. Ohne Gemeinschaftsmythos keine Gemeinschaft: Als Erzählung geht die Gemeinschaftsgeschichte mit Geschichte um, sie ist Teil der symbolischen Ordnung von Welt, durch die wir uns selbst und unsere Lebensverhältnisse verstehen. Was immer geschehen ist und welcher Logik auch immer das Geschehen gehorcht, die erzählte Geschichte kann das wirklich Geschehene nicht wiedergeben, schon gar nicht »abbilden«. Erzählungen sind keine historischen Ereignisse, sondern deren sprachliche Konstruktion, sie transformieren Ereignisse in eine symbolische Ordnung. Diese Transformation hat wenigstens drei zentrale Elemente: Symbolische Ordnungen sind erstens einer eigenen Logik unterworfen, die den Ereignissen selbst fremd ist. Bei Erzählungen ist das die Logik der Sprache, also etwa grammatikalische oder syntaktische Regeln. Zweitens wählt eine Erzählung aus der Mannigfaltigkeit der Ereignisse bestimmte Ereignisse aus und stellt Beziehungen zwischen ihnen her, z.B. Beziehungen der Kausalität oder der Wechselwirkung. Sie bringt die Ereignisse in eine spezifische Ordnung, die nicht der Beziehung der Ereignisse zueinander entspricht, sondern 60 Um als kollektiver Akteur auftreten zu können, bedarf es über kollektive Selbstbilder hinaus der Ausbildung organisatorischer Verfahren, durch die sich Wir-Gruppen in ihrem Handeln steuern können. Diese zweite Bedingung war kein Gegenstand dieser Arbeit.

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deren Interpretation durch Erzähler. Schließlich wird jede Erzählung drittens aus einer Perspektive erzählt. Diese Erzählperspektive ist, mit Schütz gesprochen, bestimmt durch die Typiken und Relevanzen des Erzählers und deshalb abhängig nicht vom vergangenen Geschehen, sondern von der gegenwärtigen Lebenswelt des Erzählers, d.h. sie ist erstens kulturrelativ und verändert sich zweitens mit der fortlaufenden Gegenwart. Weil jede Perspektive aus einer Mehrzahl möglicher Perspektiven auswählt und daher die eigene Perspektive für angemessener als eine andere Perspektive hält, kann man sagen, dass in jeder Erzählung ein Bekenntnis zu der Erzählperspektive enthalten ist, aus der sie erzählt wird. Deshalb kann jede Erzählung prinzipiell strittig werden: Man kann sich auch zu einer anderen Perspektive bekennen und die Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählen. Auch aus diesen Gründen sind, darauf hat Herfried Münkler jüngst hingewiesen (vgl. Münkler 2010: 14f.), Gemeinschaftserzählungen einerseits variabel und vielfältig. Es gibt weder »die« Perspektive noch »den« Gemeinschaftsmythos, sondern ein Gegenwartsrauschen, eine fortlaufende, gegenwartsorientierte und in aller Regel umstrittene Verfertigung von Gemeinschaftserzählungen. Andererseits sind Vielfalt und Variabilität von Gemeinschaftserzählungen offenbar nicht beliebig. Paarbindungen beispielsweise verstehen und erzählt man sich in der Moderne im Modus romantischer Liebe, nicht aber vorher und auch nicht in anderen Kulturen. Dass Staaten politische Organisationen von »Völkern« seien, ist für den modernen Menschen ein etablierter und selbstverständlicher Modus des Weltverstehens, aber er war es nicht immer. Die Vielfalt der Erzählungen wird durch stabile Regeln der semantischen Herstellung von Sinn eingeschränkt, Vielfalt gibt es nur innerhalb dieser Regeln. Die grundlegenden Regeln der Sinnstiftung in symbolischen Ordnungen sind stabil, solange die grundlegenden Muster sozialer Ordnungsbildung stabil sind. Gemeinschaftserzählungen verzaubern Welt nicht nur und nicht einfach deshalb, weil Ereignisse in eine symbolische Ordnung übersetzt werden. Gemeinschaftserzählungen deuten Welt nicht nur kognitiv, sie zielen nicht nur auf das Verstehen von Welt. Durch sie können sich Gruppen als Gemeinschaften verstehen. Das kognitive Weltverstehen verbindet sich mit einer normativen und einer emotionalen Dimension der Verortung in der Welt, die beide auf die Innenseite der Gemeinschaft gerichtet sind: Die emotionale Dimension verbindet Individuen zu Gemeinschaften, die sich nicht nur als zusammengehörig wissen, sondern auch als zusammengehörig füh-

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len. Die normative Dimension verpflichtet sie auf Gemeinschaft und stellt die eigene Gemeinschaft in eine moralische Ordnung von Gemeinschaften. Beides, Bindung und Verpflichtung, sind notwendige Elemente von Kollektivierung: Da Gemeinschaft keine ontologische Qualität von Gruppen ist, sondern kulturell hergestellt werden muss, ist jede Gruppe, die sich als Wir-Gruppe versteht, darauf angewiesen, das Handeln ihrer Angehörigen an überindividuellen, für alle Angehörigen als verbindlich angesehenen Normen zu orientieren. Das kann nicht ohne emotionale Bindung des Einzelnen an eine Wir-Gruppe funktionieren. Für den Angehörigen einer Gemeinschaft heißt Bindung Internalisierung von Gemeinschaftsnormen. Die Internalisierung einer Norm verwandelt sie in eine intrinsisch zu befolgende Norm, in eine Norm, die unter »Brüdern« einzuhalten ist. Internalisierung ist nicht nur eine Bedingung intrinsisch motivierter Normkonformität (und damit auch des Normbruchs), sie ist darüber hinaus identitätsrelevant, weil sie Zugehörigkeit zu Gruppen festlegt und Individuen so in der sozialen Welt als Angehörige von Wir-Gruppen verortet. Identitätsrelevanz meint, dass nicht nur eine Norm internalisiert wird, sondern ein Wir, auf das sich ein Individuum affirmativ bezieht, sich als Teil eines Ganzen versteht. Ohne dieses internalisierte Wir kann kein Ich sich selbst reflexiv als Ich verstehen. Denn dazu muss es sich unterscheiden, d.h. ein Ich kann es nur in der Unterscheidung von einem Du und einem Wir geben. Das Ich verweist konstitutiv auf ein Wir, dem es sich entgegensetzt (Ich, nicht Wir) und dem es sich zuordnet, und zwar nicht als äußerer, sondern als innerer Akt  – in diesem Sinne hat Mead das Selbst als verinnerlichtes Bild des »I« und des »Me« entwickelt. In der Gemeinschaftserzählung ist das »Me« symbolisch objektiviert. Daher kann man sagen, dass Gemeinschaftserzählungen wesentlich symbolischer Ausdruck empfundener Zugehörigkeit sind. Aus der Perspektive der Gemeinschaft betrachtet, sichert die emotionale Bindung die Kohärenz der Gruppe und die normative Verpflichtung die Orientierung der Einzelnen an Gemeinschaftsnormen. In dieser Binnendimension besteht der über das kognitive Weltverstehen hinausgehende soziale Sinn von Gemeinschaftserzählungen. Da Erzählungen, wer »wir« sind, woher »wir« kommen und wohin »wir« gehen, in ihrer Binnendimension nicht nur auf Wahrheit, sondern auch auf Zusammengehörigkeit zielen, »wir« durch sie auch wissen, dass »wir« zusammengehören, ist der kognitive Aspekt der Erzählung nicht unabhängig vom emotionalen oder steht die Ver-

