Theorie der Verfassungskritik: am Beispiel der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung [1 ed.] 9783428486298, 9783428086290


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Theorie der Verfassungskritik: am Beispiel der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung [1 ed.]
 9783428486298, 9783428086290

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HERMANN HUBA

Theorie der Verfassungskritik am Beispiel der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 701

Theorie der Verfassungskritik am Beispiel der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung

Von

Hermann Huba

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Huba, Hermann: Theorie der Verfassungskritik : am Beispiel der Verfassungsdiskussion anlässlich der Wiedervereinigung / von Hermann Huba. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 701) Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08629-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08629-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die Untersuchung ist meine geringfügig überarbeitete Dissertation, die im Sommersemester 1995 der Fakultät fur Rechtswissenschaft der Universität Mannheim vorlag. Sie berücksichtigt die bis Ende September 1995 erschienene Literatur. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Gerd Roellecke, der nicht nur diese Arbeit wohlwollend unterstützte. Herrn Prof. Dr. Otto Depenheuer danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens, Herrn Prof. Dr. h.c. Norbert Simon für die Aufnahme in das Verlagsprogramm. Egbert Lenat leistete mir wertvolle Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage.

Ludwigshafen/Rhein, im November 1995 Hermann Huba

Inhaltsverzeichnis Einleitung

15

Erster Teil Die Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung §1

Die erste Phase: Die Wege-Debatte

18

I.

Die politischen Ereignisse

18

II.

Die Wege-Debatte

21

1. Die Position der Befürworter einer neuen gesamtdeutschen Verfassung

22

2. Die Position der Befürworter des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung

III.

§2

27

3. Die Wahl vom 18. März 1990

31

4. Ablösung des Grundgesetzes trotz Beitritt?

33

a) Geburtsfehler und Zukunftsuntauglichkeit

34

b) Die Verbesserungsvorschläge

35

c) Keine Alternative

38

Gründungssituation oder Normallage? - Zwischenbilanz

41

1. Aus dem Ende der Übergangszeit

42

2. Aus der Revolution in der DDR

43

3. Aus der politischen Tiefenwirkung der deutschen Einigung

44

Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

47

I.

Die politische und rechtliche Entwicklung

47

II.

Der Einigungsvertrag

49

8

nsverzeichnis III.

Zur Entstehung der Neufassung des Artikel 146 GG

51

IV.

Der Interpretationsstreit

54

1. Verfassungsgebungsnorm

54

2. Verfassungswidrige Verfassungsnorm

56

3. Verfassungsrevisionsnorm

59

Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

61

1. Verfassungsrechtlicher dritter Weg?

61

2. Verfassungstheoretischer dritter Weg?

63

V.

a) Die ordnende Kraft der Selbstverständigung

64

b) Die ordnende Kraft der Höchstrangigkeit

66

aa)

§3

Die Höchstrangigkeit des Verfassungsrechts

67

bb) Die Organisation von Politik

69

Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

72

I.

Verfassungsrat oder Verfassungsausschuß?

72

1. Verfassungsrat

72

2. Verfassungsausschuß

74

II.

Die politische Entscheidung

75

III.

Aufgabe, Zusammensetzung und Verfahren der G V K

76

1. Aufgabe

76

2. Zusammensetzung

77

3. Verfahren

78

IV.

Die Kritik - zum ersten

78

V.

Befassungsgegenstände und Empfehlungen der G V K

80

1. Befassungsgegenstände

80

2. Empfehlungen

83

a) Die Änderungsempfehlungen

83

b) Belassungsempfehlungen?

84

nsverzeichnis VI.

Zwei Bewertungsmaßstäbe

85

1. Zwei Grundforderungen

85

2. Zwei gegensätzliche Begründungslastverteilungen

85

VII. Die Kritik - zum zweiten (Zusammenfassung)

86

VIII. Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion

90

1. Die Gesetzentwürfe a) SPD

90 90

b) Bündnis 90/Die Grünen

92

c) PDS/Linke Liste

93

d) Der Gesetzentwurf zu Art. 2 a

94

2. Das Ergebnis

95

3. Das Ende?

98

Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

100

I.

Die Differenz in zeitlicher und sachlicher Hinsicht

100

1. Die Verfassung als "Rahmen"

100

II.

a) Übereinstimmung

100

b) Differenz

101

2. Das Bezugsproblem der Verfassung

104

a) Die Legitimation von Herrschaft

104

b) Die Ermöglichung voi\ Politik

106

3. Verfassung und Zukunft

107

Die Differenz in sozialer Hinsicht

109

1. Tatsächliche Zustimmung zur Verfassung

109

2. Tatsächliche Geltung der Verfassung

111

3. Zum Verhältnis von tatsächlicher Geltung und tatsächlicher Zustimmung 4. Das Legitimationsproblem

112 113

a) der Verfassung verstanden als höchstrangiges Gesetz

113

b) der Verfassung verstanden als Selbstverständigung

115

nsverzeichnis

10

5. Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes

III.

118

a) im Verständnis der Gegner der reinen Beitrittslösung

118

b) im Verständnis der Befürworter der reinen Beitrittslösung

120

c) im Vergleich

123

Resümee: pathetisches und technisches Verfassungsverständnis

124

Zweiter Teil Theorie der Verfassungskritik §5

Das Scheitern des pathetischen Verfassungsverständnisses und seine Gründe

129

I.

Das Scheitern

129

II.

Die Gründe

130

1. Politische Gründe

130

2. Sachliche Gründe

132

a) Diagnose der gesellschaftlichen Lage und Verfassungsbegriff.... 13 2 b) Fortgang der Untersuchung §6

136

Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

139

I.

Beschränkter Zweck der Untersuchung

139

II.

Umfang und Materien der Änderungen

141

III.

Sachliche Gründe der Änderungen

144

1. Die Konsolidierung und Sicherung der bundesrepublikanischen Staatsgewalt

145

a) Aufarbeitung der Kriegs- und Besatzungsfolgen

145

b) Vervollständigung der Staatsgewalt

145

c) Weitere Sicherung der Staatsgewalt

149

2. Die Anpassung der Regelungen der staatlichen Verfügung über Recht und Geld

150

a) Die Regelungen

150

b) Anpassung oder Planung?

151

c) Länderneugliederung

153

nsverzeichnis 3. Die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaates

IV. §7

§8

154

a) Demokratie

154

b) Rechtsstaat

155

Gesellschaftlicher Hintergrund der Änderungen

156

Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes

158

I.

Folgerungen

158

1. Ausdiffererizierung des politischen Systems

159

2. Anpassung

159

3. Organisationsrecht

160

II.

Verfassungswandel

162

III.

Der Eigensinn des Grundgesetzes

164

1. Technisches Verfassungskonzept

164

2. Und die Sinngebungsfunktion der Verfassung?

166

3. Die Multifunktionalität der Verfassung

167

4. Technisches Provisorium

169

Die Weimarer Reichsverfassung

170

I.

170

II.

III.

Weimarer Verfassung und Grundgesetz Weimarer Verfassung und gesamtdeutsche Alternativen zum Grundgesetz

172

1. Der (sog.) Verfassungsentwurf des Runden Tisches

172

2. Der Kuratoriumsentwurf

178

Zum Scheitern der Weimarer Verfassung

181

1. Die Weimarer Verfassung als "unglückliche" Verfassung

181

2. Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen

182

3. Die Weimarer Verfassung als "mißglückte" Verfassung

183

a) Das ökonomische Argument b) Das Parteienhader-Argument

183 184

c) Das Gesinnungs-Argument

185

12

nsverzeichnis IV.

§9

Ergebnis

189

Positiv- und Negatiwerfassungen

190

I.

Die Konzepte

190

1. Negatiwerfassungen

190

2. Positiwerfassungen

190

a) Freiheit und Glück

191

b) Gleichheit und Vielfalt

191

c) Legalität und Solidarität

192

II.

Definitive Integration - Der Naumannsche Grundrechtsentwurf

192

III.

Ein zusammenfassender Vergleich

196

1. Unterschiedliche sachliche Anknüpfungspunkte

196

2. Unterschiedliches Verhältnis zur Zeit und zum Recht

196

3. Teilnehmer und Beobachter

198

§ 10 Positiv- oder Negatiwerfassung? I.

200

Für eine (gesamtdeutsche) Positiwerfassung

200

1. Revolution

200

2. Einheit

201

Für eine (gesamtdeutsche) Negatiwerfassung

202

1. Verfassung trotz Revolution

202

2. Einheit und funktionale Differenzierung

202

III.

Evolution oder Planung?

204

IV.

Die Aufgabe der Wissenschaft

204

II.

Literaturverzeichnis

206

Sachwortverzeichnis

225

Abkürzungsverzeichnis a.F.

alte(r) Fassung

ÄndG

Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BR-Drs.

Drucksache des Bundesrates

BT-Drs.

Drucksache des Deutschen Bundestages

BVerfGE

(Amtliche Sammlung der) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DVB1

Deutsches Verwaltungsblatt

EB

Einsetzungsbeschluß/-beschlüsse

EV

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag -

FN

Fußnote

GG

Grundgesetz ftir die Bundesrepublik Deutschland

GVK

Gemeinsame Verfassungskommission des Deutschen Bundestages und des Bundesrates

HdbStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (hrsgg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof)

JöR (NF)

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (Neue Folge)

JuS

Juristische Schulung

14

Abkürzungsverzeichnis

JZ

Juristenzeitung

n.F.

neue(r) Fassung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Rn

Randnummer

VB1BW

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

WDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

W(R)V

Weimarer (Reichs-)Verfassung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung Den Prozeß der deutschen Wiedervereinigung begleitete eine fast fünf Jahre währende, mit abnehmender Intensität geführte Verfassungsdiskussion. Übereinstimmend darin, daß eine "falsche" normative Verfassung Staat und Gesellschaft schadet, stritt man seit Beginn des Jahres 1990 über Inhalt und Zustandekommen der für Gesamtdeutschland "richtigen" Verfassung. Erachtete die eine Partei das punktuell geänderte Grundgesetz der (früheren) Bundesrepublik als die richtige gesamtdeutsche Verfassung, forderte die andere dessen Ablösung durch eine dieses Grundgesetz inhaltlich fortentwickelnde, vom Volk gegebene, neue Verfassung. Politisch war - jedenfalls zunächst - keine Einigung zu erzielen. Auch die von beiden Seiten vorgetragenen, auf das geltende Verfassungsrecht gestützten, verfassungsdogmatischen Argumente wurden wechselseitig bestritten. Streitentschärfend zu wirken, vermochte auch der Rückgriff auf verfassungstheoretische Überlegungen nicht. Letzteres mag überraschen. Immerhin erhebt Verfassungstheorie den Anspruch, 'Orientierungsrahmen der Verfassungsreform" zu sein.1 Würde sie diesem Anspruch gerecht, hätte sie in der Lage sein müssen, sachliche Richtpunkte dafür zu liefern, was eine gute Verfassung ausmacht. Ihrer selbstgestellten Aufgabe könnte die Verfassungstheorie indessen nur gerecht werden, wenn die Antwort auf die Vorfrage, was Verfassungen sollen und können,2 wissenschaftlich gesichert wäre. Die qualitätsmaßstäblichen Aufgaben der Verfassung und ihre Leistungsfähigkeit sind aber nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich umstritten. 3 1

Dieter S. 489. 2 3

Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972),

Grimm, ebda.

Siehe die gedrängten Überblicke bei Gunnar Folke Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, AöR 120 (1995), S. 32 (49 ff.) und Christoph Gusy/Ingo Hueck/Dieter Kugelmann, Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland, in: Thomas Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 25 (29 f., 39 ff.). Ausfuhrlicher Hans Vorländer, Verfassung und Konsens, 1981, S. 275 ff.

16

Einleitung

Deshalb erscheinen verfassungstheoretische Argumentationen in der Verfassungsdiskussion lediglich als wissenschaftlich subventionierte politische Stellungnahmen. Diese Fremdeinschätzung verdankt die Verfassungstheorie ihrem normativen Ansatz.4 Wer es als "Aufgabe der Wissenschaft" ansieht, "legitime (Verfassungs-)Änderungsprojekte von illegitimen" zu scheiden,5 kann sich sehr schnell politischer Wertung nicht mehr enthalten. Verlauf und Ergebnis der Verfassungsdiskussion aus Anlaß der Wiedervereinigung6 in diesem Sinne verfassungstheoretisch zu beleuchten, unternimmt die vorliegende Untersuchung nicht. Die Debatte soll nicht fortgesetzt, sie soll nachgezeichnet und analysiert werden: Nach welchen Maßstäben wurde die höchste Rechtsnorm, die keine Normen über sich kennt, kritisiert und gerechtfertigt? Gefragt wird also nicht, ob das Grundgesetz die richtige Verfassung der (jetzigen) Bundesrepublik ist oder eine neue gesamtdeutsche Verfassung die bessere (gewesen) wäre. Gefragt wird, durch welche inhaltlichen Veränderungen und auf welchem Weg die Verfassung hätte verbessert werden sollen, und warum die Kritik am Grundgesetz im wesentlichen gescheitert ist. Die Kritiker des Grundgesetzes wie die Kritiker der zur Diskussion gestellten Alternativentwürfe haben mit ihrer jeweiligen Kritik zum Ausdruck gebracht, wonach sich für sie die Qualität einer Verfassung bemißt. Diese Erwartungen an die Verfassung sollen registriert werden (§ 1 - § 3). 7 Die Bestandsaufnahme mündet in den Versuch, die Diskussion verfassungstheoretisch als Auseinandersetzung zweier unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Verständnisse der Verfassung zu rekonstruieren (§ 4): Stritten die Befürworter des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung vor dem Hintergrund des Verständnisses der Verfassung als "Teilordnung", die spezielle Aufgaben in der Gesellschaft erfüllt, so verstehen ihre Gegner die Verfassung als "Grundordnung" der Gesellschaft. Sind Veränderungen der Verfassung für die erste Position Fragen des

4

Verteidigend Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 54 ff. Ebenso Görg Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 1,45. 5

Grimm, Verfassungsfunktion, S. 505.

6

Zur politischen Problematik des Begriffs "Wiedervereinigung" (statt "Neuvereinigung") Dietrich Murswiek, Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 14 f. 7

Dieser Absicht entsprechend beanspruchen die ausgewählten Zitate, für die jeweilige Position repräsentativ zu sein.

Einleitung besseren oder schlechteren Funktionierens eines abgegrenzten gesellschaftlichen Lebensbereichs, nämlich der Politik - technisches Verfassungsverständnis -, stellen sie für die zweite Position Probleme der Gesellschaftsgestaltung dar und insofern existentielle Probleme des Gemeinwesens insgesamt - pathetisches Verfassungsverständnis. Der Frage, weshalb sich die mit dem pathetischen Verfassungsverständnis verbundenen Forderungen an eine gesamtdeutsche Verfassung im wesentlichen nicht durchsetzen konnten, geht der zweite Teil der Arbeit nach. Dabei wird die naheliegende Antwort, die Kritik sei an einer konservativen Mehrheit gescheitert, als verfassungstheoretisch nicht ausreichend angesehen. Läßt man die politische Erklärung beiseite, stellt sich die Frage nach sachlichen Gründen. Die die weitere Untersuchung leitende Hypothese vermutet die sachlichen Gründe des Scheiterns in unzutreffenden Vorstellungen des pathetischen Verfassungsverständnisses von der Funktion, und in diesem Sinne von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Verfassung (§ 5). Auskunft über die (Primär-)Funktion der Verfassung sollen die Änderungen des Grundgesetzes bis 1990 (§ 6 und § 7) und das Scheitern der Weimarer Reichsverfassung geben.8 Die Weimarer Verfassung bietet sich deshalb als Untersuchungsgegenstand an, weil sie die konzeptionellen Vorstellungen der pathetischen Verfassungskritik bereits weitgehend verwirklicht hatte (§ 8). Ein theoretischer Vergleich des pathetischen Verfassungskonzepts (Positiwerfassung) mit dem technischen (Negatiwerfassung) vermag das pathetische Verfassungsverständnis nicht als unzutreffend zu erweisen (§ 9). Welchen Weg in die Zukunft eine Gesellschaft nehmen soll, den Weg blinder, aber beobachteter Evolution oder den Weg absichtsvoller, aber unbeobachtbarer (Selbst-)Planung, ist wissenschaftlich nicht zu entscheiden. Theorie ist darauf beschränkt, die beiden Perspektiven der Verfassungskritik: Funktionsoptimierung oder Gesellschaftsverbesserung, zu unterscheiden sowie ihre jeweiligen Voraussetzungen und möglichen Folgen zu analysieren (§ 10). 8

Die Untersuchung beschränkt sich also auf die Frage nach der Primärfunktion von Bundesverfassungen. Die Primärfunktion von Länderverfassungen kann eine andere sein, wenn und soweit sie aufgrund der Bundesverfassung ein rechtlich organisiertes politisches System voraussetzen können. Der Unterschied erklärt die Ausrichtung vieler Verfassungen (der alten und) der neuen Bundesländer auf Integrationsstiftung und Identitätsbestimmung. Siehe etwa Martin Kutscha, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in den neuen Landesverfassungen, ZRP 1993, S. 339 ff. und die unten § 9 FN 18 nachgewiesenen Beiträge. 2 Huba

Erster Teil

Die Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte I. Die politischen Ereignisse "Wir haben eine gute Verfassung." - "Die Zeit ist reif für eine neue Verfassung." Die beiden Urteile trennen zwei Jahre. Das erste entstammt der Ansprache des Bundespräsidenten beim Staatsakt zum vierzigsten Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes1 und gibt eine in Politik, Öffentlichkeit und Staatsrechtslehre weit verbreitete Einschätzung wieder. Mit dem zweiten beginnt und endet die Paulskirchenerklärung des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder vom 16. Juni 1991/2 Die Jahre 1989 bis 1991 gelten freilich schon heute als Zeit eines "epochalen Umbruchs", 3 als ein historisches Datum in der Weltpolitik, in der Geschichte Europas und nicht zuletzt in der Deutschlands: Ermöglicht durch den Wandel in der Sowjetunion,4 begleitet von der Ablösung der kommunistischen Regime in 1

Abgedruckt in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Staatsakt in der Beethovenhalle Bonn am 24. Mai 1989, Bonn 1989, S. 3 (10). 2

Abgedruckt in: Bernd Guggenberger/Ulrich K. Preuß/Wolfgang Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991, S. 1 f. Zu dem Verfassungsentwurf des Kuratoriums unten § 8 II. 2. 3 So etwa Karl Dietrich Bracher, Deutschland in Europa, in: ders., Wendezeiten der Geschichte, 1992, S. 311. 4

Wobei festzuhalten bleibt, daß Gorbatschows Politik der Umgestaltung ursprünglich lediglich auf eine Reform des kommunistischen Systems zielte, siehe nur Gerhard Wettig, Die Rolle der UdSSR bei der Vereinigung Deutschlands, in: Konrad Low (Hrsg.), Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989, 2. Aufl. 1993, S. 45 (46).

I. Die politischen Ereignisse

19

Mittel- und Osteuropa, vor allem in Polen, Ungarn und der (ehemaligen) Tschechoslowakei, folgt auf Massenflucht, Massenprotest und die Öffnung der innerdeutschen Grenze und der Sektorengrenze in Berlin am 9. November 1989 der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in der DDR. A m 18. März 1990 finden die ersten freien Wahlen zur Volkskammer statt. Nach Errichtung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Deutschland5 zum 1. Juli erfolgt am 3. Oktober 1990 der Beitritt der (damit untergehenden) DDR zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland nach (dem damaligen) Art. 23 Satz 2 GG. 6 Die Geltung des Grundgesetzes wird erstreckt auf die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen sowie auf den Teil des Landes Berlin, in dem es bis dahin nicht galt. Am 2. Dezember 1990 werden die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen abgehalten.7 Mit der Ratifizierung des sog. Zwei-plus-VierVertrages 8 durch die UdSSR als letzter der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges erlangt das vereinte Deutschland am 15. März 1991 auch formell die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten (Art. 7 Abs. 2 des Vertrages). Dramatik und Gewicht der angedeuteten politischen Veränderungen scheinen die Differenz zwischen den beiden eingangs zitierten Aussagen mühelos zu erklären. Gleichwohl bleibt die Forderung nach einer neuen Verfassung für 5

Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990, BGBl. 1990 I I S. 537; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik BGBl. 1990 I I S. 518. Siehe auch Klaus Stern/Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 1 1990. 6

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. August 1990, BGBl. 1990 I I S. 889; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik BGBl. 1990 I I S. 885. Siehe auch Stern/Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2 1990. 7 Vorbereitet durch den Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 3. August 1990, BGBl. 1990 I I S. 882; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik BGBl. 1990 I I S. 813. Siehe auch Stern/Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2 1990. 8

Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, BGBl. 1990 I I S. 1318; Zustimmungsgesetz BGBl. 1990 I I S. 1317; Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Vertrages: BGBl. 1991 I I S. 587.

20

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

Deutschland keineswegs unwidersprochen. In der seit Beginn des Jahres 1990 geführten Verfassungsdiskussion findet sich vielmehr nach wie vor die Einschätzung, das Grundgesetz sei eine gute Verfassung, auch für Gesamtdeutschland, ja sogar die Position, es sei "die bestmögliche Verfassung für das vereinigte Deutschland".9 Da niemand ernstlich bezweifelt, daß die Wiedervereinigung Deutschland politisch vor neue Herausforderungen stellt, bildet den Kern der Auseinandersetzung offenbar die Frage, was die politischen Veränderungen für die Verfassung bedeuten. Dieses Problem wird allerdings kaum ausdrücklich diskutiert. Es zeigt sich überlagert von der Frage, was die Ereignisse für die Gesellschaft bedeuten. Diskutiert wird, wer die "Last der Veränderungen" 10 zu tragen hat: Handelt es sich auch für die Gesellschaft der (früheren) Bundesrepublik um Veränderungen qualitativer Art wie unstreitig für die Gesellschaft der (ehemaligen) DDR oder lediglich um solche quantitativer Art? Bedeutet die Wiedervereinigung für die (frühere) Bundesrepublik nur eine "Vergrößerung des Volumens", ein Problem also, das sich in "Zahlen und Zahlungen"11 erschöpft? Oder muß auch sie sich wandeln.12 Und wenn auch sie sich wandeln muß, wieviel Annäherung an die Identität der Gesellschaft der (ehemaligen) DDR vor und nach den Ereignissen im Herbst 1989 erfordert die Einheit? In der Diskussion gilt die jeweilige Antwort auf diese politischen Fragen zugleich als Antwort auf die Frage: Grundgesetz oder neue Verfassung? Anders denn durch die starre Verklammerung der Verfassungs- mit der Identitätsfrage ist der Verlauf der Verfassungsdebatte jedenfalls nicht zu erklären.

9

Josef Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: W D S t R L 49 (1990) S. 39 (56). 10

Dieter Grimm, Verfassungsreform in falscher Hand?, Merkur 46 (1992), S. 1059

(1060). 11

Niklas Luhmann, Dabeisein und Dagegensein, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.8.1990, S. Ν 3; auszugsweise abgedruckt in: Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Die deutsche Vereinigung, 1991, S. 204 f. 12

Grimm, Verfassungsreform, S. 1059.

21

II. Die Wege-Debatte

I I . Die Wege-Debatte Bundesrepublikanische Kontinuität oder gesamtdeutscher Neubeginn, diese Alternative prägte bereits die erste Phase der Verfassungsdiskussion, die Debatte über den Weg, auf dem die staatliche Einheit herzustellen sei. Ende 1989 noch ausreichend erscheinende Planungen, die beiden deutschen Staaten einander nur anzunähern, in einer engeren "Vertragsgemeinschaft" 13 oder in einem Staatenbund,14 erwiesen sich schnell als unzureichend. Sie waren weder geeignet, das Ausmaß der Übersiedlungen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik zu begrenzen,15 noch wurden sie den Forderungen gerecht, die seit Januar 1990 die Montagsdemonstrationen in Leipzig zu beherrschen begannen. Die Rufe "Deutschland - einig Vaterland" und "Wir sind ein Volk" verlangten die staatliche Einheit. Diese zu erreichen, boten sich nach Lage der Dinge zwei Wege: die Eingliederung der DDR in den Staatsverband der Bundesrepublik oder die Verschmelzung beider Staaten zu einem neuen Staatssubjekt.16 Unmittelbarer Gegenstand der Vereinigungsdebatte waren freilich nicht diese beiden Wege zur staatlichen Einheit, sondern die beiden vom Grundgesetz vorgesehenen Wege zur Verfassungseinheit. Zum einen der in Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG 17 vorgezeichnete Weg des Beitritts der DDR oder der auf ihrem Gebiet wiedererrichteten Länder zum Staatsverband der Bundesrepublik, an des-

13

So die Regierungserklärung von Ministerpräsident Hans 17.11.1989, auszugsweise abgedruckt in: Gransow/Jarausch, S. 97 f.

Modrow

vom

14

So Bundeskanzler Helmut Kohl in seinem Zehn-Punkte-Programm, das er am 28.11.1989 dem Bundestag vorlegte. Auszugsweise abgedruckt in: Gransow/Jarausch, S. 101 ff. (102): Punkt fünf spricht von der Entwicklung "konföderativer Strukturen", freilich mit dem Ziel, in Deutschland eine Föderation, eine bundesstaatliche Ordnung zu schaffen. 15

Betrug die Zahl der Übersiedler im Jahre 1988 noch 39832, stieg sie 1989 auf 343854; im Januar 1990 waren es 58043. Siehe die Chronik von Christa Hoffinann, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit, 1992, S. 421 (437). 16 17

Isensee, Staatseinheit, S. 46 f.

Art. 23 (a.F.) GG lautete: "Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollem. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen."

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

22

sen Ende als gesamtdeutsche Verfassung das Grundgesetz stehen sollte. Zum anderen der in Art. 146 (a.F.) GG 1 8 schemenhaft vorgezeichnete Weg, der einen verfassungsrechtlichen Neuanfang Gesamtdeutschlands ermöglichte. Die Frage des "Wie" der staatlichen Einheit wurde also - grob gesprochen - kurzgeschlossen mit der Frage des "Wie" der Verfassungseinheit und diskutiert als Frage der "Identität" Gesamtdeutschlands.

1. Die Position der Befürworter einer neuen gesamtdeutschen Verfassung So bedeutete die Verfassungslösung (alleine) nach Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG in den Augen ihrer Kritiker im Kern politisch dreierlei: (a) Die Vereinnahmung, den schnellen "Anschluß" der DDR, "eine Vereinigung zu Bedingungen der Bundesrepublik". 19 Der Beitritt zur Bundesrepublik koste die DDR nicht nur ihre selbständige staatliche Existenz, sondern auch ihre kulturelle Identität: "Erfahrungen und bewahrenswerte Eigenarten der DDR" 2 0 blieben in einem auf diese Weise hergestellten Gesamtdeutschland unberücksichtigt; (b) Daß der Bevölkerung der DDR eine fremde und fertige Verfassung aufoktroyiert wird. Die Bevölkerung der DDR sei an der Ausarbeitung des Grundgesetzes nicht beteiligt gewesen, habe seine Funktionsweise nicht erlebt und an seiner Ausfüllung und Fortentwicklung über vierzig Jahre nicht mitwirken können. A u f ihre spezifischen Erfahrungen und Bedürfhisse, die sich in einer andersartigen politischen Umwelt entwickelt hätten, gebe das Grundgesetz nicht vollständig Antwort. Daneben müßten sich die Bürger der DDR über ihre politische Existenz und gesellschaftliche Ordnung erst noch verständigen kön-

18

Art. 146 (a.F.) GG lautete: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." 19

Jürgen Habermas, Der DM-Nationalismus, Die Zeit vom 30.3.1990, S. 62 f. Auszugsweise abgedruckt in Gransow/Jarausch, S. 148 ff. 20 Rosemarie Will, Der verfassungs- und völkerrechtliche Weg zur Deutschen Einheit, in: Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 201 (203).

II. Die Wege-Debatte

23

nen 21 und die Möglichkeit bekommen, ihre Erfahrungen aus vierzig Jahren SED-Totalitarismus auch verfassungsrechtlich zu verarbeiten. Alles das erfordere einen breiten öffentlichen Verfassungsdiskurs, 22 der in einen Volksentscheid über die gesamtdeutsche Verfassung münden solle: Für die DDR gehe es um "Neukonstituierung"; 23 (c) Die gänzlich unangemessene Verflachung eines historischen Ereignisses, nämlich der friedlichen Oktober-Revolution 1989 in der DDR und der von ihr eröffneten Möglichkeiten, zu einer politisch-technokratischen Routineangelegenheit.24 Statt zur Stunde des deutschen Volkes und seiner verfassungsgebenden Gewalt, gerate der Vereinigungsprozeß auf dem Weg des Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG "ähnlich wie im Ausnahmezustand zur Stunde der Exekutive". 25 Die "Neukonstituierung" Gesamtdeutschlands im Sinne des Art. 146 (a.F.) GG sollte das geeignete Mittel sein, diesen Bedenken vorzubeugen, oder - im Falle eines Beitritts nach Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG - weitgehend abzuhelfen. 26 Die (frühere) Schlußbestimmung des Grundgesetzes erlaube die Entstehung eines neuen Staates aus der Verschmelzung beider deutscher Staaten, wobei es nicht auf die Neuheit des Staates im Völker- und staatsrechtlichen Sinne27 an-

21

So etwa Dieter Grimm, Das Risiko Demokratie, in: Guggenberger/Stein, S. 261

(265). 22

Bernd Hohmann, Verfassungsstreit um Einigung, in: Guggenberger/Stein, S. 208

(210). 23

Grimm, Demokratie, S. 265.

24

So rückblickend Bernd Guggenberger/Tine Stein, Abschied von der Kontinuitätsillusion, in: dies. (Hrsg.), S. 81 (84, 86). Siehe auch Jürgen Seifert, Klassenkampf von rechts oder Modernisierung des Grundgesetzes?, in: Guggenberger/Stein, S. 230 (235). 25

Helmut Simon, Markierungen auf dem Weg zu einer neuen gesamtdeutschen Verfassung, in: Guggenberger/Stein, S. 139 (Ì4Ì); Hohmann, S. 209. 26

So Erhard Denninger und 199 andere Wissenschaftler in ihrem öffentlichen Aufruf "Wo bleibt das Volk? - Plädoyer für eine verfassunggebende Versammlung", abgedruckt in: Kritische Justiz 1990, S. 263 ff. Im Ergebnis ebenso Hans-Herbert von Arnim u.a., Plädoyer fur eine verfassunggebende Versammlung, abgedruckt in: Kritische Justiz 1990, S. 265. 27

Die das Problem der Staatensukzession aufwerfen würde, dazu Josef Isensee, Wenn im Streit über den Weg das Ziel verlorengeht, in: Guggenberger/Stein, S. 270 (274 f.) und ders., Staatseinheit, S. 47 f.

24

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

komme, sondern auf dessen politische Neuheit: 28 sie gestatte die notwendige Neuschöpfung einer gesamtdeutschen Verfassung. Zulässigkeit und Notwendigkeit einer neuen Verfassung für Gesamtdeutschland werden auf zweierlei Weise argumentiert. Unter Berufung auf das Grundgesetz selbst und unter Berufung auf die metajuristischen Funktionen der Verfassung. Repräsentativ für die exegetische Begründung ist der Beitrag von Ulrich Storost. 29 Selbstgesetzter Zweck der Verfassunggebung von 1949 sei es gewesen, das staatliche Leben lediglich für eine Übergangszeit zu ordnen. Der Übergangscharakter der Ordnung des Grundgesetzes, sein Charakter als "lediglich transitorisches Regelwerk" 30 folge vor allem aus dem Wortlaut seiner Präambel (a.F.),31 aus der bewußten Wahl der Bezeichnung "Grundgesetz" anstelle von "Verfassung" und aus seiner Entstehungsgeschichte. Nach der Präambel (a.F.) ende die Übergangszeit mit der Vollendung der Einheit in Freiheit. Mit ihr erfülle sich der Zweck des Grundgesetzes. Die Erledigung des Zweckes einer Verfassunggebung habe zur Folge, "daß sich die Legitimation der Verfassung durch die verfassunggebende Gewalt erschöpft hat". 32 Die Weitergeltung einer Verfassung über den Wegfall ihrer Zweckbestimmung hinaus entbehre der Legitimität. Konsequenterweise enthalte Art. 146 (a.F.) GG das "Rechtsgebot",33 die verfassunggebende Gewalt im 28

Guggenberger/Stein, Abschied, S. 83. Im Ergebnis ebenso Wilhelm Hennis , Die Chance einer ganz anderen Republik, in: Guggenberger/Stein, S. 107 (118), freilich ohne Votum für den Weg nach Art. 146 (a.F.) GG (siehe S. 107). 29

Das Ende der Übergangszeit. Erinnerung an die verfassunggebende Gewalt, Der Staat 29 (1990), S. 321 ff.; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Guggenberger/ Stein, S. 172 ff. 30

Storost, Übergangszeit, S. 176.

31

Bis zur Neufassung durch den Einigungsvertrag lautete die Präambel: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern ..., um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden." 32

Storost, Übergangszeit, S. 172.

33

Storost, Übergangszeit, S. 174.

II. Die Wege-Debatte

25

Falle der Wiedervereinigung erneut auszuüben. Die endgültige Verfassung Deutschlands müsse im Wege einer neuen Verfassunggebung durch das gesamte deutsche Volk geschaffen werden. Dabei könne das Verfahren der Verfassunggebung plebiszitär oder repräsentativ ausgestaltet sein, auch eine Kombination beider Verfahrensarten sei zulässig. Von der Ordnung des Grundgesetzes brauche die gesamtdeutsche Verfassung inhaltlich nicht abzuweichen. Aber auch im Falle inhaltlicher Übereinstimmung handle es sich bei ihr um eine neue Verfassung, "weil sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht über die Grenzen der Verfassunggebung von 1949 hinausginge und zudem ein anderes Subjekt - das ganze deutsche Volk die verfassunggebende Gewalt ausüben würde". 34 Neben diese verfassungsrechtliche Begründung der Forderung nach einer neuen Verfassung tritt bereits in der ersten Phase der Verfassungsdiskussion eine verfassungstheoretische. Ihr zufolge soll sich die Notwendigkeit einer Neukonstituierung Gesamtdeutschlands daraus ergeben, daß die Verfassung - so besonders deutlich Dieter Grimm - 3 5 mehr sei als das rechtliche Regelwerk, nach dem die Staatsorgane eingerichtet werden und sich verhalten sollen und die Verfassungsgerichte Konfliktfalle entscheiden: "Die Verfassung ist vor alledem auch die Selbstbeschreibung und Zielbestimmung einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer Herrschafts- und Sozialordnung und ihres Standorts in der politischen Umwelt. Sie stellt damit zugleich die Konsensbasis dar, ohne die unter den Bedingungen legitimer Meinungs- und Interessenvielfalt die gleichwohl aufgegebene Einheit nicht erreicht und der soziale Friede nicht bewahrt werden kann. Indem sie diese Funktion erfüllt, wird sie zu einem wichtigen Integrationsmedium der Gesellschaft". 36 Folgt man dieser Funktionsbestimmung, ist es von geringer Bedeutung, daß das Grundgesetz "juristisch gesehen ... eine Vollverfassung (ist)" und auch "von der Bevölkerung der (früheren, HH) Bundesrepublik nicht mehr als Provisorium betrachtet (wird)". 37 Denn als gesamtdeutsche Verfassung birgt es gleich34

Storost, Übergangszeit, S. 181 (Hervorhebung im Original).

35

Zwischen Anschluß und Neukonstitution, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.4.1990, S. 35 f.; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Guggenberger/Stein, S. 119 ff. 36

Grimm, Neukonstitution, S. 124.

37

Grimm, Neukonstitution, S. 125.

26

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

wohl dort eine Leerstelle, "wo das Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindlich formuliert war". Mit der Vereinigung verliere der Staat des Grundgesetzes seinen Charakter als überwindungsbedürftiger deutscher Teilstaat. Das erfordere eine Erneuerung der Präambel, die den Rahmen einer gewöhnlichen Verfassungsänderung überschreite. Es bedürfe "einer Verständigung darüber, wie sich der deutsche Staat unter den geänderten Bedingungen selbst verstehen will." Einer solchen Selbstverständigung dürfe man schon deswegen nicht ausweichen, "weil Deutschland mit der Vereinigung seiner beiden Hälften wieder zur Existenzform des Nationalstaates zurückkehrt und sich zu den historischen Belastungen, die damit gerade in Deutschland verbunden sind, verhalten muß". 38 In Richtung Neukonstituierung weise auch die Integrationsfunktion der Verfassung. Trotz der Wertschätzung, die das Grundgesetz dort genieße, sei es für die DDR ein Fremdprodukt. Die Fremdheit lasse sich nur überwinden, wenn der Diskurs über das Grundgesetz unter gleichberechtigter Teilnahme der DDR nochmals eröffnet werde. Die DDR-Bevölkerung habe "durch ihre Revolution einen historisch und durch ihren künftigen Staatsbürgerstatus einen politisch begründeten Anspruch darauf erworben, als politisches Subjekt an dem Einheitsprozeß teilzunehmen".39 Außerdem mache es in Krisensituationen, die auf dem Weg zur endgültigen Verschmelzung der beiden Teile nicht ausbleiben könnten, einen Unterschied, ob "die Verfassungsordnung als eine von der Bundesrepublik übergestülpte empfunden oder als gemeinsam beschlossener Neuanfang betrachtet wird. Die Partizipations- und Integrationschance, die eine solche Neukonstituierung bietet, darf daher nicht verschenkt werden". 40 Für das Verfahren der Neukonstituierung werden zwei Grundmodelle angeboten. Zum einen das repräsentative der Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung, die einen Verfassungstext auszuarbeiten und zu verabschieden hätte. Zum anderen das plebiszitäre der Vorbereitung eines Verfassungsentwurfs durch ein geeignetes Gremium, etwa nach dem Vorbild des Parlamentarischen Rates, dessen Vorschlag dann einer Volksabstimmung zu unterziehen wäre. 41 Unter den Befürwortern des Weges nach Art. 146 (a.F.) GG

38

Grimm, Neukonstitution, S. 125 f.

39

Grimm, Neukonstitution, S. 126 f.

40

Grimm, Neukonstitution, S. 127.

41

Grimm, Neukonstitution, S. 128.

II. Die Wege-Debatte

27

herrschte keine Einigkeit, welches der beiden Verfahren zu wählen sei. Angemessen erschien einerseits die Einberufung einer (verabschiedenden) verfassungsgebenden Nationalversammlung. Andererseits sollte die Vereinigung wie die "Konstituierung jeder Staatsbürgernation" in "das nicht-mediatisierte Recht der Bürger auf Selbstbestimmung" gestellt sein; Der "Gründungsakt" müsse eine "in beiden Teilen Deutschlands wohlüberlegt getroffene demokratische Entscheidung der Bürger selbst" sein.42

2. Die Position der Befürworter

des Grundgesetzes

als gesamtdeutsche Verfassung Demgegenüber erschien den Gegnern einer neuen gesamtdeutschen Verfassung die Herstellung der Staats- und Verfassungseinheit nicht als Problem der Selbstbehauptung der DDR-Bevölkerung, mithin als moralisches Problem, sondern als Zweckmäßigkeitsfrage. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und die Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes nach Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG sei der bessere, weil einfachere, risikofreiere und schnellere Weg zur Einheit: 43 (a) Eine umfassende Verfassungsdiskussion benötige viel Zeit und schaffe Verunsicherung nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch im Verhältnis zu seinen Nachbarn. 44 Fraglich sei aber, wie lange die für eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten gerade günstigen außenpolitischen Rahmenbedingungen noch fortbestünden. Zudem stelle das Grundgesetz die "Beitrittsurkunde" der Deutschen zum Kreis der westlichen Demokratien dar. Es zu revidieren könne deshalb das Vertrauen der Nachbarn irritieren, das die über vierzigjährige Praxis unter dem Grundgesetz geschaffen habe und "das es ihnen jetzt er-

42

So Habermas, DM-Nationalismus. Für ein Verfassungsreferendum auch: Grimm, Demokratie, S. 268; Ernst Gottfried Mahrenholz, Das Volk muß "Ja" sagen können, in: Guggenberger/Stein, S. 220 ff.; und - auf der Grundlage des Art. 146 n.F. GG - Ernst Benda, Das letzte Wort dem Volke, in: Guggenberger/Stein, S. 224 (227); Seifert, Klassenkampf, S. 235 f.; Dieter Sterzel, In neuer Verfassung? Kritische Justiz 1990, S. 385 (392 f.). 43

Siehe die Erklärung von 100 Staatsrechtslehrern "Der Beitritt nach Artikel 23 ist der richtige Weg zu deutschen Einheit", Die Welt vom 28.3.1990, S. 5. 44

Isensee, Streit, S. 281 f.

28

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

möglicht - unter großen Besorgnissen zwar, aber ohne Widerstand -, Zeugen der deutschen Einigung zu werden". 45 (b) Eine Verfassungsneuschöpfung verbiete sich um so mehr, als sich das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung besonders eigne. Der in der Bundesrepublik organisierte Teil des deutschen Volkes habe ihm eine Anhänglichkeit bezeugt, die aus Anlaß des vierzigsten Jahrestages seines Inkrafttretens von Sprechern aller politischen Richtungen geradezu hymnisch besungen worden sei. Entsprechend sei in der Bundesrepublik seit über einem Jahrzehnt von einer grundlegenden Verfassungsreform ernstlich nicht mehr die Rede gewesen.46 Aber auch aus Sicht der DDR-Bevölkerung bestehe eine Notwendigkeit zur Neuordnung nicht. Die Ziele der friedlichen Revolution der Deutschen in der DDR: die staatliche Einheit des deutschen Volkes, die freiheitliche Demokratie und deren notwendige ökonomische Voraussetzung, die soziale Marktwirtschaft, seien allesamt auf die Ordnung des Grundgesetzes gerichtet gewesen. Und jene Veränderungen des Gemeinwesens, die sich notwendig ergeben, "wenn die Deutschen der DDR hinzukommen und ihre menschliche wie politische Individualität, ihre Erfahrungen und Hoffnungen einbringen", hindere das Grundgesetz nicht, da es sich lediglich als "Rahmenordnung der Freiheit" 47 verstehe. Vor allem aber fehle in Ost und West jede inhaltliche Alternative zum Grundgesetz. Eine Verfassung, deren existentielle Grundentscheidungen dem Grundgesetz überlegen wären, sei nicht einmal am fernen Horizont erkennbar. 48 Damit erledigten sich zugleich alle Forderungen nach einem Verfassungsreferendum. Ein Verfahren, das nicht als Sachentscheidung über Alternativen angelegt sei, wirke weder stabilisierend, noch integrierend, noch legitimierend; es erweise sich vielmehr als "ein demokratisches Placebo", als "selbstzweckhafte

45

Robert Leicht, Einheit durch Beitritt, in: Guggenberger/Stein, S. 186 (193). Gleichsinnig etwa Wolfgang Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit, in: Guggenberger/Stein, S. 283 (288) und Christian Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit, in: W D S t R L 49 (1990), S. 70 (92 f.). 46

Tomuschat, S. 75, 93.

47

Isensee, Staatseinheit, S. 56. Näher zum notwendigen Zusammenhang der drei Revolutionsziele ders., Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, Kritische Vierteljahresschrift fur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1990, S. 125 (126 f.) 48

Leicht, S. 191.

II. Die Wege-Debatte

29

Akklamation", die "fatale Assoziationen an die Akklamationsprozeduren der alten sozialistischen Systeme weckt". 49 (c) Zweckmäßigerweise lasse der Beitritt der DDR die rechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland nach innen wie nach außen unberührt. Ihre Rechte und Pflichten bestünden unverändert fort. Ihre Verfassung bleibe dieselbe, ungeachtet etwaiger Revisionen des Textes, die aus Anlaß des Beitritts erfolgen könnten. Dabei hindere die Rechtssubjektsidentität nicht den Wandel der realen Gestalt der Bundesrepublik, ihrer Wählerstruktur, ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie des politischen Gesamtklimas infolge der Ausweitung des Gebietes und der Bevölkerung. 50 Schon aus diesem Grunde könne von einem "Anschluß" der DDR nicht die Rede sein, sofern damit eine Parallele zur Überwältigung Österreichs im Jahre 1938 nahegelegt werde. 51 Außerdem sei die Entscheidung über den Beitritt allein Sache der DDR. Sie allein bestimme auch, ob der Beitritt von der Volkskammer erklärt werde oder ob ein eigener Volksentscheid stattfinde und ob diese Grundentscheidung die einfache oder eine qualifizierte Mehrheit erfordere. 52 Allerdings begründe Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG im Unterschied zu Art. 146 (a.F.) GG einen Anspruch der DDR, in den bundesdeutschen Staatsverband aufgenommen zu werden. Deshalb bedeute die Erklärung des Beitritts eine doppelte Zustimmung: zur Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und zu ihrer Verfassung. 53 Diese Positionsbestimmung verdeutlicht den Dissens - wenn nicht schon den verfassungstheoretischen, so jedenfalls den verfassungspolitischen Dissens -, der die Artikel-Debatte speiste. Was die eine Seite, die deshalb fur den Weg des Art. 146 (a.F.) GG plädierte, zu schaffen für erforderlich hielt, erachtete die andere Seite, die deshalb den Weg des Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG befürwortete, als mit dem Grundgesetz bereits vorhanden: die Verfassung für Gesamtdeutschland. Entsprechend beurteilen jene, die die Eignung des Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung aus dessen vierzigjähriger Anerkennung und Bewährung in der Bundesrepublik sowie aus den Zielen des Umbruchs in der DDR ableiten, eine Verfassungsdiskussion als überflüssig, ja als gefahrlich. 49

Isensee, Staatseinheit, S. 58.

50

Isensee, Streit, S. 273.

51

Ebenso etwa Tomuschat, S. 79.

52

Isensee, Streit, S. 275 f.

53

Isensee, Staatseinheit, S. 50 f.

30

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

Mit dem Beitritt vervollständige die Bundesrepublik, "in der sich Deutschland - als das Zeitkontinuum der Staatlichkeit seit 1871 - inkarniert hat", ihre Personal- und Gebietshoheit.54 Der Staat verliere seine Vorläufigkeit. Das Ende staatlicher Vorläufigkeit entkleide auch das Grundgesetz seines provisorischen Charakters. 55 Von nun an sei es Verfassung mit dem Anspruch auf Dauer. Einer zusätzlichen gesamtdeutschen Legitimation bedürfe es hierfür nicht. Der westdeutsche Verfassunggeber habe bei der Schaffung des Grundgesetzes laut Präambel (a.F.) "auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war". Und mit dem Beitritt bestätigten jene Deutschen die Intention des Treuhänders. 56 "Das Ende der Übergangszeit" erfordert, so gesehen, keine "Erinnerung an die verfassunggebende Gewalt". 57 Es markiert vielmehr den Beginn der Dauerhaftigkeit des Grundgesetzes. Fehlt es aber an der Notwendigkeit, das Grundgesetz durch eine neue Verfassung abzulösen, erscheinen die Chancen eines konstitutionellen Neubeginns als vermeidbare Risiken. Ein Neuanfang koste nicht nur die gesamte interpretatorische Entfaltung des Grundgesetzes durch eine Verfassungsrechtsprechung aus vier Jahrzehnten, und dies selbst dann, liefe das Verfahren am Ende darauf hinaus, das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung zu küren, oder wäre die neue Verfassung dem Grundgesetz textgleich. 58 Vor allem gefährde er den Konsens, den die geschriebene und praktizierte Verfassung erreicht habe: "Bei einer gesamtdeutschen Erneuerung der Verfassungsgrundlage könnten fundamentale Wertkonflikte in der Gesellschaft aufbrechen, unbegrenzte Hoffhungen wie unbegrenzte Ängste, wenn die bisher verfassungsrechtlich gesicherten Belange der Bürger und der Gruppen zur Disposition gestellt werden und alle bisher zurückgestauten verfassungspolitischen Forderungen freigesetzt werden". 59 Die Risiken wirken um so untragbarer, je geringer der zu erwartende Gewinn veranschlagt wird. Dieser erscheint den Gegnern einer Neukonstituierung aber kaum nennenswert. Da inhaltliche Visionen für eine gesamtdeutsche Verfas54

Isensee, Streit, S. 273.

55

Isensee, Streit, S. 280.

56

Isensee, Streit, S. 270 f.

57

So der Titel des Beitrages von Storost.

58

Isensee, Staatseinheit, S. 48 f. Gleichsinnig Leicht, S. 192 und Dietrich Rauschning, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, DVB1 1990, S. 393 (399). 59

Isensee, Streit, S. 281 f.

II. Die Wege-Debatte

31

sungsalternative zum Grundgesetz fehlten, bleibe als Argument für den Weg des Art. 146 (a.F.) GG nur das verfahrenspolitische, daß in der Demokratie das Verfahren der Verfassunggebung ein Wert an sich sei und, selbst wenn am Ende das Grundgesetz in seiner bisherigen Verfassung bestätigt werden sollte, immerhin ein Integrationseffekt erreicht werden könnte. Nur, ohne sachliche Verfassungsalternativen gerate ein solches Verfahren eben zum "leeren Ritual, das nur unentwegte demokratische Aktionisten zu faszinieren vermag". 60 Überdies sei zu bedenken, daß der Schaffung des Grundgesetzes "die tiefste Schuld und Schmach vorausgegangen (war), in die deutsche Politik jemals geführt hatte". Das Grundgesetz habe sich zu seiner verfassungspolitischen wie verfassungsgeschichtlichen Höhe entwickelt, "weil die Frauen und Männer des Parlamentarischen Rates wußten, aus welcher Tiefe sie ihre Arbeit anzutreten hatten." Niemand könne aber voraussehen, ob ein neuerlicher Versuch der Verfassungsgebung "das gleiche hohe Bewußtsein und die gleichen einzigartigen Garantien nochmals hervorzubringen vermöchte". 61 Festzustellen sei indessen eine bei Politikern, Verbandsfunktionären und Staatsrechtslehrern neuerdings verbreitete "Gönnergeste, ihre immer schon gehegten verfassungspolitischen Wünsche (nach plebiszitären Verfahren, nach Staatszielbestimmungen, Aussperrungsverbot und Abtreibungsfreigabe, sozialen und kulturellen Rechten) nunmehr als Geschenkpakete für die Deutschen der DDR auszukleiden, Lohn für ihre gelungene friedliche Revolution". 62 Zur Belohnung eigneten sich Verfassungstexte jedoch nicht.

3. Die Wahl vom 18. März 1990 Die skizzierte Diskussion über den "richtigen" Weg zur Einheit näherte sich eben ihrem Höhepunkt, als am 18. März 1990 die ursprünglich für den 6. Mai geplante erste freie Wahl zur Volkskammer der DDR stattfand. Das Ergebnis dieser Wahl, von vielen als Überraschung empfunden, stellte die politischen Weichen ziemlich eindeutig in Richtung Beitritt der DDR. Die Vereinigungsdebatte war damit entschärft, die Verfassungsdebatte aber hielt an.

60

Isensee, Verfassungsrechtliche Wege, S. 147.

61

Leicht, S. 191.

62

Isensee, Staatseinheit, S. 57.

32

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

In Richtung Beitritt wies einmal das gute Abschneiden der Allianz für Deutschland. Das Wahlbündnis, bestehend aus der CDU-Ost, der Deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA), das sich hinsichtlich der Frage der Einheit dafür ausgesprochen hatte, diese "so schnell wie möglich" auf der Grundlage des Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG zu verwirklichen, erhielt bei einer Wahlbeteiligung von 93,2 Prozent mit 48,1 Prozent die deutliche Mehrheit der Wählerstimmen (192 Mandate). Demgegenüber erreichte die SPD-Ost, die den "behutsameren" Weg des Art. 146 (a.F.) GG favorisierte, lediglich 21,8 Prozent (88 Mandate). Zum anderen wies in Richtung Beitritt das schlechte Abschneiden des Bündnis 90, in dem sich das Neue Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte zusammengeschlossen hatten. Diese drei Gruppierungen der Oppositionsbewegung vom Herbst 1989 gehörten zu den (Mit-) Initiatoren des Zentralen Runden Tisches der DDR und fühlten sich bis zu dessen letzter Sitzung am 12. März 1990 seinem anfanglich festgelegten Selbstverständnis verpflichtet, zusammenzukommen "aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung". 6* Entsprechend war eines der wichtigsten Ziele des Runden Tisches, bestimmt ebenfalls bereits in seiner ersten Sitzung am 7. Dezember 1989, den Entwurf einer neuen Verfassung der DDR zu erarbeiten. 64 Diese neue Verfassung sollte im Verhältnis zum Grundgesetz "neue Maßstäbe" setzen:65 Modernisierung des Katalogs der Menschen- und Grundrechte sowie dessen Erweiterung um Fragen des Umweltschutzes, der sozialen und der Geschlechteremanzipation, der Rechte von Ausländern und Minderheiten; Festschreibung von einklagbaren sozialen Grundrechten wie der Rechte auf Arbeit, Wohnung und Bildung; Friedensstaatlichkeit als Verfassungsprinzip anstelle von Wehrpflicht oder positivem Verteidigungsauftrag; ein bedingtes Aussperrungsverbot; breiter Raum für Mitgestaltungsrechte der Bürger und Festschreibung der besonderen Rolle und der verfassungsmäßigen Rechte von Bürgerbewegungen sowie der Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid. 63 Zitiert nach Uwe Thaysen, Der Runde Tisch, 1990, S. 50 (Hervorhebung nicht im Original). 64 65

Thaysen, S. 52.

Das berichtet ein Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte aus der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" des Runden Tisches: Wolf gang Templin, Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, in: Guggenberger/Stein, S. 350 (354). Ausführlicher zu dem Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe des Runden Tisches unten § 8 II. 1.

II. Die Wege-Debatte

33

A u c h bei dieser Arbeit sprachen sich die genannten drei Gruppierungen besonders nachhaltig für die Wahrung neuer und alter DDR-Identitäten aus. 66 Sie erhielten 2,9 Prozent der Wählerstimmen (12 Mandate). 6 7

4. Ablösung des Grundgesetzes trotz Beitritt?

War die Einschätzung des Wahlergebnisses als Mehrheitsvotum für den Beitritt der D D R nach A r t . 23 Satz 2 (a.F.) G G kaum umstritten, stieß die daraus abgeleitete Deutung des Wahlganges als "indirektes Verfassungsplebiszit" 6 8 für das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung auf heftigen Widerspruch. 6 9 Es verstärkten sich jene Stimmen, die A r t . 23 Satz 2 (a.F.) und Art. 146 (a.F.) G G nicht i n einem Verhältnis des Entweder/Oder sahen, sondern i n einem Verhältnis des S o w o h l - A l s - A u c h : 7 0 Beitritt und - trotzdem - Ablösung

66

Siehe nur Thaysen, S. 148 f., 196 f.

67

Daneben erhielten: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 16,3 Prozent (66 Mandate); Bund Freier Demokraten 5,3 Prozent (21 Mandate); Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) 2,2 Prozent (9 Mandate); Grüne und Unabhängiger Frauenverband 2,0 Prozent (8 Mandate) und sonstige Parteien 1,4 Prozent; Siehe Thaysen, S. 192, 214 f. und die Chronik von Hoffmann, in: Jesse/Mitter, S. 438. - Zu den politischen Folgen der Wahl unten § 2 I. 68

Isensee, Staatseinheit, S. 51, dort allerdings bezogen auf den Vollzug des Beitritts. Tomuschat, S. 93, betrachtet die Wahlentscheidung der Bürger der DDR vom 18.3.1990 "als ein massives Votum für das Grundgesetz". Im Ergebnis ebenso Hermann Huba, Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung, Der Staat 30 (1991), S. 367. 69

Etwa von Hans Meyer, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 49 (1990), S. 161 (162 f.) und Ulrich Storost, Legitimität durch Erfolg?, Der Staat 30 (1991), S. 537 (540). 70

Für die Kombination beider Wege insbesondere Peter Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, in: Guggenberger/Stein, S. 242 (245 f.); Grimm, Demokratie, S. 266 f.; Hohmann, S. 209 f.; Bernd Jeand'Heur, Weitergeltung des Grundgesetzes oder Verabschiedung einer neuen Verfassung in einem vereinigten Deutschland?, DÖV 1990, S. 873 (879); Mahrenholz, Das Volk, S. 222; Hans Meyer, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 49 (1990), S. 163. Darüber hinaus halten die Kombination jedenfalls für verfassungsrechtlich zulässig: Jochen Frowein, Diskussionsbeitrag, W D S t R L 49 (1990), S. 196; Eberhard Grabitz, Diskussionsbeitrag, ebda., S. 177 f.; Klaus Lange, Diskussionsbeitrag, ebda., S. 174 f.; Michael Sachs, Diskussionsbeitrag, ebda., S. 175 f.; Eckart Klein, A n der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands, NJW 1990, S. 1065 (1070); Rauschning, S. 401. 3 Huba

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

34

des Grundgesetzes. Die prozedurale Frage nach der Herstellung der staatlichen Einheit könne und müsse unterschieden werden von der materialen Frage nach der Ordnung des geeinten Staates.71 Als endgültige Ordnung des vereinten Deutschland - als Verfassung - eigne sich das Grundgesetz aber nicht. Einmal leide es aus demokratischer Sicht an Geburtsfehlern. Zum anderen fehle es ihm inhaltlich an Zukunftstauglichkeit.

a) Geburtsfehler und Zukunftsuntauglichkeit Der erste, gewissermaßen der äußere Geburtsfehler des Grundgesetzes soll darin bestehen, daß die drei westlichen Besatzungsmächte bei seiner Schaffung einen nicht unerheblichen Einfluß ausgeübt haben und es besatzungsrechtlicher Genehmigung bedurfte. Als wirklich freie - souveräne - Entscheidung des Volkes über seinen politischen Lebensstil könne das Grundgesetz daher nicht gelten. Sein zweiter, sein innerer Mangel, liege darin, daß es ohne die für eine demokratische Verfassungsgebung unerläßliche Beteiligung des Volkes zustande gekommen sei. Der Parlamentarische Rat sei eben nicht vom Volk zum Zwecke einer Verfassungsgebung gewählt worden. Seine Mitglieder seien vielmehr von den Landtagen delegiert worden, und zwar von Landtagen, die ihrerseits gewählt waren, ohne daß bei ihrer Wahl von einer Verfassungsgebung die Rede gewesen sei. Die Bereinigung dieser beiden demokratischen Makel zu ermöglichen, sei denn auch das vorrangige Ziel des Art. 146 (a.F.) GG. Erst in letzter Linie sei die Schlußbestimmung (a.F.) des Grundgesetzes daneben das, wofür die Vertreter einer reinen Beitrittslösung sie ausschließlich hielten: ein Wiedervereinigungs-Artikel. Ist Art. 146 (a.F.) GG aber nur auch Instrument der Wiedervereinigung, kann er mit der Wiedervereinigung über Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG nicht "verbraucht" sein. Sein angeblich hauptsächlicher Zweck: die Ablösung des vorläufigen Grundgesetzes durch eine dauerhafte Verfassung harrt noch der Erfüllung. 72

71

So der Tenor des Beitrages von Grimm, Neukonstitution, insbes. S. 119 und S. 129. 72

Repräsentativ für diese Argumentation der Diskussionsbeitrag von Hans Meyer, W D S t R L 49 (1990), S. 163 f. Gleichsinnig Bernhard Schlink, Deutsch - deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahre 1990, Der Staat 30 (1991), S. 163 ff.; hier zitiert

II. Die Wege-Debatte

35

Enthält Art. 146 (a.F.) GG dieser Auffassung zufolge auch nach dem Beitritt der DDR gemäß Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG noch den Auftrag zur Verfassungsgebung, soll das geltende Grundgesetz darüber hinaus aus inhaltlichen Gründen nicht zur dauerhaften gesamtdeutschen Verfassung taugen. Problematisch sei vor allem seine Zukunftseignung, "sein Vermögen, existentielle Fragen auch für künftige Generationen zu regeln und sich gegenüber Problemen zu öffnen, die uns das dritte Jahrtausend stellen wird". 73 Im Jahre 1949 habe noch niemand ahnen können, welche große Bedeutung der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen einmal für den Fortbestand der gesamten Menschheit zukommen werde. Die Gefahren der Kernenergie, der Gentechnologie und der Informatik seien unbekannt gewesen. A n Themen wie Frieden und Abrüstung sei damals zu Beginn des Kalten Krieges kaum jemand ernsthaft interessiert gewesen. Statt dessen habe man aus Angst vor zu viel Demokratie aufgrund angeblich schlechter Erfahrungen in der Weimarer Republik dem Volk außerhalb von Wahlen jede unmittelbare Teilhabe an der Staatsgewalt verwehrt. 74

b) Die Verbesserungsvorschläge Die hinsichtlich seiner Eignung für die Zukunft geäußerten Zweifel münden indessen nicht in eine unbedingte Ablehnung des Grundgesetzes. Der Sache nach wird die dauerhafte Verfassung, die das Grundgesetz ablösen soll, vielmehr verstanden als dessen Ergänzung bzw. Fortschreibung, als dessen Verbes-

nach dem (gekürzten) Wiederabdruck in: Guggenberger/Stein, S. 19 (31 f.), unter Hinweis auf den genetischen Befund. Carlo Schmid , Vorsitzender des Hauptausschusses, formulierte in seinem Bericht anläßlich der zweiten Lesung des Entwurfs des Grundgesetzes in der neunten Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6.5.1949: "Das Anwendungsgebiet des Grundgesetzes ist nicht 'geschlossen'. Jeder Teil Deutschlands kann ihm beitreten. Aber auch der Beitritt aller deutschen Gebiete wird dieses Grundgesetz nicht zu einer gesamtdeutschen Verfassung machen können. Diese wird es erst dann geben, wenn das deutsche Volk die Inhalte und Formen seines politischen Lebens in freier Entschließung bestimmt haben wird." (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, S. 172). 73

Hans-Peter Schneider in: Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. (Hrsg.), Verfassung mit Volksentscheid, 1991, S. 26 (29). 74

So Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 29.

