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German Pages 443 [444] Year 2013
Thomas Jürgasch Theoria versus Praxis ?
Thomas Jürgasch
Theoria versus Praxis ? Zur Entwicklung eines Prinzipienwissens im Bereich der Praxis in Antike und Spätantike
ICBS International Center for Boethian Studies Freiburg i. Br.
ISBN 978-3-11-031370-3 e-ISBN 978-3-11-031374-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Umschlagabbildung: München, Staatsbibliothek, Cod. lat. 2599. Sammelband aus Kloster Aldersbach fol. 106 v. Philosophia tröstet d. gefangenen Boethius Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern
„Die Patres hatten alles gesagt, was man wissen mußte über das Verbum Dei und seine Kraft, doch es genügte, daß Boethius den Philosophen zu kommentieren begann, und schon verwandelte sich das Mysterium des göttlichen Wortes in die menschliche Parodie der Kategorien und Syllogismen.“ — Jorge von Burgos („Der Name der Rose“)
Vorwort Die vorliegende Untersuchung stellt die in einigen Teilen überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift dar, die im Jahr 2009 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität angenommen worden ist. Dass ein solches Werk nicht ohne die Mithilfe vieler entsteht, liegt auf der Hand. So freut es mich sehr, an dieser Stelle die Gelegenheit zu haben, einigen dieser vielen explizit danken zu können. Mein besonderer Dank gilt dabei meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Bernhard Uhde sowie meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Dr. Thomas Böhm. Ihre inspirierenden Lehrveranstaltungen, ihre hilfreichen Anmerkungen und Kommentare zu meiner Arbeit und ihre Bereitschaft, sich mit den hier verhandelten Thesen auseinanderzusetzen, haben die Entstehung dieses Werkes erst möglich gemacht. Für ihre kritischen Anfragen und die vielen Stunden intensiver fachlicher Diskussion möchte ich mich zudem bei Herrn Prof. Dr. Milad Karimi (Münster) und Herrn Andreas W. Kirchner, M.A. (Freiburg) bedanken. Über das Fachliche hinaus ist es vor allem ihr freundschaftlicher Beistand, an den ich mit großer Dankbarkeit zurückdenke. Wesentlich bereichernd für das Projekt waren auch die Gespräche mit Herrn Prof. Dr. Emanuele Coccia (Paris), Herrn Dr. Sergiusz Kazmierski (Regensburg) und Herrn Dr. Tobias Uhle (Berlin). Als Vertreter der Philosophie bzw. Klassischen Philologie haben sie meinen Blick um zahlreiche wichtige Perspektiven dieser Fachrichtungen erweitert. Danken für seine wertvollen Hinweise zu meinem Text möchte ich überdies Prof. John Magee (Toronto), der sich die Zeit genommen hat, das Manuskript in seiner Endfassung nochmals durchzuschauen und mir wichtige Rückmeldungen zu geben. Ein besonderer Dank gebührt darüber hinaus auch Frau Janja Soldo und Herrn Andreas W. Kirchner für ihre gründliche Lektorierung. Andreas W. Kirchner hat die Studie zudem in die vorliegende Form gebracht und den Satz des Werkes übernommen. Große Unterstützung habe ich auch durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsbereichs Alte Kirchengeschichte und Patrologie der Universität Freiburg erfahren. Besonders erwähnt seien in diesem Zusammenhang Frau Monika Fuchs, Herr Thomas Gruner und Herr Peter Morgalla. Einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung dieses Bandes hat die Hanns-Seidel-Stiftung geleistet, die mich im Rahmen eines Promotionsstipendiums sowohl ideell als auch materiell stark gefördert hat. Der Druck dieser Arbeit wäre zudem nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg. Herzlich bedanken möchte ich mich zu guter Letzt auch und vor allem bei meiner lieben Familie und bei meinen Freunden; bei meinen Eltern Anica und Franz Jürgasch, bei Debora C. Föttinger, bei Dorothea und Ellis Whitehead mit Karina und Jeromin, bei Denis Mrkša, Christian Martens, Nicole K. Karimi und bei Thorsten Bauer. Ihre Liebe, ihre Geduld und ihre Freundschaft halfen mir, die nötige Gelassenheit zu bewahren, und so das Schwere nicht zu schwer und das Leichte nicht zu leicht zu nehmen.
Freiburg im Breisgau, 2013
Thomas Jürgasch
Inhalt 1 1.1 1.2 1.3
1 Einleitung 1 Zur Fragestellung Zum Vorgehen der Untersuchung 8 Zum Forschungsstand
2 2.1 2.2
12 Die Philosophie als περὶ φύσεως ἱστορία Die Physis und die ἀρχαί τῶν πάντων 13 17 Thales – der erste Philosoph
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit 20 Das Proömium 25 Die Wege der Untersuchung „Wie es ist“ – die Bestimmung der Wahrheit
3.6 3.7 3.8 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2 5.3
3
20
28 33 Die Notwendigkeit des „Seins des Seienden“ Zur Kritik des parmenideischen „Beweises“ des Seins des 36 Seienden 39 Das „Sein des Seienden“ als das „Wahr-Sein des Wahren“ Die Auffassungen der Sterblichen 41 43 Die Konsequenzen aus der Erkenntnis des Parmenides
45 Sophistische Kritikpunkte 46 Der Mensch als das Maß aller Dinge – Protagoras „Bessere“ versus „schlechtere“ Auffassungen – Protagoras’ 54 „Relativismus“ 57 Das Nichtsein des Seins – Gorgias’ Περὶ τοῦ μὴ ὄντος Die Nutzlosigkeit des sicheren Wissens 67 76 Überprüfbare Hypothesen – Sokrates 77 Sokrates’ Was-ist-X-Frage als Herausforderung für die Sophistik Die praktische Relevanz des Wissens über das Allgemeine 86 Die Aporien der frühen Dialoge als eine antisokratische Kritik 90 Platons?
96 6 Platon – die Herrschaft der Norm 96 6.1 Ein anamnetischer Zugang zur Erkenntnis der Ideen 102 6.2 Platons Charakterisierung der Idee 108 6.3 Platons Lehre von der μέθεξις 110 6.4 Die Idee als παράδειγμα für Theorie und Praxis 110 6.4.1 Die Idee als Kriterium für die Ordnung von Auffassungen 115 6.4.2 Die Einsicht in die Ideen als Maß der Tüchtigkeit
XII 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6
Inhalt Einsehen, Wollen und Handeln – Platons „ethischer 116 Intellektualismus“ 119 Die Idee des Guten 131 „Das Gute“ und die μίμησις des Ideen-Kosmos Die platonische Polis – ein totalitäres Staatsgebilde?
139
146 7 Aristoteles 146 7.1 Aristoteles’ Ideenkritik 150 7.2 Aristoteles’ Einsicht in die ἀρχὴ τοῦ παντός 150 7.2.1 Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch 7.2.2 Der νοῦς als ἀρχὴ τοῦ παντός 153 155 7.2.3 Der νοῦς als ἐρώμενον – eine höchste Zielursache 158 7.3 Die Nutzlosigkeit des platonischen Ideenwissens 166 7.4 Eine Ethik des rechten Augenblicks 167 7.4.1 Aristoteles’ Konzeption der ἀρετὴ ἠθική 7.4.2 φρόνησις 175 183 7.4.3 Der σπουδαῖος als κανών und μέτρον 186 7.5 εὐπραξία und εὐδαιμονία 189 7.6 θεωρία 194 7.7 Die εὐδαιμονία – inclusive- oder dominant-end? 196 7.8 Aristoteles’ Kritik an einem Prinzip menschlicher Praxis 200 8 Hellenistisch-philosophische Perspektiven 200 8.1 Die Stoa – Leben in Übereinstimmung mit der Natur 202 8.1.1 Alles nur „heiße Luft“? 205 8.1.2 Universeller Determinismus und menschliche Freiheit 207 8.1.3 Eine „natürliche“ Form der Freiheit, die zur Glückseligkeit führt 8.1.4 Die Natur, die Tüchtigkeit und das Prinzip praktischen Wissens 211 218 8.1.5 Die allgemeine Norm und ihre Vermittlung: das exemplum 220 8.2 Die Schule der Lust – Epikur 220 8.2.1 Die Lust als das höchste Gut 224 8.2.2 Die Schule der Lust und das Prinzip praktischen Wissens 227 8.3 Abschließende Bemerkungen 228 9 Plotin – das „Eine“ als Prinzip 228 9.1 Die Voraussetzung eines ersten, vollkommenen Einen 232 9.2 Der „zwiefältige νοῦς“ 9.3 Das Eine als das an sich unbestimmte Prinzip aller Bestimmung 238 9.4 Das Leben des Einen 240 9.4.1 Die κατανόησις des Einen 244 9.4.2 Die Zeugung des Denkens 250 9.5 Das Eine als Prinzip praktischen Wissens?
234
Inhalt
9.5.1 9.5.2 9.5.2.1 9.5.2.2 9.5.2.3 9.6 9.7
252 Das ἕν als Kriterium praktischen Wissens? 256 Die ἀρετή als Weg zur Angleichung an das Eine Plotins Konzept der ἀρεταὶ πολιτικαί 256 Die Angleichung an das Eine in konkreten Handlungssituationen 259 Die μείζονες ἀρεταί Die „Einung mit dem Einen“ – das wahre Letztziel des Strebens? 270 Schlussbetrachtungen zu Plotin
XIII
258 264
276 10 Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott 277 10.1 Der Eine Gott – dreieinig 278 10.1.1 Der menschliche Geist als Bild der göttlichen Trinität 283 10.1.2 Das Wissen der mens als ihr „Wort“, „Sprössling“ und „Bild“ 10.1.3 Die relationale Unterschiedenheit der mens und ihrer 286 Hervorgänge 287 10.1.4 Die Denkmöglichkeit eines dreieinheitlichen Wesens 289 10.1.5 Gott als Geist – die mens humana und der dreieine Gott 291 10.2 Das Wort Gottes als dessen Wahrheit und Weisheit 292 10.2.1 Das verbum Dei als Wahrheit Gottes 293 10.2.2 Das verbum Dei als Weisheit Gottes 296 10.3 Das Wort Gottes als veritas und sapientia – einige Konsequenzen 299 10.4 Das fleischgewordene Wort Gottes als Mittler des Wissens Gottes 304 10.5 „Denn sagen, wie es ist, wer kann das wohl?“ 310 10.6 Gott – das summum bonum 10.6.1 „Gott ist das summum bonum“ – eine Aussage über das Wesen 315 Gottes? 323 10.6.2 Der Eine Gott – das summum bonum 327 10.7 Der Wille Gottes und das Erreichen der Glückseligkeit 330 10.7.1 Die Weisheit des dem Willen Gottes folgenden Menschen 331 10.7.2 Die Offenbarung des göttlichen Willens in der Heiligen Schrift 10.7.3 Der Wille Gottes und die praecepta vivendi – eine nicht verwirklichbare 332 Normenethik? 332 10.8 Christus als exemplum 337 10.9 Das Erreichen der Glückseligkeit in der jenseitigen Schau Gottes 341 10.10 Schlussbemerkungen zu Augustinus 11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
345 Boethius und das Prinzip praktischen Wissens 345 Ein philosophischer Trost? 348 Boethius’ Bestimmung des Prinzips Flebilis heu maestos cogor inire modos – die Klage eines 350 Unwissenden Das Prinzip – Ausgangs- und Endpunkt philosophischen Trostes 356 Consolatio II: Die Güter der Fortuna in ihrer Begrenztheit
354
XIV 11.6 11.7 11.8 11.9 11.10 11.11 11.12
Inhalt Consolatio III: Gott – das summum bonum und die wahre 358 beatitudo 362 Consolatio III, c.9: Ein gegebenes Wissen um das Prinzip Consolatio III, 10: Das Prinzip aller Dinge ist auch das summum 366 bonum 378 Gott ist die Glückseligkeit 381 Consolatio III, 11–12: Gott als höchste Zielursache Die trostbringende Einsicht des Boethius in ein Prinzip praktischen 385 Wissens 391 Abschließende Bemerkungen zu Boethius 398
12
Schlussbemerkungen
13 13.1 13.2
405 Literaturverzeichnis Primärliteratur 405 408 Sekundärliteratur
14
Namens- und Sachregister
427
1 Einleitung 1.1 Zur Fragestellung „Was können wir sicher wissen?“ In Abwandlung der berühmten kantischen Frage hat Bernhard Uhde die Einsicht in ein sicheres und kommunikables Wissen als das Grundanliegen derjenigen Philosophie begriffen, der Aristoteles den Rang der „Ersten Philosophie“ verliehen hatte und die später den Titel „Metaphysik“ erhalten sollte. Davon überzeugt, im Besitz eines immensen Wissens zu sein, ist und war aller Wahrscheinlichkeit nach schon zu Zeiten des Aristoteles die Mehrzahl der Menschen – und zwar sogar mit einem gewissen Recht; konnte man sich doch schon damals, wie es auch heute noch oft zu beobachten ist, auf den Besitz von etwas berufen, das weit nach Aristoteles als die „bestverteilte Sache der Welt“ bezeichnet werden wird. Dass man vermöge des so großzügig verteilten „gesunden Menschenverstandes“ für sich selbst vieles weiß, soll dabei zunächst gar nicht in Zweifel gezogen werden. Wie sicher aber ist das, was man in dieser Weise erkennt und weiß? Und: Kann das derart gewonnene Wissen so dargestellt werden, dass auch andere es als „sicher“ einsehen? Die Erforschung dieser und ähnlicher Fragen nach einem sicheren und im eben beschriebenen Sinne kommunikablen Wissen charakterisiert Aristoteles zufolge schon von Beginn an diejenigen, die als Philosophen zu bezeichnen sind. Ihren Ausdruck findet die Forschung der Philosophen laut Aristoteles dabei in der Suche nach dem sogenannten „Prinzip von allem“, der ἀρχὴ τοῦ παντός. Als der erste Grund stellt dieses Prinzip nicht nur den Gegenstand eines sicheren und kommunikablen Wissens dar; darüber hinaus gibt es auch einen Maßstab ab, anhand dessen man Wissen und Nichtwissen voneinander zu unterscheiden vermag. Demnach gilt: Alles, was den Anspruch erhebt, ein Wissen zu sein und damit zum Ausdruck zu bringen, „wie es ist“, wird sich an dem Prinzip auf diesen Anspruch hin messen lassen müssen. Da das Prinzip, mit Aristoteles gedacht, dabei selbst bei dem Versuch der Einrede gegen dessen Gültigkeit notwendig vorausgesetzt werden muss, ist es zunächst nicht sinnvoll, die Sicherheit desselben zu bestreiten. Dementsprechend beziehen sich die in diesem Zusammenhang entwickelten Einwände auch nicht auf die Frage nach der Sicherheit des Prinzips, sondern auf die nach dessen Geltungsbereich. So ist nicht fraglich, ob das Prinzip Gültigkeit für sich beanspruchen kann, sondern in welchen Bereichen dieses gilt. Für die als erste gegen das Prinzip Einredenden ist in diesem Zusammenhang ein ganz bestimmter Bereich von Interesse – der der menschlichen Praxis. Während es nämlich spätestens mit Aristoteles möglich ist, ein Prinzip für das von ihm mit dem Begriff der „Theorie“ gekennzeichnete Gebiet menschlichen Wissens anzugeben, stellt sich dies weitaus schwieriger dar, wenn es um ein Wissen im Bereich der Praxis geht. Stehen sich, so wäre folglich zu fragen, Theoria und Praxis möglicherweise in dem Sinne entgegen, dass es ein Prinzip des theoretischen, nicht aber eines des praktischen Wissens gibt? Genauer formuliert lautet die Frage nach
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Einleitung
einem solchen Prinzip praktischen Wissens dabei: Können wir einen Gegenstand sicheren Wissens angeben, anhand dessen nach Art eines allgemein für alle Menschen gültigen und in jeder Situation anwendbaren Kriteriums zu entscheiden ist, wie zu handeln ist und wie nicht und – damit essentiell verbunden – was jeweils als Ziel bzw. Letztziel zu erstreben ist? Oder kurz gefragt: Lässt sich eine Einsicht in ein Prinzip praktischen Wissens gewinnen?¹ Wie die Formulierungen dieser Frage bereits andeuten und im Folgenden aufgezeigt werden wird, ist das gesuchte Prinzip in Entsprechung zu dem des theoretischen Wissens wie folgt zu charakterisieren: – Das Prinzip ist Gegenstand eines sicheren Wissens. – Dieses Wissen ist in dem Sinne allgemein, dass es jeder Mensch einsehen kann und es seiner Notwendigkeit nach kommunikabel ist. – Das Prinzip ist selbst auch allgemein, insofern es ein Kriterium darstellt, mit dessen Hilfe man in jeder Situation unterscheiden kann, wie zu handeln ist und wie nicht. – Überdies lässt das Prinzip erkennen, was jeweils als Ziel beziehungsweise als für alle Menschen gültiges Letztziel zu erstreben ist. – Infolgedessen ist das Wissen um das Prinzip für jeden Menschen von Nutzen.² Die Frage nach einem so bestimmten Prinzip begleitet die einen Anspruch auf ein prinzipielles Wissen erhebende Metaphysik schon von ihren Anfangszeiten an und sie wird im Lauf der Geschichte immer wieder neu als Anfrage gestellt. Dabei gibt sie nicht zuletzt einen Prüfstein dafür ab, ob das Wissen „dieser Art von Philosophie“ (τῆς τοιαύτης φιλοσοφίας)³ tatsächlich für sich geltend machen kann, Einsicht in ein allgemeines Prinzip des Wissens gewonnen zu haben; müsste dieses doch tatsächlich alle Formen menschlichen Wissens beherrschen – sowohl das der Theoria als auch das der Praxis. Die Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer Einsicht in ein derartiges Prinzipienwissen fördert eine Vielzahl widerstreitender Positionen zu Tage, die sich
1 Ist hier die Rede von der „Praxis“, so ist diese im Anschluss an Aristoteles als eine Form des menschlichen Tätigseins zu begreifen, der eine – nicht notwendigerweise bewusste – „Entscheidung“ (προαίρεσις) auf Seiten des Tätigen vorausgeht. Vgl. dazu Aristoteles Eudemische Ethik II, 6; Nikomachische Ethik III, 3ff.; VI, 2. Anders als es einige Stellen in Aristoteles’ Werk nahelegen (vgl. z. B. Nikomachische Ethik I, 1; VI, 4; Metaphysik IX, 6), soll die Praxis hier ausdrücklich nicht im Gegensatz zur Poiesis, dem herstellenden Tätigsein, begriffen werden. Wie nämlich die nachfolgenden Betrachtungen zu Platons Denken zeigen werden, lässt sich nach Platons Verständnis ein prinzipielles praktisches Wissen einsehen, das auch das Gebiet des herstellenden Tätigseins umgreift. Zudem soll die Praxis hier nicht im Gegensatz zur Theorie aufgefasst werden, wie dies der Alltagsgebrauch dieser Termini nahelegen könnte; werden doch die Untersuchungen zur aristotelischen Philosophie zeigen, dass die Theorie insofern nicht im Gegensatz zur Praxis steht, als sie eine Form derselben darstellt. 2 Dass es genau diese Merkmale sind, die ein Prinzip praktischen Wissens auszeichnen, wird die Betrachtung der für diese Arbeit ausgewählten Positionen zeigen. 3 Aristoteles Metaphysik 983b 20f.
Zum Vorgehen der Untersuchung
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dieser Möglichkeit gegenüber zustimmend, ablehnend oder aber neutral verhalten. So stehen diejenigen Denker, welche den Standpunkt vertreten, dass es durchaus möglich und sogar notwendig sei, eine prinzipielle Einsicht im Bereich praktischen Wissens zu gewinnen, denjenigen gegenüber, die eine solche Einsicht entweder für unmöglich oder für unnötig halten.⁴ Auch wenn sich in diesem Zusammenhang entsprechend viele verschiedene Positionen heraus gebildet haben, stehen diese doch nicht einfach als disparate Denkmodelle nebeneinander. Vielmehr zeichnet sich mit Blick auf das besagte Problem – so eine der Grundannahmen der vorliegenden Untersuchung – eine geistesgeschichtliche Entwicklung ab. Diese ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich die in diesem Kontext relevanten Denker mit der ihnen jeweils überkommenen Tradition auseinandergesetzt und ausgehend davon ihre eigenen Standpunkte entwickelt haben. Infolgedessen bildeten sich Traditionslinien, die durch die Aufnahme bestimmter Konzeptionen und durch die gleichzeitige Ablehnung anderer Entwürfe geprägt worden sind. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine dieser sich mit dem Problem eines prinzipiellen Praxiswissens beschäftigenden Traditionslinien der antiken beziehungsweise spätantiken Geistesgeschichte näher in den Blick zu nehmen. In Verbindung zu bringen ist diese Linie mit den Entwürfen praktischer Philosophie, wie sie im Umfeld der bereits angesprochenen und klassischerweise als „Metaphysik“ bezeichneten Art philosophischer Reflexion entstanden sind. Assoziiert werden kann diese Weise metaphysischen Nachdenkens – für die Antike und die Spätantike – dabei vor allem mit den Konzeptionen Platons, des Aristoteles und der auf den platonischaristotelischen Überlegungen aufbauenden neuplatonischen Tradition. Was den hier untersuchten Zeitraum betrifft, soll die besagte Traditionslinie bis zu einer frühen Phase ihrer christlichen Rezeption nachgezeichnet werden, wobei exemplarisch der Kirchenvater Augustinus und – als Abschluss – der Philosoph und Theologe Boethius zum Gegenstand der Betrachtung werden. Boethius wird in diesem Zusammenhang insofern eine zentrale Rolle spielen, als die Suche nach einem Prinzipienwissen für die Praxis mit ihm, so sei hier bereits thesenhaft formuliert, einen für die angesprochene Tradition bedeutsamen Abschluss findet, mag dieser sich auch nur als vorläufig herausgestellt haben.
1.2 Zum Vorgehen der Untersuchung Die Nachzeichnung einer Entwicklung wie der genannten sieht sich unter anderem mit folgender Herausforderung konfrontiert. Es gilt, wie eben bereits angedeutet, eine angemessene Auswahl der zu betrachtenden Denker und Schulrichtungen zu treffen,
4 Hinweise darauf, mit welchen Denkern und Schulen diese Haltungen jeweils assoziiert werden können, werden im weiteren Verlauf gegeben werden.
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Einleitung
deren Positionen exemplarisch zentrale Aspekte und Stationen der Suche nach einem Prinzip praktischen Wissens zur Sprache bringen. So sollen hier nicht alle Konzeptionen praktischer Philosophie untersucht werden, die in der Zeit zwischen Platons und Boethius’ Wirken erarbeitet wurden. Vielmehr geht es darum, solche Entwürfe in den Blick zu nehmen, die sich als wesentliche Entwicklungsstufen auf dem Weg hin zu einer Konzeption eines Prinzipien-Wissens im Bereich der Praxis erweisen. Demnach bleiben einige Vertreter und Schulrichtungen praktischer Philosophie unberücksichtigt, obwohl ihr Entstehen und Wirken in den oben angegebenen Zeitraum fällt und ihre Konzeptionen auch eine bedeutsame Wirkungsgeschichte entfaltet haben. So ergibt es sich, dass beispielsweise die neuplatonisch-nichtchristliche Philosophie exemplarisch anhand Plotins betrachtet wird und dabei andere Neuplatoniker wie Iamblich oder Proklos ausgelassen werden. Und wenn die hellenistische Philosophie zum Thema wird, so werden dabei die Stoiker und die Epikureer als Beispiele im Vordergrund stehen, ohne dass explizit auf die Pyrrhoneer eingegangen würde. Ausgehend von diesen Überlegungen ergibt sich für die vorliegende Betrachtung das folgende Vorgehen. In einem ersten Schritt soll die Suche nach einem prinzipiellen Wissen im Allgemeinen thematisiert werden (Kapitel 2). Im Bereich der hier zu untersuchenden Entwicklungslinie ist diese Suche der platonisch-aristotelischen Überlieferung nach zuallererst von den frühphilosophischen Vertretern der sogenannten „Naturphilosophie“, genauer der περὶ φύσεως ἱστορία, initiiert worden. Mit ihrem Interesse an dem „Prinzip von allem“ (ἀρχὴ τοῦ παντός) sind sie die ersten, die eine Einsicht in ein prinzipielles Wissen zu erlangen versuchen und damit auch den Grund für die Frage nach einem prinzipiellen Wissen im Bereich der Praxis legen. Dementsprechend wird die traditionellerweise mit Thales von Milet assoziierte Form der Physisforschung zuerst untersucht werden. Kritisiert, aber auch weitergeführt wird die Konzeption der Physisforschung im Rahmen der genannten Traditionslinie durch die eleatische Philosophie. Deren Entwurf soll in einem zweiten Schritt am Beispiel des Parmenides von Elea betrachtet werden. Parmenides’ Überlegungen zur „Wahrheit“, welche die Mitte seines philosophischen Nachdenkens bilden, sind hier deswegen von zentraler Bedeutung, weil sie das Bestreben, ein prinzipielles Wissen einzusehen, in Hinsicht auf die Sicherheit dieses Wissens auf eine nächste Ebene bringen; ist das Wissen, in welches Parmenides von „der Göttin“ eingeführt wird, dem parmenideischen Selbstverständnis gemäß doch notwendig wahr. Mit dem Anspruch, ein solches notwendig wahres Wissen eingesehen zu haben, erweitert die eleatische Philosophie die Überlegungen der Physis-Forschung insofern entscheidend, als nun zum Thema der Allgemeinheit auch das der Notwendigkeit des prinzipiellen Wissens hinzutritt. Da dieser Aspekt des Prinzipienwissens von großer Wichtigkeit ist, widmet die vorliegende Untersuchung Parmenides ein eigenes Kapitel (3). Wird nun in der Folge die eleatische Philosophie ihrerseits einer Kritik unterzogen, so ist dies für die Problematik eines prinzipiellen praktischen Wissens von höchster Bedeutung. Indem nämlich die Sophisten die Überlegungen des Parmeni-
Zum Vorgehen der Untersuchung
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des und seiner Nachfolger bezüglich der Kommunikabilität und der Nützlichkeit des von diesen beanspruchten Prinzipienwissens befragen, eröffnen sie als erste explizit den Blick auf das hier untersuchte Problem eines prinzipiellen und für die Praxis relevanten Wissens. Gibt es etwas, das wir sicher wissen und das wir anderen gegenüber im oben genannten Sinne kommunizieren können – und das dazu auch noch von Nutzen für die Praxis ist? Inwiefern diese von den Sophisten vorgetragene Anfrage, die hier beispielhaft im Rekurs auf Gorgias und Protagoras betrachtet wird, einen wesentlichen Schritt auf dem Weg hin zu einer Einsicht in ein Prinzipienwissen darstellt, wird im 4. Kapitel dieser Arbeit diskutiert werden.⁵ Die Herausforderung, vor welche die Sophistik den eleatischen Anspruch auf ein notwendig wahres Prinzipienwissen stellt, wird in prominenter Weise von Sokrates aufgenommen. Sokrates’ Auseinandersetzung mit der Sophistik ist dabei für die vorliegende Untersuchung deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil in diesem Zusammenhang erstmals ausdrücklich der später von Platon fortgeführte Versuch zu beobachten ist, ein für die Praxis relevantes Prinzipienwissen einzusehen. Worin genau Sokrates’ antisophistische Kritik besteht, welche Perspektiven sich aus dieser Kritik ergeben und wo ihre Grenzen liegen, wird im 5. Kapitel näher betrachtet werden. Platons Aufnahme und Weiterführung der sokratischen Überlegungen – diese werden im 6. Kapitel zum Thema – markieren einen entscheidenden Wendepunkt auf dem Weg hin zu einer Konzeption eines praktischen Prinzipienwissen; sieht Platon doch seinem Selbstverständnis gemäß Prinzipien ein – die sogenannten „Ideen“ –, welche sowohl für das Wissen der Theoria als auch für das der Praxis als absolute Normen maßgeblich sind. Ist damit zwar zumindest Platon zufolge das Problem eines prinzipiellen praktischen Wissens gelöst, zeigt doch die von seinem Schüler Aristoteles vorgetragene Kritik an dieser Lösung, dass diese nur vorläufig Gültigkeit für sich beanspruchen konnte. Im Zentrum der aristotelischen Auseinandersetzung mit Platons Entwurf praktischer Philosophie steht seine Kritik an der platonischen Ideenlehre. Diese, so wird im 7. Kapitel näher erläutert werden, befragt Platons Ideenkonzeption vornehmlich in Hinsicht auf zwei Punkte. Zum einen problematisiert sie die Annahme der Notwendigkeit der Ideen, zum anderen stellt sie die Relevanz der Ideenerkenntnis für die Praxis in Frage. Letzteres ist vor allem vor dem Hintergrund der aristotelischen Überlegungen zur Situativität menschlichen Handelns zu sehen. So spricht Aristoteles ein allgemein für jede normative Ethik – und damit auch für jede auf Prinzipien beruhende Ethik – bestehendes Problem an: die Vermittlung von als allgemein gültig gedachten Normen beziehungsweise Prinzipien in die konkreten Einzelsituationen des Handelns. Aristoteles’ Einwand bringt damit ein Problem zur Sprache, mit dem sich in der Folge jede auf Prinzipien rekurrierende Ethik auseinandersetzen muss
5 Dass und wie die Sophisten damit die Position vertreten, dass die Einsicht in ein prinzipielles Praxiswissen unmöglich oder gar unnötig sei, wird ebenfalls im 4. Kapitel betrachtet werden.
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Einleitung
und das als bleibende Herausforderung auch heute noch bestehen bleibt. Besonders wichtig für den vorliegenden Kontext ist, dass Aristoteles, ausgehend von seinen Überlegungen zur Situativität des Handelns, den Schluss zieht, dass es kein prinzipielles Wissen im Bereich der Praxis geben könne, während er dies für den Bereich der Theoria durchaus annimmt.⁶ Die aristotelische Kritik an Platons Konzeption einer prinzipiellen praktischen Philosophie sollte eine immense Wirkungsgeschichte entfalten und das Projekt eines praktischen Prinzipienwissens ein weiteres Mal vor eine große Herausforderung stellen. Dies zeigen nicht zuletzt die Reaktionen, welche auf diese Kritik erfolgten. So können die in die Zeit kurz nach Aristoteles’ Tod fallenden Entwicklungen der epikureischen und der stoischen Philosophie unter anderem als Versuche betrachtet werden, die mit dem aristotelischen Einwand erneut aufgeworfene Frage, welche Rolle ein sicheres Wissen für die Praxis spielen könne, zu beantworten.⁷ Die Philosophie des Aristoteles zeichnet sich nun nicht nur durch ihre PlatonKritik aus. Vielmehr entwickelt Aristoteles selbst eine Prinzipienlehre, welche die Grundlage für ein aus seiner Sicht notwendig wahres, allgemeines und kommunikables – kurz: ein prinzipielles – Wissen bildet. Auch wenn sich dieses Wissen wie oben angesprochen nur auf den Bereich der Theoria und gerade nicht auf den der Praxis bezieht, hat dieses doch das philosophische Nachdenken für einen langen Zeitraum entscheidend geprägt. So wird erst die Kritik des sogenannten „Neuplatonismus“ den Gültigkeitsbereich der aristotelischen Prinzipienlehre in einer Art und Weise einschränken, die auch für das Problem des praktischen Prinzipienwissens weitreichende Konsequenzen haben sollte. Die sich aus dieser Kritik ergebenden Modifikationen des aristotelischen Prinzipienbegriffes und ihre Folgen für die Entwicklung praktischer Philosophie werden in Kapitel 9 untersucht werden, und zwar exemplarisch anhand der Philosophie des Plotin. Dem zuvor wird sich das 8. Kapitel dieser Arbeit allerdings mit einer Reihe von Konsequenzen beschäftigen, die sich aus Aristoteles’ prinzipientheoretischer Differenzierung ergeben. Diese Konsequenzen sollen dabei mit Blick auf einige wichtige Aspekte hellenistisch-philosophischen Denkens untersucht werden. In Form eines Exkurses wird in diesem Zusammenhang dargelegt werden, wie die stoische und die epikureische Philosophie in Reaktion auf Aristoteles’ Kritik an Platons normativer Ethik eine eigene nicht-prinzipielle situative Ethik entwickeln. Wie dabei deutlich wird, erarbeiten die genannten Schulen einige Elemente, die auch für die nach einem Prinzip praktischen Wissens suchenden Denker von zentraler Bedeutung sind.
6 In Bezug auf die zuvor angesprochenen Positionierungsmöglichkeiten zu einem prinzipiellen Praxiswissen ist Aristoteles damit denjenigen Denkern zuzurechnen, die eine solche Einsicht für unmöglich halten. Auf die sich daraus ergebende Nähe aristotelischen Gedankengutes zu den Überlegungen einiger Sophisten wird im Kapitel zu Aristoteles näher eingegangen werden. 7 Die Art und Weise, wie diese Antworten ausfallen, wird in Kapitel 8 genauer behandelt.
Zum Vorgehen der Untersuchung
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Das eben bereits angesprochene neue Paradigma, welches aus den plotinischen Überlegungen zum Ersten Prinzip erwächst, prägt die nachfolgende, auf ein Prinzipienwissen ausgerichtete philosophische und christlich-theologische Tradition nachhaltig. Dies zeigt unter anderem die Rezeption neuplatonischen Gedankengutes durch den Kirchenvater Augustinus. Sein Denken soll hier beispielhaft für eine bestimmte Form der besagten christlich-theologischen Tradition stehen, welche die mittelalterlichen Entwicklungen der Theologie und der Philosophie eminent beeinflussen sollte.⁸ Wie im 10. Kapitel zu zeigen sein wird, führt Augustinus’ Entwurf eines Prinzips praktischen Wissens viele der aus der neuplatonischen Philosophie stammenden Konzeptionen fort; er integriert sie in christlich-theologische Modelle und modifiziert sie gerade damit auch bisweilen wesentlich. Entscheidend ist dabei, dass Augustinus seinem Selbstverständnis gemäß in der Lage ist, ein einheitliches Prinzip der Praxis anzugeben, das als ein universelles Kriterium für die Frage zu dienen vermag, was wir tun sollen, um das Ziel der „Glückseligkeit“ (beatitudo) zu erreichen. Augustinus’ Ansatz stellt dabei unter anderem deswegen eine höchst wichtige Station auf dem Weg zu einem praktischen Prinzipienwissen dar, weil er, wie es zunächst den Anschein erweckt, alle Kriterien erfüllt, die für ein derartiges Wissen erfüllt sein müssen. Das von Augustinus vorgetragene Wissen ist sicher, allgemein gültig und praxisrelevant – doch, so zeigt eine genauere Untersuchung, eines ist es nicht: mit Blick auf seine Notwendigkeit kommunikabel. Dass hier gewissermaßen ein „Defizit“ hinsichtlich der augustinischen Konzeption eines prinzipiellen Wissens im Bereich der Praxis erkennbar ist, zeigt sich vor allem deutlich im Vergleich zu dem Entwurf eines Denkers, der sich selbst in die Tradition des Augustinus stellt. Es handelt sich dabei um den Theologen und Philosophen Anicius Manlius Severinus Boethius, dessen Philosophie der Praxis insofern eine zentrale Rolle in Bezug auf die Suche nach einem Prinzip praktischen Wissens spielt, als sie ein sicheres, allgemein gültiges, praxisrelevantes und der Notwendigkeit nach kommunikables Wissen vorträgt. Wie in Kapitel 11 gezeigt wird, gelingt es Boethius damit, die besagte Suche in einer Form zu einem Abschluss zu bringen, der sich auch für die nachfolgende mittelalterliche Tradition als höchst bedeutsam erweisen wird. Worin das Besondere des boethianischen Ansatzes besteht, wie seine Konzeption eines prinzipiellen praktischen Wissens genauer aussieht und inwiefern sie sich auch für die nachfolgende Tradition als von fundamentaler Wichtigkeit erweist, wird im Schlussteil der Untersuchung betrachtet werden.
8 Mit der Betrachtung der augustinischen Theologie und Philosophie der Praxis wird eine bestimmte Fortführung der Tradition metaphysischen Denkens untersucht, welche das abendländische mittelalterliche Denken entscheidend bestimmen wird. Nicht zuletzt deswegen wird genau diese Fortführung hier zum Thema. Dass es auch andere Entwicklungslinien metaphysischen Denkens gibt – beispielsweise im Kontext des paganen Neuplatonismus oder auch der islamischen Theologie – ist damit in keinster Weise bestritten, diese werden hier allerdings nicht näher untersucht werden.
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Einleitung
1.3 Zum Forschungsstand Die Betrachtungen zur Ethik der klassischen Antike und Spätantike haben eine schier unüberblickbare Zahl an Publikationen hervorgebracht. Diese umfassen allgemeine Einführungen, Arbeiten zu einzelnen Denkern und Schulen antiker und spätantiker ethischer Reflexion, aber auch zu bestimmten Themen und Entwicklungen dieser Epochen.⁹ Noch nicht eigens zum Thema einer wissenschaftlichen Betrachtung geworden ist jedoch die in diesem Werk untersuchte antike und spätantike Entwicklung eines prinzipiellen Wissens im Bereich der Praxis. So liegen zwar einige Arbeiten vor, die sich mit verschiedenen Aspekten eines Prinzipienwissens in Antike und Spätantike und mit der Relevanz eines solchen Wissens für die menschliche Praxis beschäftigen. Ein genauerer Blick in die Literatur zeigt allerdings: Die Behandlung dieser Themengebiete ist bisher fast nur in Hinsicht auf einzelne Autoren und Schulen geschehen und in der Regel gerade nicht mit Blick auf mögliche Entwicklungslinien in diesen Bereichen. Was die wenigen Ausnahmen betrifft, die in diesem Zusammenhang zu verzeichnen sind, so beschäftigen sich diese vornehmlich mit der Entwicklung eines Prinzipienwissens im Allgemeinen, nicht aber mit der Frage nach der Entwicklung eines praxisrelevanten Prinzipienwissens. So arbeitet beispielsweise Heribert Boeders Topologie der Metaphysik¹⁰ zwar äußerst gelungen heraus, dass und wie das metaphysische Denken durch die Suche nach einem Prinzip sicheren Wissens bestimmt worden ist und welche Entwicklungen diese Form des Denkens in seinen unterschiedlichen Epochen durchlaufen hat – eine Betrachtung dazu, wie sich ein praxisrelevantes Prinzipienwissen im Rahmen metaphysischen Denkens entwickelt hat, stellt er jedoch nicht explizit an.¹¹
9 Mit Blick auf Einführungen zur antiken Ethik sind unter anderem Susan Sauvé Meyers: Ancient Ethics. A Critical Introduction, London 2008, und das bereits 1991 erschienene, aber noch immer sehr lesenswerte Einführungswerk zur klassischen griechischen Ethik Virtue and Knowledge: An Introduction to Ancient Greek Ethics, London 1991, von William J. Prior zu nennen. Zur Einführung in die antike Ethik sehr hilfreich sind zudem die von Wolfgang Röd herausgegebenen und zum Teil auch von ihm verfassten Bände zur Geschichte der Philosophie, München 1976–2011, hier die Bände 1–4. Unter der Vielzahl von Darstellungen, die sich mit Autoren oder Einzelthemen der genannten Zeiträume und Themengebiete beschäftigen sind in Hinsicht auf die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre beispielsweise Gabriel Richardson Lears Untersuchung zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles Happy Lives and the Highest Good. An essay on Aristotle’s Nicomachean Ethics (Princeton 2004) und Teresa Morgans Popular morality in the early Roman Empire (Cambridge, Mass. 2007) anzuführen. Weiteres zum Forschungsstand – vor allem in Bezug auf die in dieser Arbeit behandelten Autoren und Positionen – ist in den jeweiligen Kapiteln zu diesen Autoren und Positionen zu finden. 10 Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, (Reihe: Orbis academicus, Sonderband 5), Freiburg 1980. 11 Auch wenn der Fokus der Topologie nicht auf der Entwicklung eines praxisrelevanten metaphysischen Prinzipienwissens liegt, finden sich allerdings einige Stellen in dem Werk, an denen Boeder
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Eine Aufnahme und kreative Weiterentwicklung des Boeder’schen Ansatzes ist bei dessen Schüler Bernhard Uhde zu beobachten. Ausgehend von der Überlegung, dass das metaphysische Denken eine Entwicklung vollziehe, setzt Uhde diese Entwicklung in ein Verhältnis zu einem der zentralen Themen der praktischen Philosophie – der menschlichen Freiheit.¹² Diese, so Uhde, sei je nach Konzeption der auf ein prinzipielles Wissen ausgerichteten Ersten Philosophie unterschiedlich bestimmt worden. Neben den verschiedenen Freiheitsverständnissen, die das Werk beleuchtet, zeichnet es auch die Entwicklung des metaphysischen Prinzipienwissens von dessen Anfängen bis zu Aristoteles nach und leistet damit für den hier unternommenen Versuch wichtige Vorarbeiten, wenngleich auch Uhde nicht ausdrücklich auf die Entwicklung eines praktischen Prinzipienwissens eingeht. Die Vorarbeiten Uhdes wie auch Boeders bestehen dabei nicht nur in den inhaltlichen Auseinandersetzungen mit Denkern wie Thales, Parmenides oder Aristoteles, sondern auch und vor allem in dem von diesen Autoren gewählten methodischen Zugang; gehen doch sowohl Boeder als auch Uhde wie eben bereits angedeutet davon aus, dass mit Blick auf das prinzipientheoretische metaphysische Wissen eine Entwicklung zu verzeichnen ist. Auf eben dieser Grundannahme fußt auch die im Folgenden anzustellende Betrachtung, welche die Konsequenzen aus dieser prinzipientheoretischen Entwicklung für die praktische Philosophie untersuchen wird. Den besagten Ansatz nimmt Bernhard Uhde auch in seiner Habilitationsschrift Gegenwart und Einheit. Versuch über Religion auf.¹³ Auch dieses Werk geht von einer Entwicklung im Bereich metaphysischen Wissens aus und nimmt ebenso eine Verhältnisbestimmung dieses Wissens vor – hier nun mit Blick auf das Phänomen der Religion. Uhdes Ausführungen beispielsweise zur Rezeption der neuplatonischen Philosophie durch die augustinische Theologie wie auch die für sein Werk grundlegende Überlegung, dass die Religion allgemein gesprochen in einem Verhalten des Menschen gegenüber dem als vollkommene Einheit gedachten Ersten Prinzip bestehe, spielen für den hier entwickelten Versuch eine fundamentale Rolle. Dies nicht zuletzt deswegen, weil Uhde dabei unter anderem auf einige wichtige Konsequenzen eingeht,
dieses Thema anspricht. Viel ausführlicher geht Boeder auf das Thema dieser Relevanz im Rahmen anderer Publikationen ein. Dies geschieht allerdings in Bezug darauf, wie unterschiedliche Autoren dieses Thema behandelt haben und nicht im Sinne der Rekonstruktion einer Entwicklung eines praxisrelevanten Prinzipienwissens. Beispielhaft anzuführen sind hier Boeders Beschäftigung mit Platon in „Zu Platons eigener Sache“, in: Heribert Boeder: Das Bauzeug der Geschichte, herausgegeben von Gerald Meier, Würzburg 1994, S. 189–222 oder seine Darstellung zu Augustinus’ Verständnis der Praxisrelevanz eines sicheren Wissens in seinem Aufsatz „Fruitio Dei“, in: Heribert Boeder: Das Bauzeug der Geschichte, S. 363–370. 12 Vgl. Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit. Studien zur Geschichte der Ersten Philosophie, Teil I: Von den Anfängen bis zu Aristoteles, Wiesbaden 1976. 13 Vgl. Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit. Versuch über Religion, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Freiburg 1982.
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die sich aus dem antik-spätantiken Prinzipiendenken für die menschliche Praxis ergeben, und zwar vor allem in seinem Kapitel zu Augustinus’ Konzeption einer „wahren Religion“.¹⁴ Auch wenn weder Boeder noch Uhde explizit die Entwicklung eines prinzipiellen Wissens im Bereich der Praxis zum Gegenstand ihrer Betrachtungen machen, bilden ihre Arbeiten sowohl inhaltlich als auch methodisch wichtige Grundlagen für eine solche Untersuchung. Gleiches gilt für eine Reihe von Arbeiten anderer Autorinnen und Autoren, die sich – wenngleich auch teilweise nur in einem weiteren Sinne – mit der Relevanz eines sicheren Wissens für die menschliche Praxis auseinandersetzen. Anzuführen ist hier unter anderem Günter Virts historisch-systematische Untersuchung zum Verständnis der Epikie in der Antike und im Mittelalter.¹⁵ Dieses Werk ist im vorliegenden Kontext insofern bedeutsam, als es einige wichtige Fragen der Moralbegründung diskutiert, wie sie bei Aristoteles und bei Thomas v. Aquin aufkommen, und damit auf das Verhältnis zwischen der Einsicht in als grundlegend betrachtete Maßstäben und deren Umsetzung in die Praxis eingeht. Dem Thema der Begründung ethischer und moralischer Normen widmet sich auch die von Sabrina Ebbersmeyer und Eckhard Keßler herausgegebene Aufsatzsammlung Ethik – Wissenschaft oder Lebenskunst?¹⁶. In diesem Sammelband, der die Ergebnisse eines im November 2004 in München abgehaltenen Kolloquiums zusammenfasst, gehen verschiedene Autoren unter anderem von der Leitfrage aus, „ob“, wie es Eckhard Keßler im Vorwort formuliert, „der Gegenstand der Ethik oder Moralphilosophie ebenso wie der der theoretischen Philosophie unwandelbar ist oder unwandelbaren Prinzipien unterliegt, so daß er ein notwendiges und allgemeingültiges Wissen erlaubt oder ob die praktischen Disziplinen es nur mit Kontingentem zu tun haben und daher nur ein anders geartetes Wissen zulassen“¹⁷. Damit wird ein Thema angesprochen, das grundlegend mit der in dieser Arbeit betrachteten Fragestellung verbunden ist, indem die mögliche Prinzipienhaftigkeit der praktischen Philosophie untersucht wird. Da das Kolloquium allerdings den recht langen Zeitraum von der Antike bis zur frühen Neuzeit zu behandeln versucht hat, sind letztlich jedoch nur einige der dort zu findenden Aufsätze für die hier untersuchten Epochen von Bedeutung. Die Relevanz eines sicheren Prinzipienwissens für die menschliche Praxis wie auch dieses Prinzipienwissen selbst sind darüber hinaus auch im Rahmen der Kom-
14 Vgl. Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 103–112. 15 Vgl. Günter Virt: Epikie - verantwortlicher Umgang mit Normen: eine historisch-systematische Untersuchung zu Aristoteles, Thomas von Aquin u. Franz Suarez, Mainz 1983. 16 Sabrina Ebbersmeyer/Eckhard Keßler (Hrsg.): Ethik – Wissenschaft oder Lebenskunst? Modelle der Normenbegründung von der Antike bis zur frühen Neuzeit, (Reihe: Pluralisierung & Autorität, hrsg. vom Sonderforschungsbereich 573, Ludwig-Maximilians-Universität München, Band 8), Berlin 2007. 17 Eckhard Keßler: „Vorwort: Ethik – Wissenschaft oder Lebenskunst“, in: Sabrina Ebbersmeyer/Eckhard Keßler (Hrsg.): Ethik – Wissenschaft oder Lebenskunst?, S. X.
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mentarliteratur zu den antiken und spätantiken Autoren behandelt worden, die sich mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt haben. So gibt es zum Beispiel zahlreiche Arbeiten, die sich mit Platons Verständnis der von ihm als Prinzipien gedachten Ideen beschäftigt und seine Sicht auf die Bedeutung dieser Prinzipien für die Praxis in den Blick genommen haben.¹⁸ Gleiches gilt für Aristoteles’ Kritik an der Position Platons und seinen eigenen Entwurf bezüglich des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis.¹⁹ Die Forschungsergebnisse, die mit Blick auf diese Denker, aber auch in Bezug zum Beispiel auf Plotin oder auch Boethius erzielt worden sind, werden in den jeweiligen Kapiteln kritisch diskutiert werden, die sich diesen Denkern als Stationen auf dem Weg zur Entwicklung eines praktischen Prinzipienwissens widmen. Für die Diskussion dieser Literatur sei daher auf die jeweiligen Kapitel in dieser Arbeit verwiesen. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf den derzeitigen Forschungsstand feststellen, dass das hier untersuchte Thema bislang noch keiner eigenen Betrachtung unterzogen worden ist, sehr wohl aber einige Arbeiten vorliegen, die sich im Umkreis dieser Thematik bewegen beziehungsweise entscheidende Grundlagen für die hier angestellte Untersuchung bilden. Diese Untersuchung soll nun ihren Anfang nehmen, und zwar mit der klassischerweise an den Anfang der abendländischen Philosophie gestellten Tradition der περὶ φύσεως ἱστορία.
18 Vgl. u. a. Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, (Reihe: Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 39; = Univ. Diss. 2001), Amsterdam 2003; Peter Stemmer: Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, (Reihe: Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 31), Berlin/New York 1992; Rüdiger Bubner: „Theorie und Praxis bei Platon“, in: Ders.: Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt am Main 1992, S. 22–63; Christoph Horn: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998; Reinhart Klemens Maurer: Platons ‚Staat‘ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik, (= Univ. Habil.-Schr., Stuttgart, 1969), Berlin 1970; Otfried Höffe: Einführung in Platons Politeia“, in: Ders. (Hrsg.): Platon. Politeia, (Reihe: Klassiker auslegen, Bd. 7), Berlin 1997, S. 3–28. 19 Vgl. u. a. Wolfgang Wieland: „Norm und Situation in der aristotelischen Ethik“, in: Rémi Brague/ Jean François Courtine (Hrsg.): Herméneutique et Ontologie. Mélanges en hommage à Pierre Aubenque, Paris 1990, S. 127–145; Hellmut Flashar: „Die Platonkritik“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik, (Reihe: Klassiker auslegen, Bd. 2), Berlin 2006, S. 63–82. Otfried Höffe: Praktische Philosophie: Das Modell des Aristoteles, Berlin 1996; Andreas Luckner: Klugheit, Berlin 2005.
2 Die Philosophie als περὶ φύσεως ἱστορία Platon und Aristoteles bestimmen die frühe Philosophie beide als eine Form derjenigen Forschung (ἱστορία), deren Betrachtungsgegenstand in der φύσις der Dinge liegt.¹ Ist in diesem Zusammenhang von φύσις die Rede, so gilt zu beachten, dass dieser Begriff im Griechischen eine ganze Reihe verschiedener Bedeutungen umfasst. Dies macht eine Übersetzung ins Deutsche schwierig und gibt so Zeugnis von einer gewissen Vorliebe der φύσις, im Verborgenen zu bleiben. Bezüglich der unterschiedlichen Weisen, in denen φύσις dabei verwendet wird, führt Aristoteles in seinem „Wörterbuch philosophischer Begriffe“, dem Buch Δ der Metaphysik, nicht weniger als sechs Verwendungsformen auf.² So bezeichne der Begriff die Entstehung des Wachsenden; das Erste, woraus das (von sich aus) Wachsende seinen Anfang nimmt; sodann dasjenige, woher die Erste Bewegung bei einem jeden der von sich aus wachsenden Dinge kommt, insofern es ihm zukommt, es selbst zu sein. Ferner schreibe man φύσις den Dingen zu, die ihre Vermehrung dadurch erhalten, dass sie mit etwas anderem in Berührung stehen und zusammengewachsen oder angewachsen sind. Des Weiteren werde mit φύσις dasjenige bezeichnet, aus dem etwas ist oder wird, das nicht zu den (von sich aus) wachsenden Dingen gehört, wie man beispielsweise Erz als die φύσις einer aus Erz gefertigten Statue begreifen könne. Schließlich, so Aristoteles, könne man auch das „Wesen“ (οὐσία) einer Sache als deren φύσις bezeichnen, und zwar im Sinne der „angestammten Eigenheit, die etwas kennzeichnet in dem, was es ist“³. Angesichts dieser Fülle von Bedeutungen scheint es in der Tat schwierig, eine adäquate Übersetzung von „φύσις“ anzugeben, ohne wesentliche Inhalte des Begriffes unberücksichtigt zu lassen. Unternimmt man allerdings dennoch den Versuch einer Übersetzung, erweist es sich am sinnvollsten, von einem „Geworden-“ oder „Gewachsensein“ zu sprechen.⁴ Dies verhält sich deswegen so, weil eine Betrachtung
1 Während Platon dazu die Wendung περὶ φύσεως ἱστορία verwendet, bezeichnet Aristoteles die ihre Betrachtung auf die φύσις richtenden Forscher als φυσιόλογοι bzw. als φυσικοί. Vgl. Platon Protagoras 315c 5ff.; Phaidon 96a 5ff.; Aristoteles Physik 184b 17; 186a 20; 203b 15; Nikomachische Ethik 1147b 8f. 2 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1014b 16–1015a 19; vgl. dazu auch Jochen Althoff: Art. „physis“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 455–462. 3 Heribert Boeder: Grund und Gegenwart als Frageziel der frühgriechischen Philosophie, Den Haag 1962, S. 20. Aristoteles zufolge bezieht sich dies dabei sowohl auf den Stoff, aus dem etwas ist, als auch auf dessen Form. 4 Angelehnt ist diese Übersetzung an die Bernhard Uhdes, der das griechische περὶ φύσεως ἱστορία mit „des Gewordenen Erforschung“ wiedergibt. Vgl. dazu Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit. Versuch über Religion, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Freiburg 1982, S. 50f. Dafür, φύσις mit „Gewordensein“ zu übersetzen, spricht auch, dass man bei dieser Übersetzung das griechische Verb φύεσθαι mithört, von dem sich der Begriff der φύσις vermutlich herleitet. Vgl. Fritz-Peter Hager: Art: „Natur, I. (Antike)“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 421f.; vgl. auch die etymologischen Erläuterungen zum φύσις-Begriff in Jörn Müller: Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, Würzburg 2006, S. 15f.
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dessen, was im Deutschen als das „Gewordensein“ einer Sache bezeichnet werden kann, den Blick auf die unterschiedlichen Aspekte der Bedeutungen von φύσις eröffnet, die auch die aristotelische Analyse des φύσις-Begriffes benennt.⁵ So kommen mit einer derartigen Untersuchung Fragen auf wie beispielsweise, worin die Ursache des Gewordenseins einer Sache besteht, welches Material dem Werden zugrunde liegt oder auch was sich im Prozess des Werdens als ein Identisches durchhält.
2.1 Die Physis und die ἀρχαί τῶν πάντων Stellt sich das Gewordensein eines Gegenstandes als in diesem Sinn fragwürdig dar, ist dieses im platonisch-aristotelischen Verständnis das Ergebnis eines auf das Gewordensein bezogenen „Staunens“ (θαυμάζειν). Dieses ergibt sich seinerseits aus der Beobachtung von auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Phänomenen des Werdens und Vergehens. So wundern sich beispielsweise Sokrates und Theaitetos im gleichnamigen platonischen Dialog darüber, wie es möglich sei, dass etwas, obwohl es mit sich selbst identisch bleibt, dennoch kleiner oder größer werden kann als anderes.⁶ Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich ein solches Staunen aus der Beobachtung des Gewordenseins der Dinge ergibt, findet sich bei Aristoteles. In der Metaphysik erklärt er, dass das, was die frühen Philosophen in Erstaunen versetzt habe, unter anderem Veränderungen an den eigentlich unveränderlichen Gestirnen und das Werden des Alls gewesen seien.⁷ Da das in dieser Weise bestimmte Staunen den Impuls für die Beforschung der φύσις gibt, räumen ihm sowohl Platon als auch Aristoteles eine herausragende Stellung ein und betrachten es als den „Anfang des Philosophierens“ (ἀρχὴ φιλοσοφίας).⁸ Bestehen bleibt dieses Staunen nach Aristoteles dabei so lange, bis das für Verwunderung sorgende Gewordensein auf seine Ursachen und Gründe zurückgeführt wird, die zeigen, warum etwas so (geworden) ist, wie es ist.⁹ Wie Aristoteles darüber hinaus ausführt, sucht die frühe Philosophie im Rahmen ihrer Forschung allerdings nicht nach irgendwelchen Gründen, sondern nach dem „ersten Grund“ beziehungsweise den „ersten Gründen“ (τὰ πρῶτα αἴτια).¹⁰ Da sich
5 Dass die φύσις-Forschung in einem engen Zusammenhang mit der Betrachtung des Werdens und Vergehens der Dinge steht, zeigt u. a. Platons Philebos 59a 2–5: „εἴ τε καὶ περὶ φύσεως ἡγεῖταί τις ζητεῖν͵ οἶσθ΄ ὅτι τὰ περὶ τὸν κόσμον τόνδε͵ ὅπῃ τε γέγονεν καὶ ὅπῃ πάσχει τι καὶ ὅπῃ ποιεῖ͵ ταῦτα ζητεῖ διὰ βίου; φαῖμεν ἂν ταῦτα͵ ἢ πῶς;“ 6 Vgl. Platon Theaitetos 154b 10–155c 10, besonders 155c 9. 7 Vgl. Aristoteles Metaphysik 982b 11–17. 8 Vgl. Platon Theaitetos 155d 3; Aristoteles Metaphysik 982b 11–13; 983a 13–17. 9 Vgl. Aristoteles Metaphysik 983a 16f. 10 Vgl. ebd. 981b 27–29; auch 982b 7–9: „ἐξ ἁπάντων οὖν τῶν εἰρημένων ἐπὶ τὴν αὐτὴν ἐπιστήμην πίπτει τὸ ζητούμενον ὄνομα· δεῖ γὰρ ταύτην τῶν πρώτων ἀρχῶν καὶ αἰτιῶν εἶναι θεωρητικήν“. Hinsichtlich der Zahl der Prinzipien herrschte, wie Aristoteles anmerkt, bei den die φύσις Erforschenden
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alles Gewordensein auf diesen ersten Grund beziehungsweise diese ersten Gründe zurückführen lässt, bezeichnen die ersten Philosophen diesen Grund auch als die ἀρχὴ πάντων, als das „Prinzip von allem“. Denn „das, woraus aber [alles, T. J.] wird, das ist das Prinzip von allem“ (τὸ δ᾽ ἐξ οὗ γίγνεται, τοῦτ᾽ ἐστὶν ἀρχὴ πάντων)¹¹. Trotz der deutlich erkennbaren Prägung durch die philosophische Terminologie des Aristoteles benennt sein Bericht hier ein wichtiges Charakteristikum, das die frühe Philosophie von anderen Formen der ihr verwandten περὶ φύσεως ἱστορία unterscheidet. Suchten nämlich auch andere φύσις-Forscher wie Hippokrates oder Herodot nach Ursachen und Gründen, die das erstaunlich Gewordene der φύσις erklären sollten, blieb ihre Betrachtung doch stets auf einzelne Phänomene im Bereich des Gewordenseins beschränkt. So berichtet beispielsweise Herodot in den Historien von seinen Erkundungen der φύσεις einer Nilschwemme oder einer Schlangenart und Hippokrates davon, wie er den Südwind und das Regenwasser untersucht habe.¹² Im Unterschied dazu verlässt die philosophische Betrachtung der ἀρχὴ πάντων den Bereich des Vereinzelten und sucht stattdessen nach einem allgemeinen Wissen, das sich als solches insofern auf alles (πάντα) bezieht, als sich gemäß einem solchen Denken alles in seinem Gewordensein auf einen oder mehrere erste Gründe zurückführen lässt.¹³ So ist „der Weise“ (ὁ σοφός) Aristoteles zufolge derjenige, der „alles weiß“ (ἐπίστασθαι πάντα), indem er, ausgehend von seiner Einsicht in die ἀρχή, alles in einen universal gültigen „Begründungszusammenhang“ (λόγος)¹⁴ zu stellen vermag, ohne sich dabei in den vielen Einzelwissenschaften zu verlieren.¹⁵ In seiner Eigenschaft als „Allwissender“ kommt der Weise somit in höchster Weise der sich bereits bei Platon findenden Forderung des λόγον διδόναι nach.¹⁶
nicht immer Einigkeit, vgl. ebd. 983b 18–20: „τὸ μέντοι πλῆθος καὶ τὸ εἶδος τῆς τοιαύτης ἀρχῆς οὐ τὸ αὐτὸ πάντες λέγουσιν.“ 11 Ebd. 983b 24f. 12 Vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 20. 13 Vgl. Aristoteles Metaphysik 983a 25f.: „τότε γὰρ εἰδέναι φαμὲν ἕκαστον͵ ὅταν τὴν πρώτην αἰτίαν οἰώμεθα γνωρίζειν (...)“; vgl. zudem Metaphysik 982a 21–23: „τούτων δὲ τὸ μὲν πάντα ἐπίστασθαι τῷ μάλιστα ἔχοντι τὴν καθόλου ἐπιστήμην ἀναγκαῖον ὑπάρχειν (οὗτος γὰρ οἶδέ πως πάντα τὰ ὑποκείμενα).“ Auch Platon bringt diesen Gedanken zum Ausdruck, wenn er den κόσμος als den Gegenstand der περὶ φύσεως ἱστορία angibt; vgl. Platon Philebos 59a 2–5. Unter κόσμος ist in diesem Zusammenhang die „Welt“ im Sinne der Gesamtheit alles Gewordenen zu verstehen, die insofern eine „Ordnung“ und einen „Schmuck“ darstellt, als sie auf erste Prinzipien hingeordnet ist; zu den Wortbedeutungen von κόσμος, vgl. A Greek-English Lexicon, compiled by Henry G. Liddell and Robert Scott, Oxford 1968, S. 983f.; zu Platons κόσμος-Begriff, vgl. auch Michael Hoffmann: Die Entstehung von Ordnung. Zur Bestimmung von Sein, Erkennen und Handeln in der späteren Philosophie Platons, (Reihe: Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 81), Stuttgart/Leipzig 1996. 14 Bezüglich der Übersetzung des bekanntermaßen nur schwer übertragbaren griechischen Begriffes λόγος folge ich dem Vorschlag Bernhard Uhdes, der λόγος im Deutschen mit „Begründungszusammenhang“ wiedergibt. 15 Vgl. Aristoteles Metaphysik 982a 8–10. 16 Zu Platon, vgl. u. a. Phaidon 101d 6; Politeia 510c 3; 533c 2f.