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fertigung unserer »wahren« Geschichte auch im Dienst der Wahrhaftigkeit. In der Gemeinschaftserzählung sind Weltverstehen und Gemeinschaftsglaube verschränkt: Im Wissen, wer »wir« sind, wissen »wir« auch, dass »wir« zusammengehören. Der mythische Charakter von Gemeinschaftserzählungen basiert wesentlich auf dieser Verschränkung einer kognitiven Dimension, in der Welt erschlossen wird (Blumenberg 2006: 11f.), mit einer emotionalen Binnendimension, in der Personen an Gruppen gebunden werden. Ernst Cassirer hat nicht nur einmal darauf aufmerksam gemacht, dass am Grunde des Mythos das Gefühl liege, der Mythos symbolischer Ausdruck von Gefühlen sei.61 Die Binnendimension von Gemeinschaftsbildern ist die Grundlage des eigentümlichen Phänomens, dass kollektive Stereotype durch Aufklärung nicht zu revidieren sind: Da sie in ihrer emotionalen Dimension auf Zugehörigkeit zu einem »wir« verweisen, stellt die Infragestellung ihres kognitiven Gehalts zugleich auch diese Zugehörigkeit in Frage. Aus diesem Grund ist Aufklärung über die Falschheit von kollektiven Stereotypen eine so wirkungslose Strategie gegen sie. Darüber hinaus ist diese Binnendimension dafür verantwortlich, dass »wir« in Gemeinschaftserzählungen Geschichte verzaubern, Schlachten von Armeen als »Völkerschlachten« verstehen, den Heroen der Nationalgeschichte Monumente erbauen, die zu kollektiven Erinnerungsorten werden, historische Ereignisse als Gründungsereignisse deuten, die in wiederkehrenden Feiern rituell zelebriert werden usw. Keine Gemeinschaft kann ohne solche Gemeinschaftsmythen auskommen, und sie kann das nicht, weil sie nicht aus sich besteht, sondern immer wieder neu in Erzählungen und Praktiken, in denen sich ihre Angehörigen ihrer versichern, hergestellt werden muss. In diesem Sinn hat Ernest Renan darauf hingewiesen, dass es zweierlei bedürfe, um eine Nation zu sein, eines gemeinsamen Wollens in der Gegenwart und einer Gemeinschaftserzählung, die sie in der historischen Zeit verankert. Vor diesem Hintergrund erscheint die bis in die Gegenwart verbreitete Auffassung, die moderne Welt sei aufgeklärt und habe an die Stelle des Glaubens das Wissen gesetzt, als 61 Cassirer hat vor allem die Furcht vor dem Tod im Auge, deren symbolische Bearbeitung das Faktum der eigenen Endlichkeit mit Sinn ausstattet (man stirbt fürs Vaterland, kehrt heim ins Reich Gottes usw.). Mir scheint darüber hinaus dieser Sinn auf die eben genannte Binnendimension von Gemeinschaften zu verweisen (z.B. wird durch den Umgang mit den Ahnen in der Gegenwart die Einheit der Gruppe in der Zeit bekräftigt usw.).

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ein großes Selbstmissverständnis – zumal in einem Land, in dem eine »Wiedervereinigung« des »Volkes« zum Kern der Gemeinschaftserzählung gehört. Die Persistenz dieses Selbstmissverständnisses lässt sich soziologisch aufklären: Wir können erklären, warum sich Gemeinschaften mythisch verzaubern, aber die Erklärung ändert nichts daran, dass mythische Verzauberung ein elementares Element von Vergemeinschaftung ist. Gemeinschaften sind prekäre Gebilde. Das gilt nicht erst für moderne Gemeinschaften, sondern für Gemeinschaften grundsätzlich. Individuation und kommunikative Vergemeinschaftung verweisen nicht nur wechselseitig aufeinander, mit der gemeinsamen Symbolverwendung und ihrer Voraussetzung, der Unterscheidung von Ich, Du und Wir, entsteht zugleich die Spannung zwischen Solidarität und Eigeninteresse, die soziale Ordnungen symbolisch (und praktisch) bearbeiten müssen (vgl. Habermas 2012: 91ff.). Solche Symbolisierungen beziehen sich einerseits auf die Zugehörigkeit von Personen zu Wir-Gruppen, also auf die emotionale Bindung. Sie findet ihren Ausdruck in Gemeinschaftssymbolen, etwa Totems bei frühen Formen sozialer Verbände, Kreuze als Ausweis der Zugehörigkeit im Christentum oder Fahnen als Ausweis der Zugehörigkeit in modernen Nationalstaaten. Die Symbolisierungen beziehen sich andererseits auf die Gemeinschaftsregeln, also die Regeln, zu deren Einhaltung eine Sozialordnung ihre Angehörigen verpflichtet. Einheitssymbole und Gemeinschaftsregeln werden in sozialen Ordnungen besonders ausgezeichnet. Objekte, die Gemeinschaft symbolisieren, und Regeln, welche die Grundlagen der Vergemeinschaftung bezeichnen, werden sakralisiert. Vergeht man sich an dem Sakralen sozialer Ordnungen, verletzt man die kollektiven Gefühle, also das, was die Gemeinschaft als Gemeinschaft auszeichnet, und dafür rächt sich die Gemeinschaft mittels Strafe (Durkheim 1992). Um sich überhaupt als Gemeinschaft beschreiben zu können, muss sie sich eingrenzen. Wer »wir« sind, können »wir« nur wissen, indem wir uns unterscheiden, d.h. andere ausgrenzen. Die Christen können nur wissen, wer sie als Christen sind, wenn sie sich von den Nichtchristen unterscheiden, die Deutschen können nur wissen, wer sie als Deutsche sind, wenn sie die Franzosen haben usw. Das gilt auch für die aufklärerische Selbstbeschreibung als Menschheit, die sich dann eben von den Unmenschen unterscheiden muss (vgl. Koselleck 1989b). In Gemeinschaftserzählungen artikulierte kollektive Selbstbilder verweisen also auf kollektive Fremdbilder.