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

36

serung. 75 Faßt man die zentralen Verbesserungsvorschläge zusammen, soll die neue Verfassung im Vergleich zum (1989) geltenden Grundgesetz demokratischer, sozialer und ökologischer sein. Gefordert werden nämlich vor allem: -

die verfassungsrechtliche Verankerung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen (als Staatsziel);76

-

Präzisierungen der Sozialstaatsklausel,77 eine "Sozialcharta" 78 oder effektive Garantien sozialer Rechte in Form der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, für Vollbeschäftigung, ausreichenden Wohnraum und gleiche Bildungschancen zu sorgen (als Staatszielbestimmungen), gestützt durch einklagbare Substitutsansprüche auf Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsförderung, auf Wohngeld und Wohnraumvorsorge sowie auf Hilfsmaßnahmen und finanzielle Unterstützung im Bildungswesen79 und

-

eine Stärkung und Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch Formen unmittelbarer Beteiligung des Volkes an der staatlichen Willensbildung (etwa Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksbefragungen). 80

Darüber hinaus reichen die Forderungen von der Verstärkung des Persönlichkeits-, Lebens- und Gesundheitsschutzes gegenüber den Gefahren moderner (Kern-, Gen- und Informations-)Technologien, dem unbedingten Verbot der Herstellung, Aufstellung und Anwendung von Massenvernichtungswaffen 81 über wirksame Regelungen zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen in allen 75

Häberle, Verfassungspolitik, S. 246, spricht von einer das Grundgesetz ergänzenden bzw. fortschreibenden gesamtdeutschen Verfassung. Nur im Akzent anders HansPeter Schneider in: Kuratorium, S. 29 (31): "Erneuerung und Modernisierung" des Grundgesetzes. 76

Grimm, Demokratie, S. 267; Häberle, Verfassungspolitik, S. 253 f.; Hohmann, S. 211; Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 30; Simon, Markierungen, S. 151. 77

Grimm, Demokratie, S. 268.

78

Häberle, Verfassungspolitik, S. 251.

79

Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 30 sowie ders., Die Zukunft des Grundgesetzes, in: Guggenberger/ Stein , S. 130 (135); Simon, Markierungen, S. 151; Hohmann, S. 211. 80

Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 30; Simon, Markierungen, S. 151; Hohmann, S. 211; Grimm, Demokratie, S. 267: Volksbegehren; Häberle, Verfassungspolitik, S. 249: Volksbegehren und Volksentscheid. 81

Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 31; Simon, Markierungen, S. 151.

II. Die Wege-Debatte

37

gesellschaftlichen Lebensbereichen sowie zum Schutz der Rechte von Kindern, 82 einem Bekenntnis zur staatlichen Kulturpflege 83 bis hin zur Kräftigung der bundesstaatlichen Struktur 84 und einem ausdrücklichen Recht des Parlaments auf Selbstauflösung 85 - um nur die häufiger erhobenen zu nennen.86 Prüft man diesen Katalog, bestätigt sich die Feststellung,87 daß die enthaltenen Forderungen nicht neu und insofern nicht sachlich bedingt sind durch die Wiedervereinigung. Die Gefahren neuer Technologien und die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter stehen ebenso seit Jahren auf der Tagesordnung der verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Diskussion wie der Schutz der Umwelt und (soziale) Grundrechte auf Arbeit, auf Bildung oder auf eine angemessene Wohnung. "Arbeit" und "Umweltschutz" etwa waren bereits zentrale Themen der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen/ Gesetzgebungsaufträge, die von den Bundesministern des Innern und der Justiz 1981 eingesetzt wurde und zwei Jahre später ihren Bericht vorlegte. 88 Dieselbe Kommission diskutierte auch schon die Frage der Aufnahme einer Kulturstaatsklausel bzw. einer staatlichen Verpflichtung zum Schutz und zur Pflege der Kultur in das Grundgesetz. Gleiches gilt für die Reformbedürftigkeit der bundesstaatlichen Ordnung und die Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte 82

Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 30; Simon, Markierungen, S. 151.

83

Häberle, Verfassungspolitik, S. 252 f.; Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 30 f. 84

Grimm, Demokratie, S. 267 f.; Hohmann, S. 212; Simon, Markierungen, S. 151.

85

Simon, Markierungen, S. 151.

86

Weitere Forderungen sind: Die Änderung des Art. 29 GG, der gegenwärtig noch als Neugliederungs-Verhinderungsnorm wirke; die grundlegende Neuordnung des Verhältnisses von Parlament und Regierung mit dem Ziel, die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung auszubauen sowie die parlamentarische Opposition als Alternative zur Regierung mit eigenen Befugnissen zu versehen; die Festlegung des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland nicht als Nationalstaat klassischer Prägung, sondern als "Transitorium", das gemeinsam mit den anderen Staaten Ost- und Westeuropas in einen europäischen Bundesstaat überzugehen gewillt ist; die Hervorhebung unserer Mitverantwortung für das Elend der Dritten Welt (in der Präambel); die Klärung, wie wir künftig mit Minderheiten in unserer Gesellschaft umgehen wollen; so Hans-Peter Schneider, Zukunft, S. 134, 136 f. 87 88

Oben 2. am Ende.

Der Bundesminister des Innern/Der Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, S. 67 ff. (Arbeit); S. 84 ff. (Umweltschutz).

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

38

der Bürger, insbesondere durch Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide. Beides war ebenso Gegenstand der Beratungen und Empfehlungen der Enquête-Kommission Verfassungsreform, die der Bundestag bereits Anfang 1973 eingesetzt hatte wie ein Recht des Parlaments, die Legislaturperiode vorzeitig zu beenden.89 Daß zwischen ihren Forderungen und der Wiedervereinigung kein sachliches Bedingungsverhältnis besteht, räumen die Anspruchsteller denn auch ein. So sehen sie den Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten lediglich als "würdigen Anlaß", 90 als "Gelegenheit",91 den aus ihrer Sicht bestehenden Mangel an Zukunftseignung der Verfassung zu beheben. Die sachliche Entkopplung und nur zeitliche Verbindung von Wiedervereinigung und Modernisierung der Verfassung warf freilich zwei zusammenhängende Fragen auf. Vorrangig die Frage, ob Art. 146 (a.F.) GG neben und unabhängig von der Ermöglichung der Verfassungseinheit tatsächlich auch den Zweck verfolgt, den Weg zu öffiien fur eine (legale) Ablösung des (angeblich vorläufigen) Grundgesetzes durch eine dauerhafte Verfassung. Denn Anlaß und Gelegenheit zur Modernisierung durch Verfassungsgebung bieten sich nur dann, wenn eine Verfassungsgebung nach vorangegangenem Beitritt wegen Art. 146 (a.F.) GG noch zulässig ist. Daneben drängte sich die Frage auf, weshalb man die Modernisierung auf dem Weg des Art. 146 (a.F.) GG, also durch Verfassungsgebung betreiben solle, obwohl die erhobenen Forderungen - jedenfalls ihrem Inhalt nach - doch auch im Rahmen einer verfassungsimmanenten Fortentwicklung des Grundgesetzes zu realisieren seien.

c) Keine Alternative A u f Widerspruch stieß zunächst die Sicht des Art. 146 (a.F.) GG nicht lediglich als Instrument der Wiedervereinigung. Die zur Begründung dieser Position 89

Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform. Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Reihe "Zur Sache" Heft 3/1976 (Teil I: Parlament und Regierung), S. 45 ff. (Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger), S. 105 ff. (Recht des Parlaments zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode) und "Zur Sache" Heft 2/1977 (Teil II: Bund und Länder), S. 45 ff. 90

Simon, Markierungen, S. 150.

91

Grimm, Demokratie, S. 267.

II. Die Wege-Debatte

39

vorgetragenen historischen Argumente wurden zurückgewiesen. 92 Daß es bei Schaffung des Grundgesetzes an (äußerer) Verfassungssouveränität gefehlt hat, 93 wird zwar zugestanden. Der Mangel erscheint aber als nur formaler. Die verfassungspolitischen Leitvorstellungen der Alliierten, wie sie im Londoner SchluBkommuniqué und im ersten der Frankfurter Dokumente von 194894 niedergelegt worden seien, hätten sich mit denen der Deutschen getroffen. Reibungen und Konflikte seien ausschließlich in Einzelfragen (etwa in der Finanzverfassung) aufgetreten, nicht aber hinsichtlich der Grundstrukturen. In ähnlicher Weise begegnet man der Behauptung, das Grundgesetz leide an einem "inneren" Geburtsfehler. Gegenüber der Tatsache, daß die Mitglieder des Parlamentarischen Rates lediglich von den Volksvertretungen der Länder entsandt worden seien und die Landtage zur Entscheidung über die Annahme des Grundgesetzes kein Wählermandat besessen hätten, falle ins Gewicht, daß die Landtage zu jener Zeit des erst halbfertigen Aufbaus deutscher Staatlichkeit die höchsten Repräsentationsorgane gewesen seien. Bestritten wird sodann die angebliche Deutlichkeit des genetischen Befundes, der ebenfalls belegen soll, daß Art. 146 (a.F.) GG vornehmlich den Zweck verfolgt, die Ablösung des Provisoriums "Grundgesetz" durch eine Verfassung zu ermöglichen. 95 In Wahrheit böten die Materialien der Grundgesetzberatungen ein widersprüchliches, diffuses Bild. Der anfangliche Plan, nur ein Verfassungsprovisorium, einen "Notbau" zu errichten, sei im Laufe der Arbeit immer stärker zurückgedrängt worden durch den Willen, eine vollwertige, endgültige Verfassung zu schaffen. Auch die Ablehnung der Ratifikation des Grundgesetzes durch das Volk gründe nicht darin, dem "Provisorium" ein Pathos vorzuenthalten, das ihm nicht gebühre. Sie entspreche der prinzipiellen antiplebiszitären Linie, der der Verfassungsgeber erkennbar gefolgt sei. Außerdem sei Art. 146 (a.F.) GG keineswegs auf einen Volksentscheid festgelegt worden. Die Rede gewesen sei vornehmlich von einer gesamtdeutschen Nationalversammlung. Im übrigen dürften Äußerungen einzelner Mitglieder des Parlamentarischen Rates 92

Repräsentativ die hier nachgezeichnete Argumentation von Josef Isensee, Das Grundgesetz zwischen Endgültigkeitsanspruch und Ablösungsklausel, in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 11991, S. 63 (76-81). 93 Oben a). Siehe auch Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz (1949), in: ders., Ober das Grundgesetz, 1988, S. 20: cuius occupatio eius constitutio. 94 95

Abgedruckt in JöRNF Bd. 1 (1951), S. 1 ff.

Kernstück dieses Befundes ist regelmäßig die oben in FN 72 wiedergegebene Äußerung Carlo Schmids.

40

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

heute nicht zur authentischen Selbstinterpretation des Verfassungsgebers hochstilisiert werden. Entscheidend für die Interpretation auch der Schlußbestimmung (a.F.) des Grundgesetzes sei ohnedies nicht der subjektive Wille des Verfassungsgebers, sondern das objektive Ergebnis der Entstehungsgeschichte, das Grundgesetz selbst. Dieses aber habe sich die tatsächliche Zustimmung der Deutschen in seinem Geltungsbereich schon früh erworben. Und nicht zuletzt durch die Wahlentscheidungen für die verfassungstragenden Parteien sei diese Zustimmung immer wieder bestätigt worden. Im indirekten Verfassungsplebiszit de tous les jours sei das Grundgesetz nachhaltiger und tiefer akzeptiert worden als jemals zuvor eine Verfassung der deutschen Geschichte. Könne daher schwerlich von einem Provisorium gesprochen werden, sei das Grundgesetz vorläufig ausschließlich für den Fall, daß die Wiedervereinigung anders denn auf dem Weg des Art. 146 (a.F.) GG nicht zu vollziehen sein sollte. Werde sie auf dem Weg des Art. 23 (a.F.) GG erreicht, gelte das Grundgesetz endgültig. Für eine kumulative Anwendung sowohl des Art. 23 Satz 2 (a.F.) als auch des Art. 146 (a.F.) GG besteht nach dieser Auffassung also weder Raum noch Bedürfnis. 96 Das Bedürfiiis, das Grundgesetz abzulösen, erscheint darüber hinaus um so weniger anerkennenswert, als die erhobenen Forderungen zur Modernisierung der Verfassung inhaltlich gar keine neue Verfassungsgebung erfordern. Das räumen die Verfechter einer sequentiellen Anwendung der Artt. 23 Satz 2 und 146 (a.F.) GG selbst ein und bestätigen damit indirekt die Einschätzung ihrer Gegner, eine inhaltliche Alternative zum Grundgesetz sei nicht erkennbar. 97 Ihre Option für die Anwendung der Schlußbestimmung (a.F.) bedeute nicht eine Entscheidung gegen die Grundprinzipien des Grundgesetzes.98 Die neue gesamtdeutsche Verfassung dürfe "in ihrem freiheitlichen, demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Gehalt nicht hinter das Grundgesetz zurückfallen". 99 96

Ebenso etwa Peter Lerche, Beitritt der DDR und dazu ein Volksentscheid?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.4.1990, S. 10; Tomuschat, S. 87; Christoph Degenhart, Verfassungsfragen der deutschen Einheit, DVB1 1990, S. 973 (976); Hermann Huba, Zwei Wege zur Einheit und die Endgültigkeit des Grundgesetzes, VB1BW 1990, S. 288 (293). 97

Etwa Isensee, Grundgesetz, S. 77.

98

Grimm, Neukonstitution, S. 119, 121. Häberle, Verfassungspolitik, S. 246; Hohmann, S. 211. 99

Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 31 und ders., Zukunft, S. 137.

III. Gründungssituation oder Normallage? - Zwischenbilanz

41

Soll aber der in Art. 79 Abs. 3 festgelegte Identitätskern des Grundgesetzes 100 offenbar unangetastet bleiben, weshalb streitet man dann gegen den Weg des Beitritts gemäß Art. 23 Satz 2 (a.F.) in Verbindung mit entsprechenden Grundgesetzänderungen im Rahmen des Art. 79 GG? Worin, wenn nicht im inhaltlichen Ergebnis, im Verfassungsrecht, wurzelt die Unterlegenheit eines nach dem Beitritt verfassungsimmanent fortentwickelten Grundgesetzes gegenüber einer ablösenden neuen Verfassung? Die Fragen zielen nicht darauf, die Begründungslast vorab zugunsten einer reinen Beitrittslösung zu verteilen. Sie behaupten nicht, Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG weise den "normalen" Weg zur Wiedervereinigung, während der des Art. 146 (a.F.) GG als "Umweg" besonderer Rechtfertigung bedürfe. Gefragt ist vielmehr zusammenfassend nach der Grunddifferenz, die die Debatte über die beiden Wege zur Verfassungseinheit - Artt. 23 Satz 2 (a.F.)/79 GG einerseits, Artt. 23 Satz 2 (a.F.)/146 (a.F.) GG andererseits - nährte.

I I I . Gründungssituation oder Normallage? - Zwischenbilanz Im Unterschied zu den Befürwortern der reinen Beitrittslösung sehen die Anhänger einer Lösung nach Art. 146 (a.F.) GG die die Einheit anstrebende Gesellschaft nach wie vor dem Beitritt nicht in kontinuierender Normallage ("Erweiterung der Bundesrepublik"), sondern in einer "Gründungssituation", 101 in einer Situation, die nach Neubeginn verlangt ("Wandel der Bundesrepublik"). 1 0 2 Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Neubeginns soll sich aus dreierlei ergeben:

100 Art. 79 Abs. 3 GG lautet: "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." 101

Diesen Begriff verwendet auch Grimm, Demokratie, S. 262.

102

Zu den Stichworten oben I.

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

42

1. Aus dem Ende der Übergangszeit Mit dem Ende der Übergangszeit gelange die Bundesrepublik in den Zustand der Unverfaßtheit, 103 weil sich die Legitimität des Provisoriums Grundgesetz erschöpfe. Zum besseren Verständnis der Diskussion empfiehlt es sich dabei, zwischen "konstitutiv-ordnender Legitimität" und "funktional-teleologischer Legitimität" des Grundgesetzes zu unterscheiden. 104 Die inhaltliche Legitimität der vom Grundgesetz konstituierten Ordnung, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, 105 wird von beiden Parteien nach wie vor anerkannt. Streitig ist allein das Verhältnis dieser inhaltlichen zu seiner funktional-teleologischen Legitimität, die sich aus der provisorischen Zwecksetzung des Grundgesetzes ergeben soll, aus seiner Vorläufigkeit. Die Annahme lediglich bedingter Vorläufigkeit - also nur fur den Fall, daß anders als auf dem Weg des Art. 146 (a.F.) GG die Verfassungseinheit nicht zu erreichen ist -, 1 0 6 gestattet eine inhaltliche Betrachtung, der sich das Grundgesetz als anerkannte und bewährte Verfassung zeigt und daher auch als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung empfiehlt. Die Annahme unbedingter Vorläufigkeit erfordert eine formale Betrachtung, bei der mit der deutschen Teilung zugleich jede Legitimität des Grundgesetzes entfallt. Die Annahme bedingter Vorläufigkeit argumentiert mit der Eignung und Geltung des Grundgesetzes. Die Annahme unbedingter Vorläufigkeit rekurriert auf seine Entstehung, diagnostiziert unheilbare demokratische Mängel und bewertet das Entstandene als inhaltlich zukunfisuntauglich.

103

Guggenberger/Stein,

Abschied, S. 82.

104

Die Begriffe stammen von Dietrich Murswiek, Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 24. 105

Hier verstanden als Inbegriff der in Art. 79 Abs. 3 GG der Verfassungsänderung entzogenen Grundsätze. Näher Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 12. Aufl. 1984, S. 564 f. 106

Isensee, Staatseinheit, S. 52: "Das Grundgesetz ist provisorisch unter der Bedingung, daß die Wiedervereinigung über Art. 146 (a.F.) GG, endgültig unter der Bedingung, daß sie über Art. 23 (a.F., HH) GG verläuft."

III. Gründungssituation oder Normallage? - Zwischenbilanz

43

2. Aus der Revolution in der DDR Der Bruch mit der sozialistischen Herrschaftsordnung mache eine "Selbstverständigung" der Bevölkerung der DDR über ihre künftige politische und soziale Ordnung unausweichlich.107 Streitig ist freilich nicht, daß es einer solchen Verfassungsentscheidung bedarf. Die Differenz liegt vielmehr in der Antwort auf die Frage, ob diese Entscheidung noch zu treffen oder bereits gefallen ist. Für die Vertreter der reinen Beitrittslösung liegt die Verfassungsentscheidung schon in dem Umbruch selbst, in den Zielen der Revolution, wird sie bestätigt durch den Ausgang der ersten freien Wahl zur Volkskammer sowie die Erklärung des Beitritts, und lautet zugunsten der Ordnung des Grundgesetzes. 108 Demgegenüber steht die Selbstverständigung nach Ansicht der Befürworter des Weges nach Art. 146 (a.F.) GG noch aus. Auch soweit sie die Einschätzung der Ziele des Umbruchs teilen, ihn also nicht lediglich in dem Verlangen nach wirtschaftlichem Wohlstand begründet sehen,109 liegt für sie in dem Umbruch selbst keine Entscheidung, die ihren Ansprüchen an die Form einer Verfassungsentscheidung genügt. 110 Gleiches gilt für die Wahl vom 18. März 1990, und zwar nicht nur deshalb, weil die konkrete Ausgestaltung der künftigen Ordnung im Wahlkampf angeblich keine Rolle gespielt hat, sondern auch, weil die Verfassungsentscheidung nicht informell getroffen werden kann. Die Grundentscheidung über die politische Existenz eines Volkes und die Grundlagen seiner Gesellschaftsordnung müsse gerade wegen der Bestimmtheit und Verbindlichkeit, ohne die sie ihre rechtliche Wirkung nicht zu entfalten vermag, "formell getroffen werden". 111 Entsprechend bewirkt auch der Beitritt und die Inkraftsetzung des Grundgesetzes nicht die erforderliche Neukonstituierung. Ohne formellen, ausdrücklichen Übernahmebeschluß soll das Grundgesetz für die Bevölkerung der (ehemaligen) DDR ein "Fremdprodukt" 112 bleiben.

107

Grimm, Demokratie, S. 265.

108

Oben II. 2., 3.

109

So offenbar Storost, Legitimität, S. 540. Man denke auch an den Kommentar Otto Schilys zur Wahlentscheidung der DDR-Bevölkerung vom 18.3.1990: er hielt eine Banane in die Fernsehkameras. 110

So ausdrücklich Grimm, Demokratie, S. 264.

111

Grimm, Demokratie, S. 266.

112

Grimm, Demokratie, S. 265.

44

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

Ein ausdrücklicher Akt der Konstituierung ist aber offenbar nur die eine Seite der Formalität, der eine Verfassungsentscheidung unterworfen sein soll. Die zweite zeigt sich in dem Begriff der "Selbstverständigung". Einen Versuch zur Selbstverständigung soll es in der DDR nämlich gegeben haben: die Verfassungsdiskussion und den Verfassungsentwurf des Runden Tisches.113 Gilt dieser Fall als Beispiel, wird man schließen müssen, daß die Selbstverständigung eines Volkes über seine politische und soziale Grundordnung auch und vor allem in der Erarbeitung eines Verfassungstextes besteht. Die Selbstverständigung muß also gleichsam schriftlich erfolgen. 114

3. Aus der politischen Tiefenwirkung

der deutschen Einigung

Daneben soll die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Neubeginns aus der politischen Tiefenwirkung der deutschen Einigung folgen. Was nach dem Beitritt des Saarlandes 1957 115 möglich gewesen sei, daß nämlich die so erweiterte Bundesrepublik praktisch unverändert blieb, soll sich nach dem Beitritt von sechzehn Millionen (DDR-)Bürgern mit ganz anderen in vierzig Jahren ausgebildeten Lebenserfahrungen nicht wiederholen können. Deshalb sei die Erwartung nahezu vollständiger Identität des geeinten Deutschlands mit der bisherigen Bundesrepublik und ihrer (politischen) Kultur und Mentalität trügerisch und werde sich rasch als falsches Grundgefühl einer Scheinidentität erweisen. Das politische Selbstverständnis der Deutschen müsse aus Anlaß der Einheit unweigerlich "neue Akzente" erhalten. 116 Es trifft zwar nicht zu, daß die Vertreter der reinen Beitrittslösung genau dies bestreiten. 117 Eine grundlegende Differenz zwischen beiden Positionen scheint in diesem Zusammenhang gleichwohl auf. Für die Befürworter einer (zusätzlichen) Anwendung des Art. 146 (a.F.) GG rangiert eine Änderung des "politischen Selbstverständnisses" allemal auf der Verfassungs(text)ebene. Nicht so 113

Grimm, Demokratie, S. 265. Ebenso Hans-Peter Schneider in: Kuratorium, S. 29.

114

Den Eindruck: was nicht in der Verfassungsurkunde steht, ist (und war) nicht in der Welt, vermittelt auch Häberle, Verfassungspolitik, S. 245, 246 ff. 115

Näher Leicht, S. 195 ff.

116

Rainer Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 468 (474 f.). 117

So die Frontlinie bei Wahl, ebda. Siehe aber oben II. 2.

III. Gründungssituation oder Normallage? - Zwischenbilanz

45

für ihre Gegner. Jedenfalls dann nicht, wenn wie im Falle des Beitritts die Bundesrepublik erhalten bleibt und die DDR sich nicht als selbständiger Staat neu konstituiert. 118 Wenngleich auch sie sehen, daß das Gemeinwesen sich verändert, wenn die Deutschen der DDR hinzukommen, sollen deren Erfahrungen und Hoffnungen sich aber nicht verallgemeinern und in Verfassungssätze gießen lassen. Ebensowenig bedürfe es situationsbedingter Normprogramme und vorformulierter Staatsziele. Eine Verfassung sei lediglich "Rahmenordnung der Freiheit" und garantiere als solche, daß die hinzutretenden Deutschen sich künftig unmittelbar im gesellschaftlichen wie im politischen Leben artikulieren könnten. Die praktisch wichtigen Übergangsprobleme seien auf der Ebene des konkreten einfachen Rechts zu lösen, nicht auf der Ebene abstrakter Verfassungsprogrammatik. 1 1 9 Anders die Befürworter des Weges nach Art. 146 (a.F.) GG. In ihren Augen erfordert der Beitritt ein neues politisches Selbstverständnis der Deutschen und deshalb - "neue Verfassungsideen". 120 Eine Verfassung erschöpfe sich nämlich nicht in der Festlegung von Institutionen und inhaltlichen Prinzipien wie Rechtsstaat, Demokratie und Gewaltenteilung und ihrer Ausprägungen im einzelnen. Neben diesen "material-inhaltlichen" Teil soll nach der These von der "Doppelgestalt" und dem "Doppelinhalt der Verfassung" vielmehr ein "politischer Teil" treten, der Bestimmungen über das Selbstverständnis des konkreten Staates und des ihn tragenden Volkes enthält. 121 Ändert sich also das "politische Lebensgefühl" 122 der Bürger, muß die Verfassung, zumindest deren politischer Teil, neu geschrieben werden. Und daß der Beitritt eine solche Änderung bedingt, steht für diese Position außer Frage. Mit dem politischen Lebensgefühl der Bürger eines Staates verhalte es sich wie mit dem Lebensgefühl der Bewohner eines Hauses. Dieses hänge auch und gerade davon ab, ob das Haus als fertig gelte oder ob es ein Übergangsheim bzw. ein ergänzungsbedürftiges Gebäude sei, ob man sich in ihm auf Dauer oder nur provisorisch - auf eine Übergangszeit - einrichten könne. Wichtig sei

118

Auch Grimm, Demokratie, S. 262, räumt ein, daß insoweit keine "typische Gründungssituation" besteht. 119

Isensee, Staatseinheit, S. 56 f.

120

So besonders deutlich Wahl, Verfassungsfrage, S. 475.

121

Wahl, Verfassungsfrage, S. 471.

122

In Anlehnung an Wahl, ebda.

46

1. Teil: § 1 Die erste Phase: Die Wege-Debatte

auch, ob das Haus auf einem endgültig abgegrenzten Anwesen und Terrain stehe, ob die Beziehungen zu den Nachbarn geregelt und gut seien oder nicht. 123 Die Analogie zur Verfassungsfrage ist unübersehbar: Nach seiner Präambel (a.F.) wurde das Grundgesetz beschlossen, "um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben". Mit dem Beitritt kann (und muß) man sich auf Dauer einrichten und auf die Rückkehr zur Existenzform des Nationalstaates. Also muß die Verfassung "erneuert" werden, jedenfalls ihr politischer Teil. Die Unterscheidung der Verfassung in einen politischen und einen materialinhaltlichen Teil behauptet zunächst nur, daß Fragen des Selbstverständnisses eines Staates und seiner Bürger Verfassungsfragen sind. In welchem Verhältnis beide Verfassungsteile zueinander stehen, läßt sie offen. 124 Die argumentative Verwendung der Unterscheidung zeigt indessen rasch, daß die Bedeutung des politischen Teils die des anderen überwiegt. Wie sonst wäre einmal die - oben (1.) so gekennzeichnete - Annahme unbedingter Vorläufigkeit des Grundgesetzes zu rechtfertigen, jene Annahme also, nach der sich die Legitimität des Grundgesetzes mit dem Ende der Übergangszeit erschöpft, ungeachtet der inhaltlichen Legitimität seiner rechtlichen Regelungen. Zum anderen begründet nur die Voraussetzung überwiegender Bedeutung des politischen Teils die Hauptforderung der Befürworter einer (zusätzlichen) Anwendung des Art. 146 (a.F.) GG: ihre Forderung nach einem formalen Akt der Verfassungsgebung, vorbereitet in einer umfassenden Verfassungsdebatte, abgeschlossen durch eine Entscheidung des Volkes.

123 124

Wahl, ebda.

Wahl, Verfassungsfrage, S. 472, qualifiziert den politischen Teil lediglich als "einen essentiellen Teil der Verfassung". Grimm, Neukonstitution, S. 124, formuliert bei einer parallelen Unterscheidung: Die Verfassung sei mehr als ein bestimmtes rechtliches Regelwerk, sie sei "vor alledem auch" die Selbstbeschreibung und Zielbestimmung einer Gesellschaft.

§ 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG I. Die politische und rechtliche Entwicklung Die weitere Entwicklung des Prozesses der Wiedervereinigung hat die Erwartungen derer enttäuscht, die Deutschland infolge der Ereignisse um die Jahreswende 1989/1990 in einer Gründungssituation sahen, die die Neuschöpfung einer gemeinsamen Verfassung durch das Volk erfordern sollte. Der Prozeß verlief gleichsam unpathetisch. Er nahm den Weg über Art. 23 Satz 2 (a.F.) GG in Verbindung mit einzelnen Grundgesetzänderungen. Politisch wegweisend für diesen Verlauf war vor allem das Ergebnis der ersten freien Wahl zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990,1 das im Ausgang der Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990 eine weitgehende Bestätigung fand. 2 Die Volkskammerwahl führte zu einer großen Koalition (unter Führung des CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière), deren Ziel es laut Koalitionsvereinbarung vom 12. April 1990 unter anderem war, "die Einheit Deutschlands nach Verhandlungen mit der BRD auf der Grundlage des Art. 23 GG zügig und verantwortungsvoll für die gesamte DDR gleichzeitig zu verwirklichen (...)". 3 Diesem Ziel entsprechend lehnte es die Volkskammer in ihrer 3. Sitzung am 19. April 1990 ab, den Entwurf einer Verfassung der DDR der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches vom 4. April 19904 als Grundlage einer zu schaffenden neuen DDR-Verfassung anzusehen. Die

1

Oben § 1 II. 3.

2

Die CDU(-Ost) verliert im Landesdurchschnitt, bleibt aber mit 34,4 Prozent (Volkskammerwahl: 40,9) die mit Abstand stärkste Partei. Die SPD(-Ost) hält mit 21 Prozent ihr Ergebnis. Ebenso die PDS mit 14,6 Prozent. 3

Abgedruckt bei Ingo von Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, 1991, S. 163 ff. 4

Abgedruckt bei von Münch, S. 122 ff., einschließlich des Briefes der Arbeitsgruppe an die Abgeordneten der Volkskammer sowie einer Liste der Mitglieder der Arbeitsund Expertengruppe (S. 161 f.).

48

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

Mehrheit - anders das Bündnis 90, der Zusammenschluß der Bürgerbewegungen, und die Fraktion der (SED-)PDS - sah überhaupt keine Notwendigkeit für eine Verfassungsneuschöpfung. Und offenbar auch nicht für eine mit ihr verbundene Erweiterung der "Verhandlungsmasse für das in vielen Punkten anpassungsbedürftige Grundgesetz". 5 Als zweites politisches Signal zugunsten der "zügigeren", also der Beitrittslösung galt daneben die nahezu unverminderte Zahl von Übersiedlungen in die Bundesrepublik. 6 Den ersten Schritt "in Richtung auf die Herstellung der staatlichen Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes" (so seine Präambel) bildet der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafls- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990.7 Mit ihm übernimmt die DDR das währungs-, wirtschafts- und sozialpolitische System der Bundesrepublik. Die Deutsche Mark wird ab 1. Juli 1990 alleiniges gemeinsames Zahlungsmittel (Art. 1 Abs. 2 Satz 1). Als zweiter Schritt folgt am 3. August 1990 der Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages,8 die dann am 2. Dezember 1990 stattfindet. Vollzogen wird die staatliche Vereinigung sodann, nachdem die Volkskammer am 23. August den Beitritt der DDR mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 beschlossen hat,9 durch den Einigungsvertrag (EV), den "Vertrag

5

So Gerd Poppe (Bündnis 90), Süddeutsche Zeitung vom 20.4.1990, zitiert nach Steffen Kammradt, Die Verfassungsdiskussion: Motive, Ziele, Perspektiven, 1992, S. 40. 6 Die Chronik von Christa Hoffmann, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit, 1992, S. 421 ff., nennt für das Jahr 1989 die Zahl von 343854 (1988: 39832) (S. 437) und für die Zeit von Januar bis 3.10.1990 die Zahl von "rund 300000 Menschen" (S. 440). 7

BGBl. 1990 I I S. 537; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik BGBl. 1990 I I S. 518. Siehe auch Klaus Stern/Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 1 1990. 8

BGBl. 1990 I I S. 882; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik BGBl. 1990 I I S. 813. Siehe auch Stern/Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2 1990, S. 191 ff. 9

Mit 294 gegen 62 Stimmen bei 7 Enthaltungen. Die für erforderlich gehaltene Zweidrittelmehrheit von 267 Stimmen (bei 400 gesetzlichen Mitgliedern) war damit übertroffen. Die Gegenstimmen kamen von Abgeordneten des Bündnis 90 und der PDS. Siehe die Einführung von Klaus Stern, in: Stern/Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2, S. 21.

II. Der Einigungsvertrag

49

zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands" vom 31. August 1990.10

I I . Der Einigungsvertrag Nach diesem Vertrag werden die auf dem Gebiet der DDR wiederhergestellten Länder Länder der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 EV). Die DDR geht als Staat unter. 11 Mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 tritt das Grundgesetz in diesen Ländern sowie in dem Teil des Landes Berlin, in dem es bisher nicht galt, grundsätzlich in Kraft (Art. 3 EV). Gleiches gilt für das gesamte Bundesrecht (Art. 8 EV). Der Einigungsvertrag läßt das Grundgesetz freilich in zweifacher Hinsicht nicht unangetastet. Zum einen enthält er in Art. 4 "beitrittsbedingte" Änderungen des Grundgesetzes. Von zentraler Bedeutung für die Verfassungsdiskussion sind davon neben der Aufhebung des Art. 23 (a.F.) GG (durch Art. 4 Nr. 2 EV) vor allem die Neufassung der Präambel und die Neufassung des Art. 146 GG (durch Art. 4 Nr. 1 und Nr. 6 EV). Wegen dieser und drei weiterer 12 vereinbarter Verfassungsänderungen bedurfte das nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG (analog) erforderliche Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag den von Art. 79 Abs. 2 GG geforderten Zweidrittelmehrheiten, 13 die deutlich erreicht wurden.14

10

BGBl. 1990 I I S. 889; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik BGBl. 1990 I I S. 885. Siehe auch FN 8. 11

Näher Stern, in: Stern/Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2, S. 28.

12

Zu diesen Matthias Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991, S. 9 ff. 13

Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Verabschiedung von Verfassungsänderungen im Wege eines Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Herdegen, S. 5 f. mit weiteren Nachweisen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorgehensweise im konkreten Fall für zulässig erachtet, BVerfGE 82, S. 316 ff. 14

Im Bundestag am 20.9.1990 mit 440 gegen 47 Stimmen bei 3 Enthaltungen (BTProt. 11/ 226, S. 17896). Im Bundesrat am 21.9. durch Einstimmigkeit. Die Volkskammer nahm den Einigungsvertrag am 20.9 mit 299 gegen 80 Stimmen bei 1 Enthaltung an. 4 Huba

50

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG Zum anderen ist in Art. 5 EV von "künftigen Verfassungsänderungen" die

Rede. Die Regierungen empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, "sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen". Dabei nimmt der Vertrag ausdrücklich Bezug ("insbesondere") auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, auf eine Neugliederung des Raumes Berlin/Brandenburg, auf die "Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz" sowie auf die "Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung". Diese letzte (einfachgesetzliche, Art. 45 Abs. 2 EV) Befassungsempfehlung erleichtert das Verständnis der Neufassung des Art. 146. A n sich hätte es in der Logik der Aufhebung des Art. 23 (a.F.) und der Neufassung der Präambel des Grundgesetzes gelegen, Art. 146 (a.F.) ebenfalls aufzuheben. Denn wie die Streichung der Beitrittsbestimmung soll auch die Änderung des Vorspruchs zum Ausdruck bringen, daß mit dem Beitritt das Wiedervereinigungsgebot erfüllt ist. Eben deshalb spricht die neue Präambel davon, daß die Deutschen "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet (haben)" und "dieses Grundgesetz (damit) für das gesamte Deutsche Volk (gilt)". Und eben deshalb wurde der die Vorläufigkeit des Grundgesetzes kennzeichnende Text aus der Präambel gestrichen "um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben". Als reinen "Wiedervereinigungsartikel" sah der Einigungsvertrag die alte Schlußbestimmung indessen offenbar nicht. Nur deshalb kann er die Vorläufigkeit des Grundgesetzes über die Erfüllung des Wiedervereinigungsauftrages hinaus verlängern, indem er Art. 146 (a.F.) GG die schon in der Präambel getroffene Feststellung hinzufügt: "(Dieses Grundgesetz), das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, (verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist)". Die Perpetuierung der Vorläufigkeit des Grundgesetzes muß ihren Grund also in dem äußeren und inneren demokratischen Makel finden, die seiner Entstehung anhaften sollen: 15 darin, daß das Grundgesetz keine souveräne, das heißt

15

Oben § 1II. 4. a.

III. Zur Entstehung der Neufassung des Artikel 146 GG

51

von besatzungshoheitlicher Einwirkung freie Entscheidung war 16 und darin, daß es keine Entscheidung des Volkes war, sondern von nicht mit Verfassungsgebung beauftragten Repräsentanten.17 Konsequenterweise empfiehlt Art. 5 EV deshalb die Befassung mit der Frage, ob das Grundgesetz die dauerhafte Verfassung Gesamtdeutschlands sein kann und soll oder Gesamtdeutschland eine neue Verfassung braucht, und ob die gesamtdeutsche Verfassung einer Volksabstimmung bedarf. - Der Einigungsvertrag hat die Beantwortung der Ausgangsfrage der Verfassungsdiskussion also vertagt.

I I I . Zur Entstehung der Neufassung des Artikel 146 GG Politisch notwendig wurde diese Vertagung allerdings nicht aufgrund eines Dissenses zwischen den Regierungen der beiden Vertragspartner. Die von der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition beabsichtigte Streichung des Art. 146 (a.F.) GG scheiterte vielmehr zuvörderst 18 an innenpolitischem Widerstand in der Bundesrepublik. Vor allem die größte Oppositionspartei, die SPD, auf deren Zustimmung es wegen des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit ankam (Art. 79 Abs. 2 GG), wollte die Verfassungsfrage mit dem Beitritt nicht entschieden sehen. Sie votierte nach wie vor fur die große, die "pathetische" Lösung der Verfassungsfrage, nun eben im Wege des Beitritts plus 19 Verfassungserneuerung mit Volksabstimmung: "Wir müssen den Einigungspro16

Zur seit 15.3.1991 endgültigen Ablösung der Vorbehaltsrechte der Alliierten siehe den Moskauer Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. 9.1990, BGBl. 1990 I I S. 1318 ("Zwei-plus-Vier-Vertrag"); Zustimmungsgesetz, BGBl. 1990 I I S. 1317; Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Vertrages: BGBl. 1991 I I S. 587. 17

Mit Blick auf Art. 4 Nr. 6 und Nr. 5 EV ist die Feststellung Herdegens, S. 7 f., zu Art. 4 Nr. 1 EV also zu relativieren: Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich eben nicht deutlich von der "Geburtsmakeltheorie" distanziert. 18 Daß es auch auf Seiten der Bürgerbewegung in der DDR den Wunsch nach einer Neukonstituierung gab, wird also nicht bestritten. Ebenso sei auf Mutmaßungen verzichtet, ob die West-SPD "nicht gegen die Vorstellungen der Ost-SPD (hätte) handeln können". Siehe zu beidem Thomas Früh, Inhalt und Bedeutung des Artikels 146 GG n.F., VB1BW 1994, S. 8 (9). Näher zur innenpolitischen Entwicklung Erich Bülow, Die Entstehungsgeschichte des Art. 146 GG n.F., in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 11991, S. 49 (52, 58). 19

Dazu oben § 1 II. 4. am Anfang.

52

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

zeß demokratisch organisieren. (...) Wir müssen endlich entscheiden, daß es eine Verfassung erst dann gibt, wenn das Volk über die Verfassung abgestimmt hat. Daher mein Appell an Sie: Sorgen Sie dafür, daß bald der Verfassungsrat konstituiert werden kann und daß bald die Deutschen in Ost und West als der Souverän über die Grundlagen ihres Zusammenlebens abstimmen können". 20 Qualifiziert sich die neue Schlußbestimmung des Grundgesetzes demnach als ein dilatorischer Formelkompromiß 21, scheint bei ihrer Entstehung gleichwohl ein Minimalkonsens in der Sache geherrscht zu haben. Nämlich politischer Konsens darüber, daß die Anwendung des Art. 146 (n.F.) GG im formellen und materiellen Rahmen des Art. 79 GG zu erfolgen habe. So sieht es nicht nur die Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag: 22 Die Neufassung dokumentiere "die Verwirklichung der deutschen Einheit unter Fortbestand des Grundgesetzes als rechtliche Grundordnung für das gesamte Deutsche Volk". Der Wortlaut mache deutlich, "daß die Arbeiten zur Novellierung von Verfassungsbestimmungen in dem im Grundgesetz verankerten Verfahren erfolgen und den Anforderungen des Artikels 79 des Grundgesetzes uneingeschränkt unterliegen mit der Folge, daß Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften bedürfen". Politischen Konsens läßt auch die parlamentarische Beratung des Einigungsvertragsgesetzes vermuten. Während der federführende Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, betonte, "daß die Frage einer Volksabstimmung nach Art. 146 eine Frage ist, die von den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat als eine Änderung oder Ergänzung der Verfassung, das heißt mit den Mehrheiten nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes, entschieden werden kann und auch nur so entschieden werden kann, daß es also einen anderen Weg, zu einer Volksabstimmung nach Art. 146 des Grundgesetzes zu kommen, nicht gibt", 23 beschränkte sich die Sprecherin der SPD-Fraktion, Dr. Herta Däubler-Gmelin, auf die Feststellung, eine breite Verfassungsreformdis20

So der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine am 23.8.1990, dem Tag des Beitrittsbeschlusses der DDR-Volkskammer, vor dem Deutschen Bundestag, BTProt. 11/221, S. 17445. 21

Zu diesem Begriff Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 31 ff. Zum Fall näher Richard Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVB1 1990, S. 1285 (1286 ff.). 22

BT-Drs. 11/7760, S. 355 (359).

23

In der Sitzung des Bundestages vom 5.9.1990, BT-Prot. 11/222, S. 17490 f.

III. Zur Entstehung der Neufassung des Artikel 146 GG

53

kussion sei vonnöten, um fortzufahren: "Dann stimmen wir ab, mit Zweidrittelmehrheit; Verfassungsfragen sind Konsensfragen. Danach legen wir unsere gemeinsamen Vorschläge den Bürgerinnen und Bürgern des künftigen gemeinsamen Deutschlands vor, damit sie in einer Volksabstimmung selbst entscheiden". 24 Diese letzte Einlassung spricht allerdings dafür, daß die SPD-Opposition unter "Verfassungserneuerung" nicht mehr die "voraussetzungslose" Schaffung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung versteht, sondern Änderungen des Grundgesetzes nach dessen eigenen Regeln. Geblieben ist freilich ihr Wunsch nach "jene(r) zusätzliche(n) Legitimation (...), die eine Volksabstimmung mit sich bringe". 25 In diesem Sinne und daher enttäuscht, hat auch die Fraktion Die Grünen die Einlassung zur Kenntnis genommen: Der Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten, werde nun auch von der SPD "faktisch aufgegeben". 26 Demgegenüber hielten Die Grünen selbst an eben jenem angeblichen Auftrag fest. Art. 146 alte wie neue Fassung enthalte die "bindende Notwendigkeit", jedenfalls aber "die Möglichkeit", "mit einfacher Mehrheit und durch Volksabstimmung eine neue Verfassung zu beschließen". Im Verständnis der Denkschrift der Bundesregierung hingegen komme die Neufassung der Schlußbestimmung einem "antidemokratischen Staatsstreich" gleich. 27 Der demnach keineswegs umfassende und inhaltlich eher grob ungefähre politische Konsens,28 die Anwendung des Art. 146 (n.F.) GG den Kautelen des Art. 79 GG zu unterwerfen, beschränkte sich zudem auf die Phase der Entstehung der neuen Schlußbestimmung. Als geltende Verfassungsnorm ist ihre Auslegung höchst umstritten. Der Streit läßt die aus der ersten Phase der Verfassungsdiskussion bekannten verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Frontlinien erkennen. 24

BT-Prot. 11/222, S. 17498.

25

So der Bericht des Ausschusses Deutsche Einheit, BT-Drs. 11/7920 (vom 18.9.1990), S. 14. 26 So Stratmann-Mertens 11/222, S. 17507.

in der Sitzung des Bundestages vom 5.9.1990, BT-Prot.

27

So der Abgeordnete Häfrier während der zweiten und dritten Lesung des Einigungsvertragsgesetzes in der Sitzung des Bundestages vom 20.9.1990, BT-Prot. 11/226, S. 17824. 28

Siehe auch die Analyse der Entstehungsgeschichte bei Ewald Wieder in, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland, AöR 117 (1992), S. 410 (433 ff.).

54

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

IV. Der Interpretationsstreit 1. Verfassungsgebungsnorm Als Verfassungsgebungs- (und nicht: Verfassungsrevisions-) Norm versteht Art. 146 GG, wer seiner Neufassung lediglich klarstellende Bedeutung beimißt. Danach beschränkt sich der Zweck der Grundgesetzänderung darauf, bestehende Zweifel an der (inhaltlichen) Weitergeltung des Art. 146 (a.F.) über die Wiedervereinigung hinaus zu beseitigen.29 Der Inhalt der Schlußbestimmung bleibt unberührt. Zwar ebnet sie nun nicht mehr auch den Weg zur staatlichen Wiedervereinigung. Diese ist erreicht. Aber sie ebnet noch den Weg zu einer demokratisch makellosen gesamtdeutschen Verfassung, indem sie eine Ablösung des Grundgesetzes ermöglicht. "Ablösung" bedeutet dabei im Ergebnis nicht-revolutionäre Aufhebung. Die neue Verfassung soll das Grundgesetz aufheben können: sie soll nicht gezwungen sein, sich mit dem Grundgesetz, also rechtlich zu rechtfertigen. Weder durch das Verfahren ihres Zustandekommens noch durch ihren Inhalt. Als neue Verfassung soll sie von der Bindung an die Revisionsnorm des Art. 79 GG in jeder Hinsicht befreit sein. Sie kann, muß aber nicht, abweichend von Art. 79 Abs. 2 mit einfacher Mehrheit 30 beschlossen werden, und sie muß nicht, kann aber, den Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 entsprechen. Ihre Neuheit beruht auf der Neuheit ihrer Rechtfertigung durch einen (neuen) Akt der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, also auf der Neuheit ihrer Geltungsgrundlage. 31 Gleichwohl soll sich diese neue Verfassung aber auch nicht revolutionär rechtfertigen müssen: sie soll nicht gezwungen sein, sich gegen die Legitimität und errichtete Legalität des Grundgesetzes durchsetzen zu müssen. Hat das gesamte deutsche Volk eine Verfassung in freier Entscheidung beschlossen, nimmt das Grundgesetz seinen Geltungsanspruch freiwillig zurück: es reicht

29

So besonders deutlich Wiederin, S. 438. Im übrigen ist die inhaltliche Weitergeltung des Art. 146 (a.F.) GG die Prämisse der sog. Draufsatteltheorie, Nachweise oben § 1 FN 70. 30

Bedenken dagegen schon hinsichtlich Art. 146 a.F. GG bei Josef Isensee, Braucht Deutschland eine neue Verfassung?, 1992, S. 25. 31

Gleichsinnig Isensee, Neue Verfassung, S. 16 f.

IV. Der Interpretationsstreit

55

dieser Verfassung gleichsam die - auch mit Legitimität versorgende - "Nabelschnur der Legalität" 32 . Dieses verfassungsrechtliche Angebot, das teilweise als befristet angesehen wird, 33 anzunehmen, erscheint der hier in Rede stehenden Position als eine verfassungspolitische und verfassungstheoretische Notwendigkeit. Nur durch Verfassungsgebung, das heißt durch eine offene und ausfuhrliche Verfassungsdebatte unter Einschluß der Bürger, verbunden mit einem abschließenden Volksentscheid, soll den Herausforderungen, denen Gesamtdeutschland sich gegenübersieht, zu begegnen sein. Dabei werden vor allem drei Herausforderungen genannt: die beiden Fragen nach der gleichsam "inneren" und "äußeren" Identität der gesamtdeutschen Gesellschaft und die Aufgabe einer Revision des überkommenen Politikverständnisses. Der rechtlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten müsse die Integration zweier Gesellschaften folgen, "die unterschiedlicher nicht sein könnten ökonomisch, ökologisch, sozial, kulturell, im Bewußtsein und vor allem im Selbstbewußtsein ihrer jeweiligen Bürgerinnen und Bürger". Die Erfüllung dieser Aufgabe setze die "wechselseitige Anerkennung der Bürger als Gleiche" voraus. Der Beitritt schaffe diese Voraussetzung nicht. 34 Er soll vielmehr der trügerischen Erwartung einer lediglich personellen und räumlichen Erweiterung der Bundesrepublik, "der nahezu vollen Identität des geeinten Deutschlands mit der bisherigen Bundesrepublik und ihrer (politischen) Kultur und Mentalität" 35 Vorschub leisten. Erforderlich sei deshalb ein Prozeß gemeinsamer Verfassungsgebung als ein "Vorgang der politischen Gründung durch den selbstbe32

Der Ausdruck stammt von Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 135, der ihn allerdings in einem etwas anderen Sinne verwendet. 33

Nämlich mit Hinweis auf Art. 5 EV auf ca. zwei Jahre befristet, siehe die Überlegung bei Herdegen, S. 31. Ebenso Michael Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland - endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, JuS 1991, S. 985 (988 ff.). Für unbefristete bzw. unbedingte, d.h. nicht wiedervereinigungsbedingte Geltung Wiederin, S. 441 f. Gegen eine auch nur befristete Perpetuierung der Möglichkeit zur Ablösung des Grundgesetzes etwa Isensee, Neue Verfassung, S. 50 f. 34

Ulrich K. Preuß, Brauchen wir eine neue Verfassung?, in: Bernd Guggenberger/ Ulrich K. Preuß/Wolfgang Ulimann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991, S. 15. 35 Rainer Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 468 (475).

56

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

wußten Willen jener, die sich zuallererst durch diesen kollektiven Schöpfungsakt als 'citizens' und nicht als Blutsbrüder, als Anteilseigner eines wirtschaftlichen Unternehmens oder als passive Untertanen einer versorgenden Staatsanstalt - konstituieren, anerkennen und hierauf die Gemeinsamkeit ihrer politischen Existenz gründen". 36 Zum zweiten sei ja nicht nur die DDR untergegangen, sondern auch der "unpolitische Wirtschaftsstaat Bundesrepublik in seinen Grenzen von 1949". Der entstandene "Großstaat im Herzen Europas" sehe sich aber veränderten Erwartungen anderer Staaten und Nationen ausgesetzt. Auch wegen der erforderlichen "neuen Selbstdefinition der Deutschen" gegenüber diesen Erwartungen bedürfe der neue Staat einer neuen Verfassung: weil "kein Staat gefahrlicher (ist) als der, der sich selbst und seine Interessen nicht kennt", und weil eine Gesellschaft, die sich eine Verfassung gegeben hat "politisch intelligenter, wacher und über sich selbst aufgeklärter ist (...)". 37 Zum dritten bedürfe es einer Revision des überkommenen Politikverständnisses. Während die institutionellen Formen des traditionellen Verfassungsprozesses noch immer in erster Linie "auf die Erzeugung von gesellschaftlichem Konsens und damit auf moralische Eindeutigkeit" gerichtet seien, werde es an der Schwelle zum 21. Jahrhundert immer zwingender zu lernen, "auch im Dissens zu kooperieren, mit moralischer Vieldeutigkeit, mit Erkenntnisungewißheit und schließlich auch mit der Erfahrung diskontinuierlicher und überraschender Veränderungen umzugehen". - Neben der Notwendigkeit einer neuen Selbstwahrnehmung und einer neuen Selbstdefinition der (gesamtdeutschen) Gesellschaft soll also auch die Notwendigkeit einer neuen "Selbsteinwirkung" verfassungsrelevant sein und daher eine breite Verfassungsdiskussion und eine neue Verfassung erfordern. 38

2. Verfassungswidrige

Verfassungsnorm

Daß das verfassungsrechtliche Angebot zur Ablösung des Grundgesetzes nach Herstellung der staatlichen Einheit noch bestehe, wird freilich bestritten. Nach dieser Auffassung hat die Schlußbestimmung durch den eingefugten Re36

Preuß, Neue Verfassung, S. 15.

37

Preuß, Neue Verfassung, S. 16 f.

38

Preuß ebda.

IV. Der Interpretationsstreit

57

lativsatz einen völlig neuen Sinn erhalten. Sinn der alten Fassung sei es gewesen, innenpolitische Hemmnisse einer Wiedervereinigung zu beseitigen und, vor allem, außenpolitisch ein Angebot an die Sowjetunion zu machen: Wollte die Bundesrepublik im Ost-West-Konflikt die Möglichkeit einer Wiedervereinigung nicht von vornherein verschütten, durfte sie ihr politisches System nicht verabsolutieren, mußte sie prinzipielle Offenheit signalisieren. 39 Art. 146 a.F. GG sei also ein "taktischer Verfassungsvorbehalt in der weltpolitischen Auseinandersetzung um die deutsche Einheit" gewesen, gerichtet ausschließlich an die Sowjetunion.40 Dieser Sinn sei durch die Wiedervereinigung weggefallen. Erhalte die Neufassung die Möglichkeit zur Ablösung des Grundgesetzes ohne rechtfertigenden Zweck und mit anderem Adressaten aufrecht, unterlaufe sie die "legitimatorisch notwendige Unterscheidung zwischen Verfassungsänderung und Revolution", die Notwendigkeit, neues Verfassungsrecht entweder durch geltendes, positiv gesetztes Recht oder durch neue Ideen zu rechtfertigen. 41 Damit nehme Art. 146 n.F. GG einem möglichen Verstoß gegen die Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG ohne Not das Odium des Verfassungsbruches: Auch der Wunsch nach Basisdemokratie erlaube es aber nicht, die klammheimliche Vorbereitung einer Diktatur zu ermöglichen. Und der Einwand, niemand denke bei der Anwendung der neuen Schlußbestimmung daran, eine Diktatur herbeizuführen, sei wegen Art. 79 Abs. 1 GG unerheblich, weil es nach dieser Vorschrift nicht auf gute Absichten, sondern auf den Text der Verfassung ankomme.42 Art. 146 n.F. GG verstoße mithin gegen Art. 79 GG, der gerade verhindern wolle, daß Deutschland eine gräßliche Erfahrung noch einmal mache. Die neue Schlußbestimmung sei verfassungswidrig und nichtig. 43

39

Gerd Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, NJW 1991, S. 2441 (2444). 40

Gerd Roellecke, Schwierigkeiten mit der Rechtseinheit nach der deutschen Wiedervereinigung, NJW 1991, S. 657 (660). 41

Roellecke, Neues Grundgesetz, S. 2442.

42

Roellecke, Neues Grundgesetz, S. 2444.

43

Im Ergebnis ebenso Bartlsperger, S. 1300; Hermann Huba, dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung, Der Staat 30 (1991), S. 367 Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung?, NJW 1991, wohl auch ReinholdZippelius, Quo vadis Grundgesetz?, NJW 1991,

Das Grundgesetz als (373 ff.); Bernhard S. 964 (966 f.) und S. 23.

58

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

Daß das Grundgesetz nach wie vor mit seiner - endgültig unanwendbaren Schlußbestimmung alter Fassung ende, wird aber nicht nur verfassungsdogmatisch, sondern auch verfassungsstaatstheoretisch begründet. 44 In Art. 146 a.F. GG habe sich die verfassungsgebende Gewalt selbst den Vorbehalt einer originären neuen Verfassungserzeugung eingeräumt und diesen auch selbst auf den betreffenden Wiedervereinigungsfall beschränkt. Daher habe von einer Selbstbindung oder authentischen Interpretation der verfassungsgebenden Gewalt gesprochen werden können. Im Unterschied dazu beruhe der in der Neufassung des Art. 146 GG angemeldete Geltungsvorbehalt jedoch auf einer Maßnahme der verfassungsändernden Gewalt. Die Restituierung der verfassungsgebenden Gewalt (des Volkes) durch die verfassungsändernde Gewalt (der Verfassung) widerspreche aber der Grundidee des Verfassungsstaates, "auch die verfassunggebende Gewalt verfassungsrechtlich einzubinden und als 'verfaßte' Gewalt zu regeln". Denn diese Grundidee bedinge, daß die verfassungsgebende Gewalt des Volkes mit dem Akt der Verfassungsgebung materiell extrakonstitutionell werde. Zwar habe Art. 146 a.F. GG mit Rücksicht auf eine besondere historische Ausgangssituation davon eine Ausnahme zugelassen. Dieser Tatbestand habe sich jedoch erledigt. 45 Also "bewegen sich alle Initiativen zu einer Verfassungsablösung und Neukonstituierung, einschließlich solcher der verfassungsändernden Gewalt, im Rahmen des Extrakonstitutionellen, d.h. der konstitutionellen Illegalität 1 4 6 Wie immer man die Verfassungswidrigkeit der neuen Schlußbestimmung begründet: ob verfassungsdogmatisch damit, daß sie nicht (mehr) die legale Abolition des Grundgesetzes, sondern die legale Revolution ermöglicht 47, oder verfassungsstaatstheoretisch damit, daß die Verfassung Volkssouveränität in Verfassungssouveränität transponiert, also Volkswillen und Verfassungsrecht identifiziert und abweichenden Volkswillen als verfassungsgebende Gewalt für konstitutionell illegal erklärt - in jedem Falle ist eine "neue" deutsche Verfassung in den verfassungsrechtlichen Rahmen des Art. 79 GG verwiesen.

44

Bartlsperger,

S. 1299 f.

45

Weshalb Art. 146 a.F. GG sehr wohl durch die verfassungsändernde Gewalt hätte gestrichen werden können, dies gegen Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 32 f. 46 47

Bartlsperger,

S. 1300.

Diese Sinnänderung übersieht Wieder in, S. 427 f. Näher dazu Huba, Grundgesetz, S. 372 ff.

IV. Der Interpretationsstreit

59

3. Verfassungsrevisionsnorm Zu diesem Ergebnis gelangen auch jene, die Art. 146 (n.F.) GG als Verfassungsrevisions(zusatz)norm interpretieren. Auch sie sehen die Schlußbestimmung durch ihre Neufassung inhaltlich verändert, aber dahin, daß mit ihr "die Bestätigung" einer im Rahmen des Art. 79 GG erfolgten Verfassungsrevision "durch die freie Entscheidung des deutschen Volkes" ermöglicht werden soll: "Art. 146 GG n.F. will ebenso wie Art. 79 GG den pouvoir constituant außerhalb revolutionärer Ausübung des pouvoir constituant originaire kanalisieren; er will die Möglichkeit schaffen, ein geändertes Grundgesetz der freien Entscheidung des Volkes zu unterwerfen". 48 Den Weg zu dieser Entscheidung des Volkes soll aber nur der pouvoir constituant institué des Art. 79 Abs. 2 GG, also die verfassungsändernde Gewalt 49 frei machen dürfen. Art. 146 n.F. GG sei in den Bahnen des Art. 79 GG durch Verfassungsänderung in das Grundgesetz gelangt und könne daher nur nach Maßgabe des Art. 79 GG gelten.50 Gegen die Alternativität beider Bestimmungen und für die Notwendigkeit der "Ergänzung" der neugefaßten Schlußbestimmung sowohl durch die Verfahrens» und Kompetenznorm des Art. 79 Abs. 2 als auch durch die inhaltliche Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG soll außerdem sprechen, daß in Art. 5 EV, der sich auf Art. 146 n.F. GG bezieht, von Fragen zur "Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes" die Rede ist. 51 Unter Wahrung der Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG und mit den Zweidrittelmehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften, die Art. 79 Abs. 2 GG vorschreibt, komme allerdings auch eine Totalrevision des Grundgesetzes in Betracht, also seine Ersetzung "durch ein neues Verfassungsgesetz, das sich in Stil und Regelungsinhalt vom Grundgesetz unterscheidet". Denn gesichert wer48

Stern, in: Stern/Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2, S. 49.