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Überdies ergibt sich Aristoteles zufolge aus der Einsicht in den ersten Grund von allem nicht nur ein allgemeines, sondern auch ein sicheres Wissen im Sinne einer „wissenschaftlichen Erkenntnis“ (ἐπιστήμη)¹⁷. Unter ἐπιστήμη versteht Aristoteles dabei eine Form der durch den „rationalen Seelenteil“ (μέρος ἐπιστημονικόν) vollzogenen Erkenntnis der Wahrheit, die sich von anderen Formen derartiger Erkenntnis vor allem durch ihren Gegenstand unterscheidet. So kommt als möglicher Gegenstand der ἐπιστήμη laut Aristoteles nur etwas in Frage, das sich nicht anders verhalten kann und demzufolge notwendig und ewig ist.¹⁸ Nur ein solches könne Objekt sicheren Wissens sein, da man von etwas, das sich auch anders verhalten kann, nicht wissen könne, ob und wie es der Fall ist, wenn es der „(unmittelbaren) Anschauung“ (θεωρία) entzogen ist.¹⁹ Dies hat zur Folge, dass sich aristotelisch gedacht in Bezug auf einen solchen Gegenstand kein (sicheres) Wissen gewinnen lässt. Im Unterschied dazu sind die „Ersten [Prinzipien] und die Ursachen“ (τὰ πρῶτα καὶ τὰ αἴτια) „im höchsten Sinne erkennbar“ (μάλιστα ἐπιστητά);²⁰ wird doch durch sie und aus ihnen alles andere, sie selbst jedoch nicht durch das durch sie Begründete²¹ erkannt. Die ersten Prinzipien sind, wie die im Nachsatz angegebene Begründung des Aristoteles zeigt, deswegen zuhöchst erkennbar, weil sie als erste Gründe selbst nicht bedingt sind und mithin auch keiner Veränderung unterliegen können. Dementsprechend ist es unmöglich anzunehmen, dass es eine Ursache gebe, die die ersten Ursachen in ihrem Sein in irgendeiner Weise begründen oder bedingen könnte, indem sie beispielsweise Ursache einer möglichen Veränderung derselben oder der Grund für ihre Unveränderlichkeit wäre.²² Eine solche Annahme wäre insofern selbstwidersprüchlich, als in diesem Fall die πρώτη αἰτία erste Ursache wäre und zugleich nicht wäre. Aufgrund ihrer kausalen Unbedingtheit sind die Ersten Prinzipien folglich auch unveränderlich, notwendig und ewig und mithin im höchsten Sinne Gegenstände eines sicheren Wissens in Form der ἐπιστήμη. Da die Philosophie die Liebe zu der-
17 Der Begriff ἐπιστήμη kann im Griechischen u. a. sowohl „Wissenschaft“ als auch „Wissen“ bedeuten und kommt kontextabhängig auch bei Aristoteles in beiderlei Verwendungsweisen vor; vgl. z. B. Metaphysik 982a 32–982b 3 im Unterschied zu Nikomachische Ethik 1139b 18–36. Die Übersetzung „wissenschaftliche Erkenntnis“ stammt aus Franz Dirlmeiers Übersetzung zu der zitierten Stelle in Aristoteles. Nikomachische Ethik, Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmidt, Stuttgart 2006, und wird hier als Grundübersetzung verwendet, die die beiden angesprochenen Aspekte von ἐπιστήμη in einem Kompromiss umgreifen soll. 18 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1139b 18–24. 19 Vgl. ebd. 1139b 21f. Das Wissen und Sagen dessen, wie es ist bzw. was der Fall ist, wird vor allem im Kontext der Betrachtungen zur parmenideischen Philosophie thematisiert werden. 20 Aristoteles Metaphysik 982b 2f. 21 Wörtlich spricht Aristoteles vom „Unterliegenden“ oder „Untergeordneten“ (τὸ ὑποκείμενον). 22 Der Gedanke, dass die ersten Prinzipien Ursachen ihrer selbst sein könnten, ist ebenfalls von der Hand zu weisen, da in diesem Fall die Prinzipien nicht als ganze erste Prinzipien wären, sondern nur ein Teil von ihnen erste Ursache genannt werden könnte.
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jenigen „Weisheit“ (σοφία)²³ ist, die sich auf die Ersten Prinzipien bezieht,²⁴ kommt ihr nach Aristoteles der Rang der „höchsten Wissenschaft“²⁵ (μάλιστα ἐπιστήμη) zu.²⁶ An der Spitze stehend, ist sie die „Wissenschaft von den erhabensten Dingen“²⁷, aus deren Erkenntnis²⁸ eine Einsicht in ein sicheres Wissen erwächst. Zu seiner Sicherheit kommt dem im Rahmen der „Prinzipienforschung“ gesuchten Wissen auch die Eigenschaft zu, in dem Sinne vermittelbar zu sein, dass es möglich ist, anderen einsichtig zu machen, warum es so sein muss, wie es vorgetragen wird. Wie leicht zu sehen und hier schon durch den Sprachgebrauch angedeutet ist, hängt die Vermittelbarkeit der Einsicht in ein Erstes Prinzip beziehungsweise mehrerer Erster Prinzipien mit der bereits erörterten Begründbarkeit des vorgetragenen Wissens zusammen. Ein Wissen ist nämlich nach Aristoteles nur dann ein solches und infolgedessen auch vermittelbar, wenn der es Vertretende einen oder mehrere Gründe dafür angeben kann, weshalb es, das Gewusste, so ist, wie er es zu wissen behauptet. Damit unterscheidet sich sowohl Platon als auch Aristoteles zufolge das Wissen insofern von der Erfahrung (ἐμπειρία), als diese nur eine Kenntnis verschiedener Einzelfälle hat und an den Erfahrenden gebunden ist, der nicht weiß, weshalb das Erfahrene so ist, wie er es erfahren hat, sondern nur, dass es so ist, wie es sich ihm in der Erfahrung darstellt. Kann man dagegen einen Grund dafür angeben, warum etwas sich so verhält, wie es zu sein behauptet wird, so ist es einem anderen nachvollziehbar, weshalb es in der Tat so sein könnte.²⁹ Die hier vorgenommene Einschränkung, dass es in diesem Fall so sein könnte, spielt auf einen Unterschied an, den Aristoteles in Bezug auf die verschiedenen Formen des begründeten Wissens zieht. So differenziert er zwischen einem begründeten Wissen, das zwar einen Grund angeben kann, das aber nicht aufzeigt, weshalb es notwendigerweise so ist, wie es gewusst wird, und einem Wissen, das sich als ein notwendiges begründen lässt. In aristotelischer Terminologie gesprochen, markiert dieses den Unterschied zwischen einer τέχνη und einer ἐπιστήμη, wobei die Einsicht in ein erstes, allbegründendes Prinzip logischerweise die höchste Form der ἐπιστήμη darstellt.³⁰
23 Wie aus der Nikomachischen Ethik hervorgeht (VI 1141a 9ff.), umfasst der Begriff der „Weisheit“ nicht nur die höchste Form menschlicher Erkenntnis, sondern auch hohe Formen des Könnens wie beispielsweise im Bereich der Künste. 24 Aristoteles Metaphysik 981b 27–29; vgl. auch Nikomachische Ethik VI 1140b 18. 25 Wie der Kontext zeigt, ist ἐπιστήμη an dieser Stelle mit „Wissenschaft“ zu übersetzen. 26 Aristoteles Metaphysik 982a 32–982b 3. Wörtlich spricht Aristoteles davon, dass die Philosophie am meisten Wissenschaft sei. 27 Aristoteles Nikomachische Ethik 1141a 18-22. 28 Wie noch zu zeigen sein wird, ist dieser Genitiv ein subiectivus et obiectivus. 29 Vgl. dazu ebd. 981a 1–981b 20. 30 Vgl. ebd. 981a 1–982a 3; Nikomachische Ethik 1139b 14ff. vgl. zur ἐπιστήμη als einem „wissenschaftlichen Wissen“ auch Otto Langer: „Aristoteles und die Folgen. Zur Rezeption der aristotelischen Logik
Thales – der erste Philosoph
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Zusammenfassend lässt sich folglich sagen, dass die περὶ φύσεως ἱστορία eine bestimmte „Art der Philosophie“³¹ darstellt, die als eine auf die ersten Prinzipien bezogene Wissenschaft nach einer Einsicht in ein allgemeines, sicheres und als notwendig vermittelbares Wissen sucht. Ihrem Selbstverständnis gemäß erreicht diese Wissenschaft dabei insofern ihr Ziel, als ihr mit der Angabe eines oder mehrerer solcher Prinzipien tatsächlich eine Einsicht in ein derartiges Wissen gelingt. Infolgedessen ist sie imstande, eine Antwort auf die dieser Art von Philosophie zugrundeliegende Frage nach dem zu geben, „was wir sicher wissen können“³².
2.2 Thales – der erste Philosoph Der Erste nun, der ein solches Erstes Prinzip von allem angegeben hat und mithin als Urheber dieser Art von Philosophie angesehen werden kann, ist nach der Tradition Thales von Milet.³³ Wie Aristoteles berichtet, vertrat Thales die Auffassung, dass das Wasser (ὕδωρ) als das Prinzip (ἀρχή) allen Gewordenseins zu betrachten sei, „(...) weshalb er“, so Aristoteles weiter, „auch erklärte, dass die Erde auf dem Wasser sei (...)“³⁴. Interessant ist an dieser Stelle, dass Thales – zumindest in der aristotelischen Darstellung – aus seiner Einsicht in ein Erstes Prinzip Begründungsverhältnisse ableitet und sich so gegen die zu seiner Zeit allgemein herrschende Auffassung wendet, gemäß derer das Wasser auf der Erde ruht.³⁵ Indem er so vorgeht und die ihm begegnenden Phänomene aus ihrem ersten Grund heraus zu verstehen sucht, verwirklicht Thales das Ziel der Philosophie, einen „λόγος zu geben“.
und Wissenschaftstheorie im 12. und 13. Jahrhundert“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 53 (2006) 1/2, S. 565f. Mit Bezug auf Aristoteles Zweite Analytik 71a 1–89b 20 erklärt Langer: „Wissenschaftliches Wissen ist, wie Aristoteles insbesondere im ersten Buch der Zweiten Analytik darstellt, begründetes Wissen und Ausdruck für einen Sachverhalt, der nicht anders sein kann, eine ‚Notwendigkeitsbehauptung‘. ‚Wir meinen etwas zu wissen (…), wenn wir erstens die Ursache zu kennen meinen, wodurch ein Sachverhalt ist (…), und wenn wir zweitens meinen, daß es sich nicht anders verhalten kann‘ (71b 9–12).“ Zum Begriff der „Notwendigkeitsbehauptung“, vgl. den von Langer zitierten Heinrich Scholz: „Die Axiomatik der Alten“, in: Blätter für Deutsche Philosophie 4 (1930/31), S. 259–278, hier S. 263. 31 Aristoteles selbst legt Wert darauf, dass es sich im Fall der περὶ φύσεως ἱστορία um eine bestimmte Art der Philosophie handelt und nicht um „die“ Philosophie im Allgemeinen, vgl. Metaphysik 983b 20f.: „(...) ἀλλὰ Θαλῆς μὲν ὁ τῆς τοιαύτης ἀρχηγὸς φιλοσοφίας ὕδωρ φησὶν εἶναι.“ Trotz einiger Gemeinsamkeiten unterscheidet sich diese Art von Philosophie in vielen Punkten sehr von derjenigen, die Aristoteles selbst vertritt. Dies zeigt beispielsweise die von Aristoteles geäußerte Kritik an den Lehren der ersten Philosophen, wie sie etwa in Metaphysik 984b 8ff. zu finden ist. 32 Inwiefern diese Frage als die Grundfrage der Metaphysik anzusehen ist, ist bereits in der Einleitung erörtert worden. 33 Vgl. Aristoteles Metaphysik 983b 20f. 34 Ebd. 983b 21f.; dazu De Caelo 294a 28. 35 Vgl. Walter Bröcker: Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, Frankfurt am Main 1965, S. 11.
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Die Philosophie als περὶ φύσεως ἱστορία
Darüber hinaus spekuliert Aristoteles im weiteren Verlauf seines Referates über die Lehren des Thales auch über mögliche Gründe, die Thales dazu bewogen haben mögen, das Wasser als Prinzip zu betrachten.³⁶ Vielleicht, so Aristoteles, sei Thales zu seiner Ansicht gekommen, (...) weil er beobachtet hatte, dass die Nahrung aller Dinge feucht ist und auch das Warme selbst aus dem Feuchten geworden ist und durch dieses lebt (...) und weil die Samen aller Dinge feuchter Natur sind, das Wasser aber dem Feuchten Prinzip seiner Natur ist.³⁷
Aristoteles’ Ausführungen über den Ursprung der Annahme des Thales sind insofern relevant, als sie einen weiteren, nach aristotelischem Verständnis wesentlichen Zug sowohl der frühen als auch der Philosophie im Allgemeinen aufzeigen. So ist die Philosophie nicht nur deswegen als eine Begründungswissenschaft zu begreifen, weil sie nach einer Einsicht in die ersten Prinzipien und damit in einen allgemeinen Begründungszusammenhang sucht, sondern auch, weil sie ihre Auffassung darüber, was als der erste Grund von allem anzusehen ist, in begründender Weise darlegt. Folglich hat das λόγον διδόναι zwei Seiten, von denen sich die eine auf den Gegenstand der Forschung bezieht, während die andere den zu einer Sache gegebenen λόγος selbst als „logisch“ zu erweisen sucht. Wie die aristotelische Spekulation über die möglichen Gründe für die Annahme des Thales des weiteren zeigt, wird dieser, die Einsicht in das Prinzip begründende Erweis von den ersten Philosophen vor allem im Anhalt an das sinnliche Vernehmen der gewordenen Welt³⁸ erbracht. So beobachten φυσιόλογοι wie Thales im Rahmen ihrer Forschung die Welt hinsichtlich ihres Gewordenseins und ziehen aus ihren Betrachtungen Rückschlüsse über das oder die Prinzipien desselben.³⁹ Dieses Vorgehen sollte sich im weiteren Verlauf der Entwicklung der περὶ φύσεως ἱστορία zum einen als charakteristisch für diese Form von Forschung erweisen, zum anderen aber auch als ein Anhaltspunkt für die sich an dieser Art von Philosophie entwickelnde Kritik dienen. Was die Relevanz des von der περὶ φύσεως ἱστορία vorgetragenen Wissens für die menschliche Praxis betrifft, so gibt es keine Zeugnisse darüber, dass die „Physiologen“ diese Frage eigens thematisiert hätten. Obwohl daraus nicht notwendig zu schlie-
36 Vgl. Aristoteles Metaphysik 983b 20ff. 37 Ebd. 983b 22–27: „(…) λαβὼν ἴσως τὴν ὑπόληψιν ταύτην ἐκ τοῦ πάντων ὁρᾶν τὴν τροφὴν ὑγρὰν οὖσαν καὶ αὐτὸ τὸ θερμὸν ἐκ τούτου γιγνόμενον καὶ τούτῳ ζῶν (τὸ δ΄ ἐξ οὗ γίγνεται͵ τοῦτ΄ ἐστὶν ἀρχὴ πάντων) διά τε δὴ τοῦτο τὴν ὑπόληψιν λαβὼν ταύτην καὶ διὰ τὸ πάντων τὰ σπέρματα τὴν φύσιν ὑγρὰν ἔχειν͵ τὸ δ΄ ὕδωρ ἀρχὴν τῆς φύσεως εἶναι τοῖς ὑγροῖς.“ 38 Die „Welt“ ist hier im Sinne des bereits erläuterten κόσμος-Begriffes aufzufassen. 39 Vgl. die bereits angeführte Aussage des Aristoteles, dass Thales unter anderem deswegen zu der Annahme gekommen sei, dass das Wasser das Prinzip von allem sei, da er gesehen (ὁρᾶν) habe, dass die Nahrung aller Dinge feucht ist usf., vgl. Aristoteles Metaphysik 983b 22–27.
Thales – der erste Philosoph
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ßen ist, dass sich Denker wie Thales nicht auch mit diesem Aspekt des von ihnen als sicher dargestellten Wissens beschäftigt haben, legen doch Passagen aus Platons und Aristoteles’ Werken den Gedanken nahe, dass es auch ihnen nicht unmittelbar einsichtig war, wie das Wissen der frühen Philosophie von Relevanz für die Praxis des Menschen gewesen sein sollte.⁴⁰ Wie diese Passagen genauerhin zu interpretieren sind, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch erörtert werden. Festzuhalten ist aber an dieser Stelle bereits, dass das Anliegen der περὶ φύσεως ἱστορία, eine Einsicht in ein begründetes und sicheres Prinzipienwissen zu gewinnen, von zentraler Bedeutung für die hier verhandelte Fragestellung ist; wird doch hier die Grundlage für den Versuch einer Einsicht in ein Prinzipienwissen im Bereich der Praxis gelegt, indem zum ersten Mal überhaupt die Möglichkeit eines prinzipiellen Wissens zur Sprache gebracht wird. Zwischen dieser ersten Station auf dem Weg zu einem prinzipiellen Wissen im Bereich der Praxis und dem Beitrag, den Boethius in diesem Zusammenhang leisten wird, ist eine ganze Reihe von Zwischenschritten zu verzeichnen – einen äußerst wichtigen Schritt stellen dabei die Überlegungen des Parmenides dar.
40 Vgl. Platon Hippias Maior 281a–283b und Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 3–8, in beiden Fällen wird bei der in diese Richtung weisenden Kritik an der Philosophie gerade auf die περὶ φύσεως ἱστορία abgehoben und Thales als ihr Urheber und Anaxagoras als ein zeitgenössischer Vertreter dieser Art der Prinzipienforschung eigens erwähnt. Während die aristotelische Kritik in diesem Zusammenhang eindeutig ist, könnte man mit Blick auf den Hippias Maior vorbringen, dass der sich dort findende Einwand nicht etwa Sokrates, sondern dem Sophisten in den Mund gelegt wird. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass der besagte Einwand im weiteren Verlauf des Dialogs nicht weiter thematisiert und infolgedessen auch nicht widerlegt wird. Als Fazit kann man daher an dieser Stelle ziehen, dass Platon die besagte Kritik an der φύσις-Forschung gleichsam so stehen lässt.
3 Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit Die sich von Thales an entwickelnde Philosophie gibt immer neue Antworten auf die Frage, wie es sich mit dem Ersten Prinzip oder den Ersten Prinzipien verhält, ausgehend von denen sie Einsichten in die sich aus den Prinzipien ergebenden Ordnungen des Gewordenseins zu gewinnen sucht. Schon bald jedoch wird diese Art der Prinzipienforschung einer Kritik unterzogen, die die Frage aufwirft, inwiefern der Mensch überhaupt in der Lage ist, die Gesamtheit des Gewordenen hinsichtlich seiner Prinzipien einzusehen.¹ Wie Heribert Boeder vermutet, stellt bereits Pythagoras von Samos derartige „erkenntnistheoretische“ Überlegungen an, in expliziter Weise finde sich die Fragestellung allerdings erst bei Xenophanes von Kolophon.² Fragwürdig wird hier die von der überkommenen Philosophie behauptete Sicherheit ihres Wissens, aufgrund dessen sie den Anspruch erhebt, sagen zu können, „wie es ist“, und mithin eine Einsicht in die „Wahrheit“ gewonnen zu haben.³ Eben diese Frage nach der „Wahrheit“ (ἀλήθεια) steht nun im Mittelpunkt des Denkens des Parmenides,⁴ auf welches im Folgenden kurz einzugehen sein wird, da die Geschichte der Entwicklung philosophischen Prinzipienwissens eine entscheidende Wendung mit diesem Denker nimmt.⁵ Wie Diogenes Laertios berichtet, verfasste Parmenides nur eine einzige Schrift in Form eines Lehrgedichtes,⁶ das wohl mit dem zu dieser Zeit verwendeten Standardtitel περὶ φύσεως überschrieben war und in fragmentarischer Form bei Sextus Empiricus und Simplikios erhalten ist.⁷
3.1 Das Proömium Im Proömium des Gedichtes beschreibt Parmenides mit Hilfe verschiedener Sprachbilder,⁸ wie er auf einem von Stuten gezogenen Wagen in Begleitung heliadi-
1 Vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 118. 2 Vgl. ebd.; zudem Xenophanes B34. 3 Vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 118. 4 Vgl. ebd. 5 Es würde über den Rahmen der hier zu unternehmenden Betrachtung hinaus gehen, eine Gesamtdarstellung der parmenideischen Philosophie zu geben. Daher sollen im Folgenden nur einige zentrale Aspekte seines Denkens herausgegriffen werden, die für die hier verhandelte Thematik relevant sind. 6 Vgl. Parmenides A13. 7 Vgl. ebd. A14. 8 Dieses sei gegen Jaap Mansfeld bemerkt, der die Auffassung vertritt, das Proömium sei, wie er schreibt, „buchstäblich“ zu verstehen, vgl. Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, (Reihe: Wijsgerige teksten en studie, Bd. 9; = Univ. Diss., Utrecht, 1964), Assen 1964, S. 223; vgl. auch die Forschungsdiskussion Walter Burkerts dazu: „Das Proömium des Parmenides und die Katabasis
Das Proömium
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scher Jungfrauen (Ἡλιάδες κοῦραι)⁹ den Bereich des sich in Gegensätzen auslegenden Gewordenen verlässt, das noch der περὶ φύσεως ἱστορία als Anhaltspunkt für die Ausbildung ihres Wissens gedient hatte.¹⁰ Als ein von Gegensätzen bestimmtes ist das Reich des Gewordenen, in dem Parmenides seine Reise beginnt, Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung, wie die lebendige Beschreibung des durch das Aneinanderreiben von Nabe und Achse entstehenden durchdringenden Tones, des Herumwirbelns der Räder und des noch zu deutenden Bildes des Tores verdeutlicht.¹¹ Mit der Absicht, diese Welt des Gegensatzes hinter sich zu lassen, begibt sich Parmenides, geleitet von den Heliaden-Jungfrauen, auf „(...) den vielsagenden (oder viel besprochenen) Weg der Dämonin“, der den „wissenden Mann über alle Städte trägt“¹². Sein Weg führt
des Pythagoras“, in: Phronesis 14 (1969), S. 1–30. 9 Parmenides B1. 10 Der Bereich des Gewordenseins erweist sich nach Parmenides vor allem dadurch als ein von Gegensätzen durchzogener, dass „Licht und Nacht“ (φάος καὶ νύξ) bzw. „das Helle“ (τὸ λαμπρόν) und „das Dunkle“ (τὸ σκοτεινόν) als alles durchdringende Gegensätze in ihm herrschen und alles aus ihnen besteht (vgl. Parmenides B10, B8 und B9). In ihrer Gestalt als Wärme und Kälte bedingen Licht und Nacht dabei sogar die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, vgl. Parmenides A46. Zur Gegensätzlichkeit der diesseits des Tores liegenden Welt und der Bilder, die Parmenides zu deren Beschreibung verwendet, vgl. Karl Deichgräber: Parmenides’ Auffahrt zur Göttin des Rechts. Untersuchungen zum Prooimion seines Lehrgedichts, (Reihe: Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, 1958,11), Wiesbaden 1959, S. 38f. (= 666f.); zur Charakterisierung der durch Licht und Nacht bedingten menschlichen Erkenntnis, vgl. auch Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 137–139; zur durch den Weg des Parmenides beschriebenen Absatzbewegung von der überkommenen Philosophie, vgl. Karl Deichgräber: „Parmenides’ Auffahrt zur Göttin des Rechts“, S. 654. 11 Vgl. Parmenides B1, 6–8 sowie 11–21; zum Verlassen des Bereichs des sinnlich Wahrnehmbaren, vgl. Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hrsg. von Franz Tietze, München 1960, S. 161. Die Beschreibung des Tones ist möglicherweise als eine Reminiszenz an Heraklits Rede von der „widerstrebenden Harmonie“ des Gegensatzes zu deuten, wie sie sich nach Heraklit im Fall von Bogen und Leier zeigt, vgl. Heraklit B5. Dieser Verweis auf Heraklit könnte als weiteres Indiz für die von Parmenides vertretene These der Gegensätzlichkeit der gewordenen Welt gewertet werden. 12 Vgl. Parmenides B1: „(...) ἐπεί μ΄ ἐς ὁδὸν βῆσαν πολύφημον ἄγουσαι δαίμονες͵ ἣ κατὰ πάντ΄ ἄστη φέρει εἰδότα φῶτα.“ Einige interessante Aspekte beinhaltet in diesem Zusammenhang das Bild der „heliadischen Jungfrauen“ (Ἡλιάδες κοῦραι), die sich, ihre Jungfräulichkeit bewahrend, insofern aus dem Bereich des Gegensätzlichen heraushalten, als sie sich nicht mit dem ihnen hinsichtlich ihrer Weiblichkeit entgegenstehenden Gegensatz, dem Männlichen, verbinden. Als sich dem Gegensatz in dieser Weise entziehende erweisen sie sich als geeignete Wegführerinnen hin zu einem Wissen, das, wie das Gedicht des Parmenides im Weiteren zeigt, in der Gegensatzlosigkeit einzusehen ist. Von Bedeutung ist zudem, dass Parmenides die ihm den Weg weisenden Jungfrauen als zu Helios gehörig beschreibt. So verfügt der in seinem goldenen Wagen über den Himmel fahrende Helios über die Fähigkeit, alles zu sehen, was ihm eine herausragende Stellung bezüglich seines Wissens einräumt, an der auch die zu ihm gehörigen Jungfrauen teilhaben. Als Beispiel hierfür, vgl. Homerische Hymnen 2, 60–75 sowie Odyssee 12, 320–324: „ὦ φίλοι͵ ἐν γὰρ νηῒ θοῇ βρῶσίς τε πόσις τε ἔστιν͵ τῶν δὲ βοῶν ἀπεχώμεθα͵ μή τι πάθωμεν· δεινοῦ γὰρ θεοῦ αἵδε βόες καὶ ἴφια μῆλα͵ Ἠελίου͵ ὃς πάντ΄ ἐφορᾷ καὶ πάντ΄
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Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit
ihn dabei an das „Tor der Bahnen der Nacht und des Tages“, über welches Δίκη, die Göttin des Rechtes, die Schlüsselgewalt hat und das die Grenze bildet zwischen dem Reich des Gegensatzes und dem der Gegensatzlosigkeit, indem es „(...) den Gegensatz von Nacht und Tag und damit den die sichtbare Welt bestimmenden Unterschied vereint“¹³. Dass das Tor in der Tat die Grenze zwischen der Welt des Gegensatzes und dem Bereich der Gegensatzlosigkeit markiert, zeigt sich des Weiteren anhand dessen, dass es von Δίκη bewacht wird; ist sie doch als die Personifikation des Rechts diejenige, die für den Ausgleich der Gegensätze sorgt und den Bestand dieses Ausgleiches sichert, was Parmenides durch die bereits angesprochene Vereinigung der Grundgegensätze von Tag und Nacht bedeutet, die sich an dem Tor der Δίκη vollzieht.¹⁴ Nun ist das Tor nicht nur die Stätte der Berührung von Nacht und Tag, deren Bahnen durch die Göttin des Rechtes geregelt werden. Auch der nach Einsicht Suchende, der seine Reise im Reich der Gegensätze beginnt, kann nur mittels des durch das Recht bewirkten Ausgleiches der Gegensätze in die Gegensatzlosigkeit eintreten, in der nach Parmenides erst die Einsicht in das, „wie es ist“, möglich ist.¹⁵ Hinsichtlich dieses Überganges fällt auf, dass er nicht erzwingbar ist, dass Parmenides nicht einmal selbst darum bitten kann, durch das Tor eingelassen zu werden.¹⁶ Vielmehr sind es die Heliaden, die an seiner Stelle „mit sanften Worten auf die Göttin des Rechts einreden“ und sie „in umsichtiger Weise überzeugen“, ihrem Begleiter Einlass zu gewähren.¹⁷ Die darauf folgende sehr detailreiche Schilderung der Öffnung des Tores, die sich auf das sinnlich Wahrnehmbare dieses Vorgangs konzentriert, steht in starkem Kon-
ἐπακούει. ὣς ἐφάμην͵ τοῖσιν δ΄ ἐπεπείθετο θυμὸς ἀγήνωρ“; auf die Nähe der Beschreibung der Heliaden und der bei Hesiod beschriebenen Musen weist u. a. Walter Burkert hin: „Das Proömium des Parmenides und die Katabasis des Pythagoras“, S. 8, hin. 13 Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit. Studien zur Geschichte der Ersten Philosophie, Teil I: Von den Anfängen bis zu Aristoteles, Wiesbaden 1976, S. 21. 14 Vgl. Anaximander B1, ebenfalls zitiert bei Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 10. Δίκη führt diesen Ausgleich dadurch herbei, dass sie einem jedem gibt, was ihm naturgemäß oder aufgrund seiner Taten zusteht, vgl. dazu Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, S. 170f.; vgl. zudem Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 140. 15 Erst nachdem Parmenides das Tor durchfahren hat, eröffnet ihm die Göttin den Weg des „wie es ist“, der zur Einsicht in die Wahrheit führt. Vgl. zudem Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 21. 16 Vgl. Parmenides B1, 15–17. 17 Da das Recht in Entsprechung zu dem, „wie es ist“, auszuüben ist, ergibt es sich, dass die über das Wissen des Helios verfügenden Jungfrauen die für ein begründetes Wissen stehenden λόγοι vortragen – vgl. Karl Deichgräber: „Parmenides’ Auffahrt zur Göttin des Rechts“, S. 661 – und anstelle des noch unwissenden Parmenides um Einlass bitten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die κοῦραι, wie es bei Parmenides heißt, „mit sanften Worten auf die Göttin einreden“ und sie „in umsichtiger Weise überzeugen“. Dass die Heliaden Δίκη gerade in dieser Weise zu überzeugen suchen, ist insofern von Bedeutung, als die Jungfrauen damit darauf achten, keinen Gegensatz zum Recht aufkommen zu lassen, der ihnen und ihrem Begleiter den Eintritt in die Gegensatzlosigkeit verwehren würde.
Das Proömium
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trast dazu, dass Parmenides, auf der anderen Seite des Tores angekommen, jegliche Beschreibung von sinnlich Wahrnehmbaren unterlässt.¹⁸ Wie dieses Sprachbild zeigt, verlässt Parmenides mit dem Durchfahren des Tores den „überkommenen Gegenstandsbereich der Philosophie“¹⁹, die ihre Erkenntnisse im Anhalt an die durch die Sinne vermittelte Betrachtung der Welt des Gewordenen gewonnen hatte.²⁰ Ein weiterer Unterschied zu dieser Welt besteht darin, dass sich, wie bereits angemerkt, die auf der anderen Seite des Tores liegende Sphäre nicht in Gegensätzen auslegt.²¹ So wird der Reisende jenseits des Tores freundlich von der nicht mit Δίκη gleichzusetzenden namenlosen „Göttin“ (θεά) begrüßt,²² die seine Rechte ergreift und anders als die Göttin des Rechts selbst mit ihm spricht. Dabei eröffnet sie Parmenides, dass es ihm anstehe, „alles zu erfahren“, was in dem Sinne auffällig ist, als damit der in Hinsicht auf das Wissen bestehende Gegensatz zwischen Gott und Mensch, wie er bei einigen Dichtern gedacht wird,²³ in den Unterschied überführt und Parmenides bezüglich seines Wissens zum Göttlichen emporgehoben wird. Für das Wissen ist der von Parmenides geschilderte Übergang in die Gegensatzlosigkeit zudem deswegen wichtig, weil anders als in der Welt des Gegensatzes in dieser Sphäre die Erkenntnis des Denkers nicht mehr im Anhalt an das sinnliche Vernehmen gewonnen wird, das seinerseits von dem im Erkennenden jeweils bestehenden Mischungsverhältnis der Gegensätze des Lichtes und der Nacht abhängt.²⁴ Als solches ist das dem Gegensatz
18 Sinngemäß beschreibt auch Simplikios diesen Übergang in seinem Physikkommentar, obwohl er ihn nicht in einen direkten Zusammenhang mit dem Durchfahren des Tores stellt, vgl. Parmenides B8, 50ff.; Hermann Fränkel spricht in diesem Kontext davon, dass das „Reich des sinnlichen und irdischen Verhaltens“ verlassen werde, vgl. Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, S. 161. 19 Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 119. Überdies Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 21. 20 Dieses zeigt sich beispielsweise anhand der Gründe, die Aristoteles dafür nennt, warum Thales zu der Ansicht kam, das Wasser sei das Prinzip von allem. 21 Eine Gegenposition dazu wird von Karl Deichgräber vertreten, der auch den Bereich der Göttin als von Gegensatzpaaren bestimmt begreift, vgl. Karl Deichgräber: „Parmenides’ Auffahrt zur Göttin des Rechts“, S. 667. 22 Vgl. dazu Cecil Maurice Bowra: „The Proem of Parmenides“, in: Classical Philology 32 (1937), S. 106: „Since Parmenides makes this claim, it is clear that his Proem is intended to have the importance and seriousness of a religious revelation. He proclaims that he himself has consorted with a goddess and learned his message from her. But the very vagueness of his expressions shows that he is not writing for any single sect or body of opinion. In the extant fragments his goddess does not even get a name, and we may dispute whether she is the Muse or Δίκη or Ἀλήθεια or another. But in fact she is meant to be anonymous.“ 23 Vgl. den hesiodischen Prometheus-Mythos (Theogonie V. 550–552) und den Zeus-Hymnus in Aischylos’ Agamemnon 160–183. 24 Vgl. Parmenides A46; zu dieser Thematik, vgl. ebenfalls Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 137f. Wie Heribert Boeder ausführt, bezieht sich Parmenides hier vornehmlich auf die ihm überkommene Philosophie, die sich, was ihr Wissen betrifft, auch gemäß ihrem Selbstverständnis aus dem
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Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit
unterworfene Erkennen stets an die durch das Mischungsverhältnis bedingte Perspektive des jeweiligen Vernehmenden gebunden und mithin nicht in der Lage zu sagen, „wie es ist“, sondern nur, wie es jeweils scheint, d. h. „wie es ist“ und „wie es nicht ist“.²⁵ Im Kontext der parmenideischen Beschreibung des Übergangs in die Welt der Gegensatzlosigkeit ist dabei noch auf etwas weiteres hinzuweisen, das meines Wissens in der Literatur nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt wird, das jedoch für das Verständnis des skizzierten Übergangs von Bedeutung ist. So fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass die Heliaden, die Parmenides bis an das Tor geleitet und die Göttin des Rechts an seiner statt überzeugt haben, ihn einzulassen, nach dem Passieren des Tores keine weitere Rolle spielen. Dieses ist zunächst einmal insofern erstaunlich, als die Heliaden im ersten Teil des Proömiums als diejenigen dargestellt werden, die den Weg des Parmenides zum Tor der Δίκη leiten. Und dennoch sind letztlich nicht sie es, die Parmenides die Einsicht in die Wahrheit vermitteln, sondern die namenlos bleibende Göttin. In welcher Weise ist dieser plötzliche „Bedeutungsverlust“ der κοῦραι zu deuten? Als Ausgangspunkt für eine mögliche Interpretation dieser Beobachtung soll die von einigen Gelehrten vertretene Annahme dienen, dass die Sonnenjungfrauen nicht als real existierende Wesenheiten zu begreifen seien,²⁶ sondern als Sprachbilder für eine bestimmte Art des Wissens. Um eine genauere Bestimmung dieser Form des Wissens zu erreichen, ist es hilfreich, nochmals daran zu erinnern, dass die Heliaden, wie schon ihr Name anzeigt, dem Helios zugehörig sind, dem in der klassischen griechischen Dichtung eine herausragende Rolle hinsichtlich seines Wissens zugeschrieben wird, da er bei seiner Fahrt über den Himmel alles sehen kann. Wie nun allerdings schon Homers Odyssee zeigt, findet sich dieses Vermögen des Helios nicht immer verwirklicht; gibt es doch Situationen, in denen der Sonnengott trotz seiner hervorragenden Position nicht alles sieht, was geschieht.²⁷ Diese Einschränkung hinsichtlich des Wissens des Helios spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf Parmenides’ Verwendung des Motivs der Heliaden. Sie erklärt, warum nicht die Heliaden es sind, die ihn in die Erkenntnis der Wahrheit einweihen. Wie im Falle des Helios ist nämlich auch das Wissen der zu ihm gehörigen Jungfrauen
Gegensätzlichen heraus begreift. 25 Auf die im Bereich des Gegensatzes nicht mögliche Unterscheidung zwischen dem, „wie es ist“, und dem, „wie es nicht ist“, und die daraus folgende Unmöglichkeit einer Einsicht in die Wahrheit wird im Folgenden noch einzugehen sein. Zur Unmöglichkeit einer derartigen Einsicht in der Welt des Gegensatzes, vgl. Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 21. 26 Vgl. Karl Deichgräber: „Parmenides’ Auffahrt zur Göttin des Rechts“, S. 29; zudem Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, S. 158–162. 27 Odysseus mahnt zwar seine Gefährten, dass der über den Himmel fahrende Helios allsehend sei, zunächst jedoch bleibt das Töten der Rinder dem Gott unbemerkt, bis er von Lampetia über den Frevel informiert wird: Odyssee 12, 374–375: „ὠκέα δ΄ Ἠελίῳ Ὑπερίονι ἄγγελος ἦλθε Λαμπετίη τανύπεπλος͵ ὅ οἱ βόας ἔκταμεν ἡμεῖς.“
Die Wege der Untersuchung
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eingeschränkt, und zwar dadurch, dass es, um wieder auf das Bild des Parmenides zurückzukommen, diesseits des Tores, d. h. im Bereich des Gegensätzlichen und mithin perspektivgebunden bleibt. So ist es auch als „Sonnenwissen“, der reinsten Form des Lichtwissens, nicht der Welt des durch Licht und Nacht bestimmten Gegensatzes enthoben, was Parmenides mit Hilfe verschiedener Bilder zu verdeutlichen sucht.²⁸ Infolge seiner Verbindung mit dem Bereich des Gegensatzes vermag das Wissen der Heliaden nicht zu sagen, „wie es ist“, weshalb es sich nicht als geeignet erweist, dem nach Einsicht Suchenden die Wahrheit kundzutun. Wendet man dieses auf die hinter dem Bild des Parmenides liegende Logik, ergibt es sich, dass sich das Wissen der Parmenides überkommenen Philosophie, das sich selbst aus dem Gegensatz heraus begriffen hatte, an seine eigene Grenze führt, was erklärt, warum es die dieses Wissen symbolisierenden Heliaden sind, die Parmenides’ Weg zum Tor der Δίκη leiten. So erwächst, anders gesagt, aus dem Durchdenken der Konsequenzen der Erkenntnisse dieser Art von Philosophie die Einsicht in die Grenze dieses Wissens. Und es ist gerade diese Einsicht, aufgrund derer sich der Wunsch des nach der Wahrheit suchenden Parmenides rechtfertigt, die Welt des Gegensatzes durch das Tor der Δίκη zu verlassen.²⁹ Bezieht man dieses nun zurück auf das parmenideische Bild, wie es im Proömium gezeichnet wird, zeigt sich, dass in der besagten Einsicht der Inhalt der von den Heliaden vorgetragenen λόγοι besteht, mit deren Hilfe sie Δίκη davon überzeugen, ihren Begleiter passieren zu lassen.³⁰
3.2 Die Wege der Untersuchung An die Stelle des mit dem Übergang in den Bereich des Gegensätzlichen als Erkenntnisquelle obsolet gewordenen sinnlichen Vernehmens soll, wie die Göttin Parmenides anweist, das „Denken“ (νοεῖν) treten, für das im Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmung das Abwesende genauso sicher anwesend ist wie das Anwesende.³¹ Das Erste, was die Göttin Parmenides dabei im Denken zu vergegenwärtigen gebietet, ist, welche „Wege der Untersuchung“ (ὁδοὶ διζήσεως) als einzige denkbar³² sind.
28 So schreibt er, dass sie, bevor sie ihn auf seiner Reise begleiten, das „Haus der Nacht“ verlassen und den „Schleier der Nacht“ wegstoßen, vgl. B1, 9–10. 29 Vgl. dazu ebenfalls Parmenides B1, 26–28. 30 Infolgedessen sind die Heliaden präziser als diejenige Form des Wissens der überkommenen Philosophie zu begreifen, das eine Einsicht in die eigene Begrenztheit gewonnen hat. Zur Rechtmäßigkeit des parmenideischen Eintrittes in die Gegensatzlosigkeit, vgl. ebenfalls B1, 22–28. 31 Vgl. Parmenides B4. 32 Zum parmenideischen Verständnis von νοεῖν, vgl. Kurt von Fritz: „Die Rolle des ΝΟΥΣ. ΝΟΥΣ, ΝΟΕΙΝ und ihre Ableitungen in der vorsokratischen Philosophie (mit Ausschluss des Anaxagoras), Teil I. Von den Anfängen bis Parmenides“, in: Hans-Georg Gadamer (Hrsg.): Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, S. 304–315.
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Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit
Der erste Weg ist der, den die Göttin als die „der Wahrheit folgende Bahn der Überzeugung“ bestimmt und der betrachtet, (...) wie es ist (ὅπως ἐστιν) und wie/dass (ὡς) es nicht ist, dass es nicht ist.³³
Demgegenüber steht der Weg, der in den Blick nimmt, (...) wie/dass (ὡς) es nicht ist und wie/dass (ὡς) es notwendig ist, dass es nicht ist.³⁴
Schon ein kurzer Blick auf die Formulierung der beiden Wege zeigt, wie auch die hier gegebene Übersetzung anzudeuten versucht, dass die Interpretation dessen, was die Rede der Göttin von den zwei Wegen besagen will, in großem Maße davon abhängt, wie die Worte ὅπως und ὡς zu übersetzen sind. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die meisten Interpreten für beide Termini einheitlich die Subjunktion „dass“ bzw. in den englischen Übertragungen „that“ setzen. Alternativ dazu ist es allerdings auch möglich, für ὅπως an dieser Stelle nicht „dass“, sondern die Übersetzung „wie“ zu verwenden.³⁵ Diese Übersetzung bietet sich dabei auch aufgrund der inhaltlichen Analyse der Beschreibung der beiden Wege und ihres Kontextes an. So ist daran zu erinnern, dass die Göttin vor der Schilderung der beiden einzig denkbaren Wege der Untersuchung Parmenides versprochen hatte, dass er alles erfahren werde, vor allem aber die Wahrheit. „Die Wahrheit sagen und wissen“, das allerdings bedeutet, wie Heribert Boeder anmerkt, nichts anderes als „(...) sagen und wissen, wie es ist“³⁶. Stellt folglich der erste Weg die der Wahrheit folgende Bahn der Überzeugung dar, so ist dieser Weg gerade dadurch zu kennzeichnen, dass auf ihm die Einsicht in die Wahrheit, d. h. in das, „wie es ist“, zu erlangen ist, was ebenfalls dafür spricht, ὅπως an dieser Stelle mit „wie“ zu übersetzen.³⁷ „Wie es ist“ und „wie es nicht ist“, in dieser Gegenüberstellung der beiden Wege zeigt sich die für den Gedankengang des Parmenides fundamentale Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, die die Grundlage für die Erkenntnis einer von jeder Unwahrheit geschiedenen Wahrheit ergibt. In Anbetracht dieser Unterscheidung drängt sich nun jedoch die Frage auf, ob sie nicht einen Rückfall in den Bereich des Gegensatzes bedeutet, der sich aus
33 Parmenides B2, 9: „ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι.“ 34 Ebd. B2, 11: „ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι.“ 35 Zum Gebrauch von ὅπως im Sinne von „wie“ verweist Heribert Boeder auf Homers Ilias X, 224, IV, 37 und I, 343, vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 134, Anm. 4. Die Übersetzung „wie“ wird u. a. auch von Alexander Mourelatos: The Route of Parmenides, New Haven 1970, S. 49–51, und von Philippe Constantineau: „La question de la verité chez Parmenide“, in: Phoenix. The Journal of the Classical Association of Canada 41 (1987), S. 221, favorisiert. 36 Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 134. Eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationsvorschläge bezüglich der Frage nach dem Subjekt, des „wie es ist“, findet sich bei Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, Assen 1964, S. 51ff. 37 Entsprechend ist in diesem Zusammenhang auch ὡς als „wie“ zu interpretieren. Inwiefern jedoch auch die Übersetzung mit „dass“ in gewisser Weise zu rechtfertigen ist, wird noch diskutiert werden.
Die Wege der Untersuchung
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der besagten Gegenüberstellung von Wahrheit und Unwahrheit zu ergeben scheint. Parmenides erkennt diese Gefahr und begegnet ihr, indem er den Weg des „wie es nicht ist“ als völlig unerkundbar bestimmt. In der Schärfe der Formulierung der Göttin zeigt sich dabei, dass, parmenideisch gedacht, der Weg des „wie es nicht ist“ nicht nur ungeeignet für die Erkundung der Wahrheit ist, sondern überhaupt nicht beschritten werden kann, da das „Nichtseiende“ (τὸ μὴ ἐόν) als dasjenige, was nicht (der Fall) ist, in keiner Weise zu erkennen ist.³⁸ Streng genommen kann somit die Unwahrheit nach Parmenides nicht einmal als unwahr erkannt werden. Denn könnte sie dieses, würde sie sich insofern als wahr zeigen, als sie sich notwendigerweise als unwahr bestimmen ließe, was selbstwidersprüchlich wäre.³⁹ Aus der vollkommenen Unerkennbarkeit des Weges, „wie es nicht ist“, ergibt sich als Konsequenz, dass die von der Göttin eingeführte Unterscheidung keinen Gegensatz aufreißt und sich die Wahrheit vielmehr als gegensatzlos erweist.⁴⁰ Infolgedessen stellt die von Parmenides in der Gegensatzlosigkeit aufgefundene Wahrheit eine reine Wahrheit dar, die in keiner Weise mit der Unwahrheit verbunden ist und mithin den Charakter der Notwendigkeit an sich trägt.⁴¹ Die Wahrheit sagen und wissen, das heißt folglich, präziser gefasst, nicht nur sagen und wissen, „wie es ist“, sondern darüber hinaus auch, „wie es nicht ist, dass es nicht ist“⁴². All dies verdeutlicht, weshalb es trotz der Unbegehbarkeit des zweiten der genannten Wege dennoch notwendig ist, diesen in seiner Unterschiedenheit vom ersten Weg darzustellen, um damit die durch den Ausschluss der Unwahrheit bedingte Absolutheit und Notwendigkeit der Wahrheit herauszustellen.⁴³ Ein weiteres, das sich aus der Unerkundbarkeit des Weges, „wie es nicht ist“, ergibt, besteht darin, dass die besagte Unterscheidung zwischen den „Wegen der Untersuchung“ eigentlich zwischen dem Weg der Wahrheit und dem der „Auffassung“ oder „Meinung“ (δόξα) zu treffen ist.⁴⁴ Auch von diesem dritten Weg hält die Göttin Parmenides zurück, dem Weg, den, wie sie sagt, „die nichts wissenden Sterblichen sich bilden, die Doppelköpfigen“⁴⁵. Charakteristisch für die Nichtwissenden, die diesen Weg gehen, ist es, dass sie nicht zwischen dem Sein und dem
38 Inwiefern das „Nichtseiende“ als „das, was nicht der Fall ist“ anzusehen ist, wird im Zusammenhang mit den Betrachtungen zu Charles H. Kahns Interpretation des griechischen Begriffes εἶναι erörtert werden. 39 Anders gewendet würde eine derartige Erkenntnis und Bestimmung des Unwahren bedeuten, etwas, das nicht ist, insoweit als etwas Seiendes zu begreifen, als ihm eine Eigenschaft zukäme, nämlich die des Nichtseins. Dieser Gedanke spielt eine wichtige Rolle für den später noch zu diskutierenden von Gorgias vorgetragenen Einspruch gegen die parmenideische Philosophie. 40 Auch hier wird deutlich, warum die Reise des Parmenides in die Welt der Gegensatzlosigkeit geht. 41 Vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 134f., zudem Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 23. 42 Parmenides B2, 3; vgl. zudem Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 133–135. 43 Vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 133–146. 44 Vgl. dazu Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 21–24. 45 Parmenides B6, 4ff.
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Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit
Nichtsein, dem, „wie es ist“ und dem, „wie es nicht ist“, unterscheiden.⁴⁶ Aufgrund dieser Nicht-Unterscheidung führt der Weg der „Auffassung“ nicht zur Einsicht in die Wahrheit, sondern lediglich zu einer Erkenntnis dessen, „wie es ist“, und „wie es nicht ist“. Im Unterschied zum zweiten Weg ist dieser jedoch nicht vollkommen unerkundbar, zeigt er doch in gewisser Weise auch, „wie es ist“. Andererseits führt er dennoch nicht zur Einsicht in die Wahrheit, da er diese nicht in ihrer Notwendigkeit begreift, das heißt in ihrer strengen Scheidung von der Unwahrheit. Die auf dem Weg der Doppelköpfigen erlangte Einsicht geht folglich nicht über das hinaus, was Parmenides mit dem Begriff der „Auffassung“ oder „Meinung“ kennzeichnet. An Schärfe gewinnt das Phänomen der δόξα, betrachtet man es vor dem Hintergrund der parmenideischen Darstellung dessen, „wie es ist“, die im Folgenden beleuchtet werden soll.
3.3 „Wie es ist“ – die Bestimmung der Wahrheit Es ist notwendig zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist.⁴⁷ Es ist nämlich, dass es [i. e. das Seiende] ist, nichts aber ist es [i. e. das Seiende] nicht.⁴⁸ Dass du dieses bedenken mögest, gebiete ich dir.⁴⁹
In dieser Formulierung liegt der Kern dessen, was die Göttin über die Wahrheit vorzutragen weiß. Sagen und wissen, „wie es ist“, das bedeutet, wie hier deutlich wird, sagen und wissen, was notwendig der Fall ist (χρή), d. h. nach Parmenides, sagen und wissen, „dass das Seiende ist“.⁵⁰ Worum jedoch handelt es sich bei dem „Sei-
46 Ebd. B6, 4ff. 47 Ebd. B6, 1: „χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ΄ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι.“ Zur Kritik an der Diels-KranzVersion des Textes, vgl. Sven Sellmer: Argumentationsstrukturen bei Parmenides. Zur Methode des Lehrgedichts und ihren Grundlagen, Frankfurt 1998, S. 38, der – in der Folge von Nestor-Luis Cordero: „Les deux chemins de Parménide dans les fragments 6 et 7“, in: Phronesis 24 (1979), S. 24f., Anm. 1 – „χρὴ τὸ λέγειν τὸ [nicht τε, T. J.] νοεῖν τ΄ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι.“ liest. Zur Übersetzung des ersten Teils dieses Verses, vgl. ebd. S. 37–45. Wie Jaap Mansfeld und Wolfgang Röd vertritt auch Sellmer die These, dass der Sinn des ersten Teils des Verses darin bestehe, dass über „das Seiende“ (ἐόν) gesagt werde, dass es ist. Vgl. Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, S. 81; Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, in: Wolfgang Röd (Hrsg.): Geschichte der Philosophie Bd. 1, München 1976, S. 109, Anm. 5. Die Frage, wie der erste Teil dieses Verses und der Vers im Ganzen zu übersetzen ist, wird kontrovers diskutiert. Eine Übersicht über die bedeutendsten Auffassungen zu dieser Frage findet sich bei Sven Sellmer: Argumentationsstrukturen bei Parmenides, S. 38. 48 Zur Übersetzung des zweiten Teils dieses Verses, vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 145. 49 Parmenides B6, 8f.: „χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ΄ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι͵ μηδὲν δ΄ οὐκ ἔστιν· τά σ΄ ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα.“ 50 Die Erkenntnis, dass es notwendig ist, zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist, hat zur Folge, dass wie bereits angemerkt die Worte ὅπως und ὡς, wie sie von der Göttin in der Angabe der unterschiedlichen Wege der Untersuchung verwendet werden, in gewisser Weise auch mit „dass“ übersetzt
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enden“ und in welcher Weise „ist“ es? Bezieht sich die Rede der Göttin vom ἐόν auf alles, was in irgendeiner Weise der Fall ist, und ist folglich die „Realität als ganze“, wie bisweilen vermutet wird,⁵¹ als das Objekt des sicheren Wissens zu betrachten? Wie die weiteren Ausführungen der Göttin zeigen, ist Letzteres zu verneinen, da ein wesentliches Merkmal des gesuchten „Seienden“ darin besteht, in keiner Weise mit dem Nichtsein verbunden zu sein,⁵² was durch den bereits zitierten Nachsatz „nichts aber ist es nicht“ zum Ausdruck gebracht wird. Um dieses zu verdeutlichen, geht die Göttin eine ganze Reihe von Bestimmungen durch, die in irgendeiner Weise ein Nichtsein implizieren und dem „Seienden“, wie sie betont, aus diesem Grund nicht zugesprochen werden können.⁵³ So ist das ἐόν nach Parmenides als ein derartiges Seiendes zu begreifen, das von jeder Form des Nichtseins geschieden und mithin in vollkommener Weise ist. Trotz des Hinweises auf die Scheidung allen Nichtseins von dem Seienden ist dadurch nicht die in der Forschung bereits viel diskutierte Frage beantwortet, wie das εἶναι des „ἐόν“ in diesem Zusammenhang zu bestimmen ist. Einen in Bezug auf diese Fragestellung sehr wichtigen Beitrag haben Charles H. Kahns Betrachtungen zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Verbs „εἶναι“ und deren Einfluss auf die Entwicklung des Begriffes des „Seins“ im Kontext der griechischen Philosophie geleistet.⁵⁴ Wie Charles Kahn ausführt, bezeichnet εἶναι, sofern es nicht als Kopula im Rahmen einer Prädikation wie „X ist Y“, sondern als Vollverb in einer „absolute construction“ der Form „X ἔστι“ fungiert, nicht in erster Linie die Existenz von X im Sinne des vom esse essentiae unterschiedenen esse existentiae.⁵⁵ Vor allem der
werden können, da die Erkenntnis, die auf dem Weg der Wahrheit gewonnen wird, darin besteht, dass das Seiende ist. Es bietet sich jedoch über die zuvor benannten Gründe hinaus trotzdem an, ὅπως und ὡς zunächst mit „wie“ zu übersetzen, da die Einsicht, dass das Seiende ist, die Antwort auf die Frage darstellt, wie es ist, und erst ausgehend von der Besonderheit der Fragestellung des Parmenides verstehbar ist, warum er gerade diese Antwort gibt. 51 Vgl. Geoffrey S. Kirk/John E. Raven/Malcolm Schofield (Hrsg.): Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, ins Deutsche übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart 2001, S. 274. 52 Aus der strengen Scheidung des Seienden vom Nichtsein ergibt sich, dass beispielsweise unsere Erfahrungswelt nicht unter den Begriff des Seienden fällt, da sie in vielfältiger Weise Züge des Nichtseins aufweist, indem sie zum Beispiel veränderlich ist und aus Teilen besteht. 53 Vgl. Parmenides B8. 54 Vgl. Charles H. Kahn: „The Greek Verb ‘To Be’ and the Concept of Being“, in: Foundations of Language. International Journal of Language and Philosophy 2 (1966), S. 245–265. 55 Vgl. ebd. S. 248: „But if we understand the phrase „there is“ as representing a univocal concept of existence for a subject of predication, as distinct from the content of the predication itself – as distinct from the „essence“ of the subject or the kind of thing it is (as we often do, for example, when we read the existential quantifier „(ූx)“ as „there is something of which the following is true“) – if this is generalized positing of a subject as „real“ is what we mean by existence, then I would be inclined to deny that such a notion can be taken for granted as a basis for understanding the meaning of the Greek verb.“
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Parmenides’ Einsicht in das Herz der Wahrheit
philosophische Gebrauch von „εἶναι“ zeige, dass es in seiner nicht-prädikativen Verwendungsweise vielmehr zum Ausdruck bringe, „was der Fall ist“ oder „was wahr ist“ und nicht nur, dass etwas existiert.⁵⁶ Dasjenige, was ist, ist, so gedacht, ein in seinem Sein Bestimmtes, das als solches stets etwas ist. Dies hat zur Folge, dass es genau genommen eigentlich Sachverhalte der Form „X ist Y“ sind,⁵⁷ von denen das „Sein“ im Sinne des Bestehens dieser Sachverhalte ausgesagt wird. Ein Satz wie „X ist“ wäre daher folgendermaßen zu verstehen: Es ist der Fall, dass X in seiner Eigenschaft, durch Y, Z etc. bestimmt zu sein, ist.⁵⁸ Seine These, gemäß der das Sein in dieser Weise zu verstehen ist, stützt Kahn dabei nicht nur auf verschiedene Stellen, die er aus der griechischen Literatur heranzieht. Er kann sich auch auf Aristoteles berufen, der diese auf die Wahrheit bezogene Weise der Verwendung von „εἶναι“ – „its veridical usage“⁵⁹, wie Kahn sich ausdrückt
56 Vgl. ebd. S. 250: „These remarks are intended to render plausible my claim that, for the philosophical usage of the verb, the most fundamental value of einai when used alone (without predicates) is not „to exist“ but „to be so“, „to be the case“, or „to be true“. Zu beachten ist, dass Kahn hier nicht die These vertritt, dass εἶναι nicht auch einen existentiellen Bedeutungsaspekt beinhalte. Es geht ihm vielmehr darum aufzuzeigen, dass, gemäß dem griechischen Verständnis von „Sein“, das, was ist, als ein in seinem Sein Bestimmtes, als ein bestimmter Sachverhalt vorliegt und dass mithin im Kontext dieses Denkens nicht streng unterschieden wird zwischen dem esse essentiae und dem esse existentiae einer Sache. Vgl. ebenfalls Charles H. Kahn: „The Thesis of Parmenides“, in: The Review of Metaphysics 22,4 (1969), S. 712f.: „The „is“ which Parmenides proclaims is not primarily existential but veridical: it asserts not only the reality but the determinate being-so of the knowable object, as the ontological „content“ or correlate of true statement. Thus his thesis involves the concept of existence at two levels: a. existence for the subject entity, that which is; b. existence or reality for the fact or situation which characterizes this entity in a determinate way (…).“ 57 Der Begriff des „Sachverhaltes“ wird hier und im Folgenden in Anlehnung an die Redeweise Charles H. Kahns verwendet, der von „state of affairs“ spricht. Wie eben schon angedeutet, kann demnach dann von einem Sachverhalt gesprochen werden, wenn einem Gegenstand eine Eigenschaft zukommt beziehungsweise, um das Ganze sprachlich zu wenden, wenn von einem Subjekt ein Prädikat ausgesagt wird – mit Blick auf Parmenides wäre in diesem Zusammenhang auf das Beispiel des „Seins des Seienden“ zu verweisen. Was mit der Rede von einem Sachverhalt betont wird, ist, dass der Begriff des „Seins“ stets auf in ihrem Sein bestimmte Entitäten und nicht auf deren bloße Existenz verweist. 58 Vgl. Charles H. Kahn: „A return to the Theory of the Verb be and the Concept of Being“, in: Ancient Philosophy 24 (2004), S. 383: „Logically speaking, every absolute or existential use of einai can be seen as an abridged form of some predication. X is is short for X is Y for some Y. That is the full meaning of the formula: to be is to be something or other.“ Vgl. dazu auch Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 155f.: „Dies muß man gegenwärtig halten, wenn man das ἔστι nach unserer Sprachgewohnheit übersetzt durch ‚es ist‘. Will man diesem ‚es‘ eine Bedeutung geben, dann wäre es noch am ehesten als jenes Selbe zu deuten, das sowohl einzusehen ist als auch zu sein hat; und dieses ist wiederum das ‚wie es ist‘ in seiner entwickelten Form ‚wie es nicht ist, ist es nicht‘ und d. h. die notwendige Wahrheit.“ 59 Ebd. S. 252.