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Lässt sich die Beziehung von kollektivem Selbstbild und kollektivem Fremd- bzw. Feindbild in dieser Weise fassen, d.h. so, dass sich der soziale Sinn des Fremd- bzw. Feindbildes aus dem Selbstbild ergibt, reicht es nicht hin, in einer Untersuchung des modernen antisemitischen Feindbildes darauf zu verweisen, dass auch das Selbstbild, auf das es bezogen ist, zu berücksichtigen sei. Die Dynamik des Wandels von kollektiven Fremd- und Feindbildern muss dann aus dem Wandel der kollektiven Selbstbilder erklärt werden, dieser wiederum aus dem Wandel der sozialen Ordnungen, in denen sie gebildet werden. Der Anspruch der historischen Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus ist es, eine solche Erklärung zu leisten. Ich habe in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, wie sich Genese und Sattelung des modernen antisemitischen Feindbildes aus dem Wandel kollektiver Selbstbilder und dieser sich aus dem Wandel sozialer Ordnungsbildungen verstehen lassen. Derselbe sozialhistorische Prozess, der für die Verbürgerlichung von Juden und Christen, d.h. ihre Verwandlung in mit gleichen Individualrechten ausgestattete Bürger im Staat, verantwortlich ist, liegt der Transformation der Wissensformation des Antisemitismus zugrunde, weil – so lässt sich am Schluss dieser Untersuchung formulieren – er mit einem fundamentalen Wandel der kollektiven Selbstbilder verbunden ist. Weil diese sich verändern, verändern sich auch die antisemitischen Judenbilder. Im ausgehenden 18. Jahrhundert sind die Erosion religiöser Selbstbilder, die Etablierung eines modernen Staates mit zentralisiertem Gewaltmonopol und der Prozess der Transformation statusbezogener Rechte in bürgerliche Individualrechte so weit fortgeschritten, dass die auf religiöse Differenz gegründete Sonderstellung der Juden im Staat in Frage gestellt werden kann. Bezugspunkt dieser in Preußen zuerst von Dohm gestellten Frage sind ein modernes Staatsverständnis einerseits, in dem der Staat die Organisation der allgemeinen Angelegenheiten der auf seinem Territorium lebenden Bürger ist, und andererseits die Auffassung, dass religiöse Zugehörigkeit eine Privatangelegenheit der Bürger sei, die mit ihrem Bürgerstatus im Staat nichts zu tun hat. Sozialhistorisch setzt diese Auffassung einen fortgeschrittenen Prozess der funktionalen Differenzierung von »Wertsphären« voraus: Als Bürger verfolgt der Untertan im Staat seine privaten Zwecke in Gesellschaft. In der Reaktion auf die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Juden als Bürger in Gesellschaft wird der Antisemitismus mo-

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dern: Der Referenzpunkt der antisemitischen Selbstbilder verschiebt sich in der Ablehnung der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Religion auf Nation. Er kann sich in dieser Weise verschieben, weil an die Stelle des spätestens mit dem Westfälischen Frieden brüchig gewordenen religiösen Bekenntnisses als Grundlage politischer Zugehörigkeit in den absolutistischen Staaten längst die rechtliche Institutionalisierung konfessioneller Toleranz getreten ist und die Legitimationsgrundlage der politischen Einheit einer sich ausdifferenzierenden bürgerlichen Ökonomie von gleichen Vertragspartnern in der politischen Oppositionssemantik der Menschheit verweltlicht wurde (vgl. Kapitel 3). Er muss sich in dieser Weise verschieben, weil der Bürgerstatus indifferent gegen religiöse Zugehörigkeit ist. Man kann das bestreiten, und im Selbstbild eines »christlichen Volkes«, das sich in einem »christlichen Staat« regiert, bringt insbesondere das antisemitische Wissen im frühen 19. Jahrhundert zum Ausdruck, dass die religiöse Zugehörigkeit als Voraussetzung für die Rechtsstellung im Staat angesehen wird. Doch die Verschiebung der gesellschaftlichen Semantik verwandelt diese Art des Widerstreits in einen Kampf gegen Windmühlen, weil er Regeln der Sinnstiftung verwendet, die einer untergehenden Sozialordnung angemessen sind: Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Christen qualifiziert eine Mehrzahl von »Völkern« als christlich, so dass diese Selbstbeschreibung genötigt ist, über Religion hinaus andere Kriterien zur Qualifizierung von »Volk« anzugeben, d.h. ein religiöses in ein nationales Selbstbild einzubinden. Nationale Selbstbilder etablieren Regeln der Sinnverarbeitung, die in einer christlichen geprägten Sozialordnung nicht denkbar sind oder deren Anwendung keinen verstehbaren Sinn stiftet, erstens die gleiche Zugehörigkeit von Regierenden und Regierten zu einem Ethnos (ethnische Homogenität), zweitens die Verpflichtung dieses Ethnos auf dasselbe Ethos, das in der Besonderheit eines »Nationalcharakters« symbolisiert wird (kulturelle Homogenität). Beide werden drittens in einer historischen Genealogie des »Volkes« kombiniert, also als innerweltliche Geschichte erzählt. Entsprechend unterliegt die Selbstbeschreibung als »christliches Volk« einer inneren Dynamik der Verweltlichung, an deren Ende sich das ursprünglich auf das religiöse Bekenntnis bezogene Element in einen kulturhistorischen Bestand der Geschichte des »Volkes« gewandelt hat. Die ethnische Festlegung von Zugehörigkeit im Selbstbild wie im antisemitischen Feindbild definiert die nationale Wir-Gruppe wie die Gruppe der Juden als Abstammungsgemeinschaften. Doch diese

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Festlegung von Zugehörigkeit erklärt nur, dass Juden der eigenen Wir-Gruppe ethnisch nicht zugehörig sind, nicht aber, dass sie dies nicht werden könnten. In der Wissensformation des modernen Antisemitismus lässt sich ethnische Differenz durch »Verschmelzung«, also ethnische Mischung, und durch die bedingungslose Identifikation mit dem Ethos der Gruppe mit der Zeit aufheben. Diese Möglichkeit des Wechsels von Zugehörigkeit im Generationenverlauf, die auch von den Vertretern des nationalrassistischen Typs jedenfalls für Angehörige nord- und mitteleuropäischer »Völker« eingeräumt wird, besteht für Juden nicht. Dem entsprechend ist die das 19. Jahrhundert hindurch an Juden gerichtete Assimilationsforderung ambivalent  – von ihnen wird einerseits verlangt, sich zu assimilieren, andererseits wird behauptet, dass eine Assimilation unmöglich sei. Der Grund für diese Ambivalenz ist ein für den modernen Antisemitismus spezifisches Grundmuster von Regeln, nach denen Zuschreibungen vorgenommen werden: Im Zentrum dieses Grundmusters steht erstens die Regel, sozialen Wandel als Konflikt zwischen Gemeinschaften (»Völkern«) zu thematisieren, d.h. ihn in einem Gruppenkonflikt zu personalisieren. Mit Personalisierung bezeichne ich keinen psychischen Mechanismus, sondern eine Regel symbolischer Ordnungsbildung, eine Regel der Erzählung: Personalisierung macht sozialen Wandel als Erzählung eines Konflikts kollektiver Handlungseinheiten verständlich. Jedes soziale Phänomen stellt sich personalisiert dar als Wirkung einer Handlung von Akteuren oder Akteursgruppen. Die Personalisierung ist das schwarze Loch sozialer Ordnungen, das soziale Beziehungen in Eigenschaften von Personen verwandelt. Personalisierung versteht soziale Ordnungen nicht als Rahmenbedingungen von Handeln, sondern als körperliche Eigenschaften von handelnden Akteuren. Dieses kognitive Schema der Weltdeutung geht weit über den Antisemitismus hinaus. Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass soziale Ordnungen selbst kein Gegenstand möglicher Wahrnehmung sind. Wahrnehmen können wir nur Personen in sozialen Ordnungen. Sicher aber ist Personalisierung deshalb ein etablierter Modus des Weltverstehens, weil sich soziale Ordnungen in Gemeinschaftserzählungen legitimieren und legitimieren müssen. Die Binnendimension dieser Erzählungen bindet Personen gerade nicht an »soziale Ordnungen«, sondern an Kollektive. Die Regel, soziale Ordnungsbildung und sozialen Wandel als Beziehung von Gemeinschaften (»Völkern«) zu verstehen, wird zwei-