49

Zur Unterscheidung von pouvoir constituant institué (= pouvoir constituant constitué = verfassungsändernde Gewalt) und pouvoir constituant originaire (= verfassungsgebende Gewalt) siehe Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 12. Aufl. 1984, S. 152 f. 50 51

Isensee, Neue Verfassung, S. 54.

Gegen eine solche gesetzeskonforme Interpretation der Verfassung Wiederin, S. 437, der zutreffend auch daraufhinweist, daß sich Art. 146 n.F. GG nach Wortlaut und systematischer Stellung schwerlich als Revisionsnorm begreifen läßt. Ebenso Sachs, Grundgesetz, S. 989.

60

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

de der wesentliche Ordnungsgehalt des Grundgesetzes, nicht seine Textgestalt. 52 Mit diesem wohl herrschenden Verständnis als Revisions(zusatz)norm 53 scheint Art. 146 n.F. GG, die "Sprengladung unter den Fundamenten des Grundgesetzes" {Martin Kriele), die "Zeitbombe im Verfassungsgehäuse" {Josef Isensee), jedenfalls aktuell entschärft. Soll er doch so verstanden nicht mehr die einfachmehrheitliche (legale) Ablösung des Grundgesetzes, sondern lediglich noch dessen identitätswahrende Erneuerung im Wege der Verfassungsänderung zulassen. Auch die Frage, worüber das Volk im Rahmen der Anwendung des Art. 146 (n.F.) GG abstimmen soll (Art. 5 EV) - über das das Grundgesetz ändernde Gesetz oder über das geänderte Grundgesetz - verliert an Bedeutung. Denn in keinem Fall liegt in der Bestätigung durch das Volk eine Betätigung seiner (originären) verfassungsgebenden Gewalt: "das vorab verfaßte Volk (handelt vielmehr) nach Maßgabe seiner Selbstbindung an das Grundgesetz". 54 Damit eröffnet das Verständnis der neuen Schlußbestimmung als Revisionsnorm, die gleichsam an einen Volksentscheid erinnert, im Ergebnis keine anderen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, als sie auch bei Annahme ihrer Nichtigkeit bestehen.55 Die entscheidende Differenz liegt nicht zwischen der

52

Isensee, Neue Verfassung, S. 55 f.

53

Neben den bereits Genannten unterstellen Art. 146 n.F. GG der Maßgabe des Art. 79 GG etwa Volker Busse, Das vertragliche Werk der deutschen Einheit und die Änderungen von Verfassungsrecht, DÖV 1991, S. 345 (351 f.); Hans-Uwe Erichsen, Die Verfassungsänderung nach Art. 79 GG und der Verfassungsbeschluß nach Art. 146 GG, Jura 1992, S. 52 (55); Dirk Heckmann, Verfassungsreform als Ideenwettbewerb zwischen Staat und Volk, DVB1 1991, S. 847 (854 f.); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rn 707; Hans D. Jarass, in: ders./Bodo Pieroth, Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 2. Aufl. 1992, Art. 146 Rn 1; Paul Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 1992, S. 15; Eckart Klein, Der Einigungsvertrag, DÖV 1991, S. 569 (577 f.); Volker Kröning, Kernfragen der Verfassungsreform, ZRP 1991, S. 161 (165); Klaus-Dieter Schnapauff, Der Einigungsvertrag, DVB1 1990, S. 1249 (1252); Rupert Scholz (1991), in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 146 Rn 19, 23 und Hubert Weis, Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, AöR 116 (1991), S. 1 (30). 54 55

Isensee, Neue Verfassung, S. 58.

Das belegt, daß ihr Verständnis als Revisionsnorm die neue Schlußbestimmung jedes rechtlichen Sinnes beraubt.

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

61

Interpretation des Art. 146 (n.F.) GG als Revisionsnorm oder als verfassungswidrige Verfassungsnorm, sondern zwischen diesen Interpretationen und dem Verständnis der Bestimmung als Verfassungsgebungsnorm: Soll sich die "neue" gesamtdeutsche Verfassung als geändertes Grundgesetz durch geltendes Recht, insbesondere durch Art. 79 GG rechtfertigen, oder als "voraussetzungslos" neue Verfassung durch eine (einfachmehrheitliche) unmittelbare Entscheidung des Volkes?

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? Zwischenbilanz 1. Verfassungsrechtlicher

dritter

Weg?

Trotz dieser Differenz kann der Eindruck entstehen, in der zweiten Phase der Verfassungsdiskussion habe sich ein Kompromiß in ihrer Ausgangsfrage gefunden. Die schroffe Alternative, die dauerhafte Verfassung Gesamtdeutschlands könne nur entweder das im engeren Sinne beitrittsbedingt, also punktuell geänderte Grundgesetz oder eine neue, andere Verfassung sein, scheint zugunsten eines "dritten Weges" überwunden. Inhaltlich wie aus Sicht des Verfahrens wirkt der Unterschied zwischen einem möglicherweise totalrevidierten Grundgesetz, über das eine Volksabstimmung stattgefunden hat, und einer das Grundgesetz ablösenden neuen Verfassung mit Volksentscheid marginal. Eine "Verfassungsreform" unter Beteiligung des Volkes und eine formale "Neukonstituierung" erscheinen praktisch als dasselbe. Jedenfalls treten beide als dritte Wege auf. Die Verfassungsreform, deren Anfang und Ende Art. 146 (n.F.) GG regle, ermögliche eine konzeptionell angelegte Verfassungsdebatte, die zu einem "Ideenwettbewerb zwischen Staat und Volk" führe und über deren Ergebnis das Volk abzustimmen habe.56 Durch sie gelange man zu einer vom geltenden Grundgesetz "abweichenden Verfassungslage", und zwar auf dem Weg "zwischen" derivativer Verfassungsänderung und originärer Verfassungsgebung. Im Sinne konstitutioneller "Teil-Kontinuität", 57 also ganz ähnlich, soll andererseits auch der Weg der formalen Neukonstituierung zu verstehen sein. Auch "Neukonstituierung" meint der Sache nach weder 56

Heckmann, S. 855, 853.

57

Alle Zitate: Heckmann, S. 855.

62

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

Verfassungsgebung noch Verfassungsänderung. Diskontinuität bewirkende Verfassungsgebung nicht, weil sich das Grundgesetz als "rechtliches Regelwerk" für den gesamtdeutschen Staat inhaltlich schon "mit wenigen Änderungen" eignen soll. Die Identität des Grundgesetzes wahrende und Kontinuität verbürgende Verfassungsänderung aber auch nicht, weil ein Teil der Änderungen die Verfassung als "Selbstbeschreibung und Zielbestimmung" 58 der Gesellschaft betreffen und deshalb "Sache des Souveräns selbst"59 sein soll. Auch die Integrationsfunktion der Verfassung spreche fur eine Beteiligung des Volkes. 60 Indes, der Eindruck, die Ausgangsfrage der Verfassungsdiskussion könnte unentschieden bleiben, beruht auf der Verwendung unscharfer Begriffe, 61 in denen sich verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Überlegungen mit (verfassungs-)politischen Wünschen mischen. Verfassungsrechtlich kann neues Verfassungsrecht nur entweder in Übereinstimmung mit oder im Widerspruch zu geltendem Verfassungsrecht erzeugt werden, also nur entweder konstitutionell legal durch Verfassungsänderung oder konstitutionell illegal, und das heißt zwingend revolutionär, durch Verfassungsgebung. Denn wie alles Recht muß auch Verfassungsrecht eineindeutig zwischen Recht und Unrecht unterscheiden: Recht ist nicht Unrecht und Unrecht ist nicht Recht. Anderenfalls verfiele die gesamte Rechtsordnung der Rechtsparadoxie, daß Recht auch Unrecht und Unrecht auch Recht sein kann, und das Recht könnte seine Funktion, Erwartungen zu sichern, nicht mehr erfüllen. 62 Einen dritten Weg "zwischen" rechtlicher und revolutionärer Verfassungsrechtserzeugung eröffnete verfassungsrechtlich genau besehen auch Art. 146 a.F. GG nicht. Das neue Verfassungsrecht im Sinne der alten Schlußbestimmung konnte ohne Bindung an Art. 79 GG erzeugt werden. Hätte das Grundgesetz dieses Verfassungsrecht nicht als revolutionär erzeugtes eingeschätzt, hätte der in Art. 146 a.F. GG erklärte vollumfangliche Geltungsverzicht des Grundgesetzes keinen verfassungsrechtlichen Sinn gehabt. So aber kam ihm der Sinn zu, einer neuen gesamtdeutschen Verfassung - aus welchen Gründen immer - zu 58

Alle Zitate: Dieter Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution, in: Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 119 (124) und oben § 1 II. 1. 59

Dieter Grimm, Das Risiko Demokratie, in: Guggenberger/Stein, S. 261 (265).

60

Grimm, Neukonstitution, S. 126 f.

61

Zum Begriff "Neukonstitution" ebenso Roellecke, Neues Grundgesetz, S. 2442.

62

Näher zur Rechtsparadoxie Huba, Grundgesetz, S. 374.

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

63

ersparen, ihre revolutionäre Legitimität gegen die des Grundgesetzes beweisen, und das heißt letztlich: im Wege eines Bürgerkrieges durchsetzen zu müssen. Dieser Verzicht konnte und sollte die revolutionäre Rechtfertigung der neuen Verfassung erleichtern, entbehrlich machen konnte und sollte er sie nicht. Denn am Anfang dieser neuen Verfassung stand aus der Sicht des Grundgesetzes Unrecht, durch Art. 146 a.F. GG gleichsam entschuldigtes Unrecht zwar, aber Unrecht. Und dieses Unrecht hatte sich ins Recht zu setzen. Verfassungsrechtlich ist der Unterschied zwischen einem nach Maßgabe des Art. 79 GG (total-)geänderten Grundgesetz, über das nach einer entsprechenden (verfassungsändernden) Ergänzung der Veifassungsänderungsvorschriften eine Volksabstimmung stattgefunden hat, und einer das Grundgesetz ablösenden neuen Verfassung nach alledem kein marginaler, sondern ein kategorialer. Im ersten Fall bleibt die Geltungsgrundlage (des Grundgesetzes) unberührt. Im zweiten Fall wird sie ausgewechselt und insbesondere eine über vierzigjährige Verfassungsrechtsprechung verliert ihre normative Gültigkeit. Im ersten Fall "ist" das neue Verfassungsrecht das Grundgesetz und durch geltendes Recht gerechtfertigt. Im zweiten Fall herrscht konstitutionelle Diskontinuität und die Verfassung bedarf - unabhängig vom Maß ihrer Abweichung vom Inhalt des Grundgesetzes - einer revolutionären Rechtfertigung, einer Rechtfertigung durch "neue Ideen" 63 oder durch "das Volk".

2. Verfassungstheoretischer

dritter

Weg?

Einen dritten Weg in der Verfassungsfrage gibt es aber nicht nur verfassungsrechtlich nicht. Es gibt ihn auch verfassungstheoretisch kaum. Zum einen deshalb, weil die beiden Parteien der Verfassungsdiskussion schon die gesellschaftliche Lage gegensätzlich einschätzen.64 So liegt es in der Logik der Annahme einer Gründungssituation, die Frage nach der Ordnung der Zukunft nicht nur aufgeworfen, sondern zu einem guten Teil bereits beantwortet zu sehen. Gründung setzt Diskontinuität voraus. Die Zukunft wird nicht sein wie die Vergangenheit. Also kann die Zukunft nicht die Ordnung der Vergangenheit haben. Die gesellschaftliche Normalität und Normativität der (bisherigen) Bundesrepublik kann nicht die Gesamtdeutschlands sein. Deshalb müssen es die Verfech63

Roellecke, Neues Grundgesetz, S. 2442. Siehe auch oben unter § 1 III. 3.

64

Oben § 1 III.

64

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

ter einer Lösung nach Art. 146 (a.F.) GG auch in der zweiten Phase der Diskussion für ausgeschlossen halten, das Grundgesetz im Wege der Verfassungsänderung, also grundgesetzimmanent zur Verfassung Gesamtdeutschlands fortzuentwickeln. Zum anderen prägen die beiden Positionen höchst unterschiedliche Erwartungen an die Verfassung. Daß Verfassung Ordnung ist, hinsichtlich dieser allgemeinen Bedeutung der Verfassung herrscht allerdings Einigkeit. Einigkeit besteht auch noch in bezug auf die erste Antwort, die die Frage nach der ordnenden Kraft der Verfassung findet. Als Gesetz, als das "rechtliche Regelwerk, nach dem die Staatsorgane eingerichtet werden und sich verhalten sollen und die Verfassungsgerichte Konfliktfalle entscheiden",65 erlaubt eine Verfassung Recht/Unrecht-Unterscheidungen, die selbstverständlich orientieren. Aber diese rechtliche Wirkung teilt die Verfassung mit allen Gesetzen. Sie kann mit der Ordnung des Gemeinwesens deshalb nicht gemeint sein. Offen bleibt mithin, worin die ordnende Kraft einer Verfassung besteht, die über die rechtliche Wirkung hinausreicht. Und in der Antwort auf diese Frage liegt die zweite Grunddifferenz.

a) Die ordnende Kraft der Selbstverständigung Für die Befürworter einer Verfassungsgebung ist die spezifische Wirkung eines "Verfassung" zu nennenden Gesetzes wesentlich eine abgeleitete: abgeleitet aus einem Prozeß, dessen Ergebnis die Verfassung nur in besonderer Weise festschreibt. Der Prozeß ist die "Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung". 66 Sein Ergebnis ist "Konsens" der Gesellschaft "über Art und Form ihrer Einheit". Diesem Konsens, der "ihr zeitlich voraus (geht) und nicht auf die Form der Verfassung angewiesen (ist)", gibt die Verfassung lediglich "Ausdruck". 67 Das bedeutet freilich nicht, daß sie die gesellschaftliche Verständigung, die sie trägt, schlicht dokumentiert. Gleichwohl verfugt sie nur sehr eingeschränkt über eigenständige ordnende Kraft. 65

Grimm, Neukonstitution, S. 124.

66

Grimm, Demokratie, S. 263.

67

Dieter Grimm, Verfassung (1989), in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991,

S. 16.

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

65

So soll die Verfassung den erreichten gesellschaftlichen Konsens zwar stabilisieren. Sie soll ihn gegenüber der historischen Situation, in der er entstanden ist, und gegenüber den an seiner Entstehung beteiligten Personen verselbständigen und ihm Verbindlichkeit und Bestimmtheit verleihen. 68 Sie soll ihn mit anderen Worten zeitlich, sozial und sachlich generalisieren, eben verrechtlichen. Ja, die Verfassung soll geradezu die rechtliche Verselbständigung der Selbstverständigung sein. Aber die stabilisierende Wirkung trägt nicht sehr weit. Denn andererseits soll die Verfassung abhängig bleiben - vom gesellschaftlichen Konsens: "Die juristische Form der Verfassung löst das Ergebnis dieses Verständigungsprozesses von der Entstehungssituation ab und verleiht ihm Bestimmtheit, Verbindlichkeit und Dauer. Dennoch bleibt die Verfassung auch in ihrer rechtlichen Wirksamkeit vom gesellschaftlichen Konsens abhängig". 69 Verselbständigung also, aber keine Selbständigkeit. Das klingt widersprüchlich. Der Widerspruch nötigt zu der Unterscheidung zwischen verrechtlichtem und vorverfassungsrechtlichem Konsens: Die Verfassung als normativierter Konsens steht unter dem Vorbehalt faktischer Anerkennung. Gründet die der Verfassung zugesprochene ordnende Kraft jedoch in der faktischen Anerkennung der von ihr nur aufgezeigten Ordnung, ist es konsequent, die tatsächliche Selbstverständigung eines Volkes über seine Ordnung zur "Sinnbasis der Verfassung" 70 zu erklären, zu ihrer Substanz. Die über die rechtliche hinausreichende spezifische Wirkung des Verfassungsgesetzes 71 ist dann die eines Zeichens. Das Verfassungsgesetz steht dafür, daß das "Projekt Verfassung" stattgefunden, ein Volk sich seiner Einheit vergewissert hat, die Bürger sich untereinander verbunden und nach außen vereinigt haben. Es steht dafür, daß die Bürger "Wir" zueinander gesagt haben.72

68

Grimm ebda.

69

Grimm, Demokratie, S. 263.

70

Grimm, Demokratie, S. 265.

71

Die im Text vorangehende Unterscheidung treibt die von Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 20 ff., aktualisierte Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz hervor. 72

Anschaulich die Präambel des Gesetzestextes der Verfassung des Landes Brandenburg (vom 20.8.1992): "Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg, (...) haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben (...)". Siehe auch oben IV. 1. S Huba

66

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG Trifft das aber zu, kann das Grundgesetz - wie immer geändert - nicht die ge-

samtdeutsche Verfassung sein. Es gäbe ein falsches Zeichen innerer und äußerer Einheit, wäre leere Form. Die Bürger Gesamtdeutschlands sagen im Falle des Beitritts gar nicht "Wir". Sie sprechen nicht einmal. Also ist es unerläßlich, das Grundgesetz abzulösen, das Volk in einer breiten Diskussion über die gesellschaftliche Ordnung Gesamtdeutschlands zu Wort kommen zu lassen und ein gesamtdeutsches Verfassungsgesetz durch eine förmliche Entscheidung der Bürger in Geltung zu setzen. Und dies unabhängig davon, wie zustimmungsfahig der im Grundgesetz normativierte Konsens auch immer sein mag. Denn auf die tatsächliche Selbstverständigung kommt es an: "Für eine solche Selbstverständigung ist es neuerlich an der Zeit, auch wenn von einer Konsensschwäche des Grundgesetzes keine Rede sein kann". 73 Zumal sich zu einem "Wir" schon bei Schaffung des Grundgesetzes nicht die Möglichkeit bot, nicht den Bürgern der Bundesrepublik und schon gar nicht diesen zusammen mit jenen auf dem Gebiet der DDR, so daß die seinerzeitige "Verständigung", so es denn überhaupt eine gab, allenfalls eine provisorische sein konnte.

b) Die ordnende Kraft der Höchstrangigkeit Projiziert man die soeben rekonstruierte Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz auf die in der Verfassungsdiskussion vertretene Gegenposition, schärft sich die Differenz. Für die Vertreter der reinen Beitrittslösung ist das Verfassungsgesetz nicht nur ein stabilisierendes Zeichen fur die Verfassung, sondern die Sache, die Verfassung selbst. Die Verfassung, das ist für sie "die rechtliche Grundordnung des Staates",74 und das sind: seine höchstrangigen Normen. Allerdings kennen auch die Anhänger dieses Verfassungsbegriffs das Problem der Einheit der Verfassung und damit das Bezugsproblem der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz. Und auch sie lösen dieses Problem mit Hilfe einer Unterscheidung, nämlich der Unterscheidung von formeller und materieller Verfassung. Aber beide Lösungen differieren in einer für das jeweilige Verständnis der Verfassung charakteristischen Weise.

73 74

Grimm, Demokratie, S. 263.

So etwa Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I 1987, S. 591 (645).

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

67

Für die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz liegt die Substanz der Verfassung, wie gesehen, in der tatsächlichen "Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung", ihre Form in der "juristischen Form der Verfassung", im Verfassungsgesetz. 75 Für die Unterscheidung von materieller und formeller Verfassung liegt "die rechtliche Substanz, auf die hin das Staatsgrundgesetz als die rechtliche Form angelegt ist", 76 in der rechtlichen Grundordnung des Staates. Wie immer also das Verhältnis zwischen rechtlicher Grundordnung (materielle Verfassung) und dem in der Verfassungsurkunde verbrieften höchstrangigen Gesetz77 (formelle Verfassung) beschaffen sein mag - beide sollen sich nicht in jedem Punkte decken müssen - 7 8 allemal ist es ein Verhältnis zwischen Normen. Damit wird die Differenz zwischen beiden Unterscheidungen deutlich. Im ersten Fall gelangt man vom Verfassungsgesetz zur Verfassung, indem man die Grenze zwischen Norm und empirischem Willen übersteigt: die Einheit der Verfassung ist die Einheit von Wille und Norm. Im zweiten Fall gelangt man vom Verfassungsgesetz zur Verfassung, indem man eine Trennlinie zwischen Normen kreuzt, nämlich die höchstrangigen Normen der Verfassungsurkunde ergänzt um nichtverbriefte, gleichwohl höchstrangige 79 Normen des Staatsrechts, 80 die von den verbrieften Normen impliziert und vorausgesetzt werden: 81 die Einheit der Verfassung ist eine interpretativ herzustellende Einheit von Normen.

aa) Die Höchstrangigkeit des Verfassungsrechts Diesem Verständnis zufolge ist die Verfassung freilich nicht einfach Rechtsnorm, sondern Rechtsnorm höchsten Ranges. Soll der Verfassung also eine ordnende Kraft zukommen, die über die Recht und Unrecht unterscheidende, 75

Grimm, Demokratie, S. 263.

76

Isensee, Staat, S. 645.

77

Isensee, Staat, S. 644.

78

Näher Isensee, Staat, S. 646 f.

79

Nur dann ist eine Kollision denkbar und die Maxime des "schonendsten Ausgleichs" anwendbar - so aber Isensee, Staat, S. 647. 80 81

Isensee, Staat, S. 660.

Josef Isensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. V I I 1992, S. 103 (127 f.).

68

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

die rechtliche Wirkung eines jeden Gesetzes hinausgeht, muß sie in dieser Höchstrangigkeit gründen. Die Höchstrangigkeit der Verfassung hat erkennbar einen doppelten Sinn. Für das Recht eines Staates bedeutet sie einen Stufenbau der Rechtsordnung, 82 eine Hierarchie der Normen. Die Verfassung selbst stellt die oberste Schicht der positiven Rechtsnormen dar. Sie regelt die Erzeugung der deshalb so genannten einfachen Gesetze: das Verfahren der Erzeugung und möglicherweise bis zu einem gewissen Grade auch den Inhalt der zu erzeugenden Norm. Das einfache Gesetz gilt, weil und sofern es auf eine bestimmte, nämlich auf die in der Verfassung bestimmte Weise zustande gekommen ist. Gleiches gilt für Verordnungen, für von Verwaltungsorganen erlassene generelle Normen, im Verhältnis zum einfachen Gesetz. Dogmatisch ist (und war) eine solche Hierarchie von Normen leicht zu konstruieren. Sie beruht auf dem alten Gedanken, daß Rechtssätze andere Rechtssätze einschränken oder verdrängen können. Ausdruck dieses Gedankens ist etwa die Regel, daß speziellere Gesetze allgemeineren vorgehen. Mit dieser Regel wird Normen die Fähigkeit zugesprochen, die fallweise Geltung anderer Normen zu bestimmen. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, daß Normen unabhängig von konkreten Sachverhalten, abstrakt, und daher generell die Geltung anderer Normen programmieren können. Normen werden zum "Gegenstand" anderer Normen, werden auf Normen anwendbar. Das räumliche Bild der Über- und Unterordnung stellt diesen Entstehungs- und Geltungszusammenhang dar. Die Höchstrangigkeit der Verfassung, ihr Vorrang 83 bedeutet also: Nachrang des Gesetzes und - funktionell betrachtet - Nachrang der Gesetzgebung.84 In dieser Fassung deutet sich der zweite Sinn der Vorrangregel bereits an. Der Vorrang der Verfassung bedeutet auch eine Beschränkung und zugleich Ermächtigung von Politik. Die Beschränkung der gesetzgebenden Politik ist offenkundig. Das Verfahren der Gesetzgebung ist in Verfassungsgesetzen geregelt, der Verfügung des Gesetzgebers also entzogen. Zwar sind auch Verfassungsgesetze positives Recht und daher jederzeit änderbar. Aber eben nicht durch den einfachen Gesetzgeber. Für ihre eigene Änderung normiert die Verfassung andere Verfahren mit anderen inhaltlichen Vorgaben (Art. 79 GG). In

82

Zum folgenden Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 228 ff.

83

Isensee, Staat, S. 644.

84

Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (487).

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

69

den ihr vorgegebenen Grenzen wird die gesetzgebende Politik durch die Verfassung andererseits aber auch ermächtigt. Sie wird ermächtigt, Recht zu erzeugen, jederzeit neues Recht zu setzen, geltendes zu ändern. Politischer Wille kann so zur allgemein verbindlichen Norm werden. Das ermöglicht es der Politik, umfassend auf neue Fragen und Umstände zu reagieren, erhöht also ihre Problemverarbeitungskapazität. Vorrangig ist die Verfassung aber nicht nur gegenüber den einfachen Gesetzen und allen anderen staatlichen Normen, sondern auch gegenüber Einzelfallentscheidungen. Die Verfassung erklärt sich zum Recht des gesamten positiven Rechtes. Von ihr aus ist es möglich, alle staatlichen Akte auf Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit hin zu beurteilen. Nachrangig gegenüber der Verfassung ist also nicht nur die Gesetzgebung. Gebunden an die Verfassung sind - durch ihre Bindung und neben ihrer Bindung an Gesetz und Recht - auch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Die Verfassung erklärt sich zum Recht der gesamten Politik. Alle Politik wird von ihr gleichzeitig beschränkt und ermächtigt: rechtlich organisiert.

bb) Die Organisation von Politik Politik rechtlich zu organisieren, verlangt von der Verfassung näherhin dreierlei. Zum einen, das politische System im Verhältnis zu anderen Lebensbereichen relativ zu verselbständigen. Andere Lebensbereiche sind etwa der Privatbereich, die Religion, die öffentliche Meinung, die Wissenschaft, die Familie, die Wirtschaft. 85 Die Regelung dieser anderen Kommunikationszusammenhänge aus der Zuständigkeit der Politik auszugrenzen, bedeutet einerseits eine Beschränkung der Politik. In den ausgegrenzten Bereichen herrschen spezifische, ihrerseits selbständige Ordnungen. Andererseits wird die Politik dadurch zugunsten ihrer eigenen Aufgabe entlastet, kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen. 86 Sie kann die Frage nach Gott der Religion, die Frage nach der Wahrheit der Wissenschaft und das Problem der Knappheit der Wirtschaft überlassen. Derartige Ausgrenzungen schließen staatliche Regelungen in diesen anderen Lebensordnungen freilich nicht aus. Sie zwingen sie aber zur Rücksicht 85

Einführend in diese Form der Beschreibung der modernen Gesellschaft Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986, S. 75 ff. 86

Luhmann, Kommunikation, S. 167 (169).

70

1. Teil: § 2 Die zweite Phase: Der Streit um Artikel 146 n.F. GG

auf die bereichspezifischen Sachgesetzlichkeiten. Diese Form der - funktionalen - 8 7 gesellschaftlichen Differenzierung zu sichern, erreicht die Verfassung durch die Gewährleistung von Grundrechten. 88 Zum zweiten verlangt die Organisation von Politik, daß die Verfassung den politischen Apparat durch Organisationsrecht stabilisiert. Eine elementare Stabilisierung liegt erneut in einer funktionalen Differenzierung, nämlich der Binnendifferenzierung der Staatsgewalt. Die "Gewaltenteilung" gliedert den staatlichen Entscheidungsprozeß zeitlich in unterschiedliche Verfahren. Die Verfahren der Planung (Gesetzgebung) sind politisiert, die Verfahren der Ausführung (Verwaltung) durch das Gebot der Gesetzmäßigkeit teilweise entpolitisiert und die Verfahren der Kontrolle (Rechtsprechung) vollständig entpolitisiert. 89 Stabilisierend, weil problementlastend wirkt aber beispielsweise auch die Periodisierung der Besetzung staatlicher Ämter. Zum dritten muß die Verfassung dem politischen Apparat Mittel zur Kollektivierung seiner Entscheidungen an die Hand geben. Vor allem bedarf er der Möglichkeit zur Rechtsetzung und zur Verfügung über Finanzmittel.90 Sieht man in ihrem Vorrang, und das heißt: in der rechtlichen Organisation von Politik, die spezifische ordnende Kraft der Verfassung, wird die in der Diskussion vertretene Position verständlich, das Grundgesetz "trotz" der Wiedervereinigung nicht für ablösungsreif zu halten. Daß das Grundgesetz das politische System nicht hinreichend verselbständige, stabilisiere und zu kollektiv bindenden Entscheidungen befähige, wird ihm eben kaum entgegengehalten. Die Verfassungsneuschöpfung soll vielmehr unumgänglich sein, um ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis zu gewinnen und auszudrücken sowie die Bürger beider Teile Deutschlands zusammenzuführen. Aber genau dies: "Iden-

87

Zum Begriff der primär funktionalen (im Unterschied zu primär segmentärer und primär stratifikatorischer) Differenzierung des Gesellschaftssystems Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1 1980, S. 25 ff. 88

Grundlegend Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 3. Aufl. 1986, insbes. S. 23, 197, 211. Ebenso GerdRoellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Friedrich Schäfer/Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 1980, S. 24 (40 ff.). 89

Luhmann, Grundrechte, S. 183, FN 31.

90

Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 95.

V. Selbstverständigung oder Organisation von Politik? - Zwischenbilanz

71

titätsbestimmung und Integrationsstiftung", 91 ist für ein eher technisches Verständnis, dem die Verfassung als "rechtlich verallgemeinerte Geschäftsordnung für die drei Staatsgewalten"92 erscheint, eine Aufgabe der Politik, nicht des Verfassungsrechtes. Gleiches gilt hinsichtlich der flankierenden Forderung der Kritik, die gesamtdeutsche Verfassung sei mit weiteren materiellen Staatszielen anzureichern. Auch die Frage, ob und wie die künftige Ordnung sozialer und ökologischer auszugestalten sei,93 erscheint vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der Verfassung als eine solche der Politik, nicht als eine der Verfassung: Die Verfassung überläßt "den Bürgern, ihr Dasein wie das Gemeinwesen in die eigene Hand zu nehmen. Die reale Gestalt des Gemeinwesens hängt also ab von den Menschen, die in ihm wirken. Sie wird sich notwendig verändern, wenn die Deutschen der DDR hinzukommen (...)". Aber das bedarf "der situationsbedingten Normprogramme nicht und nicht der vorformulierten Staatsziele, weil unter den Bedingungen der grundrechtlichen und demokratischen Freiheit die Deutschen der derzeitigen DDR sich künftig spontan im gesellschaftlichen wie im politischen Leben artikulieren können". 94

91

Winfried Brugger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit?, Staatswissenschaflen und Staatspraxis 1993, S. 319 (323). 92

Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 37,40.

93

Oben § 1 II. 4. b. Zur Forderung nach mehr Demokratie noch unten § 3 VIII. 1.

94

Josef Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: W D S t R L 49 (1990), S. 39 (56 f.) und oben §1111. 3.

§ 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission I. Verfassungsrat oder Verfassungsausschuß? Die Neufassung des Art. 146 GG hat die Verfassungsfrage also nicht entschieden. Eine Entscheidung in der Sache ist von einem dilatorischen Formelkompromiß freilich auch nicht zu erwarten. Sie fallt durch dessen Ausführung. Die Ausführung des Art. 5 EV ist denn auch zunächst streitig.

1. Verfassungsrat (a) Der inhaltlichen Position der Partei entsprechend beantragt die Bundestagsfraktion der SPD am 24. April 1991 zur "Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland" die Einsetzung eines "Verfassungsrates", 1 gleichsam eines neuen Parlamentarischen Rates. Das Gremium soll aus 120 Mitgliedern bestehen, je zur Hälfte aus Männern und Frauen, die durch die Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 3 GG) mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden, und soll das Zentrum einer breiten, öffentlichen Verfassungsdiskussion bilden. Um eine solche Diskussion tatsächlich zu gewährleisten und ihrer Beschränkung auf die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes entgegenzuwirken, sollen - neben einer Beteiligung der Länderparlamente - als Mitglieder des Verfassungsrates "auch hervorragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur, aus Wirtschaft, Gewerkschaften und allen Bereichen des öffentlichen Lebens gewählt werden (können), die nicht Mitglieder des Bundestages oder des Bundesrates sind". Sachlich sollen in diesen Diskussionsprozeß "Einzelvorschläge zur Änderung, Ergänzung oder Neukonzeption von verfassungsrechtlichen Vorschriften ebenso Eingang finden können wie umfassendere Entwürfe, wie z.B. der Ent1

BT-Drs. 12/415. Diesem Antrag und seiner Begründung entstammen alle Zitate unter 1 (a).

I. Verfassungsrat oder Verfassungsausschuß?

73

wurf des 'Runden Tisches1 in der ehemaligen DDR oder Entwürfe anderer gesellschaftlicher Gruppierungen". Insbesondere bedürfe es einer Erörterung der Vorschläge zur " -

Stärkung der ökologischen und sozialen Verpflichtung des geeinten Deutschlands durch die Aufnahme einer Staatszielbestimmung Umweltschutz und durch die Konkretisierung des bestehenden Sozialstaatsgebotes zur Gewährleistung von Arbeit und menschenwürdigem Wohnen,

-

Stärkung der Gleichstellung von Mann und Frau,

-

Stärkung der Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene sowie zum Ausbau der Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,

-

Stärkung des Föderalismus in Deutschland und

-

Betonung der gewachsenen Verantwortung des geeinten Deutschlands für den europäischen Einigungsprozeß und für den Frieden in der Welt."

Dabei sei vor allem darauf zu achten, daß den Bürgerinnen und Bürgern der neuen Länder, die "aufgrund der Geschwindigkeit des Prozesses der staatlichen Einigung bisher keine Möglichkeit gehabt (haben), ihre Erwartungen und Erfahrungen in eine gesamtdeutsche Verfassung einzubringen", eben hierzu nunmehr die Gelegenheit gegeben werde, um so das "innere Zusammenwachsen in Deutschland" zu fordern. Zum Abschluß des öffentlichen Diskussionsprozesses soll der Verfassungsrat Bundestag und Bundesrat einen Vorschlag unterbreiten. Die von Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheiten beschlossene Verfassung für das geeinte Deutschland soll sodann allen Bürgerinnen und Bürgern in einer Volksabstimmung zur Entscheidung vorgelegt werden. (b) In die gleiche Richtung zielt der Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen vom 13. Mai 1991.2 Auch sie fordert die Einsetzung eines geschlechterparitätisch besetzten Verfassungsrates. Einhundertsechzig seiner Mitglieder sollen je zur Hälfte vom Bundestag und von den Volksvertretungen der Länder gewählt werden. Der Bundespräsident hat das Recht, weitere zwanzig Bürgerinnen und Bürger zu Mitgliedern zu ernennen. Auch das Bündnis 90/Die Grünen legt besonderen Wert darauf, das "Verfahren der Verfassungsgebung" der al2

BT-Drs. 12/563. Daraus auch die im Text folgenden Zitate.

74

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

leinigen Zuständigkeit der professionellen Politik zu entziehen. So sollen zur Wahl in den Verfassungsrat "insbesondere Bürgerinnen und Bürger (vorgeschlagen werden), die nicht Mitglied einer Volksvertretung sind". Bürgerinnen und Bürger sollen berechtigt sein, einzeln oder in Gemeinschaft den Volksvertretungen und dem Bundespräsidenten Kandidatinnen und Kandidaten vorzuschlagen. Herausragendes Ziel der Verfassungsgebung soll es sein, die "verfassunggebende Gewalt der Bürgerinnen und Bürger" ins Recht zu setzen und die in Deutschland in Ansätzen herausgebildete Zivilgesellschaft zu entwickeln und zu gewährleisten: "Zivilität sichert die Menschen- und Bürgerinnen- und Bürgerrechte, den Frieden und behandelt den Umgang des Menschen mit der Natur". Eine Verfassungsgebung heute müsse Demokratie mit der Ökologie untrennbar verknüpfen. Es gehe um die Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur "ökologischen Verfassung". Die hierzu erforderliche öffentliche Diskussion müsse an den Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger anknüpfen, ausformulierte Verfassungsentwürfe von gesellschaftlichen Gruppen und Bürgerbewegungen aufnehmen und "sich bewußt in die Tradition des Grundgesetzes und des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches stellen". Der vom Verfassungsrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsentwurf sei Bundestag und Bundesrat zuzuleiten. Die beiden gesetzgebenden Körperschaften legten sodann innerhalb von drei Monaten eine "Stellungnahme" vor, die der Verfassungsrat ebenso zu beraten habe wie Bürgervorschläge zum Verfassungsentwurf. Danach sei der Entwurf der gesamtdeutschen Verfassung von dem Verfassungsrat zu beschließen und den Wahlberechtigten im Verfahren des Volksentscheids vorzulegen. In diesem Verfahren entscheide die (einfache) Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

2. Verfassungsausschuß Demgegenüber richtet sich der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. vom 13. Mai 1991 auf die Einsetzung eines "Gemeinsamen Verfassungsausschusses".3 Aufgabe des Ausschusses soll es sein über "Verfassungsänderungen" zu beraten, "die den gesetzgebenden Körperschaften vorgeschla-

3

BT-Drs. 12/567. Daraus auch das im Text folgende Zitat.

II. Die politische Entscheidung

75

gen werden sollen". Bereits diese Aufgabenbeschreibung macht deutlich, daß die Antragsteller die Verfassungsfrage im wiedervereinigten Deutschland als zugunsten des Grundgesetzes beantwortet ansehen. Für eine "(verkappte) neue Verfassungsgebung bzw. Totalrevision des Grundgesetzes"4 läßt sie keinen Raum. Auch die personelle Zusammensetzung des Gremiums aus je sechzehn Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates spricht gegen den Wunsch nach einer sachlich und sozial umfassenden Verfassungsdiskussion und für den Willen zur Beschränkung auf eher punktuelle Grundgesetzänderungen. Angestrebt wurde eine "konkrete Verfassungsreform", 5 zu vollziehen alleine durch die gesetzgebenden Körperschaften.

II. Die politische Entscheidung Die beiden Anträge auf Einsetzung eines Verfassungsrates fanden in der 26. Sitzung des Bundestages am 14. Mai 1991 keine Mehrheit. Stattdessen empfahl der Ältestenrat dem Bundestag am 17. Juni 1991, den Antrag von CDU/CSU und F.D.P. im wesentlichen unverändert anzunehmen. Allerdings sollte die Zahl der Mitglieder des Gemeinsamen Verfassungsausschusses verdoppelt werden.6 Dieser Beschlußempfehlung folgte am 14. November 1991 eine zweite.7 Sie enthielt vor allem die Umbenennung des Gremiums in "Gemeinsame Verfassungskommission", die Festlegung, daß die Kommission mit Zweidrittelmehrheit entscheidet, Präzisierungen hinsichtlich der Bestimmung ihrer Mitglieder und eine Verlegung des Zeitpunktes, bis zu dem die Kommission ihren Bericht vorlegen soll, vom 30. Juni - so der Koalitionsantrag - auf den 31. Dezember 1992. Der Zeitpunkt sollte später erneut, nämlich auf den 31. März 1993 verschoben werden. 8 In dieser Form wurde die Einsetzung der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK) dann am 28. November im Bundestag und am 29. November 1991 im Bundesrat 9 beschlossen. 4

Rupert Scholz, Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, Zeitschrift für Gesetzgebung 1994, S. 1 (5). Scholz war einer der beiden Vorsitzenden der (späteren) Gemeinsamen Verfassungskommission. 5

Scholz ebda.

6

BT-Drs. 12/787.

7

BT-Drs. 12/1590 (Einsetzungsbeschluß des Bundestages).

8

BT-Drs. 12/1670 vom 28.11.1991 (Einsetzungsbeschluß des Bundestages).

9

BR-Drs. 741/91 (Beschluß).

76

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

I I I . Aufgabe, Zusammensetzung und Verfahren der G V K 1. Aufgabe Nach Nr. 5 der Einsetzungsbeschlüsse (EB) war es also Aufgabe der GVK, die am 16. Januar 1992 konstituiert wurde, über "Verfassungsänderungen und -ergänzungen" zu beraten. Sie sollte sich "insbesondere" mit den in Art. 5 EV genannten Grundgesetzänderungen befassen sowie mit Änderungen, die mit der Verwirklichung der Europäischen Union (im Rahmen des Vertrages von Maastricht) erforderlich werden würden. Adressaten der Empfehlungen der Kommission waren die gesetzgebenden Körperschaften. Sie, Bundestag und Bundesrat, behielten die alleinige Entscheidungszuständigkeit. Die Kommission hatte ausschließlich beratende Funktion. Nach Nr. 11 EB sollte ihr Bericht als Grundlage dienen für Initiativen zur Änderung des Grundgesetzes aus der Mitte des Deutschen Bundestages, durch die Bundesregierung oder durch den Bundesrat. Aufgrund der Formulierung sowohl der Einsetzungsbeschlüsse als auch des Art. 5 EV - beide zählen die Befassungsgegenstände nur beispielhaft auf: "insbesondere" - nahm die GVK im Unterschied zu normalen Ausschüssen des Bundestages oder Bundesrates ein Selbstbefassungsrecht in Anspruch. Sie entschied selbst darüber, welche Reformfragen oder Regelungsanliegen sie beraten wollte. 10 Ihrem Bericht zufolge, den sie am 28. Oktober 1993 einstimmig verabschiedete,11 flöß in ihre Beratungen auch der Bericht der vom Bundesrat am 1. März 1991 eingesetzten eigenen Kommission "Verfassungsreform" ein. 12 Ebenso der Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder vom 29. Juni 1991 und der Schlußbericht der EnquêteKommission Verfassungsreform des Bundestages vom 2. Dezember 1976.13 Begleitet wurde die Arbeit der Kommission, die in insgesamt sechsundzwanzig

10

Scholz, S. 2.

11

BT-Drs. 12/6000 vom 5.11.1993 (= BR-Drs. 800/93).

12

Einsetzungsbeschluß: BR-Drs. 103/91 (Beschluß); Bericht "Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa sowie weitere Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes": BR-Drs. 360/92 vom 14.5.1992. 13 GVK-Bericht, S. 6. Zu dem Kuratoriumsentwurf noch unten § 8 II. 2. Zum Bericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform schon oben § 1 II. 4. b.

III. Aufgabe, Zusammensetzung und Verfahren der GVK

77

öffentlichen 14 Sitzungen tagte und neun öffentliche Anhörungen durchführte, 15 von etwa 800.000 Bürgereingaben. 16

2. Zusammensetzung Nach Nr. 1 EB sollte die GVK aus insgesamt 64 Mitgliedern (und 64 Stellvertretern) bestehen. Die 32 Mitglieder (und ihre 32 Stellvertreter) aus dem Bundestag wurden auf Vorschlag der Fraktionen vom Plenum gewählt (Nr. 2 EB). Dabei entfielen - im Verhältnis der Stärke der Fraktionen - auf die Fraktion der CDU/CSU 15, auf die Fraktion der SPD 11 und auf die Fraktion der F.D.P. 4 Abgeordnete sowie auf die Gruppen Bündnis 90/Die Grünen und PDS/ Linke Liste je 1 Abgeordneter (und die jeweils gleiche Anzahl von Stellvertretern). 17 Ebenfalls 32 Mitglieder (und 32 Stellvertreter) entsandt der Bundesrat, nämlich je 2 Mitglieder (und 2 Stellvertreter) aus jedem der sechzehn Bundesländer, unabhängig von dessen Einwohnerzahl. Das Bestimmungsrecht lag bei der jeweiligen Landesregierung (Nr. 3 EB). Zu Mitgliedern bestimmt wurden überwiegend die Ministerpräsidenten und die Justizminister. Die parteipolitische Zuordnung der Mitglieder gestaltete sich - nach Wechsel und Verzicht - gegen Ende der Tätigkeit der Kommission wie folgt: 26 Mitglieder gehörten der CDU/CSU an, 6 der F.D.P. (= 32 Stimmen), 28 der SPD, 2 dem Bündnis 90/Die Grünen und 1 Mitglied der PDS/Linke Liste (= 31 Stimmen). 18 Im Hinblick auf die beiden unterschiedlichen in der Verfassungsdebatte vertretenen Grundpositionen ergab sich damit nahezu ein Stimmengleichstand.

14

Nichtöffentlich - wie in § 69 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages grundsätzlich vorgesehen - tagte die Kommission nur zum Teil in der 2. Sitzung und in der 3. Sitzung; siehe GVK, Stenographischer Bericht, 2. Sitzung, S. 9; 4. Sitzung, S. 2 f.; 9. Sitzung, S. 1. 15

Bis auf die 1. Anhörung in Berlin fanden alle Sitzungen und Anhörungen in Bonn statt; GVK-Bericht, S. 11. 16

Näher GVK-Bericht, S. 13.

17

GVK-Bericht, S. 7.

18

GVK-Bericht, S. 7, 120 ff. Dort auch die parteipolitische Zuordnung der Stellver-

treter.

78

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission 3. Verfahren

Nach Nr. 10 EB galt für das Verfahren der GVK die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Eine Besonderheit bestand gemäß Nr. 6 EB in der gemeinsamen Ausübung des Vorsitzes durch je ein Mitglied des Bundestages (Rupert Scholz) und des Bundesrates (Henning Voscherau). Diese Besonderheit betonte die Gleichwertigkeit der beiden Bänke. Die wichtigste verfahrensrechtliche Vorgabe lag indessen darin, daß die Kommission (Sach-)Entscheidungen nur mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder, also mit mindestens 43 Stimmen treffen konnte (Nr. 10 EB). Dieses Erfordernis erzwang für Kommissionsempfehlungen zur Änderung der Verfassung einen zweifachen Kompromiß. Einmal einen Kompromiß zwischen beiden Bänken, weil weder die Bundestags- noch die Bundesratsmitglieder (je 32) alleine über die ausreichende Zahl von Stimmen verfügten. Zum anderen einen Kompromiß zwischen den beiden großen Parteien, weil weder CDU/CSU noch SPD alleine oder zusammen mit kleineren Parteien 43 Stimmen erreichten. Außerdem sollte dieses Mehrheitserfordernis - aufgrund seiner Analogie zu Art. 79 Abs. 2 GG - ein deutliches Indiz dafür liefern, daß die Gesetzgebungsorgane entsprechende Vorschläge der Kommission aufgreifen und verwirklichen würden. Für die Empfehlungen der Kommission zum Thema "Grundgesetz und Europa" hat sich diese Erwartung erfüllt. Sie wurden nahezu unverändert von den gesetzgebenden Körperschaften beschlossen.19

IV. Die Kritik - zum ersten Indessen stieß bereits die Einsetzung der GVK auf Kritik. In der (Verfahrens·) Entscheidung für ein Gremium lediglich im Range eines die gesetzgebenden Körperschaften beratenden Ausschusses und in der (Verfahrens-)Entscheidung für die Notwendigkeit von Zweidrittelmehrheiten sahen viele die zweite und dritte inhaltliche Niederlage derjenigen, die für die "große" Lösung der Verfassungsfrage eintraten. Zuerst habe sich die "eher progressive Position, nach der die bewährten Strukturen des Grundgesetzes zwar beibehalten werden sollten, es gleichzeitig 19

Siehe BGBl. 19921 S. 2086 und GVK-Bericht, S. 9 und S. 19-30.

IV. Die Kritik - zum ersten

79

aber zu einer Erneuerung und grundlegenden Modernisierung der verfassungsrechtlichen Basis des deutschen Staates auf der Grundlage einer breiten öffentlichen Verfassungsdiskussion kommen sollte", 20 bei der Regelung in Art. 5 EV nicht durchgesetzt. Zur Formulierung eines rechtlich verpflichtenden Auftrags zur Verfassungsneugebung sei es nicht gekommen.21 Nun dringe mit der Installierung der GVK, eines "personell und statusmäßig begrenzten Gremiums zur Vorbereitung etwaiger Verfassungsänderungen", 22 erneut die "eher konservative Position" durch, "nach der sich das Grundgesetz in seiner bisherigen Fassung bewährt und die Kontinuität der Verfassung im Vordergrund zu stehen habe". 23 Denn die Entscheidung zugunsten eines Gremiums, dem ausschließlich aktive Parteipolitiker angehörten, überlasse die Verfassungsrevision dem "Bonner Routinebetrieb" 24 und begrenze damit von vornherein die Reichweite der Empfehlungen zu Lasten weitergehender und zugunsten in Bundestag und Bundesrat zweidrittelmehrheitsfahiger Veränderungsvorschläge. 25 Dabei wirke die Festlegung auf Zweidrittelmehrheiten als Voraussetzung für Kommissionsempfehlungen als zusätzlicher Filter. Sie prämiere die beharrende Position. Die konservativen Kommissionsmitglieder verfügten über die Sperrminorität. 26 Kurzum, auch zu Beginn der dritten Phase der Verfassungsdiskussion lautet die Kritik, der Verfassungsprozeß verlaufe nicht grundlegend und weitreichend, gleichsam nicht existentiell genug, und, weil ohne unmittelbare Beteiligung des Volkes, nicht demokratisch genug.27 Und diese Kritik sieht sich durch den inhaltlichen Ertrag der Arbeit der Kommission bestätigt. 20

Helge-Lothar Batt, Verfassungspolitik im vereinigten Deutschland, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 211 (215). 21

Batt, S. 214.

22

Batt, S. 216.

23

Batt, S. 215.

24

Dieter Grimm, Verfassungsreform in falscher Hand?, Merkur 1992, S. 1059

(1060). 25

Batt, S. 217.

26

Art/, S. 219,221.

27

Das Demokratiedefizit der (Arbeit der) GVK beklagt besonders deutlich Wolfgang Ulimann (Bündnis 90/Die Grünen) in der Begründung seiner Entscheidung, seine Arbeit in der Kommission ab dem 6.5.1993 einzustellen: GVK, Stenographischer Bericht, 21. Sitzung, S. 10 f. Siehe aber auch die Auffassung der PDS/Linke Liste: GVK-Bericht, S. 7.

80

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

V. Befassungsgegenstände und Empfehlungen der G V K 1. Befassungsgegenstände Die GVK hat sich in den zweiundzwanzig Monaten ihrer Beratungen und Anhörungen 28 mit einer Fülle von Themen befaßt. 29 Neben dem Komplex Grundgesetz und Europa (E) 3 0

( 1)

unter dem Titel (2)

Bund und Länder -

zur Stärkung der Gesetzgebungsmacht der Länder mit den Gesetzgebungskompetenzen und dem Gesetzgebungsverfahren im Bundesstaat

(E) -

zur Stärkung des Föderalismus allgemein mit dem Verwaltungsaufbau (E)

-

mit der territorialen Neugliederung des Bundesgebiets (E) einschließlich

-

der Neugliederung des Raumes Berlin/Brandenburg (E)

-

und mit der Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung (E)

unter dem Titel (3)

Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz -

mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (E)

28

Die 9 öffentlichen Anhörungen fanden zu folgenden Themen statt: Grundgesetz und Europa (22.5.1992); Staatsziele und Grundrechte (16.6.1992); Bürgerbeteiligung/Plebiszite (17.6. 1992); Parlamentsrecht und Amtszeit des Bundespräsidenten (10.9.1992); Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Männern (5.11.1992); Artikel 6 GG (10.12.1992); Staatliche Souveränität und militärische Verteidigung (11.2.1993); Anhörung zu Artikel 16 GG (11.3.1993) und Rechte ethnischer Minderheiten (6.5.1993). 29

GVK-Bericht, S. 19-118. Befassungsgegenstände, zu denen die Kommission eine Empfehlung aussprach, sind mit "E" gekennzeichnet. 30

Dazu schon oben unter III. 3.

V. Befassungsgegenstände und Empfehlungen der GVK -

dem Tierschutz

-

dem Schutz ethnischer Minderheiten (E)

-

81

mit sozialen Staatszielen (Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, Bildung und Kultur)

-

sowie mit dem Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in der Verfassung

unter dem Titel (4)

Präambel und Art. 146 GG -

mit der Aufnahme eines Ausdrucks der internationalen Verantwortung der Bundesrepublik als eines leistungsfähigen Industriestaates und

-

mit der Aufnahme des Ziels des inneren Zusammenwachsens Deutschlands in die Präambel

-

mit der Streichung der Bezugnahme auf Gott aus der Präambel

-

mit Art. 146 (n.F.) GG

-

und mit einem Verfassungsreferendum

unter dem Titel (5)

Grundrechte -

mit der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (E)

6 Huba

-

mit Benachteiligungsverboten (Behindertenrechte, sexuelle Identität)

-

mit der Ausdehnung des Schutzes von Art. 6 Abs. 1 GG auf andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften

-

mit der Aufnahme besonderer Kinderrechte in die Verfassung

-

mit der Ergänzung des Grundgesetzes um ein (ausdrückliches) Recht auf informationelle Selbstbestimmung

-

mit dem Asylrecht

82

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission -

und mit der Unverletzlichkeit der Wohnung und dem sog. großen Lauschangriff

unter dem Titel (6)

Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid mit der Einführung von Formen unmittelbarer Demokratie

zum Thema (7)

Parlamentsrecht unter anderem -

mit einem Selbstauflösungsrecht des Bundestages

-

mit Oppositions- und Fraktionsrechten

-

mit der Bildung einer Ostdeutschen Kammer zur institutionellen Absicherung der Interessen der Bürger in den neuen Ländern

-

mit der Verlängerung der Wahlperiode

-

und mit der Einrichtung eines Ökologischen Rates zur Sicherung ökologischer Anliegen im Gesetzgebungsverfahren

zum Thema (8)

Wahlrecht mit -

einem allgemeinen kommunalen Ausländerwahlrecht

-

der Zusammenlegung von Landtagswahlterminen

-

der Verringerung der Zahl der Bundestagsabgeordneten

-

der Stärkung der Rechte der Wähler und der Parteimitglieder

-

und mit der Wahl und Amtszeit des Bundespräsidenten

(9)

mit dem Themenkomplex Staatliche Souveränität und militärische Verteidigung (Auslandseinsätze der Bundeswehr), Rüstung, Wehrdienst, Kriegsdienstverweigerung

(10)

mit dem Staatskirchenrecht

V. Befassungsgegenstände und Empfehlungen der GVK (11)

83

und mit weiteren Einzelfragen: -

Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts

-

Änderung des Finanzverfassungsrechts

-

Privatisierung der Deutschen Bahnen und der Bundespost

-

Staatshaftungsrecht

-

sowie mit dem Schutz betroffener Personen vor Diskriminierung wegen ihrer Haltung zur DDR.

2. Empfehlungen a) Die Änderungsempfehlungen Ein Blick auf den Katalog 31 der von der GVK vorgeschlagenen Verfassungsänderungen (einschließlich -ergänzungen) 32 zeigt, daß deren quantitativer wie inhaltlicher Schwerpunkt eindeutig im staatsorganisationsrechtlichen Teil des Grundgesetzes liegt. Ihm gelten - sieht man von der Bestimmung der europäischen Einigung zum Staatsziel (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 n.F. GG) und von der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Staatsangehörige eines EGMitgliedsstaates (Art. 28 Abs. 1 Satz 3 n.F. GG) einmal ab - alle Änderungsempfehlungen zu den Themenkomplexen "Europa" und "Bund und Länder". Den Bereich Präambel, Grundrechte und Staatsziele, den primären Bereich gesellschaftlicher Identitätsbestimmung und Integrationsstiftung, 33 betreffen lediglich drei, nämlich die drei verbleibenden Änderungsempfehlungen: -

die Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG um einen Satz 2: "Der Staat fordert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."

31

Näher GVK-Bericht, S. 15-18.

32

Auch Verfassungs(text)ergänzungen sind Verfassungs(text)änderungen, Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG. Verfassungsänderung ist jede Veränderung des Verfassungstextes. 33

Siehe oben unter § 2 V. 2. b) bb).

84 -

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission die Einfügung eines Art. 20 a GG: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung." und

-

die Einfügung eines Art. 20 b GG: "Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten."

b) Belassungsempfehlungen? Andererseits hat die GVK aufgrund des von ihr in Anspruch genommenen Selbstbefassungsrechts, weit über die in den Einsetzungsbeschlüssen und in Art. 5 EV ausdrücklich genannten Befassungsgegenstände hinaus, etwa die Hälfte aller Artikel des Grundgesetzes überprüft und über annähernd neunzig Änderungsanträge beraten. Gelangte sie gleichwohl "nur" zu den angesprochenen Änderungsempfehlungen, kann man darin auch die (stillschweigende) Empfehlung sehen, das geltende Verfassungsrecht im übrigen so zu belassen wie es ist. 34 Das gilt beispielsweise hinsichtlich der Entscheidung der Kommission, keine Änderungsempfehlungen zugunsten einklagbarer sozialer Grundrechte abzugeben oder auch nur zugunsten objektiv-rechtlicher Staatszielbestimmungen in bezug auf Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit sowie Bildung und Kultur. Es gilt aber auch hinsichtlich der Anreicherung des Grundgesetzes mit Formen unmittelbarer Demokratie wie Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Die Nicht-Empfehlung verstärkter unmittelbarer Bürgerbeteiligung ist dann eine Bestätigung des grundgesetzlichen Prinzips der repräsentativen Demokratie.

34

So etwa Rupert Scholz, Die Gemeinsame Verfassungskommission. Auftrag, Verfahren und Ergebnisse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament) Β 52-53/93 vom 24.12.1993, S. 3 und Josef Isensee, M i t blauem Auge davongekommen - das Grundgesetz, NJW 1993, S. 2583 f. Dezidiert anderer Auffassung Hans-Jochen Vogel, Die Reform des Grundgesetzes nach der deutschen Einheit, DVB1 1994, S. 497 (498): "Daß sich ein neuer Verfassungskonsens nicht hat finden lassen, bedeutet indes keine positive Bestätigung des Unveränderten oder gar einen Verfassungskonsens gegen Veränderung: Keine Empfehlung für eine Veränderung ist nicht die Empfehlung, nichts zu ändern." - Zum Erklärungswert der Nicht-Empfehlung einer Änderung sogleich noch unter VI. 2.

VI. Zwei Bewertungsmaßstäbe

85

VI. Zwei Bewertungsmaßstäbe 1. Zwei Grundforderungen Die Einschätzung der Arbeit der GVK hängt demnach davon ab, ob man ihre Ergebnisse vor dem Hintergrund der politischen und sachlichen Forderung nach "Belassen" oder vor dem Hintergrund der Forderung nach "Verändern" sieht. Aus Sicht der ersten Forderung erscheint als Erfolg, was aus Sicht der zweiten zur Kritik gereicht: Die verfassungsgesetzgeberische Ausführung der Änderungsempfehlungen der GVK machte das Grundgesetz allenfalls europäischer und föderativer, aber kaum - wie doch vor allem gefordert - 3 5 ökologischer und sozialer und schon gar nicht (unmittelbar-) demokratischer. So gesehen ist es nicht nur politisch, sondern auch sachlich durchaus nicht unzutreffend, die sich gegenüberstehenden Positionen als "konservativ" und "progressiv" zu kennzeichnen.36

2. Zwei gegensätzliche Begründungslastverteilungen Der Gegensatz läßt sich indessen präziser fassen. Die Ergebnisse der Verfassungsdiskussion vor dem Hintergrund der Forderung nach "Belassen" zu bewerten, ist die Konsequenz eines eher technischen Verständnisses der Verfassung und damit der Verfassungsfrage. 37 Sieht man die Aufgabe der Verfassung schlicht darin, als höchstrangiges Gesetz Politik zu organisieren, löst alleine die Fusion der DDR mit der Bundesrepublik keinen grundlegenden, strukturellen Änderungsbedarf hinsichtlich des Grundgesetzes aus. Nach wie vor muß Politik rechtlich organisiert werden. Die Grunderwartung ist also verfassungsrechtliche Kontinuität (Normallage). Diese Grunderwartung hindert zwar nicht die Frage, ob und wie Politik besser organisiert werden kann. Aber das Vorhandensein von Mängeln und deren Beseitigung durch vorgeschlagene Veränderungen zu begründen, ist dann Aufgabe dessen, der solche Mängel behauptet: Die Begründungslast trifft den "Veränderer". Die Verbesserung muß gleichsam Punkt für Punkt, Norm für Norm und insofern "konkret" 38 belegt werden. 35

Oben § 1 I I 4. b.