„Wie es ist“ – die Bestimmung der Wahrheit
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– als die in erster Linie gültige betrachte.⁶⁰ Darüber hinaus weist Charles Kahn allerdings auch auf eine Ambiguität hin, die sich mit der „veridikalen“ Verwendungsweise von „εἶναι“ verbinde und die für die hier verhandelte Thematik wichtig ist.⁶¹ So bemerkt er in Bezug auf die von ihm angegebenen Übersetzungsmöglichkeiten von „εἶναι“, dass ein nicht unerheblicher Unterschied bestehe zwischen den von ihm angegebenen Bedeutungen „es ist der Fall“ und „es ist wahr“. Während sich nämlich die erste der beiden Möglichkeiten auf ein Faktum oder eine bestimmte Situation beziehe, seien es für gewöhnlich Aussagen, die als „wahr“ oder „falsch“ bezeichnet würden.⁶² Wird „εἶναι“ nun in der besagten „veridikalen“ Weise verwendet, sei es möglich, dass es entweder einen oder beide der genannten Bedeutungsaspekte umfasst, wobei, wie Kahn anmerkt, eine Entsprechung zwischen dem, „was der Fall ist“, und einer dieses zum Ausdruck bringenden (wahren) Aussage bestehe.⁶³ Dies bedeutet, anders gesagt, dass eine Aussage dann wahr ist, wenn sie darlegt, wie die Sachlage ist und sie somit einen bestehenden Sachverhalt, das heißt ein Seiendes, benennt. Charles Kahn zufolge ist die Einsicht in diese Entsprechung zwischen den beiden Bedeutungsebenen von „εἶναι“ insofern von Bedeutung, als sie einen wesentlichen Zug des griechisch-philosophischen Verständnisses der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit aufzeigt. Denn die Wahrheit, so Kahn, bestehe im Rahmen dieser Art zu denken genau darin, „(...) über die Dinge, die der Fall sind, zu sagen, dass sie sind, und über diejenigen, die es nicht sind, zu sagen, dass sie nicht sind“⁶⁴. Wenngleich der zweite Teil dieses Zitates aus den bereits genannten Gründen bei Parmenides nicht auf Zustimmung stoßen würde, beschreibt Kahns Einschätzung dennoch ein zentrales Element parmenideischen Denkens. Interpretiert man nämlich „εἶναι“ in der von ihm vorgeschlagenen „veridikalen“ Weise, zeigt sich, dass das „Sein“, das von dem „ἐόν“ ausgesagt wird, nicht auf ein esse im Sinne des esse existentiae zu beschränken ist. Vielmehr ist das „Seiende“, wird es vor dem Hintergrund der besagten „veridikalen“ Verwendungsweise von „εἶναι“ verstanden, dasjenige, was der Fall oder auch, anders formuliert, was wahr ist. Grundgelegt ist der Gedanke des Wahrseins des Seienden darin, dass es den Gegenstand einer wahren Erkenntnis darstellt,⁶⁵ indem es
60 Vgl. ebd. In Bezug auf Aristoteles verweist Kahn auf Metaphysik 1051b 1. 61 Vgl. ebd. S. 252. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. ebd. 64 Charles H. Kahn: „The Greek Verb ‘To Be’“, S. 253: „For the Greek concept of truth is precisely this: ta onta legein hos esti, ta me onta hos me esti, to say of the things that are (the case) that they are, and of the things that are not that they are not.“ (Übersetzung im Text: T. J.) 65 Vgl. dazu Jaap Mansfelds Äußerung in Bezug auf die Frage, was „das Seiende“ eigentlich sei, „(...) daß es sich beim „Seienden“ vor allem um ein Objekt der Erkenntnis handel[e]“. Vgl. Jaap Mansfeld (Hrsg.): Die Vorsokratiker I, Stuttgart 1999, S. 219; vgl. zudem Charles H. Kahn: „Why Existence does not Emerge as a Distinct Concept in Greek Philosophy“, in: Charles H. Kahn (Hrsg.): Archiv für Geschichte der Philosophie, Sonderheft, Hans Wagner zum 60. Geburtstag gewidmet, Band 58 (1976), S.
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als das Subjekt einer Proposition fungiert, die Parmenides zufolge eine, wie noch zu zeigen sein wird, notwendig wahre Einsicht hinsichtlich eines notwendigerweise bestehenden Sachverhalts zum Ausdruck bringt und die, verkürzt gesagt, lautet: „Das Seiende [i. e. das, was der Fall ist] ist.“⁶⁶ Wird nun konsequenterweise auch der im Rahmen der AcI-Konstruktion „χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ΄ ἐὸν ἔμμεναι“ als Prädikat verwendete Infinitiv „ἔμμεναι“ „veridikal“ interpretiert, ist der erste Teil des Verses B2, 1 wie folgt zu übersetzen: „Es ist notwendig zu sagen und zu denken, dass das, was der Fall ist, der Fall ist“ beziehungsweise, auf den Wahrheitsaspekt der Aussage gewendet, „es ist notwendig zu sagen und zu denken, dass das, was wahr ist, wahr ist“.⁶⁷ Mit Blick auf den zweiten Teil des Verses zeigt sich der von Charles Kahn hervorgehobene „veridikale“ Bedeutungsaspekt von „εἶναι“ ebenfalls sehr deutlich in der in diesem Versabschnitt von Parmenides gegebenen Begründung⁶⁸ dafür, warum das „Sein“ des „Seienden“ notwendig zu denken ist. „Es ist nämlich“, schreibt Parmenides, „dass es [i. e. das Seiende] ist“⁶⁹. Unabhängig davon, welcher Art die hier gegebene Begründung ist und in welchem Sinne es sich in diesem Fall überhaupt um eine „Begründung“ handelt,⁷⁰ ist es offensichtlich, dass „ἔστι“ in diesem Zusammenhang insofern in „veridikaler“ Weise verwendet wird, als es besagen möchte, dass der im ersten Teil des Verses bezeichnete Sachverhalt des „Seins“ des „Seienden“ besteht, so dass ἔστι hier ebenfalls mit „es ist der Fall“ oder „es ist so“ zu übersetzen ist.⁷¹ Nimmt man nun an, dass dieser Sachverhalt in der Tat besteht – Parmenides’ Begründung für diese Annahme wird im Folgenden noch zu untersuchen sein –, dann beinhaltet, um nochmals auf Kahn zurückzukommen, die Aussage, „dass es ist, dass das Seiende
330: „Consider now what Parmenides says about Being or what is, τὸ ἐόν. He introduces it (in fragment 2) as the object for knowledge and the territory or homeland of truth.“ Siehe zudem auch Jan Szaif: „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike“, in: Markus Enders/Jan Szaif (Hrsg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006, S. 7. 66 Vgl. Parmenides B6. „Das Seiende“ kann demnach insofern als „das Wahre“ begriffen werden, als das, was als ein in seinem Sein bestimmtes der Fall ist, in Hinsicht auf den Aspekt seiner Erkennbarkeit hin betrachtet wird. Auf dieses von Parmenides angenommene Verhältnis von (Bestimmt-) Sein bzw. Wirklichsein und Wahrsein weist auch Jan Szaif hin in „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike“, S. 3: „Wahrheit oder das Wahre wird hier [i. e. bei Parmenides und bei Platon] als das Wirkliche/Seiende verstanden, welches in einem Wissen und geistigen Erfassen erkannt werden kann (...). Wahrheit (alētheia) ist Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Erkennbarkeit.“ 67 Demnach könnte man überall dort, wo Parmenides von „dem Seienden“ spricht, auch von „dem Wahren“ oder „dem, was wahr ist“, sprechen. 68 Dass hier eine Begründung gegeben werden soll, verdeutlicht das γάρ. 69 Parmenides B6, 1: „ἔστι γὰρ εἶναι.“ 70 Auf diese Fragen wird im Folgenden genauer eingegangen werden. 71 So gilt für dieses „ist“, dass es eines der von Kahn benannten „peculiar grammatical features“ der veridikalen Verwendung von „εἶναι“ aufweist, das darin besteht, „(...) that its understood subject is propositional in form – a fact or a state of affairs asserted to obtain, and not an object or concept whose existence is affirmed (...)“. Vgl. Charles H. Kahn: „Why Existence does not Emerge as a Distinct Concept in Greek Philosophy“, S. 328f.
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ist“, beide Aspekte der „veridikalen“ Verwendungsweise von „εἶναι“, indem über das, was der Fall ist – i. e. das „Seiende“ und das „Sein“ desselben –, gesagt wird, dass es der Fall ist. Wird nun darüber hinaus angenommen, dass sich die Wahrheit, wie Charles Kahn ausführt, gerade darin erweist, dass über das, was der Fall ist, gesagt wird, dass es so ist, und ist es, wie Parmenides denkt, notwendig zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist, so ergibt sich, parmenideisch gedacht, aus der Einsicht in das „Sein“ des „Seienden“ das gesuchte sichere Wissen darüber, „wie es ist“. Weshalb jedoch, wäre nun zu fragen, ist es notwendig zu sagen und zu denken, dass das „Seiende“ ist? Wie lässt sich diese These begründen?
3.4 Die Notwendigkeit des „Seins des Seienden“ Parmenides hebt an einer Reihe von Stellen hervor, dass das „Seiende“ von allem Nichtsein geschieden sei.⁷² Dies ist dabei insofern von Bedeutung, als ein in irgendeiner Hinsicht bestehendes Nichtsein des „Seienden“ zur Folge hätte, dass es streng genommen keinen fest bestehenden Sachverhalt darstellen würde und das von Parmenides als notwendig betrachtete „Sein“ des „Seienden“ nicht gegeben wäre.⁷³ Denn wäre es beispielsweise Werden und Vergehen unterworfen, wäre es an einem Zeitpunkt noch nicht (der Fall gewesen) und an einem anderen nicht mehr (der Fall) und mithin kein „Seiendes“.⁷⁴ Gleiches würde gelten, wenn sich das Seiende in irgendeiner Weise verändern könnte, da man es auch dann nicht als einen bestehenden Sachverhalt betrachten könnte.⁷⁵ Die Scheidung des Seienden von allem Nichtsein betont Parmenides in besonderer Weise, wenn er sagt, dass es „(...) notwendig ist, dass das Seiende entweder gänzlich ist oder gar nicht ist“⁷⁶. Wie dieses Zitat zeigt, stellen für Parmenides Sein und Nichtsein in Bezug auf das Seiende Alternativen dar, die sich wechselseitig ausschließen und ihm infolgedessen nicht gleichzeitig zukommen können. Weshalb jedoch, so wäre in einem nächsten Schritt zu fragen, ist dem Seienden das Sein notwendigerweise zu- und das Nichtsein abzusprechen? Weshalb ist, wie Parmenides sich ausdrückt, „gemäß der Notwendigkeit“ (ὥσπερ ἀνάγκη) entschieden worden, dass der Weg, der besagt, dass das „Seiende“ nicht ist, als „undenkbar und unbenennbar“ (ἀνόητον καὶ ἀνώνυμον) beiseite zu lassen ist?⁷⁷ Interessanterweise gibt das Lehrgedicht selbst keine explizite Begründung für diese These, obwohl sie von der Göttin mehrmals vertreten wird und diese in ihrer Argumentation
72 Vgl. dazu vor allem Parmenides’ Ausführungen in B7 und B8. 73 Dieses „Sein“ des „Seienden“ wird im Folgenden stets veridikal verstanden werden, wenn auch nicht immer eigens darauf hingewiesen wird. 74 Vgl. Parmenides B8, 5–21. 75 Vgl. ebd. B8, 26–31. 76 Ebd. B8, 11; vgl. zudem B8, 15f.: „ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν.“ 77 Vgl. ebd. B8, 16–18.
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stets die Notwendigkeit der Scheidung des „Seienden“ vom Nichtsein betont. Nichtsdestotrotz lässt sich den Ausführungen des Parmenides ein Grund für die Annahme der Göttin entnehmen, der die Notwendigkeit der besagten Scheidung aufzeigt. Wie nämlich eine genauere Betrachtung der Argumentationen der Göttin verdeutlicht, erweisen sich die möglichen Antithesen, die gegen die von ihr als notwendig charakterisierten Thesen aufzustellen wären, als selbstwidersprüchlich. Beispielhaft veranschaulicht wird dies anhand der bereits zitierten Formulierung der Erkenntnis der Wahrheit, die darin besteht, dass „[es] (...) notwendig [ist] zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist. Es ist nämlich, dass es ist, nichts aber ist es nicht.“ Bildet man die Gegenthese zu dieser von der Göttin vorgetragenen Einsicht in die Wahrheit, ergibt sich nach parmenideischem Verständnis ein Selbstwiderspruch, der analog zu formulieren ist zu einer anderen, ebenfalls selbstwidersprüchlichen und, wie die Göttin betont, infolgedessen abzulehnenden Aussage. „Niemals nämlich“, verkündet sie, „erzwingst Du dieses, dass das Nichtseiende ist.“⁷⁸ In Entsprechung dazu ist es im Rahmen des Denkens des Parmenides ebenso wenig erzwingbar, dass das Seiende nicht ist und mithin die Gegenthese zu der Erkenntnis der Wahrheit als eine denkbare Möglichkeit anzunehmen wäre. Wie die erste der beiden genannten Thesen impliziert auch die Negation der von ihm als wahr eingesehenen Erkenntnis einen Selbstwiderspruch. Dieser besteht darin, dass demjenigen, welches sich aufgrund seines Begriffes als das bestimmt, „was ist“, das Nichtsein zugesprochen wird. Explizit formuliert findet sich dieses im Lehrgedicht, wenn die Göttin verkündet: „Nicht nämlich ist zu sagen und auch nicht zu denken, dass es [i. e. das Seiende] nicht ist.“⁷⁹ Nach parmenideischem Verständnis zeigt nun die Einsicht in die Selbstwidersprüchlichkeit der Gegenthese, die zu seiner Erkenntnis der Wahrheit zu formulieren wäre, dass die von ihm eingesehene Wahrheit des „Seins“ des ἐόν den Charakter der Notwendigkeit hat. So ist es Parmenides zufolge „(...) notwendig (χρή) zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist (...)“⁸⁰, da es, so wäre der Gedankengang sinngemäß fortzusetzen, „(...) nicht zu sagen und auch nicht zu denken [ist], dass es [i. e. das Seiende] nicht ist.“⁸¹ Olof Gigon hat in diesem Zusammenhang den Standpunkt vertreten, dass Parmenides sich im Allgemeinen einer Denk- und Beweismethode bediene, mit deren Hilfe er versuche, durch „Elimination der Möglichkeiten zum Wahren zu gelangen“⁸².
78 Ebd. B7. 79 Ebd. B8, 8f. Der Gedanke, dass das „Seiende“ nicht ist, stellt damit eine prinzipiell unmögliche „Einsicht“ dar, die auf dem völlig unerkundbaren zweiten der genannten Wege der Untersuchung zu gewinnen wäre und die zeigt, „(...) wie es nicht ist und wie es notwendig ist, dass es nicht ist.“ Vgl. ebd. B2, 5. 80 Ebd. B6, 1. 81 Ebd. B8, 8f. 82 Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel 1945, S. 250f. Zu der Frage, ob der Ursprung dieser Methode des Parmenides in der Tat, wie von Gigon a. a. O., S. 251 angedeutet, in der sizilianischen Gerichtsrhetorik zu suchen ist, vgl. die Ausführungen des die Meinung Gigons tei-
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Dieses, so Gigon, zeige sich beispielsweise in Fragment B8, 6ff., wo „eine These durch Widerlegung des Gegenteils bewiesen [werde] (...)“⁸³. Folgt man der Auffassung Gigons, kann man die beschriebene Argumentation bezüglich des Aufweises der Notwendigkeit des „Seins“ des „Seienden“ als ein weiteres Beispiel für die Gigon zufolge allgemein praktizierte Verfahrensweise des Parmenides betrachten.⁸⁴ Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Sachverhalt des „Seins“ des „Seienden“, parmenideisch gedacht, notwendigerweise Bestand hat und mithin als unveränderlicher Gegenstand eines sicheren Wissens darüber, „wie es ist“, zu fungieren vermag.⁸⁵ Damit kommt der erste der von der Göttin vorgestellten „Wege der Untersuchung“ an sein Ende, indem eingesehen wird, „wie es ist und wie es nicht ist, dass es nicht ist“, ist es doch, wie gesehen, nach Parmenides in der Tat unmöglich denkbar, dass das „Seiende“ nicht ist.⁸⁶ Dementsprechend heißt es im Lehrgedicht: „Deshalb hat ihm [i. e. dem „Seienden“] Δίκη, die Fesseln lösend, weder zu werden noch zu vergehen gestattet, sondern sie hält es fest.“⁸⁷ Und so ist es „(...) unbewegt, in den Grenzen großer Fesseln“⁸⁸, in denen es von „Ἀνάγκη, der starken“, gehalten wird, da es „(...) die Μοῖρα so gefesselt [hat], dass es gänzlich unbewegt ist“. Mithin „(...) [ruht das
lenden Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, S. 270–272. Mit Mansfeld sind auch die Vorbehalte gegen Gigons Interpretation dessen, was von Parmenides in den Fragmenten 2 und 3 bewiesen wird, zu teilen. Vgl. dazu Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie, S. 251, und Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, S. 50. 83 Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie, S. 251. 84 Als einer der Nachfolger des Parmenides wendet Zenon von Elea dieses Verfahren ebenfalls an, indem er die Unhaltbarkeit der Annahme, dass es „Vieles“ gibt, dadurch aufzuweisen sucht, dass er die paradoxen Schlussfolgerungen herausstellt, die sich aus dieser Annahme ergeben. Vgl. dazu die Formulierungen der sogenannten „Zenonischen Paradoxien“, die mit den Worten „εἰ πολλά ἐστι“ eingeleitet werden. Vgl. z. B. Zenon B3. 85 Zur Unveränderlichkeit des „Seienden“ vgl. auch Charles H. Kahn: „The Greek Verb ‘To Be’ and the Concept of Being“, S. 254–257. Dort zeigt Kahn, dass im Griechischen bereits mit dem Verb εἶναι selbst „connotations of enduring stability“ verbunden seien, so dass, legt man diese Beobachtung Kahns zugrunde, das von Parmenides betonte Charakteristikum der Unveränderlichkeit des ἐόν schon im Begriff des Verbs εἶναι angelegt ist. In Bezug auf Parmenides bemerkt Kahn darüber hinaus: „Parmenides was also the first to exploit the durative connotations of einai by a systematic contrast with gignesthai, the verb which normally provides an aorist for einai, and which expresses the developmental idea of birth, of achieving a new state, of emerging as novelty or as event. In Parmenides as in Plato, the durative aspect of einai thus provides the linguistic underpinning for the antithesis in which Being is opposed to Becoming as stability to flux.“ (Mit einem Verweis auf Platon Theaitetos 152d). 86 Passend dazu bemerkt Jaap Mansfeld in Bezug auf die Frage, was „das Seiende“ eigentlich sei, „(...) daß es sich beim „Seienden“ vor allem um ein Objekt der Erkenntnis handelt“. Vgl. Jaap Mansfeld (Hrsg.): Die Vorsokratiker I, Stuttgart 1999, S. 219. 87 Parmenides B8, 13–15. Es ist demnach das Recht selbst, das dem Seienden das zuordnet, was ihm zusteht, i. e. zu sein. 88 Dazu und zum Folgenden: ebd. B8, 26–30; 36f.
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„Seiende“,] als dasselbe in demselben bleibend, gemäß seiner selbst, [und] auf diese Weise bleibt es, unverbrüchlich haltend, an demselben Ort“. Wie diese Sprachbilder zeigen, wird mit der Erkenntnis des „Seins des Seienden“ laut Parmenides ein notwendig vorliegender Sachverhalt eingesehen, der, mit Charles Kahn gedacht, die Möglichkeit eröffnet zu wissen, was der Fall ist und so einen „verlässlichen Logos⁸⁹“ (πιστὸς λόγος) hergibt.⁹⁰ Parmenides selbst fasst diesen Gedankengang knapp und präzise zusammen, indem er sagt: „Dasselbe kann gedacht werden und sein.“⁹¹
3.5 Zur Kritik des parmenideischen „Beweises“ des Seins des Seienden Eine wesentliche Voraussetzung des von Parmenides angewendeten „Beweisverfahrens“⁹², das auch als eine reductio ad absurdum und mithin als eine Spielart der logischen Figur des modus tollens begriffen werden kann,⁹³ besteht in der notwendigen Annahme der Gültigkeit des logischen Axioms des tertium non datur.⁹⁴ Soll
89 Vgl. ebd. B8, 50. Bewusst wird der griechische Begriff hier nicht übersetzt, um die an dieser Stelle gegebene Einheit seiner mannigfachen Bedeutungsaspekte wie „Begründungszusammenhang“ und „Rede“ zu betonen. 90 Aufgrund der Notwendigkeit dieses Sachverhaltes verfügt die Wahrheit, die in Bezug auf diesen einzusehen ist, über ein ἀτρεμὲς ἦτορ, vgl. Parmenides B1, 29. Vgl. zudem Charles H. Kahn: „The Thesis of Parmenides“, S. 711: „Parmenides is making the obvious, but not entirely trivial claim that whatever we know, whatever can be known, is – and must be – determinately so, that it must be actually the case in reality or in the world.“ 91 Parmenides B3 „(...) τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.“ Zu der Übersetzung dieses Satzes, vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 141. 92 Inwieweit hier überhaupt die Rede von einem „Beweisverfahren“ sein sollte, wird an späterer Stelle diskutiert werden. 93 Jaap Mansfeld spricht in diesem Zusammenhang von einem modus tollendo ponens, vgl. Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, S. 51. Zu der These, dass hier eine reductio ad absurdum vorliegt, vgl. auch Charles H. Kahn: „The Thesis of Parmenides“, S. 708. 94 Vgl. dazu Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, S. 58; vgl. zudem Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie, S. 250; Hans Schwabl: „Sein und Doxa bei Parmenides“, in: Hans-Georg Gadamer (Hrsg.): Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 9), Darmstadt 1968, S. 403. Eine Gegenposition wird von Geoffrey E. R. Lloyd vertreten, der bestreitet, dass das Prinzip des tertium non datur hier Anwendung finde. Nach Lloyds Meinung besteht zwischen den von Parmenides benannten Alternativen keine Kontradiktion in dem Sinne, dass eines ihrer beiden Glieder falsch und das andere infolgedessen wahr sein muss: „(...) the ‘propositions’ which Parmenides expresses are not contradictories (of which one must be true and the other false), but contraries, both of which it is possible to deny simultaneously, and it is clear that from the point of view of strict logic they are not exhaustive alternatives“. Vgl. Geoffrey E. R. Lloyd: Polarity and Analogy. Two Types of Argumentation in Early Greek Thought, Cambridge 1966, S. 104. Die Schwierigkeit, die mit Lloyds Position verbunden ist, besteht darin, dass er die von
Zur Kritik des parmenideischen „Beweises“ des Seins des Seienden
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nämlich gezeigt werden, dass die propositio p= „das Seiende ist“ deswegen wahr ist, weil ihre Negation ¬p= „das Seiende ist nicht“ unmöglich ist, so hat dieser Schluss nur dann Gültigkeit, wenn es unmöglich ist, dass das Seiende in irgendeinem Fall ist und zugleich, wenn auch in anderer Hinsicht, nicht ist. Aussagenlogisch formalisiert ließe sich diese Bedingung als ¬(p & ¬p) zum Ausdruck bringen. Wäre es folglich möglich, dass das Seiende in irgendeiner Weise ist und zugleich nicht ist, dann ergäbe sich aus dem Aufweis, dass es nicht der Fall ist, dass das Seiende nicht ist (¬¬p), nicht notwendig, dass es ist (p), da dann noch die besagte Möglichkeit übrigbliebe, dass das Seiende ist und nicht ist (p & ¬p). Auffallend ist, dass sich Parmenides dieser Problematik offensichtlich bewusst war, da er mit Nachdruck betont, dass das Seiende entweder vollkommen ist oder überhaupt nicht und dass daher eine dritte Möglichkeit in Bezug auf diese Frage auszuschließen sei.⁹⁵ Dieser Ausschluss ist dabei wiederum insofern gerechtfertigt, als die Annahme einer dritten Möglichkeit gegen das Kontradiktionsprinzip verstoßen würde, da eine solche implizieren würde, dass dem, was ist, das Nichtsein zugesprochen würde.⁹⁶ Darüber hinaus kann gegen den parmenideischen Aufweis der Notwendigkeit des „Seins“ des „Seienden“ eingewendet werden, dass dieser zirkulären Charakter habe. Denn, wie dargelegt worden ist, besteht das Argument des Parmenides darin, dass die These des Nichtseins des „Seienden“ durch den Aufweis ihrer Selbstwidersprüchlichkeit ad absurdum geführt wird. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nun allerdings, dass der Beweis der Selbstwidersprüchlichkeit der These, der gemäß das „Seiende“ nicht ist, bereits als gegeben voraussetzen muss, dass das Seiende ist. Die auszuschließende Kontradiktion ist nämlich nur dann gegeben, wenn von dem Seienden als dem, welches ist, ausgesagt wird, dass es nicht sei. Wird dabei nicht vorausgesetzt, dass das „Seiende“ ist, liegt kein Selbstwiderspruch vor. Infolgedessen setzt das Argument für seine Gültigkeit gerade das voraus, was es eigentlich zu beweisen
Parmenides gestellte Alternative zwischen ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν in unangemessener Weise interpretiert. Die Entscheidung ist nicht, wie Lloyd meint, zwischen einer „unalterable existence“ und einer „unalterable non-existence“ (Polarity and Analogy, S. 105) zu treffen, sondern zwischen den ebenfalls von ihm angesprochenen, aber abgelehnten Möglichkeiten „unalterable existence“ und „it does not exist unalterably“ (ebd.). Lloyds Missverständnis beruht dabei offensichtlich darauf, dass er das Verb εἶναι nicht in dem von Charles H. Kahn vorgeschlagenen „veridikalen“ Sinne versteht, sondern lediglich eine existentielle oder prädikative Verwendungsweise von „sein“ zugrunde legt und infolgedessen die enge Verbindung von „sein“ und erkennen, die in der von Parmenides gestellten Alternative impliziert ist, außer Acht lässt. 95 Vgl. Parmenides B8, 15f.: „ἡ δὲ κρίσις περὶ τούτων ἐν τῷδ΄ ἔστιν· ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν.“ 96 Der Sinn dieses Ausschlusses des tertium wird noch deutlicher, wenn man das „Sein“ als ein veridikales und mithin als Wahrsein deutet. In diesem Fall ist zu formulieren: Das Wahre ist wahr oder nicht wahr, ohne dass eine dritte Möglichkeit denkbar wäre. Ist das Wahre nämlich irgendwie als unwahr zu denken, so ist es nicht das Wahre, so dass eine jegliche Beschränkung des Wahrseins des Wahren dieses aufhebt. Parmenides veranschaulicht dies auch dadurch, dass er davon spricht, dass das Seiende völlig einfach, das heißt, nichts als seiend ist. Vgl. dazu B8, 22–25.
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sucht und sieht sich somit dem Vorwurf einer petitio principii ausgesetzt.⁹⁷ Begründet liegt der zirkuläre Charakter des Argumentes in diesem Fall darin, dass es sich bei der Aussage „das Seiende ist“ um eine Tautologie handelt.⁹⁸ So ist der Versuch, eine Tautologie wie beispielsweise A=A mit Hilfe einer reductio ad absurdum als wahr zu erweisen, stets zirkulär, da die These, dass A≠A eine abzulehnende Kontradiktion der Form A=(A & ¬A) beinhalte, bereits zur Voraussetzung hat, dass gilt A=A. Dass folglich die These, dass A A sei, notwendig gilt, hat seinen Grund in nichts anderem als in dem, dass A A ist, was verdeutlicht, dass hier ein Selbstbegründungsverhältnis vorliegt. Gleiches gilt nun auch für die Wahrheit der These, dass das Seiende sei.⁹⁹ Auch diese Wahrheit lässt sich nur mittels eines sogenannten „Zirkelschlusses“ aufzeigen, der davon ausgeht und zeigt, dass das Seiende ist. Nun stellen solche Zirkelschlüsse jedoch keine gültigen logischen Schlüsse dar, da mit ihrer Hilfe nichts Unbekanntes und Zweifelhaftes aus etwas Bekanntem und Unzweifelhaftem geschlossen wird, setzt doch (mindestens) eine ihrer Prämissen die Konklusion bereits als bewiesen voraus. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob Parmenides’ Argumentation und Behauptung, dass es notwendig wahr sei, dass das Seiende ist, nicht als Ergebnis eines logischen Fehlschlusses zu interpretieren und demzufolge abzulehnen ist. Wie eine nähere Betrachtung des parmenideischen Gedankenganges zeigt, ist dies zu verneinen, da das Zirkuläre seiner Argumentation einen wesentlichen Bestandteil dessen ausmacht, was das Lehrgedicht des Parmenides zum Ausdruck bringen möchte. So zeigt gerade dieser zirkuläre Charakter der „Beweisführung“ in Bezug auf die Notwendigkeit des „Seins“ des „Seienden“, dass ein wahres Wissen seine Begründung, parmenideisch gedacht, in sich selbst hat und dass die Wahrheit eines solchen Wissens von nichts anderem abhängt als davon, dass es wahr ist. Denn dass das „Seiende“ ist, ist, wie dargelegt, deswegen wahr, weil die Annahme der Unwahrheit dieses Sachverhaltes unmöglich ist, was sich wiederum dadurch begründet, dass angenommen werden muss, dass das „Seiende“ ist. Verkürzt und auf eine später gebrauchte Formulierung anspielend gesagt, bedeutet dies: Das Wahre ist
97 Dies bedeutet, anders gewendet, dass das Seiende deswegen ist, weil es nicht nicht seiend ist, was sich wiederum dadurch begründet, dass es seiend ist. 98 Ob hier tatsächlich eine Tautologie vorliegt, wird kontrovers diskutiert. Bejaht wird diese Frage unter anderem von Gwilym E. L. Owen: „Eleatic Questions“, in: The Classical Quarterly 10 (1960), S. 84–102, bes. 90–94, und Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, (Reihe: Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Die Philosophie der Antike, 1), München 1976, S. 117. Eine Gegenposition vertreten Hermann Schmitz: Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988, S. 94–97, und besonders S. 172, sowie Sven Sellmer: Argumentationsstrukturen bei Parmenides, S. 43f. 99 Vgl. dazu Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 146; Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 23.
Das „Sein des Seienden“ als das „Wahr-Sein des Wahren“
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durch das Wahre wahr.¹⁰⁰ Oder auch: Das Wahre ist deswegen wahr, weil es wahr ist. Folglich stellt auch der zirkuläre Gedankengang zur Verdeutlichung der Wahrheit des „Seins“ des „Seienden“ keine im strengen Sinne zu verstehende „Begründung“ für diese Wahrheit dar, sondern lediglich eine Art „Aufweis“, der anhand seiner Zirkularität zeigt, dass die eingesehene Wahrheit ihren Grund in sich selbst hat.¹⁰¹ Parmenides selbst hebt dies dadurch hervor, dass er als „Begründung“ dafür, dass es „(...) notwendig [ist] zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist“, anführt, „dass es [i. e. das Seiende] ist“¹⁰².
3.6 Das „Sein des Seienden“ als das „Wahr-Sein des Wahren“ Die Erkenntnis, dass das, was der Fall ist, der Fall ist und dass dieses notwendigerweise so ist, stellt den Kern der parmenideischen Einsicht in das „Herz der Wahrheit“ dar, ist doch das in dieser Weise zum Ausdruck gebrachte Selbstbegründungsverhältnis auf die Wahrheit im Allgemeinen zu übertragen. Alles nämlich, was der Fall und mithin wahr ist, ist, parmenideisch gedacht, aus keinem anderen Grund wahr als deswegen, weil es wahr ist; oder, um es dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entsprechend zu formulieren: Es ist wahr, weil es der Wahrheit, dem, „wie es ist“, entspricht. Damit zeigt sich: Das Kriterium, anhand dessen sich Wahres von Unwahrem scheiden lässt, ist die Wahrheit und nicht etwa ein möglicher Unterschied zwischen dem Wahren und dem Nicht-Wahren.¹⁰³ So schreibt Parmenides: Die Unterscheidung bezüglich dessen liegt in folgendem: Es ist oder es ist nicht.¹⁰⁴
Wollte nun jemand bestreiten, dass das Wahre wahr ist, oder, wie Parmenides sich ausdrückt, dass das Seiende ist,¹⁰⁵ ergäbe sich der bereits erörterte Selbstwider-
100 Vgl. dazu Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 153–156. Die „spätere Formulierung“, auf die hier angespielt wird, findet sich bei Platon in Hippias Maior 289d. 101 Zu dem Ergebnis, dass die Wahrheit ihren Grund in sich selbst hat, gelangt man ebenfalls, wenn man in Betracht zieht, dass der Begriff des Wahren es gar nicht zulässt, anzunehmen, dass es nicht wahr sei, da das Wahre, sofern es in irgendeiner Weise möglich wäre, es als unwahr zu denken, nicht das Wahre wäre. Auch hier ist zu beachten, dass gilt tertium non datur, so dass das Wahre entweder wahr oder nicht wahr und im letzteren Fall nicht das Wahre ist. Vgl. dazu auch Charles H. Kahn: „The Thesis of Parmenides“, in: The Review of Metaphysics 22,4 (1969), S. 708. 102 So heißt es in B6, 1: „ἔστι γὰρ εἶναι.“ Dass es sich hier, wie bereits zuvor erwähnt, um eine „Begründung“ der genannten These der Notwendigkeit des „seins“ des „Seienden“ handelt, zeigt das γάρ. 103 Dass das Wahre sich im Unterschied zum Nicht-Wahren bestimme, ist schon deswegen nicht zu halten, weil das Nicht-Wahre als das, was nicht ist, Parmenides zufolge nicht erkannt werden kann und als das Nichtseiende auch nicht in einem Unterschied zum Wahren besteht. 104 Parmenides B8: „ἡ δὲ κρίσις περὶ τούτων ἐν τῷδ΄ ἐστίν· ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν.“ 105 Dazu dass Parmenides’ Einsicht in das Sein des Seienden so umformuliert werden kann, vgl. auch Charles H. Kahn: „The Thesis of Parmenides“, S. 706–713, besonders S. 710.
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spruch, der noch deutlicher zu Tage tritt, wenn man die parmenideische Einsicht im Sinne der Kahn’schen veridikalen Interpretation von εἶναι formuliert und damit den Inhalt des „Seins“ als ein „Bestimmt-“ beziehungsweise „Wahrsein“ begreift. Denn verträte jemand die These, dass das Wahre nicht wahr sei, so gelte dies doch notwendig auch für die Wahrheit eben dieser These des Einredenden, die, setzte man ihren Inhalt als wahr voraus, als unwahr erwiesen wäre. Entweder nämlich hat der Einredende recht und es ist wahr, dass das Wahre nicht wahr ist – dann ist es mithin wahr, dass das Wahre nicht wahr ist, da dies zum Ausdruck bringt, was der Fall ist.¹⁰⁶ Dies kann der Einredende, will er seine These halten, nicht bestreiten, da er ansonsten behaupten müsste, dass es nicht wahr sei, dass das Wahre nicht wahr ist – in diesem Fall jedoch würde gar keine Einrede gegen Parmenides’ These, dass das Wahre wahr sei, erhoben.¹⁰⁷ Wie der Erweis der Unmöglichkeit der Negation des Wahrseins des Wahren zeigt, besteht die von der Göttin vorgetragene Wahrheit als eine notwendige im Sinne der Unmöglichkeit des Widerspruches, so dass mit Parmenides der Schluss zu ziehen ist, dass es notwendig ist, dass das Wahre wahr ist, was am Begriff der Wahrheit selbst erkannt wird. Setzt man dieses voraus, wird deutlich, dass die von Parmenides als notwendig erkannte Wahrheit des Wahrseins des Wahren ihren Grund in sich selbst hat und infolgedessen das aus der Einsicht in diese Wahrheit gewonnene Wissen insofern „absolut“ (= abgetrennt, losgelöst) wahr ist, als es in Bezug auf seine Wahrheit von keiner weiteren Ursache abhängt als davon, dass es wahr ist. Zusammenfassend ließe sich die Einsicht des Parmenides also auch wie folgt formulieren: „Es ist notwendigerweise wahr, dass das, was wahr ist, wahr ist.“
106 Parmenides’ These, der gemäß das, was wahr ist, wahr ist, fände sich also auch im Fall ihrer Negation bestätigt. 107 Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass es, sofern es in der Tat wahr ist, dass das Wahre nicht wahr ist, wahr ist, dass das Wahre nicht wahr ist. Dies aber entspricht gerade dem Inhalt der parmenideischen Einsicht. Im Übrigen ist anzumerken, dass Parmenides’ Gedanke, dass hinsichtlich der Frage nach dem Sein oder Nichtsein des Seienden tertium non datur gilt, auch mit Blick auf die veridikale Interpretation von εἶναι angenommen werden muss. Auch das Wahre nämlich ist wahr oder es ist nicht wahr – eine dritte Möglichkeit ist dabei auszuschließen. Ist nämlich irgendwie denkbar, dass ein Wahres nicht wahr ist, so ist es nicht wahr und nicht etwa „ein wenig wahr“. Überdies ist anzumerken, dass der von Parmenides als notwendig wahr eingesehene Sachverhalt des Wahrseins des Wahren im Rahmen aller Behauptungen des Bestehens von Sachverhalten vorauszusetzen ist. Was auch immer als „seiend“ bezeichnet wird, der eine solche Behauptung Vortragende muss dabei voraussetzen, dass das, was (wahr) ist, (wahr) ist. Wie erörtert worden ist, gilt dies sogar für die These, dass das Wahre nicht wahr sei.
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3.7 Die Auffassungen der Sterblichen Dem sicheren, über das „Seiende“ eingesehenen Wissen stellt Parmenides die bereits angesprochenen „Auffassungen der Sterblichen“ (δόξαι βροτῶν)¹⁰⁸ gegenüber. Diese unterscheiden sich von dem von der Göttin vorgetragenen „verlässlichen Logos“ hauptsächlich darin, dass sie keinen unveränderlichen, notwendig bestehenden Sachverhalt, d. h. kein „Seiendes“ beziehungsweise „Wahres“, zum Gegenstand haben. So sind die „Auffassungen“, „(...) denen“, wie Parmenides schreibt, „keine wahre Verlässlichkeit innewohnt“¹⁰⁹, nicht in der Lage zu sagen, „wie es ist“, und die Menschen, die die „Auffassungen“ vertreten, als „nicht unterscheidende Horden“ zu betrachten, die „stumm und auf dieselbe Weise blind“ fortgetragen werden und „in verwirrtes Staunen versetzt sind“¹¹⁰. Der Grund dafür liegt nach Parmenides darin, dass den „nichts wissenden Menschen“, den „Doppelköpfigen“, „Sein und Nichtsein als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe gilt“, und dass es für sie „bei allem eine in ihr Gegenteil umschlagende Bahn gibt“¹¹¹. Wie diese Stellen verdeutlichen, besteht der zentrale Fehler der „Doppelköpfigen“ Parmenides zufolge darin, dass sie nicht zwischen „Sein“ und „Nichtsein“ unterscheiden und infolgedessen das, was ist, als nicht seiend und das, was nicht ist, als seiend ansehen. Damit vollziehen sie nicht die für Parmenides fundamentale Unterscheidung zwischen dem „es ist oder es ist nicht“¹¹², aus der heraus sich die Scheidung ergibt zwischen dem, was notwendig der Fall und somit wahr ist, dem ἐόν, und dem, was nicht der Fall ist, dem μὴ ἐόν. Im Nichtvollzug dieser Unterscheidung zwischen „Sein“ und „Nichtsein“ erweisen sich die „Sterblichen“ dabei als die besagten „entscheidungsunfähigen Horden“, die das Wahre nicht erkennen. Denn da es im Fall des Seienden beziehungsweise des Wahren unmöglich ist, dass es nicht (wahr) ist – dann wäre es nicht das Seiende/Wahre – und auch keine dritte Möglichkeit des Wahr- und gleichzeitigen Unwahrseins des Wahren angenommen werden kann, ist der Nichtvollzug der Scheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit insofern fatal, als die Wahrheit als solche infolgedessen nicht erkannt werden kann. Ist hier die Rede vom „Nichtseienden“, so gilt zu beachten, dass nicht das „Nichtseiende“ im strengen Sinne des μὴ ἐόν gemeint ist, welches nach Parmenides überhaupt nicht erkennbar ist.¹¹³ Demgegenüber stellt sich der Gegenstand der „Auffassung“ als ein „Seiendes“ dar, das zwar ist und daher auch erkannt werden kann, das jedoch nicht vollkommen, unveränderlich und mithin notwendig ist und insofern
108 Parmenides B1, 30. 109 Ebd. 110 Ebd. B6, 4–6. 111 Ebd. B6, 9. 112 Ebd. B8, 15. 113 Vgl. ebd. B2, 7f.
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auch nicht ist.¹¹⁴ Aus diesem Grund stellt das Objekt der „Auffassung“ für Parmenides streng genommen kein „Seiendes“ dar, da sich dieses, wie ausgeführt, dadurch kennzeichnet, dass es in keiner Weise mit dem Nichtsein verbunden ist. Als etwas, das nicht notwendig ist, was es ist, kann das „Seiende“, auf das sich die „Auffassung“ bezieht, für Parmenides auch kein Gegenstand sicheren Wissens sein, da es nicht als ein feststehender Sachverhalt besteht und über ein solches Übergängliches, sich stets Veränderndes¹¹⁵ nicht sicher gewusst und gesagt werden kann, „wie es ist“, sondern nur „wie es ist“ und „wie es nicht ist“.¹¹⁶ Somit stellen sich die „Auffassungen“ als das Ergebnis einer Form der Erkenntnis dar, die nicht die Wahrheit zum Ausdruck bringt, da sie diese nicht in ihrer Notwendigkeit, d. h. in ihrer Scheidung von der Unwahrheit aufzeigt. Benennt sie doch etwas als seiend, was ist und auch nicht ist.¹¹⁷ Ein weiteres Charakteristikum der δόξα besteht nach Parmenides in ihrer Gebundenheit an die Perspektive des jeweiligen Erkennenden.¹¹⁸ Bildet nämlich das sinnliche Vernehmen die Grundlage für das Zustandekommen einer „Auffassung“ und ist dieses Vernehmen, wie Parmenides ausführt, von den im Leib des Vernehmenden bestehenden Mischungsverhältnissen von Licht und Nacht abhängig,¹¹⁹ dann folgt daraus, dass die „Auffassungen“ stets an die Perspektive des Einzelnen gebunden
114 Zur seinsmäßigen Mittelstellung des Gegenstandes der „Auffassung“ vgl. Hans Schwabl: „Sein und Doxa bei Parmenides“, S. 403f.: „Dagegen aber geht nun gerade der Beweis des Parmenides, daß dieses sogenannte εἶναι der Menschen, von dem es bald heißt οὐκ ἔστιν, ein wirkliches εἶναι sein soll, ein wahres Sein, das in den letzten Gründen Bestand hat. Es wäre nun aber unangebracht, sich vorzustellen, Parmenides leugne überhaupt das Geborenwerden und Sterben, das Aufblühen und Verwelken, ja diese ganze Welt des menschlichen Tages, was er angreift, ist die Absolutsetzung dieser Welt der Eintagsfliegen, in der wir leben: was er erweist, ist eine Welt des Unvergänglichen, Festbestehenden hinter dieser Welt des Unbeständigen und Sterblichen, die daher auch nur scheinbare und bedingte Gültigkeit haben kann.“ 115 Derartiges stellen für Parmenides in aller erster Linie die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung dar, was seine Gegenüberstellung von νοητά und αἰσθητά und deren Parallelisierung zu der ἀλήθεια auf der einen und der δόξα auf der anderen Seite verdeutlicht. Vgl. Simplikios: In Aristotelis Physica Commentaria 30, 14 (Kommentar zu Parmenides B8, 50–52); vgl. zudem Parmenides B7: „Nicht soll vielerfahrene Gewohnheit dich auf diesem Weg zwingen, hurtig zu regen das unachtsame Auge und das widerhallende Gehör und die Zunge.“ 116 Vgl. dazu auch John A. Palmer: Plato’s Reception of Parmenides, Oxford 1999, S. 45. Aus dem Umstand, dass die Sterblichen ihre Erkenntnis darauf richten, „wie es ist“ und „wie es nicht ist“, ergibt sich die Begründung dafür, warum Parmenides die Sterblichen auch als „Doppelköpfige“ bezeichnet. 117 Die Illusion, dass im Kontext der „Auffassung“ doch etwas Seiendes betrachtet wird, wird nach Parmenides dadurch aufgebaut, dass „Namen“ (ὀνόματα) für die Dinge verwendet werden, die ein kontinuierliches und unveränderliches Sein suggerieren, wo bei näherem Hinsehen keines zu finden ist. Vgl. dazu Parmenides B8, 38–41, und die sich in B19 findenden Schlussbemerkungen zu seinen kosmologischen Betrachtungen. 118 Vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 137ff.; überdies ders.: „Zu Platons eigener Sache“, S. 201. 119 Vgl. Parmenides A46, siehe auch oben, Kapitel 3.1.
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sind. Als solche sind sie jedoch nicht in der Lage zu sagen, „wie es ist“, sondern nur, wie es für den ist, der die jeweilige „Auffassung“ vertritt.¹²⁰ Richtet sich das menschliche Erkenntnisvermögen nun trotz der angesprochenen Schwierigkeiten auf diese Form des „Seienden“, begibt es sich auf den dritten der von der Göttin benannten „Wege der Untersuchung“, von dem die Göttin den nach Wahrheit suchenden Parmenides ebenfalls zurückhält,¹²¹ da dieser Weg der „nichts wissenden Sterblichen“ nicht zur Einsicht in das „unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit“ führt, sondern lediglich in den Bereich der nicht-wahrheitsfähigen „Auffassungen“.
3.8 Die Konsequenzen aus der Erkenntnis des Parmenides Die parmenideische Einsicht in die Wahrheit des „(Wahr-)Seins“ des „(Wahr-)Seienden“ hat weitreichende Konsequenzen. So erweist sich Parmenides zufolge das „Seiende“ beziehungsweise das „Wahre“ als der einzige mögliche Gegenstand eines wahren Wissens, das notwendig und absolut wahr ist, da es in seiner Wahrheit nicht bestreitbar und selbstbegründet ist.¹²² Gleichzeitig wird damit den Erkenntnissen der überkommenen Philosophie insofern die Grundlage entzogen, als deutlich wird, dass sie sowohl aufgrund ihres Betrachtungsgegenstandes – der übergänglichen Welt des Gewordenen – als auch wegen ihrer vom sinnlichen Vernehmen ausgehenden Methode des Erkenntnisgewinnes nicht in der Lage ist, ein Wissen davon, „wie es ist“, einzusehen, das nicht von der Perspektive des jeweiligen Einzelnen abhängig ist. Infolgedessen wird die περὶ φύσεως ἱστορία von Parmenides auf das Feld der δόξα verwiesen,¹²³ die als solche keine Wahrheit für die von ihr gewonnen Erkenntnisse beanspruchen kann und die sich, parmenideisch gedacht, in Bezug auf den Versuch, ein sicheres Wissen einzusehen, als unbrauchbar erweist. Philosoph zu sein, das bedeutete fortan, diejenige „Weisheit“ zu „lieben“, die sich in Gestalt des Wissens vom Wahren, von dem, was ist, zeigte.
120 Die Bindung an die Perspektive des Einzelnen ist auch der Grund dafür, warum Parmenides meistens von den „Auffassungen“ (im Plural) spricht, da damit das Unterschiedliche der jeweiligen Perspektive zum Ausdruck kommt. 121 Vgl. Parmenides B6, 3ff. 122 Wie noch gezeigt werden soll, wird mit der Angabe der Eigenschaften der Unbestreitbarkeit und Selbstbegründetheit des sicher Gewussten eine Entscheidung bezüglich der Bestimmung des „Prinzips“ getroffen, die für die nachfolgende Entwicklung der griechisch-lateinischen Philosophie von fundamentaler Bedeutung sein wird. 123 Angezeigt wird dieses durch den Übergang von dem auf das „Seiende“ bezogenen πιστὸς λόγος zu der in der zweiten Hälfte des Lehrgedichts enthaltenen Kosmologie, die für Parmenides in den Bereich der δόξα fällt. So in Simplikios In Aristotelis Physica Commentaria 30, 14 (Kommentar zu Parmenides B8, 50–52) mit der Fortsetzung des Gedankenganges in B8, 53ff.
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Mit Blick auf die in dieser Arbeit untersuchte Frage nach einem sicheren, auf die menschliche Praxis bezogenen Wissen ergibt sich aus der Betrachtung des Denkens des Parmenides, dass dieser zwar seinem Selbstverständnis gemäß zu einer Einsicht in ein sicheres Wissen gelangt, dass er jedoch gleichzeitig die Frage nach der Praxisrelevanz dieses Wissens nicht eigens thematisiert. Ob also das von ihm eingesehene sichere Wissen auch ein Wissen bezüglich eines Kriterium beinhaltet, anhand dessen zu entscheiden ist, wie zu handeln ist und wie nicht, das scheint von Parmenides nicht eigens in Erwägung gezogen worden zu sein. Diesen Schluss legt zumindest das Fehlen jeglicher Zeugnisse für eine Auseinandersetzung mit dieser Frage in den überlieferten Textfragmenten nahe.¹²⁴ Neben dem Mangel an derartigen textlich fixierbaren Hinweisen ist es zudem auffällig, dass die sich in der Folgezeit an der eleatischen Philosophie entwickelnde Kritik unter anderem gerade diesen Aspekt der mangelnden Praxisrelevanz des von Parmenides angegeben sicheren Wissens in den Vordergrund stellt. Zusammen mit dem besagten Fehlen von Textzeugnissen stellt dieser Umstand ein wichtiges Indiz dafür dar, dass eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Praxisrelevanz des wahren Wissens im Rahmen des ursprünglichen eleatischen Denkens so zunächst nicht stattgefunden hat. Erreicht folglich die Suche nach einem prinzipiellen praktischen Wissen mit Parmenides zwar nicht ihr Ziel, ist mit seinen Überlegungen dennoch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entwicklung einer solchen Einsicht gemacht; trägt doch Parmenides ein Wissen vor, das seinem Selbstverständnis gemäß ein wesentliches Merkmal eines prinzipiellen Wissens an sich trägt – die Notwendigkeit. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden wird, sollte nun gerade die Frage nach der Relevanz eines sicheren – d. i. notwendig wahren – Wissens parmenideischer Art einen zentralen Ausgangspunkt für die Entwicklung der Kritik an dieser Art von Philosophie dienen, einer Kritik, wie sie vor allem von Seiten der Sophisten vorgebracht wurde.
124 Hier gilt es selbstverständlich, Vorsicht walten zu lassen, da die Tatsache, dass man keine derartigen Zeugnisse gefunden hat, nicht notwendigerweise heißen muss, dass Parmenides diese Frage nicht bedacht hat. Mit Sicherheit lässt sich allerdings feststellen, dass uns dies nicht überliefert ist.
4 Sophistische Kritikpunkte Wie es scheint, stellte die von Parmenides vorgetragene und von seinen Nachfolgern in Elea weiterentwickelte Kritik an der περὶ φύσεως ἱστορία diese Art der Philosophie vor erhebliche Schwierigkeiten und beförderte die Entwicklung eines immer mehr zu Tage tretenden „Verfalls des kosmologischen Wissens“¹. Bald nun sollte sich die eleatische Philosophie parmenideischer Prägung jedoch ihrerseits Einwänden ausgesetzt sehen, die das von ihr eingesehene Wissen sowohl in Bezug auf die Möglichkeit seiner Ausbildung als auch in Hinsicht auf seine Relevanz für die menschliche Praxis in Frage stellten. Vorgebracht wurde diese Kritik dabei von Denkern, die ihre Einreden in keinem geringeren Namen als dem der „Weisheit“ (σοφία) vortrugen. Worin der Inhalt der Lehren dieser sogenannten „Weisen“, der „σοφισταί“, besteht und inwiefern mit diesen Lehren eine Kritik am Denken des Parmenides und seiner Nachfolger verbunden ist, soll nun im Folgenden erörtert werden. In der Forschung ist mehrfach die Meinung vertreten worden, dass es problematisch sei, eine so heterogene Gruppe wie die der unter der Bezeichnung der „Sophisten“ zusammengefassten Denker unter einen einheitlichen Begriff zu stellen. Zu groß scheinen Interpreten wie Carl J. Classen die Unterschiede bezüglich der Lehren und Zielsetzungen der einzelnen als „Sophisten“ bezeichneten Denker zu sein. Daher ist es ihrer Meinung nach nicht möglich, mehr als nur sehr vage formale Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Vertretern dieser Gruppe festzustellen.² Anteil daran hat sicherlich unter anderem auch der Umstand, dass die Benennung „σοφιστής“, die einst synonym mit „σοφός“ verwendet worden war,³ im Lauf der Geschichte auf eine ganze Reihe von „Weisen“ angewendet wurde, deren Weisheit sich mitunter jedoch sehr unterschiedlich darstellte. Wie George B. Kerferd ausführt, reicht das Spektrum derjenigen, auf die die Bezeichnung „σοφιστής“ seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert angewendet wurde, von Dichtern wie Homer und Hesiod über Musiker, Rhapsoden, Wahrsager, Seher und die „Sieben Weisen“ bis hin zu anderen „Weisen“ wie den vorsokratischen Philosophen und mythologischen Figuren wie Prometheus, denen man geheimnisvolle Kräfte zusprach.⁴ Ungefähr zu Lebzeiten des Sokrates kam es dann William K. C. Guthrie zufolge zu einer Verschiebung der Bedeutung des Wortes „σοφιστής“, das nun vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, für „berufsmäßige Erzieher“ („professional educators“) verwendet worden sei, deren gemeinsames Merkmal darin bestanden habe, dass sie – jeweils gegen Gebühr –
1 Zu dieser Entwicklung, vgl. Heribert Boeder: „Parmenides und der Verfall des kosmologischen Wissens“, in: Heribert Boeder: Das Bauzeug der Geschichte, S. 117–169. 2 Vgl. Carl Joachim Classen: „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.): Sophistik, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 187), Darmstadt 1976, S. 1–18, hier S. 1–4. 3 Vgl. Diogenes Laertios 1, 12, zitiert nach William Keith Chambers Guthrie: The Sophists, (Reihe: A history of Greek philosophy, Bd. 3,1), Cambridge 1969, S. 28. 4 Vgl. George B. Kerferd: The Sophistic Movement, Cambridge 1981, S. 24.
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sowohl junge Männer ausbildeten als auch ihre Beredsamkeit öffentlich zur Schau stellten.⁵ Die zuvor angesprochene Frage, ob weitere über diese Beschreibung hinausgehende Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Erziehern bzw. „Lehrern“⁶ festzustellen sind, die es erlauben würden, einen einheitlichen Begriff des „Sophisten“ zu bilden oder gar von einer philosophischen Schule der „Sophistik“ zu sprechen, ist, wie bereits angemerkt, nur schwer zu beantworten.⁷ Jedoch kann sie an dieser Stelle auch unbeantwortet bleiben, da es für das Verständnis der Kritik von den hier als „Sophisten“ bezeichneten Denkern an der eleatischen Philosophie keine Rolle spielt, ob diese Kritiker einem möglichen einheitlichen Begriff des „Sophisten“ entsprechen oder nicht.⁸ Für das hier zu Verhandelnde ist es ausreichend, den Begriff der „Sophisten“ oder der „Sophistik“ als eine Art „Sammelbezeichnung“ zu verwenden, was vor allem dadurch legitimiert ist, dass sich viele der als „Sophisten“ Bezeichneten trotz der besagten Unterschiede, die zwischen ihren Lehren bestehen, diesen Namen selbst gegeben haben bzw. von anderen so genannt wurden.⁹ Dies trifft insbesondere auf Protagoras von Abdera zu, der in der Tradition als der erste Sophist gilt, da er der erste gewesen sein soll, der sich selbst als ein derartiger bezeichnet und Unterricht gegen Gebühr erteilt haben soll.¹⁰ Diesem in vielfachem Sinne „ersten“ und wohl auch berühmtesten unter den Sophisten soll sich die Untersuchung nun zuerst zuwenden.