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tens in einer doppelten Unterscheidung ausgeführt, die als »Figur des Dritten« (Holz) bezeichnet werden kann: Der moderne Antisemitismus unterscheidet zwischen »Völkern« auf der einen und »Juden« auf der anderen Seite. Die eine Seite der doppelten Unterscheidung differenziert zwischen »Völkern«. Unter »Volk« wird (nicht nur im modernen Antisemitismus) eine ethnische Gruppe verstanden, die sich als Kulturgemeinschaft in ihrer Eigenart historisch entwickelt. Als Produkt dieser Entwicklung gilt ein sogenannter »Nationalcharakter«, ein geistiges Prinzip – von mir als Ethos bezeichnet –, der die Angehörigen des Ethnos auf für dieses »Volk« als charakteristisch angesehene gemeinschaftliche Tugenden verpflichtet und der von ihnen verinnerlicht wird. Von allen »Völkern« werden in einer zweiten Unterscheidung »Juden« unterschieden, so dass sich »Völker« auf der einen und »Juden« auf der anderen Seite gegenüberstehen. Die Zugehörigkeitsregel (Abstammung) ist auf beiden Seiten identisch, der Inhalt der Zuschreibungen ist es nicht: »Völker« werden, das ist die dritte Regel, als Solidargemeinschaften verstanden, d.h. ihnen wird ein grundsätzlich positives Ethos zugesprochen. »Juden« hingegen werden als in sich widersprüchliche Gruppe gezeichnet, als eine Gemeinschaft, die keine Gemeinschaft ist. »Völker« erhalten sich durch Arbeit, »Juden« leben von anderer »Völker« Arbeit, »Völker« gelten als – mehr oder weniger – kreativ, »Juden« ahmen nach, »Völker« streben nach Einheit, »Juden« hingegen nach Uneinheit, »Völker« bilden Staaten, »Juden« Staaten in Staaten usw. (vgl. Kapitel 4.2). »Juden« werden im modernen Antisemitismus als das Gegenbild einer Solidargemeinschaft gezeichnet, als ein »Volk«, das im Unterschied zu allen anderen »Völkern« mit einem Anti-Ethos ausgestattet ist. Die dritte Regel stellt die Grundlage der vierten dar, nach der »Juden« nicht auf Gemeinschaftsbildung, sondern auf Gemeinschaftszerstörung verpflichtet sind. Der Gegensatz zwischen »Völkern« und »Juden« ist nicht einfach ein Gegensatz. Beide werden vielmehr einander feindlich gegenübergestellt: »Juden« zerstören die ideelle Einheit und die materielle Grundlage aller »Völker«. Diese Regel wird als Überwältigungsszenario des eigenen und aller anderen »Völker« durch »Juden« ausbuchstabiert. Juden wird zugeschrieben, Gemeinschaften zu zerstören, indem sie deren moralische Einheit durch Individualismus, Internationalismus, Klassenkampf zersetzen und ihre ökonomischen Grundlagen untergraben. Als Mittel der moralischen Zerstörung gilt (seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts) die Presse (dazu: Kapitel 5), als Mittel der ökonomischen Zerstörung

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der Kredit. Das Überwältigungsszenario wird fünftens als Kampf zwischen »Völkern« und »Juden« in historischen Erzählungen entwickelt, in denen sich die historische Genealogie der »Völker« als historischer Kampf zwischen Gemeinschaftsbildung von »Völkern« und Gemeinschaftszerstörung durch »Juden« darstellt. Durch diese Regelkombination unterscheidet sich das antisemitische Feindbild von anderen kollektiven Feindbildern. Als kognitives Schema, d.h. als ein Set von Regeln, in denen Welt verstanden und gedeutet wird, lässt sich das Grundmuster der Zuschreibungen erstens auf jeden Bereich sozialen Lebens anwenden: Juden taugten nicht zu Wissenschaft und Kunst (da sie aufgrund mangelnder »Verwurzelung« in der Kultur des »Volkes«, in dem sie leben, nicht schöpferisch seien, sondern nur »nachahmen« könnten), nicht zur Politik (statt Eintracht säten sie Zwietracht und agierten im Staat für die Interessen ihres eigenen Staates), nicht zur Ökonomie (statt mit eigenen Händen zu arbeiten, ließen sie andere für sich arbeiten), nicht zur Juristerei (statt unparteiische Entscheidungen zu befördern, handele es sich um auf den eigenen Vorteil bedachte »Winkeladvokaten«), nicht zum Militär (da sie nicht aus dem eigenen »Volk« stammten, seien sie unzuverlässig) usw. Es lässt sich zweitens auf die Gesamtheit der Bereiche anwenden, die sich nach der ersten Regel als soziale Welt von »Völkern« darstellt. Sofern Antisemitismus als Weltanschauung auftritt, was bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der normale Fall ist, kann die ganze Geschichte wie jedes einzelne geschichtliche Phänomen als Teil eines Kampfes um Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftszerstörung gedeutet werden, und zwar als Teil eines Konflikts, der von identifizierbaren Wir-Gruppen, »Völkern« und »Juden«, getragen wird: Nicht Ökonomisierung zerstört »ursprüngliche« Arbeitsfreudigkeit, sondern das jüdische Geld, Liberalismus in Form eines jüdischen Utilitarismus die Gemeinschaftsmoral, Abstraktion in Form des nicht erdverbundenen jüdischen Künstlers das ästhetische Erleben einer handgreiflichen Welt usw. Das kognitive Schema des Antisemitismus, das scheint mir die allgemeinste Formulierung zu sein, versteht den Prozess der Modernisierung, beziehe dieser sich nun auf soziale Ordnungen, also wesentlich die Institutionalisierung von individuellen Freiheitsrechten, auf ästhetische Ordnungen, also wesentlich die Entwicklung der modernen Kunst und Musik, oder auf symbolische Ordnungen, also wesentlich den Rationalismus als Form intellektuellen Weltzugangs, als Überwältigung eines eigenen »Volkes« und aller anderen »Völker«