36

Oben IV.

37

Oben unter § 2 V. 2. b) bb).

38

Oben 1.2. (FN 5).

86

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission Nach dem vereinbarten Verfahren der GVK gilt - jedenfalls politisch - als

Beleg fur Verbesserung, daß ein Veränderungsvorschlag eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Vorschläge, die diese Mehrheit finden, sollen im Verfahren der Verfassungsänderung verwirklicht werden. Vorschläge, die diese Mehrheit verfehlen, können nicht als Verfassungsverbesserungen gelten - und bestätigen deshalb das geltende Verfassungsrecht. Keine Empfehlung für eine Veränderung ist dann sehr wohl die Empfehlung, nichts zu ändern. 39 Geht man demgegenüber davon aus, daß sich eine Gesellschaft im Akt der Verfassungsgebung und in der Verfassung über sich selbst verständigt und sich ihrer Einheit vergewissert, 40 ist die Grunderwartung im Falle der Fusion zweier Staaten die Erwartung verfassungsrechtlicher Diskontinuität (Gründungssituation). Denn die Fusion bewirkt die Entstehung einer neuen, nicht ohne weiteres integrierten und identifizierten Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des Bedürfnisses nach einem neuen "Wir" und dessen Ausdruck in der Verfassung erscheint aber die Beibehaltung geltenden Verfassungsrechts als rechtfertigungspflichtige Ausnahme: Die Begründungslast liegt beim "Bewahrer".

V I I . Die Kritik - zum zweiten (Zusammenfassung) Daß mit und neben der Einsetzung der GVK auch Verlauf und Ergebnis ihrer Arbeit auf Kritik gestoßen sind, kann danach nicht überraschen. Aus der Sicht der Kritiker hat die dritte Phase der Verfassungsdiskussion die zutreffende Begründungs- und Beweislastverteilung endgültig "verkehrt": 41 "Nicht mehr die Westdeutschen hatten zu beweisen, daß sich das Grundgesetz bewährt hatte, sondern alle, die etwas an der Verfassung ändern wollten, sollten den Reformbedarf darlegen." 42 War mit dieser Begründungs- und Beweislastumkehr bereits verkannt, daß sich das wiedervereinigte Deutschland in einer Gründungssituation befand, erachtet die Kritik die Verfassungsreform darüber hinaus hauptsäch-

39

Dies gegen Vogel (FN 34).

40

Oben § 2 V. 2. a.

41

Jürgen Seifert, Die gescheiterte Erneuerung des Grundgesetzes, Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 1993, S. 90 (91). 42

Lotte Incesu, Verspielte Chance, Kritische Justiz 1993, S. 475 (477 f.).

VII. Die Kritik - zum zweiten (Zusammenfassung)

87

lieh 43 deshalb als gescheitert, weil sie die "demokratische Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern in allen Fragen von Staat und Gesellschaft" 44 nicht verstärkt hat und - nicht zuletzt auch dadurch - nicht "ein wesentlicher Faktor, ja ein Katalysator des Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands"45 geworden ist, also keinen nennenswerten Beitrag zur "inneren Einheit" geleistet hat. Die für das Versagen der GVK angegebenen Gründe knüpfen an die Einsetzungskritik an. 46 Neben der Verfahrensregel, nach der das geltende Verfassungsrecht schon mit leicht erreichbarer (Sperr-)Minorität zu bewahren gewesen sei, soll sich das Scheitern vor allem aus der personellen Zusammensetzung der Kommission erklären: aus der Rekrutierung aus aktiven Partei- und Berufspolitikern (1), zumal aus solchen der Bonner politischen Klasse (2). (1) Die Besetzung des Reformgremiums ausschließlich mit aktiven Parteipolitikern soll zweierlei bewirkt haben. Zum einen die Degradierung der Verfassungsrevision. Aus einem Akt "in dem das Volk nach dem säkularen Ereignis der Wiedervereinigung seine revidierte Grundordnung legitimiert" sei ein "parlamentarisches Routinegeschäft der Parteien" geworden. 47 Ohne ein Verfassungsreferendum fehle es aber nicht nur an einer selbstbewußten Aneignung der gesamtdeutschen Verfassung durch die Bevölkerung insbesondere der früheren DDR. Ohne eine Volksabstimmung werde auch die Funktion der Verfassung aufs Spiel gesetzt. Überlasse man die Verfassungsrevision alleine den Akteuren der laufenden Tagespolitik, vollziehe sie sich auch nach den Bedingungen der Tagespolitik. Dadurch aber ebne sich die Differenz zwischen der alltäglichen Politik, der die Verfassung erst den inhaltlichen und organisatorischen Halt

43

Gescheitert sein soll die Verfassungsreform daneben, weil die G V K von einer Beratung des Themenkomplexes "Finanzverfassung" abgesehen hat, Bericht, S. 114 f. So etwa Jürgen Roth, Bürgerbewegte Zwischenbilanz der Kommissionsarbeit, in: Bernd Guggenberger/Andreas Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994, S. 39 (42). Weitere Kritikpunkte bei Hans-Peter Schneider, Das Grundgesetz - auf Grund gesetzt?, NJW 1994, S. 558 ff. 44

Seifert, Gescheiterte Erneuerung, S. 94.

45

Die Formulierung stammt aus der Denkschrift zum Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, siehe Bernd Guggenberger/Ulrich K. Preuß/Wolfgang Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung fur Deutschland, 1991, S. 21 (28), wo von der Verfassunggebung "als Motor der Einheit" die Rede ist. 46

Oben IV.

47

Grimm, Verfassungsreform, S. 1071.

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

88

gebe, und ihren dauerhafteren Rahmenbedingungen ein. Die der Verfassung unangemessene Zeitdimension der Augenblicksbedürfhisse und Wahltermine schiebe sich in den Vordergrund, während Themen ohne Naheffekte, Probleme mit Spätfolgen oder gar grundsätzliche Strukturschwächen der Verfassung zurückträten. 48 Zum anderen soll die Tatsache, daß die Einsetzung der Kommission die Verfassungsreform ganz in die Hände der politischen Parteien gegeben habe, die notwendige Anreicherung der Verfassung mit Formen direkter Demokratie verhindert haben. Aus Sicht der Parteien erscheine die unmittelbare Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen als Schmälerung ihrer Macht und ihres Einflusses, als bedrohliche Konkurrenz. 49 Von einem Gremium der Art der GVK sei folglich nicht zu erwarten gewesen, daß es die politischen Parteien durch die Einfügung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz begrenzen und so der "Schwäche der vollen Professionalisierung der Politik" 50 verfassungsrechtlich entgegenwirken würde. (2) Gescheitert sein soll die Verfassungsreform aber auch daran, daß die GVK ihre Aufgabe gleichsam nur durch die westdeutsche Brille wahrgenommen hat. So habe sie sich im wesentlichen nur zu solchen Vorschlägen für Verfassungsänderungen durchringen können, die in der alten Bundesrepublik schon vor der Wiedervereinigung grundsätzlich diskutiert worden seien. Lediglich die Bestimmungen zum Schutz ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten (Art. 20 b) sowie zum Verfahren einer möglichen Vereinigung von Berlin und Brandenburg (Art. 118 a) seien wiedervereinigungsbedingt. Die Empfehlungen ergäben sich also weitestgehend aus den Erfahrungen und Ausgangsbedürfhissen von Deutschland West. 51 Die fast ausschließlich westdeutsche Sicht soll auch in der Ablehnung sozialer Staatszielbestimmungen zum Ausdruck kommen, die den neuen Bundesbürgerinnen und -bürgern die Identifikation

48

Grimm, Verfassungsreform, S. 1060. Gleichsinnig Incesu, S. 477; Arthur Benz, Verfassungsreform als politischer Prozeß, DÖV 1993, S. 881 (883). 49

Roth, S. 41 f.

50

Hans Meyer, Das ramponierte Grundgesetz, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1993, S. 399 (428). 51

Michael Kloepfer, Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung. Die Verfassungskommission wird dem vereinten Deutschland nicht gerecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.2.1994, S. 8.

VII. Die Kritik - zum zweiten (Zusammenfassung)

89

hätten erleichtern sollen. 52 Durch ihr Verharren in der West-Perspektive soll die Kommission zwei zentrale Aufgaben der Verfassungsgestaltung im vereinten Deutschland verfehlt haben, nämlich die Bewältigung der DDR-Vergangenheit und die Aufgabe der Lastenverteilung zwischen Ost und West.53 Jede Verfassung sei "auch so etwas wie das kollektive Gedächtnis eines Volkes". In dem, was sie verhindern oder auch erhalten wolle, "registriert und verarbeitet die Verfassung die Geschichte einer Nation". Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, hätte die Verfassung aller Deutschen "die Erlebnisse der über vierzigjährigen Trennung verarbeiten und Konsequenzen fur die Zukunft ziehen", die rechtsstaatswidrigen Erscheinungen der DDR aufarbeiten müssen. Der Versuch der "Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung" sei indessen unterblieben, 54 obwohl mit den Verfassungsentwürfen des Runden Tisches der DDR und des Kuratoriums fur einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder Vorarbeiten zur Verfugung gestanden hätten.55 - Ohne eine erneute verfassungsrechtliche Auswertung der Erfahrungen mit einer Diktatur soll das Grundgesetz der Bevölkerung der ehemaligen DDR offenbar also fremd bleiben. Daneben sei es nicht zu einer angemessenen Verteilung der Veränderungslasten der Wiedervereinigung gekommen. Die Integration "der beiden Teilgesellschaften" könne jedoch nicht gelingen, wenn ausschließlich "der Osten aufs Lernen verwiesen" werde und der Westen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen die Führungsrolle beanspruche. Die Kenntnisse und Fähigkeiten, Orientierungsmuster und Verständigungsweisen Ostdeutscher hätten deshalb möglicherweise im Wege einer Quotenregelung - in ihr Recht gesetzt werden müssen.56 Statt dessen soll die GVK aber gerade nicht zur "geistigen" Vollendung der Einheit Deutschlands gehandelt,57 das Problem der "inneren Einheit", der "inneren Verständigung in Deutschland" vielmehr "verdrängt" haben.58

52

Tilman Ever s, Entsorgte Einigung, in: Guggenberger/Meier, S. 50 (51 f.).

53

Grimm, Verfassungsreform, S. 1062.

54

Alle Zitate: Kloepfer,

55

Evers, S. 52.

56

Grimm, Verfassungsreform, S. 1062 f.

S. 8.

57

Kloepfer,

58

Hans-Peter Schneider, Grundgesetz, S. 558 f.

S. 8.

90

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

Alles in allem beklagen die Kritiker der GVK ein Defizit der gesamtdeutschen Verfassung an unmittelbarer politischer Teilhabe der Bürger und an gesellschaftlicher Identitätsbestimmung und Integrations-, ja Solidaritätsstiftung. 59 Die Grundgesetz-Reform hat jenen für erforderlich gehaltenen verfassungsgebenden Akt, aus dem dies alles in nuce hätte erwachsen sollen, auch inhaltlich nicht ersetzt: die zivilgesellschaftliche Neugründung, 60 den Abschluß eines Gesellschaftsvertrages, in dem die Bürger beider Staaten die Bedingungen festlegen, unter denen man füreinander einstehen will. 6 1 Und daß es weder formal noch inhaltlich zu einer Neukonstituierung des vereinigten Deutschland gekommen ist, soll ausschließlich politische Gründe haben. Die Neukonstitution soll an dem entgegenstehenden politischen Willen (in) der alten Bundesrepublik, zuletzt (in) der GVK gescheitert sein - nicht etwa an der beschränkten Aufgabe und Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechtes.

V I I I . Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion 1. Die Gesetzentwürfe a) SPD Die Enttäuschung über Art und Umfang der von der GVK vorgeschlagenen Verfassungsänderungen findet alsbald ihren parlamentarischen Niederschlag. Noch bevor der Bundesrat einen alle Kommissionsempfehlungen zu einem Paket zusammenfassenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes beim Bundestag einbringt, 62 und die Bundestagsfraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. die parlamentarische Beratung mit einem wortidentischen Gesetzentwurf eröffnen, 63 legt die Fraktion der SPD einen eigenen Ge59

Denkschrift zum Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 39; Ulrich K. Preuß, Brauchen wir eine neue Verfassung?, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 14 f.; Jürgen Habermas, Vergangenheit als Zukunft, 1993, S. 195. 60

Oben unter § 2 IV. 1.

61

Habermas, Vergangenheit, S. 196.

62

A u f Antrag des Landes Rheinland-Pfalz vom 3.12.1993 (BR-Drs. 886/93) am 17.12.1993 einstimmig beschlossen, BR-Drs. 886/93 (Beschluß); am 17.3.1994 von der Bundesregierung dem Bundestag zugeleitet, BT-Drs. 12/7109. 63

BT-Drs. 12/6633 vom 20.1.1994.

VIII. Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion

91

setzentwurf vor. 64 Der Gesetzentwurf der SPD enthält die wichtigsten ihrer Vorschläge, die in der GVK nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit gefunden haben, und soll den interfraktionellen Gesetzentwurf ergänzen. Einem lediglich nach den Kommissionsempfehlungen reformierten Grundgesetz soll es nicht nur an der Kraft fehlen, dem Gemeinwesen in einer Zeit tiefgreifender Veränderung "konkrete Orientierung" geben zu können, sondern eben auch an "integrierender und identitätsstiftender Wirkung im Rahmen des deutschen Einigungsprozesses" , 6 5 Um diese Defizite abzugleichen, setzt der Gesetzentwurf vor allem drei Akzente. Er ergänzt das Grundgesetz um das Staatsziel "innere Einheit" (1), um die sozialen Staatsziele Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit sowie Bildung und Kultur (2) und um drei Formen unmittelbarer Demokratie (3). (1) Die wirtschaftliche, die soziale und die Einheit im Bewußtsein der Menschen zu vollenden, habe sich als schwieriger und langwieriger erwiesen als zunächst erwartet. Die Aufgabe der Angleichung der unterschiedlichen Lebensverhältnisse müsse daher in der Präambel der Verfassung "abgestützt" werden. 66 (2) Außerdem müßten sich die Menschen mit ihren Zielen und Bedürfhissen in der Verfassung wiederfinden können, um sie als ihre Verfassung akzeptieren zu können. Dem dienten die Verpflichtung des Staates, zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beizutragen (Art. 20 b), seine Verpflichtung, die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum zu fördern (Art. 20 c), seine Verpflichtung, ein System der sozialen Sicherheit zu gewährleisten (Art. 20 d) und die Verpflichtung des Staates, den Zugang eines jeden Menschen zur Bildung sowie das kulturelle Leben seiner Bürger zu schützen und zu fördern (Art. 20 e). 67 (3) Darüber hinaus soll die Differenz zwischen der elementaren Rolle, die das Volk für die Wiedervereinigung gespielt hat, und der marginalen Rolle, die ihm während der Herstellung der staatlichen Einheit zugewiesen wurde, die Defizite der strikt repräsentativ ausgerichteten Parteiendemokratie besonders deutlich gemacht haben. Die große Zahl von Bürgerbewegungen und -initiati64

BT-Drs. 12/6323 vom 1.12.1993.

65

So die Begründung des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion, BT-Drs. 12/6323, S. 7.

66

Begründung, BT-Drs. 12/6323, S. 10.

67

Begründung, BT-Drs. 12/6323, S. 7.

92

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

ven auf kommunaler wie auf Landes- und Bundesebene zeige den Willen der Bevölkerung, sich aktiv fur das Gemeinwesen einzusetzen und an seiner Ausgestaltung mitzuwirken. Andererseits belegten der zunehmende Anteil von NichtWählern und die Hinwendung zu radikalen Parteien, daß wachsende Teile der Bevölkerung sich von den etablierten Parteien und ihren Vertretern in den Staatsorganen nicht mehr hinlänglich repräsentiert fühlten. Diesem Zustand der Entfremdung zwischen Politik und Bürgern, zwischen Repräsentanten und Repräsentierten sei dadurch zu begegnen, daß man den Bürgern über die Teilnahme an Wahlen hinaus weitere Möglichkeiten unmittelbarer Einflußnahme auf die politische Willensbildung und auf staatliche Entscheidungen einräume. Die Fortentwicklung des parlamentarisch-repräsentativen Systems des Grundgesetzes zu einer "partizipativen Demokratie" sei geeignet, das faktische "Politikmonopol" der Parteien zu brechen. 68 Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sieht deshalb ein dreistufiges Verfahren der Volksgesetzgebung vor (Art. 82 a). Durch Volksinitiative können die Bürger den Bundestag mit bestimmten Gegenständen befassen. Gegenstand einer Volksinitiative kann auch ein mit Gründen versehener Gesetzentwurf sein, der den Erlaß, die Aufhebung oder die Änderung eines Bundesgesetzes zum Ziel hat. Anträge über den Haushalt und über öffentliche Abgaben sind unzulässig. Eine Volksinitiative kommt zustande, wenn 0,5 Prozent der Wahlberechtigten zum Bundestag sie unterzeichnen. Stimmt der Gesetzgeber einem dem Anliegen der Volksinitiative entsprechenden Gesetzentwurf nicht zu, findet auf Antrag der Vertreter der Initiative ein Volksbegehren statt. Kommt ein Volksbegehren zustande, weil ihm 5 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen und trägt der Gesetzgeber ihm nicht Rechnung, ist ein Volksentscheid durchzuführen. Im Falle der Zustimmung einer entsprechenden Mehrheit, ist der Gesetzentwurf angenommen. Dieses direktdemokratische Verfahren der Gesetzgebung soll auch für Verfassungsänderungen gelten.

b) Bündnis 90/Die Grünen In dieselbe Richtung wie der Gesetzentwurf der Fraktion der SPD weist der Entwurf eines Gesetzes zur Verfassungsreform des Abgeordneten Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen. 69 Auch diese Vorlage strebt, 68

Begründung, BT-Drs. 12/6323, S. 26 f.

69

BT-Drs. 12/6686 vom 27.1.1994.

VIII. Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion

93

allerdings entschiedener,70 neben dem ökologischen vor allem den sozialen und direktdemokratischen Aus- bzw. Umbau der grundgesetzlichen Ordnung an. Nur eine "solidarische Zivilgesellschaft, in der das Wohl und die Stärke aller aus dem Schutz der Schwachen erwächst" soll die Aufgaben der Zukunft bewältigen können.71 Der Entwurf der Gruppe versteht sich indessen nicht als abschließendes Ergebnis der Verfassungsreform. Die Bürger seien an diesem Prozeß noch zu beteiligen. Es habe sich als "unkorrigierbarer Fehler" erwiesen, daß keine verfassunggebende Versammlung einberufen worden sei, deren Arbeit - anders als die der GVK - durch Bürgervorschläge sinnvoll hätte begleitet werden können. Deshalb müsse den Bürgerinnen und Bürgern jetzt das Recht zukommen, im Wege des Volksbegehrens Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes zu beantragen und im Wege des Volksentscheids zu beschließen. Das "eigentliche Verfassungsreferendum", bei dem die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden soll, könne dann auf der Grundlage der bereits von den Bürgerinnen und Bürgern beschlossenen Verfassungsänderungen und -ergänzungen stattfinden. 72

c) PDS/Linke Liste Einen Volksentscheid, allerdings über eine "neue" Verfassung, fordert auch die Gruppe der PDS/Linke Liste mit ihrem Entwurf eines Gesetzes über die Annahme einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes.73 Der beigefügte Entwurf einer "Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland", der laut Begründung 74 "viele Regelungen des Grundgesetzes (übernimmt)", sich 70

Siehe neben einem Vergleich hinsichtlich der sozialen Staatszielbestimmungen und hinsichtlich der Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid etwa die Einrichtung eines Ökologischen Rates, der an der Gesetzgebung mitwirkt, die Gewährleistung der Quotierung bei der Vergabe öffentlicher Ämter und die geforderte Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk. 71

BT-Drs. 12/6686, S. 1.

72

So der Beschlußantrag des Abgeordneten Wolfgang Ulimann und der Gruppe Bündnis 90/ Die Grünen zur Durchführung eines Verfassungsreferendums nach Artikel 146 des Grundgesetzes vom 1.2.1994, BT-Drs. 12/6716. 73

BT-Drs. 12/6570 vom 12.1.1994.

74

BT-Drs. 12/6570, S. 38.

94

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

aber gleichwohl "in der Tradition" des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches der DDR sowie des Kuratoriumsentwurfs sieht und "in vielem den strukturellen Lösungen und den Detailregelungen" der neuen Verfassung fur das Land Brandenburg folge, soll zunächst von Bundestag und Bundesrat jeweils mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden. Sodann soll er allen stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zur Entscheidung über die Annahme vorgelegt und "an Stelle des Grundgesetzes" beschlossen werden. 75 Die Verfassungsneuschöpfung ist abgeschlossen, wenn der Entwurf die Zustimmung der Mehrheit der abgegebenen Stimmen findet, sofern diese Mehrheit mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfaßt (§ 2 Abs. 5 des Gesetzentwurfs).

d) Der Gesetzentwurf zu Art. 2 a Gegenstand der ersten Debatte des Bundestages zu den Empfehlungen der GVK am 4. Februar 1994 war aber nicht nur die erste Beratung der bereits genannten Gesetzentwürfe, sondern auch die erste Lesung eines Gesetzentwurfs einer fraktionsübergreifenden Gruppe von 354 Abgeordneten. 76 Dieser Entwurf w i l l - neben Freiheit und Gleichheit - der dritten Dimension neuzeitlicher Grundwerte, der Brüderlichkeit, stärkere Geltung verschaffen. Dazu soll das Grundgesetz durch einen als Art. 2 a aufzunehmenden Appell ergänzt werden: "Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen". "Mitmenschlichkeit" meine eine Entsprechung zu dem religiös gebundenen Begriff der Nächstenliebe und richte den Blick auf den konkreten, individuellen Umgang einzelner Menschen miteinander. So wie Freiheit nur unter grundsätzlich Gleichgestellten möglich sei, "entwickelt sich auch das Bewußtsein eigener Würde aus wechselseitiger Kommunikation zwischen Menschen, die einander als Gleiche in ihrer Würde anerkennen". Der Begriff des Gemeinsinns hebe den der Mitmenschlichkeit auf die überindividuelle Ebene. Er bedeute "die Verantwortung eines jeden für die Kommune, den Staat, für Europa, aber auch für die eine Welt und ihre Lebensgrundlagen". 77

75

BT-Drs. 12/6570, S. 4.

76

BT-Drs. 12/6708 vom 31.1.1994.

77

BT-Drs. 12/6708, S. 5.

VIII. Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion

95

Der Aufruf versteht sich nicht als eine zusätzliche Grundrechtsschranke. Er äußere eine "Verfassungserwartung". Nämlich die "ethische Erwartung" an jeden Menschen, seine Freiheitsrechte nicht rücksichtslos, sondern verantwortlich auszuüben.78 Damit schütze er das Freiheitsversprechen der Abwehrrechte des Grundgesetzes "durch die Hervorhebung von Elementen des älteren republikanischen Demokratieverständnisses" vor seinen selbstzerstörerischen Momenten.79 Die Aufnahme des Appells in die Verfassung sei angesichts der allgegenwärtigen Klage über "das Fehlen menschlicher Wärme", aber auch als ethische Orientierung auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands unerläßlich. 80

2. Das Ergebnis Der Gesetzentwurf zu Art. 2 a ist in zweiter und dritter Lesung im Bundestag am 30. Juni 1994 ebenso gescheitert wie die Vorlagen der Gruppen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/Die Grünen. Gescheitert ist aber auch der Entwurf der SPD, und zwar auch hinsichtlich der drei Teile, die der federführende Rechtsausschuß als selbständige Gesetzentwürfe abgetrennt und mehrheitlich zur Annahme empfohlen hatte.81 Der Bundestag hat es also auch abgelehnt, die Präambel des Grundgesetzes um das Staatsziel "Vollendung der inneren Einheit" zu ergänzen, in Art. 6 Abs. 1 Satz 2 GG auszusprechen, daß die staatliche Ordnung - neben Ehe und Familie - andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften achte, und den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen. Einstimmig zur Annahme empfohlen hatte der Rechtsausschuß den interfraktionellen Gesetzentwurf, mit dem die Empfehlungen der GVK in ihrer Gesamtheit in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden waren, 82 allerdings unter Abtrennung der Vorschläge zur konkurrierenden Gesetzgebung (Artt. 74, 125 a), zur Rahmengesetzgebung sowie zum Gesetzgebungsverfahren (Artt. 75, 76, 77, 80 und 125 b) und zum Minderheitenschutz (Art. 20 b) als je selbständige Gesetzentwürfe, deren Annahme er nur mehrheitlich empfahl. Davon er78

BT-Drs. 12/6708, S. 6, 3.

79

BT-Drs. 12/6708, S. 5.

80

BT-Drs. 12/6708, S. 3.

81

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu den Gesetzentwürfen: BT-Drs. 12/8165 vom 28.6.1994. 82

Oben FN 63.

96

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

reichte die Vorschrift zum Minderheitenschutz ebenfalls nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Nicht beschlossen hat der Bundestag am 30. Juni 1994 auch die Vorschläge der GVK zur Verschärfung der sog. Bedürfiiisklausel bei der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 2) und die Beschränkung der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Hochschulwesens (Art. 75 Nr. 1 a). Eben deshalb haben alle sechzehn Bundesländer am 26. August 1994 im Bundesrat die vom Bundestag beschlossenen Verfassungsänderungen abgelehnt und den Vermittlungsausschuß angerufen. Mit dessen Kompromißlösung, die Bedürfhisklausel zu verschärfen und es bei der Regelung in Art. 75 Nr. 1 a GG zu belassen, näherte sich die Verfassungsdiskussion ihrem parlamentarischen Ende: in Form der 42. Änderung des Grundgesetzes, beschlossen am 7. September im Bundestag und am 23. September 1994 im Bundesrat als "Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3, 20 a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118 a und 125 a)". 83 Dieser parlamentarische Abschluß der Verfassungsdiskussion gestattet zwei Feststellungen. Einerseits: Mit der 42. Änderung des Grundgesetzes haben Bundestag und Bundesrat die Empfehlungen der GVK nahezu unverändert umgesetzt, wie schon mit der 38. Änderung die Empfehlungen der Kommission zum Themenkomplex Europäische Einigung. 84 Gemessen an der Aufgabe, die politisch möglichen Verfassungsänderungen vorzubereiten, haben sich Status, Zusammensetzung und Verfahren der G V K also durchaus bewährt. Die Besetzung mit Mitgliedern der beiden gesetzgebenden Körperschaften entsprechend dem dortigen parteipolitischen Stärkeverhältnis, die Einbindung in die "Fraktionshierarchie des Bundestags bzw. in die politische Meinungsbildung innerhalb der Landesregierungen" 85 und die Vorgabe, Sachentscheidungen mit Zweidrittelmehrheiten zu treffen, erlaubten sichere Prognosen über die Mehrheitsfahigkeit von Änderungen und sicherten weitestgehende Übereinstimmung zwischen Kommission und Verfassungsgesetzgeber in der Frage, welche Änderungen als notwendig anzusehen sind. 83 Vom 27.10.1994, BGBl. I S. 3146. Das Gesetz trat am 15.11.1994 in Kraft. - Dazu etwa Rüdiger Sannwald, Die Reform des Grundgesetzes, NJW 1994, S. 3313 ff. 84 85

Siehe oben FN 19.

Bait, S. 226. Dort auch näher zur Verfahrensweise der GVK (Obleutebesprechungen, Berichterstattergespräche), S. 223 ff.

VIII. Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion

97

Andererseits bestätigt dieser parlamentarische Abschluß nicht nur die Kritik an der Einsetzung sowie an Verlauf und Ergebnis der Arbeit der GVK. Er bestätigt darüber hinaus nahezu alle Befürchtungen, die die Befürworter einer "großen" Lösung der Verfassungsfrage hegten. Einmal vom Verfahren her. Seine 42. Änderung war wie die 35 Änderungen, die das Grundgesetz vor, und die sechs weiteren, die es nach dem Fall der Mauer erfahren hat, 86 eine "normale" Änderung des Verfassungsrechtes, eine Verfassungsänderung wie sie das Grundgesetz in seinem Art. 79 vorsieht - ohne jede unmittelbare Beteiligung der Bürger. Damit aber ist jener nach einer (neuen) gesellschaftlichen Selbstverständigung, nach einer Verfassungsneuschöpfung verlangenden angeblichen Gründungssituation nicht Rechnung getragen worden. Zum anderen bestätigt dieses parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion die Befürchtungen der Kritik in bezug auf den Inhalt der (dauerhaften) gesamtdeutschen Verfassung. Denn die Diskussion erbringt mit der 42. Änderung des Grundgesetzes vor allem Änderungen des Staatsorganisationsrechts. Im wesentlichen: -

eine (klarstellende) Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 3),

-

eine Ergänzung des allgemeinen Neugliederungsverfahrens durch eine staatsvertragliche Option (Art. 29 Abs. 8) und die Ermöglichung einer erleichterten Neugliederung des Raumes Berlin/Brandenburg (Art. 118 a),

-

Änderungen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Artt. 72, 74, 93 Abs. 1 Nr. 2 a, 125 a) und der Rahmengesetzgebung des Bundes (Artt. 75, 125 a),

-

Änderungen bezüglich des Gesetzgebungsverfahrens (Artt. 76 Abs. 2 und 3, 77 Abs. 2 a, 80 Abs. 3 und 4) und

-

eine Föderalisierung der Sozialversicherung (Art. 87 Abs. 2 Satz 2).

86

Die 6 weiteren Änderungen waren neben der 36. durch das Einigungsvertragsgesetz in Verbindung mit Art. 4 EV (oben § 2 II.) und der 38. zur Europäischen Einigung (oben FN 19): die 37. Änderung - Privatisierung der Luftverkehrs Verwaltung, die 39. Änderung - Asylrecht, die 40. und 41. Änderung - Bahn- und Postreform. A n den vier zuletzt genannten war die GVK, obgleich zu ihrer Zeit verabschiedet bzw. diskutiert, nicht nennenswert beteiligt. 7 Huba

98

1. Teil: § 3 Die dritte Phase: Die Gemeinsame Verfassungskommission

Eine unmittelbare Beteiligung der Bürger an staatlichen Entscheidungen erbringt die Änderung aber nicht. Ebensowenig kommt es zur Aufnahme sozialer Staatsziele, die auch dazu gedacht waren, ein Stück (angeblicher) DDR-Identität zu bewahren, oder zur Aufnahme sonstiger Solidarität anmahnender gesellschaftlicher Ziele. Den Bereich Präambel - Grundrechte - Staatsziele, den primären Bereich gesellschaftlicher Identitätsbestimmung und Integrationsstiftung also, 87 betreffen vielmehr lediglich drei Änderungen, nämlich die Ergänzungen des Grundgesetzes durch: -

das Staatsziel tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 Satz 2),

-

das Verbot der Diskriminierung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 Satz 2) 8 8 und

-

das Staatsziel Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20 a).

3. Das Ende? Mit ihrem parlamentarischen Abschluß in Form der 42. Änderung des Grundgesetzes dürfte die Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung politisch beendet sein.89 Dafür spricht nicht nur, daß allerorten Verfassungsreform-Bilanzen gezogen werden, deren Bewertungen freilich von "zuwenig Erneuerung" 90 bis "zu viel und das falsche geändert" 91 reichen. Dafür 87

Oben V. 2. a.

88

Das auf den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, BT-Drs. 12/6323, zurückgeht.

89

Eine andere Einschätzung vermittelt auch der von Bernd Guggenberger und Andreas Meier herausgegebene Band "Der Souverän auf der Nebenbühne", 1994, nicht. Auch wenn es sich bei den versammelten Beiträgen um Essays und "Zwischenrufe" zur deutschen Verfassungsdiskussion handeln soll. Angesichts des ihm folgenden Textes wirkt der Titel der Einleitung der Herausgeber: "Es ist noch nicht zu spät", eher beschwörend denn beschreibend. 90

Repräsentativ Hans-Peter Schneider, Das Grundgesetz - auf Grund gesetzt?, NJW 1994, S. 558 (561). Siehe auch Uwe Berlit, Das Ende der Verfassungsreform, Recht und Politik 1994, S. 194 ff. und Wolf-Dieter Narr y Nachruf auf ein Nicht-Ereignis: die Verfassungsreform, Leviathan 1994, S. 461 ff. 91 Repräsentativ Josef Isensee, Mit blauem Auge davongekommen - das Grundgesetz, NJW 1993, S. 2583 (2585 f.). Siehe auch Otto Depenheuer, Fragwürdige Reform des Grundgesetzes, Die politische Meinung 293 (April 1994), S. 17 ff.

VIII. Das parlamentarische Ende der Verfassungsdiskussion

99

spricht vor allem, daß die Diskussion über die Probleme der sog. inneren Einheit, also der Einheit in wirtschaftlicher, in sozialer und in "mentaler" Hinsicht mittlerweile ausschließlich als politische Diskussion gefuhrt wird und nicht mehr, auch nicht mehr teilweise als Verfassungs(rechts)debatte. Gleiches gilt für die Frage nach dem Selbstverständnis (Gesamt-)Deutschlands in Europa und die Frage nach seiner (neuen) Rolle in der Welt. Andererseits kann von einer politischen Selbstbindung der Parteien durch ihre Mitwirkung in der GVK und bei den beschlossenen Verfassungsänderungen nicht ausgegangen werden. Das hat ihr Verhalten zu Beginn der parlamentarischen Beratungen der Empfehlungen der Kommission gezeigt.92 Und dann findet sich da noch Art. 146 (n.F.) GG. Die nach wie vor "unverbrauchte" Schlußbestimmung kann weiterhin zumindest als politisches Signal zugunsten einer Ablösung des Grundgesetzes verstanden werden. 93

92

Siehe oben 1.

93

Zu Art. 146 (n.F.) GG näher oben § 2 IV.

§ 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion I. Die Differenz in zeitlicher und sachlicher Hinsicht Dominierte die erste Phase der Verfassungsdiskussion eine Differenz in zeitlicher Hinsicht, nämlich die Einschätzung der gesellschaftlichen Lage als Gründungssituation einerseits und als Normallage andererseits, 1 trat in der zweiten Phase eine sachliche Differenz in den Vordergrund, nämlich ein Unterschied hinsichtlich der der Verfassung zugeschriebenen Hauptaufgabe. Die Vertreter der Diagnose "Gründungssituation" erwarten von einer Verfassung primär, daß sie Ausdruck eines "Wir" der Bürger, also Programm der Integration des Gemeinwesens ist und Auskunft über dessen Identität gibt. 2 Die Gegenposition sieht die Hauptaufgabe der Verfassung nüchterner. Die Verfassung diene der Organisation der Politik: 3 Verfassungsrecht als erschwert änderbares Sonderrecht für die Politik. 4

1. Die Verfassung als "Rahmen " a) Übereinstimmung Gleichwohl scheinen sich die Differenzen zwischen den beiden Parteien der Verfassungsdiskussion nicht auf den Nenner eines unterschiedlichen Verfassungsverständnisses bringen und entsprechend rekonstruieren zu lassen. Denn über die Aufgabe der Verfassung, Politik rechtlich zu organisieren, herrscht offenbar Einigkeit. So liegt es nahe, die der Verfassung zugeschriebene Funktion, Politik sowohl zu beschränken als auch zu ermächtigen, in dem Bild von 1

Oben § 1 III.

2

Oben § 2 V. 2. a und b) bb).

3

Oben § 2 V. 2. b.

4

Gerd Roellecke, Des Souveräns neue Kleider, in: Bernd Guggenberger/Andreas Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994, S. 75 (78).

I. Die Differenz in zeitlicher und sachlicher Hinsicht

101

der Verfassung als "Rahmen" auszudrücken. Das geschieht auch.5 Die Rede ist vom Grundgesetz "als Rahmenverfassung", das "regelungskarg, fragmentarisch, auf praktische, politische Bedürfnisse ausgerichtet" sei;6 von der "Kanalisierung des politischen Prozesses" gemäß den Normen der Verfassung; vom "Rahmencharakter" des Verfassungsrechts, der auch bedeute, "daß die Verfassung nicht identisch ist mit dem Ganzen der Rechtsordnung, vollends, daß sie nicht das Ganze des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens reguliert". Die Verfassung halte planmäßig der politischen Gestaltung Räume offen, der kreativen Gesetzgebungspolitik wie der eigenverantwortlichen Regierungspolitik. 7 Als "Rahmenordnung" sehen die Verfassung jedoch nicht nur diejenigen, die das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung verteidigen, sondern auch jene, die für das vereinigte Deutschland eine neue Verfassung fordern. Auch für sie bildet die Verfassung "nur eine Rahmenordnung, die der Verwirklichung unterschiedlicher politischer Ziele Raum gibt". Der historische gesellschaftliche Konsens, dem die Verfassung Ausdruck verleihe, sei kein der Wahrheit bestimmter Politikinhalte verpflichteter "Totalkonsens", vielmehr ein für verschiedene Inhalte offener "Grundkonsens". Er enthalte lediglich "den Vorrat an Gemeinsamkeiten, der es den Anhängern unterschiedlicher Meinungen und Interessen erlaubt, sich nicht als Feinde zu bekämpfen, sondern als Gegner zu tolerieren". Ein solcher inhaltlich entlasteter Konsens könne einen erheblich größeren Teil der Gesellschaft einschließen. Der geringere Identifikationszwang verbreitere die Konsensbasis.8

b) Differenz Indes, die übereinstimmende Bezeichnung als Rahmenordnung steht nicht für Übereinstimmung hinsichtlich der Hauptaufgabe der Verfassung und damit nicht für ein einheitliches Verfassungsverständnis. Das wird sofort deutlich, 5

Oben § 1 II. 2., III. 3.

6

Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I 1987, S. 591 (647). 7 Josef Isensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. V I I 1992, S. 103 (143, 128 f.). 8

Dieter Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland (1984), in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 298 (300 f.).

102

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

schaut man auf die Folgerungen, die die beiden Parteien aus dem einhelligen Urteil ableiten, das Grundgesetz habe sich bewährt, sei seiner Aufgabe also gerecht geworden. Halten die Vertreter der reinen Beitrittslösung das Grundgesetz ob seiner Bewährung auch für "die bestmögliche Verfassung für das vereinigte Deutschland",9 meinen die Gegner dieser Lösung: "Jawohl, das Grundgesetz hat sich bewährt - für die Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990!" 10 Die Unterschiedlichkeit der Folgerungen kann ihre Erklärung nur in divergierenden Vorstellungen davon finden, was eine Verfassung soll. So ist der Schluß von der Bewährung des Grundgesetzes auf seine Eignung auch zur gesamtdeutschen Verfassung nur gerechtfertigt, liest man es primär als höchstrangiges Gesetz mit der Aufgabe, Politik zu organisieren. Denn schreibt man dem Grundgesetz diese Aufgabe zu, stieße es als Verfassung Gesamtdeutschlands nur dann an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, sollte das vereinigte Deutschland nicht als freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat organisiert werden. Dafür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte. Der freiheitliche demokratische Rechtsstaat entspricht den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung Gesamtdeutschlands und seiner Nachbarn. Demgegenüber schließt das Urteil, das Grundgesetz habe sich bewährt, seine Eignung zur gesamtdeutschen Verfassung nicht ein, sondern aus, liest man es vornehmlich als Ausdruck einer historischen (Selbst-)Verständigung der Deutschen. Denn einmal beschränkt sich die Bedeutung des Urteils dann darauf, dem Grundgesetz zu attestieren, es habe den historisch-politischen Konsens seiner Entstehungszeit zutreffend artikuliert und (daher) erfolgreich prolongiert. Zum anderen folgt aus dieser Lesart des Verfassungsgesetzes, daß man sich des von ihm angezeigten gesellschaftlichen Konsenses dann nicht mehr sicher sein kann, wenn wesentliche Bedingungen der seinerzeitigen Verständigung sich ändern. Geänderte historische Bedingungen und allemal der Wegfall der historischen Verständigungsgrundlage werfen nämlich die Identitäts- und Integrationsfrage wieder auf. Sie verlangen nach einem neuen "Wir", wenigstens nach einer Vergewisserung über das alte. Ohne Erneuerung des "Wir" fehlt dem trotz 9

Josef Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: W D S t R L 49 (1990), S. 39 (56). 10

Bernd Guggenberger/Tine Siein, Abschied von der Kontinuitätsillusion, in: dies. (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 81 (83). Der Sache nach ebenso Dieter Grimm, Das Risiko Demokratie, in: Guggenberger/Stein (wie soeben), S. 261 (263).

I. Die Differenz in zeitlicher und sachlicher Hinsicht

103

Wegfalls der Teilung fortgeltenden Grundgesetz die Substanz, die legitimierende Grundlage. Daß der freiheitliche demokratische Rechtsstaat den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung entspricht, rettet das Grundgesetz nicht. Entscheidend sind nicht die grundsätzlichen Erwartungen, grundlegend wirkt nur die tatsächliche Selbstverständigung, legitimierend nur die reale Zustimmung. - Die reale Zustimmung entweder in der Form, daß das Volk seine Repräsentanten nach erfolgter Verfassungsdiskussion "ausdrücklich zum Erlaß einer Verfassung ermächtigt", wobei die - antizipierte - Zustimmung in der (Aus-)Wahl der Repräsentanten liegt. Oder reale Zustimmung in der Weise, daß dem Volk ein ausgearbeiteter Verfassungsentwurf zur Abstimmung vorgelegt wird. In keinem Fall darf das Volk "aber nur fiktives Zurechnungssubjekt der Verfassung" sein; immer muß es "reales Entscheidungssubjekt" bleiben.11 Die beiden Parteien der Verfassungsdiskussion schreiben der Verfassung also unterschiedliche Primäraufgaben zu. Bezeichnen sie sie gleichwohl übereinstimmend als "Rahmen", kann damit nicht dasselbe gemeint sein. Es empfiehlt sich daher, näher nach dem jeweiligen Gegenstand und der jeweiligen Bedeutung des Rahmens zu fragen. Dient das Verfassungsgesetz zuallererst dazu, der Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung, dem "Wir" der Bürger Ausdruck zu verleihen, soll es vor allem die Identität eines Gemeinwesens zur Geltung bringen. Gegenstand des Rahmens ist also das Gemeinwesen insgesamt, nicht nur der Staat, sondern auch die soziale, die wirtschaftliche und die kulturelle Ordnung. 12 Die Bedeutung des Rahmens liegt dann darin, eine äußere Grenze zu bezeichnen, jenseits derer die Bürger nicht mehr bereit sind, Herrschaft als legitim anzuerkennen: Das Verfassungsgesetz beschreibt die existentielle Einheit der Gesellschaft.

11 12

Grimm, Demokratie, S. 262.

Besonders deutlich Konrad Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 3 (7), der die Verfassung bewußt als "rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens" begreift, und sich insoweit ausdrücklich distanziert von ihrem Verständnis als "rechtliche Grundordnung des Staates", siehe Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945. Ebenso etwa Wolf-Dieter Narr, Verfassungsdenken über den Staat hinaus, in: Guggenberger/ Meier, S. 66 (69).

104

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

Dient das Verfassungsgesetz primär dazu, Politik zu organisieren, soll es vornehmlich das politische System einer Gesellschaft konstituieren. Gegenstand des Rahmens sind demnach nur die Staatsbürokratie (Parlamente, Verwaltungen, Gerichte) und die (Partei-)Politik im eigentlichen Sinne, einschließlich der Verbindung zum Publikum. 13 Die Bedeutung des Rahmens liegt darin, Politik vom Recht und von anderen selbständigen Lebensbereichen der Gesellschaft zu trennen und das Getrennte rechtlich aufeinander zu beziehen: Das Verfassungsgesetz stabilisiert die funktionale Differenzierung der Gesellschaft.

2. Das Bezugsproblem der Verfassung Dieser Unterschied hinsichtlich der der Verfassung zugeschriebenen Hauptaufgabe ist ebenso tiefgreifend wie weitreichend. 14 Tiefgreifend ist er, weil die beiden Lesarten des Verfassungsgesetzes schon in unterschiedlichen Auffassungen des historischen und aktuellen Bezugsproblems der Verfassung wurzeln.

a) Die Legitimation von Herrschaft Für das Verständnis primär als Selbstverständigung eines Volkes antwortet eine Verfassung auf die Legitimationsfrage. So soll es eine Entstehungsbedingung der modernen Verfassung gewesen sein, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach dem Verblassen religiöser Legitimationsmuster infolge der Glaubensspaltung Herrschaft nicht mehr länger als von Gott verliehenes oder originäres Recht der Herrschenden angesehen werden konnte. Als legitim sei vielmehr nur noch diejenige Herrschaft erschienen, die auf der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen beruhte. 15 Sei legitime Herrschaft seither aber ausschließlich als Herrschaft kraft Auftrags des Volkes, als vom Volk anvertrautes Amt denkbar, bedürfe ihre Begründung wie ihre Ausübung der Regelung durch das Volk. Das Volk müsse den Inhabern der Herrschaftsämter durch die von

13

Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 3. Aufl. 1986, S. 152 f. und ders., Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 42 ff. 14

Er führt (unten II.) zu einer dritten Grunddifferenz in der Verfassungsdiskussion.

15

Dieter Grimm, Verfassung (1989), in: ders., Zukunft, S. 11 (12).

I. Die Differenz in zeitlicher und sachlicher Hinsicht

105

ihm erlassene Verfassung die Bedingungen vorgeben, unter denen der Herrschaftsauftrag erteilt und in seine Ausführung eingewilligt werde. 16 Folgt man dieser historischen Ableitung, liegt die Bedeutung der Verfassung in erster Linie darin, die hergebrachte Lösung eines alten Problems neuzeitlichen Bedingungen anzupassen. Das alte Problem ist die Bändigung herrscherlicher Willkür, genauer: die Notwendigkeit, Herrschaft in legitime und willkürliche, ja tyrannische zu unterscheiden. Die überkommene Lösung besteht in dem Verweis auf eine dem Menschen, also auch jeder Herrschaft vorgegebene, in sich gerecht ausgeglichene gute Ordnung der Welt, die Herrschaft als prinzipiell unfraglich vorsieht, und Herrschaftsrechte verleiht, letztlich aber auch ein Widerstandsrecht. Herrschaft im Rahmen der verliehenen Rechte ist legitime Herrschaft. Sie wahrt die gerechte Ordnung. Handeln unter Verletzung wohlerworbener Rechte, unter dem Bruch von Treueschwüren, von Verträgen oder leges fundamentales ist illegitimes Handeln. Es verletzt die gerechte Ordnung. Die Legitimität von Herrschaft ist eine Frage der Beachtung punktueller und partikularer rechtlicher Bindungen.17 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat der Verweis auf die Vorgegebenheit einer guten und gerechten Ordnung der Welt seine Überzeugungskraft eingebüßt. Herrschaft kann nicht mehr als von Gott verliehenes oder aus der (gottgewollten) natürlichen hierarchischen Ordnung der Welt fließendes Recht verstanden werden. Die Legitimationsfrage stellt sich radikal. Nicht allein die Wahrung einer gegebenen Ordnung ist nun das Problem, sondern die gute und gerechte Ordnung selbst. Herrschaft ist nicht mehr nur begrenzungsbedürftig, sie ist - auch in ihrer Begrenzung - planmäßig18 begründungsbedürftig. Auf beide Notwendigkeiten soll das Konzept der normativen Verfassung antworten: legitime Herrschaft ist Herrschaft auf Grund und in den Grenzen des Verfassungsgesetzes. Die Legitimität von Herrschaft bleibt eine Frage des Rechtsschutzes.19 Was aber macht das Verfassungsgesetz zur guten und gerechten Ordnung der Gesellschaft? Daß es Ausdruck des Willens derer ist, die der Ordnung unterworfen sind: volenti non fit iniuria. 16

Grimm, Demokratie, S. 262.

17

Dieter Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus (1987), in: ders., Zukunft, S. 31 (34 f.). 18

Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967, S. 50, 53, 84 f. 19

Niklas Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, Der Staat 12 (1973), S. 1 (3).

106

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion b) Die Ermöglichung von Politik

Das Verständnis vornehmlich als höchstrangiges Rechtsgesetz sieht das historische und aktuelle Bezugsproblem der Verfassung im Unterschied dazu offenbar nicht in der Legitimität und Legitimation von Herrschaft, sondern in der Ermöglichung von Politik. Kann Herrschaft nicht mehr als Vollzug einer ihr unverfügbaren gottgewollten Ordnung verstanden werden, wird sie als Politik unabhängig und selbstbestimmt, souverän - und als solche unmöglich. Sie wird souverän, weil sie über die Ordnung für alle verbindlich frei entscheiden kann. Und sie wird unmöglich, weil die freie Entscheidung über die Ordnung Willkür und nicht Ordnung ist. Souveräne Politik verfallt dem politischen Souveränitätsparadox der Bindung der Willkür bzw. der Willkür der Bindung. 20 Konkreter: A u f sich selbst gestellte Politik bedarf aus zwei Gründen der Beschränkung. Zum einen, weil sie mit Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Umwelt ebenfalls souveräner anderer Lebensbereiche, und das heißt mit Rücksicht auf die Erhaltung ihrer eigenen Funktionsbedingungen, Entscheidungen nicht in beliebiger, unvorhersehbarer Weise treffen kann. Zum anderen, weil auf sich selbst gestellte Politik sich nicht - unvermittelt - selbst binden kann. Sie kann keine Entscheidungsketten flechten. Entscheidungen innerhalb der Ordnung gelingen ihr nicht, jede Entscheidung gerinnt ihr zur erneuten Entscheidung über die Ordnung. Die Verfassung als höchstrangiges Gesetz löst das politische Souveränitätsparadox durch Unterscheidung und Wiederverknüpfung von Recht und Politik. 2 1 Durch Unterscheidung: Einander fremd erscheint die Beschränkung der Politik durch Grundrechte und Organisationsrecht als rechtliche, und nicht als politische. Durch Wiederverknüpfung: Aufgrund der Ermächtigung zur Rechtssetzung ineinander überführbar, erscheint die Beschränkung der Politik durch Recht als Selbstbeschränkung souveräner Politik. Im Verständnis der Verfassung primär als höchstrangiges Rechtsgesetz sind Politik und Recht einander also fremd. Aber eben nicht so fremd wie Wasser und Stein, sondern so fremd

20

Niklas Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. I I I 1989, S. 65 (134). 21

Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 1990, S. 176 (193, 197, 202,208).

I. Die Differenz in zeitlicher und sachlicher Hinsicht

107

wie zwei unterschiedliche Aggregatzustände derselben Sache,22 so fremd wie Wasser und Eis.

3. Verfassung und Zukunft Es liegt auf der Hand, daß die Beantwortung der Legitimationsfrage gegenüber der Ermöglichung von Politik die anspruchsvollere Aufgabe ist. Soll die Verfassung die Legitimation von Herrschaft leisten, muß sie zusätzlich zu den Bedingungen der Möglichkeit einschränkende Bedingungen der Richtigkeit der Ordnung enthalten. Nicht nur daß entschieden werden kann, hat sie zu gewährleisten, sondern mindestens ansatzweise auch zu programmieren, wie inhaltlich zu entscheiden ist. Die Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung, die das Verfassungsgesetz zum Ausdruck bringen soll, versteht sich mithin letztlich als ein wie immer unvollständiger Entwurf einer guten23 und gerechten Gesellschaft, 24 eben als ein Entwurf, der es allen erlaubt, "Wir" zu sagen. Vor diesem Hintergrund sind die Forderungen nach Aufnahme materialer Ziele der Politik in die Verfassung zu sehen. Deshalb soll die gesamtdeutsche Verfassung Grundentscheidungen festschreiben nicht nur zugunsten der Herbeiführung von Vollbeschäftigung, der Schaffung ausreichenden und angemessenen Wohnraumes, der Herstellung gleicher Bildungschancen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, sondern auch zugunsten der Verstärkung des Persönlichkeits-, Lebens- und Gesundheitsschutzes gegenüber den Gefahren moderner Technologien und nicht zuletzt zugunsten des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen des Men-

22

Die Formel stammt von Ernst Benda. Aufgegriffen von Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Friedrich Schäfer/Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 1980, S. 81, der die Sache, von der Recht und Politik dasselbe sind, abstrakt als "Problemlösungsdruck" bezeichnet. 23

Ein Entwurf auch einer guten Gesellschaft, weil nicht alle politischen Ziele in erster Linie Probleme der Gerechtigkeit sind, siehe nur Winfried Brugger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit?, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, S. 319 (325 f.). 24

So ausdrücklich Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 464 f.

108

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

sehen.25 Deshalb soll die Ordnung Gesamtdeutschlands im Vergleich zur grundgesetzlichen sozialer und ökologischer sein, sollen soziale Wohlfahrt und soziale Lasten gerechter verteilt und soll kollektiven Gefahrdungen auch künftiger Generationen wirkungsvoller vorgebeugt werden. Man mag einem solchen Verständnis als Integrationsprogramm entgegen halten, es gefährde die Normativität der Verfassung, die Fremdheit von Recht und Politik, indem es die Verfassung wandle: Von einer bloßen (konstituierenden und begrenzenden) Rahmenordnung ausschließlich fur den Staat - genauer: "für die Grundbeziehung von Staat und Bürger sowie die Konstituierung, die Befugnisse und die Zuordnung der obersten staatlichen Organe" - zu einer Lebensordnung des Gemeinwesens insgesamt, aller seiner Sach- und Lebensbereiche, und von einer Rechtsform und einem Rechtsdokument zur gesamtgesellschaftlichen Wertgrundlage und Wertordnung. 26 Oder man mag darauf hinweisen, die inhaltliche Anreicherung der Verfassung mit konkreten Politikzielen signalisiere Mißtrauen gegenüber dem politischen Prozeß. 27 Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß das Verständnis der Verfassung als Integrationsprogramm auf die politisch-rechtliche Verringerung der Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten künftig gegenwärtiger Politik zielt, und zwar zugunsten gegenwärtig einheitsstiftender Entscheidungen, getroffen im Horizont gegenwärtiger Zukunft. 28 Diese Zeitperspektive entspricht der Annahme einer Gründungssituation: Das Verfassungsrecht wird zu einem normativen Plan, nach dem die Einheit zu entwickeln ist, zum Entwurf einer Zukunft, die es zu wählen gilt. 29 Anders das Verständnis der Verfassung als oberstes Gesetz, dessen Aufgabe es lediglich sein soll, Politik zu ermöglichen. Danach bleiben Politik und Recht einander fremd, ist Legitimität nicht eine Leistung des (Verfassungs-)Rechts, sondern eine (unmittelbar) vom politischen System zu erbringende, und künftig 25

Oben § 1 II. 4. b.

26

So Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung (1984), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 29 (47 f.); das Zitat stammt aus dem Vorwort S. 6. 27

So Brugger, S. 322, 324, anläßlich eines Vergleichs deutschen und nordamerikanischen VerfassungsVerständnisses. Für letzteres gelte demgegenüber: process instead of substance. 28

Näher zu den beiden analytisch trennbaren Zeitperspektiven gegenwärtige Zukunft und künftige Gegenwarten Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 515 ff. 29

Formuliert im Anschluß an Luhmann, Politische Verfassungen, S. 21.

I . Die Differenz in

zialer Hinsicht

109

gegenwärtige Politik in der Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme inhaltlich frei. In ihrem jeweiligen Verhältnis zur Zukunft tritt die Differenz zwischen den beiden Lesarten der Verfassung denn auch am deutlichsten hervor. Das Verständnis der Verfassung als höchstrangiges Gesetz reagiert auf die Ungewißheit der Zukunft mit dem Bereithalten von Kompetenzen und Verfahren für verbindliches Entscheiden. Das Verständnis der Verfassung als Selbstverständigung eines Volkes basiert auf dem Konzept, die Ungewißheit der Zukunft durch das Feststellen und Festhalten von Identität zu bannen: Zukunftsvergewisserung durch Selbstvergewisserung.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht 1. Tatsächliche Zustimmung zur Verfassung Ihrer Annahme folgend, die gesamtdeutsche Gesellschaft bedürfe einer neuen Ordnung, richten die Befürworter einer "großen" Lösung der Verfassungsfrage den Blick weit weniger auf die Bedingungen dauerhafter Geltung einer Verfassung als auf den Zeitpunkt der Verfassungsentstehung. Aufgrund seiner demokratisch defizitären Entstehung soll das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung ausscheiden.30 Aus der Perspektive der Entstehung des Grundgesetzes interpretieren sie seine alte 31 wie seine neue Schlußbestimmung.32 Und die Art der Beteiligung der Bürger an ihrer Entstehung soll für die neue gesamtdeutsche Verfassung entscheidend sein.33 Die Beurteilung wie die Auslegung eines Verfassungsgesetzes bevorzugt mit Blick auf seine Entstehung vorzunehmen, entspricht freilich der Logik des Verständnisses der Verfassung als Selbstverständigung eines Volkes. Sieht man das Verfassungsgesetz primär als Zeichen für das historische Ereignis, daß die Bürger sich untereinander verbunden und nach außen vereinigt haben, fehlt ihm der Selbstand gegenüber den historisch-politischen Bedingungen seiner Entstehungszeit. So zwingt dieses Verständnis vor allem zu der Frage, wer an der

30

Oben § 1 III. 1.

31

Oben § 1 II. 4. a (insbesondere bei FN 72).

32

Oben § 2 IV. 1.

33

Oben § 3 I. 1.

110

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

seinerzeitigen Verständigung beteiligt war. Fehlte einem großen Teil der Bürger, der sich nunmehr als Bestandteil dieser Einheit betrachten soll, die Möglichkeit, deren Identität mitzubestimmen und am Zustandekommen des Integrationsprogramms mitzuwirken, fehlt es dem Verfassungsgesetz als Zeichen und Plan an sozialer Legitimität. Aber eben nicht nur an sozialer. Es fehlt dem Verfassungsgesetz deshalb auch an sachlicher Legitimität, an Eignung. Sieht man nämlich das Bezugsproblem der Verfassung darin, daß eine Gesellschaft sich auf den Entwurf einer guten und gerechten Ordnung einigen muß, weil die gute und gerechte Ordnung nicht (mehr) ohne weiteres erkennbar ist, sind die entsprechenden Vorstellungen jedes Bürgers grundsätzlich von Belang. Der konkrete einzelne Bürger wird zum Ausgangspunkt des Inhalts der Verfassung. Aus diesem Grunde soll ja das Grundgesetz für die Bürger der DDR ein "Fremdprodukt" sein: weil es auf "ihre spezifischen Erfahrungen und Bedürfnisse" nicht vollständig antwortet. 34 So gesehen erhöht sich mit dem Anspruch an das Verfassungsgesetz, neben den rechtlichen Bedingungen der Möglichkeit auch die politisch-moralischen Bedingungen der inhaltlichen Richtigkeit von Politik zu formulieren, auch der politisch-moralische Anspruch an die Art und Weise seines legitimen Zustandekommens. Die sachliche Legitimität einer Verfassung wird zur abhängigen Variablen ihrer sozialen Legitimation. Soziale Legitimation in diesem Sinne bedeutet aber nicht einfach demokratische Legitimation. Notwendig ist vielmehr eine bestimmte Form demokratischer Legitimation, nämlich die tatsächliche Zustimmung der Bürger. Es genügt eben nicht, daß die Verfassung "dem Volk" als seine Verfassung (fiktiv) zurechenbar ist. "Das Volk" muß "reales Entscheidungssubjekt" sein.35 Und "das Volk", das ist die Bevölkerung, jeder einzelne Bürger: "Das Volk muß 'Ja' sagen können. Jede Verfassung braucht die ausdrückliche Zustimmung der Staatsbürger". 36 Die Verfassung, so verstanden, nämlich vornehmlich als "Gesellschaftsvertrag" kann streng genommen sogar nur einstimmig beschlossen

34

Grimm, Demokratie, S. 265.

35

Grimm, Demokratie, S. 262.

36

Ernst Gottfried Mahrenholz, Das Volk muß 11 Ja" sagen können. Jede Verfassung braucht die ausdrückliche Zustimmung der Staatsbürger, in: Guggenberger/Stein, S. 220,223.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

111

werden. 37 Denn die Geltung der Regel, daß die Mehrheit entscheidet und die Minderheit verpflichtet, setzt den Beschluß dieser Regel durch die Einheit, mithin eine Verfassung und Verfassungsrecht bereits voraus. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung von der Legitimität einer Verfassung wird klarer, weshalb eine Volksabstimmung vonnöten sein soll, "auch wenn von einer Konsensschwäche des Grundgesetzes keine Rede sein kann". 38 Weil die ausdrückliche faktische Probe auf die soziale Legitimität des Grundgesetzes bisher weder bei seiner Entstehung noch später gemacht worden ist, und sie zudem, soll das Grundgesetz gesamtdeutsche Verfassung werden, unter Beteiligung der Bevölkerung der (ehemaligen) DDR zu machen ist.