4.1 Der Mensch als das Maß aller Dinge – Protagoras Eine, ja vielleicht sogar die wesentliche Einsicht des Protagoras besteht darin, dass das menschliche Urteil über einen Sachverhalt stets an denjenigen gebunden ist, der
5 Vgl. William K. C. Guthrie: The Sophists, S. 35: „In the lifetime of Socrates the word came to be used, though not solely, of a particular class, namely professional educators who gave instruction to young men, and public displays of eloquence, for fees.“ Davon, dass die Erziehung des Menschen von den Sophisten als eine ihrer grundlegenden Aufgaben betrachtet wurde, gibt auch Platon Zeugnis, vgl. Protagoras 317b 3–6. 6 Vgl. George B. Kerferd: The Sophistic Movement, Cambridge 1981, S. 11. 7 William Guthrie hat dazu angemerkt, dass es trotz der Schwierigkeiten, die es seiner Meinung nach unmöglich machen, von einer (philosophischen) „Schule“ („school“) zu sprechen, dennoch ebenfalls übertrieben wäre zu behaupten, dass die einzelnen als „Sophisten“ Bezeichneten keine gemeinsamen philosophischen Grundlagen gehabt hätten. Dazu und zu dem, was Guthrie als derartige philosophische Gemeinsamkeiten betrachtet, vgl. ders.: The Sophists, S. 47f. 8 Es wäre interessant zu bedenken, ob nicht andersherum die Kritik an der eleatischen Philosophie die zentrale Grundlage für die Bestimmung des Begriffes der „Sophistik“ darstellen könnte. Angedeutet findet sich dieser Gedanke bereits bei William K. C. Guthrie: The Sophists, S. 47f. 9 Vgl. Bernhard H. F. Taureck: Die Sophisten. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 13. 10 Vgl. Platon Protagoras 349a 1ff.
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das betreffende Urteil fällt.¹¹ Erscheint diese Erkenntnis auf den ersten Blick auch trivial, erweist sie sich bei näherer Betrachtung als philosophisch höchst bedeutsam, da sie weitreichende Konsequenzen für die Frage hat, inwiefern der Mensch erkennen kann, wie es ist. Bevor nun allerdings näher auf die Folgen dieser protagoreischen Einsicht eingegangen werden wird, soll in einem ersten Schritt zunächst noch genauer erläutert werden, in welcher Weise Protagoras zufolge ein Urteil an den jeweiligen Urteilenden gebunden ist. Das Diktum, das für gewöhnlich herangezogen wird, wenn es darum geht, Protagoras’ „Relativismus“ zu dokumentieren, ist der sogenannte „Homo-Mensura-Satz“, der der platonischen Überlieferung gemäß am Anfang einer protagoreischen Schrift stand, die bezeichnenderweise mit dem Titel „Ἀλήθεια“ überschrieben gewesen sein soll.¹² Der Satz lautet: Aller Dinge Maß ist der Mensch, der Seienden, wie/dass sie [der Fall] sind, der Nichtseienden, wie/dass sie nicht [der Fall] sind.¹³
Im Lauf der Geschichte ist dieser Satz des Protagoras schon seit der Antike vielfach ausgelegt und unterschiedlich bewertet worden. Dass es dabei große Unterschiede hinsichtlich der Interpretationen des Satzes gab und gibt, ist in nicht unerheblichem Maße dadurch bedingt, dass die in dem Satz vorkommenden Begriffe zum Teil sehr verschieden gedeutet werden können.¹⁴ So spielt es auch in Bezug auf die Interpretation des Homo-Mensura-Satzes wiederum eine entscheidende Rolle, wie das Verb „εἶναι“ zu verstehen ist, das, wie Charles Kahn in Bezug auf das Diktum des Protagoras hinweist, an dieser Stelle ebenfalls „veridikale“ Bedeutung hat.¹⁵ Legt man dieses Verständnis von „εἶναι“ zugrunde, ergibt es sich, dass der Mensch nach Protagoras in dem Sinne das „Maß“ des „Seins“ oder „Nichtseins“ aller „Dinge“ ist, insofern er
11 Vgl. Fritz Jürß: Zum Erkenntnisproblem bei den frühgriechischen Denkern, (Reihe: Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike, Bd. 14), Berlin 1976, S. 88–100. 12 Vgl. Platon Theaitetos 161c 2ff. Alternativ dazu berichtet Sextus Empiricus’ Schrift Adversus Mathematicos (VII, 60), dass der Satz am Anfang von Protagoras’ Schrift „Καταβάλλοντες“ gestanden habe. Mit Gregory Vlastos ist dazu allerdings zu bemerken, dass Sextus’ Bericht eine viel spätere Quelle darstellt und die Bezeichnung „Niederschmetternde (Reden)“ wohl eher eine Beschreibung des Inhalts der protagoreischen Schrift war, die in der Tat eine niederschmetternde Wirkung auf die traditionelle Philosophie in den Gestalten der περὶ φύσεως ἱστορία und der eleatischen Philosophie hatte. Vgl. dazu Gregory Vlastos: „Protagoras“, in: Carl Joachim Classen (Hrsg.): Sophistik, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 187), Darmstadt 1976, Anm. 21, S. 276. 13 Dieser dem Protagoras zugeschriebene Satz „Πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.“ ist mehrfach überliefert. So z. B. in Platon Theaitetos 152a 2–4; Sextus Empiricus Pyrrhonische Hypotyposen I (DK80 A14); Diogenes Laertios De vitis et dogmatibus clarorum philosophorum IX, 51 (DK80 A1). 14 Das zeigt auch die Interpretation des Homo-Mensura-Satzes durch Sextus Empiricus, der eine solche Interpretation der zentralen im Satz vorkommenden Begriffe vornimmt. 15 Vgl. Charles H. Kahn: „The Greek Verb ‚To Be‘“, S. 249f.
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derjenige ist, der beurteilt, was der Fall ist und was nicht, welche Sachverhalte für ihn bestehen und welche nicht.¹⁶ Worauf Charles Kahn nicht eingeht und was infolgedessen auch in seiner Übersetzung des Homo-Mensura-Satzes unberücksichtigt bleibt, ist, dass Protagoras’ Aussage dahin gehend spezifiziert ist, dass ihm der Mensch als das Maß aller „Dinge“ im Sinne der χρήματα gilt. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich aus dem Begriff der „χρήματα“, wie Laszlo Versényi herausgearbeitet hat, eine Einschränkung hinsichtlich des Bereichs ergibt, in welchem die vom Menschen zu „bemessenen“ Sachverhalte zu finden sind. So sei es bedeutsam, dass Protagoras von „χρήματα“ und nicht von ὄντα oder πράγματα spricht, da dieses Wort eine ganz besondere Art von „Dingen“ bezeichne.¹⁷ Versényi schreibt: (...) the original meaning of χρήματα is not just things, beings, or objects in general, but things with a special relation to our involvement with them: things one uses or needs; goods, property, etc.; generalized into affairs, events, matters we are concerned with. χρῆμα is derived from χρῆσθαι, χράομαι: to use, to have dealing with, to live with something (…). In all these cases what is stressed is the connotation of our use of, dealing and living with, attitude and relation to a thing, and not what that thing may or may not be in itself.¹⁸
Für die Sachverhalte, die der Mensch Protagoras zufolge als „seiend“ oder „nicht seiend“ beurteilt, ergibt sich daraus, dass nur solche Sachverhalte in Betracht kommen, die sich in ihrer Relation zum Menschen bestimmen und die dementsprechend so bestehen, wie sie für den Menschen als den sie Beurteilenden bestehen. Als Gegenstände menschlichen „Messens“ kommen nach Protagoras damit lediglich „Dinge“ im Sinne der χρήματα in Frage, die für mich als den sie Beurteilenden so sind, wie sie für mich sind, und nicht, wie sie unabhängig von meinem Urteil an sich sein könnten. Um nochmals Versényi zu zitieren: The things we are concerned with are χρήματα i. e. things we are decisively related to; thus there is no point in speaking in a grand manner about what things may or may
16 In diesem Zusammenhang schlägt Kahn die etwas freie, den Sinn des Homo-Mensura-Satzes jedoch in exzellenter Weise treffende Übersetzung vor: „[M]an is the measure of what is the case, that it is the case, and of what is not so, that is not so.“ Charles H. Kahn: „The Greek Verb ‚To Be‘“, S. 250; vgl. zudem Axel Bühler: „Protagoras: Wahrnehmung und Wahrheit“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 14,3 (1989), S. 22. Wie Axel Bühler mit einem Verweis auf Andreas Graesers Ausführungen zu diesem Thema anmerkt, zeigt sich vor dem Hintergrund des „veridikalen“ Verständnisses von „sein“, dass ὡς, wie es hier verwendet wird, sowohl „wie“ als auch „dass“ heißen kann. Vgl. dazu Axel Bühler: a. a. O., S. 22, Anm. 12; Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, (Reihe: Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Die Philosophie der Antike, Bd. 2), München 1993, S. 21–24. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Frage leistet auch Laszlo Versényis Artikel „Man-Measure Fragment“, in: Carl Joachim Classen (Hrsg.): Sophistik, S. 295. 17 Vgl. Laszlo Versényi: „Man-Measure Fragment“, S. 294. 18 Ebd.
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not be in themselves; what we have to take into account and concentrate on is what they are for us, in the world we live in, in a world in which our relationship to things, our living in the world, is decisive.¹⁹
Wer aber, so wäre in einem nächsten Schritt zu fragen, ist nach Protagoras derjenige, der in der besagten Weise urteilt und Maß ist? Wen oder was bezeichnet der im Rahmen des Homo-Mensura-Satzes verwendete Begriff „ἄνθρωπος“? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig und viel diskutiert. Während einige Interpreten die Meinung vertreten haben, der Begriff sei abstrakt zu verstehen und so sei nach Protagoras die „Menschheit“ als das „Maß aller Dinge“ zu betrachten,²⁰ sind andere zu dem Schluss gekommen, Protagoras habe an dieser Stelle den einzelnen Menschen im Sinn gehabt²¹ beziehungsweise, um noch eine dritte Position zu nennen, diese Unterscheidung habe für ihn keine Rolle gespielt.²² Eine weitere, am ehesten noch der dritten der beschriebenen Positionen zuzuordnende Meinung wird von Laszlo Versényi vertreten. Dieser möchte Protagoras’ Aussage so weit verallgemeinert verstanden wissen, dass jeder „Organismus“, sei es der Einzelne, ein Staat, die Menschheit, andere Tiere, Pflanzen usw.²³ als Maß in Bezug auf die in dem jeweiligen Kontext relevanten χρήματα zu betrachten sei. Versényi argumentiert dabei ausgehend von dem Begriff des χρῆμα, das sich, wie ausgeführt, durch seine Relation zu demjenigen bestimmt, der sie im weiteren Sinn des Wortes „gebraucht“, und das ohne diese Relation überhaupt nicht als χρῆμα vorläge.²⁴ Da nun allerdings nicht nur der einzelne Mensch in derartigen Verhältnissen zu „Dingen“ steht, die sich durch ihre Relation zu ihm bestimmen, sondern Gleiches auch für die Menschheit, Staaten, Tiere und Pflanzen gilt, ist das μέτρον-Sein nach Versényi nicht nur dem einzelnen Menschen zuzuschreiben.²⁵ Auf die Frage, warum der Homo-Mensura-Satz des Protagoras jedoch nur den „Menschen“ als das Maß aller „Dinge“ bezeichne, schreibt Versényi: The point, however, is – and this is what the fragment is designed to emphasize – that we are neither pigs, nor dog-headed apes, nor some more bizarre creature (like the
19 Ebd. S. 295. 20 Vgl. u. a. Theodor Gomperz: Griechische Denker, Band 1, Berlin 1922, S. 375. 21 Nach William Guthrie haben auch Platon, Aristoteles und Sextus Empiricus die Stelle so interpretiert, vgl. dazu ders.: The Sophists, S. 183. Vertreten wird diese These auch beispielsweise von Eduard Zeller in: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, erster Teil, zweite Abteilung, Vorsokratische Philosophie, zweite Hälfte, Darmstadt 1963, S. 1357f., Anm. 1. 22 Vgl. Claus J. Classen: „The Study of Language among Socrates’ Contemporaries“, in: Proceedings of the African Classical Associations 2 (1959), S. 35. 23 Vgl. Laszlo Versényi: „Man-Measure Fragment“, S. 296. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd., wo Versényi mit einem Verweis auf Platon Protagoras 333d formuliert: „Protagoras obviously holds that the things a pig, a firefly, a dog-headed ape, or some still stranger creature may be concerned with are relative to each of these creatures.“
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pure intellect of Parmenides) but human beings, and thus, as far as we are concerned, man indeed (whether the individual, the state, or mankind) is the measure of things.²⁶
Ein letztes, das im Kontext der Betrachtung des protagoreischen Homo-Mensura-Satzes untersucht werden soll, ist die Bedeutung des in dem Satz eine zentrale Rolle einnehmenden Begriffes des „Maßes“ (μέτρον). Einen wertvollen Hinweis darauf, wie der Begriff in diesem Zusammenhang zu verstehen sein könnte, geben die Deutungen Platons²⁷ und Sextus’²⁸, die übereinstimmend darauf hinweisen, dass das „Maß“ hier im Sinne eines „Kriteriums“ (κριτήριον) aufzufassen sei. So zeigen die platonischen Ausführungen im Theaitetos, dass der Mensch Protagoras zufolge insofern das Kriterium der Dinge „in sich hat“, wie Platon sich ausdrückt, als die „Unterscheidung“ (κρίσις) hinsichtlich dessen, wie es ist und wie es nicht ist, das „Urteil“ über Wahrheit und Unwahrheit, an den oder die jeweiligen Menschen gebunden ist.²⁹ Wird die Rede vom Menschen als dem „Maß“ aller Dinge in dieser Weise interpretiert, zeigt sich die Spitze, die sie gegen Parmenides enthält, stellt für diesen doch das „Seiende“ als das Wahre das Kriterium für die Entscheidung darüber, „wie es ist“, dar, indem sich nach Parmenides am Wahren selbst zeigt, dass es notwendig der Fall ist, dass es wahr ist. Demgegenüber steht die Auffassung des Protagoras, gemäß der es der Mensch ist, der eine Unterscheidung hinsichtlich dessen fällt, was für ihn oder sie der Fall ist und was nicht, was wahr ist und was unwahr. So findet sich im Theaitetos überliefert, dass nach Protagoras (...) „das, was einem jeden scheint, für den [der Fall] ist, dem es so scheint“³⁰. Und an anderer Stelle heißt es: Wahr ist also für mich meine Wahrnehmung. Auf das nämlich, was für mich ist, bezieht sie [i. e. die Wahrnehmung] sich stets und nach Protagoras bin ich der Richter (κριτής) über das, was für mich ist, dass/wie es ist, und über das, was nicht ist, dass/ wie es nicht ist.³¹
Wahr ist, wie diese Passagen zeigen, stets nur das, was für mich oder für uns – wenn wir uns als Gemeinschaft darauf geeinigt haben – wahr ist, und nicht das, was an sich wahr ist. „Wie es an sich ist“, das heißt unabhängig davon, wie ich es beurteile, das ist Protagoras zufolge nicht Gegenstand meines Urteils, da sich mir die Dinge stets nur so darstellen, wie sie aufgrund ihrer Relation zu mir bestehen.³² Daher kann der Wind
26 Laszlo Versényi: „Man-Measure Fragment“, S. 296. 27 Vgl. Platon Theaitetos 178b 2ff. 28 Vgl. Sextus Empiricus Pyrrhonische Hypotyposen I, 216. 29 Vgl. Platon Theaitetos 178b 2ff. 30 Ebd. 170a 3f. 31 Ebd. 160c 7–9: „Ἀληθὴς ἄρα ἐμοὶ ἡ ἐμὴ αἴσθησις τῆς γὰρ ἐμῆς οὐσίας ἀεί ἐστιν καὶ ἐγὼ κριτὴς κατὰ τὸν Πρωταγόραν τῶν τε ὄντων ἐμοὶ ὡς ἔστι͵ καὶ τῶν μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.“ 32 Dies geht bereits aus den vorhergehenden Ausführungen zu Protagoras’ Verständnis von χρῆμα hervor. Dazu, dass eine Wahrheit stets eine Wahrheit für jemanden ist, siehe auch Platon Theaitetos 170e 7–171a 1: „ἆρ΄ οὐχὶ ἀνάγκη͵ εἰ μὲν μηδὲ αὐτὸς ᾤετο μέτρον εἶναι ἄνθρωπον μηδὲ οἱ πολλοί͵ ὥσπερ οὐδὲ οἴονται͵ μηδενὶ δὴ εἶναι ταύτην τὴν ἀλήθειαν ἣν ἐκεῖνος ἔγραψεν;“
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durchaus für mich kalt und für einen anderen warm sein, je nachdem, wie er mir oder einem anderen Urteilenden erscheint.³³ Was der Wind jedoch an sich ist, ob er an sich kalt oder warm ist, das vermag ich, protagoreisch gedacht, nicht zu erkennen.³⁴ Ein weiteres wesentliches Element der Lehre des Protagoras besteht darin, dass der Urteilende sein Urteil immer aus bestimmten Umständen heraus fällt, in denen er sich befindet. Dass solche Umstände einen Einfluss auf unser Urteil ausüben, zeigt sich nach Protagoras beispielsweise daran, dass einem Kranken der Wein und jegliche Nahrung bitter vorkommen und dementsprechend für ihn auch bitter sind, während sie ein gesunder Mensch als süß beurteilt.³⁵ Mit Hilfe derartiger Beispiele soll verdeutlicht werden, dass jedes Urteil an die jeweilige Perspektive des Urteilenden gebunden ist, die dazu noch der Veränderung unterworfen ist.³⁶ So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die den Einsatz körperlicher Kraft erfordern und die für einen älteren Menschen kaum zu bewältigen sind, während er sie als junger Mensch leicht ausüben konnte, was in analoger Form auch für den Gesunden gilt, der krank wird. Die auf die jeweilige Perspektive bezogene Relativität menschlichen Urteils gilt nach Protagoras darüber hinaus auch für den Bereich sittlicher und moralischer Werturteile, wobei sich, wie Gregory Vlastos anmerkt, der Sophist in dieser Sache in der höchst ehrenwerten Gesellschaft eines Herodot wähnen könne.³⁷ Dieser bemerkt mit Verweis auf die Taten des Kambyses, dass nur ein Wahnsinniger (μαινόμενος ἀνήρ) wie Kambyses über die unterschiedlichen Sitten und Bräuche der Völker spotte, da er nicht verstehe, dass jedes Volk seine eigenen Sitten und Bräuche für die besten halte und es bezüglich dessen keine „objektiven“ Maßstäbe gebe.³⁸ Was nämlich, wie Platon Protagoras in den Mund legt, (...) einer jeden Polis gerecht und schön erscheint, das ist es auch für sie, solange sie dieses glaubt.³⁹
33 Vgl. ebd. 152b 1ff. 34 In Bezug auf die Frage, ob die unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Eigenschaften der Dinge, die ihnen von den einzelnen Urteilenden zugeschrieben werden, alle, „objektiv“ betrachtet, gemeinsam in den Dingen existieren, ist Gregory Vlastos zu folgen, der anführt, dass die Frage, welche Eigenschaften einer Sache „objektiv“ zukommen, für Protagoras keine sinnvolle Frage sei; vgl. dazu Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 277f., Anm. 26a. 35 Vgl. Platon Theaitetos 159c ff., 166d. 36 Vgl. Protagoras A14. 37 Vgl. Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 280. 38 Vgl. Herodot Historiae III, 38, 1ff., auf die Gregory Vlastos in „Protagoras“, S. 280, verweist. 39 Platon Theaitetos 167c 4–5: „ἐπεὶ οἷά γ΄ ἂν ἑκάστῃ πόλει δίκαια καὶ καλὰ δοκῇ͵ ταῦτα καὶ εἶναι αὐτῇ͵ ἕως ἂν αὐτὰ νομίζῃ“. Der Überlieferung zufolge übertrug Protagoras den Gedanken der Relativität des Urteils sogar auf den Bereich der Geometrie. Vgl. dazu Aristoteles Metaphysik 998a 2–4, besprochen in Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 280.
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Aus der von Protagoras behaupteten Relativität des menschlichen Urteils ergibt sich als Konsequenz, dass die von Parmenides als notwendig betrachtete Unterscheidung zwischen ἀλήθεια und δόξα im Kontext des protagoreischen Denkens gegenstandslos wird. Ist nämlich jedes Urteil darüber, „wie es ist“, welche Sachverhalte bestehen, an denjenigen gebunden, der das Urteil fällt, und ist darüber hinaus das Fällen eines solchen Urteils immer auch durch die Perspektive des jeweiligen Urteilenden bestimmt, so folgt daraus, dass die Erkenntnis einer an sich bestehenden Wahrheit unmöglich ist.⁴⁰ Denn erkenne ich etwas als wahr, dann ist diese Erkenntnis, wie bereits ausgeführt, immer auch bedingt durch die Perspektive, aus der ich den zu beurteilenden Sachverhalt betrachte, handelt es sich doch um meine Erkenntnis dessen, wie es für mich ist. Ist etwas dagegen an sich, das heißt unabhängig von meinem Urteil wahr, dann besteht diese Wahrheit nicht für mich, so dass ich in Bezug auf einen derartigen, unabhängig von meinem Urteil bestehenden Sachverhalt nicht wissen kann, ob er besteht oder nicht besteht.⁴¹ Dieser Gedanke bildet den Hintergrund, vor dem das berühmte Diktum des Protagoras betrachtet werden muss, demgemäß er kein Wissen über die Götter habe, „(...) weder dass/wie sie sind (ὡς ἔστιν) noch dass/wie sie nicht sind (ὡς οὐκ ἔστιν)“⁴². Die Götter, die hier für das dem menschlichen Meinen Entzogene stehen, sind als solche kein möglicher Gegenstand meines Urteils, weshalb ich auch nicht in der Lage bin, Sachverhalte zu beurteilen, die vielleicht im Bereich des Göttlichen bestehen und die beispielsweise die Existenz oder Nichtexistenz der Götter betreffen.⁴³ Richtig verstanden weist Protagoras’ Diktum, dass er kein Wissen über die Götter habe, noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt seiner Lehre hin. So ist zu beachten, dass er nicht behauptet, es gebe keine Götter. Dies ist umso interessanter, als es möglich ist, den Begriff der „Götter“, die eben schon als dem menschlichen Meinen entzogene charakterisiert wurden, so zu interpretieren, dass er etwas Ewiges und mithin (notwendig) Wahres bezeichnet. In diesem Fall wäre Protagoras’ Behauptung auch folgendermaßen wiederzugeben: „Über die (absolute) Wahrheit habe ich kein
40 Vgl. Platon Theaitetos 166d 1–3: „Ich behaupte nämlich, dass es sich mit der Wahrheit so verhält, wie ich geschrieben habe. Dass nämlich ein jeder von uns das Maß sei, des Seienden und des Nichtseienden (...).“ 41 Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass ich nur solches erkennen kann, wozu ich mich in einer Relation befinde, die jedoch gleichzeitig meine Erkenntnis des Gegenstandes mitbestimmt. Hier ist nochmals daran zu erinnern, dass Protagoras davon spricht, dass der Mensch das Maß aller χρήματα und nicht aller „Dinge“ schlechthin sei. Darauf, dass nach Protagoras jedes Urteil in seiner Relativität in Bezug auf den es Fällenden zu betrachten ist, weist auch Sextus Empiricus hin, indem er im Rahmen seiner Interpretation des Homo-Mensura-Satzes schreibt: „Und deshalb setzt er [i. e. Protagoras] allein das an, was einem jeden erscheint, und so führt er das πρός τι (die Relationalität) ein (...). Es wird also nach ihm der Mensch zum Kriterium der seienden (Dinge). Alles nämlich, was den Menschen erscheint, ist auch, was aber keinem der Menschen erscheint, ist auch nicht“, so in Protagoras A14. 42 Protagoras A1. 43 Vgl. dazu Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 202f.
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Wissen, weder dass/wie sie ist noch dass/wie sie nicht ist.“ Versteht man die protagoreische Aussage in dieser Weise und beachtet man, dass Protagoras nicht behauptet, es gebe keine Wahrheit, zeigt sich ein weiteres Mal die Hochsinnigkeit der Gedankenführung dieses Denkers. Behauptete Protagoras nämlich, dass es keine Wahrheit gebe, würde er sich unmittelbar der Frage ausgesetzt sehen, ob er denn für seine These, der gemäß es keine Wahrheit gibt, Wahrheit beanspruchen wolle.⁴⁴ Indem er sich allerdings darauf beschränkt zu erklären, dass er kein Wissen über die Wahrheit im Sinne einer absoluten habe und dass er somit auch nicht behaupten könne, etwas über ihr Sein oder Nichtsein zu wissen, entgeht er dieser Falle und kann seine Position in widerspruchsfreier Weise halten. Die Wahrheit mag es geben oder auch nicht. Dies zu entscheiden, so Protagoras, liegt nicht in der Hand des Menschen, der zu einer solchen absoluten Wahrheit keinen Zugang hat und jeweils nur vortragen kann, wie es ihm wahr zu sein scheint. Verhält es sich nun so, dass, wie Protagoras lehrt, jede Wahrheit immer nur als eine für mich wahre in Erscheinung tritt, hebt sich, wie zuvor angesprochen, die Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Auffassung“ konsequenterweise auf, da die Wahrheit immer nur in Form einer perspektivgebundenen „Auffassung“ eines Einzelnen auftreten kann. Ich kann nur vortragen, was mir wahr zu sein scheint – etwas anderes ist mir nach Protagoras nicht möglich. Sextus’ Bericht über die Lehre des Protagoras fasst diesen Gedanken knapp und präzise wie folgt zusammen: Protagoras von Abdera zählten einige zu dem Kreis der Philosophen, die das Kriterium⁴⁵ aufheben, da er sagt, dass alle Vorstellungen (φαντασίαι) und Auffassungen (δόξαι) wahr seien und dass die Wahrheit zu den Dingen des Verhältnismäßigen (πρός τι) gehöre, weil alles, was jemandem erscheint oder gemeint wird, für jenen unmittelbar vorliege.⁴⁶
Ist die Wahrheit aufgrund ihrer Vermittlung durch das Urteil des Einzelnen in der Tat immer nur als eine relative zu betrachten, dann ist mit Blick auf Parmenides zu bemerken, dass eine Wahrheit niemals in dem Sinne absolut wahr ist, dass sie nur durch sich selbst begründet wäre, wie es Parmenides zufolge in Bezug auf die Wahrheit des „Seins des Seienden“ der Fall ist. Vielmehr ist die Erkenntnis dessen, „wie es ist“, als die Erkenntnis eines bestimmten Urteilenden immer auch bedingt durch
44 Was für ein Problem in diesem Fall auftreten würde, ist bereits mit Blick auf Parmenides’ Wahrheitskonzeption ausführlich diskutiert worden. 45 Dies ist hier im oben beschriebenen Sinne der ἀλήθεια zu verstehen, die nach Parmenides ihr eigenes Maß darstellt. 46 Protagoras B1: „καὶ Πρωταγόραν δὲ τὸν Ἀβδηρίτην ἐγκατέλεξάν τινες τῶι χορῶι τῶν ἀναιρούντων τὸ κριτήριον φιλοσόφων͵ ἐπεί φησι πάσας τὰς φαντασίας καὶ τὰς δόξας ἀληθεῖς ὑπάρχειν καὶ τῶν πρός τι εἶναι τὴν ἀλήθειαν διὰ τὸ πᾶν τὸ φανὲν ἢ δόξαν τινὶ εὐθέως πρὸς ἐκεῖνον ὑπάρχειν.“; zudem Platon Theaitetos 170d 4–6: „Wenn Du, nachdem Du etwas bei Dir beurteilt (κρίνας) hast, mir die Meinung (δόξα) über dieses darlegst, dann soll dieses nach der Lehre (λόγος) des Protagoras für Dich gewiss wahr (ἀληθές) sein (...).“
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den Blickwinkel dieses Urteilenden, so dass die in dieser Weise erkannte Wahrheit als eine relative Wahrheit ihren Grund außerhalb ihrer selbst hat und mithin nicht absolut ist. Das Maß der Wahrheit ist folglich nicht mehr sie selbst, sondern der urteilende Mensch, der seine Wahrheit in Form einer „Auffassung“ vertritt.
4.2 „Bessere“ versus „schlechtere“ Auffassungen – Protagoras’ „Relativismus“ In der Folge der Aufhebung des Unterschiedes zwischen „Wahrheit“ und „Auffassung“ macht es nach Protagoras auch keinen Sinn, eine bestimmte „Auffassung“ „wahrer“ als eine andere zu nennen, ist doch jede „Auffassung“ wahr für den, dem sie wahr erscheint. So setzt der Sophist an die Stelle der Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ die Unterscheidung zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Auffassungen,⁴⁷ wobei gemäß dem protagoreischen „Homo-Mensura-Satz“ das Maß darüber, welche „Auffassungen“ jeweils „besser“ oder „schlechter“ sind, im Urteil des jeweiligen Urteilenden besteht. Der Grund dafür, warum Protagoras sich darauf beschränkt, von „besseren“ und „schlechteren“ Auffassungen und von besseren und schlechteren Dingen im Allgemeinen zu sprechen, besteht darin, dass die Rede von gut und schlecht oder wahr und unwahr suggeriert, es gebe für den Menschen erkennbare, unveränderliche und an sich bestehende – in diesem Fall – gute oder wahre Sachverhalte. Da sich Protagoras zufolge Derartiges der Kenntnis des Menschen entzieht, ist es seiner Ansicht nach angemessener, von „besser“ und „schlechter“ zu sprechen, zumal in dieser Weise zum Ausdruck kommt, dass sich etwas nur in Relation zu anderem bestimmen lässt. So ist eine Auffassung, um bei diesem Beispiel zu bleiben, hinsichtlich ihrer Qualität, wie Protagoras denkt, nicht an sich selbst, sondern nur im Verhältnis sowohl zu anderen mit ihr konkurrierenden Auffassungen als auch zu den in einer Situation gegebenen Umständen zu bestimmen. Dementsprechend sollte man eine Auffassung nicht als gut oder schlecht, sondern vielmehr als vergleichsweise besser oder schlechter als mindestens eine andere Auffassung betrachten, und zwar vor dem Hintergrund einer bestehenden Situation und nicht etwa zeit- und situationsunabhängig. Besser nämlich ist eine δόξα so gedacht, nur in Relation zu anderen vorgetragenen Auffassungen, was weitere, möglicherweise noch bessere Auffassungen, die nicht zum Vortrag gebracht worden sind, notwendigerweise außer Acht lässt. Daher
47 Vgl. Platon Theaitetos 167a–b: „ἀλλ᾽ ὁ μὲν ἰατρὸς φαρμάκοις μεταβάλλει, ὁ δὲ σοφιστὴς λόγοις. ἐπεὶ οὔ τί γε ψευδῆ δοξάζοντά τίς τινα ὕστερον ἀληθῆ ἐποίησε δοξάζειν: οὔτε γὰρ τὰ μὴ ὄντα δυνατὸν δοξάσαι, οὔτε ἄλλα παρ᾽ ἃ ἂν πάσχῃ, ταῦτα δὲ ἀεὶ ἀληθῆ. ἀλλ᾽ οἶμαι πονηρᾶς ψυχῆς ἕξει δοξάζοντα συγγενῆ ἑαυτῆς χρηστὴ ἐποίησε δοξάσαι ἕτερα τοιαῦτα, ἃ δή τινες τὰ φαντάσματα ὑπὸ ἀπειρίας ἀληθῆ καλοῦσιν, ἐγὼ δὲ βελτίω μὲν τὰ ἕτερα τῶν ἑτέρων, ἀληθέστερα δὲ οὐδέν.“
„Bessere“ versus „schlechtere“ Auffassungen – Protagoras’ „Relativismus“
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ist die Bestimmung der Qualität einer Auffassung nur im Verhältnis zu bekannten Alternativen zu treffen, nicht aber unabhängig von diesen an sich selbst. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die Situation, in welcher eine Auffassung vorgetragen wird, über deren Qualität mitentscheidet. Denn was in einer bestimmten Lage als sinnvoll und verhältnismäßig besser vertreten werden kann, mag unter anderen Umständen als schlechter erscheinen, was zeigt, dass auch hier eine Relation besteht, die Einfluss auf die Bewertung der Güte einer Auffassung ausübt. Diese Weise der Einschätzung der Qualität von Auffassungen stellt nicht nur eine wichtige Grundlage für das protagoreische Verständnis der Tätigkeit des Sophisten dar, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird; sie spielt auch eine bedeutende Rolle für die Bewertung des sogenannten „Relativismus“ des Protagoras.⁴⁸ Der Gedanke, dass Protagoras einen relativistischen Standpunkt vertrete, legt sich dadurch nahe, dass er die Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Auffassung“ ablehnt und statt dessen annimmt, dass die Wahrheit stets an die perspektivabhängige „Auffassung“ eines einzelnen Urteilenden gebunden und somit relativ in Bezug auf diesen sei. Nun kann diese Annahme des Protagoras, die meist an seinem Homo-Mensura-Satz festgemacht wird, jedoch in unterschiedlicher Weise interpretiert werden, wobei in der Forschung vor allem zwei Interpretationsmöglichkeiten in Betracht gezogen worden sind, eine subjektivistische und eine relativistische.⁴⁹ Wird der Homo-Mensura-Satz mit Denkern wie Sextus Empiricus⁵⁰ subjektivistisch gedeutet, ergibt sich daraus, dass nach Protagoras jede Auffassung wahr ist. Dieser Deutung gegenüber steht die relativistische Deutung, wie sie nach Andreas Graeser auch schon bei Platon zu finden ist und die Protagoras’ Diktum so interpretiert, dass jede Auffassung für denjenigen wahr ist, der sie als wahr beurteilt.⁵¹ Schon ein flüchtiger Blick reicht aus, um zu sehen, dass Protagoras’ Homo-Mensura-Satz, wird er gemäß der ersten Möglichkeit gedeutet, sehr leicht angegriffen werden kann. Ist nämlich jede „Auffassung“ wahr, dann gilt dieses auch für die „Auffassung“, dass
48 Zur Verwendung des Begriffes „Relativismus“ und zur Charakterisierung der Lehre des Protagoras, vgl. unter anderem William K. C. Guthrie: The Sophists, S. 181–192; George B. Kerferd: The Sophistic Movement, S. 83–110; dagegen spricht Gregory Vlastos von „subjectivism“, vgl. ders.: „Protagoras“, S. 276–280. 49 Vgl. Myles F. Burnyeat: „Protagoras and Self-Refutation in Later Greek Philosophy“, in: Philosophical Review LXXXV (1976), S. 46ff.; ders.: „Protagoras and Self-Refutation in Plato’s Theaetetus“, in: Philosophical Review LXXXV (1976), S. 172ff.; aufgenommen wird diese Unterscheidung auch von Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 24f. 50 Vgl. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 24. 51 Vgl. Platon Theaitetos 170a 3–5; zudem Myles F. Burnyeat: „Protagoras and Self-Refutation in Later Greek Philosophy“, in: Philosophical Review 85 (1976), S. 44–69. Wenngleich Gregory Vlastos von „Protagorean subjectivism“ spricht, zeigt doch der Kontext seiner Ausführungen, dass sein Begriff dem entspricht, was in der vorliegenden Arbeit als „Relativismus“ bezeichnet wird. Vgl. Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 276–280.
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Sophistische Kritikpunkte
es nicht wahr sei, dass jede „Auffassung“ wahr ist, was zu einer Selbstaufhebung der „subjektivistischen These“ führt.⁵² Wie aber verhält es sich in Bezug auf die relativistische Deutung des protagoreischen Satzes, die wohl auch Protagoras selbst der subjektivistischen vorgezogen hätte?⁵³ Schon seit der Antike, Platon ist als Beispiel bereits genannt worden,⁵⁴ wurde gegen den relativistisch gedeuteten Satz des Protagoras immer wieder eingewendet, dass er den Sophisten zwinge zuzugeben, dass auch die „Auffassung“ eines möglichen Opponenten, der die Meinung vertrete, Protagoras’ Homo-Mensura-Satz sei nicht wahr, wahr sei. Mithin ergebe sich für Protagoras die problematische Situation, dass er zugeben müsse, dass sein Satz sowohl wahr als auch unwahr sei. Mag dieser Einwand auf den ersten Blick auch den Anschein erwecken, als könnte er Protagoras’ Position dadurch vor eine Schwierigkeit stellen, dass er sie als selbstwidersprüchlich entlarvt, zeigt sich doch bei genauerem Hinsehen, dass dem nicht so ist.⁵⁵ Alles, was der Sophist zu tun hat, um dem gegen ihn vorgebrachten Einwand zu begegnen, ist, dass er wiederum auf die von ihm betonte Perspektivität der Wahrheit verweisen muss. Es mag nämlich für den Opponenten des Protagoras sehr wohl wahr sein, dass der Homo-Mensura-Satz nicht wahr ist, doch zwingt dieser Umstand Protagoras nicht dazu, seinen eigenen Standpunkt aufzugeben, dem gemäß der Homo-Mensura-Satzes für ihn durchaus wahr sein kann, während er für seinen Opponenten falsch ist.⁵⁶ Sicherlich ist dabei Kritikern wie Myles Burnyeat oder dem an die Position Burnyeats anknüpfenden Andreas Graeser gegenüber zuzugeben, dass Protagoras angesichts der an ihn herangetragenen Kritik nicht in der Lage ist, „(...) seine These ihrem Anspruch entsprechend sinnvoll als allgemeine Wahrheit anbieten zu können“⁵⁷. Gleichzeitig erscheint es jedoch mehr als rätselhaft, wie Andreas Graeser zu der Behauptung kommt, dass Protagoras überhaupt den Anspruch erhoben habe, eine allgemeine Wahrheit anzubieten, da er sich zumindest der Überlieferung nach explizit für die Relativität der Wahrheit ausgespro-
52 Vgl. Platon Theaitetos 170a 3–5. In Bezug auf diese Argumentation verweist Andreas Graeser auf Sextus Empiricus Adversus Logicos I, 389, und Myles F. Burnyeat: „Protagoras and Self-Refutation in Later Greek Philosophy“, S. 44–69. 53 Dass Protagoras der relativistischen Interpretation seines Homo-Mensura-Satzes den Vorzug gegeben hätte, zeigt Platons Theaitetos, vgl. dazu u. a. 170a 3–5. 54 Vgl. ebd. 171a 6ff. 55 Zum Aufweis der Selbstwidersprüchlichkeit als der einzigen Möglichkeit, den protagoreischen Standpunkt als unhaltbar zu erweisen, vgl. Jack W. Meiland: „Is Protagorean Relativism Self-Refuting?“, in: Grazer Philosophische Studien vol. 9 (1979), S. 52–54. 56 Vgl. George Grote: Plato and the other Companions of Sokrates, Bd. 2, London 1875, S. 347ff.; Greogry Vlastos’ Einführung zu Plato’s Protagoras, New York 1956, S. xiv, Anm. 29; Kenneth M. Sayre: Plato’s Analytic Method, Chicago 1969, S. 87f. Dies wird auch von Andreas Graeser zugestanden, vgl. ders.: Die Philosophie der Antike 2, S. 24. 57 Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 25. Vgl. dazu auch die beiden bereits zitierten Aufsätze Burnyeats „Protagoras and Self-Refutation in Later Greek Philosophy“ und „Protagoras and Self-Refutation in Plato’s Theaetetus“.
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chen hat und sich auch aus seinen Lehren nicht zwingend der Schluss ergibt, dass es eine absolute Wahrheit gibt.⁵⁸ Wie die vorhergehende Untersuchung der Bewertung des protagoreischen Relativismus gezeigt hat, gilt Protagoras’ Grundsatz, dass keine Auffassung wahrer sei als irgendeine andere, selbst für die Kernelemente seiner eigenen Lehre. Auch diese stellt sich nach Protagoras’ Selbstverständnis als eine „Auffassung“ dar, die als solche nicht den Anspruch erhebt, (absolut) wahr zu sein, sondern eine mögliche, für Protagoras bessere Beschreibung dessen bietet, wie Menschen erkennen und urteilen. Kann nun allerdings auch Protagoras, wenn er sich nicht dem Vorwurf der Selbstwidersprüchlichkeit aussetzen möchte, nicht beanspruchen, eine „wahre“ Lehre zu verkünden, dann stellt sich die folgende Frage: Inwiefern kann er als „weiser“ als andere gelten und mit welchem Recht trägt er den Namen des „Sophisten“? Die Erörterung dieser Frage ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des sophistischen Denkens und eröffnet die Möglichkeit, einen weiteren wichtigen Aspekt der sophistischen Kritik an der eleatischen Philosophie zu verdeutlichen. Allerdings soll sie nun im Folgenden zunächst hintangestellt werden, um zuvor noch einen anderen Gesichtspunkt der sophistischen Kritik zu betrachten, der sich ebenfalls mit der Möglichkeit der Erkenntnis einer absoluten Wahrheit beschäftigt.
4.3 Das Nichtsein des Seins – Gorgias’ Περὶ τοῦ μὴ ὄντος Hatte sich die Darstellung der sophistischen Kritik an der Möglichkeit der Erkenntnis dessen, „wie es ist“, bisher darauf beschränkt herauszuarbeiten, dass eine solche Einsicht in die Wahrheit nach sophistischer Meinung immer relativ bezogen auf den Urteilenden ist, soll nun in einem weiteren Schritt gezeigt werden, wie die von Parmenides vorgetragene Erkenntnis der Wahrheit von Seiten der Sophisten auch hinsichtlich des ihr zugrunde gelegten Gegenstandes kritisiert worden ist. Einen Anknüpfungspunkt dafür bietet eine bei Sextus Empiricus überlieferte Äußerung des Protagoras, der zu zeigen versucht haben soll, dass „das Seiende“, das Parmenides als das Objekt eines wahren Wissens angegeben hatte, nicht wie von Parmenides behauptet „eines“ sein könne.⁵⁹ Was hinter diesem ansonsten von Sextus nicht weiter kommentierten Versuch des Protagoras steht, veranschaulicht eine
58 Weder Graeser noch Burnyeat unternehmen den Versuch, ihre Behauptung, dass Protagoras mit dem Anspruch einer „absoluten Wahrheit“ aufgetreten sei (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 25), mit Hilfe von Textstellen zu belegen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den gegen Protagoras entwickelten antirelativistischen Positionen findet sich bei Jack W. Weiland: „Is Protagorean Relativism Self-Refuting?“, S. 55ff. 59 Vgl. Protagoras B2, zur Einheit des Seienden, vgl. Parmenides B8.
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Sophistische Kritikpunkte
Betrachtung der den Titel „Περὶ τοῦ μὴ ὄντος ἤ Περὶ φύσεως“ tragenden Schrift eines anderen Sophisten, des Gorgias von Leontinoi.⁶⁰ Gorgias’ Ausführungen über das „Nichtseiende“ sind schon seit der Antike in sehr unterschiedlicher Weise bewertet worden, wobei es, wie Hans-Joachim Newiger anmerkt, „(...) bis heute umstritten geblieben ist, ob diese Ausführungen des Sophisten überhaupt ernst zu nehmen seien“⁶¹. Ein wichtiger Schritt hin zu einer Interpretation, die die Argumentation des Gorgias hinsichtlich ihrer philosophiegeschichtlichen Relevanz würdigt, ist mit der Erkenntnis gemacht worden, dass die bereits mehrfach zitierte, von Charles Kahn vorgeschlagene Interpretation des Begriffes „εἶναι“ von wesentlicher Bedeutung für ein angemessenes Verständnis des gorgianischen Gedankenganges ist.⁶² So bemerkt George Kerferd, dass das eigentliche Ziel des Traktats „Über das Nichtseiende“ darin bestehe, auf ein im Kontext der parmenideischen Philosophie bestehendes Prädikationsproblem hinzuweisen.⁶³ Worin dieses Problem besteht, soll im Folgenden kurz dargestellt werden. Gorgias’ Ausführungen, die sowohl bei Sextus Empiricus⁶⁴ als auch in einer von einem uns unbekannten, ursprünglich für Aristoteles gehaltenen Autor angefertigten Schrift De Melisso, Xenophane, Gorgia (De MXG)⁶⁵ überliefert sind, können in drei Thesen zusammengefasst werden. Der Anonymus formuliert diese Thesen wie folgt: „Er [i. e. Gorgias] behauptet, (1) dass nichts sei; (2) wenn aber doch etwas ist, dass es unerkennbar sei; (3) wenn es aber sowohl ist und erkennbar ist, dass es anderen nicht gezeigt werden könne.“⁶⁶ Seine Thesen sucht Gorgias dabei dadurch zu begründen, dass er sowohl aufzeigt, dass das Seiende nicht ist, als auch, dass das Nichtseiende ist, so dass der Schluss gezogen werden kann, „dass nichts ist“. Entgegen der Reihenfolge der gorgianischen Argumentation, wie sie bei Pseudo-Aristoteles überliefert ist, soll nun mit dem Aufweis des „Seins“ des „Nichtseienden“ begonnen werden, da dieses verdeutlicht, was die Argumentation des Gorgias eigentlich zum Ziel hat. Formuliert ist das Argument folgendermaßen:
60 Vgl. DK 82 B3; dass auch Gorgias einen „Angriff“ (ἐπιβολή) auf das „Kriterium“, d. h. die „Wahrheit“ des Parmenides vorgetragen habe, der sich allerdings von dem der Anhänger des Protagoras unterschieden habe, findet sich überliefert in Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 65. 61 Hans-Joachim Newiger: „Gorgias von Leontinoi und die Philosophen vor Sokrates“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, N. F. 5 (1979), S. 49; zudem George B. Kerferd: The Sophistic Movement, S. 93. Eine eindeutige Haltung in dieser Frage nimmt Heinrich Gomperz ein, der Gorgias’ Ausführungen als „Scherzrede“ bezeichnet, vgl. Heinrich Gomperz: Sophistik und Rhetorik, Leipzig/ Berlin 1912, S. 35; geteilt wird diese Meinung von William K. C. Guthrie: The Sophists, S. 197, Anm. 2. 62 Vgl. George B. Kerferd: The Sophistic Movement, S. 94f. 63 Vgl. ebd. S. 95; ausführlicher stellt Kerferd seinen Standpunkt dar in George B. Kerferd: „Gorgias on Nature or that which is not“, in: Phronesis 1 (1955/56), S. 3–25. 64 Vgl. Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 65ff., dies entspricht DK 82 B3. 65 Vgl. Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 979a 12ff. 66 Ebd.; vgl. auch Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 65.
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Wenn das Nichtsein Nichtsein ist, wird das Nichtseiende um nichts weniger sein als das Seiende. Das Nichtseiende ist nämlich nicht seiend und das Seiende seiend, so dass die Dinge (πράγματα) um nichts mehr sind als nicht sind.⁶⁷
Gegen Gorgias’ Argumentation ist bereits seit der Antike⁶⁸ bis heute eingewendet worden, dass er das „Sein“ der Prädikation mit dem der Existenz verwechsele⁶⁹ und somit in unangemessener Weise auf das existenzielle „Sein“ des „Nichtseienden“ schließe. Betrachtet man Gorgias’ Argument allerdings vor dem Hintergrund des von Charles Kahn herausgearbeiteten „veridikalen“ Verständnisses von „Sein“, dann zeigt sich, dass das „Nichtseiende“ insofern „ist“, als der Sachverhalt des „Nichtseins des Nichtseienden“ als Sachverhalt in meinem Urteil besteht. „Es ist nämlich nötig“, führt Gorgias aus, „dass alles, was gedacht wird, ist und dass das Nichtseiende, wenn es nicht ist, auch nicht gedacht werden kann.“⁷⁰ Und ein paar Zeilen später heißt es: „Auch das Gesehene und das Gehörte ist [nur] deswegen, weil ein jedes von ihnen gedacht wird. Wenn es aber nicht schon deswegen ist, sondern – so wie um nichts mehr das ist, was wir sehen – so ist das, was wir sehen, um nichts mehr als das, was wir denken.“⁷¹ Wie diese Passagen zeigen, folgt Gorgias der Lehre des Protagoras insoweit, als er dessen Überzeugung teilt, dass das, was einem jedem zu sein scheint, für diesen auch ist⁷² und dass demnach der Unterschied zwischen einer an sich bestehenden Welt und meiner Urteilswelt aufzuheben ist. Entscheidend in Bezug auf die Frage nach dem „Sein“ eines Sachverhaltes ist es im Rahmen dieses Denkens, dass er als Gegenstand meines Urteils vorliegt und ihm aufgrund dessen das „Sein“ im Sinne eines veridikalen „der-Fall-Seins“ zuzusprechen ist. Dementsprechend verweist auch das Urteil, dass das Nichtseiende nicht sei, auf einen Sachverhalt, dem als einem so beurteilten das Sein zuzusprechen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Fälle von, anachronistisch gesprochen, falschen „synthetischen Urteilen“ handelt, wie das von Gorgias angeführte Beispiel des auf dem Meer stattfindenden Wagenrennens zeigt.⁷³
67 Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 979a 25–28: „εἰ μὲν γὰρ τὸ μὴ εἶναι ἔστι μὴ εἶναι͵ οὐδὲν ἂν ἧττον͵ τὸ μὴ ὂν τοῦ ὄντος εἴη. τό τε γὰρ μὴ ὄν ἐστι μὴ ὄν͵ καὶ τὸ ὂν ὄν͵ ὥστε οὐδὲν μᾶλλον ἢ εἶναι ἢ οὐκ εἶναι τὰ πράγματα.“ 68 Vgl. ebd. 979a 34–b 19. 69 Vgl. Hans-Joachim Newiger: Untersuchungen über Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende, Berlin 1973, S. 30; ders.: „Gorgias von Leontinoi und die Philosophen vor Sokrates“, S. 52; vgl. überdies Guido Calogero: Studien über den Eleatismus, Darmstadt 1970, S. 4f. 70 Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 980a 10f.; vgl. dazu Guido Calogero: Studien über den Eleatismus, S. 180f.: „Gorgias nimmt ihn [i. e. Parmenides] in ironischer Weise beim Wort, indem er bemerkt, ein solches Sprechen vom Nicht-Seienden bedeute jedenfalls auch, daß man seine Wirklichkeit voraussetzt, daß es zumindest als Gegenstand der Diskussion wirklich ist (...).“ 71 Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 980a 16–18. 72 Vgl. Protagoras B1; Theaitetos 170d. 73 Vgl. Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 980a 12–14.
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Sophistische Kritikpunkte
Auf den ersten Blick verwirrend und dem bisher Gesagten entgegenstehend scheint es nun allerdings, wenn Gorgias, wie bei Sextus überliefert, behauptet, dass das Nichtseiende doch nicht sei, da es, wenn es ist, zugleich sein und nicht sein werde.⁷⁴ „Insofern es [i. e. das Nichtseiende] nämlich einerseits als nicht seiend gedacht wird“, so Gorgias, „wird es nicht sein, insofern es aber das Nichtseiende ist, wird es wiederum sein. Gänzlich widersinnig jedoch ist es, dass etwas ist und zugleich nicht ist.“⁷⁵ Besonders auffällig ist hier, dass einmal, nämlich in De MXG, die Rede davon ist, dass „alles, was gedacht wird“ (πάντα τὰ φρονούμενα), ist, während es bei Sextus heißt, dass das Nichtseiende, „insofern es als nicht seiend gedacht wird“ (ᾗ μὲν γὰρ οὐκ ὂν νοεῖται), nicht sein wird. Der hier scheinbar auftretende Widerspruch lässt sich sehr leicht mit einem Hinweis darauf beheben, dass in der hier gegebenen Übersetzung die griechischen Verben φρονεῖν und νοεῖν unangemessenerweise beide mit „denken“ wiedergegeben worden sind, während die Verben eigentlich unterschiedliche Bedeutungen haben, was den Scheinwiderspruch verursacht hat. Wie aber unterscheidet Gorgias zwischen φρονεῖν und νοεῖν? Eine erste mögliche Antwort darauf lautet: überhaupt nicht. Es verhalte sich vielmehr so, könnte jemand, der diese Position vertritt, anführen, dass der Anonymus und Sextus einfach ein unterschiedliches Vokabular verwenden und der besagte Unterschied nicht in der Sache, sondern in der Terminologie begründet liege. Wenngleich diese Antwort sicherlich als eine mögliche angenommen werden muss, ist es dennoch zu erwägen, ob nicht vielleicht doch ein inhaltlicher Unterschied festzustellen ist, der sich als relevant für ein adäquates Verständnis der gorgianischen Argumentation erweisen könnte. Dieser Gedanke legt sich bereits deswegen nahe, weil auch der Anonymus einen Unterschied zwischen φρονεῖν und ἐννοεῖν macht, wobei sich Letzteres in diesem Zusammenhang nicht wesentlich von dem von Sextus gebrauchten νοεῖν unterscheidet. Dabei fällt auf, dass der Autor von De MXG immer dann ἐννοεῖν verwendet, wenn es um ein Gedachtes in Hinsicht auf seine Kommunikabilität geht.⁷⁶ Denken im Sinne des ἐννοεῖν bedeutet dementsprechend, etwas so zu denken, dass es prinzipiell anderen mit Hilfe eines λόγος mitteilbar ist.⁷⁷ Dies hat zur Folge, dass das ἐννοεῖν als ein derartiges „logisches Denken“ seine Inhalte in begründeter Weise darzulegen hat und zwar, wie schon bei Parmenides deutlich geworden ist, unter Vermeidung jeglichen Selbstwiderspruches.⁷⁸ Das φρονεῖν hingegen scheint, zumindest
74 Vgl. Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 67 (Gorgias B3). 75 Ebd. 76 Vgl. Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 980b 4–21. 77 Daher findet sich die Verwendung von ἐννοεῖν erst im Schlussteil von De MXG, in welchem es um die Kommunikabilität von möglicherweise erkannten πράγματα geht. Zum Verhältnis von Kommunikabilität und λόγος, vgl. Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 980b 4–6 und 980b 17–20; die enge Verbindung zwischen νοεῖν und λόγος bzw. λέγειν zeigt sich auch bereits im parmenideischen Lehrgedicht, vgl. dort B6, 1: „χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ΄ ἐὸν ἔμμεναι“. 78 Vgl. Parmenides B8, 8f.; vgl. zudem die Äußerung der Göttin, dass der Weg, dem gemäß „das
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wie es der Anonymus verwendet, nicht so strengen Regeln unterworfen zu sein und einen weiteren Begriff des Denkens zu bezeichnen – gewissermaßen ein „im Sinne haben“, wie Thomas Buchheim interpretierend übersetzt⁷⁹ –, das von der Frage nach der Begründbarkeit oder Selbstwidersprüchlichkeit des Gedachten absieht, wie das Beispiel des Wagenrennens auf dem Meer zeigt.⁸⁰ Die Unterscheidung zwischen φρονεῖν und ἐννοεῖν bzw. νοεῖν scheint nun der Sache nach auch für Sextus’ Darstellung der gorgianischen Argumentation bezüglich des Nichtseins des Nichtseienden grundlegend zu sein.⁸¹ So heißt es bei Sextus: Und in der Tat ist das Nichtseiende nicht. Wenn nämlich das Nichtseiende ist, wird es zugleich sein und nicht sein. Insofern es [i. e. das Nichtseiende] nämlich einerseits als nicht seiend gedacht wird (νοεῖται), wird es nicht sein, insofern es aber andererseits das Nichtseiende ist, wird es wiederum sein. Gänzlich widersinnig jedoch ist es, dass etwas ist und zugleich nicht ist.⁸²
Wie diese Stelle zu verstehen ist, zeigt sich dann deutlich, wenn sie vor dem Hintergrund der eben anhand des Textes des Anonymus herausgearbeiteten Unterscheidung betrachtet wird. Das Nichtseiende ist nämlich insofern, um mit der zweiten These zu beginnen, als es als dasjenige beurteilt wird, das nicht ist. Somit ist es im Sinne eines φρονούμενον, das deswegen ist, weil es als Gegenstand eines Urteils „im Sinn gehabt wird“ und sein Nichtsein einen Sachverhalt darstellt, von dem zu behaupten ist, dass er sei. Davon zu unterscheiden ist allerdings der Fall, in dem das Nichtseiende als ein νοητόν als nicht seiend „gedacht“ wird und, wie Sextus anmerkt, insofern nicht ist. Wie ist das zu verstehen? Wie zuvor erläutert, liegt ein Gedachtes dann im Sinne eines νοητόν vor, wenn das Wissen über es mit Hilfe der Angabe seiner Begründungszusammenhänge in eine kommunikable Form gebracht werden kann. Versucht man nun, das Nichtseiende in der Weise eines νοητόν als nicht seiend zu denken, dann
Seiende“ nicht ist, „undenkbar und unbenennbar“ (ἀνόητον ἀνώνυμον) sei (Parmenides B8, 16–18). Zum Begriff des νοεῖν bei Parmenides, vgl. Heribert Boeder: Grund und Gegenwart, S. 136–138. Der Zusammenhang zwischen der Kommunikabilität eines Wissens und der Möglichkeit der Angabe seiner Begründungsverhältnisse, auf der die besagte Kommunikabilität des Wissens basiert, wird systematisch erst später von Aristoteles ausgearbeitet werden, vgl. Aristoteles Metaphysik 981a 24–981b 9. 79 Vgl. Gorgias von Leontinoi Reden, Fragmente und Testimonien, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Thomas Buchheim, Hamburg 1989, z. B. S. 49. 80 Wie der Kontext zeigt, gehört das besagte Wagenrennen eindeutig in den Bereich der φρονούμενα, vgl. Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 980a 9ff. 81 Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Unterscheidung ursprünglich von Gorgias selbst eingeführt worden war und Gorgias die Unterscheidung in dem von ihm verfassten Traktat auch terminologisch angezeigt hatte, wie es der Text des Pseudo-Aristoteles auch noch in gewisser Weise nahelegt. 82 Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 67: „καὶ δὴ τὸ μὲν μὴ ὂν οὐκ ἔστιν. εἰ γὰρ τὸ μὴ ὂν ἔστιν͵ ἔσται τε ἅμα καὶ οὐκ ἔσται· ᾗ μὲν γὰρ οὐκ ὂν νοεῖται͵ οὐκ ἔσται͵ ᾗ δὲ ἔστι μὴ ὄν͵ πάλιν ἔσται. παντελῶς δὲ ἄτοπον τὸ εἶναί τι ἅμα καὶ μὴ εἶναι.“
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zeigt sich, dass es unmöglich ist, es hinsichtlich seiner Begründungsverhältnisse und somit in kommunikabler Weise darzustellen: Schließlich kann über etwas, das gar nicht ist, auch überhaupt nichts gewusst werden, auch nicht, wodurch es begründet sein soll. Folglich ergibt sich nach Gorgias in Bezug auf das Nichtseiende, wenn es als nicht seiend gedacht wird, kein λόγος und mithin auch kein Wissen – dies ist eine Auffassung, die auch bereits das parmenideische Lehrgedicht teilt, in welchem die Göttin verkündet, dass der Weg der Erkenntnis dessen, „wie es nicht ist“, vollkommen unerkundbar sei.⁸³ Kann nun allerdings kein Wissen in Bezug auf das Nichtseiende eingesehen werden, so ergibt sich daraus, dass dieses für mich und auch für sonst niemanden streng genommen gar nicht ist, da es, wie ein näheres Bedenken zeigt, doch nicht zum Gegenstand (m)eines Urteils werden kann, hier also kein erkennbarer Sachverhalt besteht. Was nämlich sollte man über das Nichtseiende wissen oder sagen können, wenn es doch vollkommen unbestimmt ist? Werden nun dennoch Urteile über das Nichtseiende gefällt, indem beispielsweise behauptet wird, dass es nicht sei, so gilt nach Gorgias – wie auch schon nach Parmenides –, dass sich der Urteilende in einem solchen Fall bloßer „Namen“ bedient, die auf überhaupt nichts (Denkbares) verweisen, weshalb solche Urteile als „leere Worthülsen“ völlig gegenstandslos sind.⁸⁴ Gorgias’ Argumentation endet jedoch nicht mit dem Aufweis des Nichtseins des Nichtseienden, der auf den ersten Blick wie ein Versuch der Parteinahme für die eleatische Position anmutet. So wird die Illusion, dass sich Gorgias auf die Seite der Eleaten schlagen könnte, schon im ersten Satz des nächsten Abschnittes zerstört, in dem es heißt: „Und auch das Seiende ist nicht. Wenn nämlich das Seiende ist“, fährt das Argument fort, „ist es entweder ewig oder geworden oder zugleich ewig und geworden. Weder aber ist es ewig noch ist es geworden, noch beides, wie wir zeigen werden. Nicht also ist das Seiende.“⁸⁵ In der Schrift De MXG hat diese Stelle eine Parallele, in der es heißt: Notwendig nämlich, behauptet er, sei es, wenn etwas ist, dass dieses weder eines noch vieles, weder ungeworden noch geworden ist. Nichts [jedoch] wäre es dann. Wenn nämlich etwas wäre, dann wäre es eines der beiden. Dass es aber nicht ist, weder eines noch vieles, weder ungeworden noch geworden, das zu zeigen verfolgt er zum einen wie Melissos, zum anderen wie Zenon nach einem ersten ihm eigenen Aufweis, in dem er sagt, dass es nicht [der Fall] sei, weder dass es ist noch dass es nicht ist.⁸⁶
83 Vgl. Parmenides B2, 7f. 84 Derartige Urteile können zwar im Sinn gehabt werden, sie können jedoch nicht gedacht werden. Oder, anders gesagt: Man kann sagen, dass das Nichtseiende nicht ist, man kann sich jedoch nichts dabei denken im Sinne des νοεῖν. 85 Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 68. 86 Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 979a 18–24: „ἀνάγκη γάρ͵ φησίν͵ εἴ τί ἐστι͵ μήτε ἓν μήτε πολλὰ εἶναι͵ μήτε ἀγέννητα μήτε γενόμενα͵ οὐδὲν ἂν εἴη. εἰ γὰρ μὴ εἴη τι͵ τούτων ἂν θάτερα εἴη. ὅτι οὐκ ἔστιν οὔτε ἓν οὔτε πολλά͵ οὔτε ἀγέννητα οὔτε γενόμενα͵ τὰ μὲν ὡς Μέλισσος͵ τὰ δὲ ὡς Ζήνων
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Trotz kleinerer Unterschiede bezüglich der Darstellung der Argumentation des Gorgias, machen die beiden zitierten Passagen dennoch gleichermaßen deutlich, worin der Kerninhalt des gorgianischen Gedankenganges liegt, den Andreas Graeser in folgender Weise formuliert: „Wenn x existiert, so muß es entweder F oder nicht-F sein. Wenn x jedoch weder F noch nicht-F sein kann, so kann x auch nicht existieren.“⁸⁷ Wie eine genauere Betrachtung dieser Argumentation zeigt, entspricht sie letztlich genau derjenigen, mit deren Hilfe Gorgias schon das „Sein“ des „Nichtseienden“ verworfen hatte. In Bezug auf dieses hatte Gorgias argumentiert, dass das Nichtseiende als ein vollkommen Unbestimmtes nicht gedacht werden könne und somit auch für niemanden sei. In analoger Weise gilt dieses nach Gorgias auch für das „Seiende“, wobei es dem Sophisten hier, wie die Eigenschaften des „Seienden“, die er in den Blick nimmt, zeigen, nicht um irgendwelche seienden Dinge, sondern um das „Seiende“ des Parmenides geht. Diesem kann wie auch dem Nichtseienden keine Bestimmung zugeschrieben werden. Weder nämlich sei es eines noch vieles, weder geworden noch ungeworden, ja nicht einmal das „Sein“ oder das „Nichtsein“ könne von ihm ausgesagt werden, weshalb nach Meinung des Gorgias zu schließen ist, dass das „Seiende“ überhaupt nicht sei. Denn, so Gorgias, wenn es wäre, wäre es eine der jeweils genannten Alternativen. Wiederum begegnet hier der merkwürdige Schluss vom (Nicht-)Sein der Prädikation auf das (Nicht-)Sein der Existenz, der allerdings nur dann unzulässig erscheint, wenn nicht beachtet wird, dass für Gorgias – wie auch schon für Protagoras – dasjenige ist, was als Sachverhalt im Rahmen eines Urteils als bestehend und in diesem Sinne als seiend betrachtet wird. Nimmt man dieses als Ausgangspunkt, wird deutlich, dass etwas, das wie das Nichtseiende aufgrund seines Mangels an Eigenschaften in keiner Weise bestimmt ist, deswegen nicht ist, weil es genau genommen nicht zum Gegenstand eines Urteils werden kann, ist es doch unmöglich, dass ein derartiges Unbestimmtes im Rahmen eines Sachverhaltes bestehen könnte, dem das Sein zuzusprechen wäre. Dieses Schicksal des Nichtseienden teilt nun Gorgias zufolge auch das „Seiende“, da es wie das Nichtseiende völlig unbestimmt und folglich für niemanden ist.⁸⁸ Mit welchem Recht kann Gorgias jedoch behaupten, dass das „Seiende“ gänzlich unbestimmt sei, gibt Parmenides in seinem Lehrgedicht doch eine ganze Reihe von Bestimmungen desselben an? Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich, wenn man in Betracht zieht, welche Probleme sich auch für Parmenides mit der Angabe kon-
ἐπιχειρεῖ δεικνύειν μετὰ τὴν πρώτην ἴδιον αὐτοῦ ἀπόδειξιν͵ ἐν ᾗ λέγει ὅτι οὐκ ἔστιν οὔτε εἶναι οὔτε μὴ εἶναι.“ Zur Übersetzung dieser Passage, vgl. George B. Kerferd: „Gorgias on Nature or that which is not“, S. 6ff. 87 Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 34. 88 In gewisser Weise stellt dieser Gedanke eine Brücke dar, die alle drei Thesen des Gorgias verbindet und in eine Beziehung zueinander setzt, da die drei genannten Thesen drei Aspekte des „Nichtseins“ des Seienden benennen.