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durch »Juden«. Das kognitive Schema des Antisemitismus erschließt Modernisierung nicht nur als Verlusterfahrung und Bedrohung, sondern als eine Verlusterfahrung, für die eine spezifische Gruppe, »die Juden«, verantwortlich gemacht wird – die Gruppe, die im Prozess der Modernisierung aus dem Außenbereich christlich geprägter Sozialordnungen in den Innenbereich bürgerlicher Sozialordnungen rückt und rücken kann, weil sich im Binnenbereich der christlichen Sozialordnungen die Handlungsbereiche Politik und Religion trennen und entsprechend die vormals ständisch-religiöse Legitimation politischer Verbände erodiert und sich zu einer nationalen wandelt. Das kognitive Schema des modernen Antisemitismus ist in keiner Weise spezifisch für den deutschen Sprachraum. Auch wenn sich diese Untersuchung auf seine Entwicklung in Preußen bzw. im Deutschen Reich konzentriert hat, so habe ich doch mehrfach darauf hingewiesen, dass es in anderen Nationalstaaten ebenso vorkommt. Es ist auch nicht an eine spezifische politische Herrschaftsform oder an eine spezifische Wirtschaftsform gebunden  – in den sozialistischen Staaten funktionierte der moderne Antisemitismus nach den eben genannten Regeln. Das heißt gerade nicht, dass sich das moderne antisemitische Judenbild nicht in der Zeit wandelt – dieser Wandel war Gegenstand meiner Untersuchung  –, sondern nur, dass die grundlegenden Regeln, nach denen das antisemitische Judenbild und das nationale Selbstbild, auf das es bezogen ist, gebildet werden, in der Zeit stabil sind. Da diese Regeln nicht nur in Sozialordnungen mit kapitalistischer Produktionsweise zu beobachten sind, sondern auch in Sozialordnungen mit sozialistischer Produktionsweise, nicht nur in »westlichen«, sondern auch in »östlichen«, nicht nur in Demokratien, sondern auch in Autokratien, können sie nicht nur aus besonderen Entwicklungen in bestimmten Nationalstaaten, etwa der späten Nationalstaatsbildung in Deutschland, aus einer besonderen Produktionsweise, etwa der kapitalistischen Ökonomie, aus besonderen historischen Traditionen, etwa der christliche Tradition des Westens, erklärt werden. Gewiss sind solche historisch spezifischen Entwicklungen für das Verständnis der Geschichte der antisemitischen Wissensformation relevant. Doch diese historische Spezifität liegt gleichsam »oberhalb« der grundlegenden Regeln. Soll das Grundmuster dieser Regeln soziologisch aufgeklärt werden, muss eine solche Aufklärung nicht auf historische Besonderheiten, sondern auf grundlegende Mechanismen moderner Vergesellschaftung abheben.

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Das Bindeglied zwischen modernem Antisemitismus und anderen kollektiven Fremd- und Feindbildern ist das nationale Selbstbild, genauer: Die erste Regel, soziale Ordnungsbildung und sozialen Wandel in Gruppenbeziehungen zu personalisieren. Diese Regel ist die einzige der von mir genannten Regeln, die in keiner Weise spezifisch für den Antisemitismus ist. Spezifisch für das antisemitische Feindbild ist vielmehr ihre Kombination mit den anderen Regeln. Dass Personalisierung nicht spezifisch für den Antisemitismus ist, liegt daran, dass diese Regel nicht weniger bezeichnet als ein notwendiges Element sozialer Ordnungsbildung: Soziale Ordnungen sind nur dann von Bestand, wenn sie sich als Gemeinschaft legitimieren, d.h. soziale Welt als Welt von Gemeinschaften verständlich machen und eben dadurch in der Binnendimension ihre Angehörigen emotional und normativ »brüderlich« aneinander binden. Aber moderne Sozialordnungen, auch wenn sie sich als Gemeinschaften legitimieren müssen, zeichnen sich gerade dadurch aus, soziale Beziehungen an die individuelle Entscheidung von Akteuren zu binden, d.h. ihre Angehörigen nicht zu vergemeinschaften, sondern zu vergesellschaften. An dieser Stelle scheint mir ein Schlüssel zum Verständnis des modernen Antisemitismus zu liegen, der sich auf dessen Binnendimension, also den emotionalen und normativen Gehalt des Selbstbilds, bezieht. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Spannung zwischen Eigennutz und Gemeinschaftsorientierung und die damit verbundene Notwendigkeit für Sozialordnungen, sie praktisch und symbolisch einzuhegen, also ihre Angehörigen intern zu binden und auf Gemeinschaftsnormen zu verpflichten, ein basales Charakteristikum sozialer Ordnungsbildung ist, so zeichnen sich moderne Sozialordnungen gegenüber anderen Sozialordnungen dadurch aus, dass sie diese Spannung potenzieren, indem sie in ihren Rechtsordnungen den Individualismus in Form gleicher Individualrechte institutionalisieren und damit den Warentausch und sein rechtliches Pendant, den Vertrag, als zentralen Modus der Vergesellschaftung etablieren. Natürlich kennen auch vormoderne Sozialordnungen Tausch, aber eben nicht als zentralen Modus der Vergesellschaftung. Die Warenförmigkeit sozialer Beziehungen ist nicht nur die wahrscheinlich stärkste Triebfeder des Individualismus, weil jeder Tausch an die vorgängige Entscheidung der Eigentümer, genau diesen und keinen anderen Tauschakt eingehen zu wollen, gebunden ist, der Tausch ist darüber hinaus eine Form sozialer Beziehung, die auf die Befriedigung individueller Bedürfnisse ausgerichtet ist. Marktvergesellschaftung mag Individuen