2. Tatsächliche Geltung der Verfassung Für die Befürworter der reinen Beitrittslösung liegen die Dinge anders. Für sie bemißt sich die Eignung einer Verfassung nicht nach der tatsächlichen Zustimmung, die sie findet, sondern umgekehrt, die soziale Legitimität einer Verfassung nach ihrer Leistungsfähigkeit. Deshalb berufen sie sich in erster Linie auf die "Bewährung" des Grundgesetzes und erst in zweiter Linie auf seine über vierzigjährige "Akzeptanz" in der (früheren) Bundesrepublik und darauf, die Bevölkerung der DDR habe ihr Einverständnis mit dem Grundgesetz in der Revolution vom Herbst 1989 und in der Wahl vom März 1990 konkludent erklärt. 39 Mit der Berufung auf seine Leistungsfähigkeit wie auf die Akzeptanz in beiden Teilen Deutschlands nehmen die Befürworter der reinen Beitrittslösung statt der Entstehungs- die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes in Bezug. Vordergründig liegt darin ein Unterschied zur Gegenposition in nur zeitlicher Hinsicht. Er weitet sich indessen zu einer inhaltlichen Differenz hinsichtlich des Begriffs der sozialen Legitimität einer Verfassung. So soll nicht entscheidend sein, wie das Grundgesetz seinerzeit zustande gekommen ist, sondern wie es - als Gesetz selbständig - unabhängig von dem Akt seiner Entstehung gewirkt hat. In den Mittelpunkt rückt aus dieser Sicht, daß 37

Anderer Ansicht etwa Mahrenholz, ebda., der - ohne nähere Begründung - "ein Zustimmungsquorum von mehr als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten" für hinreichend hält. 38

Grimm, Demokratie, S. 263.

39

Oben § 1 III. 2.

112

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

das Grundgesetz es vermocht hat, die Politik einer nach Diktatur und Zweitem Weltkrieg wirtschaftlich und politisch darniederliegenden, politisch wie kulturell diskreditierten Gesellschaft dauerhaft als demokratischen Rechtsstaat zu ordnen. Das macht seinen sachlichen Erfolg aus. Und dieser geht Hand in Hand mit seinem sozialen Erfolg. Das Grundgesetz wurde und wird beachtet: "Ob Verfassunggebung gelingt, hängt nicht von der Einhaltung bestimmter Regeln ab, sondern von ihrer tätigen Annahme durch die Bürger einschließlich aller wesentlichen Kräfte der Gesellschaft. Die Akzeptanz der höchsten politischen Norm, die keine andere positive Norm über und neben sich kennt, ist Sache des realen Erfolgs". 40 Entgegen einem ersten Eindruck votieren die Vertreter der reinen Beitrittslösung damit nicht etwa gegen die Notwendigkeit demokratischer Legitimation einer Verfassung. Sie frönen auch keiner Legitimitätslehre, nach der faktischer Erfolg nicht nur recht gibt, sondern auch Verfassungsrecht. Ihr Begriff von Legitimität ist weder "inhalts- und gegenstandslos" noch wird er "zum wohlklingenden Ornament der jeweiligen Machtverhältnisse". 41 Ihr Konzept lautet vielmehr auf "Legitimität aus Akzeptanz". 42 Nach diesem Konzept ist es allerdings nicht erforderlich, daß die Bevölkerung einer Verfassung - gar noch aufgrund der Überzeugung von der Richtigkeit ihres Inhalts - individuell tatsächlich zustimmt. Als ausreichende (und erreichbare) demokratische Legitimation erscheint vielmehr die generelle Bereitschaft in der Bevölkerung, die Verfassung "anzunehmen",43 ja, aus welchen Gründen immer, hinzunehmen.44 Dieser Modus der Legitimation entspricht der Lesart der Verfassung als (höchstrangiges) Rechtsgesetz: Legitim ist eine Verfassung, die tatsächlich gilt.

3. Zum Verhältnis von tatsächlicher Geltung und tatsächlicher Zustimmung Tatsächliche Zustimmung ist aber nicht Voraussetzung tatsächlicher Geltung. Das beweist nicht nur die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes, das im 40

Josef Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. V I I 1992, S. 271 (282). 41

Ulrich Storost, Legitimität durch Erfolg?, Der Staat 30 (1991), S. 537 (538).

42

Isensee, Schlußbestimmung, S. 282.

43

Isensee, ebda.

44

Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl. 1975, S. 32 f.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

113

Verfahren der Verfassungsgebung nicht formell vom Volk bestätigt wurde. Jeder Rechtsnorm gilt Indifferenz ihr gegenüber ebenso als "Zustimmung" wie der nicht massenhafte Widerspruch gegen sie. Die ihr real zukommende Zustimmung in dieser Weise zu überziehen, ist geradezu der soziale Sinn einer Rechtsnorm. Anderenfalls wäre sie durch leicht möglichen Entzug der Zustimmung jederzeit aufhebbar und deshalb zeitlich nicht zu stabilisieren. 45 Also vermutet, ja fingiert sie Zustimmung und bürdet dadurch demjenigen, der gegen sie erwarten will, die Last auf, ausdrücklich zu widersprechen. 46 Anders denn als textlicher Ausdruck der Selbstverständigung eines Volkes muß die Verfassung als Gesetz daher nicht ihre Zustimmungsgetragenheit beweisen, der ihr Widersprechende muß vielmehr den Beweis ihrer gesellschaftlichen Bodenlosigkeit führen. So gesehen indiziert eine Verfassung nicht (nur) Konsens, sie induziert ihn (auch).47 Allerdings ist die Verfassung höchstrangige positive Rechtsnorm. Während sich das sonstige positive Recht zu seiner Rechtfertigung auf die Verfassung berufen kann, kann sie sich zu ihrer Verteidigung ob ihrer exponierten Stellung an der Spitze der Normenhierarchie auf kein anderes Gesetz stützen. Daraus folgt indessen nicht, daß die Verfassung zustimmungsabhängiger ist als andere Rechtsnormen, sondern lediglich, daß sie gegenüber dem Versuch, ihre gesellschaftliche Bodenlosigkeit zu beweisen, empfindlicher ist.

4. Das Legitimationsproblem... a)... der Verfassung verstanden als höchstrangiges Gesetz Die Geltung der Verfassung ist also prekär. Deshalb bedarf sie der sichernden Begründung. Die Begründung ihrer Geltung antwortet auf die Frage nach der Legitimation der Verfassung. Für die Lesart der Verfassung als höchstrangiges positives Gesetz lautet die konsequente theoretische Antwort auf diese Frage wie gesehen: Die Verfassung ist legitim, weil und solange sie tatsächlich gilt. Demnach gilt die Verfassung - weil sie gilt. Diese tautologische Antwort, 45

Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 64 ff. (67, 71 f.); 94.

46

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 69 f.

47

Deshalb konnte soeben die Rede davon sein, daß der sachliche und der soziale Erfolg des Grundgesetzes "Hand in Hand" gehen. 8 Huba

114

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

Ausdruck der Selbstrechtfertigung des positiven Rechts, ist freilich praktisch nicht sehr überzeugend, weder aus der Sicht des Rechts noch aus der der Politik. Sie läßt auf "unverhohlenen Faktenpositivismus" schließen, macht sich der Beliebigkeit verdächtig und scheint zu verkennen, daß eine Verfassung mehr ist als ein "semantischer Überbau über dem faktischen status quo, nämlich eine normative Grundordnung mit dem Anspruch auf dauerhafte Befolgung auch in wechselnden Lagen ,..". 48 Also bedarf die Tautologie der verhüllenden Darstellung. 49 Nach Darstellung des (Verfassungs-)Rechts verdankt sich das Verfassungsrecht der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. So heißt es in der Präambel des Grundgesetzes: "... hat das Deutsche Volk ... kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz ... beschlossen" (a.F.) bzw. "... hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" (n.F.). Diese Begründung verschleiert die Tautologie freilich nur mäßig. Sie überfuhrt sie lediglich in eine - allerdings schwerer erkennbare - Paradoxic. Denn die verfassungsgebende Gewalt des Volkes legitimiert die gegebene ebenso wie jede andere Verfassung, mithin auch die Beseitigung der gegebenen Verfassung. Das hat Dietrich Murswiekgezeigt, der nach dem Verbleib der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes nach Erlaß des Grundgesetzes gefragt und festgestellt hat: "Das Volk behält die Kompetenz zur Verfassunggebung, aber es hat kraft dieser Kompetenz die verfaßten Gewalten verpflichtet, der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt entgegenzuwirken. (...) Kommt es dennoch zu einer verfassunggebenden Willensäußerung des Volkes, dann ist diese zu respektieren, weil sie eine neue Rechtslage schafft." Den Ansprüchen des juristischen und politischen Normalbetriebs scheint jene Antwort auf die Legitimationsfrage allerdings zu genügen. Alltäglich wird die Frage nach dem Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes eben nicht gestellt. Aus Anlaß der Wiedervereinigung wurde der Schleier indessen gelüftet. Und schon zeigte sich, daß unter der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes sehr Verschiedenes verstanden werden kann und verstanden wird. 48

Storost, Legitimität, S. 539 (Hervorhebungen im Original).

49

Gleichsinnig Gerd Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, JZ 1992, S. 929 (934). Kritisch zum Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes auch Wilhelm Henke, Das Ende der Revolution und die verfassunggebende Gewalt des Volkes, Der Staat 1992, S. 265 (280). 50 Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 256.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

115

b)... der Verfassung verstanden als Selbstverständigung Mit dem Verständnis der Verfassung als Selbstverständigung eines Volkes scheint demgegenüber eine auf Anhieb überzeugende Antwort auf die Legitimationsfrage gefunden, die den Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes gleichsam wörtlich nimmt. Die Selbstverständigung ist verbindlich, weil alle sich auf sie ausdrücklich, formell und positiv verständigt und durch sie verbunden haben. Angesichts solcher Einheit kann die Legitimationsfrage gar nicht mehr auftauchen. Jeder Bürger, der sie stellte, geriete ob seiner Zustimmung in Widerspruch mit sich selbst. Indes, abgesehen davon, daß von einem derartigen Konsens nur die Rede sein könnte, erfreute sich die Selbstverständigung nicht lediglich mehrheitlicher, sondern hundertprozentiger Zustimmung, besteht diese Art von Legitimität allenfalls in einem einzigen idealen Zeitpunkt: im Zeitpunkt der Verfassungsgebung. Denn mit dem Akt der Verfassungsgebung soll ja die Selbstverständigung ihren "Ausdruck" in der "juristischen Form der Verfassung" finden, die das Ergebnis des Verständigungsprozesses "von der Entstehungssituation ab(löst) und ihm Bestimmtheit, Verbindlichkeit und Dauer (verleiht)". 51 Stellt aber die Rechtsform der Verfassung den (dann historischen) gesellschaftlichen Konsens gegenüber anderen und sich ändernden Bürgern und anderen Situationen auf Dauer, ist das Konzept "Legitimität durch tatsächliche Zustimmung" schon aufgegeben. In bezug auf die der "verfassungsgebenden Generation" nachfolgenden Generationen etwa verkürzt sich die Notwendigkeit faktischer Zustimmung - bei aller "relativen Offenheit" des historischen Konsenses - auf die bloße Möglichkeit, die Verfassung für normativ "anerkennungsfahig" zu halten.52 Diese Verkürzung scheint auf eine Spaltung des Legitimitätsbegriffs hinauszulaufen. Als Selbstverständigung, als "Projekt" bedarf die Verfassung zu ihrer Legitimität der tatsächlichen Zustimmung, in der Rechtsform eines in Kraft befindlichen Verfassungsgesetzes lediglich tatsächlicher Geltung. Eine solche Spaltung erklärte jedoch die am Grundgesetz geübte Kritik nicht. Denn daß die Akzeptanz des Grundgesetzes, das seine Änderung im Rahmen des Art. 79 ja zuläßt, angesichts der Wiedervereinigung ungebrochen ist, räumen auch die

51

Grimm, Demokratie, S. 263.

52

Grimm, Verfassung (1989), in: ders., Zukunft, S. 17.

116

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

Gegner der (reinen) Beitrittslösung ein. Einmal schon dadurch, daß sie sich genötigt sehen, die Notwendigkeit einer Verfassungsneuschöpfung überhaupt zu begründen. Wäre mit dem Grundgesetz, mit dessen Schlußbestimmung sie selbst argumentieren (und wie andererseits die Beitrittsoption zeigt) nicht ein tatsächlich geltendes Verfassungsgesetz vorhanden, läge die Notwendigkeit einer Verfassungsgebung auf der Hand. Zum anderen aber auch durch die Art ihrer Begründung. So plädieren sie weit mehr für die Notwendigkeit eines Prozesses der Verfassungsgebung, nämlich für eine ausführliche Verfassungsdebatte mit anschließender Volksentscheidung, als für die Notwendigkeit eines im Ergebnis anderen, inhaltlich neuen Verfassungsgesetzes. 53 Eine Spaltung des Legitimitätsbegriffs scheidet demnach aus. Halten die Gegner der (reinen) Beitrittslösung aber an der Unterscheidung von Legitimität (im Sinne tatsächlicher Zustimmung) und tatsächlicher Geltung fest, kann das nur bedeuten, daß sich aus ihrer Sicht die Legitimität eines Verfassungsgesetzes alleine aus dem ihm zugrunde liegenden Projekt Verfassung ableitet. Nur wenn eine tatsächliche Selbstverständigung stattgefunden, ein Verfassungsgesetz mithin die erforderliche tatsächliche Zustimmung erfahren hat, ist es legitim. Fehlt ihm diese tatsächliche Zustimmung, fehlt ihm die Legitimität - wie immer günstig es um seine tatsächliche Geltung bestellt sein mag. Also weist das Grundgesetz wegen seines äußeren Geburtsfehlers und weil - wenn überhaupt nur "das Teilvolk der Bundesrepublik Deutschland" seine verfassunggebende Gewalt ausgeübt hat "nach wie vor einen erheblichen Legitimationsmangel auf, der auch nicht dadurch beseitigt wird, daß das Grundgesetz in den über vierzig Jahren seines Bestehens breite Akzeptanz gefunden hat". Denn: "diese allgemeine Anerkennung verstärkt zwar seine Geltungskraft, vermag aber einen Akt souveräner verfassunggebender Gewalt des Volkes nicht zu ersetzen". 54 Erachtet man das Verfassungsgesetz als in diesem Sinne aus dem historischpolitischen "Projekt Verfassung" abgeleitet, mithin als Regelwerk, das die in der tatsächlichen Selbstverständigung gefundene Ordnung lediglich juristisch vollziehbar macht, lautet die Antwort auf die Frage, wann ein neues Verfassungsgesetz notwendig wird, nicht: wenn das in Kraft befindliche Verfassungs53

Besonders deutlich Ulrich K. Preuß, Brauchen wir eine neue Verfassung?, in: Bernd Guggenberger/Ulrich K. Preuß/Wolfgang Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991, S. 14 f. 54 Hans-Peter Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. V I I 1992, S. 3 (22 f.).

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

117

gesetz im Begriff steht, seine tatsächliche Geltung zu verlieren. Sie lautet vielmehr: Ein neues Verfassungsgesetz wird notwendig, wenn es die Gesellschaft nach einer neuen "Selbstbeschreibung und Zielbestimmung hinsichtlich ihrer Herrschafis- und Sozialordnung und ihres Standorts in der politischen Umwelt" 5 5 verlangt. Oder sie lautet: wenn sich das "politische Lebensgefuhl" 56 der Bürger ändert. Oder: wenn "sich die Bedingungen gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung und -einwirkung geändert haben".57 Und alles das sei aufgrund der Vereinigung beider Teile Deutschlands der Fall. 58 Konstruktiv gelingt dieses Überspielen einer tatsächlich geltenden Verfassung dadurch, daß die historisch-politischen Bedingungen ihrer Entstehung zum wesentlichen Bestandteil der Verfassung erklärt werden. Das geschieht, indem man entweder die solche Bedingungen enthaltende Präambel zur "Sinnbasis der Verfassung" erhebt. 59 Oder es geschieht, indem man einen "politischen Teil der Verfassung" identifiziert und als "essentiellen Teil" erachtet, der solche Bestimmungen enthält, "die Angebote an die Bürger für ihre politische Identifikation sind und Aussagen über die politische Befindlichkeit eines Volkes als eines konkreten und nach seiner Geschichte eigenständigen und in spezifischen Beziehungen zu seinen Nachbarn stehenden Volkes machen".60

55

Dieter Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution, in: Guggenberger/Stein, S. 119(124). 56

Rainer Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 468 (471); siehe auch oben § 1 III. 3., FN 122. 57

Preuß, Neue Verfassung, S. 17.

58

So Grimm, Neukonstitution, S. 125 f.; Wahl, Verfassungsfrage, S. 471, 477 und Preuß, Neue Verfassung, S. 14 ff. 59

So Grimm, Demokratie, S. 264 f.: Mit der Folge, daß eine Änderung der Präambel "kein Gegenstand für den Routinevorgang der parlamentarischen Verfassungsänderung" sein kann. Sie sei "Sache des Souveräns selbst". Diese Argumentation ist verfassungsdogmatisch deshalb problematisch, weil sie auf eine teleologische Extension des Art. 79 Abs. 3 GG hinausläuft, der es dem pouvoir constituant institué jedenfalls nicht ausdrücklich verbietet, die Präambel des Grundgesetzes zu ändern. 60

Wahl, Verfassungsfrage, S. 471 f.; siehe auch oben § 1 III. 3.

118

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion 5. Die verfassungsgebende

Gewalt des Volkes...

a)... im Verständnis der Gegner der reinen Beitrittslösung Kann eine Verfassung durch ihre - Akzeptanz sowohl voraussetzende wie schaffende - Wirkung und Leistung allenfalls ihre Geltungskraft verstärken, nicht jedoch volle Legitimität erwerben, 61 muß sie diese also wesentlich durch die Art und Weise ihrer Entstehung gewinnen. Da eine demokratische Verfassung auf dem Gedanken der Volkssouveränität beruht, setzt ihre legitime Entstehung voraus, daß sie ihren Ursprung in der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes hat. 62 Nach Auffassung der Gegner der reinen Beitrittslösung hat die Verfassung ihren Ursprung aber nur dann in der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, wenn das Volk die Verfassung erzeugt. Verfassungserzeugung durch das Volk soll näherhin zweierlei erfordern. Zum einen verlange die Betätigung der verfassungsgebenden Gewalt durch das Volk eine "politisch freie und öffentlich artikulierte Meinungsbildung". 63 Das Verfahren sei so zu gestalten, "daß daran alle maßgeblichen gesellschaftlichen und politischen Kräfte teilhaben können". Durch öffentliche Anhörungen und die Aufforderung zu Eingaben könne "die Anteilnahme der Bevölkerung weiter geweckt und verstärkt werden". 64 Ohne eine solche breitangelegte "öffentliche Debatte über Themen und Entscheidungen" der Verfassung soll es sich nicht um eine Verfassungsgebung durch das Volk handeln, weil es dabei um mehr gehe als darum, "eine fertige Verfassung zu erörtern und sie danach anzunehmen oder zu verwerfen". Die Beachtung des subjektiven und des objektiven Moments im Begriff "verfassunggebende Gewalt" gebiete, "daß das Volk auf den Inhalt der Verfassung Einfluß nehmen kann". Das erfordere zwar keine Beschlußfassung des Volkes über jeden Satz der Verfassung. 65 Aber die verfassunggebende Gewalt sei "ihrem Sinne nach nicht nur auf das Grundkonzept einer Verfassung, sondern ebenso (...) auf die Regelungen im einzelnen gerichtet". 66 61

Oben bei FN 54.

62

Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 12 f.

63

Mahrenholz, Die Verfassung, S. 17.

64

Hans-Peter Schneider, Verfassunggebende Gewalt, S. 14.

65

Mahrenholz, Die Verfassung, S. 17 (alle Zitate).

66

Mahrenholz, Die Verfassung, S. 21. Im Ergebnis ebenso etwa Hans-Peter Schneider, Verfassunggebende Gewalt, S. 10.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

119

Zum zweiten soll die gebotene Verfassungserzeugung durch das Volk erfordern, daß die Bürger über das Verfassungsgesetz (rechts)förmlich und positiv entscheiden.67 Sei es durch die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung, die als solche kraft der verfassunggebenden Gewalt des Volkes handelt, sei es durch Abstimmung des Volkes über eine erarbeitete Verfassung im Akt eines Referendums. 68 Erforderlich sei jedenfalls die (mehrheitliche) positive Zustimmung der Bürger zur Verfassung. Dieses Erfordernis soll zweierlei als unzulässig ausschließen: Die Annahme stillschweigender "Zustimmung", weil diese von "resignierender Duldung" und "gleichgültigem Desinteresse" kaum zu unterscheiden sei. Und die Interpretation sonstiger, gar nicht ausdrücklich auf Verfassunggebung gerichteter Willensäußerungen des Volkes als konkludente Zustimmung. 69 Beide Konkretisierungen zusammen genommen rechtfertigen die Feststellung, daß die Gegner der reinen Beitrittslösung den Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes gleichsam wörtlich nehmen. Sie nehmen ihn insofern wörtlich, als sie ihn als praktische Handlungsanleitung zur Herstellung einer legitimen Verfassung verstehen: "So gesehen ist die verfassunggebende Gewalt nicht bloß ein 'Sprachbild' oder gar nur eine staatsnotwendige Fiktion, sondern Ort und Hort verfassungsstaatlicher Legitimität, eine Art 'Residuum' des Staatsrechts im vorverfassungsmäßigen Zustand, kurzum: Ausdruck der 'Verfaßtheit' des schöpferischen Prozesses der Verfassungsgenese". 70 - Legitim ist eine Verfassung, die dermaßen erzeugt wird. Wird sie so erzeugt, wird sie als legitime Verfassung geboren. Dieses Legitimitätsverständnis läuft nicht nur auf eine starke Betonung, sondern auf eine Besonderung des Entstehungszeitpunktes der Verfassung hinaus. Die legitime Entstehung der Verfassung erfordert die tatsächliche Zustimmung der Bürger, für ihr weiteres Wirken genügt deren - konkludente - Anerken-

67

Oben § 1 III. 2.

68

Mahrenholz, Die Verfassung, S. 15 f.

69

Murswiek, Verfassunggebende Gewalt, S. 126, einschließlich Anmerkung 83 und Mahrenholz, Die Verfassung, S. 48, Anmerkung 54. Nach Udo Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 61 ff., soll nur die Annahme stillschweigender Zustimmung, nicht aber die Annahme konkludenter ausgeschlossen sein. 70

Hans-Peter Schneider, Verfassunggebende Gewalt, S. 4; siehe auch S. 6.

120

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

nung. 71 Soll sich also auch nach diesem Verständnis die Verfassung nicht in einen kontinuierlichen Prozeß tatsächlicher Selbstverständigung(en) auflösen, sondern "sich als Norm von der Dezision, der sie ihre Geltung verdankt, (verselbständigen)",72 bedarf die Notwendigkeit anfanglicher tatsächlicher Zustimmung der Begründung. Wodurch ist die Herausgehobenheit des Aktes der Verfassungsgebung verdient? Die Antwort liegt offenbar im Begriff der Gründungssituation. 73 Versteht man das "Projekt Verfassung" als jenen Prozeß tatsächlicher Selbstverständigung, die angesichts (der Wahrnehmung) einer Gründungssituation, also historischer Diskontinuität unausweichlich wird, gewinnt einmal das rechtlich fixierte Ergebnis dieser Verständigung den Charakter eines (zeichenhaften) normativen Plans und zum anderen der Beschluß jenes Plans den Charakter eines gesellschaftlichen Neubeginns. Ein gesellschaftlicher Neubeginn, ein Anfang, ist als solcher aber nur erkennbar, wenn er sich von der Normalität der Vergangenheit wie der Zukunft unterscheidet. Anfangen erfordert (und bedingt) Prominenz. Deshalb soll der Gründungsakt in einer Volksabstimmung bestehen, und deshalb kann die Abstimmung des Volkes über die Verfassung nicht kontinuierlich wiederholt werden.

b)... im Verständnis der Befürworter der reinen Beitrittslösung Auch für die Befürworter der reinen Beitrittslösung antwortet die "verfassungsgebende Gewalt des Volkes" auf das Problem der Begründung der Geltung der Verfassung. Dem Verständnis der Verfassung als höchstrangiges positives Gesetz stellt sich das Legitimationsproblem jedoch, wie angedeutet, in anderer Weise. Als höchstrangiges positives Gesetz kann die Verfassung die Legitimationsfrage streng genommen nur zurückweisen. Ihr Zuhöchstsein widerspricht einer Rechtfertigungspflicht. 74 Andererseits beschwört die Verfassung die Frage nach ihrer Rechtfertigung selbst herauf. Nämlich durch die Hierarchisierung der Normen in Verfassung - einfaches Gesetz - Rechtsverordnung 71

Oben 4. b, FN 52.

72

Grimm, Verfassung (1989), in: ders., Zukunft, S. 15.

73

Oben § 1 III. und Preuß, Neue Verfassung, S. 15: "(...) Verfassunggebung ist ein Vorgang der politischen Gründung (...)". 74

Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 932 f.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

121

und ihr Konzept, die Normen minderen Ranges aus den Normen höheren Ranges rechtlich zu rechtfertigen. Die Legitimationsfrage gleichzeitig zurückzuweisen und zu beantworten, kann nur auf eine Weise gelingen: durch die tautologische Antwort, nach der die Verfassung gilt, weil sie gilt. Denn diese Antwort bezeichnet die Selbstrechtfertigung des positiven Rechtes. Sie ist allerdings aus den genannten Gründen gesellschaftlich nicht anschlußfahig. 75 Also stellt sich die Verfassung - analog zur gesetzgebenden Gewalt - als durch die verfassungsgebende Gewalt legitimiert dar. Das ist zwar, wie gezeigt, eine paradoxe Legitimation. Die Paradoxic ist aber im Vergleich zur Tautologie schwerer erkennbar und deshalb alltäglich unbefangener handhabbar. Seine Verwendung als Mittel zur Darstellung der Selbstrechtfertigung des (positiven) Rechts erfordert freilich einen anderen Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes als deren Verständnis im Sinne einer Anleitung zur Herstellung einer legitimen Verfassung. In darstellender Verwendung kann der Begriff gerade nicht die reale Erzeugung der Verfassung durch die Bürger meinen. Das widerspräche der Selbstrechtfertigung des Rechts. In darstellender Verwendung hat die Verfassung ihren "Ursprung" in der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes vielmehr in einem fiktionalen Sinn. Die Verfassung wird dem Volk normativ zugerechnet: Sie gilt als und weil vom Volk gegeben. Auch das ist eine - nämlich die normative - Lesart des oben (4. a) zitierten Satzes der Präambel des Grundgesetzes. Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, muß die Darstellung allerdings glaubhaft sein. Soll die Verfassung ihr zufolge ihre abschließende Geltungsabsicherung nicht dort finden, wo sie sie findet, nämlich im Recht, sondern dort, wo sie sie nicht findet, nämlich im Volk, muß die Verfassung dem Volk wenigstens zurechenbar erscheinen. Als Fiktion darf die Zurechnung daher weder überspannt werden noch durch Tatsachen (scheinbar) leicht zu widerlegen sein. Überspannt würde sie, nähme die Verfassung in Anspruch, jede einzelne ihrer Normen läge im Willen des Volkes. Als legitim erscheint eine Verfassung in diesem Verständnis vielmehr schon dann, wenn ihr "Grundkonzept", ihr Identi-

75

Oben 4. a.

122

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

tätskern - im Falle des Grundgesetzes also jedenfalls 76 der Inhalt seines Art. 79 Abs. 3 - den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung entspricht. 77 Daß der freiheitliche demokratische Rechsstaat im Sinne des Grundgesetzes den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung Gesamtdeutschlands entspricht, kann aber überzeugend dargetan werden. In bezug auf die Bevölkerung der (früheren) Bundesrepublik durch den Hinweis auf die tatsächliche Geltung des Grundgesetzes. Und in bezug auf die Bevölkerung der (ehemaligen) DDR durch den Verweis auf die Ziele der Revolution und den Ausgang der ersten freien Wahl zur Volkskammer sowie die Erklärung des Beitritts. Das zweite Problem der Zurechenbarkeit ist damit bereits angesprochen. Als Fiktion ist die Zurechnung der Verfassung auf das Volk anfallig gegen ihr scheinbar - 7 8 widersprechende Tatsachen. Wird von der tatsächlichen Geltung und von den genannten Willensäußerungen auf die Legitimität des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung geschlossen, kann diese normative Zustimmung durch eine förmliche Volksabstimmung nur in Zweifel geraten. Deshalb lehnen die Befürworter der reinen Beitrittslösung eine Volksabstimmung über das Grundgesetz ab. Die Ablehnung entspringt aber nicht etwa der "Befürchtung des Scheiterns oder des knappen Ausgangs eines Referendums". 79 In Zweifel geriete die Legitimität des Grundgesetzes nämlich unabhängig vom Maß der tatsächlichen Zustimmung, mithin auch bei achtzig Prozent und mehr. 80 Die Ablehnung eines Referendums beruht vielmehr auf der Überlegung, daß normative Zustimmung gegenüber tatsächlicher kein minus, sondern ein aliud ist. Normative Zustimmung bedeutet Akzeptanz, tatsächliche Geltung, erfaßt also ununterscheidbar - tatsächliche Identifikation, Indifferenz und nicht (massenhaft) geäußerten Widerspruch. 81 So gesehen birgt ein verfassungsrechtlicher Neubeginn stets ein erhebliches Risiko: weil ein tatsächlich geltendes höchstrangiges Gesetz, eine in Kraft be76

Daß Art. 79 Abs. 3 GG die Identität des Grundgesetzes (anders als die der Staatsform) vollständig wiedergibt, bezweifelt etwa Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 236 f. 77

Gleichsinnig Bryde, S. 231.

78

Scheinbar, weil sich eine Fiktion (im Unterschied zu einer Vermutung) bewußt in Widerspruch setzt zur Wirklichkeit. 79

Wie Mahrenholz, Die Verfassung, S. 48, Annmerkung 54, annimmt.

80

Im Ergebnis ebenso Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 934.

81

Oben 3.

II. Die Differenz in sozialer Hinsicht

123

findliche Verfassung zwar als Ausdruck des gesellschaftlichen Konsenses gelesen werden kann, dieser Konsens tatsächlich aber nicht besteht. "Verfassungskonsens" ist kein empirischer Konsens. Integration ist eine Leistung des Verfassungsrechts, nicht seine Voraussetzung, seine Substanz.82

c)... im Vergleich Für das Verständnis der Verfassung als höchstrangiges Gesetz ist der Idealfall einer (legitimen) Verfassung deshalb eine Verfassung, die fraglos funktioniert. Demgegenüber rührt die Frage, woher die Verfassung kommt, an ein Tabu. Denn diese Frage nach der Einheit hinter der Verfassung, nach der Einheit, die die Verfassung "machen" soll, erscheint aus jener Sicht als unbeantwortbar. Sie ist die Frage nach der Positivität des Rechts und damit nach der Struktur der Gesellschaft. Die Gesellschaftsstruktur ist - mit den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung - aber immer schon vorhanden. Sie kann also nicht "gemacht" werden. Die Verfassung, das positive Recht gibt sich gleichsam selbst. Das Volk verschwindet im positiven Recht. A n seine verfassungsgebende Gewalt kann man daher nur glauben: " Wer die Verfassung machen soll? Diese Frage scheint deutlich, zeigt sich aber bei näherer Betrachtung sogleich sinnlos. Denn sie setzt voraus, daß keine Verfassung vorhanden, somit ein bloßer atomistischer Haufen von Individuen beisammen sei. (...). - Setzt aber jene Frage schon eine vorhandene Verfassung voraus, so bedeutet das Machen nur eine Veränderung (...). - Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende, und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist." 83 82

Formuliert in Anlehnung an Josef Isensee, Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: ders./Kirchhof, Bd. VII, S. 103 (161, Rn 106): "Integration ist eine Wirkung des Verfassungsrechts, nicht sein Inhalt". 83

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsgg. von Johannes Hoffmeister, 4. Aufl. 1962, § 273 am Ende, S. 239. Gleichsinnig Isensee, Schlußbestimmung, S. 294 f., Rn 46: die verfassunggebende Gewalt als "juristischer Kunstgriff'. Zu den Funktionen der verfassungsgebenden Gewalt "als Ideologie" siehe Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 934.

124

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

Daß man an die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und deren rechtfertigende Kraft nur glauben kann, wird durch die Präambel (a. und n.F.) des Grundgesetzes nicht widerlegt. Sie beweist ebenso wenig die Existenz einer verfassungsgebenden Gewalt des Volkes wie die Erwähnung Gottes einen Gottesbeweis darstellt. 84 Die Präambel enthält insoweit normative Selbstbekundungen des Grundgesetzes.85 Deshalb darf man sie nicht "realhistorisch" lesen86 und aus dieser Lektüre auf Geburtsfehler des Grundgesetzes schließen.87 Anders erscheinen die Dinge beim Verständnis der Verfassung als Ausdruck der Selbstverständigung eines Volkes. Die Frage nach dem Woher der Verfassung ist beantwortet. Die Einheit hinter der Verfassung, die Einheit, die die Verfassung gibt, ist das reale Volk, das einen gesellschaftlichen Neuanfang "macht". Demgegenüber antwortet auf die Frage, weshalb die Verfassung nach diesem Anfang legitimerweise weiter gilt, nur noch der Glaube an den Beruf jener (Gründungs-)Zeit für Verfassungsgebung.

I I I . Resümee: pathetisches und technisches Verfassungsverständnis Der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung liegen zwei unterschiedliche Lesarten der Verfassung zugrunde, die sich zu differenten Verfassungsverständnissen verdichten lassen. Sie bedingen eine unterschiedliche Auffassung der Ausgangsfrage der Debatte, nämlich der Frage, ob das Grundgesetz die dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung sein kann oder es einer neuen Verfassung bedarf. Wer die Verfassung als juristisch vollziehbaren Ausdruck des "Projekts Verfassung", das heißt der historischen Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung liest, der versteht die Frage als Legitimationsfrage. Denn für ihn erfüllt die Verfassung primär eine "pathetische" Aufgabe - pathetisches Verfassungsverständ84

Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 930, 934.

85

Isensee, Schlußbestimmung, S. 294, Rn 45.

86

Ein Beispiel, wie eine historisch wahre Präambel des Grundgesetzes hätte lauten müssen, gibt Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 930. 87

So aber Hans-Peter Schneider, Verfassunggebende Gewalt, S. 22, Rn 37.

III. Resümee: pathetisches und technisches Verfassungsverständnis

125

nis -: die den Bürgern gemeinsamen Überzeugungen hinsichtlich einer guten und gerechten Gesellschaft zu artikulieren ("Gesellschaftsverfassung"). Also erscheint ihm die Ausgangsfrage als Frage nach dem "Können" des Grundgesetzes im normativen Sinne, im Sinne eines Dürfens: Verfügt das Grundgesetz über die Berechtigung, die Legitimation zwischen legitimer und illegitimer Herrschaft nicht nur für die Gesellschaft der (früheren) Bundesrepublik zu unterscheiden, sondern auch für die gesamtdeutsche Gesellschaft? Die Frage wird verneint. Vor allem deshalb, weil die Bürger der (ehemaligen) DDR an der Entstehung des Grundgesetzes nicht beteiligt gewesen seien. Wer die Verfassung demgegenüber schlicht als höchstrangiges positives Gesetz liest, der versteht die Ausgangsfrage der Verfassungsdebatte als Frage nach der Leistungsfähigkeit des Grundgesetzes. Denn für ihn liegt die Aufgabe des Verfassungsgesetzes darin, ein "technisches" Problem zu lösen - technisches Verfassungsverständnis - 8 8 : Das Verfassungsgesetz soll wirken wie jedes Gesetz wirkt, es also erlauben, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, dadurch allerdings - als höchstrangiges Gesetz - das politische System relativ verselbständigen, den politischen Apparat stabilisieren und es ihm ermöglichen, kollektiv verbindlich zu entscheiden ("Staatsverfassung"). Also erscheint ihm die Ausgangsfrage als Frage nach dem "Können" des Grundgesetzes im technischen Sinne: Ist das Grundgesetz in der Lage, die Politik Gesamtdeutschlands als entscheidungsfähigen freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat zu organisieren? Die Frage wird unter Hinweis auf die Bewährung und die gesamtdeutsche Akzeptanz des Grundgesetzes bejaht. Die Verfassungsverständnisse und damit die Beurteilungsmaßstäbe beider Parteien differieren aber nicht nur in bezug auf die Aufgabe der Verfassung, 88 Die Bezeichnungen verstehen sich beschreibend, nicht wertend: "Technisch" steht für künstlich, spezifisch, instrumenteil; "Pathetisch" steht für existentiell, umfassend, ergreifend. Sie empfehlen sich, weil andere Gegenüberstellungen (siehe unten § 7 III. 2. am Ende) ideologisch belastet erscheinen. Unter diesem Vorbehalt: Den technischen Charakter der rechtsstaatlichen Verfassung betont vor allem Emst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Hans Barion/Ernst Forsthoff/Wemer Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, 1959, S. 35 (36, 61): "Der Rechtsstaat ist seinem Wesen nach nicht eine organisierte Gesinnungs- oder Erlebniseinheit, sondern ein institutionelles Gefüge oder, um es kraß zu formulieren, ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit." Zur Kritik Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff.

126

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

also in sachlicher Hinsicht, sondern - dadurch bedingt - auch in zeitlicher und sozialer Hinsicht. So lenkt die Legitimationsfrage nach pathetischem Verständnis den Blick auf die Entstehung der Verfassung, auf den Prozeß der Verfassungsgebung. Soll die Verfassung die Legitimität von Herrschaft gewährleisten, muß sie zusätzlich zu den rechtlichen Bedingungen der Möglichkeit einschränkende politisch-moralische Bedingungen der Richtigkeit gesellschaftlicher Ordnung enthalten. Das erhöht die politisch-moralischen Anforderungen an die Art und Weise ihres legitimen Zustandekommens. Da die gute und gerechte Ordnung nicht (mehr) selbstevident ist, sind die entsprechenden Vorstellungen und Überzeugungen jedes Bürgers grundsätzlich von Belang. Die sachliche Legitimität, die Eignung einer Verfassung wird zur abhängigen Variablen ihrer sozialen Legitimation. In sozialer Hinsicht legitim ist daher nur eine Verfassung, die das Ergebnis einer tatsächlichen Selbstverständigung der Bürger darstellt. Von einer tatsächlichen Selbstverständigung der Bürger kann aber nur die Rede sein, wenn eine möglichst alle Bürger einbeziehende öffentliche Debatte auch über die einzelnen Regelungen der Verfassung stattgefunden hat und die Bürger der Verfassung förmlich - bevorzugt in einem Referendum - (mehrheitlich) tatsächlich zugestimmt haben. Die Einheit hinter der Verfassung, die Einheit, die die Verfassung gibt, ist das reale Volk. Demgegenüber lenkt die Frage nach der Leistungsfähigkeit technischem Verständnis zufolge den Blick auf die Wirkungsgeschichte der Verfassung, auf die tatsächliche Geltung des Verfassungsgesetzes selbst. Soll das Verfassungsgesetz durch deren Beschränkung der Ermöglichung von Politik dienen, kommt es wesentlich auf die (relative) Fremdheit von Verfassungsrecht und Politik an. Verfassungsrecht und Politik sind einander aber um so fremder, je weniger das Verfassungsrecht die inhaltliche Richtigkeit von Politik, etwa durch Staatszielbestimmungen, intendiert. A u f Identifikation der Bürger ist das Verfassungsgesetz daher weder angelegt noch angewiesen. Als ausreichende (und erreichbare) demokratische Legitimation erscheint vielmehr seine tatsächliche Geltung, die generelle Bereitschaft in der Bevölkerung, das Verfassungsgesetz letztlich hinzunehmen. Das Verfassungsgesetz muß dem Volk lediglich (fiktiv) zurechenbar sein. Das ist der Fall, wenn sein "Grundkonzept" - im Falle des Grundgesetzes: der Inhalt des Art. 79 Abs. 3 - den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung entspricht. Das Verfassungsgesetz gilt dann als und weil vom Volk gegeben. Die-

III. Resümee: pathetisches und technisches Verfassungsverständnis127 ser Legitimität aufgrund normativer Zustimmung kann eine förmliche Volksabstimmung über die Verfassung nur abträglich sein, und zwar unabhängig vom Maß der tatsächlichen Zustimmung, das sie erbringt. Denn normative Zustimmung bedeutet Akzeptanz, tatsächliche Geltung, erfaßt also - ununterscheidbar tatsächliche Identifikation, Indifferenz und nicht (massenhaft) geäußerten Widerspruch. "Verfassungskonsens" ist kein empirischer Konsens. Integration ist eine Leistung des Verfassungsrechts, nicht seine Voraussetzung, seine Substanz. Die offene Flanke dieses technischen Verfassungsverständnisses ist die Frage nach dem "Woher" der Verfassung. Denn damit ist nach der Positivität des Rechts, mithin nach der Struktur der Gesellschaft gefragt. Die Gesellschaftsstruktur ist mit den grundsätzlichen Erwartungen der Bevölkerung, mit dem (positiven) Recht aber immer schon vorgegeben. Sie kann also nicht "gemacht" werden. Die Verfassung, das positive Recht gibt sich gleichsam selbst. A n die verfassungsgebende Gewalt des Volkes kann man daher nur glauben. Die offene Flanke des pathetischen Verfassungsverständnisses ist hingegen die Frage, weshalb die Verfassung auch für jene gelten soll, die ihr nicht tatsächlich zugestimmt haben, also etwa auch für die der "verfassungsgebenden Generation" nachfolgenden Generationen. Hier hilft nur der Glaube an den Beruf einer (Gründungs-)Zeit für Verfassungsgebung. In einer Gründungssituation soll sich die gesamtdeutsche Gesellschaft allerdings befinden. Dies aus drei Gründen. Aufgrund der Revolution in der DDR, aufgrund des Endes der Übergangszeit der (alten) Bundesrepublik und wegen der politischen Tiefenwirkung der deutschen Einigung. Das ist die Sicht der Vertreter des pathetischen Verfassungsverständnisses. Im Unterschied dazu sehen die Vertreter des technischen Verfassungsverständnisses die gesamtdeutsche Gesellschaft verfassungsrechtlich, nicht politisch, in kontinuierender Normallage. Nach pathetischem Verfassungsverständnis gehört deshalb an den Anfang der Wiedervereinigung ein "Wir" der Bürger beider Teile Deutschlands, die existentielle Einheit der Gesellschaft: Zukunftsvergewisserung durch selbstvergewissernde Identitätsbestimmung im Verfahren und Akt der Verfassungs(neu)schöpfung. Nach technischem Verfassungsverständnis stellt die Wiedervereinigung dem (Verfassungs-)Recht nur das Problem der institutionellen Fusion zweier Staaten, das Problem der Staats- und Rechtseinheit. Die Einheit "im

128

1. Teil: § 4 Verfassungstheoretische Bilanz der Diskussion

übrigen", insbesondere die "innere Einheit", ist Aufgabe anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme, darunter der Politik, fur die das Verfassungsrecht lediglich Kompetenzen und Verfahren für verbindliches Entscheiden bereitzuhalten hat. Die Gegensätzlichkeit erhellt, daß sich pathetisches und technisches Verfassungsverständnis nicht wechselseitig ergänzen können, etwa als Lehre der Verfassungsentstehung einerseits und als Lehre der geltenden Verfassung andererseits. Dazu sind ihre Antworten auf die Fragen, "was Verfassungen sollen und was Verfassungen können" 89 und damit die Maßstäbe, nach denen sie eine Verfassung beurteilen, zu unterschiedlich. So kann eine Verfassung schwerlich zugleich im pathetischen Sinne (moralisch) legitim und im technischen Sinne (rechtlich) effektiv sein. Je mehr sie darauf angelegt ist, die Identifikation der Bürger zu ermöglichen, desto weniger fremd werden sich Verfassungsrecht und Politik. Das rechtfertigt es, die beiden Argumentations- und Beurteilungszusammenhänge einander gegenüberzustellen. Die Gegenüberstellung begründet die Vermutung, daß das technische Verfassungsverständnis bezogen ist auf eine bestimmte, nämlich die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur. Es versteht sich offenbar als das Verständnis der Verfassung in einer funktional differenzierten Gesellschaft und insofern als das Verständnis der demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung. Im Vergleich dazu hat das pathetische Verfassungsverständnis den weiteren Horizont. Es erlaubt einen Begriff der (legitimen) demokratischen Verfassung schlechthin, der demokratischen Verfassung, die nicht notwendig eine rechtsstaatliche Verfassung sein muß, ja möglicherweise widerspruchsfrei gar keine sein kann. Das pathetische Verfassungsverständnis bezieht sich nicht auf eine Differenzierungsform der (demokratischen) Gesellschaft, sondern auf deren Existenz.

89

Dieter Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform (1972), in: ders., Zukunft, S. 313.

Zweiter Teil

Theorie der Verfassungskritik § 5 Das Scheitern des pathetischen Verfassungsverständnisses und seine Gründe I. Das Scheitern Die gegebene Darstellung der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung zeigt das pathetische Verständnis der Verfassungsfrage durchgängig unterlegen. Die mit ihm verknüpften Erwartungen wurden in allen drei Diskussionsphasen enttäuscht. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nimmt den der angenommenen Gründungssituation unangemessenen Weg des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 (a.F.) GG. Seine (vorläufige) Verfassung erhält Gesamtdeutschland deshalb nicht durch das Volk, durch eine verfassungsgebende Selbstverständigung der Bürger beider Teile Deutschlands, sondern durch das Recht, durch die rechtstechnische Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes auf die fünf neuen Länder und Berlin (Ost), vorgesehen in dem von den Regierungen beider Staaten ausgehandelten Einigungsvertrag. Zu einem "Wir" der Bürger kommt es auch nach der staatlichen Vereinigung nicht. Art. 146 (n.F.) GG wird überwiegend nicht als "Verfassungsgebungsnorm" verstanden, die die nicht-revolutionäre Ablösung des Grundgesetzes ermöglicht, und es erlaubt, eine neue, eine demokratisch makellose und inhaltlich "zukunftstauglichere" Verfassung zu schaffen. Dominierend ist vielmehr das Verständnis der Schlußbestimmung (n.F.) als Verfassungsrevisionsnorm, die an einen Volksentscheid erinnert. Zu einer Volksabstimmung über das (geänderte) Grundgesetz kommt es indessen ebenfalls nicht. Seine dauerhafte Gestalt als gesamtdeutsche Verfassung gewinnt das Grundgesetz statt dessen ausschließlich in dem von ihm vorgesehenen herkömmlichen Verfahren der Verfassungsänderung durch die gesetzgebenden Körperschaften. 9 Huba

2. Teil: § 5 Das Scheitern und seine Gründe

130

Dabei erstrecken sich die Verfassungsänderungen im wesentlichen auf seinen organisationsrechtlichen Teil. Den Bereich Präambel/Grundrechte/Staatsziele, der als gesellschaftlicher Teil, als primärer Bereich gesellschaftlicher Identitätsbestimmung und Integrationsstiftung angesehen wird, berühren sie kaum. Die Reform gestaltet das Grundgesetz inhaltlich lediglich europäischer und föderativer. Den Forderungen nach mehr direkter Demokratie, nach mehr unmittelbarer politischer Teilhabe der Bürger an den staatlichen Entscheidungen und nach einem Mehr an Sozialem, insbesondere an sozialen Staatszielen und an Solidaritätsstiftung, entspricht sie nicht. Und "zukunftsfähiger" wird das Grundgesetz nur insofern, als es den Umweltschutz zum Staatsziel erklärt.

II. Die Gründe Dieser Befund wirft die Frage nach den Gründen für das Scheitern auf. Weshalb ließen sich die pathetischen Ansprüche an das Verfahren zur Herstellung und an den Inhalt der gesamtdeutschen Verfassung nicht realisieren?

1. Politische Gründe Abgesehen von der wenig erklärungsstarken Behauptung, den Deutschen fehle es an "Talent zur Verfassungsreform", 1 werden - wie bereits angedeutet - 2 im wesentlichen politische Gründe angeführt. Danach soll die verfahrensmäßige und inhaltliche "Neukonstituierung" Gesamtdeutschlands an dem entgegenstehenden politischen Willen einer konservativen Regierungskoalition und Parlamentsmehrheit gescheitert sein.3 Die amtliche Politik sei nicht bereit gewesen zur Kenntnis zu nehmen, daß die Wiedervereinigung nicht einfach eine (quantitative) Vergrößerung der (alten) Bundesrepublik bedeuten könne.4 1

Hans-Peter Schneider, Das Grundgesetz - auf Grund gesetzt?, NJW 1994, S. 558,

561. 2

Oben § 3 VII. am Ende.

3

Helge-Lothar Batt, Verfassungspolitik im vereinigten Deutschland, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 211 (215, 221, 225 f.); Jürgen Seifert, Die gescheiterte Erneuerung des Grundgesetzes, Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 1993, S. 90 (94). 4

Dieter Grimm, Verfassungsreform in falscher Hand?, Merkur 1992, S. 1059

(1060).

II. Die Gründe

131

Gibt man sich mit dieser Erklärung zufrieden, haben alleine die aus der ersten freien Wahl zur Volkskammer und aus der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl resultierenden politischen Machtverhältnisse über Art und Umfang der Erneuerung der Verfassung entschieden. Dann aber war das Schicksal einer pathetischen Lösung der Verfassungsfrage bereits 1990 besiegelt. Gleichwohl war die Verfassungsdiskussion 1990 nicht beendet. Diese Tatsache alleine spricht zwar nicht gegen eine rein politische Erklärung des Scheiterns. Schließlich tut die politische Opposition gut daran, Opposition auch dann zu üben, wenn ihre Auffassungen derzeit nicht durchsetzbar erscheinen. Gegen eine rein politische Erklärung spricht aber, daß gerade die progressive Position, und zwar einschließlich ihrer parteipolitischen Spitze in SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS/Linke Liste, nie nur politisch, sondern immer auch sachlich, das heißt verfassungsrechtlich, vor allem jedoch verfassungstheoretisch argumentiert hat. Eine verfassungstheoretische Aussage läßt sich indessen nicht einfach politisch überspielen. Enthält sie eine zutreffende Beschreibung der Aufgabe der Verfassung, muß jede politische Mehrheit diese in Rechnung stellen, will sie Fehler bei der Belassung des alten und bei der Bestimmung des neuen Inhalts der Verfassung vermeiden. Das gilt in besonderem Maße für die Argumentation des pathetischen Verfassungsverständnisses. Die (staatliche) Wiedervereinigung habe, so läßt sie sich zusammenfassen, Deutschland in eine gesellschaftliche Gründungssituation geführt, nämlich vor die Notwendigkeit, die beiden unterschiedlichen Gesellschaften zu integrieren und die innere und äußere Identität der neuen Gesellschaft zu definieren. Deshalb sei eine neue Verfassung(sgebung) vonnöten, in der alle Bürger sich gleichberechtigt über die Bedingungen der Einheit der Gesellschaft verständigten und die Ziele der zukünftigen Entwicklung dieser Einheit festlegten. Dieser Argumentation liegt die Vorstellung zugrunde, die Verfassung dokumentiere ein "Wir" der Bürger und orientiere die gesellschaftliche Entwicklung. Trifft diese Vorstellung zu, kann auch die herrschende Mehrheit den Inhalt der Verfassung nicht von mehr oder minder zufalligen, ihr gerade günstigen Ergebnissen routinemäßiger Wahlen abhängig machen: Sonst bliebe die Gesellschaft womöglich unintegriert, unidentifiziert und desorientiert. Mit den politischen Machtverhältnissen alleine ist das Scheitern der pathetischen Ansprüche an die Lösung der Verfassungsfrage demnach nicht zu erklären. Aus pathetischer Sicht der Verfassung erweist es sich sogar als widersprüchlich zu behaupten, über die Verfassung werde alleine unter politischem

132

2. Teil: § 5 Das Scheitern und seine Gründe

Aspekt entschieden, und deshalb sage die Bewegung bzw. Nichtbewegung der Verfassung etwas über die herrschende Politik, aber nichts über die Verfassung. Der Widerspruch löst sich freilich, erkennt man diese Argumentation als politische. Als politische Argumentation jedoch kann sie verfassungstheoretisch nicht überzeugen. Denn mit der politischen Behauptung, "Probleme der Verfassung und der Verfassungsreform" reduzierten sich auf "politische Machtfragen",5 wird die Frage nach sachlichen Maßstäben fur eine Verbesserung oder eine Erneuerung der Verfassung lediglich zurückgewiesen. Verfassungstheoretisch ist aber gerade diese Frage von Belang. - Weshalb also haben die pathetischen Ansprüche das Grundgesetz so wenig berührt? Weshalb war die Gegenseite erfolgreicher? Ist das hier so genannte technische Verfassungsverständnis "zeitgemäßer", der historischen Lage des Gesellschaftssystems angemessener? Ist die pathetische Position so gesehen nicht (nur) an ihren politischen Gegnern, sondern (auch) an sich selbst gescheitert?

2. Sachliche Gründe a) Diagnose der gesellschaftlichen Lage und Verfassungsbegriff Zwei sachliche Gründe für das Scheitern des pathetischen Verständnisses der Verfassungsfrage erscheinen denkbar. Zum einen könnte die Diagnose der gesellschaftlichen Lage unzutreffend gewesen sein. Möglicherweise befand sich Deutschland durch die Wiedervereinigung gar nicht in einer gesellschaftlichen Gründungssituation. Zum anderen könnte das pathetische Verständnis der Verfassung unangemessen sein. Als Ausdruck eines "Wir" der Bürger und als gesellschaftliches Entwicklungsprogramm zu dienen, diese Aufgabenzuschreibung könnte die gesellschaftliche Funktion der Verfassung verfehlen und ihre Leistungsfähigkeit überfordern. Entgegen einem möglichen ersten Eindruck lassen sich beide Fragen freilich nicht gegeneinander isolieren. Die Forderung einer nach Verfahren und Inhalt neuen Verfassung ergibt sich nicht einseitig aus der Diagnose. Die Diagnose ist umgekehrt auch geprägt vom Verständnis der Verfassung. Das belegt ein Blick auf die drei Bedingungen, die die Gründungssituation ausmachen sollen.6

5

Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, S. 14.

6

Oben § 1 III.

II. Die Gründe

133

Soweit sich die Diagnose darauf stützt, daß mit der staatlichen Wiedervereinigung das Ende der Übergangszeit der alten Bundesrepublik gekommen sei, liegt ihr die spezifisch pathetische Vorstellung von der Legitimität einer Verfassung zugrunde: Eine Verfassung ist nur legitim, wenn sie legitim entstanden ist. Und demokratisch legitim entstanden ist sie nur, wenn die Bürger ihr tatsächlich zugestimmt haben. Da es dem provisorischen Grundgesetz an dieser Zustimmung fehlt, gebricht es ihm an Legitimität als dauerhafte Verfassung. Also gerät die alte Bundesrepublik mit der Wiedervereinigung in den Zustand der Unverfaßtheit. Daß der Begriff der Gründungssituation Unverfaßtheit meint, und wie sehr er deshalb von dem pathetischen Begriff der Verfassung abhängt, zeigt auch die Analyse der Lage der DDR. Auch sie soll sich im Zustand der Unverfaßtheit befinden, weil der revolutionäre Bruch mit der sozialistischen Herrschaftsordnung eine (neue) gesellschaftliche Selbstverständigung unausweichlich mache. In den Zielen der Revolution und in der Erklärung des Beitritts könne eine (konkludente) Selbstverständigung nicht gesehen werden. Ebenso wenig offenbar in den zahlreichen von der Volkskammer vorgenommenen Änderungen der DDR-Verfassung. 7 Die Selbstverständigung muß eben ausdrücklich erfolgen, nämlich in der Erarbeitung eines breit diskutierten Verfassungstextes bestehen, der von den Bürgern förmlich zu beschließen ist. Gleiches gilt für die Feststellung, die politische Tiefenwirkung der deutschen Einigung verlange nach einer gesamtdeutschen Selbstverständigung. Eine Änderung des politischen Lebensgefühls der Bürger ist nur dann nicht lediglich politisch, sondern verfassungserheblich, wenn man der Verfassung die Aufgabe zuschreibt, die Individuen, die die Gesellschaft ausmachen sollen, zuallererst zu einer Gesellschaft zu integrieren, diese zu identifizieren und für die Zukunft zu orientieren. Dann allerdings stellt nicht nur eine Änderung der Gesellschaftsstruktur, eine Änderung der grundsätzlichen Erwartungen der Gesellschaft, die Verfassungsfrage. Zu einer Verfassungsfrage wird dann nahezu jede Veränderung der Gesellschaft, einschließlich jeder nennenswerten Veränderung ihrer "personellen Zusammensetzung". Spiegelt der Begriff der Gründungssituation demnach den pathetischen Verfassungsbegriff, tritt die Frage nach dessen Angemessenheit in den Vorder7 Zusammengestellt bei Ingo von Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, 1991, S. 24 ff.

2. Teil: § 5 Das Scheitern und seine Gründe

134

grund. Auch daran könnten die pathetischen Ansprüche an die Verfassung sachlich gescheitert sein: daß das ihnen zugrunde liegende Verfassungsverständnis der Funktion der Verfassung nicht entspricht. Diese Frage weiter zu verfolgen, bietet gerade der Verlauf der Verfassungsdiskussion zweifachen Anlaß. Zum einen fallt auf, daß die pathetische Kritik das Grundgesetz nicht berührt hat. Es hat nach 1989 rechtlich wie politisch weiterfunktioniert wie zuvor. Unter (mitlaufender) Anwendung des Grundgesetzes fanden und finden Bundestags·, Landtags- und Kommunalwahlen statt, deren Ergebnisse selbstverständlich anerkannt werden. Parlamente werden konstituiert und Regierungen gebildet. Gesetze werden erlassen, in Verwaltungsverfahren vollzogen und im Streitfalle von der Rechtsprechung angewandt. Grundrechtliche Freiheiten werden in Anspruch genommen, respektiert und vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigt. Und all dies trotz aller Kritik, die dem Grundgesetz ob seiner demokratisch mangelhaften Entstehung die soziale und die sachliche Legitimität als gesamtdeutsche Verfassung abspricht. Dieser Befund weckt Zweifel an der verfassungstheoretischen Aussage, eine Gesellschaft bedürfe nicht nur einer Verfassung, die als höchstrangiges Recht tatsächlich gilt, sondern darüber hinaus einer legitimen Verfassung in dem Sinne, daß ihre reale Entstehungsgeschichte die einer tatsächlichen (Selbst-) Verständigung der Bürger zu sein habe. Denn so wurde das Grundgesetz weder ursprünglich noch als gesamtdeutsche Verfassung hergestellt, ja es unterlag nicht einmal einer (gesamtdeutschen) Volksabstimmung. Gleichwohl behauptet niemand, mangels eines integrationsstiftenden, identitätsbestimmenden, die weitere gesellschaftliche Entwicklung planenden "Wir" der Bürger habe Gesamtdeutschland keine Verfassung, eine gesamtdeutsche Gesellschaft existiere also gar nicht. 8 Mag man dieser Überlegung noch entgegen halten können, die Unzulänglichkeit des Grundgesetzes als legitime gesamtdeutsche Verfassung werde sich in Krisenzeiten noch erweisen, 9 nährt noch eine zweite Beobachtung Zweifel an der existentiellen Bedeutung der Verfassung für die Gesellschaft. So wenig die 8 9

Oben § 41. 1. b.

So etwa Ulrich Storost, Das Ende der Übergangszeit, in: Bernd Guggenberger/ Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 172(177).