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Sophistische Kritikpunkte
kreter Bestimmungen des „Seienden“ verbinden. So weist Guido Calogero in seinen Studien zum Eleatismus mit Blick auf die parmenideische Wahrheit darauf hin, dass jede Angabe einer konkreten Bestimmung, eines bestimmten „ist“, das „Nichtsein“ einer anderen Bestimmung impliziere.⁸⁹ Denn, so merkt Calogero an, „[s]agt man, das Ganze sei Wasser, so sagt man zugleich, daß das Ganze nicht Feuer ist.“⁹⁰ Und einige Zeilen weiter schreibt er: So ist die Widersprüchlichkeit der einzelnen Determinationen zugleich die widersprüchliche Mitanwesenheit des Seins und des Nicht-Seins der Affirmation und das reziproke Sich-Ausschließen der Prädikate, deren jedes in sich selbst die Negation jedes anderen ist: Etwas mehr als das Sein sagen, dem Ist ein Prädikat hinzufügen, heißt ohne weiteres diesem Ist ein Ist nicht hinzufügen, weil jede Determination des Seins in sich ein Nicht-Sein jeder anderen Determination impliziert.⁹¹
Setzt man dieses voraus, dann zeigt sich, dass es unmöglich ist, dem „Seienden“ eine konkrete Bestimmung zuzuschreiben, ohne dass dieses gleichzeitig ein nach Parmenides unmögliches Nichtsein desselben beinhalten würde. Dementsprechend muss das „Sein“ des „Seienden“, parmenideisch gedacht, in einer „absoluten Unbestimmtheit“⁹² bleiben, die jedoch das zuvor angesprochene Problem der Undenkbarkeit des „Seienden“ aufwirft. Genau dieses Problem der sich aus dem eleatischen Denken ergebenden Notwendigkeit der Unbestimmtheit des ἐόν thematisiert Gorgias, wenn er darauf verweist, dass das Seiende, wenn es denn ist, entweder eines oder vieles, geworden oder ungeworden etc. sein müsse, dass es jedoch, wenn es nichts dergleichen ist, gar nicht(s) sei.⁹³ Was sollte es als notwendigerweise Unbestimmtes auch sein und was sollte man in Bezug auf das „Seiende“ erkennen können, das über die Tautologie des in sich leeren „Seins des Seienden“ hinausgeht, aus der sich logischerweise kein Wissen über das „Seiende“ ergibt?⁹⁴
89 Vgl. Guido Calogero: Studien über den Eleatismus, S. 32. 90 Ebd. S. 32f. Calogeros Übersetzung des Terminus ἐόν mit „das Ganze“ ist wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass er Parmenides’ Denken vor dem Hintergrund einer bestimmten philosophischen Schulrichtung deutet. Sein Standpunkt wird hier, wie aus dem zuvor Ausgeführten hervorgeht, nicht geteilt. Ansonsten trifft seine Interpretation jedoch das von Gorgias angemahnte Problem. 91 Ebd. S. 32f. 92 Ebd. 93 Vgl. ebd. S. 182f. Darauf, wie Gorgias im Einzelnen mit Hilfe einer Kombination von zenonischem und melissianischem Gedankengut begründet, dass man dem „Seienden“ keine konkreten Bestimmungen zusprechen könne, kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei dazu verwiesen auf das Kapitel zu Gorgias in Guido Calogeros Studien zum Eleatismus, S. 171ff. Dass Gorgias in seiner Argumentation das Verfahren des Zenon verwendet, zeigt Walter Bröcker in seinem Artikel „Parmenides“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 79ff. 94 Ein sehr interessanter Aspekt der Argumentation des Gorgias besteht darin, dass er lediglich darlegt, welche Konsequenzen aus den Lehren der Eleaten folgen und welche Schwierigkeiten mit diesen verbunden sind, stellt doch der mit Gorgias problematisch gewordene Gedanke der Unbestimmtheit des „Seienden“ ein zentrales Element der eleatischen Lehre dar.
Das Nichtsein des Seins – Gorgias’ Περὶ τοῦ μὴ ὄντος
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Was aber hat Gorgias mit seinem Aufweis, dass weder das Nichtseiende noch das Seiende ist, gewonnen, was bedeutet es, wenn er den Schluss zieht, dass nichts ist? Gelehrte wie George Kerferd und Hans-Joachim Newiger haben wiederholt darauf hingewiesen, dass Gorgias nicht zu zeigen versucht habe, dass überhaupt nichts ist: Denn der Sophist meint ja nicht, daß es nichts gibt, sondern nur, daß es dieses exklusive Sein der Philosophen nicht gibt. Und so ist (...) [d]as Ergebnis des ganzen ersten Teils (...) das Nichts, aber dieses ‚Nichts‘ richtet sich gegen das, was die Philosophen, Gorgias’ Vorgänger und Zeitgenossen, hinter den Erscheinungen suchten: Statt ‚nichts‘ könnte man sagen: ‚Nichts Absolutes‘ oder ‚kein Ding an sich‘.⁹⁵
„Dass nichts ist“, will folglich nichts anderes besagen, als dass es unmöglich ist, ein sicheres, wahres Wissen über irgendein absolut bestehendes „Seiendes“ einzusehen – ein solches vollkommen Seiendes nämlich gibt es nach Gorgias für niemanden und somit überhaupt nicht. Alles, was der Mensch erkennen kann, sind seiende Dinge, die in irgendeiner Hinsicht auch nicht seiend sind, so dass, um Parmenides’ Terminologie zu verwenden, der Mensch immer schon auf das Feld der nicht wahrheitsfähigen δόξαι verwiesen ist. Sagen und wissen, „wie es ist“, das bedeutet dementsprechend sagen und wissen, „wie es ist“ und „wie es nicht ist“. Eine eindeutige Prädikation der Form „ist“ oder „ist nicht“, wie sie von Parmenides in Hinsicht auf seine Unterscheidung zwischen dem Seienden und allem anderen gedacht wird, erscheint im Kontext eines solchen Denkens sinnlos.⁹⁶ Wie Gorgias’ These, der zufolge mit der Einsicht in das „Sein des Seienden“ kein sicheres Wissen erlangt wird, zu verstehen ist, zeigt sich noch deutlicher, interpretiert man den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff des „Seins“ beziehungsweise des „Seienden“ mit Charles Kahn in veridikaler Weise. Vor dem Hintergrund des Kahn’schen Verständnisses von εἶναι betrachtet, zeigt es sich, dass die gorgianische Argumentation – hier nun analog auf den Begriff des Wahren hin untersucht – auf die Schwierigkeit verweist, dass das von Parmenides eingesehene Wahre in seinem Wahrsein unbestimmt bleiben muss und infolgedessen keinen Gegenstand menschenmöglicher Erkenntnis darstellt. Nun erscheint Gorgias’ Behauptung der Nichtbestimmtheit des Wahren auf den ersten Blick insofern unverständlich, als Parmenides doch das Wahrsein als die dem Wahren notwendigerweise zukommende Bestimmung angibt, als einen Sachverhalt, der nicht nicht sein kann. Diesen Gedanken des Parmenides aufnehmend, lenkt Gorgias den Blick auf die Frage, welcher Art die angegebene Bestimmung des Wahrseins des Wahren ist. Dabei fällt auf, dass das Wahrsein dem Wahren zwar notwen-
95 Hans-Joachim Newiger: „Gorgias von Leontinoi und die Philosophen vor Sokrates“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge 5 (1979), S. 54. 96 Vgl. dazu George Kerferds bereits angesprochene These, dass Gorgias’ Traktat „Über das Nichtseiende“ eigentlich eine Prädikationsproblematik verhandele, vgl. George B. Kerferd: The Sophistic Movement, S. 95.
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dig zukommen mag, dass es ihm als dem Wahrseienden, inhaltlich gesehen, jedoch nichts hinzufügt und infolgedessen nicht als eine wirkliche Bestimmung anzusehen ist. Die Aussage, dass das, was wahr ist, wahr ist, dass, anders gewendet, der Sachverhalt als „seiender“ besteht, stellt, gorgianisch gedacht, eine bloße Tautologie dar, aus der sich kein Wissen über das Wahre ergibt.⁹⁷ Inhaltlich bestimmt und mithin als ein konkretes erkennbares Wahres ließe sich das Wahre nur dann denken, so Gorgias, wenn sein Wahrsein in einer Differenz zu anderen Formen des Wahrseins als dieses oder jenes bestimmte Wahrsein begriffen werden könnte.⁹⁸ Da eine solche Differenzierung jedoch immer auch damit einhergeht, dass das betreffende Wahrseiende in einer bestimmten Hinsicht nicht wahr ist – nur so konstituiert sich der Unterschied zwischen ihm und anderen Wahrseienden –, kann Parmenides eine derartige differenzierte Bestimmtheit des Wahren nicht annehmen. Wäre das Wahre nämlich in irgendeiner Weise nicht wahr, könnte es Parmenides zufolge nicht als das Wahre gedacht werden, und da in Bezug auf die Frage nach Wahrheit und Unwahrheit des Wahren das logische Prinzip tertium non datur gilt, sieht sich Parmenides’ Standpunkt dem folgenden schwerwiegenden Problem ausgesetzt: Entweder ist das Wahre ohne eine nähere Qualifikation als wahr zu denken, dann kann es aufgrund seiner rein tautologischen Bestimmung kein Gegenstand menschlicher Erkenntnis sein; oder aber man bestimmt das Wahre inhaltlich, dann jedoch ist sein Wahrsein nicht mehr im Sinne des alles Unwahrsein ausschließenden vollkommenen Wahrseins zu begreifen. Eine Erkenntnis des nur durch das Wahrsein bestimmten Wahren ist dementsprechend, aus beiden Richtungen betrachtet, unmöglich, was, mit Gorgias gedacht, zur Folge hat, dass es für mich als den Urteilenden kein Gegenstand einer (wahren) Erkenntnis ist und mithin auch nicht im Sinne eines bestehenden Sachverhaltes ist. Auch hier ist zu betonen, dass Gorgias wie schon Protagoras nicht behauptet, es gebe keine Wahrheit – in diesem Fall würde er sich in der Tat dem Vorwurf der Selbstwidersprüchlichkeit ausgesetzt sehen. Er versucht vielmehr zu zeigen, dass es das Wahre an sich vielleicht geben mag, dass es jedoch aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit
97 So gesehen ist Parmenides’ Behauptung, dass das Wahre wahr sei, als eine bloße Wiederholung des Terminus „das Seiende“ oder „das Wahre“ zu begreifen. Auf diese Schwierigkeit des parmenideischen Gedankenganges weist auch Platon mutatis mutandis in seinem Dialog Parmenides hin. Er tut dies, indem er im Rahmen der sogenannten ersten Hypothese das als vollkommen einheitlich gesetzte ἕν als für das Denken auskunftslos beschreibt und dessen tautologischen Charakter dadurch herausstellt, dass er es als ἕν ἕν bezeichnet. Vgl. Platon Parmenides 142b 7–142c 2: „Οὐκοῦν καὶ ἡ οὐσία τοῦ ἑνὸς εἴη ἂν οὐ ταὐτὸν οὖσα τῷ ἑνί οὐ γὰρ ἂν ἐκείνη ἦν ἐκείνου οὐσία͵ οὐδ΄ ἂν ἐκεῖνο͵ τὸ ἕν͵ ἐκείνης μετεῖχεν͵ ἀλλ΄ ὅμοιον ἂν ἦν λέγειν ἕν τε εἶναι καὶ ἓν ἕν.“ 98 Vgl. dazu Gorgias’ in Pseudo-Aristoteles De Melisso, Xenophane, Gorgia 979a 18–24 geäußerte These, dass das Seiende, sofern es – hier wäre einzufügen „bestimmt“ – ist, entweder eines oder vieles, geworden oder ungeworden etc. sein müsse.
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für ihn als einen Urteilenden nicht erkennbar und infolgedessen für ihn auch nicht (der Fall) ist.⁹⁹ Während also Protagoras den Gedanken der Möglichkeit der Einsicht in ein absolut wahres Wissen im Ausgang von seiner Betrachtung der Erkenntnisweise des Urteilenden kritisiert, verlegt sich Gorgias darauf, eine derartige Erkenntnismöglichkeit hinsichtlich ihres Gegenstandes zu problematisieren. Der Schluss, der dabei gezogen wird, ist in beiden Fällen derselbe: Es ist unmöglich, eine an sich bestehende, durch sich selbst begründete und mithin absolute Wahrheit zu erkennen. Unterschiedlich ist nur die Art und Weise, wie die beiden Denker zu diesem Schluss kommen, weshalb Sextus zu Beginn seiner Darstellung der Lehren des Gorgias schreiben konnte, dass auch Gorgias zu denjenigen Denkern gehört habe, die das Kriterium aufhoben, wenngleich nicht in derselben Weise wie die Anhänger des Protagoras.¹⁰⁰ Mit dem Aufweis der Unmöglichkeit der Einsicht in ein sicheres Wissen über das „Seiende“ kommt die sophistische Kritik an den Lehren der eleatischen Philosophen jedoch noch nicht an ihr Ende. So führt sie darüber hinaus an, dass eine derartige Erkenntnis, auch wenn man sie erlangen könnte, nicht von Nutzen wäre. Dieser eng mit der bereits gestellten Frage nach der Weisheit eines Sophisten verbundene Kritikpunkt soll im Folgenden ein wenig näher betrachtet werden.
4.4 Die Nutzlosigkeit¹⁰¹ des sicheren Wissens Wie bereits im Fall der Argumentation für die Undenkbarkeit des „Seienden“ und seinem sich daraus ergebenden Nichtsein nimmt auch der Aufweis der Nutzlosigkeit eines absolut wahren Wissens seinen Ausgang von einem ursprünglich eleatischen Gedanken. Dieser besteht darin, dass, wie erörtert, nach Parmenides im Bereich der δόξα keinerlei Wahrheit zu finden ist, so dass sich dieselbe auch nicht als ein „Maßstab“ (μέτρον beziehungsweise κριτήριον) für die Bewertung von „Auffassungen“ eignet. „Maßstab“ im Reich der δόξα ist, wie Protagoras ausgehend von Parmenides’ strikter Trennung von ἀλήθεια und δόξα herausstellt, vielmehr der urteilende Mensch, der der Richter darüber ist, „wie es ist“ und „wie es nicht ist“.¹⁰²
99 Auch hier zeigt sich wiederum, dass das „Sein“ im Sinne eines „Der-Fall-Seins“ zu denken ist, da das, was nicht als Gegenstand einer Erkenntnis in Frage kommt, als ein solches „Unwahres“ auch nicht ist. 100 Vgl. Sextus Empiricus Adversus Mathematicos VII, 65. 101 Der Terminus „nutzlos“ bzw. „Nutzlosigkeit“ wird hier in Anlehnung an eine sowohl von Platon als auch von Aristoteles benutzte Redeweise verwendet. So spricht Aristoteles (Nikomachische Ethik 1141b 3–8) davon, dass die Kenntnisse des Thales und des Anaxagoras ἄχρηστα gewesen seien. Bei Platon findet sich dieser Terminus z. B. in Politeia 499b 4. 102 Vgl. Platon Theaitetos 160c 7–9.
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Nun gilt dieses jedoch nicht nur für diejenigen „Auffassungen“, die im Rahmen der περὶ φύσεως ἱστορία entwickelt worden waren und die Parmenides als nicht wahrheitsfähig abgetan hatte. Es betrifft auch solche δόξαι, die mit Blick auf die Frage ausgebildet werden, wie ein glückendes und gelingendes Leben zu verwirklichen sei. Als „Auffassungen“ stehen auch sie nicht unter dem „Maß der Wahrheit“, was zur Folge hat, dass hinsichtlich dessen, was der Mensch tun soll, um das Ziel der „Glückseligkeit“ (εὐδαιμονία) zu erreichen, ebenfalls kein (absolut) wahres Wissen einzusehen ist.¹⁰³ Auch die im Anhalt an diese Frage gebildeten „Auffassungen“ sind, wie schon Parmenides selbst denkt, nicht wahrheitsfähig, sondern, was ihre Bewertung angeht, gebunden an die Perspektive des jeweiligen Einzelnen, der sie vertritt oder ablehnt. Liegt es nun konsequenterweise im Ermessen eines jeden Einzelnen, was zu tun ist, um seine oder ihre „Glückseligkeit“ zu erreichen, und sind die in diesem Kontext vertretenen „Auffassungen“ nicht mit dem Kriterium der „Wahrheit“ zu bewerten, ergibt sich daraus Folgendes: Die Erkenntnis einer absolut bestehenden Wahrheit ist für den Bereich des auf die εὐδαιμονία ausgerichteten menschlichen Entscheidens und Handelns irrelevant. Was sollte es einer Familie auch nützen, ein Wissen über einen „an sich“ wahren Sachverhalt wie das „(Wahr-)Sein des (Wahr-)Seienden“ oder den Prinzipiencharakter des Wassers einzusehen, wenn es für sie darum geht, zu entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen soll oder ob sie ein neues Haus bauen soll etc.? Und welcher Nutzen soll aus einem derartigen Wissen einer Polis erwachsen, die darüber beratschlagt, ob es ratsam wäre, sich einer Allianz anzuschließen und in einen Krieg zu ziehen? Diesen Gedanken zugrunde legend, lässt Platon den Sophisten Hippias im gleichnamigen Dialog auf Sokrates’ Frage, weshalb sich die „Alten“, das heißt die „φύσις-Forscher“ wie Thales und dessen Schüler Bias und Pittakos bis hin zu Anaxagoras, aus den Staatsgeschäften herausgehalten haben, mit der Gegenfrage antworten: Was aber, Sokrates, meinst Du anderes, als dass sie unvermögend (ἀδύνατοι) und nicht geeignet (οὐχ ἱκανοί) waren, mit ihrer Klugheit in Hinsicht auf beides etwas zu erreichen, das Öffentliche und das Private?¹⁰⁴
103 Vgl. Thomas Jürgasch: „‚Statura Discretionis Ambiguae‘. Eine Betrachtung der wechselnden Größe der ‚Philosophia‘ in Boethius’ ‚Consolatio Philosophiae‘“, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 3 (2004), S. 175. 104 Platon Hippias Maior 281c 9–d 2: „Τί δ΄ οἴει͵ ὦ Σώκρατες͵ ἄλλο γε ἢ ἀδύνατοι ἦσαν καὶ οὐχ ἱκανοὶ ἐξικνεῖσθαι φρονήσει ἐπ΄ ἀμφότερα͵ τά τε κοινὰ καὶ τὰ ἴδια;“, zitiert in Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 9, Anm. 56, der auf diesen Aspekt der sophistischen Kritik hinweist. Wörtlich ist hier eigentlich „das Gemeinsame und das Eigene“ zu übersetzen. Diese fast schon als Topos bestehende Gegenüberstellung von Öffentlichem und Privatem legt Platon in seinen Dialogen unter Verwendung unterschiedlicher Worte allerdings immer wieder verschiedenen Sophisten in den Mund, weshalb eine solche etwas freiere Übersetzung gerechtfertigt erscheint, vgl. beispielsweise Gorgias 484d 5 (καὶ ἰδίᾳ καὶ δημοσίᾳ); Protagoras 319a 4ff. (οἰκία und πόλις).
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Demgegenüber steht Hippias selbst, der wie Sokrates’ ironisches „Lob“ betont, ein „weiser“ und „vollkommener“ Mann ist, der im „Privaten“ „geeignet“ bzw. „fähig“ ist, die jungen Leute dazu zu bringen, ihm für seinen Unterricht ein großes Vermögen zu zahlen und der in den „öffentlichen Angelegenheiten“ dazu „geeignet“ ist, seiner Polis Wohltaten zu erweisen, so dass er bei ihr in hohem Ansehen steht.¹⁰⁵ Eine zentrale Bedeutung spielt in diesem Zusammenhang der häufig wiederkehrende Begriff des „Geeignet-Seins“ (ἱκανός εἶναι), das der Sophist – zumindest in der Darstellung Platons – für sich beansprucht und aufgrund dessen er sich von den sowohl in den privaten als auch öffentlichen Angelegenheiten „ungeeigneten“ und „unvermögenden“ φύσις-Forschern zu unterscheiden vermeint.¹⁰⁶ Was es genauer mit dem Ungeeignet-Sein der Philosophen und dem entsprechenden Geeignet-Sein der Sophisten auf sich hat, wird deutlich, wenn man eine Passage aus dem Gorgias hinzunimmt, in der Platon den Sophisten Kallikles in Bezug auf die Philosophie verkünden lässt, sie sei (...) etwas Reizendes, wenn sich jemand in der Jugendzeit maßvoll mit ihr beschäftigt. Wenn man aber über das Nötige hinaus bei ihr verweilt, dann ist sie den Menschen eine Verderbnis. Ist nämlich jemand auch sehr begabt: Insofern er auch über die Jugendzeit hinaus philosophiert, ist es notwendig, dass er in all den Dingen unerfahren bleibt, in denen es für denjenigen nötig ist, erfahren zu sein, der beabsichtigt ein schöner, guter und wohlangesehener Mann zu werden. Sowohl nämlich in Bezug auf die Gesetze der Polis als auch hinsichtlich der Reden, welcher man sich bedienen muss, um in Verhandlungen mit den Menschen zu verkehren, sowohl über das Private als auch das Öffentliche, werden sie unerfahren sein; und auch hinsichtlich der menschlichen Lüste und Begierden, kurz gesagt, der Sitten im Allgemeinen bleiben sie unerfahren. Gehen sie dann also an ein Geschäft, ein privates oder ein öffentliches, werden sie lächerlich wirken, wie, so meine ich, auch die Staatsmänner, wenn sie zu euren Philosophenschulen und Unterredungen kommen, lächerlich wirken.¹⁰⁷
Wie dieses Zitat aus dem Gorgias zeigt, sind die Philosophen nach Meinung des Sophisten in dem Sinne „ungeeignet“ und „unfähig“, dass sie als Philosophen nicht in der Lage sind, sich um die praktischen Belange zu kümmern, die ihr privates und
105 Vgl. Platon Hippias Maior 281b 5–c 3. 106 Über Gorgias lässt Platon Sokrates im Hippias Maior sagen, dass er der ἱκανώτατος Λεοντίνων sei, vgl. 282b 6. 107 Platon Gorgias 484c 5–e 3: „φιλοσοφία γάρ τοί ἐστιν͵ ὦ Σώκρατες͵ χαρίεν͵ ἄν τις αὐτοῦ μετρίως ἅψηται ἐν τῇ ἡλικίᾳ· ἐὰν δὲ περαιτέρω τοῦ δέοντος ἐνδιατρίψῃ͵ διαφθορὰ τῶν ἀνθρώπων. ἐὰν γὰρ καὶ πάνυ εὐφυὴς ᾖ καὶ πόρρω τῆς ἡλικίας φιλοσοφῇ͵ ἀνάγκη πάντων ἄπειρον γεγονέναι ἐστὶν ὧν χρὴ ἔμπειρον εἶναι τὸν μέλλοντα καλὸν κἀγαθὸν καὶ εὐδόκιμον ἔσεσθαι ἄνδρα. καὶ γὰρ τῶν νόμων ἄπειροι γίγνονται τῶν κατὰ τὴν πόλιν͵ καὶ τῶν λόγων οἷς δεῖ χρώμενον ὁμιλεῖν ἐν τοῖς συμβολαίοις τοῖς ἀνθρώποις καὶ ἰδίᾳ καὶ δημοσίᾳ͵ καὶ τῶν ἡδονῶν τε καὶ ἐπιθυμιῶν τῶν ἀνθρωπείων͵ καὶ συλλήβδην τῶν ἠθῶν παντάπασιν ἄπειροι γίγνονται. ἐπειδὰν οὖν ἔλθωσιν εἴς τινα ἰδίαν ἢ πολιτικὴν πρᾶξιν͵ καταγέλαστοι γίγνονται͵ ὥσπερ γε οἶμαι οἱ πολιτικοί͵ ἐπειδὰν αὖ εἰς τὰς ὑμετέρας διατριβὰς ἔλθωσιν καὶ τοὺς λόγους͵ καταγέλαστοί εἰσιν.“
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öffentliches Leben betreffen.¹⁰⁸ So erweist sich das philosophische Wissen in seiner Gestalt als sicheres „Prinzipienwissen“, wie es zum Beispiel von „Physiologen“ wie Thales vorgetragen worden war, den Sophisten zufolge als ungeeignet, wenn es darum geht, den Menschen dahin gehend auszubilden, dass er beispielsweise dazu befähigt werde, sein finanzielles Auskommen zu sichern und an Einfluss und Ansehen in seiner Polis zu gewinnen. Was das Leben im Bereich des Privaten angeht, ließe sich darüber hinaus auch an Entscheidungen denken, die beispielsweise die bereits angesprochene Kindererziehung oder Fragen der materiellen Existenzsicherung der Familie betreffen. Einfluss in der Polis zu gewinnen, das kann unter anderem auch bedeuten, bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in der Weise mitzuwirken, dass es der Stadtgemeinschaft als ganzer zum Vorteil gereicht.¹⁰⁹ In Hinsicht darauf, wie derartige Ziele wie die gute Erziehung der Kinder oder das gute Zusammenleben in der Polis erreicht werden sollen, erscheint es nun in der Tat nicht sehr hilfreich, sich um ein wahres Wissen im kosmologischen oder eleatischen Sinne zu bemühen. Dieses gilt vornehmlich für die „Wahrheit“ der Eleaten, zeichnet sich diese doch vor allem durch ihre völlige Abgeschiedenheit von den Auffassungen aus,¹¹⁰ welche jedoch eine zentrale Rolle spielen, wenn es für einen Menschen darum geht, Handlungsziele wie die zuvor genannten zu erreichen. So stellen sich die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie ein Ziel am besten zu verfolgen und zu verwirklichen ist, in Form von „Auffassungen“ dar, bezüglich derer es abzuwägen gilt, welche mit Blick auf das Erreichen der Zielsetzung besser und welche schlechter sind – nicht welche wahr und welche unwahr sind.¹¹¹ An die Stelle der Betrachtung der „Wahrheit“ tritt im Bereich des menschlichen Handelns mithin die Beratung über bessere und schlechtere „Auffassungen“, die auf eine in Hinsicht auf diese Fragestellung bestehende „Wohlberatenheit“ (εὐβουλία) abzielt. In diesem Sinne lässt Platon Protagoras auf die Frage, was bei ihm zu lernen sei, antworten:
108 Das Motiv der Ungeeignetheit der Philosophen begegnet auch in Platon Politeia 517d 4ff., Theaitetos 174a und Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 3–8. 109 Diese Beispiele seien gegen eine gewisse anti-sophistische Polemik angeführt, die das Bestreben der Sophisten, dem Menschen im privaten und öffentlichen Leben zu einem „Geeignetsein“ zu verhelfen, sehr oft nur unter dem Aspekt des Interesses der persönlichen Bereicherung darstellt. Sicherlich gab es eine ganze Reihe Sophisten, die ein riesiges Vermögen besaßen und denen ein gewisses übersteigertes Interesse an der Anhäufung von Reichtümern nicht abzusprechen ist – man denke dabei beispielsweise an Hippias von Elis, dessen Tätigkeit als Sophist ihm aller historischen Wahrscheinlichkeit nach großen Reichtum eingebracht hat, wovon auch der gleichnamige Dialog Platons Zeugnis gibt, der immer wieder in ironischer Weise auf Hippias’ Reichtum zu sprechen kommt. Von solchen Sophisten ist jedoch ein seinem Ruf nach ethisch so hochstehender Denker wie Protagoras zu unterscheiden, den selbst Platon in seinem Dialog Protagoras mit höchstem Respekt darstellt. Zu dieser Darstellung, vgl. Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 271–273. 110 Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 215. 111 Vgl. Platon Theaitetos 167b.
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Die Kenntnis besteht in der Wohlberatenheit im privaten Bereich, wie man am besten das eigene Haus verwaltet und im Bereich der Polis, wie man am vermögendsten wird, darin zu handeln und zu sprechen.¹¹²
Im Unterschied zum Wissen der Eleaten erweist sich diese „Kenntnis“ (μάθημα) des Protagoras insofern als nützlich bzw. „geeignet“, da sie zu unterscheiden lehrt und so den Einzelnen zu einem Kriterium hinsichtlich der Frage bildet, welche „Auffassung“ die jeweils bessere ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.¹¹³ Gelangt nun jemand durch die Vermittlung des protagoreischen Unterrichts in Besitz dieser „Kenntnis“, hat dies zur Folge, dass er, was das Handeln in den besagten Bereichen betrifft, als ein Wohlberatener „tüchtig“ sein wird.¹¹⁴ Dementsprechend erweist sich das Wissen des Sophisten als ein „technisches“, dessen „Werk“ (ἔργον) in der „Tüchtigkeit“ (ἀρετή) besteht, die er seinem eigenen Anspruch nach durch das Lehren seiner μάθημα hervorzubringen versteht.¹¹⁵ Wer bei Protagoras in die Schule geht, wird jedoch nicht nur „tüchtig“ im Sinne der εὐβουλία werden. Der Anspruch der sophistischen „Kunst“ (τέχνη), das „Werk“ (ἔργον) der „Tüchtigkeit“ (ἀρετή) hervorzubringen, umfasst darüber hinaus auch die Fähigkeit, im Rahmen der Beratung über die unterschiedlichen „Auffassungen“ zur Verwirklichung eines Zieles die eigene „Auffassung“ als die bessere erscheinen zu lassen. Diese Fähigkeit hat insofern eine Auswirkung auf den Anschein der „Tüchtigkeit“ eines Menschen, als derjenige, der seine Auffassung als die bessere durchsetzt, auch als der besser Beratene, der Kompetentere und mithin als der Tüchtigere erscheint.¹¹⁶ Ob die als besser durchgesetzte „Auffassung“ auch die, landläufig gesagt, „objektiv“ bessere ist, steht dabei nicht zur Debatte. Hat doch nach sophistischer Meinung auch hier der protagoreische Relativismus Gültigkeit, demzufolge eine Auffassung dann die bessere ist, wenn sie von jemandem als solche beurteilt wird.¹¹⁷ So bildet der Relativismus des Protagoras auch die Grundlage für die von ihm behauptete
112 Platon Protagoras 318e 5–319a 2: „τὸ δὲ μάθημά ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων͵ ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ͵ καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως͵ ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν.“ 113 Vgl. Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 51; zudem Heribert Boeder: „Parmenides und der Verfall des kosmologischen Wissens“, S. 165: „Diese Bestimmung [i. e. der μάθημα des Protagoras] läßt sehen, wie im einzigen Interesse der glücklichen Lebensführung nicht ein anderes Wissen, sondern sogar eine andere Art von Wissen als das der Kosmologie und der ἱστορία die Aufmerksamkeit auf sich zieht – ein Wissen, das nicht so sehr weiß, wie es ist, sondern, wie es gut ist, genauer: wie es besser sein kann und zwar gut und besser für den sein Leben führenden Menschen; die Lebensführung verlangt ein ständiges Unterscheiden zwischen „besser“ und „schlechter“ und die εὐβουλία, die Protagoras lehrt, hat es mit der Fähigkeit dieses Unterscheidens zu tun.“ 114 Vgl. Platon Protagoras 318a 6–9. 115 Zu diesem Anspruch des Protagoras, ἀρετή lehren zu können, vgl. Platon Protagoras 320b 1ff. 116 Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 205f. 117 Daher bestimmt Sokrates im Einvernehmen mit Gorgias dessen τέχνη als „(...) πειθοῦς δημιουργός (...) πιστευτικῆς ἀλλ‘ οὐ διδασκαλικῆς περὶ τὸ δίκαιόν τε καὶ ἄδικον“, vgl. Platon Gorgias 454e 9–455a 2.
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Möglichkeit, den schwächeren Logos zum stärkeren zu machen.¹¹⁸ Dies wird dadurch bewerkstelligt, dass der Sophist jemanden meist mit Hilfe rhetorischer Manipulation dazu bringt, eine bestimmte Auffassung als die bessere zu beurteilen. Diese Fähigkeit der Einflussnahme auf menschliche „Auffassungen“ stellt den Kern dessen dar, was nach Protagoras als die bereits angesprochene „Weisheit“ des Sophisten betrachtet werden kann. Ein „Weiser“ und damit vor den Menschen Ausgezeichneter zu sein, das bedeutet Protagoras zufolge, beispielsweise bewirken zu können, dass etwas, das jemandem zuvor lästig erschienen war, ihm nun nützlich erscheint. Ein Beispiel dafür stellt der Arzt dar, der als ein „Weiser“ in der Lage ist, den Kranken davon zu überzeugen, dass die seiner Gesundheit förderliche Nahrung nicht, wie er vermeint, bitter, sondern gut schmeckt.¹¹⁹ Wie der im Theaitetos für Protagoras sprechende Sokrates betont, ist jedoch auch hier nicht anzunehmen, dass die Auffassung des Arztes „wahrer“ und der Arzt im Unterschied zum Kranken „wissend“ sei, da alle Auffassungen an sich gleich wahr seien und der Arzt und der Kranke lediglich Unterschiedliches für wahr hielten.¹²⁰ Und dennoch ist nach Protagoras die Auffassung des Arztes vorzuziehen, und zwar nicht als die „wahrere“, sondern als die „bessere“.¹²¹ Jene ist dabei insofern „besser“, als sie eher imstande ist, den Menschen in einen Zustand zu versetzen, den er selbst als gut beurteilt.¹²² Die „Auffassung“, dass die δόξα des Arztes die „bessere“ sei, basiert mithin auf der implizit vorausgesetzten Annahme, dass der Patient die Gesundheit als den von ihm angestrebten Zustand betrachtet, und nicht auf der dem Relativismus des Protagoras widersprechenden Vorstellung, dass die Gesundheit ein an sich bestehendes Gut darstellt. Gregory Vlastos weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Protagoras’ Versuch, die Auffassungen eines Menschen zu ändern, damit dieser dem Erreichen der von ihm selbst erstrebten Ziele näher komme, nicht nur einer egoistischen Zielsetzung des Sophisten entstamme. Könnte man doch dem Sophisten unterstellen, dass er in dieser Weise eine bessere Aussicht auf einen Erfolg seines Überredungsversuches habe.¹²³ Vielmehr, so Vlastos, dokumentiere die besagte Zielsetzung des Protagoras dessen selbst von Platon bescheinigten ethisch hochstehenden Charakter, dem entsprechend er „Weisheit“ bestimme als „(...) power wielded over others to secure for them what they themselves feel to be good“¹²⁴. Es ist, wie Vlastos im Weiteren ausführt, sicher nicht möglich anzunehmen, dass alle Sophisten so hehre Ziele wie Protagoras verfolgt hätten, der in dem gleichnamigen Dialog Platons dem Hippokrates verspricht, dass er, wenn er sich dazu entschließen sollte, bei ihm zu lernen, jeden Tag besser würde und es ihm nicht
118 Vgl. Protagoras B6 b. 119 Vgl. Platon Theaitetos 166e ff. 120 Vgl. ebd. 166e 4–167a 3. 121 Vgl. ebd. 167b 1–4. 122 Vgl. Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 285–289. 123 Vgl. ebd. S. 287. 124 Ebd.
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so ergehen würde wie bei manch anderen Sophisten.¹²⁵ Mit einem solchen „anderen Sophisten“ könnte der platonische Protagoras beispielsweise jemanden wie Gorgias gemeint haben, der, wie Vlastos im Anschluss an eine Aussage in Platons Menon ausführt, den Gedanken, dass man jemanden zu einem besseren Menschen erziehen könne oder auch nur solle, für einen guten Witz gehalten und, wie es andernorts bei Platon heißt, seine eigene Kunst dementsprechend nicht als eine „Erziehungskunst“, sondern einfach als „Rhetorik“ bezeichnet habe.¹²⁶ Wie hier deutlich wird, gilt es in Bezug auf die Tätigkeiten und Ziele der einzelnen Sophisten zu differenzieren und verallgemeinernde Urteile, vor allem, wenn sie mit negativen Bewertungen einhergehen, zu unterlassen. So gab es auch unter den Sophisten einige, die, wie das Beispiel des Protagoras zeigt, darum bemüht waren, den Menschen Wege zu einem guten und gelingenden (Zusammen-)Leben aufzuzeigen. Nach solchen Wegen zu suchen, war dabei vor allem deswegen notwendig geworden, weil, wie die ebenfalls zu dieser Zeit (5 Jh.) aufkommende φύσις-νόμος-Diskussion verdeutlicht,¹²⁷ die überkommenen Werte und moralischen Vorstellungen – zusammen mit den Wahrheits- und Absolutheitsansprüchen im Allgemeinen – hinsichtlich ihres Gültigkeitsanspruches fraglich geworden waren.¹²⁸ Infolgedessen wurde es immer wichtiger, Menschen, die durch die fortschreitende Auflösung der bestehenden Wertesysteme zunehmend verunsichert waren, durch eine bestimmte Form der Erziehung dazu zu befähigen, Sachverhalte und Situationen in eigenständiger Weise so zu beurteilen, es ihnen auch weiterhin zu ermöglichen, ein gutes Leben sowohl im Bereich des Privaten als auch in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu führen.¹²⁹ Wird die Entwicklung der sophis-
125 Vgl. ebd., mit einem Verweis auf Platon Protagoras 318a 6–9. 126 Vgl. Gregory Vlastos: „Protagoras“, S. 287f., mit Verweisen auf Platon Menon 95c 1–4; Gorgias 449a 1–5. 127 Ein erstes Zeugnis für die Entgegensetzung von φύσις und νόμος findet sich bei dem Naturphilosophen Archelaus in DK 60 A2: „Und das Gerechte und Hässliche ist nicht so von Natur aus (φύσει), sondern aufgrund des Gesetzes (bzw. Satzung) (νόμῳ).“ Zu dieser Diskussion, vgl. auch George B. Kerferd: The Sophistic Movement, Cambridge 1981, S. 111–130; William K. C. Guthrie: The Sophists, S. 55-134. 128 Vgl. dazu die sogenannten Dissoi Logoi (DK 90), die nach dem Grundsatz des Protagoras, dem gemäß es in Bezug auf jede Sache zwei einander entgegengesetzte Auffassungen gibt (B6a), moralphilosophische Fragen diskutieren, indem sie die einander widersprechenden Auffassungen, die es über Gut und Schlecht, Gerecht und Ungerecht, Wahr und Falsch etc. gibt, als gleichermaßen berechtigt und wahr erscheinen lassen. Eine zumindest von Platon als sehr aggressiv dargestellte Kritik an den überkommenen moralischen und sittlichen Vorstellungen trägt der Sophist Kallikles vor, der diese Vorstellungen vornehmlich deswegen kritisiert, weil sie die Stärkeren daran hindern würden, ihr von Natur aus bestehendes Recht durchzusetzen, vgl. Platon Gorgias 483c 8–d 2; 483e 4ff. 129 Ein derartiger Versuch, eine lebenstaugliche „praktische Philosophie“ zu entwickeln, findet sich u. a. bei Isokrates, mit dessen ethischen Entwürfen sich auch Platon zum Teil in intensiver Weise auseinandergesetzt hat. Zu Isokrates, vgl. vor allem Christoph Eucken: „Prinzipien des Handelns bei Isokrates und den Sokratikern“, in: Zeitschrift für Politik 25 (1978), S. 142–153; ders.: Isokrates. Seine Position in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen, Berlin 1983. Zu Platons Aus-
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Sophistische Kritikpunkte
tischen τέχνη vor dem Hintergrund der angesprochenen gesellschaftlichen Veränderungen betrachtet, zeigt sich, dass sie zumindest zum Teil auch eine Reaktion auf diesen Wandel darstellt, der eine Reihe von Fragen aufwarf, die die eleatische Philosophie nicht zu beantworten imstande war. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die sophistische Kritik an der von der eleatischen Philosophie behaupteten Möglichkeit der Einsicht in eine absolut bestehende Wahrheit zweierlei aufzuzeigen versucht: (1) Eine solche Wahrheit, auch wenn sie an sich Bestand haben sollte, wie Protagoras und Gorgias zeigen, stellt keinen Gegenstand menschenmöglicher Erkenntnis dar. Denn zum einen ist die menschliche Erkenntnis, wie Protagoras ausführt, immer relativ in Bezug auf den Erkennenden, so dass der Gedanke der Einsicht in eine absolute Wahrheit widersinnig erscheinen muss. Zum anderen, so gibt vor allem Gorgias zu bedenken, kann eine solche Erkenntnis auch deswegen nicht gewonnen werden, weil ein Gegenstand wie „das Seiende“, das Parmenides als das Objekt sicheren Wissens angegeben hatte, in seiner völligen Unbestimmtheit nicht zum Objekt menschlichen Urteils werden kann. (2) Die sophistische Kritik weist darauf hin, dass eine solche Erkenntnis, selbst wenn ihre Möglichkeit zugestanden würde, vollkommen nutzlos wäre. Es stellt sich nämlich die Frage, was die Erkenntnis einer nach Parmenides per definitionem von aller Auffassung abgetrennten Wahrheit mit Blick auf die menschliche Praxis nützen soll, gestaltet sich diese doch vornehmlich durch ein Abwägen hinsichtlich unterschiedlicher Auffassungen darüber, was im Konkreten zu tun und zu lassen ist. Nochmals anders gesagt, bedeutet dies, dass es, wie die Sophisten denken, nicht unmittelbar einsichtig ist, wie sich aus der von Parmenides behaupteten Unterscheidung zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es nicht ist, ein Wissen über die Unterscheidung zwischen dem, wie zu handeln ist und wie nicht, ergeben soll. Die von Seiten der Sophistik an der eleatischen Philosophie vorgetragene Kritik stellte diese Art von Philosophie vor immense Schwierigkeiten. Sie tat dies, indem sie den Blick auf einen bis dahin unbeachteten, gleichwohl aber wesentlichen Aspekt der Frage nach dem, was wir sicher wissen können, lenkte. Wie nämlich steht ein solches Wissen im Verhältnis zum Menschen, wie kann er zu einer Einsicht in ein derartiges Wissen gelangen und gesetzt den Fall, dass ein solcher Versuch gelingt, was soll ihm ein sicheres Wissen nützen? Diese Fragen und dabei vor allem die letztgenannte deutlich formuliert zu haben, darin besteht ein großer Teil des Verdienstes der Sophisten; haben sie doch damit als die Ersten die von der Philosophie bis dahin nicht eigens beachtete Problematik der Relevanz des von ihr behaupteten sicheren Wissens für die menschliche Praxis zur Sprache gebracht. Können wir, so wäre diese Anfrage zu formulieren, sicher wissen, wie es ist? Und: Ergibt sich aus diesem Wissen
einandersetzung mit isokratischem Gedankengut, vgl. Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, S. 84.
Die Nutzlosigkeit des sicheren Wissens
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ein Kriterium, anhand dessen sich gutes von schlechtem beziehungsweise besseres von schlechterem Handeln unterscheiden lässt? Mit der sich aus dieser Kritik ergebenden Einschränkung des Geltungsbereiches des philosophischen Wissens hat die Sophistik die weitere Entwicklung dieser Art der Philosophie in großem Maße beeinflusst und vor allem hinsichtlich ihrer Praxisrelevanz vor eine immense Herausforderung gestellt. Der Erste nun, der diese Herausforderung für die auf ein sicheres Wissen ausgehende Philosophie annehmen und die Sophistik ihrerseits auf ihre „Weisheit“ hin prüfen sollte, war Sokrates. Seine Auseinandersetzung mit den sophistischen Lehren soll im Folgenden betrachtet werden.
5 Überprüfbare Hypothesen – Sokrates Dass er weise sei, weist Sokrates im Unterschied zu den Sophisten weit von sich. Er für seinen Teil sei sich dessen bewusst, dass er nicht weise ist, lässt Platon ihn über sich selbst in der Apologie sagen, und zwar „weder im Großen noch im Kleinen“ (οὔτε μέγα οὔτε σμικρόν).¹ Beim aufmerksamen Lesen der Apologie muss Sokrates’ Bekenntnis seines Mangels an Weisheit zunächst einmal merkwürdig erscheinen; berichtet er doch einige Zeilen zuvor selbst davon, dass sein Freund Chairephon von dem Orakel zu Delphi erfahren habe, dass niemand „weiser“ (σοφώτερος) sei als er selbst, Sokrates.² Wie diese beiden zunächst widersprüchlich erscheinenden Stellen zu verstehen und zusammenzulesen sind, wird deutlich, wenn man genauer betrachtet, worin eigentlich die „Unweisheit“ des Sokrates besteht. In dem bereits angegebenen Zitat aus der Apologie, das leider meist verkürzt wiedergegeben wird, bestimmt Sokrates seine „Unweisheit“ nämlich dahin gehend näher, dass er behauptet, nicht weise zu sein, „weder im Großen noch im Kleinen“. Die so beschriebene Spezifikation der sokratischen „Unweisheit“ ist deswegen so wichtig für die Interpretation dieser Stelle, weil sie in ihrem Wortlaut auf eine Parallele zu einer bereits zitierten Passage aus Platons Protagoras hinweist. In dieser antwortet Protagoras auf Sokrates’ Frage, was bei ihm zu lernen sei, dass die von ihm vermittelte „Kenntnis“ (μάθημα) in der Wohlberatenheit bestehe: (...) im privaten Bereich [d. h. im Kleinen], wie man am besten das eigene Haus verwaltet, und im Bereich der Polis [d. h. im Großen], wie man am vermögendsten wird, darin zu handeln und zu sprechen.³
Die Behauptung des Sokrates, dass er nicht in diesem Sinn „weise“ sei, will folglich nichts anderes sagen, als dass er kein Sophist wie Protagoras ist, der weise ist im Großen wie im Kleinen.⁴ Nun bleibt Sokrates jedoch nicht bei der Feststellung stehen, dass er selbst nicht „weise“ sei. So berichtet er in der Apologie, dass er bei dem Versuch, einen weiseren als ihn selbst zu finden, um den Irrtum des delphischen Orakels beweisen, die Erfahrung gemacht habe, dass sich manch einer, der den Anschein erweckt, weise zu
1 Vgl. Platon Apologie des Sokrates 21b 4f.: „ἐγὼ γὰρ δὴ οὔτε μέγα οὔτε σμικρὸν σύνοιδα ἐμαυτῷ σοφὸς ὤν“. 2 Vgl. ebd. 20e 8–21a 8. 3 Platon Protagoras 318e 5–319a 2: „τὸ δὲ μάθημά ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων͵ ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ͵ καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως͵ ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν.“ 4 Auf diese Möglichkeit der Interpretation des sokratischen Nichtwissens hat Bernhard Uhde im Rahmen von Vorträgen und Lehrveranstaltungen bereits des Öfteren hingewiesen. Dass sich Sokrates mit seinem Abstreiten einer Weisheit „im Großen wie im Kleinen“ von der sophistischen Position zu distanzieren versucht, wird auch von Heribert Boeder vertreten. Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 208.
Sokrates’ Was-ist-X-Frage als Herausforderung für die Sophistik
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sein, auf seine Weisheit hin geprüft, als überhaupt nicht weise herausstelle.⁵ Diese Stelle ist schon deswegen interessant, weil Sokrates hier den im Kontext des sophistischen Denkens völlig sinnlosen Unterschied zwischen dem Weise-Scheinen (σοφός δοκεῖν) und dem Weise-Sein (σοφός εἶναι) eines Menschen einführt. Zu unterscheiden zwischen dem, was jemandem zu sein scheint, und dem, was (für jemanden) ist, das musste einem Sophisten wie Protagoras deswegen absurd erscheinen, weil nach dessen Lehre das, was jemandem zu sein scheint, für diesen auch (wahr) ist,⁶ was die besagte Unterscheidung zwischen Schein und Sein gegenstandslos macht. Sokrates dagegen hält nicht nur an der von Protagoras verworfenen Differenzierung fest, er gibt zudem auch eine Möglichkeit an, wie beide, Schein und Sein, voneinander zu unterscheiden sind. Eine zentrale Rolle kommt dabei, wie die zuletzt angesprochene Stelle aus der Apologie zeigt, dem sokratischen Verfahren des „Untersuchens“ oder „Prüfens“ zu.⁷ Was aber hat es mit diesem Verfahren auf sich, was wird von Sokrates „genauer betrachtet“ und inwieweit befähigt ihn seine „Prüfung“ dazu, Schein und Sein voneinander zu unterscheiden?
5.1 Sokrates’ Was-ist-X-Frage als Herausforderung für die Sophistik Den Ausgangspunkt der Untersuchungen des Sokrates stellt meist eine auch als „sokratisch“ bezeichnete Frage der Form „Was ist X?“ oder „Ist X y?“ dar. Wie die platonischen Dialoge zeigen, sind diese beiden Formen der Frage dabei insoweit aufeinander bezogen, als die zweite die erste voraussetzt.⁸ So argumentiert Sokrates im Menon folgendermaßen: Wovon ich nicht weiß, was es ist, wie sollte ich davon wissen, wie es beschaffen ist? Oder scheint es dir so zu sein, dass jemand, der den Menon überhaupt nicht kennt, wissen könne, ob er schön oder reich oder adlig ist oder das Gegenteil dessen?⁹
5 Vgl. Platon Apologie des Sokrates 21b 9ff. 6 Vgl. u. a. Platon Theaitetos 170a 3f. 7 Der Begriff, den Platon in der Apologie des Sokrates verwendet, ist „διασκοπεῖν “, vgl. 21c 3; vgl. zudem ebd. 28e 4ff. 8 Vgl. Richard Robinson: „Socratic Definition“, in: Gregory Vlastos (Hrsg.): The Philosophy of Socrates. A Collection of Critical Essays, Notre Dame 1971, S. 112; siehe auch: Christopher C. W. Taylor: Sokrates, Freiburg 2002, S. 66ff. In Platons Dialogen ist es an einer Unzahl von Stellen verbürgt, dass Sokrates diese Frage gestellt habe, vgl. beispielsweise Platon: Hippias Maior 286c 8–d 2; Euthyphron 5d 7; Menon 70a, 71a; Theaitetos 196d–e; darüber hinaus finden sich Zeugnisse dessen auch bei Aristoteles (Metaphysik 1078b 17ff., vor allem b 22f.) und Xenophon (Memorabilia IV, 6, 1). 9 Platon Menon 71b 3–7: ὃ δὲ μὴ οἶδα τί ἐστιν͵ πῶς ἂν ὁποῖόν γέ τι εἰδείην; ἢ δοκεῖ σοι οἷόν τε εἶναι͵ ὅστις Μένωνα μὴ γιγνώσκει τὸ παράπαν ὅστις ἐστίν͵ τοῦτον εἰδέναι εἴτε καλὸς εἴτε πλούσιος εἴτε καὶ γενναῖός ἐστιν͵ εἴτε καὶ τἀναντία τούτων;“ Dazu, dass man nicht wissen könne, ob Tüchtigkeit lehrbar ist, bevor man nicht weiß, was sie ist, vgl. auch Menon 86d 2–5; 100b 4–6; Protagoras 360e 6–361a 3;
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Überprüfbare Hypothesen – Sokrates
Sokrates will hier darauf hinaus, dass jedes Urteil über ein X wie das Schöne, das Fromme, das Wissen etc. implizit ein weiteres Urteil darüber voraussetzt, was X ist.¹⁰
derartige Rückführungen der „Ist X Y?“-Frage auf die „Was ist X?“-Frage finden sich noch an vielen anderen Stellen in Platons Werk, vgl. z. B. Politeia 354c, dort mit Blick auf die Frage, ob die „Gerechtigkeit“ eine „Tüchtigkeit“ sei; hinsichtlich anderer Fragestellungen, vgl. auch Euthyphron 4b–5d; Laches 189d–190d; Charmides 158c–159a; Hippias Maior 286c f. Die sokratische Behauptung, dass es notwendig sei, zu wissen, was X ist – und zwar im Sinne einer Definition – um entscheiden zu können, ob X über eine bestimmte Eigenschaft verfügt oder nicht, ist u. a. von Peter Geach kritisiert worden, dessen Einwand in gewisser Weise eine Variation des im Menon selbst vorkommenden „Paradox des Menon“ (vgl. Menon 80d 5–e 5) darstellt – Letzteres haben u. a. Gregory Vlastos und Hugh H. Benson herausgearbeitet, vgl. Gregory Vlastos: Socratic Studies (hrsg. von Myles F. Burnyeat), Cambridge 1994, S. 78; Hugh H. Benson: „Meno, the Slave-boy and the Elenchus“, in: Phronesis 35, S. 148. Peter Geach zufolge ist es unmöglich, mit Hilfe von Beispielen von X zu einer Definition von X zu gelangen, da man, um solche Beispiele anführen zu können, bereits wissen müsste, was X ist. Außerdem merkt Peter Geach an, dass es für gewöhnlich nicht notwendig sei, die Definition eines Gegenstandes X zu kennen, um eine Eigenschaft von diesem prädizieren zu können, vgl. Peter T. Geach: „Plato’s Euthyphro“, in: The Monist 50 (1967), S. 367–382. Peter Geachs These sah sich in der Folgezeit ihrerseits einer Reihe von Einwänden ausgesetzt, die vor allem in zwei Richtungen gehen. Zum einen haben Gelehrte wie Gregory Vlastos diesbezüglich die Meinung vertreten, dass sich die Sokrates von Geach unterstellte und kritisierte Argumentation in dieser Form nicht in den vorliegenden Texten belegen lasse, vgl. dazu u. a. John Beversluis: „Does Socrates Commit the Socratic Fallacy?“, in: American Philosophical Quarterly (1987), S. 211–223; Gregory Vlastos: Socratic Studies, S. 69–85. Zum anderen hat Charles H. Kahn darauf hingewiesen, dass sich das in „Menons Paradox“ angesprochene Problem hinsichtlich der von Sokrates behaupteten Notwendigkeit einer vorhergehenden Definition von X lösen lasse, wenn man die unterschiedlichen Bedeutungen von „wissen“ („to know“, εἰδέναι) beachtet, die im Rahmen der Formulierung des Paradoxons verwendet werden. So sei zwischen einem „Wissen“ im Sinne der Fähigkeit, etwas als X identifizieren zu können, und einem „Wissen“ im Sinne eines „full scientific or explanatory knowledge“ zu unterscheiden und, wie Kahn ausführt, die von Menon nicht vollzogene Unterscheidung zwischen diesen beiden Bedeutungen der Grund für das Zustandekommen des scheinbaren Paradoxons, vgl. dazu Charles H. Kahn: Plato and the Socratic Dialogue. The Philosophical Use of a Literary Form, Cambridge 1996, S. 157–164. Angesichts der bereits angesprochenen Verbindung zwischen dem „Paradox des Menon“ und der Argumentation Peter Geachs ist m. E. Kahns Argument auch in Hinblick auf Geachs Position anwendbar. So könnte man in Bezug auf Geachs These anführen, dass es zwar nicht notwendig sei, eine Definition von Menon anzugeben – wie noch zu zeigen sein wird, ist dies platonisch gedacht auch überhaupt nicht möglich – um ein Urteil darüber fällen zu können, ob er reich ist, doch muss man wenigstens in der Lage sein, Menon als diesen oder jenen Menschen identifizieren zu können, bevor man irgendeine Auffassung über ihn vertreten kann. Eine solche Anwendung des Kahn’schen Arguments scheint zudem auch insofern sinnvoll, als Hugh H. Benson in überzeugender Weise gegen Vlastos und Beversluis dargelegt hat, dass es durchaus möglich, wenn auch nicht notwendig ist, Geachs Position zu teilen und die von Geach kritisierte Position anhand der vorliegenden Texte als sokratisch zu erweisen. 10 Obwohl man den Einwänden von Peter Geach z. T. mit der Argumentation Charles H. Kahns begegnen kann, ist damit der Sinn der sokratischen Rückführung der „Ist-X-y?“-Fragen auf die „Was-istX?“-Frage noch nicht vollständig erörtert. Da es noch einiger weiterer Erläuterungen bedarf, die vor allem das betreffen, was Sokrates mit Hilfe seiner Frage zu erfahren sucht, muss diese Diskussion auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden.