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durch allseitige wechselseitige Abhängigkeit aneinander binden, aber diese Bindung ist, mit Durkheim gesprochen, eine negative Form von Solidarität. Anders als der Gabentausch, in dem Objekte nicht zum Zweck der Befriedigung individueller Bedürfnisse, sondern zur Herstellung oder Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen getauscht werden, ist im Warentausch die soziale Beziehung zwischen Akteuren nicht der Zweck, sondern das Mittel. Der Gabentausch etabliert ein System wechselseitiger Verpflichtungen (dazu nach wie vor: Mauss 1990), während im Warentausch die soziale Beziehung mit dem vollzogenen Akt erlischt.62 Marktvergesellschaftung potenziert also die für Sozialordnungen insgesamt charakteristische Spannung zwischen individualistischen und gemeinschaftlichen Handlungsorientierungen, weil sie soziale Beziehungen der Warenform unterwirft und damit individualistische Handlungsorientierungen prämiert. Zu dieser Potenzierung gehört sicher auch, dass durch das Privateigentum an den Mitteln der ökonomischen Reproduktion eine Minderheit der sich als Solidargemeinschaft verstehenden Gruppe in die Lage versetzt wird, die Mittel zur ökonomischen Reproduktion dieser Gruppe zu privatisieren, d.h. sich die warenförmigen Beziehungen der Angehörigen der Solidargemeinschaft zueinander als mit gegensätzlichen Interessen ausgestattete Beziehungen von Klassen darstellen. Daher verwenden moderne Staaten erheblichen Aufwand darauf, den Klassengegensatz und die Spannung zwischen Individualismus und Gemeinwohlorientierung in ihren kulturellen Selbstbildern einzuhegen, und das tun sie, indem sie sich als Solidargemeinschaft eines »Volkes« beschreiben. Staaten sind keine Gemeinschaften, sondern Verbände von Trägern individueller Rechte. Die »Gesellschaft der Individuen« (Elias) grenzt sich im Rückgriff auf ein historisch-genealogisch verstandenes »Volk« ein und verpflichtet sich in diesem Rückgriff auf Gemeinschaftsnormen (und am Gelingen dieses Rück62 Es hat sicher keinen Sinn, den Gabentausch nun als Mittel zur Einhegung des Individualismus warenförmig vergesellschafteter Individuen ins Spiel zu bringen, jedenfalls dann nicht, wenn man den Individualismus als eine emanzipatorische Errungenschaft der Moderne begreift, die eine reflexive Verständigung über die Frage, in welcher Sozialordnung wir eigentlich leben wollen, erst möglich macht. Der Witz am Warentausch ist ja, dass er die formelle Gleichheit der Vertragspartner voraussetzt, während der Gabentausch genau das nicht tut. Die Gabe ist mit der Pflicht zur Gegengabe verbunden, und es ist alles andere als abwegig (schon Mauss weist an einer Stelle explizit darauf hin), die Entstehung von Schuldverhältnissen bzw. von sozialen Hierarchien genau darauf zurückzuführen.

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griffs hängt die Stabilität staatlicher sozialer Ordnungen)  – Demos verweist in modernen kollektiven Selbstbeschreibungen auf Ethnos (vgl. Kapitel 2). Nicht nur um sich als Kollektiv verstehen zu können, erzählen sich die gegeneinander durch das Recht verselbstständigten und eben dadurch individualisierten Staatsbürger die Geschichte ihrer »Volksgemeinschaft« (die Nationalgeschichte). Sie müssen sie sich auch erzählen, um den strukturellen Konflikt zwischen Individualismus und Gemeinschaftsorientierung einzuhegen. Diese Einhegung vollzieht sich in der Sphäre der politischen Öffentlichkeit als permanente Verständigung über die Legitimität individueller Interessenrealisierung, d.h. über die Frage, ob und wo Individualismus die kulturellen Grenzen einer Gemeinschaft überschreitet – und zwar in allen Handlungsbereichen. Aber die Gemeinschaftserzählungen bringen die Spannung ja nicht zum Verschwinden, und daher bleibt die Fragilität des »wir« ein andauernder Gegenstand sozialtheoretischer Reflexion und gesellschaftspolitischer Bearbeitung: Die Spannung zwischen Individualismus und Gemeinwohlorientierung wird in der modernen Sozialphilosophie seit Rousseau als Verhältnis von Volonté générale und Volonté de tous diskutiert, in der evolutionäre Anthropologie als Frage nach den evolutionären Grundlagen menschlicher Kooperation. In der Soziologie, einer Wissenschaft, die als Antwort auf die Frage entstanden ist, was Sozialordnungen zusammenhält, ist ein inzwischen vielfältiges begriffliches Instrumentarium entwickelt worden, in dem jene Spannung theoretisiert und diskutiert wird: als Verhältnis von Lebenswelt und System, von Gemeinschaft und Gesellschaft, von organischer und mechanischer Solidarität, von Sozialund Systemintegration. Das politische Alltagsgeschäft moralisiert die Spannung in Ansprachen und Bekenntnissen (am bekanntesten ist wohl Kennedys »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst«) und handelt sie in der Diskussion um der Marktvergesellschaftung entzogene Kollektivgüter laufend neu aus (als Streit um private oder öffentliche Versorgung mit Wasser, Bildung, Mobilität, sozialer Sicherheit usw.). Die für moderne Sozialordnungen konstitutive Spannung zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung ist nicht einfach eine Spannung – sie stellt sich sozialhistorisch vielmehr als Prozess der Vergesellschaftung dar, als permanente Entbettung und Neueinbettung von gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Elementen von Sozialbeziehungen.63 63 Auch wenn dieser Prozess eine Richtung, eben fortschreitende Vergesellschaf-

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Weil kollektive Selbstbilder jene Spannung einhegen, nicht aber zum Verschwinden bringen, wird sie in den Gemeinschaftserzählungen zum Gegenstand der Kritik (am »homo oeconomicus«, an der Warenförmigkeit sozialer Beziehungen, der »Kälte« der bürgerlichen Gesellschaft, dem utilitaristischen Individualismus usw.). Modernisierung erscheint als Verlust oder, um eine Formulierung des jungen Marx aufzugreifen, als Entfremdung. Das Kalkül bemächtigt sich der Liebe, die rechnende Vernunft unterwirft sich qualitative Differenz, die Anonymität des Großstadtlebens die Lebendigkeit sozialer Nahbeziehungen, der technische Blick das Naturerleben. Das ist in der Gegenwart nicht anders: Die Landlust, das gegenwärtig mit Abstand auflagenstärkste Lifestyle-Magazin in Deutschland, liefert ihren Leserinnen und Lesern das Bild eines naturverbundenen Lebens zwischen Blumenwiesen, artgerechter Rinderzucht und fröhlichem Beisammensein bei einer Brotzeit am einfachen Holztisch, fernab der industrialisierten Massenproduktion von Lebensmitteln, städtischer Blasiertheit und kalten Glasfassaden (Büttner 2013), das Simulacrum einer Welt, die nie existiert hat, aber als Sehnsuchtsort »verlorener« Ursprünglichkeit und »verlorener« Gemeinschaft in unterschiedlichen Spielarten die Geschichte der Modernisierung begleitet, die eben dadurch als eine Geschichte der Entfremdung erfahrbar wird. In dem breiten Strom der antimodernen Kultur- und Gesellschaftskritik verwandelt sich die Freisetzung des Individuums aus unmittelbarer Abhängigkeit in einen Gegensatz: Der Individualismus (der Liberalismus, der Internationalismus usw.) wird der Gemeinschaft als gegenläufiges Prinzip gegenübergestellt  – und er ist tatsächlich ein gegenläufiges Prinzip, denn ohne Verwandlung von Angehörigen von Gruppen in Träger von Individualrechten gibt es keine moderne Gesellschaft, diese Verwandlung ist nichts anderes als Modernisierung oder Verbürgerlichung – und als das die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsethos zerstörende Prinzip gegeißelt. Das allgemeine Schema einer antimodernen Kritik moderner Gesellschaft, die Entgegensetzung der beiden Modi sozialer Integration, Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, füllt in seinen unterschiedlichen Ausführungen Bibliotheken. Daran ist zunächst nichts antisemitisch. Das Schema bezeichnet eine verbreitete Regel, mit dem auf Dauer gestellten und institutionalisierten Konflikt im Innern einer sich als tung, hat, so werden moderne Sozialordnungen dadurch nicht instabil: Dem Prozess fortschreitender Vergesellschaftung korrespondiert ein Prozess fortschreitender Organisation von Sozialbeziehungen.