II. Die Gründe

135

pathetische Kritik seiner Legitimität das Grundgesetz berührt hat, so wenig hat die Verfassungsdiskussion die Gesellschaft berührt. Auch dieser Befund erschüttert das pathetische Verständnis der Verfassung. Soll es bei der Frage nach Verfahren und Inhalt der gesamtdeutschen Verfassung um die Zusammenführung der Bürger beider Teile Deutschlands gegangen sein, um die Lebens- und Wertordnung der gesamten Gesellschaft und um ihre Zukunft, ist der Mangel einer "Verfassungsbewegung", 10 der Mangel an Resonanz der Debatte schon in Politik, Recht und Wissenschaft, vor allem aber in den anderen gesellschaftlichen Bereichen und in der Bevölkerung kaum zu erklären. Im Gegenteil. Das pathetische Verständnis der Verfassung ließ ein Verfassungsfieber historischen Ausmaßes, ähnlich dem am Ende des Ancien Régime in Frankreich erwarten. 11 Dazu ist es jedoch - vielbeklagt - nicht gekommen.12 Die Enttäuschten haben diesen Tatbestand dem Verhalten der institutionellen Politik angelastet, insbesondere dem Umstand, daß ein Gremium des Zuschnitts der GVK eingesetzt wurde. Das ist schon deshalb keine tragfahige Erklärung, weil die gesellschaftsweite Resonanz bereits in den ersten beiden Phasen der Verfassungsdiskussion bescheiden war und weil die GVK eben nicht hinter verschlossenen Türen tagte, also nicht von sich aus die Öffentlichkeit ausschloßt 3 Deren Interesse, einschließlich des Interesses der Medien war vielmehr gering. 14 Die Erklärung krankt aber darüber hinaus an einem Widerspruch. Wäre die Verfassungsfrage von der Gesellschaft tatsächlich in pathetischem Sinne, mithin als Frage der Gründung eines neuen Gemeinwesens verstanden worden, wie hätte dann eine entgegenstehende Entscheidung der amtlichen Politik den entsprechenden Wunsch der Bürger nach existentieller Selbstfindung überspielen können? Eine levée en masse stoppt man doch nicht mit der Einsetzung einer beratenden (Verfassungs-)Kommission.

10

Josef Isensee, Mit blauem Auge davongekommen - das Grundgesetz, NJW 1993, S. 2583. 11

Dazu Wolf gang Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988,

S. 12. 12

Siehe nur Seifert, Gescheiterte Erneuerung, S. 91 f.

13

Oben § 3 III. 1.

14

Rupert Scholz, Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, Zeitschrift für Gesetzgebung 1994, S. 1 (2).

136

2. Teil: § 5 Das Scheitern und seine Gründe

Ist das Ausbleiben einer "wirklichen Verfassungsinfektion" 15 mit dem pathetischen Verständnis der Verfassung kaum, so mit dem technischen leicht vereinbar. Als Geschäftsordnung für die Politik und verbindende Grenze zwischen ohnehin selbständigen Lebensbereichen 16 ist die Verfassung Sache des politischen Systems und des Rechtssystems. Die Gesellschaft als ganzes oder gar die Bürger verfaßt sie nicht. Immerhin hat es selbst der um die Wahrung neuer und alter DDR-Identitäten bemühte Zentrale Runde Tisch letztlich für entbehrlich gehalten, sich ausführlich mit den Ergebnissen seiner Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" zu befassen. So berichtet ein Beobachter: "Die Vorrangigkeit des zeitlich Dringenden engte die zur Beratung der Ergebnisse gerade dieser Arbeitsgruppe zur Verfügung stehende Zeiteinheit weiter auf knapp zwei Stunden der letzten Sitzung des Runden Tisches ein. Die zukünftige Verfassung war zu einem Problem unter anderen Tagesordnungspunkten geworden". 17 Für sehr viel Glauben an die gesellschafisgestaltende Bedeutung der Verfassung als Selbstbeschreibungs- und Zielbestimmungstext spricht das nicht. Und dies im Jahre Eins einer Revolution. Die genannten Beobachtungen rechtfertigen mithin Zweifel daran, daß das pathetische Verfassungsverständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Verfassung gerecht wird und stützen das technische. Die Unangemessenheit des einen und die Angemessenheit des anderen zu erweisen, vermögen sie nicht. Dazu fehlt es ihnen an systematischer Geschlossenheit.

b) Fortgang der Untersuchung Die Frage nach der Funktion der Verfassung soll daher anhand zweier Fallstudien weiterverfolgt werden. Zum einen anhand der Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung. Was hat das Grundgesetz zwischen 1949 und 1990 tatsächlich "bewegt", was seine Änderung veranlaßt und bedingt? Die Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes muß mit dem Einwand rechnen, damit werde das Ergebnis zugunsten des technischen Verfassungsverständnisses präjudiziell War doch das Grundgesetz - jedenfalls aus pathetischer Sicht - nie 15

Hasso Hofmann, Ober Verfassungsfieber, lus Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte Bd. X V I I (1990), S. 310 (311). 16

Oben § 2 V. 2. b) bb).

17

Uwe Thaysen, Der Runde Tisch, 1990, S. 144.

II. Die Gründe

137

eine (Voll-)Verfassung, sondern immer ein bloß provisorisches Organisationsstatut, eben ein Grundgesetz. Diesem Einwand zu begegnen, dient die Wahl des zweiten Untersuchungsgegenstandes: der Weimarer Reichsverfassung. Die Weimarer Verfassung empfiehlt sich deshalb, weil sie das pathetische Verfassungsverständnis gleichsam realisiert hat. Entstanden aus einer revolutionären Gründungssituation, in (direkt-)demokratischer und sozialer Hinsicht makellos, ähnelt sie grundsätzlich den von pathetischer Seite empfohlenen "Bürgerverfassungen", vom Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR (vom 4. April 1990) über den Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder (vom 29. Juni 1991) bis hin zur Verfassung des Landes Brandenburg (vom 20. August 1992). Die Weimarer Verfassung ist freilich gescheitert. Aus pathetischer Sicht aber gerade nicht an der "internen Qualität ihrer Regelungen", sondern an den "externen Bedingungen ihrer Verwirklichung": sie sei keine "mißglückte", sondern eine "unglückliche" Verfassung gewesen.18 Ob diese Einschätzung zutrifft, ob die Weimarer Verfassung an mangelndem "Rückhalt in der Bevölkerung und im Staatsapparat" zerbrochen ist, oder eben wegen ihres Bedarfs an Rückhalt und wegen ihrer Angewiesenheit auf "günstige Umstände",19 wird zu untersuchen sein. Zu fragen sein wird, ob ihr Mißerfolg nicht auch darauf beruht, daß sie ein Zuviel an gesellschaftlicher Integrationsstiftung und Zukunftsgestaltung versucht hat. Die Untersuchung ist mithin empirisch-historisch angelegt. Statt einen Maßstab der Verfassungskritik aus verfassungstheoretischen Grundannahmen oder einer "Idee" der Verfassung zu deduzieren, unternimmt sie den Versuch, einen solchen Maßstab aus der Funktion der Verfassung zu gewinnen, über die die Änderungen des Grundgesetzes und das Scheitern der Weimarer Verfassung Auskunft geben sollen. Diese Vorgehensweise empfiehlt ein Rückblick auf die dargestellte Verfassungsdiskussion. Sie hat gezeigt, daß es an einem einheitlichen Verfassungsverständnis fehlt. Als entsprechend streitig haben sich die verfassungstheoretischen Grundannahmen erwiesen. Deshalb muß jeder Versuch, aus solchen Annahmen auf die Funktion der Verfassung zu schließen und diese Funktion zum sachlichen Maßstab der Verfassungskritik zu erheben, unter den Verdacht geraten, nicht mehr zu sein, als eine politische Stellungnahme gegen diejenigen Ansprüche an die Verfassung, die anhand des Maßstabs zurückge18

Dieter Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution, in: Guggenberger/Stein, S. 119(120). 19

Grimm, ebda.

138

2. Teil: § 5 Das Scheitern und seine Gründe

wiesen werden. Diesen Eindruck und die ihm zugrunde liegende tatsächliche Gefahr der Teilnahme an und der Parteinahme in der Verfassungsdiskussion zu vermeiden, erfordert Distanznahme. Der empirisch-historische Ansatz soll diese Distanznahme ermöglichen: In sachlicher Hinsicht durch den Rückgriff auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der Verfassung, auf ihre zu beobachtende Funktion. Und in zeitlicher Hinsicht durch den Rückgriff auf zwei historische Beispielsfalle, die die Gewähr dafür bieten, daß die aus ihnen abzulesende Funktion der Verfassung nicht bereits überholt ist. Die Distanzierung hat freilich ihren Preis. Die Kehrseite gelingender wissenschaftlicher Objektivierung ist weitgehende politische Unbrauchbarkeit. In seiner politischen Verwendbarkeit ist ein aus der Funktion der Verfassung gewonnener Maßstab der Verfassungskritik jedem aus einer Idee der Verfassung gewonnenen weit unterlegen.

§ 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung I. Beschränkter Zweck der Untersuchung Die Untersuchung der Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung verfolgt das Fernziel, einen sachlichen Maßstab der Verfassungskritik zu gewinnen. Dieses Ziel soll über die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Grundgesetzes erreicht werden. Von den Änderungen der Verfassung auf ihre Funktion zu schließen und diese zum sachlichen Maßstab der Verfassungskritik zu nehmen, erscheint gleichermaßen problematisch. A u f den ersten Blick treten beide Schritte den Anspruch der Verfassungstheorie, als 'Orientierungsrahmen der Verfassungsreform" 1 zu dienen, an die Politik ab. Erachtet man nämlich als "Voraussetzung jeder Verfassungsänderung (...) die politische Unzufriedenheit mit geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen und das Entstehen der Forderung nach geändertem Verfassungsrecht", 2 belegt eine Verfassungsänderung lediglich den politischen Erfolg einer bestimmten Verfassungskritik. Wie aber sollte solcher politischer Erfolg sich zum sachlichen Maßstab anderer Kritik der Verfassung eignen? Indes, Verfassungsänderungen als erfolgreiche Verfassungskritik zu betrachten, ist die Sichtweise der politischen Akteure. Läßt man sich auf diese Sichtweise ein, erscheinen Verfassungsänderungen nicht nur als durch Verfassungskritik bedingt, sondern auch als auf Verfassungsverbesserung gerichtet. Denn es entspricht der Selbstdarstellung jeder Kritik, auf Verbesserung zu zielen. Verbesserung ist gleichsam die Schauseite von Veränderung. Die Aufgabe der Wissenschaft beschränkt sich dann darauf, die "Verbesserungen" zu systematisieren, etwa als Versuche, die Leistungs- und Funktionsfahigkeit der Verfas-

1

Dieter Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489. (Der erste Teil dieses Beitrages ist wiederabgedruckt in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 313 ff.) 2

Alexander Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes, 1981, S. 4.

140

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

sung zu fördern, zwischen abstrakter Verfassungsrechtsnorm und konkreter Verfassungswirklichkeit zu vermitteln oder die Zeitgemäßheit der Verfassung zu erhalten,3 freilich jeweils überlagert von der Beobachtung, daß Verfassungsänderungen primär dazu dienen, den Verschiebungen der der Verfassung zugrunde liegenden sozialen und politischen Kräfteverhältnisse Rechnung zu tragen. 4 Gewonnen ist mit einer solchen Systematisierung aber allenfalls eine Theorie der Verfassungspolitik, nicht jedoch ein unmittelbarer Beitrag zu einer Theorie der Verfassung. Das zeigt sich, versucht man anhand dieser Theorie der "Aufgabe der Wissenschaft" gerecht zu werden, "legitime Änderungsprojekte von illegitimen, gebotene von überflüssigen zu scheiden".5 Schon der Versuch einer Unterscheidung gerinnt zur Parteinahme in der je aktuellen politischen Verfassungsdiskussion. Denn über die Funktion der Verfassung besteht, wie gerade die Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung gezeigt hat, objektiv ebenso wenig Einigkeit wie über das angemessene Verhältnis von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit, über das tunliche Maß an Zeit(geist)höhe der Verfassung und über die Grenzen der Berechtigung der verfassungsändernden Mehrheit, die Verfassung in ihrem Sinne zu gestalten. Deshalb entscheiden über diese Fragen nicht sachliche Kriterien, sondern politische Präferenzen. Der Grund für diese politische Befangenheit der Theorie dürfte in der Übernahme des handlungs- und rechtfertigungsorientierten politischen Begriffs der Verfassungsänderung liegen. Anders gewendet: Zu einem sachlichen Maßstab der Verfassungskritik gelangt man nicht durch die systematische Beobachtung der Motive und erklärten Absichten der politischen Akteure, sondern durch die Beobachtung der Sache, der Verfassung und ihrer Änderung selbst. Verfassungsänderungen sollen hier deshalb nicht als erfolgreiche verfassungsverbessernde Kritik begriffen werden, sondern als Bewegungen der Verfassung bei Umweltveränderungen. In einer - freilich schwer denkbaren - abso3

Das sind die Hauptgruppen der Systematisierung der verfassungstheoretischen Aussagen zu Verfassungsänderungen durch Roßnagel (siehe insbes. S. 77 f.). Roßnagel fand die Aussagen durch seine Untersuchung in unterschiedlichem Maße (in der genannten Reihenfolge abnehmend) bestätigt (S. 289,294, 299). 4

Roßnagel S. 281, 289.

5

Grimm, Verfassungsfunktion, S. 505.

II. Umfang und Materien der Änderungen

141

lut konstanten Umwelt bewegte sich auch die Verfassung nicht. Andererseits folgt die Verfassung offenbar nicht jeder Veränderung (in) ihrer Umwelt. Dieser Tatbestand rechtfertigt es, von der Antwort auf die Frage, welche Umweltveränderungen die Verfassung wie verarbeitet, Auskunft über ihre Funktion zu erwarten. In diesem Sinne wird hier nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Verfassung gefragt. Die systematische Beantwortung der Frage erforderte es streng genommen, eine Verfassungsgeschichte der (früheren) Bundesrepublik zu erarbeiten. 6 Das kann hier nicht geschehen. Deshalb muß sich die Untersuchung der Änderungen des Grundgesetzes darauf beschränken, die Antwort auf die hinter der Verfassungsdiskussion stehenden Frage zu orientieren: Liegt die Hauptfunktion der Verfassung - grob gesprochen - in der moralischen Integration der Bürger, so das pathetische Verfassungsverständnis, oder, so das technische, in der rechtlichen Organisation von Politik. 7

II. Umfang und Materien der Änderungen Vor 1990 wurde der Text des Grundgesetzes8 durch 35 Gesetze gemäß Art. 79 GG formell 9 geändert. Die Änderungsgesetze fügten 33 neue Artikel ein, strichen 7 und enthielten weitere 74 Änderungen im engeren Sinne,10 brachten insgesamt also 114 Einzeländerungen. 11 Auf den ersten Blick scheint schon

6 Siehe etwa Klaus Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1993. 7

Oben § 4 III.

8

Zu Änderungen des materiellen Verfassungsrechts siehe Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 139-146. 9

Zu den materiellen Verfassungsänderungen nach Art. 24 Abs. 1 GG Gerhard Robbers, Die Änderungen des Grundgesetzes, NJW 1989, S. 1325 (1331 f.). 10 Einfügungen in einen Artikel und Streichungen von Teilen eines Artikels wurden als Änderungen (im engeren Sinne) gezählt. 11

Ebenso Stefan Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber 1949-1980, 1984, S. 14, der einschließlich des 34. Änderungsgesetzes auf 113 Einzeländerungen kommt (mit dem 35. also auf 114). Die Zählweise scheint allerdings leicht zu variieren: So zählt Bryde, S. 117, ohne das 35. Änderungsgesetz schon 115 Einzeländerungen, Robbers, S. 1325, einschließlich des 35. Änderungsgesetzes gar 117.

142

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

diese - oft kritisierte - 1 2 beachtliche Zahl von Änderungen die Frage nach der für die Verfassung bedeutsamen Umwelt zu beantworten. Einhundertvierzehn Änderungen bei einem ursprünglichen Bestand von 146 Artikeln legen es nahe, die relevante Umwelt der Verfassung einzig in der Politik zu vermuten, auf die die Verfassung eben nur mit Nachgeben reagieren kann. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, stellt man in Rechnung, daß alleine 12 Änderungsgesetze mit 61 Einzeländerungen in der Zeit der Großen Koalition (Dezember 1966 bis Oktober 1969) beschlossen wurden. Ein zweiter Blick jedoch ist geeignet, den Eindruck beliebiger politischer Funktionalisierbarkeit der Verfassung zu entkräften. So spricht schon die Verteilung der 114 Änderungen auf die einzelnen Regelungskomplexe des Grundgesetzes für einen erheblichen Eigensinn der Verfassung und ihrer Bewegung. Sieht man von dem 7. ÄndG 1 3 (Wehrordnung) mit 16 Einzeländerungen und dem 17. ÄndG 1 4 (Notstandsregelung) mit 28 Einzeländerungen zunächst einmal ab, verteilen sich die verbleibenden 70 Einzeländerungen wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich auf die Abschnitte des Grundgesetzes.

12

Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 15; Ingo von Münch, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, in: W D S t R L 31 (1973), S. 51 (56). Zur (ambivalenten) Selbsteinschätzung des verfassungsändernden Gesetzgebers Schaub, S. 46 ff. 13

BGBl. 1956 I S . 111.

14

BGBl. 1968 I S. 709.

II. Umfang und Materien der Änderungen

143

Tabelle

Die Verteilung der Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung (ohne das 7. und 17. Änderungsgesetz)

Abschnitte des Grundgesetzes

Zahl der Einzeländerungen

Änderungsgesetze

Präambel

-

-

I.

Die Grundrechte

-

-

II.

Der Bund und die Länder

4

25., 31., 33., 35.

III.

Der Bundestag

6

27., 32., 33.

IV.

Der Bundesrat

-

-

IVa.

Gemeinsamer Ausschuß

-

-

V.

Der Bundespräsident

-

-

VI.

Die Bundesregierung

-

-

VII.

Die Gesetzgebung des Bundes

VIII.

16

4., 10., 13., 18., 22., 23., 28., 29., 30., 31., 34.

Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung

3

10., 11., 31.

Villa.

Gemeinschaftsaufgaben

3

21., 27.

IX.

Die Rechtsprechung

13

12., 16., 19., 22., 26., 28.

X.

Das Finanzwesen

17

3., 5., 6., 8., 15., 20., 21.

Xa.

Verteidigungsfall

2

21.

XI.

Übergangs- und Schlußbestimmungen

6

l.,2., 4., 9., 14., 24.

144

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

Neben einer deutlichen Konstanz des Grundrechtsteils und des Organisationsrechts der politischen Hauptakteure zeigt die Tabelle eine Beschränkung der Bewegung im wesentlichen auf fünf Materien: 15 -

die Funktionenverteilung zwischen Bund und Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung,

-

das Finanzwesen,

-

die Rechtsprechung,

-

die parlamentarische Demokratie sowie

-

auf den Bereich der Übergangs- und Schlußbestimmungen.

I I I . Sachliche Gründe der Änderungen Die entstandene relative Übersichtlichkeit gestattet den Versuch, 16 die 114 Einzeländerungen des Grundgesetzes unabhängig von ihrer politischen Veranlassung, und insofern nach ihrem sachlichen Grund, vergröbernd in drei Gruppen einzuteilen. Unterscheiden lassen sich Verfassungsänderungen, die vornehmlich (1.) der Konsolidierung und Sicherung der bundesrepublikanischen Staatsgewalt dienten, von solchen, (2.) die die Regelungen der staatlichen Verfügung über Recht und Geld den tatsächlichen Verhältnissen anpaßten, und solchen, (3.) die die Funktionsfahigkeit der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaates zum Gegenstand hatten.

15 16

Ähnlich Bryde, S. 118.

Ein Stück weit angelehnt an die Untersuchungen von Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I 1987, S. 259-319, \mà Bryde, S. 118-122.

III. Sachliche Gründe der Änderungen

145

1. Die Konsolidierung und Sicherung der bundesrepublikanischen

Staatsgewalt

a) Aufarbeitung der Kriegs- und Besatzungsfolgen In diese Gruppe gehören zunächst vor allem Änderungen, die sich im letzten Abschnitt des Grundgesetzes niedergeschlagen haben. So lassen sich als kriegs(folgen)bedingte Änderungen ansehen das 2. ÄndG betreffend die Durchführung des Lastenausgleichs (Art. 120 a GG), 17 das 9. ÄndG betreffend die Haftung für Reichs Verbindlichkeiten (Art. 135 a GG), 18 die beiden Änderungen des Art. 120 Abs. 1 GG, der die Verteilung der Kriegsfolgelasten auf Bund und Länder regelt, durch das 14.19 und das 24. ÄndG 2 0 sowie - im weiteren Sinne die Erstreckung der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes über die Kriegsgräber hinaus auf die Gräber anderer Opfer des Krieges und Opfer von Gewaltherrschaft durch das 13. ÄndG. 21 Besatzungsrechtlich bedingt war demgegenüber gleich die erste Änderung des Grundgesetzes. Da die Besatzungsmächte das politische Strafrecht des Reichsstrafgesetzbuches aufgehoben hatten, bedurfte es einer Übergangsregelung im Grundgesetz selbst. Als die einfachgesetzliche Regelung durch das Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 195122 erfolgte, konnte der obsolet gewordene Art. 143 GG gestrichen werden.

b) Vervollständigung der Staatsgewalt Unmittelbare Folge der besatzungsrechtlichen Beschränkungen, denen die Verfassungsgebung von 1949 unterlag, waren darüber hinaus fünf Änderungsgesetze zum Grundgesetz: das 4., 7., 10., 11. und das 17.

17

BGBl. 1952 I S. 445.

18

BGBl. 1957IS. 1745.

19

BGBl. 1965 I S. 649.

20

BGBl. 1969 I S . 985.

21

BGBl. 1965 I S . 513.

22

BGBl. I S. 739.

10 Huba

146

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

Vorrangiges Ziel der Besetzung Deutschlands war dessen "völlige Abrüstung und Entmilitarisierung (...)". 23 Um sicherzustellen, daß dieses Ziel erreicht wird, behielten sich die drei Mächte in Nr. 2 a des Besatzungsstatuts24 unter anderem die Zuständigkeit vor für "die Entwaffnung und Entmilitarisierung einschließlich der damit in Beziehung stehenden Gebiete der wissenschaftlichen Forschung, Verbote und Beschränkungen der Industrie und die Zivilluftfahrt". Deshalb erlaubte erst die Beendigung des Besatzungsregimes vor allem durch den sog. Überleitungs- 25 und den Deutschlandvertrag 26 grundgesetzliche Regelungen hinsichtlich der Nutzung der Atomenergie und der Luftverkehrsverwaltung. Sie erfolgten durch das 10. ÄndG, 27 das die friedliche Nutzung der Kernenergie als neuen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes einführt (Art. 74 Nr. 11 a GG) sowie die Ausführung entsprechender Gesetze durch die Länder in Form der Auftragsverwaltung vorsieht (Art. 87 c GG), und durch das 11. ÄndG, 28 die Einführung der Verwaltungskompetenz des Bundes für den Luftverkehr (Art. 87 d a.F. GG). Kann schon diese Lückenschließung als "Nachholung der insoweit zunächst blockierten Verfassunggebung" 29 verstanden werden, 30 gilt das erst recht für die 23 So das Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 (unter I I I A 3), Text bei Ernst Rudolf Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2 1951, S. 162 (163). 24

Text bei Huber, Quellen, S. 576 (577). Ähnlich schon Dokument Nr. I I I der Frankfurter Dokumente vom 1.7.1948 (Huber, S. 199). 25 Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26.5.1952, BGBl. 1954 I I S. 59 (157). Der durch das (Pariser) Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 23.10.1954 (BGBl. 1955 I I S. 215; Gesetz vom 24.3.1955 betr. das Protokoll: BGBl. 1955 I I S. 213) geänderte und am 5.5.1955 in Kraft getretene (BGBl. 1955 I I S. 628) Text findet sich in BGBl. 1955 I I S. 405. 26

Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26.5.1952, BGBl. 1955 I I S. 305; in Kraft getreten am 5.5.1955 (BGBl. I I S. 628); Vertragsgesetze der Bundesrepublik vom 28.3.1954 (BGBl. I I S. 57) und vom 24.3.1955 (BGBl. I I S. 213). 27

BGBl. 1959IS. 813.

28

BGBl. 19611 S. 65.

29

Hofmann, Entwicklung, S. 283.

30

Daß dieses Verständnis der Selbstdarstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers entspricht, so Schaub, S. 175, 191 f., hindert nicht, die eben erst nach Beendigung des Besatzungsregimes mögliche Vervollständigung der Verfassung als sachlichen Grund der Änderungsgesetze anzuerkennen. Selbstdarstellung allemal unter den Ver-

III. Sachliche Gründe der Änderungen

147

Ergänzung des Grundgesetzes um die Wehrordnung (4. und 7. ÄndG) und die Notstandsregelung (17. ÄndG). 31 A u f der Linie der Rekonstituierung souveräner deutscher Staatlichkeit lag zunächst das 4. ÄndG, 32 das den innenpolitischen Streit über die Wehrhoheit 33 dadurch erledigte, daß es dem Bund in Art. 73 Nr. 1 (ausdrücklich) 34 die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit fur die Verteidigung übertrug. Daneben trat mit der Einfügung des Art. 79 Abs. 1 Satz 2 und des Art. 142 a der Versuch, das Vertragswerk der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft abzusichern, das freilich kurze Zeit später in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Der Ausgestaltung der Wehrordnung diente das 7. ÄndG. 35 Es folgt drei Prinzipien: 36 dem Prinzip der Einordnung der Streitkräfte in das System der Gewaltengliederung durch grundsätzliche Beschränkung auf die militärische Landesverteidigung (Artt. 87 a, 87 b, 137 Abs. 1, 143 a.F.), dem Prinzip der parlamentarischen und damit politischen Bindung und Kontrolle der Streitkräfte (Artt. 65 a, 45 a, 45 b, 49 und 59 a a.F.) und dem Prinzip der grundsätzlichen Geltung der Grundrechte auch im Bereich des Militärischen (Artt. 1 Abs. 3 Änderung des Wortlauts von "Verwaltung" in "vollziehende Gewalt", 17 a Enumeration der beschränkbaren Grundrechte, 12 Abs. 2-4 a.F., 96 Abs. 3 a.F., 96 a a.F.).

dacht der "Verdeckung" oder "Beschönigung" zu nehmen (Schaub, S. 268), ist ein (moralisierendes) Mißverständnis. 31

So ausdrücklich Robbers, S. 1326: "So handelt es sich bei der Wehrverfassung und der Notstandsregelung um nachgeholte Verfassunggebung". 32

BGBl. 1954 I S . 45.

33

Siehe die Dokumentation "Der Kampf um den Wehrbeitrag" (Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik), 1. Halbbd., Die Feststellungsklage, München 1952, 2. Halbbd., Das Gutachtenverfahren, München 1953 (Ergänzungsband 1958). 34

Zur Entstehungsgeschichte des ursprünglichen Art. 73 Nr. 1 siehe Klaus-Berto von Doemming/Rudolf Werner FüssleinfWerner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöRNF Bd. 1 (1951), S. 471 f. 35 36

BGBl. 1956IS. 111.

Ausführlicher Robbers, S. 1327. - In Klammern jeweils die geänderten bzw. eingefügten Bestimmungen.

148

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

Ganz ähnlich wie die Wehrordnung von 1956 verzichtete auch die Notstandsregelung des 17. ÄndG 3 7 von 1968 darauf, ein eigenes materielles Recht der Ausnahmesituation zu schaffen. Kein Fall des äußeren Notstandes, nicht der Spannungs- (Artt. 80 a, 87 a Abs. 3) und auch nicht der Verteidigungsfall (Artt. 115 a - 115 1, 87 a Abs. 3), und kein Fall des inneren Notstandes, weder der politische Staatsnotstand (Artt. 91, 87 a Abs. 4) noch der Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2 a.F. und Abs. 3), gestattet eine pauschale Suspendierung der Grundrechte (Artt. 10 Abs. 2, 11 Abs. 2, 12 a Abs. 3-6, 115 c Abs. 2). Die Einfügung des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 und des Widerstandsrechtes des Art. 20 Abs. 4 sowie die verfassungsrechtliche Absicherung der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a und b) 38 gegen den Zugriff des einfachen (Notstands-)Gesetzgebers zielten gar auf eine Verstärkung des Grundrechtsschutzes. Ergänzend ließ die Notstandsnovelle nicht nur die richterliche Gewalt und damit den gerichtlichen Rechtsschutz nahezu unberührt (Art. 115 g), sondern hielt auch die parlamentarische Verantwortung der Regierung aufrecht (Artt. 53 a, 115 e). Die Ablösung der in Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vorbehaltenen alliierten Notstandsrechte 39 durch die Notstandsnovelle40 hat demnach keine "Gegenverfassung zum Grundgesetz" (Peter Römer) installiert. Von einer "Verunstaltung" des Grundgesetzes, seiner "drei Essentials: Antifaschismus, Antimilitarismus und Antimonopolismus", (auch) durch das 17. ÄndG kann nicht die Rede sein.41 Die Verfassungsänderung erschöpfte sich vielmehr im wesent37

BGBl. 1968 I S. 709.

38

Durch das 19. ÄndG, BGBl. 1969 I S. 97.

39

Text siehe FN 26.

40

Mit Abschluß des parlamentarischen Verfahrens erklärten die drei Westmächte das Erlöschen ihrer Rechte, siehe die Bekanntmachung der Erklärung der Drei Mächte vom 27.5.1968 zur Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte gemäß Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vom 18.6.1968, BGBl. I S. 714. 41

So aber Gerhard Stuby, Das Grundgesetz, seine Entstehung, seine Veränderungen und seine Perspektiven, in: Vereinigung Demokratischer Juristen (Hrsg.), Das Grundgesetz. Verfassungsentwicklung und demokratische Bewegung in der BRD, Köln 1974, S. 25, 23; ähnlich Klaus Böwer, Die Gefahren der Notstandsverfassung für die demokratischen Rechte, ebda., S. 46 (53). Kritisch auch Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz, 5. Aufl. 1975, S. 7 ff. Jürgen Seifert, Grundgesetz und Restauration, 2. Aufl. 1975, S. 28 ff., sieht das Grundgesetz so umgestaltet, daß die Notstandsnovelle "(zusammen mit der Wehrverfassung von 1956) faktisch eine neue Verfassung errichtete" (S. 35; Hervorhebung im Original); etwas verhaltener allerdings in: ders., Das Grundgesetz und seine Veränderung, 1983, S. 14 ff.

III. Sachliche Gründe der Änderungen

149

liehen darin, durch Kompetenz- und Verfahrensregelungen eine Konzentration staatlicher Funktionen zu ermöglichen. 42

c) Weitere Sicherung der Staatsgewalt Auf Kritik gestoßen ist auch das 31. ÄndG, 43 soweit 44 es Einsätze des Bundesgrenzschutzes im Sinne einer Art Bundespolizeireserve für zulässig erklärte (Art. 35 Abs. 2 Satz 1) und die Ausweitung der Zuständigkeiten des Verfassungsschutzes (Art. 87 Abs. 1 Satz 2) in zweierlei Hinsicht verfassungsrechtlich legalisierte: Art. 73 Nr. 10 b erweiterte die Aufgabe des Verfassungsschutzes, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen, um die Zuständigkeit, auch zum Schutz des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes tätig zu werden, und Art. 73 Nr. 10 c um die Zuständigkeit, Bestrebungen von In- und Ausländern im Bundesgebiet zu überwachen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik gefährden. Politisch mochte man diese Änderungen als den Beginn der Entwicklung zu einer "Nebenverfassung" bewerten, die die Inhaber der vollziehenden Staatsgewalt mit Sonderbefugnissen ausstattet.45 Aus größerer zeitlicher und sachlicher Distanz erweisen sie sich als Konsequenz der dargestellten Vervollständigung der Staatlichkeit der Bundesrepublik. Dafür spricht nicht nur, daß das 31. ÄndG auf Überlegungen Ende der sechziger Jahre zurückgeht und deshalb kaum auf eine angebliche Sicherheitshysterie infolge terroristischer Gewalttaten in den siebziger Jahren reagieren kann. Dafür spricht vor allem, daß die Verfassungsänderung eine tatsächlich bereits bestehende Praxis aufgriff, mithin faktische Funktionsänderungen von Bundesgrenzschutz und Verfassungsschutz lediglich

42

Ebenso Eckart Klein, Der innere Notstand, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. V I I 1992, S. 387 (393) und wohl auch Wolfgang Graf Vitzthum,, Der Spannungs- und der Verteidigungsfall, ebda., S. 415 (438). 43

BGBl. 1972IS. 1305.

44

Daneben führte das 31. ÄndG Art. 74 Nr. 4 a neu ein, der eine auch sicherheitsrechtliche Vereinheitlichung des Waffenrechtes ermöglichen sollte. Das 34. ÄndG (BGBl. 1976 I S. 2383) erstreckte sodann die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes auch auf das Sprengstoffrecht. 45

So Seifert, Das Grundgesetz, S. 21.

150

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

verrechtlichte. 46 Daß es zu einer solchen Entwicklung der Funktionen kam, kann aber nicht überraschen. Mit der vom Wegfall alliierter Sicherheitsgarantien begleiteten Wiedererlangung staatlicher Souveränität mußte der Staat des Grundgesetzes und also auch das Grundgesetz selbst seine (historisch verständliche, ängstliche) Reinheit in Sachen staatlicher Wehrhaftigkeit verlieren - nach außen wie nach innen.

2. Die Anpassung der Regelungen der staatlichen Verfügung über Recht und Geld a) Die Regelungen Die zweite Gruppe der Verfassungsänderungen findet sich in den Abschnitten V I I bis X des Grundgesetzes (unter Ausnahme des IX.). Sie richten sich auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern sowie die sog. Finanzverfassung und insofern unmittelbar auf die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des föderativen Zusammenwirkens. Unter diesem Blickwinkel werden sie üblicherweise auch inhaltlich analysiert. Man beobachtet eine zunehmende Konzentration des Schwergewichts der staatlichen Aufgaben beim Bund sowohl hinsichtlich der Gesetzgebung als auch der Verwaltung. 47 Die Rede ist von einer fortschreitenden "Politikverflechtung" etwa angesichts der durch das 21. ÄndG (Finanzreformgesetz) 48 eingeführten Gemeinschaftsaufgaben (Artt. 91 a und b). 49 Daneben erkennt man einen - sozialstaatlich bedingten - 5 0 deutlichen Zug "zur Unitarisierung, zu bundesgesteuerter Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse", 51 während gleichzeitig der Einfluß der Länder auf den Bund über den Bundesrat erheblich gestiegen sei. 52

46

Roßnagel, S. 197, 200, 209.

47

Kröger, S. 141.

48

BGBl. 1969 I S. 359.

49

Seifert, Das Grundgesetz, S. 19 f.

50

Hofmann, Entwicklung, S. 304; Jochen Abr. Frowein, Die Entwicklung des Bundesstaates unter dem Grundgesetz, in: Reinhard Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 17 (24 f.). 51

Robbers, S. 1330.

52

Robbers, S. 1330; Kröger, S. 145.

III. Sachliche Gründe der Änderungen

151

A u f eine inhaltliche Analyse der Verfassungsänderungen (und ihre politische Bewertung) kommt es für den Zweck der vorliegenden Untersuchung indessen nicht an. Einen deutlichen Hinweis auf die Funktion des Grundgesetzes in der gesellschaftlichen Wirklichkeit liefert bereits eine äußerliche Feststellung: Die (vertikale) Binnendifferenzierung des politischen Systems erfolgt im wesentlichen über verfassungsrechtliche Regelungen der Verfügung über die beiden wichtigsten politischen Steuerungsmittel Recht und Geld. 53 Dabei erklärt sich die Vielzahl der Einzeländerungen - in bezug auf die Setzung und den Vollzug des Rechts 22 (in den Grundgesetz-Abschnitten V I I V i l i a), in bezug auf die Finanzmittel 17 (X. Abschnitt) - 5 4 nicht zuletzt aus dem Normierungsstil. 55 Die Gesetzgebungskataloge der Artt. 73-75 GG etwa ebenso wie die Normen hinsichtlich des Finanzwesens regeln ihre Gegenstände konkret-kasuistisch. Das hat den erstrebten Vorteil relativer Eindeutigkeit. Bezahlt wird dieser Vorteil aber mit geringer normativer Elastizität, also mit hohem Änderungsdruck bei häufigem Wandel unterliegenden tatsächlichen Verhältnissen, wie beispielsweise dem jeweiligen Steueraufkommen.

b) Anpassung oder Planung? In der Reaktion auf vorangegangenen Wandel tatsächlicher Verhältnisse scheinen sich die Verfassungsänderungen indessen nicht zu erschöpfen. Insbesondere das 15. ÄndG gilt als Paradebeispiel dafür, daß Änderungen der Verfassung keineswegs immer der Anpassung des Verfassungstextes an eine vorauseilend gewandelte Wirklichkeit dienen, sondern auch eine "zukunftsbezogene Funktion" haben können.56 Das 15. ÄndG 5 7 verwies die - gegen den Zentralismus der Vergangenheit gerichtete - Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Haushaltswirtschaft (des Bundes und) der Länder (Art. 109 a.F. = Art. 109 Abs. 1 n.F.) in den Rahmen der Pflicht, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Art. 109 Abs. 2 n.F.). Dem 53

Oben § 2 V. 2. b) bb).

54

Dabei sind Mehrfachänderungen einer Norm (etwa von Art. 74) durch dasselbe Änderungsgesetz nicht gezählt. 55

Daraufhat vor allem Bryde, S. 92,121, hingewiesen.

56

Roßnagel S. 236, 241 f.

57

BGBl. 1967 I S . 581.

152

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

Bund verschaffte die Verfassungsänderung Kompetenzen und Instrumente, das Finanzgebaren der Länder (und dadurch der Gemeinden) im Sinne einer antizyklischen, konjunkturgerechten Haushaltswirtschaft zu beeinflussen (Art. 109 Abs. 3 5 8 und 4). Die mit dieser Regelung verbundene Intention der verfassungsändernden Organe zeige, daß die Verfassungsänderung ausschließlich eine zukunftsbezogene Funktion gehabt habe, "eine die bisherige Entwicklung der konjunkturpolitischen Maßnahmen überschießende Tendenz und damit eine der bisherigen Wirklichkeit vorausgehende, planende Seite". Sie habe dem Bund einen verfassungsrechtlichen Rahmen und einzelne Instrumente für ein künftiges ökonomisches Krisenmanagement gegeben und dadurch eine zu dieser Zeit erst geplante gesellschaftliche Entwicklung legitimiert. 59 Nun wirkt gewiß jede Rechtsnorm aufgrund ihrer generell-abstrakten Fassung in die Zukunft. Diese Eigenschaft teilt sie mit jeder Planung. Aber einmal trägt das 15. ÄndG sehr wohl reaktive Züge. Zusammen mit dem am selben Tag verabschiedeten Stabilitätsgesetz60 reagierte es auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Jahre 1965/66 und griff dabei seit Jahrzehnten bekannte wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse 61 sowie eine entsprechende punktuelle Praxis auf. 62 Zum anderen zeigt gerade Art. 109 (n.F.) GG wie wenig Rechtsnormen, auch Normen des Verfassungsrechtes, zu gesellschaftlicher Planung taugen. So nimmt das wirtschaftspolitische Planungsziel "gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" - mithin die Optimierung des Verhältnisses der vier Eckpunkte des § 1 Satz 2 Stabilitätsgesetz: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum - in der Form des Rechts die Rolle eines sog. unbestimmten Verfassungsbegriffs an. Ein solcher Begriff gewährt einen weiten Beurteilungs58

Später ergänzt durch das 20. ÄndG (BGBl. 1969 I S. 357).

59

Roßnagel, S. 243.

60

Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967, BGBl. I S . 582. 61

Näher Gunter Kisker, Staatshaushalt, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I V 1990, S. 235 (243). 62

Rn 24.

Theodor Maunz (1979), in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 109

III. Sachliche Gründe der Änderungen

153

Spielraum, 63 der rechtlich (verfassungsgerichtlich) nur auf die Einhaltung eines gewissen Rahmens nachprüfbar, 64 ansonsten durch wirtschaftspolitische Wertungen auszufüllen ist. Also spielt das Recht das von ihm nicht zu lösende Zentralproblem jeder Planung, das Problem der Kontrolle hoher und rasch veränderlicher Interdependenzen, 65 weitgehend an die Politik zurück. So gesehen handelt es sich bei der Vorschrift lediglich um einen politischen Programmsatz, rechtlich mithin um einen sanktionslosen Appell. Und genau so weit wie ein solcher Appell trägt, so weit trägt auch das Verfassungsrecht als Konzept gesellschaftlicher Planung.66 Kommt es aber zu einer Rechtsentscheidung über die Einhaltung des Rahmens, orientiert diese sich nicht an dem Planungsziel, sondern als Recht/Unrecht-Unterscheidung an Gerechtigkeit. 67 Dadurch gelangen andere verfassungsrechtliche Pflichten des Staates in den Blick und verlangen eine - durch den konkreten Streitfall inspirierte - Abwägung: Das Recht relativiert das Planungsziel und produziert kaum noch vorhersehbare Entscheidungen.68

c) Länderneugliederung Unzweifelhaft anpassenden Charakter hatte demgegenüber die Veränderung des Art. 29 GG, der sich mit der Neugliederung des Bundesgebiets befaßt. Zur Korrektur künstlicher, geschichtswidriger Gebietsaufteilungen durch die Alliierten sah die ursprüngliche Fassung der Vorschrift eine Neugliederung zwingend vor. Das 33. ÄndG 6 9 hat dieses Gebot zu einer verfassungsrechtlichen Möglichkeit zurückgenommen. Die Verfassungsänderung trug damit einer politischen Entwicklung Rechnung, die zu einer Verfestigung der bestehenden territorialen Gliederung der Bundesrepublik im Bewußtsein der Bevölkerung ge63

Maunz, ebda., Art. 109 Rn 38.

64

BVerfGE 39, S. 96 (114 f.); BVerfG N V w Z 1990, S. 356 (357).

65

Niklas Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, Der Staat 12 (1973), S. 1 (20 f.). 66

Oben § 41. 3.

67

Näher Gerd Roellecke, Ein Rechtsbegriff der Planung, DÖV 1994, S. 1024 (1025). 68 Zur Enttäuschung der mit dem 15. ÄndG und dem Stabilitätsgesetz verknüpften Erwartungen Kisker, S. 244 f. 69

BGBl. 1976 I S . 2381.

154

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

fuhrt hatte.70 Daneben hat sie die Mitwirkungsrechte der Länder bei einer Umgliederung - auch gegenüber dem 25. ÄndG - 7 1 erweitert. Nach Art. 29 Abs. 3 GG, der primär föderalen und weniger plebiszitären Anforderungen gerecht zu werden sucht, ist nunmehr jede Änderung des territorialen Bestandes von der Zustimmung aller betroffenen Bevölkerungskreise abhängig.72

3. Die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaates a) Demokratie Der dritten Gruppe unterfallen zunächst alle Verfassungsänderungen, die sich unmittelbar auf die Funktionsfahigkeit des demokratisch-repräsentativen Systems richteten. Sie lassen sich unterscheiden in Regelungen, die die "StaatsSeite" und solche, die die "Volks-Seite" 73 der grundgesetzlichen Demokratie ausgestalteten. Die Funktionsfahigkeit der staatlichen Seite war nicht nur Gegenstand des 18.74 und des 23. ÄndG, 75 die beide Fristen im Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung betrafen, 76 sondern vor allem des 33. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes,77 soweit es die Stellung des Bundestages verstärkte. Um eine zuvor mögliche "parlamentslose Zeit" 7 8 zwischen zwei Wahl70

Robbers, S. 1330 f. Kritisch hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Länder Konrad Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Emst Benda/Werner Maihofer/ Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 35 (43). 71

BGBl. 1969 I S . 1241.

72

Hofmann, Entwicklung, S. 312 f. (auch Rn 73).

73

Niklas Luhmann, Das Volk steigt aus, Die politische Meinung (März) 1993, S. 91

(93). 74

BGBl. 1968 I S . 1177.

75

BGBl. 1969 I S . 817.

76

Die Artt. 76 und 77 GG wurden durch das 42. ÄndG erneut modifiziert, siehe oben § 3 V I I I 2 . 77 78

BGBl. 1976 I S . 2381.

So der Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages (eingesetzt 1973), in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung 3/76: Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform Teil I: Parlament und Regierung, S. 97. Die Kommission hatte die Änderung empfohlen.

III. Sachliche Gründe der Änderungen

155

Perioden auszuschließen, verlängerte die Novelle die Wahlperiode des jeweiligen Bundestages bis zum Zusammentritt des neuen Parlaments (Art. 39 Abs. 1 und 2 GG). Der so geschaffene nahtlose Übergang ließ die Interimsregelungen der Artt. 45, 45 a Abs. 1 Satz 2 und 49 GG, die auf die bloße Kontinuität von Ausschüssen zurückgriffen, gegenstandslos werden. Mit der Funktionsfahigkeit der repräsentativen Demokratie, aber im Sinne der Ausgestaltung der (Rück-)Bindung der staatlichen Seite an die Repräsentierten, befaßten sich ebenfalls drei Änderungsgesetze. Den Kreis der Wahlberechtigten erweiterte das 27. ÄndG, 79 indem es das Alter zur Ausübung des aktiven (bisher 21) und des passiven (bisher 25) Wahlrechts einheitlich auf achtzehn Jahre senkte (Art. 38 Abs. 2 GG). Die verfassungsrechtliche Verankerung des Petitionsausschusses (Art. 45 c GG) durch das 32. ÄndG 8 0 verfolgte ein doppeltes Ziel. Einerseits sollte dem Bürger außerhalb des formlichen Rechtsschutzes eine effektivere parlamentarische Überprüfung von Akten der Staatsgewalt gewährt werden, andererseits sollten die Petitionsinstanzen zu einem "sozialen Frühwarnsystem" für das Parlament entwickelt werden. 81 Das 35. ÄndG 82 betraf gleichsam die Bindeglieder zwischen den Repräsentierten und den staatlichen Leitungsorganen: Die letzte Grundgesetzänderung vor der Wiedervereinigung ergänzte Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG um die Pflicht der politischen Parteien, nicht lediglich die Herkunft ihrer Mittel offenzulegen, sondern auch über deren Verwendung sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft zu geben.

b) Rechtsstaat Soweit die Änderungen im IX. Abschnitt des Grundgesetzes nicht durch die Ersetzung des ursprünglich vorgesehenen "Obersten Bundesgerichtes" (Art. 95 a.F. GG) durch einen Gemeinsamen Senat der "obersten Gerichtshöfe" des Bundes (Art. 95 n.F. GG) bedingt sind (16. ÄndG), 83 gründen sie im wesentli79

BGBl. 1970 I S . 1161.

80

BGBl. 1975 I S . 1901.

81

So der Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform (FN 78), S. 149 f. 82

BGBl. 1983 I S . 1481.

83

BGBl. 1968 I S. 657.

156

2. Teil: § 6 Die Änderungen des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung

chen darin, den subjektiven Rechtsschutz auszubauen und eine saubere Gliederung der Gewalten aufrecht zu erhalten. Insofern dienen sie der Ausgestaltung der Rechtsstaatlichkeit. Der Gewaltengliederung verpflichtet war bereits das 12. ÄndG. 84 Veranlaßt durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die den Behördencharakter des Bundespatentamtes verneinte, ermöglichte die Novelle die Umwandlung in das Bundespatentgericht (Art. 96 Abs. 1 GG). Dem Ausbau des Rechtsschutzes diente neben der verfassungsrechtlichen Verankerung der Verfassungsbeschwerde durch das 19. ÄndG 85 das 26., 86 das letztlich zur Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutzstrafsachen ermächtigte (Art. 96 Abs. 5 GG).

IV. Gesellschaftlicher Hintergrund der Änderungen Der Eigensinn des Grundgesetzes erschließt sich freilich erst vollständig, betrachtet man seine formellen Änderungen auf dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Bundesrepublik. Sie sei deshalb in groben Zügen in Erinnerung gerufen. Vor der Folie des sich zum "Kalten Krieg" zuspitzenden Ost-West-Konflikts (getrennte Währungsreformen in der westlichen und östlichen Besatzungszone am 20. bzw. 23. Juni 1948, Beginn der Blockade Berlins; 1950 Ausbruch des Korea-Krieges) geht die Bundesrepublik nach der verfassungspolitischen 87 den Weg der außenpolitischen, wirtschaftlichen und militärischen Westintegration (1951 Vollmitglied des Europarates, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl; 1955 Aufiiahme in den Nordatlantikpakt - NATO -; 1957 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - EWG - und der Europäischen Atomgemeinschaft). War Deutschland nach 1945 wirtschaftlich nahezu lebensunfähig, setzt ab Anfang der fünfziger Jahre Hochkonjunktur ein. Diese Entwicklung erleichtert die Aufiiahme der 7,9 Millionen Heimatvertrie-

84

BGBl. 1961 I S . 141.

85

BGBl. 1969 I S. 97; siehe auch oben 1. b.

86

BGBl. 1969 I S. 1357.

87

Zur "verfassungspolitischen Westintegration" siehe Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1995, S. 24 f.

IV. Gesellschaftlicher Hintergrund der Änderungen

157

benen und von etwa zwei Millionen Flüchtlingen aus dem östlichen Teil Deutschlands.88 Ende 1966 sind es unter anderem wirtschaftliche Schwierigkeiten, die zur Auflösung des zweiten Kabinetts Erhard und zu dessen Rücktritt fuhren. 89 A u f die Zeit der Großen Koalition, begleitet von den beginnenden Studentenunruhen, folgt 1969 die sozial-liberale Koalition. Das (erste) Kabinett Brandt verpflichtet sich auf innere Reformen ("Mehr Demokratie wagen") und auf die Verständigung mit den osteuropäischen Staaten ("Neue Ostpolitik"; 1970 Verträge von Moskau und Warschau; 1972 Grundlagenvertrag mit der DDR; 1973 Prager Vertrag). Die (weltweite) Wirtschaftsrezession 1974/75 (etwa eine Million Arbeitslose) fordert die Umorientierung der Regierungspolitik von Reformen auf Stabilität, auf ökonomische Krisenbewältigung 90 und verdeutlicht die "Grenzen des Wachstums". Ab 1976 nehmen die öffentlichen Auseinandersetzungen über die Nutzung der Kernkraft sowie die Schädigung der Umwelt zu. Die Jahre 1977/78 überschatten terroristische Gewalttaten rechts-, vor allem aber linksradikaler Gruppen. Der Umweltschutzbewegung tritt die Friedensbewegung zur Seite, die wegen des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 eine weitere Steigerung des Wettrüstens befurchtet. 1980 Gründung der Bundespartei Die Grünen.

88

Zu den Zahlen Kröger, S. 60 und Friedrich-Wilhelm Henning, Wirtschaftliche und soziale Entwicklung, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5 1987, S. 30 (32). 89

Theodor Eschenburg, Die politische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jeserich/Pohl/von Unruh, S. 1 (16 f.). 90

Eschenburg, S. 23.

§ 7 Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes I. Folgerungen Vergleicht man die skizzierte gesellschaftliche Entwicklung - aus der Sicht der Verfassung: die angedeuteten Umweltveränderungen - mit der dargestellten Entwicklung des Grundgesetzes, wird zweierlei auf Anhieb deutlich. Einerseits, daß sich die Verfassung nicht Punkt für Punkt mit der Gesellschaft mitbewegt hat. Die "neue Ostpolitik" etwa - ganz im Gegensatz zur Westintegration, die die Verselbständigung der bundesrepublikanischen Staatsgewalt erst ermöglichte - 1 schlug sich im Text des Grundgesetzes2 nicht nieder. 3 Dieser Befund läßt verfassungstheoretisch unvermittelte kausale Zurechnungen einzelner Verfassungsänderungen auf bestimmte gesellschaftliche Ereignisse oder Ereignisketten generell als problematisch, im Einzelfall allenfalls als plausibel erscheinen.4 Andererseits wird deutlich, daß das Grundgesetz von der gesellschaftlichen Entwicklung nicht unbeeinflußt bleibt. Beide Feststellungen sind trivial. Weniger trivial ist die Frage nach dem Prinzip, nach dem die Verfassung beeinflußt wird. Trifft die vorgenommene Systematisierung der Grundgesetzänderungen zu, birgt sie drei Antworten.

1

Oben § 6 III. 1., vor allem unter b.

2

Durch den Grundlagenvertrag mit der DDR vom 21.12.1972 (BGBl. 1973 I I S. 423) hat allerdings insbesondere das Wiedervereinigungsgebot einen relativierenden Bedeutungswandel erfahren. Das zeigt gerade das Bemühen von BVerfGE 36, S. 1 (17 ff.) eben das zu überspielen. 3 4

Zu den Gründen sogleich.

Für beides, für problematische wie für plausible Zurechnungen, enthält die Arbeit von Alexander Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes, 1981, lehrreiche Beispiele.

I. Folgerungen 1. Ausdifferenzierung

159

des politischen Systems

Das Grundgesetz hat sich trotz prinzipieller Änderbarkeit (im Rahmen seines Art. 79 Abs. 3) und angesichts unterschiedlicher politischer Mehrheiten 5 in vierzig Jahren lediglich bewegt zur Konsolidierung und Sicherung der Staatsgewalt (§ 6 ΠΙ. 1.), zur Anpassung der Regelung der staatlichen Verfugung über Recht und Geld (§ 6 I I I 2.) und zugunsten der Funktionsfahigkeit der repräsentativen Demokratie sowie des subjektiven Rechtsschutzes und der Gewaltengliederung (§ 6 I I I 3.). Diese Bewegungen gehorchen einer inneren Logik, die man als Logik der Ausdifferenzierung des politischen Systems bezeichnen kann. Denn sie garantieren entweder (a) vor allem die äußere, aber auch die innere Unabhängigkeit der Staatsgewalt, also die Autonomie des politischen Systems. Dieser Gesichtspunkt erklärt die unterschiedliche Bedeutung der Westintegration einerseits und der "neuen Ostpolitik" andererseits für die Verfassung: die Westintegration stellte die politische Autonomie erst her, war also verfassungsrelevant, die "neue Ostpolitik" setzte sie voraus. - Oder sie garantieren (b) die Funktion des politischen Systems, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, indem sie ihm ausreichende Möglichkeiten an die Hand geben, über die beiden wichtigsten Steuerungsmittel, Recht und Geld, zu verfügen. - Oder sie stabilisieren (c) die innere Organisation, die Binnendifferenzierung des politischen Apparats.

2. Anpassung Legt man diese innere Logik der Verfassungsänderungen zugrunde, kommt auch jenen Änderungsgesetzen anpassender Charakter zu, die eine gesellschaftliche Entwicklung planen sollten. Die Planungsthese unterscheidet zwischen vergangenheitsorientierter Anpassung und zukunftsorientierter Planung aus der

5

Zu Einzelheiten siehe Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949-1982, 3. Aufl. 1984, S. 355 ff.

160

2. Teil: § 7 Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes

Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie von der Verfassung trennt. 6 Was (noch) nicht gesellschaftliche Wirklichkeit ist, aber (künftig) ermöglicht werden soll, ist verfassungsrechtliche Planung. So gesehen erscheint etwa die Notstandsregelung durch das 17. ÄndG 7 ausschließlich als Vorsorge für potentielle Notlagen8 oder gar als das staatliche Unterfangen "nach Eichhörnchenart Grundgesetzartikel auf Vorrat zu sammeln".9 Bezieht man demgegenüber die Unterscheidung Anpassung/Planung10 auf die Autonomie des politischen Systems, ist die Notstandsregelung - wie alle Rechtsnormen - nur auch in die Zukunft gerichtet. Vor allem sanktioniert sie die gegenwärtig erreichte Eigenständigkeit der Politik, indem sie deren Unabhängigkeit vom militärischen System gerade für die Fälle beansprucht, in denen dieses System erfahrungsgemäß Dominanz erlangt. Gleiches gilt hinsichtlich der "planenden" Wehrnovellen und der "planenden" Stabilitätsnovelle.11 Die Wehrnovellen trugen die gegenwärtige Entwicklung zur äußeren Souveränität der bundesrepublikanischen Politik, indem sie die künftige ausschließliche Angewiesenheit auf fremde militärische Hilfe beseitigten.12 Das 15. ÄndG diente der Unabhängigkeit der Politik, indem es deren einseitige Abhängigkeit von der Wirtschaft durch die Möglichkeit zur Gegensteuerung abzubauen suchte.13

3. Organisationsrecht Hinsichtlich der Art und Weise seiner Bewegung ist festzustellen, daß das Grundgesetz vor der Wiedervereinigung auf Umweltveränderungen im wesentlichen mit staatsorganisationsrechtlichen Regelungen, mit Kompetenz- und 6

So durchgängig Roßnagel.

7

Oben § 6 III. 1. b.

8

Roßnagel, S. 180 ff.

9

Fritz Bauer, in der Einleitung zu: Jürgen Seifert, Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1965, S. 12. 10

Siehe auch oben § 6 III. 2. b. - Eine Schwäche dieser Unterscheidung ist freilich, daß sie den Fall der Ko-Evolution von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Verfassungsrecht nicht eindeutig erfassen kann. 11

Roßnagel S. 128, 241 ff.

12

Oben § 6 III. 1. b.

13

Oben § 6 III. 2. b.

I. Folgerungen

161

Verfahrensnormen reagiert hat, kaum mit darüber hinausgehenden inhaltlichprogrammatischen Vorgaben für die Politik. Das erklärt die Konstanz seines materiellen Teils. 14 Die Präambel blieb unverändert. Zum Sozialstaatsprinzip (Artt. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG) sind außer der konjunkturpolitischen Direktive des Art. 109 Abs. 2 GG 15 keine weiteren ausdrücklichen Staatszielbestimmungen hinzugekommen. Ein Bedürfiiis etwa, die Eingliederung von und die "innere Einheit" mit zehn Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen eigens verfassungsrechtlich abzustützen, bestand offenbar nicht. 16 Nicht aufgegriffen wurde auch die Empfehlung der 1981 eingesetzten Sachverständigenkommission, dem Grundgesetz Staatszielbestimmungen über die Arbeit, über den Umweltschutz und über die kulturelle Prägung des Staates einzufügen. 17 Namentlich der Grundrechtsteil wurde alleine durch das 7. und das 17. ÄndG berührt. Aber weder die Wehrordnung noch die Notstandsregelung abgesehen vielleicht von den als problematisch angesehenen Vorschriften der Artt. 10 Abs. 2 Satz 2, 19 Abs. 4 Satz 3 GG - 1 8 gestalteten die grundrechtliche Ordnung um. 19 Gescheitert sind etwa die beiden Versuche der Fraktionen der Föderalistischen Union (Bayernpartei und Zentrum) und der Deutschen Partei in der ersten und zweiten Wahlperiode, den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes in Anlehnung an Art. 164 der Weimarer Reichsverfassung um eine Vorschrift zur Förderung und zum Schutz des selbständigen Mittelstandes zu ergänzen.20 Ebenso der Versuch der F.D.P.-Fraktion 1957/1959, nach einigen Jahren marktwirtschaftlicher Praxis Art. 15 GG zu einem Verbot der Enteignung zu Sozialisierungszwecken umzugestalten.21 14

Oben § 6 II.

15

Oben § 6 III. 2. b.

16

Siehe demgegenüber oben § 3 VIII. 1. a.

17

Der Bundesminister des Innern/Der Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge, 1983, S. 67, 84, 106 f. 18

Siehe nur Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 1 1987, S. 259 (301). 19

Oben § 6 III. l . b .

20

Datenhandbuch, S. 829, 832; Stefan Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber 1949-1980, 1984, S. 288, 294 f. 21

Datenhandbuch, S. 832, 835; Schaub, S. 174, 299 f., 303.

11 Huba

162

2. Teil: § 7 Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes

I I . Verfassungswandel Die Feststellung, das Grundgesetz habe auf die gesellschaftliche Entwicklung nicht mit inhaltlich-programmatischen Vorgaben für die Politik geantwortet, muß mit dem Einwand rechnen, dem stillen Wandel semes materiellen Teils nicht gerecht zu werden. Und gerade wenn es zutrifft, daß der Normierungsstil die Änderungshäufigkeit mitbedingt, 22 ist dieser Einwand ernst zu nehmen. Denn dann ist zu erwarten, daß Umweltveränderungen im Bereich der Verfassungsgrundsätze und der Grundrechte ob der dort verbreiteten weiten und elastischen Normtexte nicht durch förmliche Verfassungs(text)änderungen verarbeitet werden, sondern im Wege ungeschriebener Verfassungsentwicklung, durch Auslegung und Bedeutungswandel.23 Eine weitreichende Entwicklung etwa des Sozialstaatsprinzips, 24 vor allem aber ein tiefgreifender Wandel des Verständnisses der Grundrechte seit 1949 ist denn auch nicht zu leugnen:25 Schon früh erkennt man in den Grundrechten, nach klassischem Verständnis ausschließlich subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegen staatliche Übergriffe, auch eine objektive Wert(rang)ordnung, die für alle Bereiche des Rechts Geltung beansprucht. 26 Diese Deutung läßt nicht nur ein Verständnis der Grundrechte auch als (originäre) Teilhaberechte, als Ansprüche auf staatliche Leistungen möglich erscheinen. 27 Sie kann auch objektiv-rechtliche Schutzpflichten des Staates gegenüber Beeinträchtigungen durch Dritte 28 und darüber hinaus subjektive Schutzansprüche begründen. 29

22

So oben § 6 III. 2. a. Insoweit zustimmend Roßnagel, S. 313.