Sokrates’ Was-ist-X-Frage als Herausforderung für die Sophistik
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Was aber will Sokrates mit dieser Frage bezwecken und welche Art von Antwort erwartet er auf seine Frage? Die platonischen Dialoge zeugen davon, dass auch viele der von Sokrates auf diese Weise Befragten zunächst einmal nicht zu verstehen scheinen, was er eigentlich wissen möchte, und Antworten geben, mit denen er nicht zufrieden ist.¹¹ Die meist darauf folgende nähere Bestimmung der sokratischen Frage lässt erkennen, dass sie nicht auf einzelne Beispiele für X abzielt, sondern auf das, was die Einzelbeispiele, die von den Befragten genannt werden, gemeinsam haben.¹² Sokrates sucht, wie Platon sich ausdrückt, nach etwas, das in den Einzelfällen, in denen von X gesprochen wird, dasselbe (ταὐτόν) ist¹³ und das diese Fälle als ein „Gemeinsames“ (τὸ κοινόν) haben.¹⁴ Es geht ihm, wie es in den platonischen Dialogen ebenfalls heißt, um ein den einzelnen Dingen gemeinsames εἶδος¹⁵ beziehungsweise um eine jeweils identische ἰδέα¹⁶. Dass Sokrates an einem derartigen „Gemeinsamen“ interessiert war, bezeugen außer Platon auch Xenophon und Aristoteles. So berichtet Aristoteles, dass Sokrates „das Allgemeine“ (τὸ καθόλου)¹⁷ – welches von Aristoteles bisweilen auch als das κοινόν bezeichnet wird¹⁸ – gesucht habe, und in Xenophons Memorabilia findet sich die Bemerkung, dass Sokrates die Hypothesen auf einen Logos zurückgeführt habe.¹⁹ Warum Sokrates nun ausgerechnet ein Interesse daran hatte, X hinsichtlich dessen zu bestimmen, was die unterschiedlichen Einzelfälle von X als ein jeweils „Gemeinsames“ oder „Allgemeines“ aufweisen, zeigt sich, wenn man in den Blick nimmt, in welcher Weise er seine „Prüfungen“ durchführte. Wie man sich dieses im genaueren vorzustellen hat, zeigt vor allem der Phaidon, in dem Platons Beschreibung des „philosophischen Werdeganges“ des Sokrates auch eine systematische Darstellung seines „Prüfens“ beinhaltet.
11 Vgl. z. B. Platon Euthyphron 6d ff.; Hippias Maior 287d 4ff.; Menon 71e ff. 12 Vgl. z. B. Platon Hippias Maior 287d 5ff. zum Folgenden, vgl. auch Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, zweiter Teil, erste Abteilung, Sokrates und die Sokratiker, Plato und die alte Akademie, Darmstadt 1963, S. 107 und 126. 13 Vgl. z. B. Platon Euthyphron 5d 1–5; Menon 72c 1–d 1, vgl. dort die Formulierung „τὸ ἐπὶ πᾶσι τούτοις ταὐτόν“. 14 Vgl. Platon Hippias Maior 300a 9ff. 15 Vgl. Menon 72c 7. 16 Vgl. Platon Euthyphron 5d 4. Spricht Platon an den genannten Stellen von ἰδέα und εἶδος, will er dieses im Rahmen dieser recht frühen Dialoge noch nicht in dem spezifischen Sinne der „Ideenlehre“ verstanden wissen, sondern eher allgemein als eine den Einzeldingen gemeinsame „(..) Form (...), die sich mit dem geistigen Auge erblicken läßt“, vgl. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 94. 17 Wörtlich eigentlich „hinsichtlich des Ganzen“; so übersetzt von Christos Axelos: Art. „Allgemeines/Besonderes, I.“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 164–169, hier Sp. 164. 18 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1038b 11. 19 Vgl. ebd. 987b 1ff.; 1078b 17ff.; zu Xenophon, vgl. Memorabilia IV, 6, 13f.
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Überprüfbare Hypothesen – Sokrates
Im Phaidon erzählt Sokrates, dass er nach einer Zeit der Beschäftigung mit Fragestellungen naturphilosophischer Art dazu übergegangen sei, die „Wahrheit des Seienden“ (ἀλήθεια τῶν ὄντων) in den „Auffassungen“ bzw. „Aussagen“ (λόγοι) zu „betrachten“ (σκοπεῖν).²⁰ Um dieses zu tun, habe er jeweils diejenige Auffassung (λόγος), die er als die „stärkste“ (ἐρρωμενέστατον) „beurteilt“ (κρίνειν), als „Hypothese“ (ὑπόθεσις)²¹ „zugrunde gelegt“ (ἀποτίθημι) und das, was ihm damit übereinzustimmen schien (μοὶ δόκω τοῦτο συμφωνεῖν), als wahr gesetzt und was nicht, als unwahr.²² David Ross interpretiert diese stark mit sophistischer Terminologie durchsetzte Stelle so, dass Sokrates, nachdem er – man könnte sagen, „gut sophistisch“ – eine bestimmte Auffassung als die im Vergleich „stärkste“ beurteilt hat, zunächst einmal den Blick auf die sich aus der Auffassung ergebenden Schlüsse („conclusions“) richtet.²³ Dass es Sokrates in der Tat um derartige Schlüsse geht, zeigt auch eine zu der im Phaidon parallele Stelle aus Platons Menon.²⁴ Auch dort wird das sokratische Verfahren „ἐξ ὑποθέσεως“ thematisiert und unter anderem in Betracht genommen, wie sich etwas als „das Folgende“ (τὸ συμβαῖνον)²⁵ aus einer zugrunde gelegten „Hypothese“ ergibt.²⁶ Sokrates erläutert ein solches Schließen zunächst anhand eines Beispiels aus der Geometrie, dann aber auch mit Blick auf die Frage nach der Lehrbarkeit der ἀρετή.²⁷ Diesbezüglich führt er aus: (...) [D]a wir hinsichtlich der Tüchtigkeit weder wissen, was sie ist, noch, wie sie beschaffen ist, betrachten wir, dieses zugrunde legend, ob sie lehrbar oder nicht lehrbar ist, indem wir auf folgende Weise sagen: Wie beschaffen müsste die Tüch-
20 Vgl. Platon Phaidon 99e 4–6; dazu, dass λόγοι an dieser Stelle mit „Aussagen“ oder „Auffassungen“ und nicht mit „Begriffen“ oder „Begründungen“ zu übersetzen ist, vgl. David Ross: Plato’s Theory of Ideas, Oxford 1966, S. 27. 21 Vgl. u. a. Menon 86e 3; Phaidon 101d 2. 22 Vgl. Platon Phaidon 100a 3–8. 23 Vgl. David Ross: Plato’s Theory of Ideas, S. 28; eine recht ausführliche Betrachtung dieser und der im Folgenden angesprochenen Stellen findet sich bei Richard Robinson: Plato’s Earlier Dialectic, Oxford 1953, S. 126–145. 24 Vgl. Platon Menon 86e 1ff. 25 Wörtlich: „das Zusammengehende“. Darauf, dass τὸ συμβαῖνον bzw. τὰ συμβαίνοντα bei Platon prinzipiell so verwendet wird, dass es auf „logische Konsequenzen“ („logical consequences“) verweist, macht Richard Robinson aufmerksam in Plato’s Earlier Dialectic, S. 129. 26 Ob Sokrates selbst tatsächlich von ὑποθέσεις sprach und hier nicht ein genuin platonischer Begriff in Erscheinung tritt, der die Vorgehensweise Platons und nicht des Sokrates beschreibt, ist ungewiss – für diese Position hat sich z. B. Richard Robinson in Plato’s Earlier Dialectic, S. 134 ausgesprochen. Dagegen lässt sich allerdings anführen, dass Platon die Erkenntnis ἐξ ὑποθέσεως nicht als ein Wissen charakterisiert, weil sie über keine Kenntnis der nicht mehr „hypothetischen“ Grundlagen, d. h. der Ideen, verfügt, die Platon jedoch in jedem Fall für sich beansprucht; zu dieser Unterscheidung, vgl. Platon Politeia 533b–c. Folglich könnte man die Vorgehensweise ἐξ ὑποθέσεως als ein Vorläuferverfahren begreifen, das durch die platonische Ideenerkenntnis ersetzt wird. 27 Vgl. Platon Menon 86e 4ff.
Sokrates’ Was-ist-X-Frage als Herausforderung für die Sophistik
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tigkeit sein, wenn sie zu den Dingen der Seele gehört, damit sie lehrbar oder nicht lehrbar ist?²⁸
Diese Frage des Sokrates zeigt, dass sich die Rede von dem, was mit der Hypothese „zusammenstimmt“ (συμφωνεῖν) bzw. „zusammengeht“ (συμβαινεῖν), tatsächlich auf die Schlüsse bezieht, die in diesem Fall aus einer möglichen Hypothese darüber, was Tüchtigkeit ist, zu ziehen sind. So könnte man die Frage des Sokrates auch folgendermaßen formulieren: Welches Verständnis dessen, was Tüchtigkeit ist, muss man voraussetzen, damit sich der Schluss ergibt, dass sie lehrbar beziehungsweise nicht lehrbar ist?²⁹ Nach der Betrachtung der Konsequenzen, die sich aus der zugrunde gelegten Hypothese ergeben, geht Sokrates im Phaidon einen Schritt weiter. Er untersucht, ob die aus der Hypothese gezogenen „Schlüsse“ – an dieser Stelle spricht Platon von τὰ ὁρμηθέντα³⁰ – in einem Widerspruch zueinander stehen, was gegebenenfalls die Aufgabe dieser Hypothese zur Folge haben müsste.³¹ Um nur eines der vielen von Platon angeführten Beispiele für ein derartiges „Nicht-Zusammenstimmen“ von sich aus einer Hypothese ergebenden Folgen zu nennen, wäre auf den Hippias Maior zu verweisen. Dort antwortet Hippias auf die Frage, was „das Schöne“ sei, dass ein schönes Mädchen schön sei.³² Die Strategie, die Sokrates im weiteren Verlauf des Dialogs wählt, um die Absurdität der Antwort des Hippias aufzuzeigen, entspricht nun der zuvor erörterten Vorgehensweise. So weist Sokrates darauf hin, dass sich einander widersprechende Konsequenzen aus der von Hippias vertretenen Auffassung ergeben. Wird nämlich, wie von Hippias vorgeschlagen, das schöne Mädchen mit „dem Schönen“ gleichgesetzt, folgt daraus, dass „das Schöne“ zugleich schön und nicht-schön ist, weil das schöne Mädchen, das als solches zwar schön ist, im Vergleich zu den Göttinnen jedoch hässlich erscheint und mithin auch nicht schön ist. Wäre folglich „das Schöne“ identisch mit dem schönen Mädchen, so die Argumentation des Sokrates, müsste man aus dieser Hypothese die kontradiktorischen Schlüsse ziehen, dass „das Schöne“ erstens schön und zweitens auch nicht schön ist.³³
28 Ebd. 87b 2–6: „οὕτω δὴ καὶ περὶ ἀρετῆς ἡμεῖς͵ ἐπειδὴ οὐκ ἴσμεν οὔθ΄ ὅτι ἐστὶν οὔθ΄ ὁποῖόν τι͵ ὑποθέμενοι αὐτὸ σκοπῶμεν εἴτε διδακτὸν εἴτε οὐ διδακτόν ἐστιν͵ ὧδε λέγοντες· Εἰ ποῖόν τί ἐστιν τῶν περὶ τὴν ψυχὴν ὄντων ἀρετή͵ διδακτὸν ἂν εἴη ἢ οὐ διδακτόν;“ 29 Eine Diskussion darüber, ob unter dem, „was zusammenstimmt“, „logische Schlüsse“ zu verstehen sind, findet sich in Richard Robinson: Plato’s Earlier Dialectic, S. 126–129. Im Phaidon zieht Sokrates aus der Hypothese, dass es das Schöne bzw. Gute selbst gebe (100b 5f.), den Schluss, dass die Seele unsterblich ist, vgl. 100b 7–9. 30 Es ist der Kontext, der es nahelegt, dieses Wort hier ebenfalls mit „Schluss“ zu übersetzen, vgl. dazu Richard Robinson: Plato’s Earlier Dialectic, S. 129. 31 Vgl. Platon Phaidon 101d 5. 32 Vgl. Platon Hippias Maior 287e 2–5. 33 Sokrates fasst dieses Argument zusammen, indem er sagt: „Demnach, wird er sagen, gibst Du, nach dem Schönen gefragt, etwas als Antwort, das, wie Du selbst sagst, um nichts mehr schön ist als hässlich.“ Vgl. Platon Hippias Maior 289c 3–5.
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Überprüfbare Hypothesen – Sokrates
Ist eine Hypothese auf die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen hin betrachtet worden, gilt es nach Sokrates darüber hinaus zu untersuchen, ob sie sich hinsichtlich ihrer Begründung als „selbst-evident“³⁴ herausstellt. Sollte dem nicht so sein und die Notwendigkeit bestehen, bezüglich der diskutierten Hypothese einen sie stützenden Grund anzugeben – λόγον διδόναι³⁵ – dann, so Sokrates, sei von den Hypothesen, die gemäß dem Begründungszusammenhang „oberhalb“ stehen, diejenige zugrunde zu legen, die als die beste erscheint, bis man bis zu einer komme, die sich als „geeignet“ (ἕως ἐπί τι ἱκανόν), d. h. zureichend erweist.³⁶ Die platonischen Dialoge, die Zeugnis von der praktischen Umsetzung des beschriebenen sokratischen Prüfens geben, zeigen, dass die „Hypothesen“, die Sokrates im Rahmen seiner Betrachtungen untersucht, fast immer identisch sind mit den Auffassungen, die er als Antwort auf seine „Was ist X?“-Frage erhält.³⁷ Ein erster Grund dafür, weshalb Sokrates dabei sein Augenmerk auf diejenigen Auffassungen richtet, die als „allgemeine“ das zum Ausdruck bringen, was die vielen unterschiedlichen Einzelfälle von X gemeinsam haben, ergibt sich aus der Betrachtung seines eben beschriebenen Prüfungsverfahrens. So zeigt sich, dass dieses Verfahren nur bei solchen „allgemeinen Auffassungen“ Anwendung finden kann, da sich aus Auffassungen über konkrete Beschreibungen eines bestimmten einzelnen X keine im zuvor erläuterten Sinne untersuchbaren „Schlüsse“ ergeben. Wird beispielsweise Menon als der Besitzer dieses Landgutes, dieser Sklaven und dieser Menge Goldes beschrieben, ergibt sich daraus nichts anderes, als dass Menon im Besitz dieser Güter ist. Dass Menon zum Beispiel aufgrund seines Besitzes dieser bestimmten Menge Goldes in der Lage ist, ein großes Haus zu bauen, kann nur dann geschlossen werden, wenn man weiß, dass es Gold im Allgemeinen ermöglicht, Häuser zu bauen, da mit Gold Baumaterial und Arbeitskraft gekauft werden können. Dieser Schluss wird nun allerdings mittels einer allgemeinen Auffassung über Gold und die Konsequenzen des Besitzes desselben gezogen und nicht allein im Ausgang von der Erkenntnis, dass Menon dieses bestimmte Gold besitzt.³⁸ Dementsprechend wäre die Bestimmung dessen, was Menon ist – abgesehen davon, dass eine solche Bestimmung im Sinne einer „Definition“ eines Einzelnen nicht möglich ist³⁹ – auch nutzlos hinsichtlich
34 Vgl. David Ross: Plato’s Theory of Ideas, S. 28. 35 Platon Phaidon 101d 6. 36 Vgl. ebd. 101c 9–e 3. Erst in der Politeia wird Platon zeigen, dass nur die „Idee“ als ein derartiger „nichts zugrunde legender Anfang“ (ἀνυπόθετος ἀρχή) betrachtet werden kann, der am Anfang einer Begründungskette steht. Vgl. Politeia 511b 3–8. 37 Interessant ist in diesem Kontext, dass Sokrates die „Auffassungen“, die von dem relativistischen Standpunkt der Sophisten aus betrachtet, per se für den sie Vertretenden wahr sind, zu Hypothesen erklärt, denen er seine Zustimmung erst, nachdem er sie geprüft hat, erteilen will. 38 Vgl. dazu Aristoteles’ Bestimmung der ἀπόδειξις, die als ein μέσον immer eines καθόλου bedarf; Aristoteles Zweite Analytik 77a 5–9. 39 Von zentraler Bedeutung ist hier der Gedanke, dass das Einzelne aufgrund seiner fortwährenden
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einer aufgrund einer Schlussfolgerung getroffenen Entscheidung darüber, ob Menon als X ein bestimmtes Prädikat Y zuzuordnen ist.⁴⁰ Wäre eine solche „Definition“ adäquat, müsste sie alle Bestimmungen dessen, was Menon ist, beinhalten, so dass auch die Eigenschaft Y bereits Teil der „Definition“ von Menon sein müsste. In diesem Fall jedoch wäre die ausgehend von der Bestimmung des Menon gemachte Behauptung, dass er auch Y sei, eine bloße Wiederholung dessen, was in seiner „Definition“ schon gesagt worden ist, und keine Schlussfolgerung. Man würde genau genommen nichts anderes sagen als: „Menon, der (unter anderem) als der Besitzer dieses Hauses bestimmt worden ist, besitzt dieses Haus“, was eine tautologische Aussage und keinen Schluss darstellt.⁴¹ Verhält es sich jedoch so, dass nicht alle konkreten Bestimmungen von Menon in seiner „Definition“ begriffen sind, dann ist es aus den zuvor angeführten Gründen nicht möglich, im Ausgang von den schon bekannten konkreten Bestimmungen Menons auf weitere seiner Eigenschaften zu schließen. Infolgedessen ist festzuhalten, dass sich Urteile der Form X ist Y, wenn es sich bei X um ein konkretes Einzelnes handelt, nicht anhand einer „Definition“ von X überprüfen lassen. Dieses ergibt sich daraus, dass sich Y – sei es als eine konkrete, sei es als
Veränderung keinen möglichen Gegenstand einer Bestimmung dessen, wie es ist, darstellt, da es aufgrund seiner Veränderung nicht mit sich selbst identisch bleibt. Dieser Gedanke findet sich schon bei Parmenides, vgl. B7, B8, 38–41: „Alles wird Name sein, was die Sterblichen festlegten in der Überzeugung, es sei wahr, Werden und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort verändern und die leuchtende Hautfarbe wechseln.“ Aufgenommen wird der Gedanke im Weiteren sowohl von Platon als auch von Aristoteles, vgl. dazu Joseph Moreau: „Sein und Wesen in der Philosophie des Aristoteles“, in: FritzPeter Hager (Hrsg.): Metaphysik und Theologie des Aristoteles, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 206), Darmstadt 1969, S. 224 mit Verweisen auf Aristoteles Metaphysik 987a 32–b 9; 1078b 12; Platon Timaios 27d–28a. 40 Es spielt dabei keine Rolle, ob Y für eine konkrete, nur X zukommende, oder eine allgemeine, von mehreren Gegenständen aussagbare Eigenschaft steht. 41 Infolgedessen ist Peter Geach bezüglich seiner bereits angesprochenen Argumentation insofern recht zu geben, als es in der Tat nicht immer notwendig ist, im Rahmen einer Definition angeben zu können, was etwas ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen, ob es über diese oder jene Eigenschaft verfügt. Es ist dabei allerdings zwischen konkreten Einzeldingen und etwas Allgemeinem zu unterscheiden. Während es nämlich in Bezug auf erstere vollkommen ausreicht, den betreffenden Gegenstand als solchen identifizieren zu können – ein Wissen im Sinne der Definition ist in diesem Zusammenhang, wie ausgeführt, auch nicht möglich –, um nachprüfen zu können, ob der Gegenstand eine bestimme Eigenschaft hat oder nicht, sieht die Sachlage anders aus, wenn es um ein Allgemeines geht. Im Unterschied zum Einzelnen ist ein behauptetes Wissen über das Allgemeine, wie Sokrates zeigt, prüfbar, so dass sich, quasi „gut parmenideisch“, ein Unterschied ergibt zwischen denjenigen, die wissen, was X ist, und denen, die dieses nicht wissen. Wie Gail Fine anmerkt, ist es dabei selbstverständlich ebenfalls nicht notwendig, ein Wissen über X zu haben, um überhaupt etwas über dieses sagen zu können, auch der eine Meinung Vertretende kann dieses tun, vgl. dazu Gail Fine: On ideas. Aristotle’s Criticism of Plato’s Theory of Forms, Oxford 1993, S. 49. Gleichzeitig ist allerdings zu bedenken, dass jemand, der eine Meinung über X vorträgt, sich jedoch im Verlauf einer Prüfung seines Wissens über X als unkundig erweist, seine Auffassungen über X nicht als die besseren durchsetzen können wird.
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eine allgemeine Bestimmung – nicht unmittelbar als eine Folge aus der „Definition“ von X herleiten lässt.⁴² Mithin erweisen sich Auffassungen, die über ein konkretes X gebildet werden, nicht als geeignet für das sokratische Betrachtungsverfahren, weshalb Sokrates bei dem Versuch, jemanden auf seine Weisheit hin zu prüfen, auf die zuvor als „allgemein“ bezeichneten „Auffassungen“ zurückgreift. Im Unterschied zu den auf das Einzelne bezogenen sind solche „Auffassungen“ in der dargestellten Weise prüfbar und insoweit als eine Herausforderung für die sophistische Position zu begreifen, als die Möglichkeit einer derartigen „Prüfung“ zeigt, dass es Maßstäbe zur Bewertung von Auffassungen gibt, die vom menschlichen Meinen des Einzelnen unabhängig sind. So verdeutlicht das Verfahren des Sokrates, dass es „Kriterien“ gibt, mit deren Hilfe der Mensch in der Lage ist, hinsichtlich der für das menschliche Urteil grundlegenden allgemeinen Auffassungen über X zwischen denjenigen zu unterscheiden, denen der Prüfende zustimmen kann, und solchen, die aufgrund ihrer zueinander im Widerspruch stehenden Konsequenzen abzulehnen sind. Nicht alle Auffassungen, die über X gebildet werden, stehen folglich als gleichberechtigt wahr nebeneinander, zeigt doch die Prüfung einer Vielzahl dieser Auffassungen, dass sie nicht imstande sind, in nicht-selbstwidersprüchlicher Weise zum Ausdruck zu bringen, was X ist, und dementsprechend auch nicht, was ihm zuzusprechen ist. Zur Folge hat diese Erkenntnis des Sokrates, dass der von der Sophistik verworfene Unterschied zwischen einem „Wissen“ (εἰδέναι) darüber, wie es ist, und einer „Auffassung“ darüber, wie es zu sein scheint,⁴³ nach sokratischem Verständnis wieder in sein Recht gesetzt wird, indem Sokrates eine Möglichkeit aufzeigt, wie in Bezug auf den Bereich der Auffassungen über X beides voneinander zu unterscheiden ist. Welche der Auffassungen im Widerstreit derselben als die beste – nicht nur die bessere – zu wählen ist,⁴⁴ das entscheidet sich Sokrates zufolge nicht daran, welche als die beste Auffassung dargestellt beziehungsweise mit Hilfe rhetorischer Mittel durchgesetzt wird. Maßgeblich ist für Sokrates vielmehr die Frage, welche Auffassung sich im Rahmen einer Prüfung als diejenige herausstellt, die nicht zueinander widersprechenden Folgen führt. Dem sophistischen „Überreden“ stellt Sokrates somit das auf dem λόγον διδόναι basierende „Überzeugen“ entgegen,⁴⁵ der δόξα die ἀλήθεια, diese jedoch im Unterschied
42 „Mittelbar“, d. h. vermittelt durch einen allgemeinen Begriff, ist dieses selbstverständlich möglich, so dass Sokrates, wenn er die Frage prüfen wollte, ob Menon reich ist, zunächst zu betrachten hätte, was es bedeutet, reich zu sein, um dann, ausgehend davon, quasi „empirisch“ zu untersuchen, ob Menon über derartige Eigenschaften verfügt, die der zugrunde gelegten Auffassung darüber, was es heißt, reich zu sein, entsprechen. 43 Vgl. dazu die bereits angemerkte Stelle in Platons Apologie des Sokrates 21b 9ff. 44 Vgl. Platon Kriton 46b 4–6. 45 Diesen Unterschied thematisiert Platon vor allem im Dialog Gorgias.
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zu Parmenides als ἀλήθεια ἐν τοῖς λόγοις und nicht als eine von den „Auffassungen“ abgetrennte.⁴⁶ Auf einen möglichen Einwand von Seiten der Sophistik, demgemäß die Eingeschränktheit des sokratischen Verfahrens auf allgemeine Auffassungen die sophistische Position deswegen nicht gefährde, da sie sich darauf zurückziehen könnte, dass sie nur über einzelne, konkrete X spreche, wäre Folgendes zu entgegnen. Auch und vor allem die sophistische τέχνη muss allgemeine Auffassungen über X zugrunde legen.⁴⁷ Besonders deutlich wird dieses mit Blick auf die sophistische These, dass es stets nur ein jeweils „Besseres“ und „Schlechteres“, jedoch kein (absolut) Gutes oder Schlechtes gebe. So setzt Sokrates zufolge auch die Rede von „besseren“ und „schlechteren“ X insofern eine maßstäbliche Vorstellung davon voraus, was ein „gutes X“ ist, als die in Betracht gezogenen X als „bessere“ und „schlechtere“ dem „guten X“ jeweils mehr oder weniger entsprechen.⁴⁸ Damit eine solche Entsprechung dabei überhaupt möglich ist, muss nun als weitere Voraussetzung angenommen werden, dass die betrachteten X alle in irgendeiner Weise dem, „was ein gutes X ist“, entsprechen; könnte doch ansonsten überhaupt keine Relation zwischen den besseren und schlechteren X gebildet werden. Daher muss das (mehr oder weniger) „gute X-Sein“ den verglichenen Instanzen von X nach sokratischem Verständnis als ein allgemeines zukommen. Gleiches gilt für den Versuch des Sophisten, sich als „tüchtiger“ als andere darzustellen. Auch hier ist eine „Auffassung“ über das „Tüchtigsein“ vorauszusetzen, der die in Frage kommenden tüchtigen Menschen mehr oder weniger entsprechen, da sich auch in diesem Fall ansonsten keine Relation zwischen dem Tüchtigsein der Einzelnen ergäbe und der Sophist infolgedessen nicht als der Tüchtigere auftreten könnte.⁴⁹
46 Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 221f. 47 Die Möglichkeit eines solchen Rückzuges auf das Einzelne bedenkt Platon eigens in einigen seiner für diese Thematik relevanten frühen Dialogen. Vgl. z. B. Euthyphrons Antwort auf die Frage des Sokrates, was fromm sei. Euthyphron meint, fromm sei, was den Göttern lieb sei (9e): „ἀλλ᾽ ἔγωγε φαίην ἂν τοῦτο εἶναι τὸ ὅσιον ὃ ἂν πάντες οἱ θεοὶ φιλῶσιν, καὶ τὸ ἐναντίον, ὃ ἂν πάντες θεοὶ μισῶσιν, ἀνόσιον.“ Er gibt auch vor, mit dem eigenen Handeln, der geplanten Anklage gegen seinen Vater, ein Beispiel der Frömmigkeit zu sein. 48 Ob diese aller historischen Wahrscheinlichkeit nach von Sokrates tatsächlich vertretene Position schlüssig ist, kann mit gutem Grund angezweifelt werden. So stellt sich die Frage, ob es zur Entscheidung darüber, welches von zwei bestimmten, konkret vorliegenden X das bessere ist, nicht ausreiche einfach zu wissen, welches von beiden das bessere ist. Geht man davon aus, dass ein solches Wissen in der konkreten Entscheidungssituation ausreichend ist, wird Sokrates’ These, gemäß derer eine solche Entscheidung ein Wissen von einem guten X notwendig voraussetzt, nicht zu halten sein. Auf die Möglichkeit eines solchen Einwandes hat mich Bernhard Uhde freundlicherweise hingewiesen. 49 Ein Beispiel für eine solche Rückführung auf eine „allgemeine Auffassung“ findet sich im Gorgias. Dort erklärt Polos, nachdem er von Chairephon aufgefordert worden war zu bestimmen, auf welche „Kunst“ (τέχνη) sich Gorgias versteht, dass er an der „schönsten der Künste teilhabe“ (μετέχει τῆς καλλίστης τῶν τεχνῶν, Gorgias 448c 9). Daraufhin wirft Sokrates ihm vor, dass er nicht auf Chaire-
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5.2 Die praktische Relevanz des Wissens über das Allgemeine Ein weiterer Grund dafür, warum Sokrates ein ausgeprägtes Interesse an der Bestimmung von X in seiner allgemeinen Form hat, besteht darin, dass er es für praktisch relevant erachtet, ein Wissen dieser Art einzusehen. Im Hintergrund steht dabei der Gedanke, dass sich aus dem Wissen darüber, was in den einzelnen Fällen, in denen von X die Rede ist, identisch ist, ein Maßstab ergibt, anhand dessen sich entscheiden lässt, ob etwas so bestimmt ist, dass man es ebenfalls als X begreifen kann.⁵⁰ Das „Allgemeine“ stellt sich, sokratisch gedacht, mithin als ein „Vorbild“ oder „Muster“ (παράδειγμα) dar, das als ein „Kriterium“ für die Entscheidung dienen kann, wann etwas als X zu betrachten ist und wann nicht. So bittet Sokrates den Priester Euthyphron, einen (vermeintlichen) Experten in Fragen der Frömmigkeit⁵¹: Lehre mich doch nun die Idee dessen, was sie [die Frömmigkeit] ist, damit ich, zu jener aufschauend und sie als Vorbild (παράδειγμα) benutzend, über solches von dem, was du oder ein anderer tut, behaupte, dass es fromm sei, über das aber, was nicht derartig ist, dass es nicht [fromm] sei.⁵²
Ob also etwas in einer jeweiligen strittigen Situation als „fromm“ zu betrachten ist oder nicht, das lässt sich Sokrates zufolge daran erkennen, ob der betrachtete Gegenstand über eine Eigenschaft oder ein Set von Eigenschaften verfügt, das sich als ein „Gemeinsames“ bei all demjenigen findet, das als „fromm“ betrachtet wird.⁵³ Gegen den Standpunkt der Sophistik vertritt Sokrates damit die folgende Position: Es gibt ein Wissen, das, wie die Einsicht in den paradigmatischen Charakter von X zeigt, durchaus relevant ist für die die menschliche Praxis bestimmenden Auffassungen – das Wissen darüber, was X ist.⁵⁴
phons Frage geantwortet und die Kunst des Gorgias lediglich gerühmt habe, ohne allerdings zu sagen, um welche „Kunst“ es sich handele. Worauf Sokrates dabei abzielt, ist die Einordnung der „Kunst“ des Gorgias unter eine allgemeine Auffassung darüber, was „Kunst“ ist; ermöglicht doch erst eine solche Einordnung, es nach sokratischem Verständnis darzulegen, warum Gorgias’ Kunst die schönste aller „Künste“ ist. 50 Vgl. dazu Terence Irwin: Plato’s Ethics, Oxford 1995, S. 130. 51 Vgl. Platon Euthyphron 4e 3–5a 2. 52 Ebd. 6e 3–6: „ταύτην τοίνυν με αὐτὴν δίδαξον τὴν ἰδέαν τίς ποτέ ἐστιν, ἵνα εἰς ἐκείνην ἀποβλέπων καὶ χρώμενος αὐτῇ παραδείγματι, ὃ μὲν ἂν τοιοῦτον ᾖ ὧν ἂν ἢ σὺ ἢ ἄλλος τις πράττῃ φῶ ὅσιον εἶναι, ὃ δ᾽ ἂν μὴ τοιοῦτον, μὴ φῶ.“ 53 Vgl. auch Platon Hippias Maior 286c 3–d 3. 54 Vgl. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 95: „Der Sinn der sokratischen „Was ist X?“Frage erschöpft sich nicht in dem Anliegen, X zu erkennen. Denn Sokrates glaubte, mit der begrifflichen Identifikation solcher „Dinge“ wie Tapferkeit, Gerechtigkeit usw. auch über ein Kriterium zur Beurteilung der Frage verfügen, ob eine gegebene Handlung tatsächlich z. B. den Prinzipien der Tapferkeit oder Gerechtigkeit entspricht. Der Blick auf die Form versieht den Menschen mit einem festen unverbrüchlichen Standard, nach dem man seine Handlungen ausrichten kann.“
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Der Gedanke, dass das Wissen darüber, was X ist, von Relevanz sei für die Bewertung von Auffassungen und damit auch für die menschliche Praxis, legt sich zudem auch aufgrund der folgenden Überlegung nahe. Gesetzt den Fall, jemand wirft die Frage auf, ob X die Eigenschaft y zu sein zukomme oder nicht – es handelt sich hierbei um eine Situation, die wie gesehen in einer Reihe von platonischen Dialogen beschrieben wird. Vor eine solche Frage gestellt, wird nun, mit Sokrates gedacht, derjenige, der in Kenntnis der Bestimmung von X im Sinne eines Allgemeinen ist, in der Lage sein zu untersuchen, ob die zur Diskussion stehende Eigenschaft y in einem Verhältnis zu der oder den Eigenschaft(en) steht, die er als Teil(e) der Bestimmung von X erkannt hat. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen bietet der Dialog Menon, in welchem Sokrates die Notwendigkeit des hier angewandten Falles der Rückführung von „Ist-X-y?“-Fragen auf „Was-ist-X?“-Fragen besonders betont. Er bemerkt dort mit Blick auf die Frage nach der Lehrbarkeit (y) der Tüchtigkeit (X), dass sie, falls man sie als eine Form des Wissens (Z) bestimmen könne, auch lehrbar sei, was sich für ihn daraus ergibt, dass Wissen im Allgemeinen lehrbar ist, y also in einem Verhältnis zu Z steht.⁵⁵ Ein weiterer wichtiger Grund für Sokrates’ Interesse am Gewinn einer Einsicht in ein Wissen über ein allgemeines X ist, wie sich aus dem zuvor Ausgeführten ergibt, dass ein derartiges Wissen dazu befähigt, in begründender Weise zu argumentieren. Wie eben erörtert, wird jemand, der weiß, was X ist, einen Begründungszusammenhang angeben können, warum er der Meinung ist, dass X über diese oder jene Eigenschaft verfügt. Auch hier zeigt sich, dass Sokrates die schon von der frühen Philosophie als zentral betrachtete Forderung des λόγον διδόναι aufnimmt, die den Sophisten deswegen widersinnig erscheinen musste, weil sie den Standpunkt vertraten, dass der einzige Grund dafür, dass etwas besser oder schlechter „ist“, darin besteht, dass jemand dies so beurteilt. Einen λόγος angeben zu können, der unabhängig von einem solchen Urteil zum Ausdruck bringen könnte, „wie es ist“, schien sophistisch gedacht absurd.
55 Vgl. Platon Menon 87b 5–c 6. Ob diese Gedankenführung eine, historisch gesehen, sokratische ist oder erst auf Platon zurückgeht, ist wiederum schwer zu entscheiden. Für einen sokratischen Ursprung spricht dabei der Umstand, dass der Menon, in welchem sich die Argumentation findet, zu den früheren Dialogen Platons gehört, die tendenziell mehr an sokratischem Gedankengut beinhalten. Ebenfalls dafür, das beschriebene Verfahren als sokratisch einzuschätzen, spricht eine Bemerkung, die Aristoteles über den Grund dafür macht, warum Sokrates nach dem καθόλου gesucht habe. Sokrates sei es, schreibt Aristoteles in der Metaphysik (1078b 25f.), darum gegangen, Syllogismen bilden zu können, wofür es, wie Aristoteles an anderer Stelle mit Blick auf eine besondere Art des Schlusses, die ἀπόδειξις, bemerkt (vgl. Zweite Analytik 77a 5ff.), nötig sei, ein Allgemeines als einen Mittelbegriff (μέσον) zu kennen. Eine systematische Ausarbeitung der eben beschriebenen Vorgehensweise stellt das von Aristoteles entwickelte Syllogismus-Verfahren dar, dem die Definition einer verhandelten Sache als ein „Mittleres“ dient. Zum aristotelischen Syllogismus, vgl. auch Günther Patzig: Die aristotelische Syllogistik, Göttingen 1963.
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Zuletzt nun sei noch auf die sich wohl schon bei Sokrates findende Annahme verwiesen – für Platon ist sie sicher bezeugt –, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Einsicht des Menschen und dem, worauf er seinen Willen und infolgedessen auch sein Handeln richtet, bestehe.⁵⁶ Laut dieser Position, die bisweilen auch als eine Form des „ethischen Intellektualismus“⁵⁷ bezeichnet wird, verfolgt der Mensch im Kontext seines Handelns jeweils nur solches als Ziel, von dem er zumindest meint, dass ihm dessen Erlangung zum Vorteil gereichen und nützen werde. Alles sich im menschlichen Handeln vollziehende Streben ist demnach auf etwas ausgerichtet, das von dem Handelnden als gut eingeschätzt wird, was, sokratisch gedacht, den Umkehrschluss erlaubt, dass niemand freiwillig (ἑκών) Schlechtes (κακά) tue. Im Protagoras führt Sokrates dementsprechend aus: Ich nämlich halte beinahe dies für richtig, dass keiner der weisen Männer vermeint, irgendein Mensch verfehle sich freiwillig und vollbringe etwas Schändliches oder Schlechtes⁵⁸ freiwillig; vielmehr wissen sie gut, dass all diese, indem sie Schändliches und Schlechtes tun, es unfreiwillig tun.⁵⁹
Gilt dies, wird niemand freiwillig etwas zum Gegenstand seines Strebens nehmen, von dem er annimmt, dass es ihm schaden und schlecht für ihn sein werde. Wo aber liegt dann der Ursprung des schlechten Handelns? Handelt ein Mensch in irgendeiner Weise schlecht, dann, so denkt Sokrates, ist dies auf eine Fehleinschätzung dessen zurückzuführen, was tatsächlich gut ist und was schlecht.⁶⁰ Im Dialog Menon lässt Platon Sokrates dementsprechend festhalten: [E]s ist also offenbar, dass diejenigen, die dies nicht wissen,⁶¹ nicht das Schlechte begehren, sondern jenes, von dem sie vermeinen, dass es gut sei, während es jedoch schlecht ist. Da sie dies [i. e. das Schlechte] nicht als solches erkennen und meinen, dass es gut sei, ist es folglich offenbar, dass sie [eigentlich] das Gute begehren.⁶²
56 Dass auch Sokrates selbst schon diese Position vertrat, bezeugen neben Platon auch Xenophon Memorabilia III, 9, 1–7, und Aristoteles Nikomachische Ethik 1145b 25–27. 57 Vgl. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 95. 58 Dass hier die Rede von „Schändlichem“ und „Schlechtem“ ist, verdeutlicht, dass das „schlechte Handeln“ auch den Bereich des Moralischen, τὸ αἰσχρόν umgreift. 59 Platon Protagoras 345d 9–e 4: „ἐγὼ γὰρ σχεδόν τι οἶμαι τοῦτο͵ ὅτι οὐδεὶς τῶν σοφῶν ἀνδρῶν ἡγεῖται οὐδένα ἀνθρώπων ἑκόντα ἐξαμαρτάνειν οὐδὲ αἰσχρά τε καὶ κακὰ ἑκόντα ἐργάζεσθαι͵ ἀλλ΄ εὖ ἴσασιν ὅτι πάντες οἱ τὰ αἰσχρὰ καὶ τὰ κακὰ ποιοῦντες ἄκον τες ποιοῦσιν·“ 60 Die Begriffe des „guten“ und „schlechten“ Handelns werden im Rahmen eines solchen Denkens in einem allgemeinen Sinn verwendet und umfassen daher zum Beispiel sowohl den technischen als auch den moralischen Bereich. Zum Feld des Technischen, vgl. beispielsweise Platon Kratylos 389a 5–d 3; dass auch das Moralische davon umgriffen ist, zeigt beispielsweise der Gorgias. 61 Das heißt, dass das Schlechte schlecht ist und ihnen nicht nutzt; vgl. Platon Menon 77d 4–6. 62 Ebd. 77d 7–e 3: „Οὐκοῦν δῆλον ὅτι οὗτοι μὲν οὐ τῶν κακῶν ἐπι θυμοῦσιν͵ οἱ ἀγνοοῦντες αὐτά͵ ἀλλὰ ἐκείνων ἃ ᾤοντο ἀγαθὰ εἶναι͵ ἔστιν δὲ ταῦτά γε κακά· ὥστε οἱ ἀγνοοῦντες αὐτὰ καὶ οἰόμενοι ἀγαθὰ εἶναι δῆλον ὅτι τῶν ἀγαθῶν ἐπιθυμοῦσιν.“
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Der hier zugrunde gelegte Unterschied zwischen dem, was fälschlicherweise für gut gehalten wird, und dem, was in der Tat gut ist, verweist auf die bereits erörterte, für das sokratische Denken grundlegende Unterscheidung zwischen den Erkenntnisweisen des Wissens, „wie es ist“, und der Auffassung als einer „Erkenntnis“ dessen, „wie es jemandem scheint“. Nur wer weiß, was gut ist und nicht bloß gut zu sein scheint, so Sokrates, kann sich auf das Gute als Ziel ausrichten und damit die notwendige Bedingung für das Erreichen dieses Zieles schaffen. Wer hingegen bloß imstande ist, Auffassungen darüber vorzutragen, was ihm gut scheint, wird vielleicht zufällig und mit Glück das richtige Ziel erlangen, garantieren wird er diesen Erfolg jedoch nicht können, geschweige denn andere in der Kunst unterweisen, wie man das Gute erreicht. In seinen Erinnerungen an Sokrates, den Memorabilia, schreibt Xenophon, den Standpunkt des Sokrates zusammenfassend: [Sokrates dachte, m]an brauche das Schöne und Gute nur zu kennen, dann würde man diesem unmöglich etwas anderes vorziehen, wisse man es aber nicht, so könne man es auch nicht ausüben, sondern man ginge bei einem Versuch fehl. Die Wissenden übten das Schöne und Gute aus, die Nichtwissenden aber seien dazu nicht imstande, sondern gingen fehl, auch wenn sie es versuchten.⁶³
Betrachtet man Sokrates’ Bemühungen um eine Einsicht in das, was X ist, vor diesem Hintergrund, wird deutlich, dass sein Interesse daran, ein solches Wissen einzusehen, nicht bloß durch wissenschaftstheoretische Überlegungen motiviert ist. Wissen, was X ist, und zwar vor allem in Hinsicht auf die Frage nach dem, was ἀρετή ist,⁶⁴ das ist, sokratisch gedacht, auch von fundamentaler Bedeutung für die menschliche Praxis, kann ein Mensch sein Wollen und Handeln doch nur dann an den richtigen Zielsetzungen orientieren, wenn er weiß, worin diese bestehen. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der Gründe für Sokrates’ Suche nach einem Wissen über ein allgemeines X das Folgende festhalten: Erstens ist dieses Wissen für ihn deswegen interessant, weil es prüfbar ist, was – gegen die Position der Sophistik – zeigt, dass es möglich ist, einen Unterschied zu setzen zwischen denjenigen, die über ein Wissen in Bezug auf X verfügen, und denen, die lediglich behaupten, in diesem Zusammenhang wissend zu sein. Überdies erweist sich ein mögliches Wissen über X, sokratisch gedacht, auch als nützlich, und zwar insofern, als es ein Unterscheidungskriterium bietet, mit dessen Hilfe zu untersuchen ist, ob und warum eine über einen Gegenstand gebildete Auffassung aussagt, „wie es ist“ oder nicht. Drittens wäre anzuführen, dass auch die Sophistik für ihre τέχνη ein Wissen im Sinne
63 Xenophon Memorabilia III, 9, 5, 3–8: „καὶ οὔτ΄ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι οὔτε τοὺς μὴ ἐπισταμένους δύνασθαι πράττειν͵ ἀλλὰ καὶ ἐὰν ἐγχειρῶσιν͵ ἁμαρτάνειν· οὕτω [καὶ] τὰ καλά τε κἀγαθὰ τοὺς μὲν σοφοὺς πράττειν͵ τοὺς δὲ μὴ σοφοὺς οὐ δύνασθαι͵ ἀλλὰ καὶ ἐὰν ἐγχειρῶσιν͵ ἁμαρτάνειν.“ Die Übersetzung dieser Passage stammt von Rudolf Preiswerk: Xenophon. Erinnerungen an Sokrates, Stuttgart 1980. 64 Das zeigen sowohl die platonischen Dialoge als auch entsprechende Stellen bei Xenophon und Aristoteles.
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einer allgemeinen Auffassung über X voraussetzen muss, woraus folgt, dass entgegen ihrem Selbstverständnis auch die Auffassungen der Sophistik mithilfe des sokratischen Verfahrens überprüfbar und mithin einem von der Auffassung des Einzelnen unabhängigen Kriterium unterworfen sind.
5.3 Die Aporien der frühen Dialoge als eine antisokratische Kritik Platons? Nun endet eine ganze Reihe der frühen platonischen Dialoge, in denen Platon die sokratische Suche nach „allgemeinen Auffassungen“ beschreibt und die aller Wahrscheinlichkeit nach noch am ehesten einen Eindruck von der philosophischen Tätigkeit und den Fragestellungen des Sokrates vermitteln,⁶⁵ in dem Sinne „aporetisch“, dass der Versuch, die in diesen Dialogen von Sokrates zu Beginn gestellte „Was ist X?“- beziehungsweise „Ist X y?“-Frage zu beantworten, scheitert.⁶⁶ Dabei zeigt die in den besagten Dialogen beschriebene sokratische Prüfung seiner Gesprächspartner und der von ihnen vertretenen Auffassungen,⁶⁷ dass sie als diejenigen, die entweder als allgemein anerkannte Experten in den jeweils diskutierten Themengebieten gelten⁶⁸ oder die sich wie die Sophisten den Anschein geben, Fachleute in allen Feldern zu sein,⁶⁹ trotz ihrer behaupteten Expertise nicht in der Lage sind, eine Auf-
65 Terry Penner hat in seinem Artikel einige Fragestellungen ausgesondert, die in den als „früh“ klassifizierten platonischen Dialogen behandelt werden und die, wie Penner aufzeigt, aller Wahrscheinlichkeit nach auf den historischen Sokrates zurückgehen, siehe „Socrates and the early Dialogues“, in: Richard Kraut (Hrsg.): The Cambridge Companion to Plato, Cambridge 1992, S. 121–169. 66 Diese Dialoge werden daher bisweilen auch als „aporetische Definitionsdialoge“ bezeichnet, vgl. Michael Bordt: Platon, Freiburg 2004, S. 59. 67 In der Literatur wird oft zwischen diesen beiden „Prüfungsgegenständen“, den Auffassungen auf der einen und den Menschen, die die Auffassungen vertreten, auf der anderen Seite unterschieden. Vgl. Charles H. Kahn: Plato and the Socratic Dialogue, S. 97f. Wenngleich diese Unterscheidung insofern gerechtfertigt ist, als sie den platonischen Dialogen zu entnehmen ist, ist hier m. E. dennoch keine strikte Trennung zwischen der Überprüfung einer Auffassung und des sie vertretenden Menschen vorzunehmen, da im Kontext des damaligen Denkens das Ansehen eines Menschen sich sehr stark in Abhängigkeit von den von ihm vertretenen Auffassungen und seiner Fähigkeit, diese als die bessere durchzusetzen, bestimmte. Siehe oben Kapitel 4.4; eine solche Verbindung zwischen Person und Auffassung zeigt Sokrates’ Widerlegung der Positionen des Polos und des Kallikles in Platons Gorgias. 68 So ist beispielsweise Euthyphron, an den Sokrates mit der Frage herantritt, was das Fromme sei, Priester und Laches und Nikias sind als verdienstvolle Heerführer Experten in Sachen Tapferkeit. 69 Vgl. dazu die Ankündigung des Gorgias, dass er auf alles, was auch immer er gefragt werde, antworten würde, vgl. Platon Gorgias 447c 5–8 und 448a 1–3, vgl. ebenfalls Hippias Minor 363d; Heribert Boeder merkt zudem an, dass in den platonischen Dialogen die Sophisten eine zahlenmäßig überdurchschnittlich stark vertretene Gruppe unter den Gesprächspartnern des Sokrates darstellen und dass das Schwergewicht in der Auseinandersetzung Platons mit der ihm überkommenen Philosophie
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fassung über X zu nennen, die sich schlussendlich als konsistent erweist.⁷⁰ Auch sie sind gegen den anfänglichen Anschein nicht imstande, einen λόγος von X anzugeben, so dass deutlich wird, dass ihre Urteile über X, sei es darüber, was es ist, sei es über dessen Eigenschaften, nicht einem Wissen, sondern einer von diesem mittels des sokratischen Verfahrens zu unterscheidenden „Auffassung“ entstammen. Was nun Sokrates selbst betrifft, so kann weder im Anhalt an die platonischen Dialoge noch an andere Zeugnisse mit letzter Sicherheit geschlossen werden, dass er selbst im Unterschied zu seinen Gesprächspartnern über das von ihm befragte Wissen über X verfügt und die Behauptung seines diesbezüglichen Nichtwissens unter den Begriff der sprichwörtlich gewordenen „sokratischen Ironie“ zu zählen ist. Relativ sicher bezeugt ist lediglich, dass Sokrates nach einer Bestimmung dessen, was X ist, gesucht hat; ob er mit seiner Suche an ein Ziel gelangte, das ist letztlich nicht mit Gewissheit zu entscheiden. Dafür, dass Sokrates’ Suche letztlich erfolglos blieb, gibt es vor allem in den Dialogen Platons eine Reihe von Indizien, die überdies auch Hinweise darauf geben, warum Sokrates’ Projekt scheitern musste.⁷¹ Einen Hinweis darauf, dass das sokratische Unternehmen tatsächlich scheiterte, gibt eine Vielzahl von Stellen in Platons Dialogen. An diesen Stellen wird deutlich, dass sich viele Schwierigkeiten, mit denen sich Sokrates’ Versuch, X zu bestimmen, konfrontiert sah, erst mit der Einführung der sogenannten „Ideenlehre“ lösen lassen. Die Entwicklung dieser Lehre schreibt allerdings auch schon Aristoteles nicht Sokrates, sondern erst Platon zu.⁷² Ein wichtiger Unterschied zwischen der platonisch verstandenen „Idee“, auf die noch im näheren einzugehen sein wird, und dem, was Sokrates aller Wahrscheinlichkeit nach als ein „Gemeinsames“ in den Einzelfällen suchte, besteht dabei darin, dass nach Platon die Idee gerade nicht als eine verschiedenen Einzeldingen inhärierende Eigenschaft zu begreifen ist, während Sokrates diese Meinung höchstwahrscheinlich in Bezug auf das von ihm gesuchte „Allgemeine“ vertrat.⁷³ Die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen einer „allgemeinen Eigenschaft“ und einer
auf der Sophistik liegt. Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 191. 70 Dieses zeigt den „elenchtischen“ Charakter des sokratischen Vorgehens, das sich mit dem Aufweis des Nichtwissens eines Gesprächspartners als eine „Reinigungskunst“ (καθαρικὴ τέχνη) erweist, die dazu dient, von Scheinwissen zu befreien und so den Weg zu wahrem Wissen zu bereiten, vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Sp. 442, mit einem auf den Begriff der „Reinigungskunst“ bezogenen Verweis auf Platon Sophistes 230b–e; überdies: Richard Robinson: „The Elenchus in the Early Dialogues“, in: Gregory Vlastos (Hrsg.): The Philosophy of Socrates. A Collection of Critical Essays, Notre Dame 1980, S. 78–93; Vlastos in Socratic Studies, Bernhard Waldenfels: Das sokratische Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis, München 1961; Christopher C. W. Taylor: Sokrates, S. 64f. 71 In diesem Kontext erscheint auch die Äußerung des Aristoteles, dass Sokrates stets gefragt, aber nicht geantwortet habe, interessant; vgl. Aristoteles Sophistische Widerlegungen 187b 7. 72 Vgl. Aristoteles Metaphysik 987b 5f. 73 Vgl. ebd. 1078b 27–32 zu der These, dass entgegen der Meinung einiger Gelehrter Aristoteles in dieser Frage als ein zuverlässiger Gewährsmann betrachtet werden kann, vgl. Christopher C. W. Taylor: Sokrates, S. 46f.
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„Idee“ betont Platon vor allem im Parmenides, in dem sich, wie zu beachten ist, der junge Sokrates mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert sieht, die sich aus einem Verständnis der Ideenlehre ergeben, demgemäß die Idee in irgendeiner Weise in den Einzeldingen zu finden ist.⁷⁴ Dass nach Platon die Idee nicht mit einer solchen „inhärierenden“ Eigenschaft zu identifizieren ist, geht klar hervor aus einer weiteren Passage im Parmenides, in der Sokrates von Parmenides gefragt wird: Und sage mir dies: Hast du, wie du sagst, die Einteilung selbst so vorgenommen, auf der einen Seite getrennt für sich die Ideen, auf der anderen Seite getrennt für sich das, was dagegen an ihnen [i. e. den Ideen] teilhat? Und scheint es Dir eine Ähnlichkeit selbst zu geben, die getrennt ist von derjenigen Ähnlichkeit, die wir haben, und so auch das Eine und Viele und alles, was du eben von Zenon gehört hast?⁷⁵
Geht man nun im Unterschied zu der platonischen Vorstellung davon aus, dass es, wie wohl von Sokrates angenommen, etwas gibt, das als ein „Gemeinsames“ in den verschiedenen Fällen von X zu finden ist, ergeben sich daraus einige Schwierigkeiten hinsichtlich der Bestimmung dieses „allgemeinen X“, die Platon ebenfalls im Parmenides anspricht. Wird nämlich das „Gemeinsame“⁷⁶ als ein in den vielen Einzelfällen mit sich selbst Identisches gedacht, stellt sich zum Beispiel die Frage, wie es als eines und ganzes zugleich in vielen verschiedenen Dingen sein soll, ohne seine Einheit und Ganzheit zu verlieren.⁷⁷ Ein weiteres Problem, das mit dem zuvor genannten in Beziehung steht und mit welchem sich die sokratische Position zudem konfrontiert sieht, besteht darin, dass kein Einzelfall von X qua Einzelfall in vollständiger Weise zum Ausdruck bringt, was X im Sinne eines Allgemeinen ist.⁷⁸ Kein einzelner Akt von Tapferkeit zeigt, was „das Tapfere“ ist, das allen tapferen Taten und allen als „tapfer“ bezeichneten Menschen zukommt, und kein einzelner schöner Gegenstand bringt das zum Ausdruck, was in allem Schönem als ein „Gemeinsames“ zu finden ist. Infolgedessen ergibt sich aus der Betrachtung einzelner X nicht unmittelbar ein Wissen darüber, was X im Allgemeinen ist. Platon weist auf diesen Umstand hin, indem er Sokrates den Priester
74 Andreas Graeser weist darauf hin, dass der Umstand, dass im Parmenides ausgerechnet der „junge Sokrates“ auf die beschriebenen Schwierigkeiten stößt, ein Hinweis darauf sein könnte, dass „(...) Sokrates selbst die Ideen nicht systematisch von den entsprechenden immanenten Eigenschaften unterschied“, vgl. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 95. 75 Platon Parmenides 130b 1–5: „καί μοι εἰπέ͵ αὐτὸς σὺ οὕτω διῄρησαι ὡς λέγεις͵ χωρὶς μὲν εἴδη αὐτὰ ἄττα͵ χωρὶς δὲ τὰ τούτων αὖ μετέχοντα; καί τί σοι δοκεῖ εἶναι αὐτὴ ὁμοιότης χωρὶς ἧς ἡμεῖς ὁμοιότητος ἔχομεν͵ καὶ ἓν δὴ καὶ πολλὰ καὶ πάντα ὅσα νυνδὴ Ζήνωνος ἤκουες;“ 76 Platon bespricht diese Problematik mit Blick auf die Ideenlehre, weshalb er an dieser Stelle nicht vom κοινόν oder καθόλου spricht, doch scheint es aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmungen legitim zu sein, die Argumentation Platons in diesem Fall auch auf den Begriff des von Sokrates gesuchten „Gemeinsamen“ oder „Allgemeinen“ zu übertragen. 77 Vgl. Platon Parmenides 131b 1ff. 78 Könnte es dieses, träte wiederum die zuvor angesprochene Schwierigkeit auf, dass dann unklar wäre, wie sich das „Gemeinsame“ als Ganzes in den vielen verschiedenen Einzelfällen finden könnte.