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Solidargemeinschaft verstehenden Gruppe von Trägern individueller Rechte umzugehen: Das Prekäre der Ordnungsbildung wird aus dem Binnenbereich einer Sozialordnung, die sich als Solidargemeinschaft legitimieren muss, externalisiert. Ich erinnere an dieser Stelle nur an die Ausführungen zu Ferdinand Tönnies (der, um es noch einmal zu betonen, kein Antisemit war), der »Gemeinschaft« durch »Gesellschaft« bedroht sieht und die Sozialfigur des Händlers als Gemeinschaftszerstörer zeichnet, oder an die öffentliche Bearbeitung der großen Wirtschaftskrise nach 2008, in der es nicht unüblich war, die Krisenursache aus dem Binnenbereich eines »Wir« zu externalisieren, in einer Gruppe international tätiger Banker zu personalisieren und als Krisenursache eine gemeinschaftszerstörende »ungebremste Gier« in dieser Gruppe, als Folge ihres unverantwortlichen Handelns gemeinschaftszerstörende Wirkungen zu postulieren. Eine antimoderne Kultur- und Gesellschaftskritik will nicht in eine vormoderne Welt zurück. Sie will den Doppelcharakter der Moderne, ihren Individualismus, durch Vergemeinschaftung überwinden. Da Vergesellschaftung die Bedingung dieser Überwindung ist, wird das Simulacrum Gemeinschaft zum normativen politischen Projekt, d.h. zu einer fortgesetzten Einhegung der Spannung von Individualismus und Gemeinschaftsorientierung durch eine moralisierende Gemeinschaftserzählung, die sich aus der Abwehr von außen stammender Gegner (des »schrankenlosen« Utilitarismus usw.) speist. Der moderne Antisemitismus setzt auf dem Schema der antimodernen Kulturkritik auf. Die Verbindung zwischen beiden ist durch das Selbstbild einer nationalen Gemeinschaft gegeben. Das kann nicht weiter verwundern, weil moderne kollektive Selbstbilder grundsätzlich mit dem Binnenkonflikt zwischen Individualismus und Gemeinschaftsorientierung umgehen müssen. Der Antisemitismus kritisiert Gesellschaft aus der Perspektive von Gemeinschaft. Mit der antimodernen Kulturkritik teilt er die Geißelung der gemeinschaftszerstörenden Wirkungen von Vergesellschaftung und das Selbstbild einer dadurch in ihrer Eigenart bedrohten Gemeinschaft, die es zu bewahren oder zu retten gelte. Der moderne Antisemitismus folgt der gleichen Logik des Weltverstehens; er nimmt eine im Grunde kleine Umstellung vor, durch die er sich von der antimodernen Kultur- und Gesellschaftskritik unterscheidet: Die antimoderne Kulturkritik externalisiert Gesellschaft aus dem Selbstbild einer eigenen Gemeinschaft und bekämpft entweder abstrakte Prinzipien (den verantwortungslosen homo oeconomicus usw.) oder personalisiert

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Gesellschaft in Personengruppen (die verantwortungslosen internationalen Banker usw.). Der moderne Antisemitismus personalisiert Gesellschaft, das er wie die antimoderne Kultur- und Gesellschaftskritik als das Andere von Gemeinschaft versteht, in der Gruppe der Juden. Ich habe an den unterschiedlichsten Beispielen gezeigt, dass das Grundmuster der Zuschreibungen im modernen Antisemitismus durch den feindlichen Gegensatz von Gemeinschaften (»Völker«) und Gesellschaft (»Juden«) gegeben ist: Gesellschaft (»Juden«) zerstört Gemeinschaften (»Völker«). Dieses Grundmuster strukturiert alle Zuschreibungen; ich habe keinen Fall gefunden, in dem es anders wäre, und ich wüsste keine Literatur, in der ein solcher Fall vorgestellt worden wäre. In der Folge muss das als historisch-genealogische Solidargemeinschaft verstandene »Volk« nicht nur »wieder« zu sich selbst finden, sich von der Moderne im Inneren befreien, sondern auch von »den Juden« im Binnenbereich der eigenen Gemeinschaft. Die Moderne wird in der Gruppe der Juden bekämpfbar. Der Antisemitismus unterscheidet sich also von der antimodernen Kulturkritik nicht durch die allgemeine Regel der Konstruktion eines Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft und der Personalisierung dieses Gegensatzes in Gruppen. Diese teilen beide. Er unterscheidet sich vielmehr durch die Kombination dieser Regel mit den gerade genannten Regeln. Weil der Antisemitismus das allgemeine Schema teilt, ist er so verbreitet und anschlussfähig. Für Juden, d.h. für diejenigen, die nach im Nationalsozialismus definierten und rechtlich kodifizierten Regeln der Abstammungsgemeinschaft der Juden zugehörig galten, hatte, was ich als »kleine Umstellung« bezeichnet habe, tödliche Konsequenzen. Die tödliche Konsequenz erklärt sich nicht aus der Wissensformation des modernen Antisemitismus allein. Wissen tötet nicht. Um aber zu töten, muss man wissen, wen und warum. Deshalb ist die Wissensformation des modernen Antisemitismus eine notwendige Voraussetzung der Ermordung von Juden. Die historische Dynamik der Sattelung des antisemitischen Wissens lässt sich als Dynamik der Radikalisierung dieses Wissens fassen. Ich habe im letzten Kapitel unterschiedliche Typen des modernen Antisemitismus erörtert. Diese Typen bestehen einerseits nebeneinander, d.h. sie kommen in modernen sozialen Ordnungen gleichzeitig vor. Aber sie kommen nicht in den gleichen Proportionen vor. Die Wissensformation des modernen oder nationalen Antisemitismus ist nicht immer gleich, sondern besteht in unterschiedlichen Mischungs-