23

Zur Begrifflichkeit der Bericht der Sachverständigenkommission, S. 39 (Peter Badura). 24

Dazu Peter Badura, Der Sozialstaat, D Ö V 1989, S. 491 (494 ff.) mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 25

Einzelheiten bei Konrad Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Ernst Benda/ Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 127 (134-150). 26

Leitentscheidung: BVerfGE 7, S. 198 (205) - Lüth-Urteil, 1958.

27

BVerfGE 33, S. 303 (330 ff.) - erstes numerus-clausus-Urteil, 1972.

28

BVerfGE 39, S. 1 (41 ff.) - Fristenregelung, 1975.

29

BVerfGE 77, S. 170 (214 f.) - Stationierung von C-Waffen, 1987.

II. Verfassungswandel

163

Gleichwohl ist das Phänomen des Verfassungswandels im Hinblick auf den beschränkten Zweck der vorliegenden Untersuchung unbeachtlich. Es ist nicht geeignet, die Antwort auf die Frage nach der Funktion des Grundgesetzes zugunsten des pathetischen Verfassungsverständnisses zu beeinflussen. Denn Verfassungswandel ist allemal die "Fortentwicklung der Verfassung mit den Mitteln des Verfassungsrechts selbst"30 und nur so, also durch geltendes Recht zu legitimieren. Deshalb kann durch Verfassungswandel entstehendes neues Verfassungsrecht auch nicht annähernd als Ergebnis und Ausdruck einer Selbstverständigung der Bürger im pathetischen Sinne31 erscheinen. So waren die Bürger der Bundesrepublik an der Kreation des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung in keiner Weise beteiligt. Es handelte sich vielmehr um ein Stück Verfassungsgebung durch ein staatliches Organ, das seine Existenz und seine Legitimation allein dem Grundgesetz verdankt - eben um ein Stück Verfassungsgebung durch das Bundesverfassungsgericht, durch die acht Richter des Ersten Senats.32 Freilich rechtfertigt sich auch im Wege förmlicher Verfassungs(text)änderung entstehendes neues Verfassungsrecht rechtlich aus der geltenden Verfassung (Art. 79 GG). 33 Politisch kann es aber mit weit mehr Anspruch auf Plausibilität als Produkt des Willens der Bürger bezeichnet und legitimiert werden als gerichtlich erzeugtes: 34 Es entspringt einem eigens hierfür vorgesehenen, eben nicht entpolitisierten Verfahren. Der bewußten politischen Entscheidung geht ein Kampf kontroverser politischer Positionen voraus, der "Identitäts- und damit Identifikationserlebnisse" der Bürger ermöglicht. 35 Und die Entscheidung wird von den gesetzgebenden Repräsentativkörperschaften getroffen, von hierzu demokratisch legitimierten Instanzen. Den Schritt vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung einem zielblinden, "gemütlich-diffusen" 36 Verfassungswandel zu überlassen, kam den 30

Bericht der Sachverständigenkommission, S. 40 (Peter Badurä).

31

Oben § 4 II. 1.

32

BVerfGE 65, S. 1 (43) - Volkszählungsurteil, 1983.

33

Oben § 2 V. 1.

34

Insoweit gleichsinnig Roßnagel, S. 325 f.

35

Axel Görlitz, Politische Funktionen des Rechts, 1976, S. 109. Näher Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1978, S. 190,195. 36

Gerd Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, NJW 1991, S. 2441 (2442).

164

2. Teil: § 7 Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes

Vertretern des pathetischen Verfassungsverständnisses deshalb nicht ohne Grund nicht in den Sinn. Schließlich lehnten sie schon eine Anpassung des Grundgesetzes an die neue Lage im Wege der förmlichen Verfassungsänderung als unzulänglich ab. Weshalb sie statt dessen für eine "Neukonstituierung" plädierten, wird verständlich, wenn man bedenkt, daß beide Wege, Verfassungswandel wie förmliche Verfassungsänderung, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, eine Orientierung des neuen an dem vorhandenen Verfassungsrecht erfordern, eine Orientierung an dessen Inhalt und Stil, an seiner Diktion und normativen Struktur.

I I I . Der Eigensinn des Grundgesetzes 1. Technisches Verfassungskonzept Die Praxis der Verfassungsänderung vor der Wiedervereinigung hat dieser Vorgabe entsprochen. Sie hat das Grundgesetz, wie gezeigt, verstanden und behandelt als ein auf Vollziehbarkeit angelegtes (höchstrangiges) Rechtsgesetz zur Ausdifferenzierung und Organisation von Politik. A u f "verfassungsrechtliche Gesellschaftsplanung" in Form von sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Programmatiken hat sie verzichtet. So ist das Grundgesetz geblieben, was es von Anfang an war: ein nüchternes "juristisches Regelwerk", das auf "ideologische Bekenntnisse, die sie (die Bundesrepublik, H.H.) auf eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialpolitik festgelegt hätten" verzichtet und statt "mit politisch-sozialen Innovationen in die Zukunft zu weisen", aus dem "Erfahrungsschatz der eher konservativen Verfassungsjurisprudenz der Weimarer Zeit" schöpft. 37 Dieses Verfassungskonzept ist freilich überwiegend weder das Ergebnis der Weisheit der Verfassungseltern noch das Produkt verfassungspolitischer Disziplin der verfassungsändernden politischen Akteure. Es ist vielmehr - und deshalb darf es als das der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechende Verfassungskonzept gelten - die Folge objektiv bestehender Verständigungszwänge. Denn Halt kann die Verfassung der Politik nur geben, wenn ihre Regelun37

Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I 1987, S. 219 (236 f.).

III. Der Eigensinn des Grundgesetzes

165

gen dem zumindest aktuellen politischen Streit entzogen sind. Diese abstrakte Funktionsbestimmung hat eine wesentliche konkrete Konsequenz. Worüber man sich (noch) nicht verständigen kann, das muß man ausklammern. Nach dieser Technik, verfassungsgeschichtlich schon dem Augsburger Religionsfrieden des Jahres 1555, dem Grundfall des Pluralismus abzuschauen, 38 mußte auch der Parlamentarische Rat verfahren. Das Patt zwischen CDU/ CSU und SPD, die von insgesamt 65 Abgeordneten beide je 27 Abgeordnete stellten, Schloß die verfassungsrechtliche Festschreibung gesellschaftspolitischer Zielvorstellungen und damit die verfassungsrechtliche Planung der gesellschaftlichen Entwicklung weitgehend aus.39 Nicht anders war die Lage nach 1949. Verfassungsänderungen bedürfen der Zweidrittelmehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften (Art. 79 Abs. 2 GG). Gegen die jeweils andere vermochte keine der beiden großen Parteien diese Hürde zu nehmen.40 Und gemeinsam nahmen sie die Hürde jedenfalls nicht zu einer konzeptionellen Umgestaltung des Grundgesetzes. Das konnten sie auch nicht. Denn selbst in Zeiten einer Großen Koalition gibt keiner der beiden Partner seinen politischen Führungsanspruch prinzipiell und dauerhaft auf. Zu Verfassungsrecht "vereisen" 41 konnten unter dieser Bedingungen nur solche politischen Entscheidungen, die zwei Voraussetzungen erfüllten. Sie durften nicht darauf zielen, eine bestimmte Lebensordnung, eine bestimmte Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und kulturelle Ordnung zu fixieren, mußten sich vielmehr auf die Ordnung des Staates beschränken. Außerdem durften sie die Politik inhaltlich nicht weitgehend festlegen. Das Ergebnis ist ein Grundgesetz, das sich nicht als materiale Gesamtordnung des Gemeinwesens versteht, sondern als formale - und deshalb relativ statische - Teilordnung der Politik, der es die gesellschaftliche Entwicklung überläßt. Das Ergebnis ist eine Verfassung im technischen Sinne. 38

Karl Michaelis, Die Deutschen und ihr Rechtsstaat, 1979, S. 8 ff., 35; Hermann Huba, Zur Verfassung der Theorie des Pluralismus, Der Staat 33 (1994), S. 581 (587 ff.). 39

Gleichsinnig Mußgnug, Zustandekommen, S. 236.

40

Lediglich in der 2. Wahlperiode (1953-1957) verfügte eine kleine Koalition über eine Zweidrittelmehrheit, nämlich vom 9.10.1953 bis zum 23.7.1955 die Koalition aus CDU/CSU, F.D.P., Deutsche Partei und Gesamtdeutscher Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, siehe Datenhandbuch, S. 358 f., 776. 41

Oben § 41.2. b.

166

2. Teil: § 7 Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes 2. Und die Sinngebungsfunktion

der Verfassung?

Diese Feststellung scheint der offenkundigen Tatsache zu widersprechen, daß das Grundgesetz nicht lediglich ein Organisationsstatut darstellt, sondern auch, zudem an prominenter Stelle, über einen Grundrechtskatalog verfügt. Der Widerspruch besteht indessen nur, wenn man diesen Grundrechtsteil als Weitordnung für das Gemeinwesen interpretiert. Er besteht nicht, begreift man die Grundrechte im Sinne ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat.42 Denn dann liegt ihre dogmatische Bedeutung primär in der Begrenzung der Politik im Wege negativer Kompetenzbestimmung, mithin in der Entpolitisierung bestimmter Lebensbereiche, und ihre theoretische Bedeutung darin, statt der Einheit die funktionale Differenzierung der Gesellschaft abzustützen.43 Daraus erhellt, daß sich das Problem der Grundrechte nicht in einem oberflächlichen Interpretationsstreit erschöpft. Es ist ein zentrales Problem des Verständnisses der Verfassung. Der Hinweis auf den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes drängt denn auch nicht nur auf die Offenlegung der technischen Grundrechtskonzeption. Er rügt das technische Verfassungsverständnis als defizitär. Es vernachlässige die legitimierende, integrierende und zielsetzende, kurz, die Sinngebungsfunktion 44 normativer Gehalte der Verfassung in Form von Grundrechten, Staatszielbestimmungen oder (sonstigen) materialen Leitgrundsätzen. Nun kann diese Rüge leicht umgekehrt werden. Die Betonung der Sinngebungsfunktion, das pathetische Bestreben, die Verfassung mit identitätsbestimmenden und integrationsstifienden Werten oder sonstigen inhaltlichen Vorgaben für die Politik anzureichern, gefährdet die Fremdheit von Verfassungsrecht und Politik und damit die Organisationsfunktion der Verfassung. 45 Aber die Entgegnung führt nicht weiter. Sie mündet in bekannte, ideologisch belastete Gegenüberstellungen: hier die defensive, freiheitsorientierte Verfas-

42

Mußgnug, Zustandekommen, S. 239.

43

Oben §41. l . b .

44

Michael Sachs, Normtypen im deutschen Verfassungsrecht, Zeitschrift für Gesetzgebung 1991, S. 1 (25). 45

Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Hans Barion/Ernst Forsthoff/Werner Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, 1959, S. 35 (insbes. 59 ff.).

III. Der Eigensinn des Grundgesetzes

167

sung, dort die konstitutive, gleichheitsorientierte Verfassung, 46 hier die Verfassung als instrument o f government, dort die materiale Verfassung, 4 7 hier die liberale, dort die sozialstaatliche Verfassung. 4 8 Andererseits genügt es jedoch auch nicht, dieses Entweder/Oder i m Sinne eines Sowohl-Als-Auch durch Kataloge v o n Verfassungsfunktionen zu ersetzen, 49 die die Frage verschütten, ob und inwieweit diese Funktionen miteinander vereinbar sind.

3. Die Multifunktionalität

der Verfassung

Das Problem liegt denn auch nicht i n der Erkenntnis der Multifunktionalität der Verfassung. Es liegt i n der m i t ihr gestellten Aufgabe, die Haupt-, die Primärfunktion der Verfassung zu bestimmen. Die Primärfunktion prägt die Verfassung und gebietet i m K o n f l i k t f a l l die Unterordnung anderer Funktionen, 46

Dazu Peter Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (368 ff.). 47 Wilhelm Hennis , Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968, S. 15, 20, 23 f. Zur Unterscheidung zwischen einem instrumentalen und einem materialen Verfassungsverständnis siehe den Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der (schweizerischen) Bundesverfassung, 1977, S. 15. 48 49

Forsthoff,

S. 51, 54.

Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I 2. Aufl. 1984, § 3 I I I 2 d, S. 82 ff., listet acht Funktionen auf: Neben ihrer Ordnungs-, Stabilisierungs- und Organisationsfunktion soll die Verfassung "auf das Grundsätzliche gerichtet sein", "Macht begrenzen und kontrollieren", "Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsschutz des Individuums gewährleisten", "Leitgrundsätze über die materialen Staatsziele und die Rechtsstellung des Bürgers im und zum Staate enthalten" und "einheitsstifiend (integrierend) wirken". Ihm folgt weitgehend Kurt Eichenberger, Der Entwurf von 1977 für eine neue schweizerische Bundesverfassung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 40 (1980), S. 477 (504-537). Ebenso Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (46 ff.). - Hans-Peter Schneider, Die Funktion der Verfassung, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Einführung in das öffentliche Recht. Verfassung und Verwaltung, 1985, S. 1 (17 ff.), nennt vier Funktionen: die Einigungs-, die Rechtfertigungs-, die Schutz- und die Ordnungsfunktion. Konrad Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Benda/ Maihofer/Vogel, S. 3 (5 ff.), der drei Funktionen unterscheidet, nämlich die Integrations-, die Organisationsund die rechtliche Leitfunktion, hält deren komplementäres Zusammenspiel für unproblematisch (Rn 8). - Anderer Ansicht etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, AöR 106 (1981), S. 580 (601 f.).

168

2. Teil: § 7 Folgerungen - Der Eigensinn des Grundgesetzes

schließt diese aber nicht aus;50 sie besitzt "regulative Prominenz, aber keine exklusive Relevanz".51 Aber auch unter diesem Vorbehalt liegen der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung zwei gegensätzliche Verfassungsverständnisse zugrunde. Die technische Sicht der Verfassung erwartet von ihr primär die rechtliche Organisation von Politik. Deshalb stellt sie den Charakter der Verfassung als ein auf Vollziehbarkeit angelegtes Rechtsgesetz in den Vordergrund. Maßgebend ist fur sie die juridische Wirkung der Verfassung. Integrative, identitätsbestimmende und edukatorische Wirkungen - man denke an den Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn - 5 2 erscheinen ihr sekundär, ja abgeleitet. Die Integration der Bürger ist für sie Aufgabe der Politik und, fallweise, Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. 53 Integration ist eine Folge der Verfassung. Das Gegenteil gilt aus pathetischer Sicht. Sie sieht in der Selbstverständigung der Bürger den Ursprung der Verfassung und erachtet ihre Integrations- als ihrer Organisationsfunktion übergeordnet. Deshalb hält sie die appellativen Wirkungen der Verfassung für maßgebend.54 Im Kern unterscheiden sich beide Positionen demnach hinsichtlich der Frage, wie das Verhältnis von Volk und Politik zu ordnen ist. Möglichst distanziert durch Vorkehrungen treffendes zwischengeschaltetes Verfassungsrecht oder möglichst eng und unvermittelt: Demokratie als spezifische, nämlich die Spitze in Regierung und Opposition spaltende Organisationsform von Politik oder Demokratie als moralischer Anspruch der Bürger, nur von sich selbst beherrscht zu werden, wenigstens aber an allen Entscheidungen möglichst weitgehend beteiligt zu sein.55 - Die dargestellte Diskussion legt die Vermutung nahe, daß die 50

In diesem Sinne auch der Bericht der Sachverständigenkommission, S. 37 (Peter Badura). 51

Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 3. Aufl. 1986, S. 128.

52

Oben § 3 V i l i . 1. d.

53

Forsthoff, S. 57 f., weist darauf hin, daß eben dies dem Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Zum theoretischen Hintergrund Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 290, FN 106. 54

Zur Unterscheidung appellativer und juridischer Wirkungen der Verfassung: Bericht der Sachverständigenkommission, S. 35 ff. (Peter Badura)', Otto Depenheuer, Politischer Wille und Verfassungsänderung, DVB1 1987, S. 809 (810 f.). 55

Niklas Luhmann, Die Zukunft der Demokratie, in: ders., Soziologische Aufklär u n g ^ 1987, S. 126 f.

III. Der Eigensinn des Grundgesetzes

169

verfassungstheoretische Option für eine der beiden Antworten auch davon abhängt, ob sich verfassungstheoretische Überlegungen vornehmlich an der Verfassungshandhabung oder an der Verfassungsgebung orientieren. 56

4. Technisches Provisorium Daß die Verfassungsgebung von 1949 gleichwohl ein technisches Verfassungskonzept verwirklicht haben soll, widerspricht dieser Vermutung nicht. Das Verfassungskonzept des Grundgesetzes erklärt sich aus den Folgen des NSRegimes. Zum einen aus der mittelbaren Folge der Teilung Deutschlands. Ihretwegen wollte man sich auf ein nur vorläufiges Verfassungswerk beschränken. Zum anderen aus der wichtigsten unmittelbaren Folge: der von weltweiter Verachtung begleiteten und genährten moralischen Verunsicherung der Westdeutschen.57 Ihretwegen mußte man sich beschränken. Sie Schloß eine zukunflsgerichtete Selbstverständigung der Westdeutschen über die definitive Gestalt ihrer Lebensordnung aus.58 Die Integration mußte gleichsam vertagt werden. Entsprechend wirkt der grundgesetzliche Katalog der Grundrechte - im wesentlichen der Katalog der klassischen Individualrechte - weniger als Ausdruck innerer gesellschaftlicher Integration denn als Versuch der Reintegration in die Geschichte, jedenfalls aber der verfassungspolitischen Westintegration. Beides, Wollen und Müssen des Jahres 1949, scheint freilich für eine wiedervereinigungsbedingte Gründungssituation und damit für eine pathetische Verfassungsgebung zu sprechen. Dieser Schluß setzt jedoch voraus, daß eine pathetische Vollverfassung allemal der erstrebenswerte Verfassungszustand ist. Zweifel hieran weckt indessen nicht nur der französischer Verfassungserfahrung entstammende Satz "rien ne dure que le provisoire", sondern auch eine jüngere deutsche Erfahrung mit einem Verfassungsdefinitivum.

56

Diese Unterscheidung trifft auch Saladin, S. 368.

57

Ausführlich Gerd Roellecke, Der Nationalsozialismus als politisches Layout der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 28 (1989), S. 505 (510 f., 516 f.). 58 Instruktiv Klaus-Berto von Doemming/Rudolf Werner Füsslein/Wemer Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöRNF Bd. 1 (1951), S. 43 f.

§ 8 Die Weimarer Reichsverfassung I. Weimarer Verfassung und Grundgesetz Bei aller Übereinstimmung der Grundprinzipien - Republik, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat - sind gravierende Unterschiede zwischen dem Grundgesetz und der Weimarer Verfassung nicht zu übersehen. Um nur die wichtigsten Abweichungen des Grundgesetzes in der Ausformung des demokratischen und des sozialstaatlichen Prinzips zu nennen: -

-

keine unmittelbare Mitwirkung des Volkes bei der Gesetzgebung (dagegen: Artt. 73, 74, 76 W V - Volksbegehren und Volksentscheid); keine unmittelbare Volkswahl des Staatsoberhaupts (dagegen: Art. 41 WV), die entsprechend weitreichende Befugnisse gestattete (Art. 48 WV);

-

kein destruktives (Art. 54 WV), nur ein konstruktives Mißtrauensvotum des Parlaments (Art. 67 GG);

-

keine verfassungsrechtliche Festschreibung der den politischen Willen des Volkes genau widerspiegelnden reinen Verhältniswahl (dagegen: Art. 22 WV);

-

keine Beschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit im wesentlichen1 auf die nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip nicht sinnvoll entscheidbaren Bund/Länder- und Länder/Länder-Streitigkeiten (Art. 93 GG, dagegen: Art. 19 Abs. 1 WV);

-

wohl aber eine verfassungsrechtliche Disziplinierung der Parteien (Art. 21 GG, dagegen: Art. 130 Abs. 1 WV).

1

Einzelheiten zu den Kompetenzen des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich bei Hans Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 1 1987, S. 85 (126).

I. Weimarer Verfassung und Grundgesetz

171

Daneben verfolgt das Grundgesetz ein völlig anderes Grundrechtskonzept. Ihre Verbindlichkeit auch gegenüber dem Gesetzgeber (Art. 1 Abs. 3 GG) und ihre volle Justitiabilität (Art. 19 Abs. 4 GG) erkauft es mit der Beschränkung auf die klassischen liberalen Freiheitsrechte. Anders die Weimarer Verfassung. Sie bemüht sich nicht nur um die Sicherung der individuellen Freiheit. Ihr geht es außerdem um die Sicherung der sozialen Voraussetzungen der - gleichen Freiheit. Deswegen anerkennt sie etwa ein Recht auf Arbeit (Art. 163 Abs. 2 Satz 1 W^V). Überhaupt ist es ihr um die gute und gerechte Ordnung des Lebens zu tun. So findet sich im Abschnitt "Das Gemeinschaftsleben" ihres mit "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" überschriebenen zweiten Hauptteils die Bestimmung: "Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu treffen." (Art. 122 Abs. 1 WV). Und im Abschnitt "Das Wirtschaftsleben" die Bestimmung: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern." (Art. 151 Abs. 1 WV). Die genannten Unterschiede lassen sich aus zwei Perspektiven beurteilen. Aus der Sicht des Grundgesetzes stellen sie sich als Verbesserungen dar. Nach Auffassung des Parlamentarischen Rates hatte auch die Weimarer Verfassung den Nationalsozialismus ermöglicht. Ähnliches durfte sich nicht wiederholen. Also galt es, jene Mängel der Reichsverfassung, die zum Untergang der ersten deutschen Republik beigetragen hatten, im Grundgesetz zu vermeiden. Dem dienten die dargestellten Gegenpositionen.2 Aus Sicht der Weimarer Verfassung liegen die Dinge anders. Im Vergleich mit ihr, die sich in ihrer Präambel aus2

Siehe neben der Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes in JöR NF Bd. 1 (1951) vor allem Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1962, insbes. S. 8 ff. und Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee/Kirchhof, Bd. I, S. 219 (239 ff.). - Kritisch gegenüber der Erklärung der grundgesetzlichen Abstinenz in Sachen direkter Demokratie aus Weimarer Erfahrungen Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid, 1994, S. 252 ff., 329 ff. Im Sinne des Textes Frank R. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, 1990, S. 262 ff., 470.

2. Teil: § 8 Die Weimarer Reichsverfassung

172

drücklich als Verfassung des gesellschaftlichen Fortschritts versteht, erweist sich das Grundgesetz nicht nur als weniger zukunftsorientiert. 3 Gemessen an ihren Ansprüchen an (partizipative) Demokratie und soziale Gleichheit ist es auch zu wenig demokratisch und zu wenig sozial. Diese Einschätzung deckt sich mit der anläßlich der Wiedervereinigung am Grundgesetz aus pathetischer Perspektive geübten Kritik. 4 Der Kern des von jener Kritik vorgeschlagenen Verbesserungsprogramms könnte der Weimarer Verfassung entnommen sein: Mehr soziale Rechte, wenigstens in Form der Verpflichtung des Staates vor allem für Vollbeschäftigung, ausreichenden Wohnraum und gleiche Bildungschancen zu sorgen. Und mehr unmittelbare Beteiligung des Volkes an der staatlichen Willensbildung, nicht nur in Form der direkten Volkswahl des Bundespräsidenten, sondern auch in Form der Volksgesetzgebung (Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid).

I I . Weimarer Verfassung und gesamtdeutsche Alternativen zum Grundgesetz Angesichts dessen kann es nicht überraschen, daß die Entwürfe gesamtdeutscher Verfassungen, die dem Grundgesetz alternativ gegenübergestellt wurden, hinsichtlich der Ausgestaltung des demokratischen und des sozialstaatlichen Prinzips der Weimarer Verfassung gleichen. Als der Reichsverfassung strukturverwandt erweist sich zunächst der Entwurf einer Verfassung der DDR der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches.5

1. Der (sog.) Verfassungsentwurf

des Runden Tisches

Sofort mit der Erarbeitung des Entwurfes einer neuen Verfassung der DDR zu beginnen, beschloß der Runde Tisch in Berlin-Niederschönhausen bereits in 3

Oben § 7 III. 1.

4

Oben § 1 II. 4. b; § 3 VIII. 1.

5

Text: Ingo von Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, 1991, S. 122 ff. Dort auch die Erklärung des Runden Tisches vom 7.12.1989 und der Beschluß des Runden Tisches vom 12.3.1990 (S. 160 f.). (Der Text des Entwurfs ist auch abgedruckt in JöR NF Bd. 39 (1990), S. 350 ff.)

II. WV und gesamtdeutsche Alternativen zum GG

173

seiner konstituierenden Sitzung am 7. Dezember 1989.6 Die mit der Aufgabe betraute Arbeitsgruppe legte am 4. April 1990 ihren Entwurf vor. Geradlinigkeit und Rasanz der politischen Entwicklung in Richtung deutsche Einheit haben den Entwurf in doppelter Weise geprägt. Zum einen handelt es sich genau genommen nicht um einen Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches.7 Das Plenum, das seine Arbeit bereits am 12. März 1990 einstellte, hat den (Gesamt-)Entwurf nicht beschlossen und es der Arbeitsgruppe überlassen, ihn der Volkskammer zu übergeben. Dort ist der Entwurf am 26. April 1990 gescheitert. Die am 18. März 1990 erstmals frei gewählte Volkskammer lehnte seine Beratung und auch nur seine Überweisung an den zuständigen Ausschuß mehrheitlich ab.8 Zum anderen handelt es sich bei dem Entwurf, sieht man ihn vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung, nur formal um den Entwurf einer neuen Verfassung der DDR. Der Sache nach ist er als Entwurf einer neuen gesamtdeutschen Verfassung zu verstehen.9 Er zielte darauf, die Positionen der DDR in einem gesamtdeutschen verfassungsgebenden Prozeß festzulegen. 10 Diesem Zweck entsprechend liegt dem Verfassungsentwurf eine doppelte Absicht zugrunde. Er will "die demokratische, plebiszitäre und partizipatorische Lebendigkeit" erhalten, die die revolutionäre Entwicklung in der DDR angestoßen und vorangetrieben habe, und verfassungsrechtlich verbürgen, "was als gesellschaftliche Errungenschaften der DDR" angesehen wird. 11 Zu den gesellschaftlichen Errungenschaften der DDR zählen dem Entwurf zufolge vor allem

6

Siehe die Erklärung vom 7.12.1989 (FN 5).

7

Ebenso Uwe Thaysen, Der Runde Tisch, 1990, S. 145 und Klaus Michael Rogner, Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, 1993, S. 47. 8

Näher Peter Häherle, Der Entwurf der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Runden Tisches (1990), JöRNF Bd. 39 (1990), S. 319 (326 f.). 9

Ebenso Gerd Roellecke, Dritter Weg zum zweiten Fall, in: Bernd Guggenberger/ Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 367 (368). Gleichsinnig Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgebung als Katharsis, ebda., S. 376. 10

So hat ihn ausweislich seines Beschlusses vom 12.3.1990 (FN 5) auch der Runde Tisch verstanden. 11 So Bernhard Schlink, Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahre 1990, in: Guggenberger/Stein, S. 19 (21). Schlink war Mitglied der die Arbeitsgruppe beratenden Expertengruppe.

2. Teil: §

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soziale Leistungen des Staates. Deshalb gewährt der Entwurf jedem Bürger das Recht zwar nicht auf einen Arbeitsplatz, aber "auf Arbeit oder Arbeitsförderung" (Art. 27 Abs. 1), das Recht "auf angemessenen Wohnraum" (Art. 25 Abs. 1 Satz 1), das Recht "auf gleichen, unentgeltlichen Zugang zu den öffentlichen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen" (Art. 24 Abs. 1 Satz 1) und das Recht "auf soziale Sicherung gegen die Folgen von Krankheit, Unfall, Invalidität, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, Alter und Arbeitslosigkeit" (Art. 23 Abs. 2). Der Erhaltung der plebiszitären und partizipatorischen Lebendigkeit und der Verwirklichung "voller, realer Demokratie" (Bärbel Bohley) dienen die vorgesehenen basisdemokratischen Elemente. Das sind neben der Volksgesetzgebung (Volksbegehren und Volksentscheid, Artt. 89, 98) insbesondere die Ansätze zu einer "Volksverwaltung": 12 Art. 21 Abs. 4 gewährt jedem den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Verfahrensbeteiligung, dessen Rechte und Belange durch die öffentliche Planung von Vorhaben, insbesondere von Verkehrswegen und -anlagen, Energieanlagen, Produktionsstätten und Großbauten betroffen werden; dasselbe Recht soll Zusammenschlüssen von Betroffenen zustehen. Daneben kann jedermann mit der Behauptung, durch nachteilige Veränderungen der natürlichen Umwelt in seinem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gefährdet oder verletzt zu sein, die Offenlegung der Daten über die Umweltbeschaffenheit seines Lebenskreises verlangen; die Verbandsklage ist zulässig (Art. 33 Abs. 3). Als drittes Element der angestrebten Basisdemokratie erweist sich die Privilegierung der Bürgerbewegungen gegenüber den politischen Parteien. 13 Wie die Parteien können sich "Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen)" (Art. 35 Abs. 1) an Wahlen beteiligen (Art. 37 Abs. 3 Satz 3). Aber nur Bürgerbewegungen haben einen Anspruch "auf Zugang zu den bei den Trägern öffentlicher Verwaltung vorhandenen Informationen, die ihre Anliegen betreffen" (Art. 35 Abs. 2). Dem Gedanken unmittelbarer Demokratie entspringt zuletzt auch die Notwendigkeit, verfassungsändernde Gesetze vom Volk in einem Entscheid bestätigen zu lassen (Art. 100 Abs. 1 Satz 3).

12

Rogner, S. 122.

13

Dazu auch Roellecke, Dritter Weg, S. 375.

II. WV und gesamtdeutsche Alternativen zum GG

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Nimmt man beides, die sozialen Grundrechte und die basisdemokratische Grundlinie, zusammen, sieht man neben der stilistischen die strukturelle Verwandtschaft mit der Weimarer Reichsverfassung. Was für den Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe gilt, prägt denn auch, wie sich noch zeigen wird, sie: eine widersprüchliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Volk und Politik. 14 Die Widersprüchlichkeit des Entwurfs wird besonders deutlich im Brennpunkt des Bürger-Staat-Verhältnisses, der Gewissensfreiheit. Art. 11 lautet: "(1) Die Freiheit des Gewissens ist gewährleistet. (2) Widerstreitet das Gewissen staatsbürgerlichen oder bürgerlichen Pflichten, so muß der Bürger, wenn er diese Pflichten nicht erfüllen will, andere Leistungen anbieten und der Staat andere, gleichbelastende Pflichten eröffnen." Der erste Absatz formuliert das klassische subjektive Abwehrrecht gegen den Staat. Ihm liegt ein Bürger und Staat unterscheidendes und distanzierendes Verfassungskonzept zugrunde. Der Staat erscheint in der Rolle desjenigen, der die individuelle Freiheit potentiell bedroht. Ihm zu mißtrauen, ist angebracht. Daher steht "the man versus the state".15 Diese Entgegensetzung paßt indessen schlecht zu jenem "Bürgerstaat", den der Verfassungsentwurf im Auge hat. Denn die Entscheidungen jenes Staates sind entweder unter weitgehender "politischer Mitgestaltung" der Bürger (Art. 21 Abs. 1) zustande gekommen oder stammen gar unmittelbar von den Bürgern selbst (Volksgesetzgebung). Das erheischt Vertrauen. Einem bürgerstaatlichen Verfassungskonzept entspringt denn auch der zweite Absatz. Der Staat schafft durch sein Angebot an Alternativen die sozialen Voraussetzungen tatsächlicher Gewissensfreiheit. 16 Der Konflikt "the man versus the state", die Unterscheidung und Distanzierung von Volk und Politik scheint aufgehoben. Schließlich machen die Bürger die Politik ja selbst. - Man fühlt sich an Art. 21 Abs. 1 der Verfassung der DDR von 1968/1974 erinnert,

14

Dazu schon oben § 7 III. 3.

15

Richard Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, in: Heinrich Triepel (Hrsg.), Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, 1925, S. 183 (187, Fußnote). 16

Ladeur, Verfassungsgebung, S. 381 f., sieht deshalb das Gewissen "als Sozialhilfeempfanger des Staates".

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2. Teil: §

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der das Mitgestaltungsrecht der Bürger auf die Formel bringt: "Arbeite mit, plane mit, regiere mit!" Die identitäre, Volk und Politik in eins setzende Tendenz des Verfassungsentwurfs muß freilich mit einem Problem zurecht kommen, das man ebenfalls in der letzten Verfassung der DDR nachlesen kann: "Die Verwirklichung dieses Rechts der Mitbestimmung und Mitgestaltung ist zugleich eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger" (Art. 21 Abs. 3 Satz 1). - Vertrauen ist eben eine riskante Vorleistung. 17 Deshalb versichert man sich gerne der moralischen Integrität und der guten Absichten der Mit-Bürger. A n Erklärungen guter Absichten mangelt es dem Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe daher ebenso wenig wie der Weimarer Verfassung. Schützt diese neben der Jugend vor allem die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft (Art. 150 Abs. 1), die Arbeitskraft (Art. 157 Abs. 1), die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder und der Künstler (Art. 158 Abs. 1) und den selbständigen Mittelstand (Art. 164), so schützt der Verfassungsentwurf vor allem die Frauen und das ungeborene Leben (Art. 4 Abs. 3), ebenfalls die geistige Arbeit, das Recht der Urheber und der Erfinder (Art. 19 Abs. 4), das kulturelle Leben sowie die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes (Art. 20 Abs. 2), die Kinder, auch vor seelischer Vernachlässigung (Art. 22 Abs. 5) sowie die natürliche Umwelt (Art. 33 Abs. 1) und achtet das Alter und respektiert Behinderung (Art. 23 Abs. 1). Im Zentrum der vertrauensbildenden Maßnahmen steht freilich das "wechselseitige Versprechen" 18 der Bürgerinnen und Bürger, 19 dem Mitbürger nichts zuzufügen, was hinzunehmen man selbst nicht bereit ist. Im Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe nimmt diese goldene Regel 20 die Form an: "Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher" (Art. 1 Abs. 2 Satz l). 2 1 Aber ab17

Niklas Luhmann, Vertrauen, 2. Aufl. 1973, S. 23 f., 45, 73 f.

18

Ulrich K. Preuß, A u f der Suche nach der Zivilgesellschaft, in: Guggenberger/ Stein, S. 357 (360). Preuß war ebenfalls Mitglied der die Arbeitsgruppe beratenden Expertengruppe. 19 Nach der Präambel des Entwurfs gibt sich nicht das Volk, sondern "geben sich die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik" die Verfassung. 20 21

Näher Roellecke, Dritter Weg, S. 373.

In der Verfassung des Landes Brandenburg (vom 20.8.1992) lautet sie: "Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde" (Art. 7 Abs. 2). Dazu Görg Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 149 ff.

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gesehen davon, daß Achtung, die man gemeinhin "erweist", ihren Charakter ändert, wenn man sich zu ihr verpflichtet sieht, ist dieser Satz in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen bewirkt er nicht die Vergrundrechtlichung (auch) des BürgerBürger-Verhältnisses, 22 sondern die Moralisierung (auch) des Bürger-StaatVerhältnisses. Der Satz intendiert, die auf ihn folgenden Differenzierungsverbote bestätigen es, soziale Gleichheit.23 Die Einbeziehung aller Bürger, ja aller Menschen in die Leistungen der Gesellschaft allein nach dem Maßstab ihres Person-Seins stößt indessen sehr bald auf das Problem der Knappheit der Güter, aber auch der Knappheit von Zeit und Aufmerksamkeit. Dann muß die Politik differenzierend verteilen. Gilt jetzt soziale Gleichheit als Verfassungsgrundsatz, kann sie nicht etwa nach Leistung, dann muß sie zwischen Personen, das heißt: moralisch, differenzieren. Ein Staat der sozialen Gleichheit ist demnach gezwungen, mit Hilfe moralischer Ächtung Politik zu machen. Gegen diese Art von Politik spricht aber nicht nur, daß an ihr bereits der real existierende Sozialismus gescheitert ist. Zum zweiten belegt Art. 1 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs, daß ein Staat der sozialen Gleichheit die Grundrechte durch entsprechende Grundpflichten letztlich neutralisieren muß.24 Liberale Grundrechte können die Ordnung der Pflichten den jeweiligen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Lebensbereichen überlassen, zwischen denen der Bürger wählen kann. Soziale Grundrechte bedingen umfangreiche Grundpflichten des Bürgers gegenüber dem Staat. Man mag einwenden, Grundansprüche des Bürgerstaates bedrohten die Freiheit des Bürgers nicht. Sicher ist jedoch nur, daß die Bürger sich gegen einen allseits integrierenden Bürgerstaat mangels grundrechtlich-rechtsstaatlicher Distanz schwerer wehren können. Daß der Entwurf der Arbeitsgruppe darauf zielt, die Unterscheidung von Bürger und Staat aufzuheben, ist indessen nicht nur das Ergebnis zuspitzender kritischer Analyse. Seine identitäre Tendenz ist das Ergebnis der erklärten Ab-

22

So etwa Tatjana Böhm, Diskriminierungsverbot und Gleichstellungsgebot, in: Guggenberger/ Stein, S. 391 (392). 23

Preuß, Zivilgesellschaft, S. 361.

24

Gleichsinnig Ladeur, Verfassungsgebung, S. 380 f. und Roellecke, Dritter Weg, S. 373 f. 12 Huba

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2. Teil: §

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sieht, m i t einer Zivilgesellschaftsverfassung eine Zivilgesellschaft zu schaffen: 25 D i e bürgerliche Gesellschaft liberalen Verständnisses soll überwunden werden zugunsten einer solidarischen und daher humanen Gesellschaft, j a Gemeinschaft gleicher, das gesamte Gemeinwesen (mit-)gestaltender Bürger. 2 6

2. Der

Kuratoriumsentwurf

A u f eben jenes Z i e l ist auch der (Paulskirchen-)Entwurf einer Verfassung fur Deutschland des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder v o m 29. Juni 1991 2 7 gerichtet. 2 8 Der Text, den die i m Juni 1990 gegründete und M i t t e 1993 aufgelöste Bürgerinitiative 2 9 "auf der Basis des Grundgesetzes, unter Berücksichtigung des Verfassungsentwurfes des Zentralen Runden Tisches der D D R " 3 0 erarbeitet hat, trägt die genannten kennzeichnenden Züge.

25

Preuß, Zivilgesellschaft, S. 359 f.

26

Zu dem (schillernden) Begriff der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft vor allem Ilse Staff, Überlegungen zur Neukonstituierung einer Bürgergesellschaft, Blätter für deutsche und internationale Politik 1993, S. 917 (918 f.) und Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 399 (443 ff.). Siehe aber auch Claus Leggewie, Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1993 Nr. 31, S. 7 ff. sowie die Begründung des Gesetzentwurfs zur Einfügung eines neuen Artikel 2 a in das Grundgesetz (Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn), BT-Drs. 12/6708, S. 3 ff. (dazu schon oben § 3 VIII. 1. d). - Zu den kommunitaristischen Wurzeln der Reintegration der Moral in die Staatskonzeption Walter Reese-Schäfer, Verfassunggebung aus gelebter Tradition, in: Thomas Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 42 ff. 27

Text einschließlich Denkschrift, Manifest und Plädoyers in: Bernd Guggenberger/Ulrich K. Preuß/Wolfgang Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991. 28

So die Denkschrift, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 38.

29

Zur Selbsteinschätzung, zum Gang der Beratungen und zu den Mitgliedern: Denkschrift, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 31 ff. Zur Auflösung siehe den Bericht von Ulrich Bachmann, Von der bürgerlichen Gesellschaft zur Bürgergesellschaft, Neue Justiz 1993, S. 362. 30 Entwurf, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 101. Siehe auch die Denkschrift, ebda., S. 37 f.

II. WV und gesamtdeutsche Alternativen zum GG

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Die basisdemokratische Grundlinie ergibt sich aus der Erweiterung der klassischen demokratischen Mitwirkungsrechte um -

ein allgemeines Recht jedes Menschen (!), in Staat und Gesellschaft seine Belange durch demokratische Teilhabe zu wahren (Art. 2 Abs. 3);

-

spezifische Demokratiegebote für Presse und Rundfunk (Art. 5 Abs. 3), staatliche Hochschulen (Art. 5 b Abs. 3), Schulen (Art. 7 Abs. 3) und Altensowie Behindertenheime (Art. 12 b Abs. 2);

-

das Recht auf Mitbestimmung im Arbeits- und Wirtschaftsleben (Art. 9 b Abs. 2);

-

das gegen die "Übermacht der Exekutive" gerichtete Recht jedes Bürgers, "in amtliche Akten Einsicht zu nehmen" (Art. 5 Abs. 4), das Recht von Bürgerbewegungen, die ihr Anliegen betreffenden Akten einzusehen (Art. 9 a Abs. 2) sowie deren Anspruch auf Gehör in den Volksvertretungen (Art. 9 a Abs. 3) und

-

um ein dreistufiges Verfahren (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid, Art. 82 a), das es den Bürgern jederzeit ermöglichen soll, von ihrem "Letztentscheidungsrecht" auch in einzelnen Sachfragen unmittelbar Gebrauch zu machen.31

Neben die angestrebte "demokratische Teilhabe in allen Lebensbereichen" zur "umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft" tritt die Verpflichtung "des Staates und der Gemeinschaft" zur sozialen Gerechtigkeit. 32 Deshalb gewährt der Entwurf ein Grundrecht auf Bildung (Art. 7 Abs. 1) sowie die als Staatsziele ausgestalteten Rechte auf Arbeit (Art. 12 a), soziale Sicherung (Art. 12 b Abs. 1) und auf eine angemessene Wohnung (Art. 13 a), die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (objektiv) binden sollen und "gegenüber Dritten im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechtsordnung verpflichtende Wirkung" entfalten (Art. 1 Abs. 3). Besonderen Schutz genießen Kinder (Art. 6 Abs. 1) sowie alte und behinderte Menschen (Art. 12 b Abs. 2). Insgesamt strebt der Entwurf ein "solidarisches Gemeinwesen" an, in dem nicht nur alle Bürger einander wechselseitig als

31

So die Denkschrift, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 69.

32

Denkschrift, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 48, 39.

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2. Teil: §

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Gleiche in ihrer Würde anerkennen (Art. 1 Abs. 1 Satz 3), sondern "das Wohl und die Stärke aller aus dem Schutz der Schwachen erwächst" (Präambel). 33 Zuletzt prägt den Kuratoriumsentwurf freilich auch die gleiche innere Widersprüchlichkeit, die schon den Entwurf der Arbeitsgruppe des Zentralen Runden Tisches kennzeichnete. Seine deutliche Stärkung und Ausweitung der Freiheitsrechte 34 zeugt von erheblichem Mißtrauen gegenüber eben jenem (basisdemokratischen) Staat,35 dem der Entwurf andererseits die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit anvertraut. Der eingreifende, nehmende und daher böse Staat, ist vom sozialschützenden, gebenden und daher guten Staat aber nicht zu trennen. 36 Der Staat muß das Böse tun, um das Gute tun zu können. Die durch Art. 1 Abs. 3 des Kuratoriumsentwurfs verpflichteten "Dritten" sind eben die Bürger. Aber dieser Widerspruch spiegelt nur ein grundsätzlich paradoxes Staatskonzept. Soziale Gerechtigkeit ist, wenn überhaupt, von Staats wegen nur um den Preis einer Verstaatlichung der Gesellschaft zu haben. Und Basisdemokratie nur um den Preis einer Vergesellschaftung des Staates. Fallen Bürgergesellschaft und Bürgerstaat aber in eins, kann es keine bürgerliche Distanz mehr geben. Strukturell gehen Distanz und Nähe, Widerstand 37 und Identifikation auch dialektisch - nicht zusammen. Der Versuch, ihre Widersprüchlichkeit 33 Dazu auch Helmut Simon, Die Stärke des Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen, in: Bernd Bender u.a. (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift fur Konrad Redeker, 1993, S. 159, der mitteilt, daß der Titel seines Beitrages der Präambel des Entwurfs einer neuen Schweizer Verfassung entnommen ist. 34

Zusammenfassend die Denkschrift, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 40 ff. Kritisch auch Karl-Heinz Ladeur, Vom Grundgesetz zur Deutschen Verfassung?, liberal 1992, S. 79, 86. 35 Nach der Denkschrift, in: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 70, soll die Volksgesetzgebung den gleichen grundrechtlichen Beschränkungen unterliegen, die der Entwurf auch dem Parlament auferlegt. Bei Einschränkungen von Grundrechten seien der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Wesensgehaltsgarantie zu beachten (Art. 19 Abs. 2 des Entwurfs). Der Entwurf selbst ist in dieser Hinsicht weniger präzise (siehe Art. 82 a Abs. 1 Satz 3). Auch die effektive Bindung verfassungsändernder Volksgesetze (Art. 82 a Abs. 3) an Art. 79 Abs. 3 des Entwurfs (= des Grundgesetzes) bleibt unklar. - Das Verhältnis unmittelbarer Volksherrschaft zum Individual- und Minderheitenschutz ist eben ein peinliches Problem. 36 37

Gleichsinnig Ladeur, Vom Grundgesetz, S. 79.

Zu den Wurzeln der Zivilgesellschaft in der "Widerstandsgesellschaft" Ladeur, Vom Grundgesetz, S. 84, 86.

III. Zum Scheitern der Weimarer Verfassung

181

"aufzuheben", beschreibt allenfalls den Beginn der Verantwortlichkeit aller für alles und damit das Ende aller klaren Verantwortlichkeiten. Genau diesen Versuch, verfassungstheoretisch gewendet: einer Synthese von liberaler Staats- und sozialreformerischer Gesellschaftsverfassung, 38 hat aber wie (unter I.) angedeutet auch die Weimarer Reichsverfassung unternommen. 39 Trifft daher die Analyse der beiden Alternativentwürfe zum Grundgesetz als gesamtdeutscher Verfassung zu, erscheint die Frage nach den Gründen des Scheiterns der Weimarer Republik auch in verfassungstheoretischem Licht.

I I I . Zum Scheitern der Weimarer Verfassung 1. Die Weimarer

Verfassung als "unglückliche " Verfassung

Die Frage, warum die Weimarer Verfassung gescheitert ist, gehört zu den kontroversesten Themen der zeitgeschichtlichen Forschung und der jüngeren Verfassungsgeschichte. 40 Sie kann und soll hier nicht umfassend untersucht, vielmehr lediglich in Form der Teilfrage aufgegriffen werden, ob die für die Reichsverfassung günstigste Antwort zutreffen kann. Diese Antwort sieht das Scheitern der Verfassung nicht in der internen Qualität ihrer Regelungen begründet, sondern in den externen Bedingungen, unter denen diese Regelungen ihre Wirkung entfalten mußten; die Weimarer Verfassung sei keine mißglückte, sie sei eine unglückliche Verfassung gewesen.41 An ungünstigen externen Bedingungen werden - neben der im Versailler Vertrag auferlegten untragbaren

38

Ebenso Ladeur, Vom Grundgesetz, S. 80 und - freilich mit positivem Vorzeichen Preuß, Zivilgesellschaft, S. 359 f. 39

Siehe nur Dieter Grimm, Die Bedeutung der Weimarer Verfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1992, S. 17 f. 40

Siehe aus neuerer Zeit nur Karl-Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, und dazu die Rezension von ErnstWolfgang Böckenförde, Weimar - Vom Scheitern einer zu früh gekommenen Demokratie, DÖV 1981, S. 946 ff., sowie Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik, 1987. 41

So Grimm, Weimarer Verfassung, S. 31 und oben § 5 II. 2. (bei FN 18).

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2. Teil: §

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finanziellen Last und zum Ausdruck gekommenen schlimmen politischen Diskriminierung - 4 2 im wesentlichen genannt: -

Der fehlende Rückhalt der Verfassung im Staatsapparat, vor allem aber in der Bevölkerung. Die Reichsverfassung sei zeit ihrer Existenz Streitobjekt in der politischen Auseinandersetzung geblieben und nicht zum Vorrat der politischen Gegner an gemeinsamen Grundüberzeugungen geworden. Dadurch habe sie die wichtigste Funktion einer Verfassung, die Konsensfunktion, nicht erfüllen können.43 Solle ein Staat in einer bestimmten Verfassung Bestand haben, so müßten sich die Bürger mit ihm und seiner Verfassung identifizieren; 44

-

Die Unversöhnlichkeit und Kompromißunfahigkeit der politischen Parteien, nicht nur der radikalen, sondern auch der demokratischen (Weltanschauungs- und Interessen-)Parteien; 45

-

Und die wirtschaftliche Instabilität. Während sich das Grundgesetz in einer Phase ungestörten Wirtschaftswachstums und ungestörter Wohlstandssteigerung eine breite Akzeptanz habe sichern können,46 sei Weimars Wirtschaft chronisch krank, die Investitionsbereitschaft der Unternehmer äußerst gering und seien die vergleichbaren Arbeitslosenzahlen durchweg weit höher als in der Vorkriegszeit gewesen.47

2. Verfassungsvoraussetzungen

und Verfassungserwartungen

Die genannten (ungünstigen) Umstände als externe Wirkungsbedingungen einzuordnen bedeutet, sie zur Umwelt der Verfassung zu erklären, indessen nicht zur verfassungsirrelevanten, sondern zur für die Verwirklichung der Ver42

So Ernst Friesenhahn, Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Erdmann/Schulze, S. 81 (82). Siehe aber auch Andreas Hillgruber, Unter dem Schatten von Versailles, ebda., S. 51 ff. 43

Grimm, Weimarer Verfassung, S. 18, 30. Bestätigend Hagen Schulze, Vom Scheitern einer Republik, in: Bracher/Funke/Jacobsen, S. 617 (619). 44

Friesenhahn, S. 104.

45

Grimm, Weimarer Verfassung, S. 18 f., 31; Friesenhahn, S. 81, 99 und S. 87 zur "Unschuld" des Verhältniswahlrechtes. Bestätigend Schulze, S. 623. 46

Grimm, Weimarer Verfassung, S. 30.

47

Schulze, S. 620.

III. Zum Scheitern der Weimarer Verfassung

183

fassung bedeutsamen Umwelt. Herbert Krüger hat diese Umwelt unter den Stichworten "Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen" thematisiert. 48 Nun mag der Typus der demokratischen Verfassung von "sozialen, politischen, kulturellen Voraussetzungen" leben, die die Verfassung "selbst weder hervorbringen noch erhalten kann". 49 Die Frage ist aber, in welchem Ausmaß und mit welcher Intensität sich eine konkrete Verfassung selbst von Voraussetzungen abhängig macht, und ob sie wegen dieser selbstgewählten Abhängigkeit nicht als unglückliche, weil mißglückte Verfassung anzusehen ist.

3. Die Weimarer

Verfassung als "mißglückte " Verfassung

a) Das ökonomische Argument So ist eine Verfassung, die sich selbst auf unmittelbare Verteilungsgerechtigkeit verpflichtet, weit mehr auf wirtschaftliche Stabilität, ja auf Wirtschaftswachstum angewiesen, als eine Verfassung, die das nicht verspricht. Denn wirtschaftliches Wachstum vermag das Knappheitsproblem dadurch zu entschärfen, daß es davon entbindet, die Umverteilungsmasse ausschließlich aus Eingriffen in Besitzstände zu gewinnen. Entsprechendes gilt für eine Verfassung, die, wie die Weimarer, ein Recht auf Arbeit proklamiert: Arbeitslosigkeit, womöglich sogar selbstverschuldete, erscheint dann als verfassungswidrig. Kommt es unter Geltung einer solchen Verfassung zu wirtschaftlichen Krisen und (massenhafter) Beschäftigungslosigkeit, hat sich die Verfassung durch Versprechungen, die sie nicht einlösen kann, (als "Fetzen Papier") selbst delegitimiert. 50

48

So der Titel seines Beitrages in: Horst Ehmke u.a. (Hrsg.), Festschrift fur Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, 1973, S. 285 (286). M i t "Verfassungserwartungen" sind nicht an die Verfassung gerichtete Erwartungen, sondern Erwartungen der Verfassung gemeint. 49

Grimm, Weimarer Verfassung, S. 32. Ähnlich in bezug auf den Staat ErnstWolfgang Böckenforde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (112): "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Die Voraussetzungen sollen sein: die die gewährte Freiheit von innen her regulierende "moralische Substanz des einzelnen" und die ebenso wirkende "Homogenität der Gesellschaft". 50

Im Ergebnis ähnlich Schulze, S. 622 f.

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2. Teil: §

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b) Das Parteienhader-Argument Auch der Kompromißunfahigkeit der Parteien hat die Weimarer Verfassung mindestens Vorschub geleistet. Gewiß, auch das Grundgesetz kann die Wahl eines Kanzlers mit absoluter Mehrheit und damit eine stabile Regierung letztlich nicht erzwingen. Es vermag auch nichts gegen extremistische Sperrminoritäten, die die Fünf-Prozent-Hürde überspringen. Anders als die Weimarer Verfassung hat es aber Bedacht darauf genommen, die dem Parlament und der Wahlbevölkerung von ihm zugedachten Rollen beiden deutlich vor Augen zu fuhren. 51 Nach Art. 63 GG kommt der Bundestag an seiner Verantwortung, fur eine funktionsfähige Regierung zu sorgen, nur um den Preis seiner eigenen Auflösung vorbei. Nach Absatz 1 hat er den Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten, nach Absatz 3 hilfsweise auf Vorschlag aus seiner Mitte, mit absoluter Mehrheit zu wählen. Wird ein solcher Mehrheitskanzler gewählt, fallt es der Kanzlermehrheit schwer, sich alsbald wieder von ihm zu distanzieren. Ein derartiger Selbstwiderspruch kann die beteiligten Parteien bei der folgenden Wahl den Erfolg und damit die weitere Beteiligung an der Regierungspolitik kosten. Dies vor allem, weil die Wähler systembedingt davon ausgehen, in erster Linie einen Kanzler und erst in zweiter Linie die Zusammensetzung des Parlaments zu bestimmen. Kanzler und Parlamentsmehrheit sind demnach wechselseitig aufeinander angewiesen. Das diszipliniert. Kommt es hingegen ausnahmsweise lediglich zur Wahl eines Minderheitskanzlers (Art. 63 Abs. 4 GG), sorgt nicht zuletzt 52 Art. 67 GG, der ein konstruktives Mißtrauensvotum verlangt, fur relativ stabile Verhältnisse. Negative Einigkeit, Einigkeit alleine in der Ablehnung der Regierungspolitik reicht zum Sturz des Regierungschefs nicht aus. Freilich hat auch die Weimarer Verfassung versucht, der Gefahr eines mehrheitsunfahigen Reichstages Rechnung zu tragen. Aber sie bediente sich hierzu 51

Dazu und zum folgenden insbesondere Reinhard Mußgnug, Der Beitrag des Grundgesetzes zur politischen Stabilisierung der Bundesrepublik, in: ders. (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 53 ff. 52

Zu den weiteren Instrumenten eines Minderheitskanzlers (Vertrauensfrage, Art. 68 GG; Nothaushaltsrecht, Art. 111 GG; Finanzveto, Art. 113 GG; Notgesetzgebung, Art. 81 GG) Mußgnug, Der Beitrag, S. 70-76.

III. Zum Scheitern der Weimarer Verfassung

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eines Mittels, das nicht in das parlamentarische Regierungssystem paßte, ja dieses sogar störte. Nach Art. 53 W V ernannte und entließ nämlich der unmittelbar vom Volk gewählte Reichspräsident den Reichskanzler, und zwar verfassungsrechtlich unabhängig vom Willen des Reichstages. Zwar war die Reichsregierung zu ihrer Amtsführung nach Art. 54 W V auf das Vertrauen des Reichstages angewiesen. Aber die Bestimmung ließ offen, wie sich dieses Vertrauen auszudrücken hatte. Nahezu einhellig nahm man daher an, daß das Vertrauen des Parlaments in die Amtsführung der Regierung so lange vorauszusetzen sei, bis dieses ihr ausdrücklich das Mißtrauen ausspreche.53 Unter diesen Bedingungen konnte sich der Reichstag leicht der Überzeugung hingeben, für eine stabile Regierung des Reiches nicht verantwortlich zu sein. Die disziplinierende Wirkung eines eindeutigen verfassungsrechtlichen Auftrags entfiel. So kam die Weimarer Verfassung dem "Hader" der Parteien ein gutes Stück entgegen.

c) Das Gesinnungs-Argument Diese Nachlässigkeit erklärt sich allerdings auch aus dem prägenden (plebiszitär-demokratischen) Grundzug der Reichsverfassung, die Lösung der Probleme des Gemeinwesens letztlich von der politischen Weisheit und Tugend der Gemeinschaft der Bürger zu erwarten. Aber diese vorausgesetzte Gemeinschaft gab es nicht, die Verfahren zur Gewinnung politischer Entscheidungen waren schwer durchschaubar, ja widersprüchlich und daher wenig vertrauenerweckend organisiert und die Vereinnahmung des Volkes für die (Mit-)Regierung des Reiches mußte die Bürger überfordern. Überfordernd wirkte zunächst die den Bürgern bei Konflikten zwischen den obersten Reichsorganen verfassungsrechtlich zugedachte Rolle des jederzeit zu bemühenden, zur Letztentscheidung berufenen Schiedsrichters. In diese Rolle drängten die Bürger vier der fünf vorgesehenen Möglichkeiten eines Volksentscheids. Ein Volksentscheid konnte gegenüber jedem vom Reichstag beschlossenen Gesetz vom Reichspräsidenten angeordnet werden (Art. 73 Abs. 1 WV); er konnte auf Anordnung des Reichspräsidenten bei Einspruch des Reichsrates gegen einen Gesetzesbeschluß des Reichstages herbeigeführt werden (Art. 74 Abs. 3 WV); der Einspruch erhebende Reichsrat konnte ihn bei einer vom 53 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Nachdruck 1965, Art. 54 Anm. 3.

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Reichstag beschlossenen Verfassungsänderung begehren (Art. 76 Abs. 2 WV) und ein Zwanzigstel der stimmberechtigten Wähler konnte ihn gegenüber einem vom Reichstag beschlossenen Gesetz verlangen, dessen Verkündung nach Art. 72 WV auf Antrag eines Drittels des Reichstages ausgesetzt war (Art. 73 Abs. 2 WV). Im ersten Fall war das Volk aufgerufen, einen Konflikt zwischen Reichstag und Reichspräsident zu entscheiden, im zweiten und dritten Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichstag und Reichsrat und im letzten Fall einen Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit im Reichstag.54 Verfassungskonstruktiv bedeutet diese Schiedsrichterrolle des Volkes zweierlei. Zum einen, daß die Weimarer Verfassung eine die Bürger entlastende Delegation politischer Entscheidungen an die politischen Akteure im Grunde nicht vorsieht. Der Abstand zwischen den Bürgern und dem Staatsapparat, den ihre liberalen Grundrechte andeuten, besteht nicht. Nicht die Politik entscheidet und das Volk wehrt sich, 55 sondern das Volk entscheidet selbst - und wie soll es sich gegen seine eigenen Entscheidungen noch wehren? Zum anderen offenbart gerade die Schiedsrichterrolle des Volkes, daß die Weimarer Verfassung ihrer eigenen demokratischen Organisation politischer Entscheidungen mißtraut. Obwohl 56 der Reichstag dank des Verhältniswahlrechts (Art. 22 WV) den Willen der Bürger bereits so genau wie möglich widerspiegelt und der Reichspräsident unmittelbar vom Volk gewählt ist (Art. 41 WV), soll es auch noch konkreter Willensäußerungen des Volkes in Einzelfragen bedürfen. Die Ergänzung der repräsentativ-demokratischen und der präsidial-demokratischen um die plebiszitär-demokratische Verfassung 57 beschwört

54

Näher Carl Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 8 f.

55

Gerd Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, NJW 1991, S. 2441 (2445), bringt das Prinzip des Grundgesetzes auf die Formel: "Die Politik entscheidet, das Volk wehrt sich, das Recht verbindet beide." 56

Oder sollte man sagen: weil, denn nur so konnten die zu erwartenden Widersprüche zum Verschwinden gebracht werden. 57

Die Mischung der drei Elemente belegt freilich auch, daß die Nationalversammlung auch von der Weisheit des Volkes nicht restlos überzeugt war. Siehe dazu Anschütz, Art. 73 Anm. 4 (S. 387) und Walter Jellinek, Das verfassungsändernde Reichsgesetz, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Zweiter Band 1932, S. 182 (185): "Nichts lag aber der von der Weisheit des Volkes keineswegs überzeugten Nationalversammlung ferner, als ihr Werk dem Volke zu unterbreiten."