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Euthyphron im gleichnamigen Dialog dahin gehend belehren lässt, dass die Frage, was das Fromme sei, nicht dadurch beantwortet werden könne, dass Einzelfälle von Frommem aufgezählt werden; gibt es doch immer auch noch vieles anderes Frommes, das logischerweise nicht durch die Beschreibung eines oder einer Reihe bestimmter einzelner frommer Dinge umfasst wird.⁷⁹ Der Schluss, dass sich die Betrachtung einzelner X nicht dazu eignet, ein Wissen von einem allgemeinen X einzusehen, ergibt sich des weiteren auch aus dem Gedanken, dass ein einzelnes X das X-Sein auch in qualitativer Hinsicht niemals in vollkommener Weise wiedergibt, da es als ein in vielfältiger Weise Endliches und Begrenztes auch in seinem X-Sein immer endlich und begrenzt ist. So führt Sokrates dem Hippias vor, dass die verschiedenen einzelnen schönen Dinge, die der Sophist als Antwort auf die Frage des Sokrates, was das Schöne sei, aufzählt, in ihrem Schönsein zum Beispiel insofern begrenzt sind, als sie im Verhältnis (πρός) zu anderem Schönen nicht schön sind.⁸⁰ Da für jedes in der Vereinzelung auftretende X gilt, dass es in seinem X-Sein stets noch durch ein anderes X übertroffen werden kann,⁸¹ folgt daraus, dass man auch auf einem Weg fortschreitender Überhöhung, auf dem, um bei dem genannten Beispiel aus dem Hippias Maior zu bleiben, ein immer noch Schöneres genannt werden kann, niemals ein einzelnes X benennen können wird, das in seinem X-Sein nicht begrenzt und mithin wirklich als X zu bestimmen wäre.⁸² Darüber hinaus weist Platon auch darauf hin, dass das in der Vereinzelung auftretende Schöne auch in
79 Vgl. Platon Euthyphron 6c 8–e 3, vgl. ebenfalls Hippias Maior 288b 8ff. Obwohl sich Sokrates im Euthyphron darauf beschränkt anzumerken, dass es noch „vieles anderes Frommes“ (ἄλλα πολλὰ ὅσια) gebe (vgl. 6d 6f.), das ebenfalls daraufhin zu betrachten wäre, warum es denn als „fromm“ bezeichnet wird, wäre der hier zugrunde gelegte Gedanke möglicherweise so weiterzudenken, dass es theoretisch eine endlose Zahl – „endlos“ nicht im Sinne von „unendlich“, sondern als „n+1“ – an Einzelfällen von Frommem gibt und es daher unmöglich ist zu entscheiden, ob die angenommene allgemeine Auffassung über das Fromme tatsächlich insofern allgemein ist, als sie alle in diesem Zusammenhang möglichen Einzelfälle berücksichtigt. 80 Vgl. Platon Hippias Maior 288e 6–289c 6. Einen wichtigen Aspekt stellt in diesem Zusammenhang auch die zeitliche Begrenztheit der einzelnen X dar, worauf Platon in dieser Passage aus dem Hippias Maior anspielt, indem er in Bezug auf die Schönheit eines schönen Mädchens anmerkt, dass sie von der einer Göttin übertroffen werde, die sich, wie man interpolierend einfügen müsste, im Unterschied zu den Menschen als unsterblich (schön) bestimmt (vgl. 289a 8–b 7). 81 Als Beispiel sei das von Hippias angeführte schöne Mädchen erwähnt, welches in seiner Schönheit durch die Göttin übertroffen wird. 82 Ist nämlich die Göttin als einzelne schöne auch „unsterblich schön“, so ist ihre Schönheit dennoch nicht „unendlich“, da auch die Götter nach klassischer griechischer Vorstellung als gezeugt galten. Zu dem Problem, dass ein einzelnes Schönes aufgrund der Begrenztheit seiner Schönheit, streng genommen, nicht dem Schönsein in seiner reinen Form entspricht und hier folglich nicht X als X eingesehen wird, vgl. Hippias Maior 289c 3–5: „Demnach, wird er sagen, gibst Du, nach dem Schönen gefragt, etwas als Antwort, das, wie Du selbst sagst, um nichts mehr schön ist als hässlich.“
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dem Sinne nur begrenzt schön ist, dass es, mag es in einer Hinsicht auch schön sein, dieses in einer anderen nicht ist.⁸³ Wie das bisher Ausgeführte zeigt, wäre es angesichts der erörterten Schwierigkeiten möglich, den Grund dafür, warum Sokrates’ Suche nach einer allgemeinen Bestimmung von X letztendlich erfolglos bleibt, darin zu sehen, dass es unmöglich ist, eine Einsicht in ein Allgemeines im Sinne des Sokrates aus der Betrachtung unterschiedlicher Einzelfälle zu gewinnen. Dementsprechend könnte man hier vielleicht insofern eine Kritik Platons an seinem Lehrer erkennen, als dieser Platon zufolge bei seinem Versuch, X zu bestimmen, gewissermaßen an der falschen Stelle gesucht hat.⁸⁴ Dafür, dass Platon tatsächlich in diese Richtung dachte, spricht unter anderem, dass Sokrates in denjenigen frühen Dialogen, die aus den genannten Gründen aporetisch enden, X dadurch zu bestimmen sucht, dass er sich mit Leuten unterhält, die im wahrsten Sinne des Wortes als „Experten“ gelten, weil sie über „Erfahrung“ (ἐμπειρία) in den jeweils diskutierten Bereichen verfügen. Das ist in diesem Kontext deswegen von Bedeutung, weil die Erfahrung Platon zufolge Ergebnis der wiederholten durch die Sinne vermittelten Beobachtung von Einzelnem ist und als solche kein Wissen im strengen Sinne darstellt, da sich aus der Erfahrung kein Wissen um Gründe und Ursachen ergibt.⁸⁵ Befragt Sokrates folglich jemanden wie Laches, wendet er sich damit an einen „Erfahrenen“, der als General viele tapfere Taten und Menschen gesehen
83 Hier spricht Platon nun nicht die zeitliche Begrenztheit des in der Vereinzelung auftretenden XSeins an, sondern das Problem, dass etwas, das die Eigenschaft des Schönseins an sich hat, niemals nur schön ist, sondern, in einer anderen Hinsicht betrachtet, auch etwas anderes und mithin nicht schön ist; vgl. dazu Platon Politeia 478e 8ff.; Phaidon 74b 6–8; Symposion 211a; vgl. überdies Michael Bordt: Platon, S. 104; Andreas Graeser: „Über den Sinn von Sein bei Platon“, in: Museum Helveticum 39 (1982), S. 34f. 84 Ob es sich bei der beschriebenen Kritik Platons an dem Versuch, X als ein allgemeines im Ausgang von einer „empirischen“ Methode der Betrachtung einzelner X zu bestimmen, tatsächlich um eine Kritik am Vorgehen des historischen Sokrates handelt oder ob Platon damit lediglich darauf hinweisen wollte, dass es generell unmöglich ist, in dieser Weise zu erfassen, was X als ein allgemeines ist, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden, so lange man nicht in der Lage ist zu unterscheiden zwischen dem, was sich in den platonischen Dialogen an Informationen über den historischen Sokrates findet und was Platon „seinem“ Sokrates in den Mund legt. Trotz dieser Schwierigkeit scheint es dennoch vor allem vor dem Hintergrund der aristotelischen Behauptung, dass Sokrates nach einem καθόλου gesucht habe – eine Annahme die, wie gesehen, im Übrigen auch durch einige Dialoge Platons gestützt wird – möglich, die beschriebene Kritik als eine von Platon an Sokrates gerichtete zu begreifen. Wenngleich zugegeben werden muss, dass diese Vermutung wie auch das zuvor in diesem Zusammenhang Gesagte selbstverständlich in hohem Maße spekulativ ist, kann man dennoch davon ausgehen, dass sich diese Interpretation, auf welche mich Bernhard Uhde dankenswerterweise aufmerksam gemacht hat, zumindest als Möglichkeit wird halten lassen können. 85 Zu Platons Begriff der Erfahrung, vgl. den Artikel „Erfahrung“, in: Olof Gigon/Laila Zimmermann: Platon. Lexikon der Namen und Begriffe, Zürich 1975, S. 115f. Darauf, in welcher Weise es nach Platon möglich ist, im Unterschied zur Erfahrung zu einem Wissen zu gelangen, mit dessen Hilfe man in der Lage ist, derartige Gründe anzugeben, wird noch eingegangen werden.
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hat, der allerdings, wie die Prüfung des Sokrates zeigt, gleichzeitig dennoch nicht in der Lage ist zu bestimmen, was das allen tapferen Taten Gemeinsame ist. Gleiches gilt für den Priester Euthyphron, der dem Frommen schon vielfach begegnet ist, für den Sophisten Protagoras, der schon viele (einzelne) junge Männer zur Tüchtigkeit erzogen hat, für den reichen Sophisten Hippias, der, seinem Reichtum entsprechend, viele einzelne schöne Dinge kennt, und die Handwerker, die Sokrates seinen Prüfungen unterzieht. Sie alle haben eine auf eine Reihe von Einzelfällen bezogene Kenntnis von X und können ausgehend von dieser Kenntnis trotzdem nicht dabei helfen, X in seiner Allgemeinheit zu bestimmen. Dass tatsächlich eine Verbindung zwischen dem aporetischen Ausgang der genannten Frühdialoge und dem Umstand, dass in diesen Dialogen meist aufgrund ihrer Profession „Erfahrene“ befragt werden, besteht, zeigt sich auch daran, dass Platon, wenn es in seinen mittleren und späteren Dialogen um die Vermittlung der Erkenntnis der Ideen geht, nicht mehr auf das Verfahren des Befragens von sich durch ihre Erfahrung auszeichnenden Leuten zurückgreift. Vielmehr lässt er „Weise“ auftreten,⁸⁶ deren Wissen nicht als der Erfahrung entwachsen dargestellt wird.⁸⁷ Nimmt man nun an, dass sich die beschriebene Kritik Platons tatsächlich gegen seinen Lehrer Sokrates wendet und als solche einen entscheidenden Zug sokratischen Denkens trifft, so ist, ausgehend von diesem Gedanken, in Bezug auf den historischen Sokrates festzuhalten, dass er zwar einen Weg aufgezeigt hat, wie ein sicheres Wissen sich als ein Paradigmen setzendes und dementsprechend praxisrelevantes erweisen könnte, dass er selbst jedoch gleichzeitig aus den erörterten Gründen nicht in der Lage war, einen Inhalt dieses Wissens anzugeben und die von der Sophistik aufgeworfene Frage nach der Relevanz eines sicheren Wissens für die menschliche Praxis zu beantworten. Für die Entwicklung eines solchen prinzipiellen Praxis-Wissens ergibt sich daraus, dass die sokratische Anfrage an die Position der Sophistik einen wesentlichen Beitrag geleistet hat; zeigte sie doch die Möglichkeit auf, dass ein solches Wissen prinzipiell eingesehen werden könnte. Fortführen sollte dieses Projekt sein wohl berühmtester Schüler.
86 Vgl. dazu die Charakterisierung der Diotima, die im Symposion – mit dem Phaidon stellt dieses einen der ersten Dialoge dar, in denen Platon die Ideenlehre einführt – als eine Frau beschrieben wird, die in Sachen des Eros und in vielem anderen „weise“ (σοφή) ist, vgl. 201d 1–3; ansonsten übernimmt bei Platon vor allem Sokrates die Rolle des Vermittlers der Ideenlehre. 87 Zumindest legt Platon keine Betonung auf die Erfahrung derjenigen, die ein Wissen von den Ideen haben, wie dieses in den besagten Frühdialogen der Fall ist. Ein Beispiel dafür, dass dies nicht mehr von Belang ist, bietet die Figur des „Fremden aus Elea“ im Dialog Sophistes, über den der Leser kaum mehr erfährt, als dass er eleatisch gebildet ist. Obwohl es Platon zufolge nicht möglich ist, auf dem Weg der ἐμπειρία zu einem Wissen darüber zu gelangen, was X wirklich ist – zu dieser Formulierung, vgl. Phaidon –, billigt er ihr dennoch einen Rang im Bereich des Propädeutischen zu. Vgl. dazu u. a. Politeia 582a–583a und die Darstellung des Aufstiegs zum Schönen im Symposion, in dem die Erfahrung einzelner Schöner eine Stufe auf dem von Diotima skizzierten Weg darstellt,
6 Platon – die Herrschaft der Norm Ein begründetes Wissen darüber einzusehen, was X ist, und mithin eine Antwort auf die von Sokrates gestellte, aber nicht beantwortete „Was-ist-X?“-Frage zu finden, darin besteht die Aufgabe, die Sokrates seinen Schülern als sein philosophisches Erbe hinterließ, eine Aufgabe, die vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, Platon zu der seinen machen sollte.¹ Wie bereits ausgeführt worden ist, erkennt Platon, – wiederum ist aus den oben genannten Gründen zu betonen: aller historischen Wahrscheinlichkeit nach –, dass Sokrates’ Versuch der Bestimmung von X als einem allgemeinen deswegen scheitern musste, weil er das Allgemeine aus der Betrachtung des Vereinzelten zu gewinnen gesucht hatte. Aus dieser Einsicht zieht Platon den naheliegenden Schluss, dass die Erkenntnis dessen, was X ist, auf einem anderen Weg gewonnen werden müsse. Wie dieser Weg aussieht, zeigt der für die Einführung der Ideenlehre zentrale Dialog Phaidon, in dem sich einige für die hier verhandelte Thematik höchst relevante Passagen finden, auf die im Folgenden kurz einzugehen sein wird. Im Ausgang von einer Betrachtung dieser Passagen soll der Versuch unternommen werden, zu einer Bestimmung dessen zu gelangen, was Platon unter einer „Idee“ versteht.
6.1 Ein anamnetischer Zugang zur Erkenntnis der Ideen Bezüglich des Kontextes der hier zu behandelnden Stellen ist anzumerken, dass sie einen Teil der platonischen Argumentation für den Gedanken der vorgeburtlichen Existenz der Seele darstellen, die Platon hier durch Überlegungen aus dem Bereich der sogenannten „Anamnesis-Lehre“ zu stützen versucht. Ziel seiner Argumentation ist es dabei zu zeigen, dass es bestimmte Formen menschlicher Erkenntnis gibt, die sich nicht aus der Erfahrung ableiten lassen. Daher, so schließt Platon, müssen diese Erkenntnisse dem Menschen in irgendeiner Weise schon vor seiner irdischen Existenz vermittelt worden und als solche Gegenstände einer „Wiedererinnerung“ sein.² Der „Aufweis“ (ἀπόδειξις), den Simmias von Kebes für die Richtigkeit dieser These fordert und den Sokrates im weiteren Verlauf der Unterhaltung entwickelt, ist nun nicht nur aufschlussreich hinsichtlich der platonischen Anamnesis-Lehre. Darüber hinaus verrät er auch einiges darüber, wie man sich Platon zufolge die Erkenntnis der Ideen
1 Obwohl Platon nicht der Einzige war, der sich im Gefolge des sokratischen Denkens mit dieser Frage beschäftigte, hat sein Antwortversuch philosophiegeschichtlich die größte Wirkung entfaltet und auch das Denken des Boethius, vermittelt durch den sogenannten „Neuplatonismus“, entscheidend beeinflusst, weshalb im Folgenden unter Auslassung sokratischer Schulen wie der Kyniker oder der Megariker auf einige Grundzüge der platonischen Philosophie eingegangen werden wird, die für das hier Verhandelte von Bedeutung sind. 2 Vgl. Platon Phaidon 72e 3–73a 1.
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zu denken hat, die den Inhalt dessen darstellen, woran sich der Mensch nach Platon „wiedererinnert“. Zu Beginn seines Aufweises geht Sokrates dabei auf einige grundsätzliche Punkte ein, die die Art und Weise und die Bedingungen des menschlichen Sicherinnerns betreffen.³ Dabei kommt er unter anderem darauf zu sprechen, dass man zwischen zwei Weisen des Wiedererinnerns unterscheiden könne: So erinnere man sich an einen Gegenstand entweder vermittelt durch einen anderen Gegenstand, der demjenigen „ähnlich“ (ὁμοῖος) ist, an den er erinnert; oder aber vermittelt durch einen Gegenstand, der dem Gegenstand der Erinnerung „unähnlich“ (ἀνόμοιος) ist.⁴ Erinnert sich nun jemand an etwas durch die Vermittlung eines dem Erinnerten ähnlichen Gegenstandes, fährt Sokrates fort, müsse er dabei doch wohl bemerken, dass auch der Gegenstand, der die Erinnerung als ein ähnlicher auslöst, hinsichtlich der Ähnlichkeit mit dem, woran er erinnert, in irgendeiner Weise zurückbleibt.⁵ Als ein Beispiel für eine solche durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit vermittelte Erinnerung führt Sokrates den Begriff des „Gleichen“ (ἴσον) ein, und zwar mit einer Unterscheidung zwischen „dem Gleichen selbst“ und anderen einander als „gleich“ bezeichneten Einzeldingen wie beispielsweise Hölzern oder Steinen, die anderen Hölzern oder Steinen gleichen.⁶ Der Zusammenhang mit dem zuvor bezüglich der menschlichen Erinnerung Erörterten zeigt sich nun deutlich anhand der Frage, die Sokrates im Anschluss an die besagte Unterscheidung zwischen „dem Gleichen selbst“ und den einander gleichenden Dingen stellt. So fragt er Simmias, woher wir eigentlich unser Wissen über „das Gleiche“ nehmen, ob wir nicht quasi in einem Akt der Erinnerung, indem wir einander gleiche Dinge wie Hölzer oder Steine sehen, damit auch „des Gleichen selbst“ innewerden.⁷ Weshalb aber bedarf es überhaupt eines solchen Aktes der Erinnerung an das Gleiche unter Vermittlung der Wahrnehmung⁸ vereinzelter gleicher Dinge? Ist nicht „das Gleiche selbst“ genauso wahrnehmbar wie die einzelnen gleichen Dinge? Ist es nicht vielleicht sogar in diesen Dingen auffindbar? Dass Platon sich gegen die letztgenannte Möglichkeit verwehren würde, verdeutlicht seine Unterscheidung zwischen „dem Gleichen selbst“ und den gleichen Dingen, auf die er Sokrates mit Nachdruck hinweisen lässt.⁹ Während sich nämlich die in der Vereinzelung erscheinenden gleichen Dinge wie die bereits erwähnten Hölzer und Steine unter einigen Aspekten betrachtet auch gleichen mögen, tun sie dies unter anderen Blickwinkeln gesehen nicht. Demgegenüber erscheint (φαίνεται) „das Gleiche
3 Vgl. ebd. 73c 1ff. 4 Vgl. ebd. 74a 1–4. 5 Vgl. ebd. 74a 4–6; das ist, wie Kebes sagt, in der Tat ἀνάγκη, da sich der Begriff der Ähnlichkeit bei Annahme ihrer Vollkommenheit in den Begriff der Identität der als „ähnlich“ bezeichneten Gegenstände aufheben würde. 6 Vgl. ebd. 74a 8–10. 7 Vgl. ebd. 74b 2–5. 8 Platon nennt hier pars pro toto für die sinnliche Wahrnehmung das „Sehen“, vgl. Phaidon 74b 4. 9 Vgl. ebd. 74b 5–74c 4.
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selbst“, platonisch gedacht, niemals als ungleich und die „Gleichheit“ niemals als „Ungleichheit“.¹⁰ Kann nun in unserer Erfahrungswelt der vereinzelten einander gleichenden Gegenstände überhaupt nichts aufgefunden werden, das nicht in irgendeiner Hinsicht betrachtet auch ungleich wäre, und ist „das Gleiche selbst“ infolgedessen kein Gegenstand der Erfahrung, ergibt sich daraus für Platon, dass unser Wissen darüber, was „das Gleiche selbst“ ist, nicht unmittelbar aus der Beobachtung einzelner gleicher Dinge stammen kann. Platon zufolge werden wir vielmehr, wie er im Phaidon ausführt, im zuvor beschriebenen Sinne durch die Wahrnehmung von einzelnem Gleichen an „das Gleiche selbst“ erinnert.¹¹ Daraus zieht er den Schluss, dass wir bereits vor dem Beginn der mit der (irdischen) Geburt einsetzenden sinnlichen Wahrnehmung über ein Wissen „des Gleichen selbst“ verfügt haben müssen.¹² In welcher Weise jedoch erinnern uns die einzelnen einander gleichenden Dinge an „das Gleiche selbst“? Platon geht dieser Frage nach, indem er zunächst noch einmal auf den Unterschied zwischen dem Gleichen selbst und den in der Vereinzelung auftretenden gleichen Dingen eingeht. Dabei weist er darauf hin, dass sich dieser Unterschied dadurch konstituiere, dass den gleichen Gegenständen hinsichtlich ihres Gleichseins etwas „ermangele“ (ἐνδεῖ) und sie sich durch diesen Mangel von „dem Gleichen selbst“ unterscheiden.¹³ Wie der Fortgang der Argumentation zeigt, ist die Feststellung, dass sich der Unterschied zwischen „dem Gleichen selbst“ und den einander gleichenden Dingen durch einen Mangel auf Seiten der Letztgenannten setze, von großer Bedeutung für das Verständnis dessen, wie der Akt der Wiedererinnerung in diesem Fall zu denken ist. So schreibt Platon: Stimmen wir nicht also darin überein, dass, wenn jemand, indem er etwas sieht, bemerkt: ‚Das, was ich jetzt sehe, will zwar sein wie ein anderes Seiendes, es ermangelt ihm jedoch etwas und es kann nicht so sein wie jenes andere, sondern es ist schlechter‘, dass es dann notwendig ist, dass der, welcher dieses bemerkt, jenes irgendwie vorher kennen muss, von dem er sagt, dass es ihm einerseits ähnlich sei, es ihm andererseits aber auch nachstehe?¹⁴
Auf der Basis des Wiedererinnerns zu einer Erkenntnis „des Gleichen selbst“ zu gelangen, bedeutet folglich nichts anderes, als mit der Einsicht in die Mangelhaftigkeit des Gleichseins der in der Vereinzelung auftretenden einander gleichenden Dinge Folgendes festzustellen: Die Erkenntnis dieser Mangelhaftigkeit setzt ein Wissen um ein nicht mangelhaftes Gleichsein voraus, da es ansonsten keinen Sinn machen würde,
10 Vgl. Platon Phaidon 74b 6–8. 11 Vgl. ebd. 74c 4–6. 12 Vgl. ebd. 75b 8–c 3. 13 Vgl. ebd. 74d 3–7. 14 Ebd. 74d 7–e 4: „Οὐκοῦν ὁμολογοῦμεν͵ ὅταν τίς τι ἰδὼν ἐννοήσῃ ὅτι βούλεται μὲν τοῦτο ὃ νῦν ἐγὼ ὁρῶ εἶναι οἷον ἄλλο τι τῶν ὄντων͵ ἐνδεῖ δὲ καὶ οὐ δύναται τοιοῦτον εἶναι [ἴσον] οἷον ἐκεῖνο͵ ἀλλ΄ ἔστιν φαυλότερον͵ ἀναγκαῖόν που τὸν τοῦτο ἐννοοῦντα τυχεῖν προειδότα ἐκεῖνο ᾧ φησιν αὐτὸ προσεοικέναι μέν͵ ἐνδεεστέρως δὲ ἔχειν;“
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überhaupt von einem Mangel zu sprechen. Ein wenig anders und allgemeiner gefasst bedeutet dies: Die Feststellung eines Mangels an X-Sein setzt immer schon ein Wissen über ein nicht mangelhaftes X-Sein voraus, das ein Maß (μέτρον) abgibt, anhand dessen sich ein X-Sein im Unterschied zu dem nicht mangelhaften X-Sein überhaupt erst als mangelhaft bestimmen lässt. Wird dementsprechend etwas als in irgendeiner Weise defizitär „schön“ oder, um bei dem angesprochenen Beispiel zu bleiben, defizitär „gleich“ erkannt, setzt diese Einschätzung bereits ein Wissen darüber voraus, was es bedeutet, nicht mangelhaft schön oder gleich zu sein. Platon zufolge ist die Idee des Gleichen beziehungsweise „das Gleiche selbst“ mit dem durch die Wiedererinnerung erkannten, nicht mangelhaften und mithin vollkommenen „Gleichsein“ zu identifizieren.¹⁵ Gewinnt man ein Wissen über dies, so geschieht dies, wie das zuvor Ausgeführte verdeutlicht, nicht durch einen Akt der Abstraktion, da eine Abstraktion von X nicht zur Einsicht in eine Form vollkommenen X-Seins verhilft.¹⁶ Mag dabei die Bestimmung der Ideen des Guten, Wahren, Schönen, Gleichen, Gerechten, allgemein gesprochen, der Idee von X als eines nicht mangelhaften und mithin vollkommenen X-Seins, terminologisch gesehen, auch auf den ersten Blick verwundern, ist es aufgrund des ansonsten auftretenden Problems der sogenannten „Selbstprädikation“ angeraten, die platonische Idee in dieser Weise zu begreifen. Wird nämlich zum Beispiel die Idee des Guten als (vollkommen) gut bezeichnet, sieht man sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sowohl die Idee des Guten (IG1) als auch einzelne gute Dinge mit dem Prädikat „gut“ versehen
15 Platon bezeichnet die Idee auch als das, „was (X) ist“ (ὃ ἔστι), vgl. z. B. Phaidon 75d 1f.; Politeia 490b 3; Phaidon, die genannten Stellen werden in dieser Weise interpretiert von Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 137 und 146; siehe dazu ebenfalls Andreas Graesers bereits zitierten Artikel „Über den Sinn von Sein bei Platon“, insbesondere S. 33f. Jan Szaif spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Form, hier „das Gleiche selbst“, die „Bestimmung in Reinform“ sei, vgl. Jan Szaif: „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike“, in: Markus Enders/Jan Szaif (Hrsg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006, S. 12; vgl. auch Jan Szaif: Platons Begriff der Wahrheit, Freiburg 1996, S. 327. 16 Dieses ist bereits mit Blick auf die möglicherweise von Platon an Sokrates vorgetragene Kritik ausgearbeitet worden, siehe oben, Kapitel 5.3. Theodor Ebert bemerkt in seinem Kommentar zu Platons Phaidon zudem, dass der Begriff des Gleichen bzw. der Gleichheit zu den Begriffen gehört, die sich nicht durch eine Abstraktion gewinnen lassen, im Rahmen derer aus einer Reihe von Dingen ein identisches Merkmal herausgezogen wird. Dieses deswegen, weil sich, so Ebert, die wahrnehmbaren Dinge, die „gleich“ genannt werden, dem Begriff der Gleichheit immer nur annähern. Vgl. Theodor Ebert: Platon. Phaidon, übersetzt und kommentiert von Theodor Ebert, Göttingen 2004, S. 228. Vgl. zudem ders.: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum ‚Charmides‘, ‚Menon‘ und ‚Staat‘, Berlin 1974. Wenngleich Platon die Erkenntnis der Ideen nicht als das Ergebnis einer Abstraktion begriffen wissen möchte, räumt er der sinnlichen Wahrnehmung und der aus dieser erwachsenden Empirie eine nicht unwesentliche Rolle ein. Dies zeigen schon die bereits erörterten Erwägungen aus dem Phaidon, die darauf hinweisen, dass die Empirie die Grundlage für die Anamnesis darstellt, die ihren Ausgangspunkt in der Feststellung der Mangelhaftigkeit der wahrgenommenen Einzelvorkommnisse von X hat.
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werden und sich infolgedessen die Frage stellt, wie beides, IG1 und das einzelne Gute, über dieselbe Eigenschaft verfügen können. Müsste man in diesem Fall nicht eine weitere Idee des Guten (IG2) annehmen, an welcher beides teilhat?¹⁷ Wie Platon selbst bemerkt, hätte dieses einen für die Annahme von Ideen problematischen infiniten Regress zur Folge. In einem weiteren Schritt müsste nämlich erklärt werden, aus welchem Grund die Idee, die über der zunächst angenommenen Idee des Guten (IG1) und den einzelnen guten Dingen gesetzt worden war (i. e. IG2), ebenfalls als „gut“ bezeichnet wird und so fort, ad infinitum.¹⁸ Vermeiden lässt sich dieses Problem allerdings, indem man die Idee, wie von Platon gefordert, als „eingestaltig“ (μονοειδής) begreift.¹⁹ Dies zeigt, dass Platon das von ihm im Parmenides angesprochene Problem keineswegs für unlösbar hielt, sondern für die Folge einer inadäquaten Bestimmung der Idee.²⁰ Begreift man nämlich die Idee als „eingestaltig“, folgt daraus, dass jegliche Prädikation – auch die Selbstprädikation – von ihr auszuschließen ist, da diese immer eine der Eingestaltigkeit der Idee entgegenstehende Vielheit aus Subjekt und Prädikat impliziert. Daraus folgt, dass zum Beispiel die Rede von der Idee des „Gleichen selbst“ nicht so verstanden werden darf, dass die Idee selbst die Eigenschaft des Gleichseins an sich hat, sondern ein vollkommenes Gleichsein ist.²¹ Als solche ist die
17 Vgl. Platon Parmenides 132a 6–b 2; der Umstand, dass Aristoteles dieses Problem anhand des Beispiels der Idee des Menschen diskutiert, hat dem Argument auch den Namen „Dritter-MannArgument“ bzw. Third Man Argument eingebracht; zu dieser Bezeichnung, vgl. bei Aristoteles z. B. Metaphysik 1079a 13. Einen hilfreichen Kommentar zu der aristotelischen Argumentation hat Gail Fine angefertigt in ders.: On ideas. Aristotle’s Criticism of Plato’s Theory of Forms, S. 203–241. Einen sehr wichtigen Beitrag zu dieser Thematik stellt Gregory Vlastos’ Artikel: „The Third Man Argument in the Parmenides“, in: Philosophical Review 63 (1954), S. 319–349, dar, der das Problem vor dem Hintergrund moderner logischer Konzeptionen betrachtet und zu dem Schluss kommt, dass hier in der Tat ein Fall eines für die Argumentation problematischen logischen regressus ad infinitum bestehe und die Prämissen des Argumentes logisch inkonsistent seien. Vlastos’ Position ist ihrerseits u. a. von Terry Penner: „The Assumptions of the Third Man Argument“, unveröffentlichtes Manuskript, das in: Ders.: The Ascent from Nominalism. Some Existence Arguments in Plato’s Middle Dialogues, Dordrecht 1987 aufgegangen ist, und von S. Marc Cohen: „The Logic of the Third Man“, in: Philosophical Review 80 (1971), S. 448–475 kritisiert worden. Eine Reihe wichtiger Beobachtungen finden sich auch in Collin Strangs Artikel: „Plato and the Third Man“, in: Gregory Vlastos (Hrsg.): Plato. A Collection of Critical Essays, Bd. I: Metaphysics and Epistemology, Garden City/New York 1971, S. 184–200. 18 Vgl. Platon Parmenides 132b 1f. 19 Vgl. u. a. Platon Politeia 612a 4; Symposion 211e 1–4. 20 Vgl. dazu auch Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 143–146. 21 Vgl. Andreas Graeser: Platons Ideenlehre. Sprache, Logik und Metaphysik. Eine Einführung, Bern 1975, S. 36f. Folglich ist die Idee des Gleichen nichts anderes als Gleichsein, was insofern wichtig ist, als ein Gegenstand, der die Eigenschaft des Gleichseins an sich hat, niemals das Gleichsein in seiner reinen Form darstellen kann, ist er als Träger der Eigenschaft des Gleichseins doch auch immer noch anderes. Auf diese Problematik ist bereits hingewiesen worden, nochmals verwiesen sei jedoch auf Andreas Graeser: „Über den Sinn von Sein bei Platon“, S. 36f. Zu beachten ist überdies die Einschränkung, die mit dem Begriff des vollkommenen Gleichseins verbunden ist und die darauf verweist, dass, wie bereits ausgeführt, die Idee nach Platon nicht mit der in den Dingen vorliegenden, niemals
Ein anamnetischer Zugang zur Erkenntnis der Ideen
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Idee, wie Andreas Graeser schreibt, nicht „(...) Element ihrer eigenen Klasse, sondern ordnungsgemäß genau jener Begriff, durch den die Klasse definiert wird“²², und die Aussagen über das X-Sein der Idee und das der Einzeldinge sind nicht als univok, sondern als äquivok zu begreifen.²³ Daher gilt: Während das „ist“ im Kontext eines auf einen Einzelgegenstand bezogenen Satzes wie „A ist X“ als Kopula zu deuten ist, die anzeigt, dass A über die Eigenschaft des X-Seins verfügt, ist es mit Blick auf die Idee als ein „ist“ der Identifikation der Idee mit dem X-Sein zu begreifen.²⁴ „Denn“, so formuliert Andreas Graeser im Anschluss an Harold F. Cherniss, „die Ideen sind genau das, was sich in der raumzeitlichen Welt nur in Form von Eigenschaften findet“²⁵. Dementsprechend ist es notwendig, bei der Benennung der platonischen Ideen Formulierungen zu benutzen, die deren Einfachheit betonen und jegliche Vielheitlichkeit von ihnen ausschließen. Eine Möglichkeit, die in diesem Zusammenhang in Betracht gezogen werden sollte, besteht darin, von der Idee – beispielsweise von der des Guten – als dem „(vollkommenen)²⁶ Gutsein“ zu sprechen.²⁷ Diese Weise der Formulierung versucht dabei nicht nur der Notwendigkeit des Vermeidens der Selbstprädikation Rechnung zu tragen, indem sie darauf aufmerksam macht, dass die Idee nicht ein X-Sein hat, sondern dieses ist. Sie legt sich zudem in gewisser Weise auch durch den von Platon selbst gewählten Sprachgebrauch nahe. So verwendet Platon, wenn er von den Ideen spricht, häufig Adjektive, die er durch die Verwendung von Artikeln substantiviert,²⁸ was sich im Deutschen am ehesten durch Wendungen wie
vollkommenen Eigenschaft des Gleichseins zu identifizieren ist. Wie noch zu zeigen sein wird, ergibt sich aus dem vollkommenen X-Sein der Idee, dass dieses kategorial unterschieden ist von dem X-Sein der Einzeldinge. 22 Andreas Graeser: Platons Ideenlehre, S. 39. 23 Vgl. ebd. S. 37; außerdem Reginald E. Allen: „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, in: Gregory Vlastos (Hrsg.): Plato I: Metaphysics and Epistemology, S. 170. 24 Vgl. Andreas Graeser: Platons Ideenlehre, S. 36f. 25 Andreas Graeser: „Über den Sinn von Sein bei Platon“, S. 36; ursprünglich vertreten wurde diese These von Harold F. Cherniss in: Selected Papers, Leiden 1977, S. 333. Wiederum ist zu betonen, dass die Idee nicht mit den Eigenschaften der raum-zeitlichen Dinge identisch ist, wie Andreas Graesers Aussage möglicherweise suggerieren könnte. Auf die Unterscheidung zwischen dem X-Sein der Idee und dem der Einzelgegenstände und deren Beziehung zueinander wird im Kontext der Betrachtung der platonischen μέθεξις-Lehre noch weiter eingegangen werden. 26 Die hier behauptete „Vollkommenheit“ der Idee wird im Folgenden noch genauer betrachtet werden. 27 Vgl. dazu auch Peter Stemmer: Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin 1992, S. 166: „Die Idee ist das gegenständliche Korrelat des entsprechenden Prädikats, eine Charakteristik, die von etwas anderem ausgesagt wird. Als solche ist sie nicht selbst durch die Charakteristik bestimmt, die sie ist. Das Frommsein, die Idee des Frommen, hat nicht die Charakteristik, fromm zu sein, sie ist diese Charakteristik.“ 28 Vgl. beispielsweise Platon Phaidon 78d 3, wo die Rede ist von αὐτὸ τὸ καλόν und αὐτὸ τὸ ἴσον.
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„das gut“ oder das dazu äquivalente und für das Deutsche eher angemessene „das Gutsein“ nachahmen lässt.²⁹
6.2 Platons Charakterisierung der Idee Platons Beschreibung des durch den Begriff der „Idee“ bezeichneten „X-Seins“ beschränkt sich nun nicht nur darauf, es als „eingestaltig“ darzustellen. Darüber hinaus finden sich weitere Charakterisierungen, die vornehmlich die bereits angesprochene Vollkommenheit und die damit verbundene Unwandelbarkeit der Idee hervorheben. Im Phaidon zum Beispiel beschreibt Platon die Idee im Unterschied zu den Gegenständen der sinnlich wahrnehmbaren Welt als ein eingestaltiges, unveränderliches und mit sich selbst identisches „Seiendes“ (ὄν).³⁰ Dies erhebt die Idee in den Rang einer οὐσία ὄντως οὖσα³¹, die als ein „vollkommenes Seiendes“ (παντελῶς ὄν) auch „vollkommen erkennbar“ (παντελῶς γνωστόν)³² ist und als solche den Gegenstand eines „wahren Wissens“ (ἀληθὴς ἐπιστήμη)³³ darstellt.³⁴ Mit dem Gedanken, dass nur ein unwandelbares und mithin vollkommenes Seiendes als Objekt eines sicheren Wissens darüber, „wie es ist“, dienen könne, stellt Platon sich in die Tradition der parmenideischen Philosophie, die bereits auf den grundlegenden Zusammenhang zwischen Denken und Sein hingewiesen hatte. Nimmt Platon dabei auch einige wesentliche Modifikationen an dem ihm überkommenen eleatischen Gedankengut vor, sind die hier zu Tage tretenden Parallelen kaum übersehbar. In aller Deutlichkeit zeigt sich dies zum Beispiel, wenn Sokrates in der Politeia seinen Gesprächspartner Glaukon fragt: „Richtet sich nicht einerseits das
29 Wenn im Folgenden auch weiterhin die gängigen Formulierungen wie das Gute selbst oder die Idee des Guten benutzt werden, soll das bezüglich derartiger Wendungen Angemahnte dennoch im Hintergrund stehen. 30 Vgl. Platon Phaidon 78c 11–d 9: „Ἴωμεν δή͵ ἔφη͵ ἐπὶ ταὐτὰ ἐφ΄ ἅπερ ἐν τῷ ἔμπροσθεν λόγῳ. αὐτὴ ἡ οὐσία ἧς λόγον δίδομεν τοῦ εἶναι καὶ ἐρω τῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι͵ πότερον ὡσαύτως ἀεὶ ἔχει κατὰ ταὐτὰ ἢ ἄλλοτ΄ ἄλλως; αὐτὸ τὸ ἴσον͵ αὐτὸ τὸ καλόν͵ αὐτὸ ἕκαστον ὃ ἔστιν͵ τὸ ὄν͵ μή ποτε μεταβολὴν καὶ ἡντινοῦν ἐνδέχεται; ἢ ἀεὶ αὐτῶν ἕκαστον ὃ ἔστι͵ μονοειδὲς ὂν αὐτὸ καθ΄ αὑτό͵ ὡσαύτως κατὰ ταὐτὰ ἔχει καὶ οὐδέποτε οὐδαμῇ οὐδαμῶς ἀλλοίωσιν οὐδεμίαν ἐνδέχεται; Ὡσαύτως͵ ἔφη͵ ἀνάγκη͵ ὁ Κέβης͵ κατὰ ταὐτὰ ἔχειν͵ ὦ Σώκρατες.“ 31 Platon Phaidros 247c 7. 32 Platon Politeia 477a 3. 33 Platon Phaidros 247c 8–d 1. Zu den unterschiedlichen Facetten des platonischen Wahrheitsbegriffes, vgl. Jan Szaif: Platons Begriff der Wahrheit; ders.: „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike“, S. 9–18. 34 Zum Zusammenhang zwischen dem vollkommenen Sein der Idee und ihrer vollkommenen Erkennbarkeit, vgl. Neville R. Murphy: The Interpretation of Plato’s Republic, Oxford 1960, S. 97–127; Gail Fine: „Knowledge and Belief in Republic V“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 60 (1978), S. 121–139.
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Wissen auf das Seiende, um zu erkennen, wie sich dieses verhält?“³⁵ Sagen und dem zuvor wissen, „wie es ist“, das ist, wie die bejahende Antwort Glaukons zeigt, auch nach Platon nur in Bezug auf ein vollkommenes Seiendes möglich – das heißt im Kontext seines Denkens: mit Blick auf die Idee. Dementsprechend finden sich bei Platon eine Reihe von Bestimmungen der Idee, die in vielerlei Hinsicht der parmenideischen Beschreibung des ἐόν ähneln.³⁶ So spricht er davon, dass die Idee, wie zuvor zitiert, ein eingestaltiges, unveränderliches mit sich selbst identisches Seiendes sei. Darüber hinaus wird sie auch als ein „unvermischtes (reines) Seiendes“ (εἰλικρινὲς ὄν)³⁷, ein „immer Seiendes“ (τὸ ἀεὶ ὄν)³⁸ und als ein, wie ebenfalls schon erwähnt worden ist, vollkommenes Seiendes (παντελῶς ὄν) bezeichnet.³⁹ Wie auch das ἐόν ist die Idee in ihrem Sein unveränderlich, so dass dieses einen notwendig bestehenden und mithin im Sinne des Wissens einsehbaren Sachverhalt darstellt.⁴⁰ Für alles andere, das heißt, für die Gegenstände der sinnlich wahrnehmbaren Welt, gilt nach platonischem Verständnis, dass es, sofern es nicht vollkommen nicht seiend ist, als ein mangelhaftes Seiendes zwischen Sein und Nichtsein steht. Als ein solches ist es Platon zufolge kein Gegenstand eines sicheren Wissens, da dieses nur in Bezug auf etwas vollkommenes Seiendes einzusehen ist. Mit Blick auf die zwischen Sein und Nichtsein stehenden Dinge bemerkt er, dass über sie nur „Auffassungen“ (δόξαι) vertreten werden können, die, so wie die aufgefassten Dinge eine Mittelstellung zwischen Sein und Nichtsein einnehmen, zwischen Wissen und Nichtwissen stehen;⁴¹ beziehen sie sich doch nicht auf notwendig vorliegende Sachverhalte.⁴²
35 Platon Politeia 478a 7; eine ausführliche Untersuchung zu der hier erkennbaren Parallele zum parmenideischen Gedankengut und eine Reihe von auf diese Thematik bezogenen Literaturangaben findet sich bei John A. Palmer: Plato’s Reception of Parmenides, S. 31–56; vgl. zudem Francis M. Cornford: Plato and Parmenides. Parmenides’ Way of Truth and Plato’s Parmenides translated with an Introduction and a running Commentary, London 1950; Bruno Liebrucks: Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt 1949; Gerold Prauss: Platon und der logische Eleatismus, Berlin 1966. 36 Zum Zusammenhang zwischen Denken und Sein, vgl. auch Politeia 477a 2–4: „Ἱκανῶς οὖν τοῦτο ἔχομεν͵ κἂν εἰ πλεοναχῇ σκοποῖμεν͵ ὅτι τὸ μὲν παντελῶς ὂν παντελῶς γνωστόν͵ μὴ ὂν δὲ μηδαμῇ πάντῃ ἄγνωστον;“ 37 Platon Politeia 478d; ebenfalls Symposion 211e 1. 38 Platon Politeia 527b. 39 Zu den in Entsprechung zu diesen Beschreibungen der Idee stehenden parmenideischen Bestimmungen des ἐόν, siehe oben Kapitel 3.4. 40 Aufgrund dieser Unveränderlichkeit und Konstanz des Seins der Idee kann Platon mit Blick auf die Idee auch den Begriff der οὐσία verwenden, der ursprünglich u. a. so etwas wie einen Landsitz oder Immobilien im Weiteren Sinn bezeichnete, vgl. dazu A Greek-English Lexicon, compiled by Henry G. Liddell and Robert Scott, Oxford 1968, S. 1274f. 41 Vgl. Platon Politeia 478c 6ff. 42 Mit seiner Beschreibung der δόξα als zwischen Wissen und Nichtwissen stehend modifiziert Platon den eleatischen Begriff der δόξα insofern, als er den von den Eleaten als notwendig angenommenen unvermittelbaren Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein, Wissen und Nichtwissen aufbricht
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Trotz einiger auffallender Parallelen unterscheidet sich die platonische Idee hinsichtlich ihrer Bestimmung gleichzeitig auch in wesentlichen Punkten von dem von Parmenides als Wissensgegenstand angegebenen ἐόν. Obwohl eine umfassende Betrachtung der in diesem Kontext relevanten Unterschiede über den Rahmen dieser Arbeit hinausginge, muss hier doch auf einige Aspekte dieser Fragestellung kurz eingegangen werden. Anders als das ἐόν zeichnet sich die Idee nicht nur dadurch aus, dass sie ist. Denn im Unterschied zu Parmenides betrachtet Platon das von ihm eingesehene Seiende als eines, das über sein Sein hinaus noch weitere Bestimmungen an sich trägt. Was beispielsweise die Idee des Gerechten betrifft, ist sie in ihrer Eigenschaft als Idee zwar wie auch das ἐόν immer, unveränderlich und vollkommen seiend, doch ist ihr Sein, mit Platon gedacht, zusätzlich auch dadurch bestimmt, dass es ein Gerechtsein ist. Mithin ist Platon zufolge die Idee nicht nur, sie ist in ihrem Sein immer auch bestimmt. Nimmt man nun hinzu, dass auch Platon den Begriff des „Seins“ in einer veridikalen Weise als ein „Der-Fall“- beziehungsweise „Wahrsein“ begreift, ergibt es sich, dass das „Sein“ der Idee als ein bestimmtes Wahrsein zu verstehen ist. Infolgedessen ist zum Beispiel die Idee des Gerechten in dem Sinne „gerecht“, dass ihr Wahrsein durch ihr vollkommenes Gerechtsein bestimmt ist.⁴³ Wie Guido Calogeros zuvor skizzierte Betrachtung der parmenideischen Philosophie gezeigt hat, konnte Parmenides den Gedanken, dass „das Seiende“ beziehungsweise „das Wahre“ neben seinem (Wahr-)Sein noch eine weitere Bestimmung an sich haben könnte, nicht akzeptieren. Dies ergibt sich daraus, dass eine solche Annahme seines Erachtens zu dem selbstwidersprüchlichen Schluss geführt hätte, dass das „Seiende“ nicht ist. Gleichzeitig sah sich die Position des Parmenides mit dem Einwand der Sophistik konfrontiert, dass ein Seiendes/Wahres, das nur durch sein Seiend/Wahr-Sein bestimmt ist, keinen Gegenstand menschenmöglicher Wissensentfaltung darstelle. Infolgedessen hatte sich Platon in seinem Bestreben, die Idee als ein Seiendes parmenideischer Couleur zu fassen, unter anderem mit diesen beiden Schwierigkeiten auseinanderzusetzen. Er unternahm dieses vor allem in den beiden seiner späteren Phase zugerechneten Dialogen Parmenides und Sophistes. So findet sich im Sophistes eine der Sache nach deutliche Anspielung auf die Position des Gorgias, wenn Platon bezeichnenderweise den „Fremden aus Elea“ sagen lässt:
und die δόξα als eine vermittelnde Instanz zwischen den Seiten des Gegensatzes begreift. 43 Obwohl im Folgenden das griechische „εἶναι“ in der Regel mit „sein“ wiedergegeben wird, ist doch stets das von Kahn vorgeschlagene veridikale Verständnis als Supposition zugrunde zu legen und das „Sein“ als ein „Etwas“- und mithin „Wahrsein“ zu verstehen. Dass auch für Platon gilt, dass εἶναι im veridikalen Sinne zu verstehen ist, führt Charles H. Kahn selbst u. a. in „A return to the Theory of the Verb be and the Concept of Being“, in: Ancient Philosophy 24 (2004), S. 385, aus. Außerdem in „Being in Parmenides and Plato“, in: Essays on Being, Oxford 2009, S. 167–191; vgl. des Weiteren „Some Philosophical Uses of „to be“ in Plato“, in: Phronesis 26,2 (1981), S. 105–134.
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Da wir nun also in diese Ausweglosigkeit geraten sind, zeigt uns doch dies in geeigneter Weise auf, was ihr denn nur in aller Welt bezeichnen wollt, wenn ihr [das Wort]⁴⁴ „Seiendes“ ertönen lasst. Es ist nämlich offenbar, dass ihr dieses schon seit alters her erkannt habt, während wir früher vermeinten, [es zu wissen], die wir nun jedoch in eine Ausweglosigkeit geraten sind.⁴⁵
Eine weitere derartige Erinnerung an die antiparmenideischen Einwände des Gorgias bietet eine Stelle im Dialog Parmenides, an welcher Platon zeigt, dass die Annahme eines vollkommen einfachen „Einen“ (τὸ ἕν), zur Folge hat, dass man diesem aufgrund seiner Einfachheit nichts zusprechen könne, nicht einmal, dass es „das Eine“ oder dass es überhaupt sei.⁴⁶ Daraus zieht Platon den Schluss, dass man „das Eine“ in diesem Fall weder benennen noch aussagen könne, dass darüber keine Meinungen zu bilden und kein Wissen einzusehen sei und man auch nichts, was es möglicherweise an sich hätte, wahrnehmen könne.⁴⁷ Die Argumentation, die Platon in diesem Abschnitt des Parmenides anführt, erinnert bereits von ihrer Form her stark an die Beweisführung des Gorgias. Auffällig ist dabei zum Beispiel der Gebrauch von Wendungen wie den folgenden: Wenn also das Eine in keiner Weise an irgendeiner Zeit teilhat, dann ist es weder einst geworden noch wurde oder war es je, noch auch ist es jetzt geworden oder wird oder ist es; ferner wird es auch nicht werden, noch wird es geworden sein und auch sein wird es nicht. – Vollkommen wahr. Ist es möglich, dass etwas irgendwie anders an der οὐσία teilhat als in einer dieser Weisen? – Das ist nicht möglich. – In keiner Weise also hat das Eine an der οὐσία teil. – Wie es scheint, nicht. – Also ist das Eine auch in keiner Weise? – Es scheint nicht zu sein.⁴⁸
Wie schon Gorgias in Bezug auf das eleatische „Seiende“ argumentiert Platon hier ebenfalls so, dass er die einzig denkbaren Möglichkeiten des Seins des „Einen“ benennt und aus dem Umstand, dass keine der Alternativen dem Einen zukommen kann, schließt, dass dieses überhaupt nicht sei.⁴⁹ Die zitierten Passagen zeigen, dass
44 Diesen Einschub legt Platons Verwendung des Verbs φθέγγομαι nahe, das vornehmlich das Erschallenlassen eines Tones oder eines Lautes bezeichnet und das mithin einen indirekten Verweis auf den bereits angesprochenen sophistischen Gedanken gibt, dass sich die Rede von dem „Seienden“ eines inhaltsleeren „Namens“ bediene. 45 Platon Sophistes 244a 4–8.: „Ἐπειδὴ τοίνυν ἡμεῖς ἠπορήκαμεν͵ ὑμεῖς αὐτὰ ἡμῖν ἐμφανίζετε ἱκανῶς͵ τί ποτε βούλεσθε σημαίνειν ὁπόταν ὂν φθέγγησθε. δῆλον γὰρ ὡς ὑμεῖς μὲν ταῦτα πάλαι γιγνώσκετε͵ ἡμεῖς δὲ πρὸ τοῦ μὲν ᾠόμεθα͵ νῦν δ΄ ἠπορή καμεν.“ 46 Vgl. Platon Parmenides 141e 12f.: „ἀλλ΄ ὡς ἔοικεν͵ τὸ ἓν οὔτε ἕν ἐστιν οὔτε ἔστιν(...).“ 47 Vgl. ebd. 142a 4–6: „Οὐδ΄ ὀνομάζεται ἄρα οὐδὲ λέγεται οὐδὲ δοξάζεται οὐδὲ γιγνώσκεται͵ οὐδέ τι τῶν ὄντων αὐτοῦ αἰσθάνεται.“ 48 Ebd. 141e 3–10: „Εἰ ἄρα τὸ ἓν μηδαμῇ μηδενὸς μετέχει χρόνου͵ οὔτε ποτὲ γέγονεν οὔτ΄ ἐγίγνετο οὔτ΄ ἦν ποτέ͵ οὔτε νῦν γέγονεν οὔτε γίγνεται οὔτε ἔστιν͵ οὔτ΄ ἔπειτα γενήσεται οὔτε γενηθήσεται οὔτε ἔσται. – Ἀληθέστατα. - Ἔστιν οὖν οὐσίας ὅπως ἄν τι μετάσχοι ἄλλως ἢ κατὰ τούτων τι; – Οὐκ ἔστιν. – Οὐδαμῶς ἄρα τὸ ἓν οὐσίας μετέχει. – Οὐκ ἔοικεν. – Οὐδαμῶς ἄρα ἔστι τὸ ἕν. – Οὐ φαίνεται.“ 49 Die Parallele zwischen dem hier von Platon zum Gegenstand der Diskussion genommenen
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sich Platon der Problematik hinsichtlich der Bestimmbarkeit eines vollkommenen „(Wahr-)Seienden“ wie des ἐόν des Parmenides oder der Ideen bewusst war und dass er die damit verbundenen Schwierigkeiten ernst nahm. Die von Platon in die Nähe eines „Vatermordes“⁵⁰ gerückte Lösung der besagten Probleme, die er vor allem im Sophistes entwickelt, besteht nun darin, dass er in gewisser Weise einen Weg der Mitte beschreitet. Er tut dies, indem er den Vertreter der eleatischen Philosophie sagen lässt, dass es im Rahmen der Verteidigung – der Kontext zeigt, dass zu interpolieren wäre „gegen den Sophisten“ – notwendig sei, den λόγος des Parmenides zu prüfen und es zu erzwingen, dass „das Nichtseiende“ (τὸ μὴ ὄν) „in gewisser Hinsicht“ (κατά τι) ist und „das Seiende“ (τὸ ὄν) andererseits irgendwie (πῇ) nicht ist.⁵¹ Die Annahme, dass das „Nichtseiende“ in einer Hinsicht sei und das „Seiende“ irgendwie nicht sei, kommt dabei einem „Mord“ an dem Vater Parmenides in der Tat nahe; hatte dieser doch die Scheidung allen Nichtseins vom „Seienden“ als eine notwendige gedacht.⁵² Wenn Platon nun den Vorwurf des Vatermordes in Kauf nimmt, dann deswegen, weil er einsieht, dass das „Seiende“ als ein bestimmtes Seiendes insofern auch nicht ist, als jedes bestimmte Sein eines Gegenstandes impliziert, dass dieser gleichzeitig in einer anderen Hinsicht besehen etwas anderes nicht ist.⁵³ So ist beispielsweise die Idee des Gleichen durch ihr vollkommenes Gleichsein notwendig von der Idee des Gerechten unterschieden, indem sie nicht auch ein vollkommenes Gerechtsein ist.⁵⁴ Anders und mit Gottfried Martin gewendet, bedeutet dies, dass „[j]ede Idee (...) sie selbst [ist], weil sie jede andere Idee nicht ist“⁵⁵. Platon geht dabei in diesem Zusammenhang so weit zu sagen, dass es an jeder Idee viel Seiendes gebe, unendlich viel aber Nichtseiendes.⁵⁶ Aus der Annahme des derart verstandenen Nichtseins des „Seienden“ ergibt sich, dass sich das von Parmenides als unbestimmt gedachte Sein des „Seienden“ in viele bestimmte und als solche unterschiedene Formen des Seins untergliedert – in ein Gleichsein, Gerechtsein, Schönsein etc. – so dass es infolgedessen eine Vielzahl von voneinander unterschie-
„Einen“ und dem „Seienden“ des Parmenides drängt sich sowohl textlich als auch logisch auf. Ersteres deswegen, weil Parmenides „das Seiende“ u. a. als völlig einfach charakterisiert, vgl. B8, 10–25. Hinzu kommt der logische Grund, dass dem Seienden Parmenides zufolge nur das Sein zuzusprechen ist, so dass es in seinem Seiendsein völlig einfach ist. In welchem Maß Platon diese Argumentation als ernstzunehmend betrachtet, ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung. In jedem Fall von Bedeutung ist es allerdings, dass er das Argument an dieser Stelle präsentiert. 50 Vgl. Platon Sophistes 241d 3. 51 Vgl. ebd. 241d 5–7: „Τὸν τοῦ πατρὸς Παρμενίδου λόγον ἀναγκαῖον ἡμῖν ἀμυνομένοις ἔσται βασανίζειν͵ καὶ βιάζεσθαι τό τε μὴ ὂν ὡς ἔστι κατά τι καὶ τὸ ὂν αὖ πάλιν ὡς οὐκ ἔστι πῃ.“ 52 Vgl. Parmenides B8, 16–18, siehe oben Kapitel 3.3 und 4. 53 Vgl. zum Folgenden auch Gottfried Martin: Platons Ideenlehre, Berlin 1973, S. 221–226. 54 Wäre das vollkommene Schöne nicht von dem vollkommenen Gerechten unterschieden, wäre es nicht das vollkommene, eingestaltige und unvermischte Schönsein. 55 Gottfried Martin: Platons Ideenlehre, S. 224. 56 Vgl. Platon Sophistes 256e 5f.
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denen „Seienden“ gibt. Die so gedachten Ideen treten damit in ihrer Pluralität an die Stelle des parmenideischen „Seienden“. Begreift man „das Seiende“ im Ausgang von der nunmehr bereits mehrfach zitierten These Charles Kahns her als „das, was der Fall ist“ beziehungsweise als „das Wahre“, ist das Ausgeführte auch so zu formulieren, dass Platon das Wahrsein des Wahren, das heißt der Ideen, als ein differenziertes und mithin bestimmtes zu denken vermag.⁵⁷ Zur Konsequenz hat dies, dass die als vollkommen (wahr) seiend gedachten Ideen trotz ihres jeweiligen vollkommenen Wahrseins in Bezug auf eben dieses unterschieden und daher in mancherlei Hinsicht auch nicht wahr sind. Demnach ist beispielsweise das Gerechte in seinem Gerechtsein anders wahr als das an sich Schöne und somit in Bezug auf das Wahrsein, wie es dem Schönen zukommt, nicht wahr. Die Integration des Nichtseins beziehungsweise des Nichtwahrseins in das Konzept des „Seienden“ stellt Platon nun jedoch auch vor das zuvor angesprochene Problem der anscheinenden Selbstwidersprüchlichkeit des Gedankens des Nichtseins des „Seienden“ und, damit verbunden, der Inkommunikabilität des Nichtseienden.⁵⁸ Was nämlich soll das „Nichtseiende“, wenn man ihm schon ein Sein einräumt, sein? Was soll man über es aussagen, wie es als einen Sachverhalt denken können? Wie diese Schwierigkeiten zu lösen sind, zeigt eine Betrachtung dessen, in welcher Weise Platon das „Seiende“ als nicht seiend denkt. Im Hintergrund der Argumentation, die Platon zur Lösung der angesprochenen Problematik entwickelt, steht der von ihm im Unterschied zu den Eleaten angenommene Gedanke, dass das Treffen einer unwahren oder falschen Aussage nicht notwendigerweise bedeute, dass etwas im strengen Sinne Nichtseiendes zur Sprache gebracht werde. Träfe Letzteres zu, träte in der Tat die einen Selbstwiderspruch nach sich ziehende Situation ein, dass man etwas über einen Sachverhalt aussagen würde, der überhaupt nicht besteht. Aus diesem Grund sucht und findet Platon schließlich eine Definition der falschen Aussage, die diese Schwierigkeit umgeht. So bestimmt er eine Aussage dann als falsch, wenn diese einer Sache etwas zuordnet, das ihr nicht zukommt. Das Nichtsein im Sinne des „Nicht-der-Fall-Seins“, das damit in Erschei-
57 Der als „seiend“ zu beurteilende Sachverhalt, der mit Blick auf die Idee besteht, ist ihr jeweiliges vollkommenes Schön-, Gerecht- oder Gutsein, das ihr als dem vollendeten Gutsein zukommt. Demnach wäre ein Satz wie „die Idee des Guten ist“ auch so zu formulieren, dass man sagt: „Das vollendete Gutsein (für dieses steht die Idee) ist (als Sachverhalt bestehend).“ 58 Einen weiteren Grund dafür, warum sich Platon mit der Erkennbarkeit des Nichtseienden auseinandersetzt, hat u. a. Jan Szaif herausgearbeitet. Szaif hat dabei darauf hingewiesen, dass sich Platon sophistischen Einwänden ausgesetzt sah, gemäß denen jede Aussage wahr sein müsse, da es unmöglich sei, etwas Unwahres, das, eleatisch gedacht, als solches nicht seiend ist, auszusagen; vgl. Jan Szaif: „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffes in der klassischen Antike“, S. 15; eine ausführlichere Behandlung dieser Thematik findet sich in Jan Szaif: Platons Begriff der Wahrheit, S. 327–411. Formulierungen dieses Einwandes der Sophistik finden sich u. a. in Platon Theaitetos 188c–189b; Euthydemos 283e–284a; Kratylos 429d.