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verhältnissen der vier Typen. Die Tendenz der Entwicklung des Mischungsverhältnisses der Typen ist eindeutig: Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts ist der christlich-nationale Antisemitismus der dominante Typus. Dessen Gewicht nimmt im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts ab. Die historische Dynamik der Wissensformation besteht in dem fortschreitenden Bedeutungsverlust des christlich-nationalen Typs, und eben dies ist die Geschichte der Radikalisierung der Wissensformation. Die Dynamik des Wissens korrespondiert der Dynamik der sozialhistorischen Entwicklung und lässt sich als fortschreitende Historisierung des antisemitischen Wissens beschreiben. Fortschreitende Historisierung heißt, dass das Bekenntnis zum christlichen Glauben an Identitätsrelevanz für das Selbstbild verliert und sich in einen Bestandteil der Kulturgeschichte von »Volk« verwandelt. Der christliche Glaube eint »uns« nicht mehr als Bekenntnis, sondern nur als historischer Bestandteil »unserer« Geschichte, als ein Element der Ausprägung »unseres« »Nationalcharakters«. Diese Verwandlung ist einerseits im modernen antisemitischen Wissen selbst angelegt, das als modernes Wissen nicht eine religiöse Differenz zwischen Christen und Juden artikuliert, sondern eine historische Differenz von »Völkern«. Da »Volk« als Letztinstanz, als Voraussetzung und Produkt historischer Entwicklung verstanden wird (vgl. Kapitel 4.1), wird schon im frühen 19. Jahrhundert im christlich-nationalen Antisemitismus das christliche Bekenntnis zu einem Bestandteil des Ethos von »Volk«. Das ermöglicht die Historisierung des Bekenntnisses zu einem Element »unserer« Kulturgeschichte. Angelegt ist dieser Wandel andererseits in der Sozialgeschichte moderner Gesellschaft, in der sich neue kollektive Handlungseinheiten, moderne Staaten, bilden, die sich als Einheiten gerade nicht mehr nur religiös, sondern innerweltlich, aus der historischen Genealogie eines »Volkes«, legitimieren. In der Konsequenz verliert das Bekenntnis zum christlichen Gott als ein »Eingangstor« (Frantz) zum eigenen Kollektiv an Bedeutung. Auch im christlich-nationalen Antisemitismus bleibt »der Jude« infolge der Regel der Zugehörigkeit, die Personen auf Gruppen durch Abstammung zurechnet, Jude. Aber der christlich-nationale Antisemitismus besteht darauf, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christen (nicht: zur Gemeinschaft des »Volkes«) eine Folge individueller Entscheidung ist, die allen prinzipiell offensteht. Zwar werden Juden auch in diesem Typus als Feinde der Gemeinschaft von

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»Völkern« gezeichnet, weshalb die Assimilationsforderung strukturell ambivalent wird. Doch können Juden in ihm partiell zugehörig werden. Das Telos dieses Antisemitismus ist ein repressives Homogenitätsideal, in dem das Judentum als Religion verschwunden, seine Träger christianisiert sind. Aber Christianisierung ist etwas anderes als Deportation oder Tötung. In dem Moment, in dem die Möglichkeit der Konversion durch die fortschreitende Historisierung des Selbstbildes »Volk« bedeutungslos wird, kann »der Jude«, dem Grundmuster der Zuschreibungen zufolge die Verkörperung der gemeinschaftszerstörenden Gesellschaft, der eigenen Gruppe auch nicht mehr in bestimmter Hinsicht, nämlich der des Bekenntnisses, zugehörig werden. Das ist der im Typus des nationalen Antisemitismus vollzogene entscheidende Schritt. Die »Lösungsperspektive« dieses Typs lässt partielle Zugehörigkeit nicht mehr zu. Die »Judenfrage« wird strukturell unlösbar, »Vermischung«, im frühen modernen Antisemitismus unter dem Titel Assimilation noch gefordert, zum Problem  – nach Treitschke z.B. »wollen wir nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge« (Treitschke 2003a: 12). Der nächste Schritt vom nationalen zum nationalrassistischen Typus verschärft dies nur noch (weil er die »Vermischung« der Gruppen als »Bastardisierung« versteht). Erstaunlicherweise ist der noch religiös geprägte Judenhass »menschlicher« in dem Sinne, dass er den Juden nicht nach dem Leben, sondern nur nach dem Bekenntnis trachtet – solange man erwarten kann, dass sich jemand zum christlichen Glauben bekehren kann, gibt es jedenfalls keinen systematischen Grund, aus dem man auf die Notwendigkeit einer Vertreibung oder Tötung schließen müsste. Die Typen des nationalen, des nationalreligiösen und des nationalrassistischen Antisemitismus laufen auf eine gemeinsame »Lösungsperspektive« der »Judenfrage« zu: »Innere Reinigung« des Volkes, Trennung der Gruppen und »notfalls« Tötung der Juden. Die Radikalisierung des antisemitischen Wissens ist nicht auf das Deutsche Reich beschränkt. Es handelt sich um die Radikalisierung einer modernen Wissensformation. Weil der moderne Antisemitismus eine Spielart der antimodernen Kultur- und Gesellschaftskritik ist, er der gleichen Logik der Weltdeutung folgt, d.h. den Doppelcharakter der Moderne in einem feindlichen Konflikt zwischen Gruppen personalisiert, müssen wir annehmen, dass Antisemitismus Teil der Selbstbeschreibung moder-

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ner Kollektive bleiben wird. Das Beste, was man tun kann, ist, ihn zu delegitimieren, d.h. sozial zu ächten und rechtlich unter Strafe zu stellen. Soziale Ächtung heißt nicht: Aufklärung von Antisemiten über den verzerrten Charakter ihrer Weltdeutung. Aufklärung über antisemitische Stereotype kann auf einer kognitiven Ebene zeigen, dass antisemitisches Wissen falsch ist. Da aber Antisemitismus nicht nur ein kognitives Muster der Weltdeutung ist, sondern für Antisemiten identitätsrelevant ist, d.h. dieser sich im Selbstbild normativ und emotional in einer Wir-Gruppe verortet, bleiben Argumente fruchtlos. Soziale Ächtung heißt deshalb: Öffentliche Widerrede, Ausgrenzung und staatliche Repression, also Antisemiten mit den gleichen Mitteln zu begegnen, mit denen diese Juden begegnen. Nicht Wahrheit, sondern Macht entscheidet über die Stellung und Bedeutung des Antisemitismus im Selbstverständigungsdiskurs moderner Sozialordnungen. Horkheimer und Adorno haben das in den Elementen des Antisemitismus in der Formulierung, der Nationalsozialismus habe den Antisemitismus »wahr gemacht« (Adorno/Horkheimer 1987: 197), deutlich zum Ausdruck gebracht. Doch ist Aufklärung nicht machtlos. Sartre hat in seiner existenzialistischen Analyse des Antisemitismus darauf hingewiesen, dass Antisemitismus eine »Wahl« sei. Das ist sicher dezisionistischer verstanden worden, als es gemeint war, aber es scheint mir einen entscheidenden Punkt zu treffen. Für die Antwort auf die Frage, wie »wir« leben wollen, welchen Kollektiven mit welchen Idealen sich jede und jeder zugehörig fühlt, sind wir selbst verantwortlich. Der Selbstverständigungsdiskurs moderner Gesellschaft hat ausreichend Selbstbeschreibungen hervorgebracht, die Konflikte im Binnenbereich von Wir-Gruppen nicht externalisieren, sondern thematisieren. Aufklärung über die Bedingungen kollektiver Selbst- und Feindbilder ist ein Teil dieser Selbstverständigung, die diejenigen unterstützt, die sich gegen den Antisemitismus entschieden haben.

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