III. Zum Scheitern der Weimarer Verfassung

187

indessen eben jene Geister, die die Verfassung bannen will. Die Perfektionierung erscheint als Übersicherung und verbreitet Unsicherheit, zumal widersprüchliche Entscheidungen aufgrund der drei Verfassungen nicht ausgeschlossen sind. Nimmt man das Volksgesetzgebungsverfahren als fünfte Möglichkeit eines Volksentscheids (Art. 73 Abs. 3 WV) noch hinzu, bei der freilich offen bleibt, was geschieht, wenn ein Gesetz des Volkes gegen Grundrechte des Volkes verstößt, wird vollends unklar, wessen Entscheidung welchen politischen Problems wann abschließend ist. - Die Verwirklichung radikaler Gleichheit erlaubt eben keine Unterscheidungen und deshalb keine stabile Organisation. Bleibt der naheliegende Einwand, 58 die Verunsicherung könne nicht eingetreten sein, weil das Volk in der Verfassungspraxis in keinem Falle als Schiedsinstanz angerufen worden sei, 59 und es nur in sieben, im Ergebnis erfolglosen Fällen Volksbegehren gegeben habe.60 Der Einwand verfängt aber nicht. Beides wußten die Bürger erst post festum. Die Weimarer Verfassung vermochte es demnach von ihrer Konstruktion her nicht, Volk und Politik in einer Weise verfassungsrechtlich zu distanzieren, die sowohl orientierendes Vertrauen in die Stabilität des politischen Entscheidungsapparats erlaubte als auch dessen rechtliche Kontrolle und Kritik ermöglichte. 61 Ihr Scheitern wesentlich der mangelnden demokratischen Gesinnung der Bürger anzulasten,62 schlägt deshalb auf die Verfassung zurück. Demokratische politische Kultur bedarf auch eines harten Kerns verfassungsrechtlicher Technik.63 Dieser technische Mangel wiegt um so schwerer als die Weimarer Verfassung eine - ohnehin kaum vorstellbare - selbsttragende, demokratisch gesinnte Gemeinschaft der Bürger gerade nicht voraussetzen konnte. Schließlich fühlten 58

Erhoben etwa von Friesenhahn, S. 95.

59

Siehe Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V I 1981, S. 432. 60

Meist werden nur die sieben bei Anschütz, Art. 73 Anm. 11, verzeichneten Fälle genannt. Siehe aber das Verzeichnis von Reinhard Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 244, der auch auf ihre "zersetzende Wirkung" als "Element innenpolitischer Unruhe" hinweist (S. 285,287). 61

Siehe schon oben § 7 III. 3.

62

So besonders prononciert Friesenhahn, S. 108 und Hans Schneider, S. 136 f.

63

Insofern trifft die Einschätzung Böckenfordes, Weimar, S. 949, zu: So (anfechtbar) wie die Weimarer Demokratie gekommen ist, ist sie zu früh gekommen.

188

2. Teil: §

ie

eierfassung

sich weite Kreise des Bürgertums und der Beamtenschaft der monarchischen Tradition verpflichtet, während sich auf der anderen Seite ein Teil der Arbeiterschaft lieber in einer Räterepublik sowjetischen Musters wiedergefunden hätte. Hinzu kam, daß die Reichsverfassung zwar als Kompromiß der sog. Weimarer Koalition entstanden,64 gleichwohl aber im Grunde eine sozialdemokratische und insofern parteiliche Verfassung war. 65 Identifikation der Bürger durfte sie unter diesen Umständen nicht einfach erwarten. Sie mußte vielmehr um Vertrauen werben. A u f ihre Weise hat sie das freilich auch getan. Alle politischen Richtungen konnten sich sowohl in ihrem Organisations- wie in ihrem Grundrechtsteil wiederfinden: das Amt des Reichspräsidenten trug monarchische Züge, der Reichswirtschaftsrat (Art. 165 WV) stand für eine Konzession an das Rätesystem, von ihren repräsentativ- und plebiszitär-demokratischen Strukturelementen war die Rede und der zweite Hauptteil stellte - sich freilich wechselseitig relativierende - liberale Freiheitsversprechen neben soziale Schutz-, Gleichheits- und Gerechtigkeitsverheißungen. Aber diese prätentiöse Addition politischer Hoffnungen und Wünsche bewirkte keine tatsächliche Integration der Bürger, sondern allseitige chronische Enttäuschung. Es war diese Enttäuschung, die den Boden bereitete für die Übervereinfachungen der nationalsozialistischen Ideologie: "Ein Volk, ein Reich, ein Führer", umstandsloses Entscheiden nach dem "Führerprinzip" statt in komplizierten Verfahren. 66 Und es war diese Enttäuschung, die das Grundgesetz veranlaßt hat, Integration nicht unmittelbar anzustreben, sondern - unpathetisch im Stile einer "Juristenverfassung" - 6 7 als

64

Die "Weimarer Koalition" bildeten SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei. Zum Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung Hans Schneider, Rn 7, S. 90 und S. 138 f., und Anschütz, S. 16. Die Reichsverfassung wurde beschlossen mit 262 Stimmen (der Mehrheitssozialisten, des Zentrums und der Demokraten) gegen 75 Stimmen (der Deutschnationalen, der Deutschen Volkspartei, der Unabhängigen Sozialdemokraten, des Bayerischen Bauernbundes und der Bayerischen Volkspartei). Näher Hans Schneider, S. 95 f. und Anschütz, S. 29. 65

Siehe die zeitgenössische Einschätzung von Joh. Victor Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 74 f.

Bredt, Der Geist der

66

Zum "Führerprinzip" Rolf Grawert, Die nationalsozialistische Herrschaft, in: Isensee/Kirchhof, Bd. I, S. 143 (152 f., 156 f.). 67

Im Unterschied zum Typus der "Pastorenverfassung": Josef Isensee anläßlich der 2. Öffentlichen Anhörung der G V K zum Thema "Staatsziele und Grundrechte (außer Art. 3 und 6 GG)" am 16.6.1992, siehe Stenographischer Bericht, S. 7 f., 35 f.

IV. Ergebnis

189

Folge verläßlicher und entlastender Leistungen des staatlichen Entscheidungsapparates sowie strikt durchsetzbarer Abwehrgrundrechte.

IV. Ergebnis Die Weimarer Verfassung einfach als Opfer ungünstiger äußerer Umstände und insofern als "unglückliche" Verfassung zu sehen, fallt nach alledem schwer. Sie ist nicht ohne eigenes Zutun gescheitert. Sie hat zuviel vorausgesetzt und erwartet: neben einer florierenden Wirtschaft und selbstdisziplinierten, ebenso kompromiß- wie verantwortungsbereiten Parteien vor allem hochgradig aufmerksame, engagierte und vertrauensbereite Bürger - ohne indes für solche Identifikation sehr viel Grund zu geben. Trifft es aber zu, daß eine Verfassung über die Wahrscheinlichkeit ihres Erfolges disponieren kann anhand der Art und des Maßes ihrer selbstgewählten Umweltabhängigkeit, ist das Scheitern der Weimarer Verfassung für die beiden Alternativ-Entwürfe zum Grundgesetz als gesamtdeutscher Verfassung wie für die pathetische Verfassungskritik überhaupt nicht ohne Belang. Dazu haben sich die mit dieser Kritik notwendig verknüpften Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen als denen der Weimarer Verfassung zu ähnlich erwiesen. Andererseits sind systematische Aussagen aufgrund historischer Vergleiche immer problematisch. Die historischen Bedingungen sind nie die gleichen. Die am Beispiel der Weimarer Verfassung und am Beispiel des Grundgesetzes vor der Wiedervereinigung gewonnene Anschauung erleichtert aber jedenfalls das Verständnis der inneren Logik der Verfassung pathetischen Typs einerseits und der Verfassung technischen Typs andererseits.

§ 9 Positiv- und Negatiwerfassungen I. Die Konzepte 1. Negatiwerfassungen Das Konzept der Verfassung technischen Typs hat Niklas Luhmann1 auf die Formel "Konvergenz von Negationsleistungen" gebracht. Tatsächlich prägt eine dominant negative Strategie sowohl den Grundrechts- wie den Organisationsteil solcher Verfassungen. Der Organisationsteil besteht aus Abgrenzungen, also Einschränkungen von Kompetenzen. Er bewirkt "Gewaltenteilung", verhindert "Machtkonzentration". Der Grundrechtsteil nennt diejenigen Lebensbereiche, in denen nicht politisch entschieden werden soll und enthält insofern negative Kompetenzbestimmungen. Er macht Negationen von Freiheit (= Eingriffe) ebenso begründungsbedürftig wie Negationen von Gleichheit (= Ungleichbehandlungen). - Und der Unterscheidung beider Teile entspricht die Grenzziehung zwischen der staatlichen Sphäre einerseits und der gesellschaftlichen andererseits. Der Staat ist nicht die Gesellschaft und die Gesellschaft ist nicht der Staat.

2. Positiwerfassungen Das pathetische Verfassungskonzept bricht mit jener Dominanz des Negativen. Nicht der rechtliche Ausschluß von Unerwünschtem und Distanzierung ist hier das Entscheidende, sondern das Erreichen positiver Ziele unter Vereinigung der Kräfte. Die Verfassung wird zum "Aufgabenkatalog", ja zum appellativen "Aktionsprogramm". Erhard Denninger 1 spricht deshalb von der "Finali1

Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems (2. Teil), Der Staat 12 (1973), S. 165 f. 2

Sicherheit/Vielfalt/Solidarität: Ethisierung der Verfassung?, in: Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 95 (116).

I. Die Konzepte

191

sierung" und "Ethisierung" der Verfassung. Die aktuelle Verfassungskritik intendiere die Steigerung von der modernen, der Ideentrias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichteten Verfassung zur "postmodernen" Verfassung der Ideale von Sicherheit, Vielfalt und Solidarität. 3

a) Freiheit und Glück An die Stelle der bloßen Freiheit vom Staat, der rechtlichen Sicherheit vor staatlichen Eingriffen, sollen als Bezugspunkte der Verfassung "konkrete individuelle, aber auch gruppenbezogene Bedürfnisse" treten. 4 Als sozialethische Forderungen an den Staat gerichtet, finden diese Bedürfhisse ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck in Schutz- und Förderungsaufgaben. Ihr Ziel ist die Absicherung persönlicher wie sozialer Lebensrisiken, von Krankheit bis zu Arbeitslosigkeit, und Sicherheit gegenüber den Gefahren der technisch-industriellen Entwicklung einschließlich der Umweltzerstörung. 5 Solchen positiven Staatszielbestimmungen korrespondierten Verfassungserwartungen, die den Bürger daran erinnerten, "daß die Verwirklichung dessen, was jeweils als 'Gemeinwohl1 (politisch) bestimmt wird, auf Dauer nicht ohne ihn und auch nicht gegen seinen Freiheitsgebrauch erfolgen kann und soll". 6 Das relativiere die Unterscheidung der Staat/Bürger-Beziehung von der Bürger/ Bürger-Beziehung in Richtung auf eine Drittwirkung der Grundrechte: Die Bewältigung einer prekären Situation, beispielsweise einer akuten Wohnungsnot "ruft nach dem ('solidarischen') Zusammenwirken von Vermietern, Mietern und staatlichen Instanzen".7

b) Gleichheit und Vielfalt Daneben soll die Rücksicht auf spezifische Bedürfhisse einzelner Gruppen, etwa von Frauen, Senioren oder Behinderten, den Schutz vor Diskriminierung 3

Denninger, S. 101, 104 f., 116.

4

Denninger, S. 106 (Hervorhebung im Original).

5

Denninger, S. 115.

6

Denninger, S. 106.

7

Denninger, S. 107.

192

2. Teil: § Positiv-

d Negatiwerfassung

verlangen, den Ausgleich erlittener oder zu erwartender Nachteile. Der Weg führe von der formal rechtlichen Gleichbehandlung zur tatsächlichen Gleichstellung und weiter zur Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen, die in einer "neuen Lust an der Vielfalt" kulminiere. 8

c) Legalität und Solidarität Das dieser Lust innewohnende zentrifugale Moment zu kompensieren, soll mit Hilfe des Prinzips der Solidarität gelingen. Solidarität bedeute das permanente Aufgerufensein zu "Mitmenschlichkeit" und "Gemeinsinn"9 und damit "die permanente Transzendierung der 'bloßen Legalität' hinüber in die Sphäre des Ethischen und der Moralität". 10 Daß Handeln aus solidarischer Gesinnung außerhalb der Reichweite verfassungsrechtlicher Möglichkeiten liegt, wird eingeräumt und begründet die Notwendigkeit, sich der edukatorischen und appellativen Funktionen der Verfassung bewußt zu werden.

II. Definitive Integration - Der Naumannsche Grundrechtsentwurf Dieser Versuch, die innere Logik der aktuellen Verfassungskritik zu entfalten, bestätigt einmal mehr die Affinität des Verfassungskonzepts jener Kritik zu dem der Weimarer Verfassung: Auch die Weimarer Verfassung versprach Sicherheit, insbesondere den Schutz der Gesundheit, der Arbeitsfähigkeit und der Mutterschaft sowie Schutz vor den wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und von "Wechselfallen des Lebens" (Art. 161). Auch sie bemühte sich um die sozialen Voraussetzungen der - gleichen - Freiheit. Und auch sie wußte, daß die verfassungsunmittelbare Integration der Bürger zu einer guten und gerechten Gemeinschaft ohne deren moralische Inpflichtnahme nicht gelingen kann. Deshalb auferlegte sie jedem Deutschen unbeschadet seiner persönlichen Freiheit "die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert" (Art. 163 Abs. 1 WV).

8

Denninger, S. 110.

9

Siehe schon oben § 3 VIII. 1. d.

10

Denninger, S. 114.

II. Definitive Integration - Der Naumannsche Grundrechtsentwurf

193

Insbesondere ihr Verständnis von Integration weist bereits die Weimarer Verfassung als konzeptionell "postmoderne" Verfassung aus (und umgekehrt die aktuellen "postmodernen" Verfassungsentwürfe als Verfassungen des Typs der Weimarer Verfassung). Das verdeutlicht ein Blick in die Entstehungsgeschichte ihres Grundrechtsteils, genauer, auf den von Friedrich Naumann vorgelegten "Versuch volksverständlicher Grundrechte". 11 Der Entwurf verfolgt die Absicht, den undemokratischen "Obrigkeitsstaat" des Kaiserreichs zu überwinden, aber weder zugunsten eines bolschewistisch-sozialistischen Staates, noch zugunsten des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates, sondern zugunsten eines sozialen "Volksstaates".12 Zu diesem Zweck formuliert er ein Staatsgrundbekenntnis, das die Bürger in ihren Bedürfhissen ansprechen, ihnen so die Identifikation ermöglichen und sie auf diesen Staat verpflichten sollte. 13 Zwar stieß der Naumannsche Volkskatechismus - nicht zuletzt wegen seiner Formulierungen - auf weitgehende Ablehnung. 14 Gleichwohl hinterließ er in der Weimarer Reichsverfassung der Sache nach deutliche Spuren. 15 Sein Recht auf Arbeit (Art. 33 des Naumann-Entwurfs) gab die Initialzündung für die sozialstaatliche Orientierung der Weimarer Verfassung. 16 Der Reichswirtschaftsrat (Art. 165 WV) erinnert an Naumanns "Gewerbeparlament" 11

Abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, 3. Aufl. 1992, Nr. 89 S. 90 ff. Dort auch eine Kurzbiographie. 12

Huber, Dokumente, S. 91; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 162.

13

Ernst Rudolf Huber, Friedrich Naumanns Weimarer Grundrechts-Entwurf, in: Okko Behrends u.a. (Hrsg.), Festschrift für Franz Wieacker zum 70. Geburtstag, 1978, S. 384 (387). 14

Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Nachdruck 1965, S. 509 mit weiteren Nachweisen. Der Sache nach positiv urteilend Carl Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Zweiter Bd. 1932, S. 572 (581, FN 29) und ders., Legalität und Legitimität (1932), 2. Aufl. 1968, S. 98. 15

Mit der Umarbeitung des Naumann-Entwurfs wurde der Abgeordnete Konrad Beyerle befaßt. Dazu Anschütz, S. 509 f.; Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Erster Bd. 1929, S. 1 (12); Konrad Beyerle, Zehn Jahre Reichsverfassung, 1929, S. 21, 23, 35. 16

Huber, Der Naumann-Entwurf, S. 388.

13 Huba

194

2. Teil: § Positiv-

d Negatiwerfassung

(Art. 35 des Entwurfs). Sein Konzept der Aufklärung über die direkte Pflichtgebundenheit aller Rechte mündete nicht nur, 17 aber auch in die zitierte Generalklausel des Art. 163 Abs. 1 der Weimarer Verfassung, die eine umfassende sittliche Bürgerpflicht statuiert. Und Naumanns Konzept der staatsbürgerlichen Verantwortung einerseits und der volkspädagogischen Funktion der Verfassung andererseits findet sich letztlich in Art. 148 der Weimarer Verfassung wieder. In den Erziehungszielen des ersten Absatzes: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben", wie in Art. 148 Abs. 3 Satz 2: "Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung". Damit hat sich die Weimarer Reichsverfassung jenes Verständnis von Einheitsbildung zueigen gemacht, das die Integration der Bürger nicht als Folge verläßlicher rechtstechnischer Vollziehbarkeit verfassungsrechtlicher Normen erwartet, sondern unmittelbar von entsprechender Verfassungsbewußtseinsbildung. 18 Diesem Integrationsverständnis hat Rudolf Smend wenige Jahre später die verfassungstheoretische Grundlegung nachgeliefert. Zwar hielt er Naumanns Grundrechtsentwurf für ein "unglückliches, halb liturgisches Alterswerk", das mit Recht abgelehnt worden sei. Dessen Grundgedanke erschien ihm aber als eine "im Vergleich mit der wesentlich technischen Verfassungstheorie von M. Weber und H. Preuß (...) ungleich tiefere Einsicht". 19 Entsprechend fallt seine eigene Einschätzung des Sachgehalts der Grundrechte aus. Ihre rechtstechnische Funktion ist zweitrangig, erstrangig ihr "Doppelsinn des Kultursystems und der Volksintegration". 20 Ganz abgesehen von aller positiven Rechtsgeltung proklamierten die Grundrechte "ein bestimmtes Kultur-, ein Wertsystem, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein

17

Im einzelnen Thoma, Die juristische Bedeutung, S. 28 f.

18

Es ist dieser Hintergrund, vor dem Isensee (§ 8 FN 67) Juristen- und Pastorenverfassungen unterscheidet. Zur unterschiedlichen, aber deutlichen Neigung der Verfassungen der neuen Bundesländer zum Typus der "Pastorenverfassung" siehe Peter Christian Fischer, Staatszielbestimmungen in den Verfassungen und Verfassungsentwürfen der neuen Bundesländer, 1994, S. 192 ff. und Christian Starck, Die Verfassungen der neuen deutschen Länder, 1994, S. 52 ff. 19

Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl 1994, S. 119 (267, FN 18 - unter 3. Teil 4.). 20

Smend, Verfassung, S. 264.

II. Definitive Integration - Der Naumannsche Grundrechtsentwurf

195

soll". Staatstheoretisch bedeute das sachliche Integrationsabsicht, rechtstheoretisch Legitimierung der positiven Staats- und Rechtsordnung. 21 Daß Integration aus dieser Sicht wesentlich Bewußtseinsbildung meint und diese Bewußtseinsbildung Aufgabe der Verfassung selbst ist, darin jedenfalls stimmen das Naumannsche Grundrechtskonzept, das Konzept der Weimarer Verfassung und das Verfassungskonzept der pathetischen Kritik überein. Damit sollen das Ziel der Verfassungsentwürfe der Arbeitsgruppe des Runden Tisches und des Kuratoriums: die Herstellung einer Zivilgesellschaft, 22 und der Naumannsche "Volksstaat" nicht gleichgesetzt werden. Für Naumann war die Verfassung bei aller internationalen Öffnung ein nationales Integrationsprogramm. 23 Das bürgergesellschaftliche Verfassungskonzept prägt demgegenüber ein nationale Identität gerade transzendierender, menschenrechtlicher, universalistischer Grundzug. 24 Ebenso unübersehbar ist indessen die Übereinstimmung. In beiden Fällen macht die angestrebte Vergemeinschaftung vor dem (Selbst-)Bewußtsein der Bürger nicht halt und ist insofern - bei aller guten Absicht - totalitär. Das Bürger-Staat-Verhältnis erschöpft sich nicht länger in einer Rechtsbeziehung, erhält vielmehr eine moralische Dimension.25 Ob angesichts solcher Vereinnahmung der Bürger durch eine positive - und daher: definitive - Verfassung noch Raum bleibt für Kritik, auch für Verfassungskritik, erscheint zumindest zweifelhaft.

21

Smend, Verfassung, S. 265.

22

Oben § 8 II. 1./2.

23

So lauten Art. 39 Abs. 4 und 5 seines Entwurfs: "Das deutsche Volk ist und bleibt eine Einheit. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!"

24

Ulrich K. Preuß, Brauchen wir eine neue Verfassung?, in: Bernd Guggenberger/ Ulrich K. Preuß/Wolfgang Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991, S. 14 f.; Denninger, S. 111, 113, 121 f. 25 Siehe nur Rudolf Smends Plädoyer gegen die Grundrechte als ein System "unpolitischer Abwehr und Distanzierung" und für den Gedanken des "dem Staat sittlich verpflichteten Bürgers": Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 309 ff. (Zitate S. 314 und 321).

196

2. Teil: § Positiv-

d Negatiwerfassung

I I I . Ein zusammenfassender Vergleich Erkennt man technische als konzeptionell negative und pathetische als konzeptionell positive Verfassungen, wird ein politisch-ideologisch (weitgehend) neutraler Vergleich beider Verfassungstypen möglich.

1. Unterschiedliche sachliche Anknüpfungspunkte Ihrem Ziel entsprechend, eine gute und gerechte Gemeinschaft zu entwerfen, knüpfen Positiwerfassungen sachlich an die Bedürfhisse der Bürger an. Nicht nur die Mittel zur Befriedigung aktuell vorhandener Bedürfhisse sind aber prinzipiell knapp, die Bedürfiiisse des Menschen sind auch prinzipiell unbegrenzt. Deshalb beschränken sich Negatiwerfassungen auf die rechtliche Negation dessen, was als politisches Unrecht erfahren wurde, organisieren in entsprechender Weise das politische System und überlassen es der Politik, sich der positiven Verwirklichung des Gemeinwohls zu verschreiben. Bedingt durch die Unterschiedlichkeit der Anknüpfungspunkte - hier der Mensch, dort die grundsätzlichen Erwartungen der Gesellschaft, die Gesellschaftsstruktur - charakterisiert die beiden Verfassungstypen ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit und daher auch zum Recht.

2. Unterschiedliches

Verhältnis zur Zeit und zum Recht

Die Orientierung an Unrechtserfahrungen bedeutet eine Orientierung an der Vergangenheit. Negatiwerfassungen schließen aus, was man aus Erfahrung künftig nicht mehr will. Angesichts einer unerkennbaren Zukunft ist das eine rationale Strategie. Sie entlastet von Komplexplanungen und sichert die Vereinbarkeit der Verfassung mit mehr möglichen künftigen Gegenwarten. 26 Die Verfassung als änderbares, positives Recht verarbeitet die Zukunft gleichsam Schritt für Schritt, evolutionär. Solche Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft ist Positiwerfassungen fremd. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und des sozialen Glücks aller ist

26

Luhmann, Politische Verfassungen, S. 166 ff.

III. Ein zusammenfassender Vergleich

197

ein Zukunftsprojekt. Deshalb muß die (gegenwärtige) Zukunft antizipiert und geplant werden. Der Planung einer besseren Zukunft verschrieb sich denn auch nicht nur die Weimarer Reichsverfassung. 27 Daß das Grundgesetz keine hinreichenden Antworten auf die (voraussichtlichen) Fragen des kommenden Jahrtausends bereit halte - vor allem auf die ökologische Frage nach der "Zukunft des Lebens auf dieser Erde" 28 und auf die Fragen des Persönlichkeits-, Lebens- und Gesundheitsschutzes gegenüber den Gefahren neuer Kern-, Gen- und Informationstechnologien - war ein Hauptargument der pathetischen Kritik gegen seine Tauglichkeit als gesamtdeutsche Verfassung. A u f den ersten Blick mag die Frage nach der Zukunft für eine technische, also vergangenheitsorientierte Verfassung vernichtend erscheinen. Sie ist aber zweischneidig. Wie eine technische Verfassung aus pathetischer Sicht zuviel (möglicherweise) unerwünschte Zukunft zuläßt, so läßt eine pathetische Verfassung aus technischer Sicht zuwenig (möglicherweise) erwünschte Zukunft zu. Die Zukunft ist eben unbestimmt. Die Unsicherheit der offenen Zukunft zu reduzieren, gehen die beiden Verfassungstypen also unterschiedliche Wege: Negatiwerfassungen, grob gesprochen, den Weg des Rechtes, das heißt der Sicherung bestehender Erwartungen als auch künftig erwartbar, 29 Positiwerfassungen daneben den Weg der Planung, das heißt der Risikoverminderung durch (materiale Staats-)Zielvorgaben. Die Zweckorientierung ("Finalisierung") des Verfassungsrechtes läuft seiner Stabilisierungsfunktion aber zuwider. Stabilisierend wirken kann das Verfassungsrecht nur dann, wenn es die Entscheidung zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit ausschließlich von solchen Tatsachen abhängig machen kann, die im Zeitpunkt der Entscheidung bereits feststehen. 30 Demgegenüber verlagert seine Zweckorientierung die Entscheidung über Verfassungsmäßigkeit/Verfassungswidrigkeit in die Zukunft. Ob eine politische Entschei27

Etwa in ihrem oben (§ 8 I.) zitierten Art. 151 Abs. 1. Siehe aber auch Artt. 155, 156 und 162 WV. 28

So die Denkschrift zum Kuratoriumsentwurf: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 39 f. Deshalb sieht dieser Entwurf beispielsweise die Einführung eines "Ökologischen Rates" als dritte Kammer bei der Gesetzgebung und zur Mitwirkung bei der Verwaltung vor (Art. 53 b). 29

Zur Vergangenheitsorientierung des Rechtes ausführlich Petra Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft, 1993, S. 57-70. 30

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 198, 195.

198

2. Teil: § Positiv-

d Negatiwerfassung

dung verfassungsgemäß oder verfassungswidrig gewesen sein wird, richtet sich nach ihrem künftigen Erfolg, nach dem künftigen Erweis ihrer Zweckmäßigkeit. Daraus folgt zweierlei. Zum einen, daß das Urteil verfassungsgemäß/verfassungswidrig abhängig wird von empirischen Untersuchungen und deren politischer Bewertung. Das bedeutet eine (Re-)Politisierung des Verfassungsrechts. Zum anderen, daß die Verfassung jedem sich als zielverfolgend darstellenden politischen Handeln bis zum Beweis des Gegenteils Verfassungsmäßigkeit attestieren muß.31 Das bedeutet ihre Entwertung als Maßstab politischen Handelns. Beide Folgen gefährden zugunsten von Identitätsbestimmung und Integrationsstiftung die Funktion des Verfassungsrechts, Politik zu begrenzen und zu stabilisieren: zu organisieren.

3. Teilnehmer und Beobachter An der Ungewißheit der Zukunft ändert freilich auch Planung nichts. Die positive Verfassung ist nicht die Verfassung der Zukunft. Objektiv bleibt die Zukunft dunkel. Subjektiv indessen sind Positiwerfassungen darauf angelegt, die Unsicherheit der Zukunft zu bannen. Das ist der Sinn der Rede von der Verfassung als Selbstverständigung, als Selbstvergewisserung der Bürger. Zwar ist diese Selbstvergewisserung eine Selbsttäuschung über die Kontingenz der Zukunft. Auch als solche bewirkt sie aber Verhaltenssicherheit. Denn die Täuschung fliegt so schnell nicht auf. Da alle an der Planung der gesellschaftlichen Entwicklung beteiligt waren, gibt es prinzipiell keinen Beobachter, der die Differenzen zwischen der zugrunde gelegten gegenwärtigen Zukunft und den zukünftigen Gegenwarten unschwer geltend machen könnte. Die Beteiligung aller löst zugleich das zweite Problem der Positiwerfassung: das Problem der Unbegrenztheit der menschlichen Bedürfnisse. Sie sorgt dafür, daß bei der Bestimmung der Bedürfnisse, an die die Verfassung gerade anknüpft, kein Beobachter beiseite steht, der die objektive Zufälligkeit der Auswahl anmahnen könnte.

31

Gleichsinnig Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 (208).

III. Ein zusammenfassender Vergleich

199

Die Notwendigkeit, die Kontingenz der Zukunft und die Kontingenz der Bedürfiiisse unsichtbar zu machen, erklärt den hohen konzeptionellen Stellenwert, den Positiwerfassungen der unmittelbaren Beteiligung der Bürger zusprechen, vor allem, aber nicht nur der unmittelbaren Beteiligung der Bürger am Akt der Verfassungsgebung. Positiwerfassungen können keine Beobachter dulden. Alle müssen mitspielen. Deshalb rufen sie die Bürger von der Galerie auf die politische Bühne.

§ 10 Positiv- oder Negatiwerfassung? I. Für eine (gesamtdeutsche) Positiwerfassung Anläßlich der Wiedervereinigung wurde dieses Stück indessen nicht gegeben. Das Grundgesetz behielt den gesamtdeutschen Spielplan und die Besetzung der Rollen in der Hand. Es funktionierte einfach weiter. Dabei hatte sich - das ist der pathetischen Verfassungskritik zuzugeben - 1 die Neuschöpfung einer gesamtdeutschen Positiwerfassung durchaus angeboten. Für sie sprachen verfassungstheoretisch vor allem zwei Gründe.

1. Revolution Einmal die Revolution in der DDR, weil Revolutionen seit zweihundert Jahren ihren bleibenden Ausdruck in neuen Verfassungen suchen. Daß es sich bei den Ereignissen Ende 1989/Anfang 1990 in der DDR um eine Revolution gehandelt hat, ist aus verfassungstheoretischer Sicht kaum zu bezweifeln. 2 Der Übergang vom parteigeführten Ideologie- zum demokratischen Rechtsstaat3 tauschte die Legitimationsprinzipien des politischen Systems effektiv aus.4 1

Oben § 1 III.

2

Ebenso Helmut Quaritsch, Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, Verwaltungsarchiv 83 (1992), S. 314 (325). 3

A m 1.12.1989 strich die Volkskammer mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit den Führungsanspruch "der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" aus Art. 1 Abs. 1 der DDR-Verfassung 1968/1974 (DDR-Gesetzblatt I, S. 265). Der Übergang war formell beendet mit dem 8. Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR (Verfassungsgrundsätze) vom 17.6.1990 (DDR-Gesetzblatt I, S. 299), dessen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 lautete: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat." 4

Näher zu diesem Revolutionsbegriff Gerd Roellecke, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, DÖV 1978, S. 457 (458 f.), und aus historischer Perspektive Werner W. Emst, Legitimationswandel und Revolution, 1986, insbes. S. 169 ff.

I. Für eine (gesamtdeutsche) Positiwerfassung

201

Medium der politischen Kommunikation war nicht mehr die sozialistische Moral, 5 sondern positives Recht. Andererseits sah dieser Umbruch politisch-praktisch betrachtet nicht aus wie eine Revolution: 6 kaum ein Fall revolutionärer Gewaltanwendung,7 die Protagonisten des alten Systems wurden nicht aus ihren Ämtern gejagt, sie traten zurück. Statt dessen: Friedensgebete und Kerzen. - Aber gerade jene Nüchternheit macht den Wunsch nach einer die Revolution erinnerungsfahig verkündenden Verfassung verständlich, den Wunsch nach einer neu zu gebenden Verfassung, in der diejenigen, die nun neu anfangen wollten, ihre neuen Ziele festlegen und "Wir" zu sich sagen konnten.

2. Einheit Diesen Wunsch auch nur annähernd zu erfüllen, war die rechtstechnische Geltungserstreckung des Grundgesetzes und dessen seelenloses Weiterfunktionieren gewiß nicht geeignet. Zumal dieses Grundgesetz verfassungsunmittelbare Integration gar nicht als seine Aufgabe ansieht. Wer also annahm, daß die Revolution auch diese Aufgabe gestellt hatte: die beiden deutschen (Teil-) Gesellschaften zu einer solidarischen Gemeinschaft zu integrieren, der mußte eine neue Verfassung eben nicht nur der staatlichen, sondern auch der inneren, der wirtschaftlichen, der sozialen und der mentalen Einheit fordern.

5

Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft, Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 292 ff., weist daraufhin, daß die Partei- und Staatsführung ausdrücklich von der "politisch-moralischen Einheit von Partei, Staat und Volk" sprach (S. 292) und mit Hilfe der sozialistischen Ideologie die gesamte Wirklichkeit über den dualen Code sozialistisch (gut)/antisozialistisch (schlecht) interpretiert wurde (S. 296). 6

Zum "Legalismus" und zur "Friedlichkeit" der Revolution in der DDR Quaritsch, S. 316 ff., 322 ff.; Uwe Thaysen, Der Runde Tisch, 1990, S. 188, hält es denn auch - aus dieser Perspektive - für unzutreffend, von einer Revolution zu sprechen. 7

Quaritsch, S. 317, nennt das Eindringen der Demonstranten in das Ministerium für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße am 15.1.1990, bei dem es allerdings auch bei gemeinschaftlichem Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung geblieben sei.

202

2. Teil: § 10 Positiv- oder Negatiwerfassung?

II. Für eine (gesamtdeutsche) Negatiwerfassung Gegen die Neuschöpfung einer gesamtdeutschen Positiwerfassung sprachen indessen aus verfassungstheoretischer Sicht ebenfalls mindestens zwei Gründe.

1. Verfassung trotz Revolution Zum einen, daß zwar eine Revolution stattgefunden hatte, aber eben nur in der DDR, nicht auch in der Bundesrepublik. Deshalb verfügte man in Deutschland anders als in allen anderen im Umbruch befindlichen europäischen Gesellschaften trotz der Revolution über eine funktionierende Verfassung, die den Zielen der Revolution gerecht wurde.

2. Einheit und funktionale Differenzierung Der andere Gegengrund war und ist die begrenzte Leistungsfähigkeit der Verfassung. Die Aufgabe, die beiden deutschen (Teil-)Gesellschaften zu mehr als einer staatlichen Einheit zu integrieren, überfordert das Verfassungsrecht. Die moderne, das heißt die funktional differenzierte Gesellschaft zerfallt in unterschiedliche Lebensbereiche mit je universalem Anspruch. Das Recht erstrebt allein Gerechtigkeit, die Politik Gemeinwohl, die Wissenschaft Wahrheit, die Religion ewige Seligkeit, die Wirtschaft Wohlstand, die Familie Liebe - um nur einige zu nennen.8 Negatiwerfassungen setzen diese reale Grundordnung der Gesellschaft voraus und stützen sie lediglich normativ ab. Damit verzichten sie darauf, die aufscheinenden Konflikte zwischen den gesellschaftlich allesamt notwendigen, konkurrierenden Funktionen von Verfassungs wegen ein für allemal entscheiden, die den Funktionen korrespondierenden (Ziel-)Werte also in eine allgemein gültige Rangordnung bringen zu wollen. Genau darauf nicht zu verzichten, ist der Anspruch einer Positiwerfassung und der Sinn ihrer Grundbegriffe "Einheit" und "Integration". Positiwerfassungen wollen die Entscheidung über den (jeweiligen) Wichtigkeitsgrad einer Funktion und den Rang ihres

8 Grundlegend Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1 1980, S. 9 (27 ff.).

II. Für eine (gesamtdeutsche) Negatiwerfassung

203

(Ziel-)Wertes eben nicht der konkreten Situation überlassen. Nicht fallweise und funktional gerechtfertigt soll entschieden werden, sondern generell, durch sie selbst, verfassungsrechtlich gerechtfertigt: Die Bürger sollen im voraus wissen, in welcher Gesellschaft sie leben (werden). Eine solche instruktive Einheit verfassungsrechtlich herzustellen, scheitert indessen an zwei Umständen. Einmal daran, daß sich Gemeinwohl, Wahrheit, ewige Seligkeit, Wohlstand und Liebe jeder rechtlichen, auch der verfassungsrechtlichen Regelung entziehen.9 Vor allem aber daran, daß das Recht, einschließlich des Verfassungsrechts in dieser Konkurrenz der Werte selbst Partei und deshalb zum Richter nicht geeignet ist. 10 Selbst ausschließlich auf Gerechtigkeit fixiert, weist es alle anderen, ebenfalls auf allgemeine Geltung gerichteten Ansprüche - gleichsam autistisch - einfach zurück. Einen Anspruch gibt es allerdings, der sich durch keinen anderen zurückweisen läßt. Das ist der Anspruch der Moral. Weil es, in welchem Lebensbereich auch gehandelt wird, immer Personen sind, die handeln, ist der Anspruch der Moral immer und überall unmittelbar gegenwärtig. Aus diesem Grund geschieht es weder zufällig noch absichtlich, vielmehr zwangsläufig, daß Positivverfassungen das Verfassungsrecht moralisieren. Die Moral soll helfen, wo das Recht versagt. Und die Vielheit der gesellschaftlichen Funktionen und Werte definitiv zu ordnen, vermag das Recht eben nicht. Daher muß, wer es unternehmen will, die Gesellschaft zu steuern, versuchen, die Personen zu steuern. Das Ergebnis sind moralische Appelle und volkserzieherische Bemühungen der Verfassung. 11

9

Näher Gerd Roellecke, Des Souveräns neue Kleider, in: Bernd Guggenberger/Andreas Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994, S. 75 (76 f.). Zum Verhältnis von Recht und Liebe als Beispielsfall Hermann Huba, Recht und Liebe, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 1989, S. 127 ff. 10

Das Verhältnis konkurrierender Universalitätsansprüche dürfte sich daher kaum durch ein "interdiskursives Kollisionsrecht" regeln lassen; so aber Gunther Teubner, Das unendliche Spiel des "renvoi": Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche, in: Hans-Martin Pawlowski/Gerd Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaats, erscheint 1996 und ders., Recht als autopoietisches System, 1989, S. 123 ff. 11

Siehe auch Roellecke, Des Souveräns neue Kleider, S. 79.

204

2. Teil: § 10 Positiv- oder Negatiwerfassung?

I I I . Evolution oder Planung? Gerinnen Positiwerfassungen wegen ihres Gesellschaftsgestaltungsanspruchs demnach notwendig zu Bürgerverfassungen, beschränken sich Negatiwerfassungen darauf, die Gesellschaftsstruktur rechtlich nachzuzeichnen: die ohnehin selbständigen Lebensbereiche anschlußfahig gegeneinander abzugrenzen und der Politik eine stabile Geschäftsordnung zu geben. Politisch betrachtet wirken Negatiwerfassungen deshalb konservativ. Man kann sie als Texte lesen, die die Gesellschaft beschreiben, wie sie ist. Positiwerfassungen hingegen wirken progressiv. Sie geben Auskunft darüber, was die Gesellschaft - noch nicht ist. In ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung kulminiert denn auch ihre Unterschiedlichkeit. Zwar schließen auch Negatiwerfassungen gesellschaftlichen Wandel nicht aus. Aber sie überlassen die Entwicklung der Gesellschaft den (unentschiedenen) Widersprüchen zwischen den gesellschaftlichen Funktionen und ihren (Ziel-)Werten. Anders Positiwerfassungen. Sie wollen die Zukunft der Gesellschaft über die Bürger, also moralisch, in die Hand bekommen: Blinde - allerdings gesellschaftlich beobachtete und kontrollierte Evolution hier, absichtsvolle - allerdings der Beobachtung entzogene - 1 2 Planung da.

IV. Die Aufgabe der Wissenschaft Welchen dieser beiden Wege in die Zukunft eine Gesellschaft nehmen soll, kann nicht wissenschaftlich, sondern nur politisch entschieden werden. Theorie ist darauf beschränkt, Verfassungskritik auf ihre Begriffe zu bringen und ihre Voraussetzungen und Folgen zu analysieren. Die Verfassungskritik anläßlich der Wiedervereinigung hat sich nach dieser Untersuchung gegen blinde Evolution und für die Planung einer guten und gerechten Gemeinschaft entschieden. Das war insofern eine politische Entscheidung, als sich das zugrunde liegende Verständnis der Verfassung als Gesellschaftsverfassung nicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der Verfassung als Teilordnung stützen kann. Aber um Wirklichkeit war es dieser Kritik 12

Oben § 9 III. 3.

IV. Die Aufgabe der Wissenschaft

205

von vornherein gar nicht zu tun. Aus pathetischer Perspektive zielt Verfassungskritik nicht auf ein besseres Funktionieren von Politik, sondern auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Existenz. Auch historische Vergleiche dürften eine pathetische Verfassungskritik deshalb kaum irritieren. Auch nicht der Hinweis darauf, daß in diesem Jahrhundert bereits zwei Versuche, die Gesellschaftsstruktur in Richtung Entdifferenzierung und Repolitisierung der Gesellschaft ideologisch, genauer: moralisch, zu übergehen - so der Sozialismus - 1 3 bzw. zu hintergehen - so der Nationalsozialismus kostenreich gescheitert sind. Denn als Gesellschaftsverbesserungsprojekt orientiert sich solche Verfassungskritik weder an der Wirklichkeit noch an historischen Erfahrungen, vielmehr an unwidersprechlichen Werten. Andererseits enthielt und enthält die Gegenposition auch eine politische Entscheidung. Zwar nicht aufgrund ihres Verständnisses der Verfassung. Aber aufgrund der implizierten Option gegen verfassungsrechtliche Gesellschaflsverbesserung. Die verfassungstheoretische Diskussion war und ist also politisch leicht entzündlich. Sie dürfte sich deshalb der Sache nach alsbald wiederholen. Die Anhänger des pathetischen Konzepts einer Gesellschaftsverfassung werden wieder argumentieren, die Verfassung verstanden als Teilordnung lasse ungerechtfertigte Herrschaft zu. 14 Die Verteidiger der Verfassung als technische Teilordnung der Politik werden wieder entgegnen, die Verfassung verstanden als Gesellschaftsverfassung schließe ungerechtfertigte Herrschaft ein. - Spätestens wenn es um die Verfassung der Europäischen Union geht.

13 14

Informativ Pollack, S. 294 f.

Das ist der Grundtenor der Befürchtungen Dieter Grimms, siehe seinen Beitrag Die Zukunft der Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991 (2. Aufl. 1994), S. 397 ff.

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- partizipative 92,172

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- plebiszitäre 185 ff.

"Anschluß" der DDR 22,29

- repräsentative 84, 91,154 f. - unmittelbare 84 f., 98,174

Bedürfoisse 191,196,198 f.

dilatorischer Formelkompromiß 52, 72

Begründungs- und Beweislast 85 f.

"Draufsatteltheorie" 33, 54 FN 29

Behinderte 98,176,179,191 Beitritt

Einheit 201 f.

- DDR 29 f., 32 ff., 129

- innere 87, 89, 91, 95, 99, 128,161, 201

- Saarland 44

- instruktive 203

Beobachtung/Teilnahme 198 f., 204

- staatliche 21 f., 27, 34,127, 201

Bundeskanzler 184

- Verfassungs- 21 f., 27,127

Bundespräsident 172,184

Einigungsvertrag 19 FN 6,48 ff., 129

Bundesregierung 184

Enquete-Kommission Verfassungsreform

Bundestag 184 Bundesverfassungsgericht 163, 168 Bündnis 90 S. 32

(1973) 38, 76 Erwartungen der Bevölkerung 102 f., 122 f., 126 f., 133, 196

Bürgerbewegungen 174

Europa 78, 80, 96,205

Bürger-Bürger-Verhältnis 177,191

Evolution 17, 204

Bürgerkrieg 63

Existenz, gesellschaftliche 103,128,205

Bürgerstaat 175,177,180 Bürger-Staat-Verhältnis 175, 177, 191, 195 Bürgerverfassung 137,204

Finanzverfassung 87 FN 43,150 Föderalismus 150 Freiheit 191 Friedensbewegung 157

DDR, Errungenschaften der 173

Funktion(en)

Demokratie

- konkurrierende gesellschaftliche 202 ff.

- als moralischer Anspruch 168

- der Politik 69, 71

- als Organisationsform 168

- des Rechts 62

- Basis-174 f., 179 f.

- der Verfassung 137 f.

- direkte 88,130

funktionale Differenzierung 70

- "Mehr - wagen" 157

226

arverzeichnis

Gegenwart 196,198

Große Koalition 142,157,165

Geltung (der Verfassung), tatsächliche

Grundgesetz

112 f., 117, 122, 127 (s. auch "Verfas-

- Ablösung 34, 38, 54, 58, 99, 129

sung, Geltung")

- Abweichungen von W V 170 f.

Gemeinsame Verfassungskommission 75 ff., 135

- Akzeptanz 28,40,42,111 f., 115,125 - Änderungen 139 ff., 143,158 ff.

- Bericht 76

- "beitrittsbedingte" Änderungen 49

Gemeinschaft 178

- Bewährung 42,102,111,125

- gute und gerechte 192,196, 204

- Eigensinn 142,156,164 ff.

- solidarische 201

- Eignung 28,42

Gemeinwesen 103,108,165 f.

- Entstehung 42, 111

Gerechtigkeit 196

- Erfolg 112

- soziale 179 f.

- "Geburtsfehler" 34 f., 39 f., 50 f., 116,

Gesellschaft 190

124

- Bürger-: s. "Zivilgesellschaft"

- Geltung 42

- bürgerliche 178

- gesellschaftliche Funktion 139, 151,

- E i n h e i t 103,127,131,166 - Entdifferenzierung und Repolitisierung 205 - Entwicklung 204 - funktionale Differenzierung 70, 104,

128, 166, 202

163 - Leistungsfähigkeit 125 - (geforderte) Verbesserungen 35 ff. (s. auch "Verfassungskritik") - Vorläufigkeit 24,42, 50 - Wirkung 111 f.

- gute und gerechte 107,110,125

- Zukunftseignung 34 f., 38

- politisches System der 104

Grundlagenvertrag (mit DDR) 157, 158

- Struktur 123, 127 f., 133, 196,204 f.

FN 2

- Zukunft der 135,204

Grundpflichten 177

Gesellschaftsverfassung 125, 204 f.

Grundrecht(e) 70, 144, 147 f., 161 f.,

- sozialreformerische 181 Gesellschaftsvertrag 90,110 Gewaltenteilung 70,156, 190 Gewissensfreiheit 175 Gleichberechtigung 83, 98

169,187, 190, 194 - als objektive Wert(rang)ordnung 162,

166 - als subjektive Abwehrrechte 162, 166, 189

Gleichheit 191

- als Volkskatechismus 193

- radikale 187

- auf informationelle Selbstbestimmung

- soziale 172,177

163

Glück 191

- Bedeutung 166

- soziales - aller 196

- Drittwirkung 191

Goldene Regel 176

- Konzept des GG 171

Sachwortverzeichnis - Konzept der W V 171

Moral 203 ff.

- liberale 177

- sozialistische 201

227

- Sachgehalt 194 - soziale 37, 84,175,177 Gründungssituation/Normallage 41, 47, 63, 85 f., 97, 100, 108, 120, 127, 129, 131 ff., 169

Nationalsozialismus 171,205 - Folgen 169 - Ideologie 188 "Neue Ostpolitik" 157 ff. Neukonstituierung, Neukonstitution 23,

Identität(sbestimmung) 20, 22, 55, 70 f., 83, 90, 98, 100, 102, 109 f., 127, 130 f., 166,198 Integration(sstiftung) 25, 55, 71, 83, 90, 98, 100, 102, 110, 123, 127, 130 f.,

26 f., 30,43,58,61,90,130, 164 Normallage/Gründungssituation 41, 85, 100, 127 Normierungsstil 151,162 Notstandsregelung 142,147 f., 160 f.

166, 168 f., 188,192 ff., 198,201 f. Ordnung 63 Kommission Verfassungsreform des Bun-

Organisationsstatut 137,166

desrates (1991)76 Konsens 65, 101 f., 113, 115,123,127

Paradoxie 114,121

Kontinuität/Diskontinuität 62, 120

- der Politik 106

- konstitutionelle 63, 86

- des Rechts 62

Kuratorium für einen demokratisch ver-

- des Staatskonzepts 180

faßten Bund deutscher Länder: s. "Ver-

Parlamentarischer Rat 34, 39,165,171

fassungsentwurf des"

Parteien 170, 174,182, 184, 189 Planung 17,151 f., 160, 197 f., 204

Legalität 192 Legitimation, Legitimität 24, 42, 63, 104 f., 107 f., 111 ff., 118, 120 ff., 124

- verfassungsrechtliche - der gesellschaftlichen Entwicklung 165 Pluralismus 165 Politik

- demokratische 110, 112, 126

- Aufgabe 69, 71, 196

- sachliche 110,126

- Ermöglichung 106 ff., 126

- soziale 110 f., 126

- Funktion 69 - Organisation 69 f., 100, 102

Minderheiten 84 Mißtrauensvotum des Parlaments 170, 184 Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn, Aufruf zu 94 f., 168, 178 FN 26, 192 Montagsdemonstrationen 21

- professionelle 74, 88 - Richtigkeit 110, 126 - und Recht 106 ff., 126, 166 - und Volk 168,175,186 f. Politische Kultur 187 Politisches Lebensgefiihl 45, 117, 133

arverzeichnis

228

politisches System 104, 108,125, 151

- legale 58

- Ausdifferenzierung 159

Runder Tisch der DDR 32, 136 (s. auch

- Autonomie 159 f.

"Verfassungsentwurf des")

- Funktion 159 - Legitimationsprinzipien 200 f.

Sachverständigenkommission Staatsziel-

Positives Recht 68 f., 123, 127, 201 (s.

bestimmungen/Gesetzgebungsaufträge 37,161

auch "Recht") - Selbstrechtfertigung 114, 121

Selbstverständigung (der Bürger)

26,

Präambel

43 f., 64 f., 86, 97, 102 f., 109, 113,

- GG 24,49 f., 114,117,121, 124, 161

115 ff., 120, 126, 134, 163, 168 f., (s.

- W V 171

auch "Projekt Verfassung" und "Ver-

Projekt Verfassung ("Wir" der Bürger)

fassung")

65 f., 86, 100, 102 f., 107, 115 f., 120,

- Begriff 107

124,127, 129,131 f., 134, 201 (s. auch

Selbstverständnis, politisches 44 f., 70,

"Selbstverständigung")

99 Sicherheit 192

Rätesystem 188

Solidarität 90, 98, 130,179,192

Recht 129 (s. auch "Positives Recht")

Sozialismus 177, 205

- auf Arbeit 171,193

Sozialstaat(lich) 150,193

- Funktion 62

- sprinzip 161 f.

- soziale -e 172,174

Staat 103, 108,190

- sparadoxie 62

- -Bürger-Verhältnis 177,191,195

- und Politik 106 ff., 126,166

Staatsoberhaupt, Wahl 170,172

- /Unrecht-Unterscheidung 64, 153

Staatsorganisationsrecht

-

freiheitlicher

demokratischer

97, 106, 130,

144, 160, 190

- Rechtsstaat 155 f. 102 f.,

112,122, 125 Reichskanzler 185 Reichspräsident 185 f.

Staatsverfassung 125 - liberale 181 Staatszielbestimmungen 36, 50, 71, 107, 126, 161, 166, 191,197

Reichsrat 185

- soziale 36, 84, 88, 91, 98, 130, 179

Reichsregierung 185

Stabilitätsnovelle (15. ÄndG) 151 f., 160

Reichstag 184 ff. Reichswirtschaftsrat 188, 193

Tautologie 114,121

Reintegration in die Geschichte 169

Technik, verfassungsrechtliche 187

Revolution, revolutionär 57, 62 f., 136

Teilnahme/Beobachtung 198 f.

- Begriff 200 f.

Theorie 17,139,204

- in der DDR 200 ff.

- der Verfassung 140 (s. auch "Verfas-

- Ziele 28,43

sungstheorie")

Sachwortverzeichnis

229

- der Verfassungspolitik 140

- (formale) Teilordnung 16,165,204 f.

Totalrevision 61

- Wertordnung 108, 135

Übersiedlungen 21,48

- Aufgabe 195

Verfassung Umbruch 18, 43,201

- Bezugsproblem 104,106

Umweltschutz 37, 85, 98,161

- brandenburgische 65 FN 72, 137, 176

Umweltschutzbewegung 157

FN 21

Unverfaßtheit 42,133

- der DDR 133,175 f., 200 FN 3 - neue - 32,47, 173

Verantwortung 181

- defensive 166

- staatsbürgerliche 194

- Einheit der 66 f.

Verfassung, Akzeptanz der 112, 127

- Entstehung 104 f., 109, 118 ff., 126,

Verfassung als - gesellschaftliches

128, 134 Entwicklungspro-

gramm 132

- Erfolg 112 - Ethisierung der 191

- Grundordnung 16

- existentielle Bedeutung 134

- höchstrangiges Gesetz 102,106, 108 f.,

- Finalisierung der 190 f., 197

113 f., 120 f., 125

- formelle/materielle 67

- instrument of government 167

- freiheitsorientierte 166

- Integrationsprogramm 108

Verfassung, Funktion(en) der 17, 24, 87,

- kollektives Gedächtnis 89

100 ff., 107, 125, 132, 137 f., 140 f.,

- Lebensordnung 108,135

192, 194 f.

- materiale Gesamtordnung des Gemeinwesens 165

- Integrations- 62, 168 - Konsens-182

- Ordnung 64

- Organisations-166, 168

- Rahmen 100 f., 103

- Sinngebungs-166

- Rahmenordnung 108

- Stabilisierungs-197

- Rahmenordnung der Freiheit 28,45

Verfassung

- rechtliches Regelwerk 25, 62, 64

- Geltung 109, 120 ff., 128 (s. auch

- rechtlich verallgemeinerte Geschäftsordnung fur die drei Staatsgewalten 71, 136 - Selbstbeschreibung

"Geltung") - gesellschaftliche Wirklichkeit der 136, 138, 141, 164, 204

und

Zielbestim-

- gleichheitsorientierte 167

mung einer Gesellschaft 25, 62, 117,

- Höchstrangigkeit der 16, 66 ff.

136

- Juristen-/Pastorenverfassung 188 (ein-

- Selbstverständigung

(eines

Volkes)

104,109, 113,115 f., 124, 198 (s. auch " Selbstverständigung" )

schl. FN 67), 194 FN 18 - konstitutive 167

230

arverzeichnis

- Leistungs-und Funktionsfähigkeit 139,

202

Verfassungsentwicklung 162 Verfassungsentwurf des Kuratoriums für

- liberale 167

einen demokratisch verfaßten Bund

- materiale 167

deutscher Länder 76, 89, 94, 137,

- material-inhaltlicher Teil 45 f.

178 ff., 193,195

- Multifunktionalität der 167

Verfassungsentwurf des Runden Tisches

- Negativ- 17,190,196 f., 202,204

der DDR 44,47,74, 89,94,137,172 ff,

- Normativität der 108

180, 193,195

- ökologische 74 - pathetische 197

Verfassungserwartung(en)

95,

182 f.,

189,191

- politischer Teil 45 f., 117

Verfassungserzeugung 118 f.

- Positiv- 17,190, 195 ff.,202 ff.

Verfassungsfieber 135

- "postmoderne" 191,193

verfassungsgebende Gewalt 24, 54, 58,

- Primärfunktion der 167 f. - sozialstaatliche 167 - technische 197 - und Verfassungsgesetz 65 ff. (s. auch "Verfassungsgesetz") Verfassung, Wirkung(en) der

60,74, 114, 118 ff., 127 Verfassungsgebung 25,40,46, 55, 61 f., 73, 115 f., 120, 126,163,169 Verfassungsgerichtsbarkeit 170 Verfassungsgesetz 65 ff., 104, 109 f., 116,119

- appellative 168,192

Verfassungshandhabung 169

- edukatorische 168,192

Verfassungskonzept

- identitätsbestimmende 168

- bürgergesellschaftliches 195

- integrative 168

- bürgerstaatliches 175

- juridische 168

- pathetisches 190

- volkspädagogische 194

- technisches 190

Verfassung, Zeitgemäßheit der 140

Verfassungskritik 139,195, 204 f.

Verfassungsändernde Gewalt 59

- aktuelle 191, 204

Verfassungsänderung 26, 49 f., 57, 60,

- Forderungen der 35 ff., 71, 79, 85, 90

62 ff., 79, 83, 97, 130, 139, 163, 165 - Begriff 139 ff. Verfassungsausschuß 74 f.

- Maßstab der 137 f. - pathetische 134 f., 172, 189, 195, 200, 205

Verfassungsbeschwerde 148, 156

Verfassungsprovisorium 169

Verfassungsdefinitivum 169

Verfassungsrat 52, 72 ff.

Verfassungsdiskurs (als Forderung) 23,

Verfassungsrecht

27,46, 61, 72 f., 75, 116, 118, 126 Verfassungsdiskussion 15,20, 31, 51,98, 100,129, 134 f., 141 Verfassungsentscheidung 43 f.

108, 114, 126, 166,

168,202 f. (s. auch "Verfassung") - als normativer Plan 108,120 - als Sonderrecht für Politik 100

Sachwortverzeichnis - Aufgabe und Leistungsfähigkeit

90,

132 - Funktion 198

231

Vertrauen 176,188 Vielfalt 191 f. volenti non fit iniuria 105

- Leistung 123

Volk 129

- -liehe Technik 187

- als fiktives Zurechnungssubjekt 103,

- Moralisierung des 203 - Rahmencharakter 101 - (Re-)Politisierung des 198

110,121, 126 - als reales Entscheidungssubjekt 103, 110, 124, 126

- und gesellschaftliche Planung 152 f.

- Schiedsrichterrolle des 186 f.

- u n d Politik 126 ff., 166

- und Politik 168,175,186 f.

Verfassungsreform 61, 88, 93

Volksabstimmung (über Verfassung) 23,

Verfassungsschutz 149 Verfassungssouveränität 58 Verfassungstheorie 15 f., 25, 63, 100 ff., 132,139

28, 46, 50, 52 f., 60, 73 f., 87, 93, 111, 116,120,122,127,129 Volksentscheide (WV) 185 f. Volksgesetzgebung

(Volksinitiative,

VerfassungsVerbesserung 86,139

Volksbegehren,

Verfassungsverständnis 100 ff., 108 f.,

170, 172, 174, 179, 180 FN 35, 187

115, 125, 137, 168 - pathetisches 17,124 ff., 129,134,136 f.,

Volksentscheid)

Volkskammerwahl vom 18.3.1990 S. 31 ff, 47

141,163 f., 168

Volkssouveränität 58, 118

- Begriff 124

Volksstaat 193,195

- technisches 17, 71, 85, 125 ff, 132,

92,

Volksverwaltung 174

136,141, 164 f., 168 - Begriff 125 Verfassungsvoraussetzung(en) 182,189

Wehrordnung 142,147,160 f. Weimarer Koalition 188

Verfassungswandel 162 ff.

Weimarer Verfassung 137,170 ff, 192 ff.

verfassungswidrige Verfassungsnorm

- als "mißglückte" Verfassung 183 ff.

56 f., 61 Verfassungswirklichkeit 141 Vergangenheit 196 Vergemeinschaftung 195

- als "unglückliche"

Verfassung

137,

181 f., 189 - plebiszitär-demokratischer

Grundzug

185 f.

Verhältniswahl 170,186

- präsidial-demokratische Elemente 186

Versailler Vertrag 181

- repräsentativ-demokratische

Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 48 Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages 48

Elemente

186 - und GG 170 ff. Westintegration 158 f. - verfassungspolitische 27, 156,169 Widerstandsrecht 105,148

232

arverzeichnis

Wiedervereinigung 16, 20, 27, 48, 50, 57, 130 f.

Zukunft 63,108 f., 196 ff. - der Gesellschaft 135

Wiedervereinigungsgebot 50, 158 FN 2

- Ungewißheit der 107 ff.

Wissenschaft, Aufgabe der 16 f., 140,

Zustimmung (der Bürger), tatsächliche/

204

normative 103 f., 109 ff., 115, 119, 122,127

Zivilgesellschaft 74, 90, 93,180,195 - Begriff 178

Zwei-plus-Vier-Vertrag 19