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nung tritt, ist folglich nur ein, wie Jan Szaif sich ausdrückt, „relationales“. Das bedeutet, dass eine nicht bestehende Relation zwischen wirklich bestehenden „Seienden“/ „Wahren“ behauptet wird, nicht jedoch ein „radikales Nichtsein“.⁵⁹ Begreift man dementsprechend zum Beispiel die Idee des Schönen als etwas, das nicht ein vollkommenes Gerechtsein ist und sich insofern von der Idee des Gerechten unterscheidet, heißt dies keineswegs, dass man über ein Nichtsein im strengen Sinn des Wortes spricht. Vielmehr wird, platonisch gedacht, im Rahmen einer derartigen Aussage herausgestellt, dass keine Relation bestehe zwischen der Idee des Schönen, zweifelsohne einem „Seienden“ und somit Wahren, und der Bestimmung des Gerechtseins, das, für sich betrachtet, ebenfalls (wahr) ist. Was hingegen nicht (der Fall) ist, ist lediglich die in der falschen Aussage behauptete Relation zwischen beidem. In dieser Weise verstanden, ergibt sich aus der Behauptung des Nichtseins der als vollkommen seiend verstandenen Idee kein Selbstwiderspruch.
6.3 Platons Lehre von der μέθεξις Als ein vollkommenes, in seinem Sein bestimmtes Seiendes stellt die Idee nach Platon das schon von Sokrates gesuchte παράδειγμα dar. Anders als Sokrates betrachtet er dieses allerdings nicht als ein Identisches in den vielen Einzeldingen, sondern als einen von den Einzeldingen getrennten, vollkommenen Maßstab des X-Seins. Diesem entsprechen die in ihrem Sein in mannigfacher Weise begrenzten Einzelfälle des X-Seins jeweils mehr oder weniger, ohne dass dabei die Idee gleichzeitig als eine ihrerseits den Dingen „ähnliche“ (ὅμοιον) begriffen werden könnte.⁶⁰ Infolgedessen ist Platons Begriff der „Teilhabe“ (μέθεξις)⁶¹ der Einzeldinge an den Ideen nicht als
59 Vgl. Jan Szaif: „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffes in der klassischen Antike“, S. 17; vgl. dazu Gwilym E. L. Owens Anmerkung zum Dialog Sophistes in seinem Artikel: „Plato on Not-Being“, in: Gregory Vlastos (Hrsg.): Plato I: Metaphysics and Epistemology, S. 225: „The Sophist will turn out to be primarily an essay in problems of reference and predication and in the incomplete uses of the verb associated with these.“ 60 Im Dialog Parmenides betont Platon dieses im Aufweis der absurden Konsequenzen, die sich aus der Annahme eines symmetrischen, d. h. wechselseitigen Verhältnisses der Ähnlichkeit zwischen Idee und Einzelding ergeben, vgl. Platon Parmenides 132c 9–133a 10. Wie Platon an dieser Stelle zeigt, hätte eine symmetrisch gedachte Ähnlichkeit in diesem Fall einen für die Ideenlehre schädlichen regressus ad infinitum zur Folge, der sich allerdings dann nicht einstellt, wenn die Idee als etwas Vollkommenes einen Standard setzt, dem das Vereinzelte mehr oder weniger entspricht. Dass sich die von Platon angesprochene Problemlage in dieser Weise lösen lasse, vertritt u. a. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 145f.; vgl. zudem ders.: Platons Ideenlehre. Sprache, Logik und Metaphysik. Eine Einführung, Bern 1975 und Reginald E. Allen: „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, in: Gregory Vlastos (Hrsg.): Plato I: Metaphysics and Epistemology, S. 172–175, hier S. 183. 61 Platon benutzt noch andere Termini, um den Sachverhalt der „Teilhabe“ zu beschreiben. So spricht er beispielsweise im Phaidon (101d 5) auch von „Anwesenheit“ (παρουσία) und „Gemein-
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ein „Ähnlichsein“ zu interpretieren; legt dieses doch den Gedanken einer Symmetrie der Ähnlichkeit nahe, die aus den genannten Gründen von Platon abgelehnt werden muss.⁶² Die „Teilhabe“ stellt vielmehr eine Form der Entsprechung dar, die je nach Qualität des teilhabenden Einzelgegenstandes mehr oder weniger groß ausfällt. Hat folglich ein einzelnes Gutes am „Guten selbst“ Anteil, bedeutet dieses, dass es als ein „gut Seiendes“ dem vollkommenen Gutsein, das die Idee in Reinform darstellt, entspricht, während umgekehrt die Idee als das vollkommene Gutsein dem mangelhaften Gutsein nicht entspricht. Auf ein weiteres in diesem Zusammenhang bestehendes Problem hat Reginald E. Allen hingewiesen. Nimmt man an, so Allen, dass die Gegenstände der sinnlich wahrnehmbaren Welt in ihrem X-Sein mangelhaft seien, die Idee hingegen ein vollkommenes X-Sein darstelle, könnte von Seiten eines Einwendenden die Konsequenz gezogen werden, dass die Idee in dieselbe Klasse von Gegenständen einzuordnen sei wie die an ihr teilhabenden Einzeldinge.⁶³ Denn: Wird die Idee in ihrem vollkommenen X-Sein als die relativ beste Form dieses X-Seins begriffen, dann ist dieses X-Sein trotz des qualitativen Unterschiedes dennoch grundsätzlich identisch mit den als mangelhaft bestimmten Formen des X-Seins. Daraus ergibt sich allerdings das bereits angesprochene Problem des „Dritten Mannes“.⁶⁴ Wie nun leicht zu zeigen ist, gründet der skizzierte Einwand auf einem inadäquaten Verständnis dessen, wie Platon die Idee als ein „vollkommenes Seiendes“ (παντελῶς ὄν) denkt. Im Rahmen der Betrachtung der möglicherweise als antisokratisch bestimmbaren Kritik Platons ist mit einem Verweis auf den Dialog Hippias Maior schon darauf hingewiesen worden, dass es Platon zufolge unmöglich ist, im Zuge einer schrittweisen Übersteigerung von einzelnen Formen des X-Seins zu einer Einsicht in ein vollkommenes X-Sein zu gelangen. Ein solches vollkommenes X-Sein wie das im Phaidon genannte Gleichsein des „Gleichen selbst“ ist mithin nicht in angemessener Weise als die beste Form in einer Reihe von mehr oder weniger vollkommenen Formen des Gleichseins zu betrachten. Vielmehr ist es ein, wie von Reginald Allen gefordert, in seinem Sein kategorial unterschiedenes Gleichsein.⁶⁵ In dieser Weise übersteigt die Idee alle durch Übersteigerung denkbaren Formen des begrenzten X-Seins, so dass sie sich über deren Klasse erhebt und nicht Teil derselben ist. Damit definiert die
schaft“ (κοινωνία). 62 Vgl. Reginald E. Allen: „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 173f. 63 Vgl. ebd. S. 175; vgl. ebenfalls Andreas Graeser: Platons Ideenlehre, S. 39. 64 Vgl. Reginald E. Allen: „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 175: „In what sense can a particular be deficient with respect to a Form? Only, the proponents of self-predicaton have urged, by possessing in merely approximate or comparative degree a character the Form, which is the character, has fully. But this assimilates the Form categorically to the class of things it defines; it must possess in pre-eminent degree a character which particulars own only deficiently, and it is therefore itself a particular, albeit, no doubt a perfect one.“ 65 Vgl. ebd. S. 176.
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Idee die Klasse des X-Seins, da alle als X bezeichneten Gegenstände diesen Namen nur deswegen tragen, weil sie in irgendeiner Weise dem durch die Idee gesetzten Maßstab des vollkommenen X-Seins entsprechen. Platon verdeutlicht diesen Unterschied zwischen dem X-Sein der Idee und dem der Einzeldinge beispielsweise in der Politeia, in welcher er davon spricht, dass die Idee des Bettes das ist, „was Bett ist“ (ὃ ἔστι κλίνη), während das von einem Handwerker gebaute Bett nicht „das Seiende“ (τὸ ὄν) ist, sondern ein solches, das „wie das Seiende ist, es aber nicht ist“ (οἷον τὸ ὄν, ὄν δὲ οὔ).⁶⁶ Was X-Sein wirklich bedeutet, das zeigt folglich, platonisch gedacht, nur die Idee von X, die nicht wie die Einzelgegenstände über ein X-Sein als eine Eigenschaft verfügt, sondern in ihrer Eingestaltigkeit und Unvermischtheit nichts anderes ist als X-Sein. In Kombination mit seiner Unwandelbarkeit erweist sich das X-Sein der Idee von X nach Platon als ein vollkommenes, das immer und nur X-Sein ist. Damit steht das X-Sein der Idee im Unterschied zu den einzelnen Dingen, die nur in dem Sinne X sind, dass ihnen dieses als eine Eigenschaft zukommt und sie so als Träger dieser Eigenschaft niemals nur X sind. Aufgrund ihrer Zusammengesetztheit sind sie zudem auch nicht in unwandelbarer Weise X,⁶⁷ weshalb es unmöglich ist, dass die Einzeldinge als solche die Kategorie des vollkommenen X-Seins erreichen.⁶⁸
6.4 Die Idee als παράδειγμα für Theorie und Praxis 6.4.1 Die Idee als Kriterium für die Ordnung von Auffassungen Der Gedanke, dass die Einzeldinge der sinnlich wahrnehmbaren Welt trotz der unüberwindlichen seinsmäßigen Differenz, die zwischen ihnen und den sich an einem „überhimmlischen Ort“ (ὑπερουράνιος τόπος)⁶⁹ befindlichen Ideen besteht, in der beschriebenen Weise an den Ideen teilhaben können, gibt einen Anhaltspunkt dafür, wie die Idee, und zwar vor allem die des Guten, laut Platon als ein παράδειγμα⁷⁰ zu begreifen ist. Wichtig ist dabei, dass, platonisch gedacht, die in der Vereinzelung auftretenden Gegenstände dann als X zu betrachten sind, wenn sie dem vollkommenen X-Sein der Idee entsprechen und dann jeweils mehr oder weniger X sind, wenn ihr X-Sein
66 Vgl. Platon Politeia 597a 1–6. 67 Zu dem Platon zufolge bestehenden Zusammenhang zwischen Zusammengesetztheit und Vergänglichkeit, vgl. z. B. Platon Phaidon 78b 9–c 4; zu Platons Charakterisierung der sinnlich wahrnehmbaren Welt und den dort angeführten Stellen, vgl. Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, S. 137–140. 68 Als gewordene können die Einzeldinge bereits nicht mehr den Status der Unendlichkeit erreichen und, sollen sie als sie selbst erhalten bleiben, auch ihre Vielheitlichkeit nicht überwinden. 69 Vgl. Platon Phaidros 247c 3. 70 Vgl. Platon Politeia 540a 9; 592b 2f.
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dem der Idee mehr oder weniger entspricht.⁷¹ Im weiteren ergibt sich daraus, dass die unterschiedlichen Einzelvorkommnisse des X-Seins in einer Ordnung⁷² stehen, die sich nach dem Grad ihrer jeweiligen Entsprechung in Bezug auf das vollkommene X-Sein richtet. Für einen schönen Gegenstand bedeutet dieses beispielsweise, dass er zum einen deswegen schön ist, weil er dem, was das vollkommene Schönsein darstellt, entspricht und dass er darüber hinaus schöner ist als ein anderer schöner Gegenstand, wenn er dem Schönsein mehr entspricht als der andere. Damit erweist sich die Idee als ein „Vorbild“ beziehungsweise „Muster“, anhand dessen sich wie an einem Maß⁷³ aufzeigen lässt, dass und warum ein einzelner Gegenstand überhaupt beziehungsweise mehr oder weniger über eine bestimmte Eigenschaft verfügt.⁷⁴ Daher schreibt Platon in der Politeia, dass derjenige, welcher kein Wissen um die Idee des Guten (ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ) hat, weder „das Gute selbst“ (αὐτὸ τὸ ἀγαθόν) noch „irgendein anderes Gutes“ (ἄλλο ἀγαθόν οὐδέν) kenne.⁷⁵ Hat nun jedoch jemand die Einsicht in einen solchen Maßstab gewonnen, so befähigt ihn dieses Wissen dazu, einen Begründungszusammenhang angeben zu können,⁷⁶ mit dessen Hilfe er seine Auffassungen, die er über ein einzelnes Gutes vertritt, an sein Wissen um das Gute rückzubinden vermag. Ist nämlich jemand der Meinung, dass ein bestimmtes Gutes besser sei als ein anderes, und verfügt der diese Meinung Vertretende über ein Wissen um die Idee des Guten, so kann er seine Auffassung damit begründen, dass der von ihm als besser betrachtete Gegenstand dem „Guten selbst“ mehr entspricht als ein anderer oder dass der andere dem Guten sogar überhaupt nicht entspricht.⁷⁷ Je nachdem, in welchem
71 Dass sich dieser Grad ändern kann, zeigt das platonische Konzept der ὁμοίωσις τῷ θεῷ, die Platon zufolge als das Ziel menschlichen Strebens zu betrachten ist und jeweils zu einem unterschiedlichen Grad verwirklicht ist, vgl. dazu Markus Enders: Art. „homoiôsis theô“, in: Wörterbuch der antiken Philosophie, hrsg. von Christoph Horn und Christof Rapp, München 2002, S. 192f. 72 Dass die Idee eine Ordnung konstituiert, geht z. B. aus Politeia 540a 4–b 1 hervor. 73 Vgl. Hans Joachim Krämer: „Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon“, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), S. 254–270. 74 Vgl. dazu Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, S. 132: „Um sagen zu können, daß ein Gegenstand x über die Eigenschaft F verfügt, gilt es, F selbst in den Blick zu nehmen; denn allein dieser Blick auf F selbst, das dem Denken als Bezugspunkt dient, versetzt uns in die Lage, sagen zu können, was es bedeutet, F zu sein, und festzustellen, ob x über die Eigenschaft F verfügt.“ Auf diesen Punkt weisen zudem auch Reginald E. Allen: Socrates and Legal Obligation, Minneapolis 1980, S. 71 und Rafael Ferber: Platos Idee des Guten, Sankt Augustin 1984, S. 28, hin. 75 Vgl. Platon Politeia 534b 8–d 1, vgl. zudem ebd. 517c 5f. Die gegen die Sophistik gerichtete Spitze, die dieser Gedanke enthält, tritt noch deutlicher zu Tage in Politeia 506a 6f. 76 Vgl. ebd. 534b. 77 Ein Beispiel dafür, wie es nach Platon möglich ist, eine Idee in dieser Weise als einen Maßstab zu verwenden, findet sich im Philebos. In diesem Dialog betrachtet Platon die Frage, ob das gute Leben ein Leben der ἡδονή oder der φρόνησις sei, indem er beides in ein Verhältnis zum Guten selbst setzt und untersucht, ob eine der beiden Lebensweisen dem Guten entspricht.
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Verhältnis sie zu den Ideen stehen, werden die in diesem Zusammenhang vertretenen Auffassungen folglich falsch oder wahr sein.⁷⁸ So schreibt Platon: [Ist nicht etwa auch zu betrachten], dass der Auffassung Wahrheit und Falschheit hinzu kommen und sie deswegen nicht nur Auffassung, sondern eine jede von ihnen auch irgendwie beschaffen sein wird?⁷⁹
Wie hier deutlich wird, können die Ideen insofern als Maßstäbe angesehen werden, als sich anhand ihrer ein Unterschied setzen lässt zwischen den Auffassungen, die, so weit dieses im begrenzten Rahmen der Bildung von Auffassungen möglich ist, sagen, wie es ist, und solchen, die dieses nicht tun. Derjenige, der ein solches Wissen um die Ideen eingesehen hat und damit imstande ist, der Forderung des λόγον διδόναι nachzukommen, ist nach Platon der sogenannte „Dialektiker“ (διαλεκτικός)⁸⁰, der den λόγος τῆς οὐσίας einer jeden Sache ergriffen hat.⁸¹ Dementsprechend bestimmt Platon die „Dialektik“ (διαλεκτική) in der Politeia⁸² als ein „Durchgehen“ beziehungsweise einen „Gang“ (πορεία)⁸³ und ein „Verfahren“ (μέθοδος)⁸⁴, das es ermöglicht zu erfassen, „was ein jegliches ist“.⁸⁵ Und so führt der Weg der Dialektik zu einem „Wissen“ (ἐπιστήμη)⁸⁶ über „das Wahre selbst“ (αὐτὸ τὸ ἀληθές)⁸⁷, das sich als solches „auf das Prinzip selbst“ (ἐπ‘ αὐτὴν τὴν ἀρχήν) bezieht und mithin Sicherheit⁸⁸ für sich beanspruchen kann. Die auf die Erkenntnis des „Wahren selbst“, das heißt der Ideen,⁸⁹ gerichtete Dialektik tritt damit an die Stelle des sokratischen Verfahrens ἐξ ὑποθέσεως. Dies geschieht, indem sich aus der Erkenntnis der Ideen ein sicheres Wissen ergibt, das imstande ist, die von Platon abgewandelt gestellte sokratische Frage nach dem, was X ist, zu beantworten. Anders als das hypothetische Wissen um das, was X ist, gewinnt das dialektische dabei jeweils eine Einsicht in ein Erstes und mithin Voraussetzungsloses (ἀνυπόθετον)⁹⁰ – in eine
78 Vgl. Platon Philebos 37b 10–c 2. 79 Ebd: „Ἆρ΄ ὅτι δόξῃ μὲν ἐπιγίγνεσθον ψεῦδός τε καὶ ἀληθές͵ καὶ ἐγένετο οὐ μόνον δόξα διὰ ταῦτα ἀλλὰ καὶ ποιά τις ἑκατέρα͵ σκεπτέον φῂς τοῦτ΄ εἶναι;“ 80 Vgl. Platon Politeia 534b 3. 81 Vgl. ebd. 534b 3f. 82 Andernorts gibt Platon weitere Bestimmungen der Dialektik, die jedoch im Wesentlichen der Sache nach auf der hier angegebenen Bestimmung basieren. Eine weitere Bestimmung der Dialektik findet sich u. a. in Sophistes 253d. 83 Vgl. Platon Politeia 532b 5. 84 Vgl. ebd. 533b 3. 85 Vgl. ebd. 532a 7f.; 533b 1–4. 86 Vgl. ebd. 533b 1–534b 2. 87 Vgl. ebd. 533a 4. 88 Platon verwendet in diesem Zusammenhang das Verb βαίνειν, womit er die bei der Bestimmung der Dialektik benutzte Wegmetapher aufnimmt und darauf hinweist, dass die ἀρχή den ersten Grund in einer Kette von Gründen darstellt, die es bis zu ihrem „durchzugehen“ gilt. 89 Vgl. dazu Platon Politeia 511b–c. 90 Vgl. Platon Politeia 511b 6.
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ἀρχὴ τοῦ παντός.⁹¹ Als solches stellt die ἀρχή den Ausgangspunkt für die Angabe eines Begründungszusammenhangs dar, der in sich abgeschlossen ist und keine weiteren unüberprüften Voraussetzungen mehr macht.⁹² Aus der Möglichkeit der auf der Ideenerkenntnis basierenden Angabe eines solchen vollständigen λόγος ergibt es sich, dass Platon wie bereits sein Lehrer Sokrates gegen die Position der Sophisten annimmt, dass es ein sicheres Wissen gibt, das durchaus relevant ist für die menschliche Praxis. So betrachtet Platon die Ideen als Maßstäbe, anhand derer sich die menschlichen Auffassungen, und zwar vor allem diejenigen, die sich auf die Gestaltung der Praxis beziehen,⁹³ in der beschriebenen Weise in Ordnungen setzen lassen. Die antisophistische Spitze, die die platonische Philosophie, in dieser Hinsicht betrachtet, birgt, zeigt sich beispielsweise, wenn es in der Politeia heißt: (...) und indem sie [d. h. die zukünftigen Herrscher] das Gute selbst betrachten, sollen sie jenes als Vorbild benützend ihr übriges Leben lang abwechselnd die Polis, die Einzelnen und sich selbst ordnen, während sie sich dabei die meiste Zeit über mit der Philosophie beschäftigen; wenn jedoch die Reihe an sie kommt, [sollen sie ordnen,] indem sie sich mit öffentlichen Angelegenheiten abmühen und um der Polis willen das Herrscheramt übernehmen, nicht als täten sie damit etwas Schönes, sondern etwas Notwendiges (...).⁹⁴
Es ist deutlich, dass Platon hier auf die von ihm selbst dem Protagoras in den Mund gelegte „Kenntnis“ (μάθημα) anspielt, die der Sophist zu lehren beansprucht. Wie erörtert worden ist, besteht diese Kenntnis in der für die menschliche Praxis relevanten „Wohlberatenheit“ (εὐβουλία), und zwar „(...) im privaten Bereich, wie man am besten das eigene Haus verwaltet, und im Bereich der Polis, wie man am vermögendsten wird, darin zu handeln und zu sprechen“⁹⁵. Auffällig ist dabei, dass Platon in der eben aus der Politeia zitierten Stelle die Reihenfolge dessen, wofür das jeweils Gelernte Verwendung findet, umdreht. Anders als mit Blick auf den von Protagoras Ausgebildeten spricht Platon bezüglich der Aufgaben des in der Ideenlehre Unterwie-
91 Vgl. ebd. 511b 7f. 92 Vgl. ebd. 533b 7–c 7: „αἱ δὲ λοιπαί͵ ἃς τοῦ ὄντος τι ἔφαμεν ἐπιλαμβάνεσθαι͵ γεωμετρίας τε καὶ τὰς ταύτῃ ἑπομένας͵ ὁρῶμεν ὡς ὀνειρώττουσι μὲν περὶ τὸ ὄν͵ ὕπαρ δὲ ἀδύνατον αὐταῖς ἰδεῖν͵ ἕως ἂν ὑποθέσεσι χρώμεναι ταύτας ἀκινήτους ἐῶσι͵ μὴ δυνάμεναι λόγον διδόναι αὐτῶν. ᾧ γὰρ ἀρχὴ μὲν ὃ μὴ οἶδε͵ τελευτὴ δὲ καὶ τὰ μεταξὺ ἐξ οὗ μὴ οἶδεν συμπέπλεκται͵ τίς μηχανὴ τὴν τοιαύτην ὁμολογίαν ποτὲ ἐπιστήμην γενέσθαι;“ 93 Es ist festzustellen, dass die platonischen Dialoge sich vor allem mit der Erkenntnis derartiger „praxisrelevanter“ Ideen beschäftigen. 94 Platon Politeia 540a 8–b 5: „καὶ ἰδόντας τὸ ἀγαθὸν αὐτό͵ παραδείγματι χρωμένους ἐκείνῳ͵ καὶ πόλιν καὶ ἰδιώτας καὶ ἑαυτοὺς κοσμεῖν τὸν ἐπίλοιπον βίον ἐν μέρει ἑκάστους͵ τὸ μὲν πολὺ πρὸς φιλοσοφίᾳ διατρίβοντας͵ ὅταν δὲ τὸ μέρος ἥκῃ͵ πρὸς πολιτικοῖς ἐπιταλαιπωροῦντας καὶ ἄρχοντας ἑκάστους τῆς πόλεως ἕνεκα͵ οὐχ ὡς καλόν τι ἀλλ΄ ὡς ἀναγκαῖον πράττοντας (…).“ 95 Platon Protagoras 318e 5–319a 2.
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senen nicht zuerst dessen eigene, private Angelegenheiten an, sondern die Ordnung der Polis. Erst im Weiteren geht es dann um die Ordnung der Einzelnen und dann schließlich an letzter Stelle um das Ordnen des Wissenden selbst.⁹⁶ Der Grund dafür, warum Platon die Reihenfolge der Aufgaben in seiner Auflistung umdreht, besteht darin, dass er seine Position insofern von der des Protagoras unterschieden wissen will, als er anders als der von ihm – wahrscheinlich adäquat – dargestellte Protagoras nicht vom Vereinzelten, sondern vom Allgemeinen der Idee⁹⁷ ausgeht. Diese vermittelt sich, wie die Politeia-Stelle zeigt, auch in der Welt des Vereinzelten zunächst in den Bereich des in einer Allgemeinheit zusammengefassten Einzelnen,⁹⁸ sodann in den Bereich der vielen Einzelnen, die als solche ebenfalls eine Einheit bilden, bis hin zu dem in der Vereinzelung stehenden Einzelnen. Von Bedeutung ist dies dabei deshalb, weil es zum Ausdruck bringt, dass die von Platon gedachte Idee ein „Seiendes“ darstellt, das anders als das parmenideische in einer Beziehung zu den vielen einzelnen Auffassungen der Menschen steht und als ein Ordnungsprinzip für diese fungieren kann und soll.⁹⁹ Die „Betrachtung“ (θεωρία)¹⁰⁰ der Ideen und die damit verbundene Erkenntnis derselben erweist sich somit nicht nur als wahr an sich; setzt die Wahrheit dieser Einsicht doch auch einen Maßstab, der bei der Beurteilung von Auffassungen Verwendung finden kann.¹⁰¹ Aller Dinge Maß, so wäre das protagore-
96 Eine solche Umkehrung der Reihenfolge in der Ordnung des Einzelnen und der Polis findet sich auch in Platon Symposion 209a 5–7. 97 Unter diesem ist nicht ein Allgemeines im Sinne des sokratischen Allgemeinen zu verstehen, welches sich als ein gleiches in mehreren Einzeldingen findet, sondern eines, an dem viele Einzeldinge gemeinsam teilhaben und das die Einzeldinge in einer Allgemeinheit zusammenfasst. 98 Der einen, einheitsstiftenden πόλις und nicht der vielen πόλεις. 99 Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 216–222. 100 Vgl. u. a. Platon Politeia 486a 8 sowie 511c 6. 101 Ein in diesem Kontext wichtiges und in der Politeia des Öfteren verwendetes Motiv ist das des „Abstieges“, welchen der Philosoph Platon zufolge in Angriff nehmen soll, nachdem er die Ideen geschaut hat. Platon benutzt dieses Motiv beispielsweise in seinem Höhlengleichnis, in welchem er schildert, wie der Philosoph, der die Ideen geschaut hat, wieder in die Höhle hinabsteigt (vgl. Politeia 516c 3), ja, wie es an anderer Stelle heißt, sogar zu diesem Abstieg genötigt werden solle, um die anderen Gefangenen zu befreien, vgl. Politeia 519c 9ff. Thomas A. Szlezák hat in seinem Kommentar zur Politeia darauf hingewiesen, dass das besagte Motiv schon durch das erste Wort des Dialogs angedeutet werde. Szlezák schreibt dazu: „(...) Das erste Wort des Dialogs, griech. katébēn, bezieht sich zunächst zwar auf die räumlichen Verhältnisse (Athen liegt höher als die Hafenstadt Piräus), wird aber mit Recht zugleich auch auf die Situation des Sokrates als Philosophen bezogen: Er repräsentiert die Figur des Dialektikers, der zur Höhe der Erkenntnis der Idee des Guten ‚hinaufgestiegen’ ist (im Sinne der Metaphorik des Höhlengleichnisses 515c–517c) und daher zu diesem Gespräch nun ‚herabsteigt’ (...). Dass das erste Wort des Dialogs mit Bedacht gewählt wurde, ergibt sich aus einem antiken Bericht (bei Diogenes Laertios 3, 36), nach dem Platon den Anfang der Politeia mehrfach umänderte.“ So in: Platon: Der Staat – Politeia. Griechisch-deutsch, übersetzt von Rüdiger Rufener, Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht und Literaturhinweise von Thomas Alexander Szlezák, Düsseldorf 2000, S. 944; zu dieser Thematik, vgl. auch Thomas Jürgasch: „‚Ein Abstieg als Aufstieg‘.
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ische Diktum umzuformulieren, ist folglich nach Platon nicht der Mensch, sondern die Ideen, die als solche den Ansatzpunkt für die von Platon angenommene Verknüpfung von „Theorie“ und „Praxis“ darstellen.¹⁰²
6.4.2 Die Einsicht in die Ideen als Maß der Tüchtigkeit Können die Ideen unter anderem als für die Bewertung von Auffassungen nützliche παραδείγματα begriffen werden, hat dieses auch Konsequenzen für die Einschätzung der „Tüchtigkeit“ eines Menschen. Während noch Protagoras den „Wohlberatenen“ beziehungsweise denjenigen, der imstande ist, seine eigenen Auffassungen als die besseren durchzusetzen, als tüchtig eingeschätzt hatte, ist die ἀρετή Platon zufolge an das Wissen um die Ideen gebunden.¹⁰³ Tüchtig ist demnach jemand, der sein Denken und seine Praxis an den Ideen ausrichtet und der im Rahmen der Beratung über unterschiedliche Auffassungen seine eigenen nicht mit Hilfe der Überredung, sondern der Überzeugung als die besseren durchzusetzen weiß.¹⁰⁴ Diese Fähigkeit zur Überzeugung ergibt sich dabei daraus, dass, wie bereits erörtert worden ist, der über das dialektisch gewonnene Ideenwissen Verfügende aufzeigen kann, weshalb seine Auffassung(en) vorzuziehen sind. Er kann dies, weil er seine Auffassungen an die durch die Ideen gesetzten obersten Maßstäbe rückbindet. Auch in der Frage nach der ἀρετή, die ein Mensch für sich beansprucht, ist nach Platon mithin nicht der Einzelne das Maß, sondern die Idee, da das auf sie bezogene Wissen einen Unterschied
Einige Bemerkungen zum Proömium der Politeia Platons“, in: Kalliope. Zeitschrift für Literatur und Kunst 3 (2008), S. 57–67. 102 Ganz explizit findet sich die platonische Umformulierung des protagoreischen Diktums in den Nomoi, in denen der Gott als das Maß aller Dinge benannt wird (vgl. Nomoi 716c 4f.), wobei „der Gott“ in diesem Zusammenhang für die Ideen oder aber die Idee des Guten als der höchsten Idee steht. Für ein adäquates Verständnis des Verhältnisses zwischen „Theorie“ und „Praxis“ ist es dabei von fundamentaler Bedeutung einzusehen, dass die θεωρία in ihrer Eigenschaft als „Betrachtung“ der Ideen, platonisch gedacht, keinen Gegensatz zur Praxis, sondern eine Form derselben darstellt. Wie sich dieses Verhältnis im näheren darstellt und in welcher Beziehung die philosophische Praxis zu den anderen Formen der Praxis steht, darauf wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden. 103 Vgl. Platon Symposion 212a 2–7. Hier ist vor allem auf die Unterscheidung zwischen den εἴδολα ἀρετῆς und der ἀληθὴς ἀρετή hinzuweisen. Den Schluss, dass die ἀρετή in einer Form des Wissens besteht, legen trotz ihrer aporetischen Ausgänge auch die Dialoge Menon 100b-c und Protagoras 361a nahe. 104 Im Griechischen wird das Wort πειθώ sowohl für das „Überreden“ als auch für das im Deutschen davon unterschiedene „Überzeugen“ verwendet, weswegen Platon im Gorgias zwischen einer πειθώ, die „τὸ μὲν πίστιν παρεχόμενον ἄνευ τοῦ εἰδέναι“ ist, und einer πειθώ die zur ἐπιστήμη führt, unterscheidet; vgl. Gorgias 454e 3f.
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setzt zwischen denen, die tüchtig zu sein vorgeben, und denjenigen, die sich aufgrund ihres Wissens als solche erweisen.¹⁰⁵
6.4.3 Einsehen, Wollen und Handeln – Platons „ethischer Intellektualismus“ Der Schluss, dass das mit Blick auf die Ideen eingesehene sichere Wissen von Relevanz für die menschliche Praxis ist, ergibt sich auch aus folgender Überlegung. Wie wohl schon sein Lehrer Sokrates nimmt auch Platon an, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen dem, was ein Mensch für gut und erstrebenswert hält, und dem, worauf er sein Wollen und Handeln richtet. Demnach ist dieses Wollen und Handeln stets auf das Gute gerichtet und die schlechte beziehungsweise böse Tat¹⁰⁶ Ergebnis einer Fehleinschätzung dessen, was das Gute jeweils und im Allgemeinen ist. Auf den Punkt gebracht findet sich diese Position Platons in der berühmten, von Sokrates im Dialog Protagoras gemachten Aussage, dass niemand freiwillig Schlechtes tue.¹⁰⁷ Kann sich nun, platonisch gedacht, nur derjenige in seinem Streben auf das wahrhaft Gute ausrichten, der weiß, was dieses Gute ist, wird es deutlich, wie wichtig es ist, eine Einsicht in ein solches Wissen zu gewinnen. Denn verfügt jemand nicht über dieses Wissen und ist er lediglich imstande, Auffassungen darüber zu vertreten, was ihm gut zu sein scheint, so kann er lediglich hoffen, zufällig das richtige Ziel zu treffen. Verfolgt man aufgrund seiner Unwissenheit das wahrhaft Gute nicht oder nur zufällig – und daher nicht in fortwährender Weise – als Ziel, schädigt man sich Platon zufolge durch sein schlechtes Tun selbst. Mag dieses nun für das Gute – begriffen als Ziel – im Allgemeinen plausibel erscheinen, so ist es doch auf den ersten Blick eher kontraintuitiv, wenn Platon die These der Selbstschädigung dessen, der Schlechtes tut, auch auf den Bereich des Moralischen bezieht. Weshalb soll zum Beispiel dem in seinem Handeln Ungerechten ein größerer Schaden erwachsen als demjenigen, der
105 Heribert Boeder hat überdies darauf hingewiesen, dass sich die ἀρετή im Bereich des technischen Wissens dadurch erweise, dass der sich als „tüchtig“ Bezeichnende das ἔργον, das er hervorbringen zu können behauptet, auch tatsächlich hervorbringt und dass in diesem Bereich der Vergleich der jeweiligen ἔργα und nicht die sophistische Überredungskunst zeige, wer wirklich tüchtiger ist. Vgl. Heribert Boeder: „Zu Platons eigener Sache“, S. 209. 106 Dazu, dass die Begriffe des guten und schlechten Wollens und Handelns in diesem Zusammenhang in einem allgemeinen Sinne zu begreifen sind und infolgedessen beispielsweise auch den Bereich des Moralischen umfassen, vgl. Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, S. 175–179. 107 Vgl. Platon Protagoras 468b; 499e. Vgl. ebenfalls Rüdiger Bubner: „Theorie und Praxis bei Platon“, in: Ders.: Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt am Main 1992, S. 26f.
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ungerecht behandelt wird? Weshalb soll sich dementsprechend aus dem Gerechtsein ein größerer „Nutzen“ (ὠφελία, χρεία) ergeben als aus dem Ungerechtsein?¹⁰⁸ Für Platon gilt auch in diesem Fall: Wer weiß, was es bedeutet, gerecht zu sein, und wer infolgedessen einsieht, dass es besser ist, gerecht zu sein als ungerecht, der wird auch gerecht sein und handeln wollen. Weshalb Platon der „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη) den Vorrang vor der Ungerechtigkeit einräumt,¹⁰⁹ wird deutlich, wenn man bedenkt, welchen Begriff der Gerechtigkeit er seiner Überlegung zugrunde legt. So lässt er Sokrates im vierten Buch der Politeia erklären, dass die Gerechtigkeit darin bestehe, „das Seinige zu tun“ (τὰ αὑτοῦ πράττειν).¹¹⁰ Was aber, so wäre nun in einem weiteren Schritt zu fragen, bedeutet es für den Menschen, „das Seinige zu tun“? Wie ist dieses „Seinige“ genauerhin zu bestimmen und welche Bedingungen muss jemand demzufolge erfüllen, um als „gerecht“ gelten zu können? Wege dazu, Antworten auf diese Fragen zu entwickeln, weisen die Ausführungen, die Platon in der Politeia mit Blick auf das „Werk“, die „Funktion“ (ἔργον) der menschlichen „Seele“ (ψυχή) und deren „Tüchtigkeit“ oder „Bestheit“¹¹¹ (ἀρετή) anstellt. So erklärt er dort, dass die Seele dann als gerecht verfasst zu betrachten sei, wenn ihre unterschiedlichen Teile¹¹² in der Weise das Ihrige tun, dass sie die ihnen eigentüm-
108 Vgl. Platon Gorgias 475d; Politeia 366c, e; 367b; vgl. zudem ebd. 354a 8f.: „Οὐδέποτ΄ ἄρα͵ ὦ μακάριε Θρασύμαχε͵ λυσιτελέστερον ἀδικία δικαιοσύνης.“ Des Umstandes, dass es sich dabei um einen Gedanken handelt, der den meisten Menschen zunächst einmal als fremd und ungewohnt begegnet, ist sich Platon selbst durchaus bewusst. Die „von jedermann“ vertretene Meinung, dass die Ungerechtigkeit eher von Nutzen sei als die Gerechtigkeit, lässt Platon in der Politeia vor allem von dem Sophisten Thrasymachos vertreten. Vgl. dazu Politeia 360c; 362c; 366b–c.; vgl. zudem auch Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 73. Eine andere, wie Eckart Schütrumpf erklärt, der Sache nach von der Auffassung des Thrasymachos gar nicht so verschiedene konventionelle Auffassung bezüglich dessen, was Gerechtigkeit ist, vertreten in der Politeia zudem Kephalos und dessen Sohn, der den sprechenden Namen Polemarchos trägt. Vgl. Politeia 328b ff. Mit Blick auf die Diskussion „konventioneller Vorstellungen über Gerechtigkeit“ in Platons Politeia, vgl. Eckart Schütrumpfs gleichnamigen Artikel, der, wie sein Untertitel sagt, „die Perspektive des Thrasymachos und die Erwartungen an eine philosophische Entgegnung“ betrachtet. Erschienen ist Eckart Schütrumpfs Arbeit in: Otfried Höffe (Hrsg.): Platon. Politeia (Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 7.), Berlin 1997, S. 29–54. Überdies ist zu beachten, dass Platon die Frage nach der Gerechtigkeit, wie er sie in der Politeia betrachtet, mit dem Begriff ihres „Nutzens“ verbindet, worin sich eine deutliche Anspielung auf die von der Sophistik aufgeworfene Fragestellung nach dem Nutzen eines sicheren Wissens widerspiegelt. Vgl. dazu beispielsweise das dem Sokrates von Platon in den Mund gelegte Wortspiel in Politeia 333d 10–e 2. 109 So beispielsweise nachzuverfolgen in Politeia 366 c; e; 367 b. 110 Vgl. Platon Politeia 433a 8f.; zum platonischen Begriff der Gerechtigkeit, vgl. auch Gregory Vlastos: „The Theory of Social Justice in the Polis in Plato’s Republic, in: Helen North: Interpretations of Plato, Leiden 1977, S. 2–40. 111 Übersetzt man mit Interpreten wie Michael Bordt ἀρετή mit dem Terminus „Bestheit“, lässt dieses den im Griechischen mitschwingenden Begriff des ἄριστος anklingen, vgl. Michael Bordt: Platon, S. 57. Den Zusammenhang zwischen ἀρετή und ἄριστος zeigt auch Platons Bestimmung dessen, was ein ἔργον ist, vgl. Politeia 353e 2f. 112 Platon unterscheidet zwischen einem „berechnenden“ oder „überlegenden“ Teil (λογιστικόν),
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lich zukommenden Funktionen, ihre ἔργα¹¹³, in der bestmöglichen Weise sowohl als einzelne als auch in ihrem Verbund ausüben und mithin die Seele in Hinsicht auf ihre Teile und als ganze tüchtig ist.¹¹⁴ Ist die Seele des Menschen im Sinne der ἀρετή der Gerechtigkeit disponiert, dann herrscht und berät sie sich in rechter Weise¹¹⁵ und befähigt den Menschen, als dessen Lebens- und Strebeprinzip sie fungiert, „gut zu leben“ (εὖ ζῆν) und mithin „selig und glücklich“ (μακάριός τε καὶ εὐδαίμων) zu sein.¹¹⁶ Der Grund dafür, warum Platon annimmt, dass der über eine gerecht geordnete Seele Verfügende – und eigentlich nur dieser – gut leben könne, wird ersichtlich, wenn man bedenkt, worauf die im platonischen Verständnis gerechte Seele und deren Streben hingeordnet sind. In Bezug auf diese Fragestellung führt Platon im sechsten Buch der Politeia aus, dass der Gerechte, d. i. der Philosoph, auf die in Ewigkeit bestehende Ordnung der Ideenwelt „blicke“ (ὁρῶντας) und diese „nachzuahmen“ (μιμεῖσθαι) suche.¹¹⁷ Inwiefern aber, wäre nun mit Christoph Horn zu fragen,
dem „Begehrungsvermögen“ (ἐπιθυμητικόν) und dem „Muthaften“ (θυμοειδές), vgl. dazu Platon Politeia 438b 12–441a 5. Zu den Gründen für Platons Annahmen einer derartigen Einteilung unterschiedlicher „Seelenmomente“ vgl. Platon Politeia 435b ff.; zudem Richard G. Hare: Plato, Oxford 1996, S. 52–57. 113 Zu Platons Verständnis von ἔργον, vgl. u. a. Politeia 352e 2ff. 114 Was dabei die Tüchtigkeiten der einzelnen Seelenteile betrifft, so stellt Platon zufolge die „Weisheit“ (σοφία) die bestmögliche Funktionsweise des „berechnenden“ Teils dar, die ἀρετή, die Besonnenheit (σωφροσύνη) die des „Begehrungsvermögens“ und die „Tapferkeit“ (ἀνδρεία) die des „muthaften“ Teils (vgl. Platon Politeia 442b 11–d 3). In Bezug auf das sich im Verbund vollziehende Tätigsein der Seelenteile ist festzuhalten, dass dieses, platonisch gedacht, dann im Sinne der Gerechtigkeit und somit auch der ἀρετή gegeben ist, wenn zum einen keiner der Seelenteile ein ἔργον zu verwirklichen sucht, das nicht das Seinige ist, und die einzelnen Teile zum anderen in einer für Platon natürlich vorgegebenen hierarchischen Beziehung zueinander stehen. Charakterisiert ist dieses Verhältnis dabei dadurch, dass das λογιστικόν die Herrschaft innehat, der „muthafte“ Teil das vom λογιστικόν Festgelegte durchsetzt und das „Begehrungsvermögen“ in dem Maße über die Tüchtigkeit der Besonnenheit verfügt, dass es sich nicht gegen die Beschlüsse des „überlegenden“ Seelenteils auflehnt. 115 Das „Herrschen“ (ἄρχειν) und „Sich-Beraten“ (βουλεύεσθαι) benennt Platon neben dem „Für-etwas-Sorgen“ (ἐπιμελεῖσθαι) und dem „Leben“ (ζῆν) und „allem anderem Derartigem“ (καὶ τὰ τοιαύτα πάντα) als die ἔργα der Seele, vgl. Politeia 353d 3–7. 116 Vgl. Platon Politeia 354a 1f. Angesichts dieser Bestimmung der Gerechtigkeit der Seele wird deutlich, dass eine strikte Unterscheidung zwischen einem teleologischen und einem moralischen Begriff des Guten bei Platon problematisch ist; will er doch gerade beispielsweise in der Politeia zeigen, dass das gerechte Handeln dasjenige ist, welches sich als ein moralisch gutes Handeln auf das teleologisch betrachtet wahrhaft Gute richtet. Dass das gute Handeln dabei sowohl den teleologischen als auch den moralischen Aspekt des Guten umfasst, zeigt vor allem die eben angeführte Bestimmung der gerechten und damit moralisch guten Seele, die als solche auf das wahrhaft Gute hingeordnet ist. 117 Vgl. Platon Politeia 500b 8–c 7; vgl. zudem Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 76, und den von Horn in diesem Zusammenhang zitierten Artikel Richard Krauts: „Plato’s Comparison of Just and Unjust Lives“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Platon Politeia, (Klassiker Auslegen Bd. VII), München 2005, S. 283–286. Dass es der Philosoph ist, der seine Seelenteile in eine gerechte Ordnung gebracht hat und
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ist die Betrachtung der Ideenwelt von Relevanz für das gute und glückliche Leben des Menschen?¹¹⁸ Der von Platon angenommene Zusammenhang zwischen der Betrachtung der Ideenwelt und dem Verwirklichen des „guten“ und „glücklichen“ Lebens erschließt sich vor dem Hintergrund der platonischen Annahme, es gebe ein einheitliches Ordnungsprinzip, das sowohl für die Ordnung des von dem Gerechten betrachteten Ideenkosmos als auch für die rechte Hinordnung des menschlichen Lebens und Strebens von fundamentaler Bedeutung ist – die „Idee des Guten“.
6.4.4 Die Idee des Guten Unter den Ideen nimmt die in der Politeia als das „größte Lehrstück“ (μάθημα μέγιστον)¹¹⁹ bezeichnete Idee des Guten aus verschiedenen Gründen eine herausragende Stellung ein. Zum einen verhält sich dies deswegen so, weil die Idee sowohl dem Erkannten Wahrheit verleiht¹²⁰ als auch dem Erkennenden das Vermögen des Erkennens gibt. Als solche ist sie die Ursache des Wissens und der Wahrheit (αἰτίαν δ’ ἐπιστήμης οὖσαν καὶ ἀληθείας).¹²¹ Darüber hinaus beschreibt Platon die Idee des Guten als das „Scheinendste unter dem Seienden“, dem alles Erkannte „das Sein“ (τὸ εἶναι) und das „Wesen“ (οὐσία) verdankt, während es selbst „jenseits des Wesens“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) liegt. Und nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass alles nur durch die Idee des Guten „nützlich und förderlich“ (χρήσιμα καὶ ὠφέλιμα) wird.¹²² Die Frage, wie Platons Gedanke der seins- und erkenntnismäßigen Ursächlichkeit der „Idee des Guten“ zu verstehen sein mag, ist in der Forschungsliteratur viel diskutiert worden. Einen recht überzeugenden Ansatz vertreten dabei Richard M. Hare und der auf Hares Ausführungen aufbauende Nicholas P. White,¹²³ die Platons Begriff des Guten im Sinne der Perfektion oder Vollkommenheit interpretieren.¹²⁴ Stellt folglich
mithin als gerecht anzusehen ist, erklärt Platon in den Büchern fünf bis sieben der Politeia. 118 Vgl. Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 76. 119 Vgl. Platon Politeia 505a 2–5. 120 Dies gilt in erster Linie sicherlich für die Ideen, darüber hinaus aber auch für die Einzelgegenstände, die an den Ideen teilhaben. 121 Vgl. Platon Politeia 508e 1–4. 122 Vgl. ebd. 505a 3f. 123 Vgl. Richard M. Hare: „Plato and the Mathematicians“, in: Renford Bambrough (Hrsg.): New Essays on Plato and Aristotle, London 1965, S. 21–38; Nicholas P. White: Plato on Reality and Knowledge, Indianapolis 1976, S. 99–103. 124 Vgl. Richard M. Hare: „Plato and the Mathematicians“, S. 36: „This is implicit in his view that the idea of anything was (perhaps among other things) the paradigm or perfectly good specimen of that kind of thing“; Nicholas P. White: Plato on Knowledge and Reality, S. 101: „The Form of F, he believes, is it were, an unqualified F, or something which is unqualifiedly F. But we know that he passes from this idea to thinking that it must therefore be a nondefective or, in this sense, a perfect F.“ Siehe dazu
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jede Idee ein „perfectly good specimen“ von X dar, verfügt sie als ein solches vollkommenes X-Sein auch immer in gewisser Weise über die Eigenschaft des Gutseins,¹²⁵ das mit Hare und White als das „Vollkommensein selbst“ begriffen werden kann.¹²⁶ Da Platon, wie schon gezeigt worden ist, insoweit in der eleatischen Tradition steht, als er die Vollkommenheit des Seins eines Seienden als die Bedingung für dessen (vollkommene) Erkennbarkeit betrachtet,¹²⁷ ist die Idee des Guten in ihrer Eigenschaft als die Ursache der Vollkommenheit der Ideen auch die Ursache ihrer Erkennbarkeit.¹²⁸ Platon zufolge ist die Idee des Guten jedoch nicht nur Ursache des Seins, des Wesens und, damit verbunden, der Erkennbarkeit der Ideen. „Das Gute selbst“ stellt für ihn ferner auch das Ziel allen Strebens dar; gibt es doch, wie er in dem vor der Politeia entstandenen Symposion schreibt, nichts anderes, wonach die Menschen verlangen, als das Gute, mit dessen immerwährendem „Besitz“ (κτῆσις) das Letztziel des Strebens, die „Glückseligkeit“ (εὐδαιμονία), einhergehe.¹²⁹ Ist hier von der εὐδαιμονία als dem Letztziel die Rede, so verweist dies darauf, dass sie, wie die eben zitierte Stelle aus dem Symposion zeigt, platonisch gedacht, ein Ziel darstellt, das im Hintergrund allen menschlichen Strebens steht und mit dessen Erlangung ein jedes Streben zu seinem Abschluss kommt.¹³⁰ Weshalb nämlich jemand glückselig werden will, welches weitere Ziel hinter dem Streben nach der Glückseligkeit steht, so Diotima,
auch Platon Philebos 20d 3, wo Platon die Idee des Guten als τελεώτατον πάντων bestimmt. 125 Das Gutsein der Ideen ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht als eine Art Teilhaberelation zu verstehen, wie sie zwischen den Ideen und den raum-zeitlichen Dingen besteht. Denn im Unterschied zu den Letztgenannten sind die Ideen als „vollkommene Seiende“ (παντελῶς ὄντα) in ihrem Sein in keiner Weise mangelhaft oder in der Gefahr, ihr Gutsein zu verlieren. In dem, was sie sind, sind sie vollkommen und daher nicht nur dem durch die Idee des Guten repräsentierten Vollkommensein teilweise entsprechend, wie es im Fall der raum-zeitlichen Dinge ist. 126 Andreas Graeser hat gegen die Interpretationen Whites und Hares zu bedenken gegeben, dass ihre Konzeption der Idee als einem perfectly good specimen, eine zu einem infiniten Regress führende Selbstprädikation impliziere, vgl. Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, S. 159, Anm. 63. Dazu ist allerdings zu bemerken, dass dieses Problem dann nicht auftritt, wenn man, wie bereits ausgeführt worden ist, die Vollkommenheit der Idee von X so denkt, dass sie die Kategorien der endlichen Vorkommensweisen von X überschreitet. 127 Dies ist im Sinne des Bestimmtseins zu verstehen. 128 Wie das Vollkommensein, für das die Idee des Guten steht, genauerhin zu denken ist, erklären White und Hare nicht. Ein Vorschlag zur Bestimmung dieses Vollkommenseins wird im Weiteren noch genauer erörtert werden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Ursächlichkeit des Guten hier im Sinne der Formursächlichkeit zu begreifen ist. 129 Vgl. Platon Symposion 204–206, insbesondere 205a 1f. und 202c 10f., vgl. zudem Platon Philebos 20d 7–10. Dass die εὐδαιμονία nach Platon das „Letztziel“ des menschlichen Strebens darstellt, zeigt u. a. Symposion 205a 1–3; siehe auch Gorgias 507c 1–5, dort weist Platon ebenfalls darauf hin, dass der Besitz des Guten glückselig mache. 130 Dass alle Menschen nach dem Guten streben, betont Platon u. a. auch in Symposion 205a 5–7.
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das bräuchte man nicht fragen.¹³¹ Begründet liegt diese Aussage der mantineischen Seherin darin, dass man, wie Christoph Horn schreibt, die εὐδαιμονία (...) nicht als nur teilweise gut auffassen kann; es ist schlechterdings gut. Deshalb kann es auch nicht als ein Mittel oder Instrument zu einem weiteren Ziel begriffen werden; vielmehr handelt es sich um ein letztes oder abschließendes Ziel. Daraus folgt: Was immer dafür in Betracht kommt, das Glück inhaltlich zu bestimmen (z. B. Reichtum, Macht, Lust, Erkenntnis, Tugend), muß ebenfalls unter allen Umständen gut sein, und es darf ebenfalls keine Instrumentalisierung zulassen¹³².
Es liegt nun auf der Hand, dass für Platon nur ein einziges Gut in Frage kommt, das all diese Bedingungen erfüllt – die Idee des Guten, die „jedes Erkennende“ zusammen mit der mit dem Guten verbundenen εὐδαιμονία erstrebt.¹³³ Dementsprechend schreibt er in der Politeia: Nach diesem [i. e. dem Guten selbst] strebt jede Seele und um seinetwillen tut sie alles (...).¹³⁴
Und im Philebos heißt es: Dieses muss man, wie ich meine, gewiss am allernotwendigsten über es [das Gute] sagen, dass alles Erkennende nach diesem trachtet und verlangt, indem es seinen Willen darauf richtet, es zu ergreifen und es für sich zu besitzen und dass es auf nichts der anderen Dinge bedacht ist außer auf das, was zugleich mit dem Guten erlangt wird.¹³⁵
Olof Gigon und Laila Zimmermann haben in diesem Zusammenhang bemerkt, dass es auffallend sei, wie „verhältnismäßig selten“ Platon den Begriff der „εὐδαιμονία“ verwendet. Zudem sei festzustellen, dass Platon nicht genauer präzisiere, worin die εὐδαιμονία eigentlich besteht und wie ihre Verwirklichung mit der Erlangung des Guten selbst zusammenhängt.¹³⁶
131 Vgl. Platon Symposion 205a 1–3. 132 Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 77. 133 Vgl. Platon Philebos 20d 7–10. 134 Platon Politeia 505d 11–e 1: „Ὃ δὴ διώκει μὲν ἅπασα ψυχὴ καὶ τούτου ἕνεκα πάντα πράττει (…).“ Insofern die Seele, platonisch gedacht, als das Bewegungs- und Strebeprinzip zu betrachten ist und jede Seele nach dem Guten strebt, ergibt es sich, dass alles Streben auf das Gute ausgerichtet ist. 135 Platon Philebos 20d 7–10: „Τόδε γε μήν͵ ὡς οἶμαι͵ περὶ αὐτοῦ ἀναγκαιότατον εἶναι λέγειν͵ ὡς πᾶν τὸ γιγνῶσκον αὐτὸ θηρεύει καὶ ἐφίεται βουλόμενον ἑλεῖν καὶ περὶ αὑτὸ κτήσασθαι͵ καὶ τῶν ἄλλων οὐδὲν φροντίζει πλὴν τῶν ἀποτελουμένων ἅμα ἀγαθοῖς.“ Vgl. zudem Platon Gorgias 499e 8–500a 1: „Das Ziel aller Handlungen ist das Gute und um seinetwillen muss man alles andere tun, aber [es] nicht um willen anderer Dinge.“ Vgl. auch ebd. 468b 1–4: „Das Gute erstrebend gehen wir folglich, wenn wir gehen, indem wir meinen, es sei besser, und andererseits stehen wir, wenn wir stehen um derselben Sache willen, des Guten.“ 136 Vgl. den Artikel „Eudaimonie“, in: Olof Gigon/Laila Zimmermann: Platon. Lexikon der Namen und Begriffe, S. 125f. Darauf, dass Platon den Begriff der εὐδαιμονία nur selten verwendet, verweist auch Peter Stemmer in Platons Dialektik, S. 160.
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Gigon und Zimmermann machen hier auf ein Interpretationsproblem aufmerksam, das, auf den ersten Blick betrachtet, in der Tat nur schwer lösbar zu sein scheint; ist es doch nicht ganz leicht zu verstehen, wie Platon zufolge die Idee des Guten ihrem Inhalt nach zu begreifen ist. Diesen Eindruck erweckt zumindest die sich mit dem Thema des platonischen Verständnisses der Idee des Guten befassende, bereits erwähnte Forschungsdiskussion. Mit Blick auf diese sind dabei zwei Hauptpositionen erkennbar, unter die sich die meisten der anderen vorgebrachten Meinungen zusammenfassen lassen.¹³⁷ So vertreten einige Interpreten wie beispielsweise Theodor Ebert¹³⁸ oder HansGeorg Gadamer¹³⁹ die Auffassung, dass Platon die Idee des Guten inhaltlich gesehen für unbestimmbar gehalten habe. Einzig möglich, so Ebert, sei es nach Platon, das Gute selbst in Hinsicht auf seine Funktion etwa im Sinne eines „ideativen (Grenz-) Begriffes“ oder, was die Orientierung von Handlugen betrifft, als „Norm“ zu bestimmen.¹⁴⁰ Dieser Auslegung des platonischen Verständnisses der Idee des Guten ist von einigen Seiten her Widerspruch entgegengebracht worden. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Ansätze von David Hitchcock¹⁴¹, Peter Stemmer¹⁴² und Marcel van Ackeren¹⁴³. Gegen Positionen wie die Eberts und Gadamers wenden diese ein, dass Platon sehr wohl davon ausgegangen sei, dass die Idee des Guten ihrem Inhalt nach bestimmt werden könne. Um diese These zu stützen, führt beispielsweise van Ackeren eine Reihe von Textstellen aus der Politeia an, die seiner Meinung nach eindeutig zeigen, dass die Erkenntnis dessen, was das Gute ist, platonisch gedacht, möglich sei.¹⁴⁴ Zudem, so van Ackeren, sei zu berücksichtigen, dass die Ethik Platons „rein formal“ bliebe, wenn es unmöglich wäre, das Gute selbst im Sinne des Endzieles des menschlichen Strebens inhaltlich zu bestimmen.¹⁴⁵
137 Darauf, wie sich die zuvor zitierten Positionen Richard Hares und Nicholas P. Whites in diesen Zusammenhang einordnen lassen, wird später noch eingegangen werden. 138 Vgl. Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum ‚Charmides‘, ‚Menon‘ und ‚Staat‘, Berlin 1974, S. 146–151. 139 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, (Reihe: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, 1978,3), Heidelberg 1978, S. 20f. 140 Vgl. Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 149f. 141 Vgl. David Hitchcock: „The Good in Plato’s Republic“, in: Apeiron 19 (1985), S. 65–92. 142 Vgl. Peter Stemmer: Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge. 143 Vgl. Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons. 144 Vgl. ebd. S. 187–189; so auch Peter Stemmer: Platons Dialektik, S. 188; Thomas A. Szlezák: „Probleme der Platoninterpretation“, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 230 (1978), S. 1–37, bes. S. 19; ders.: Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern, erschienen in: Lecturae Platonis, hrsg. von Maurizio Migliori, Sankt Augustin 2003. 145 Vgl. Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten, S. 193f. In mancherlei Hinsicht befremdlich
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Nimmt man sie zusammen, weisen die beiden hier nur kurz umrissenen Interpretationen Eberts und van Ackerens, die pars pro toto für eine Reihe weiterer Ansätze stehen mögen, trotz ihrer offensichtlichen Entgegengesetztheit auf einige wichtige Aspekte des platonischen Begriffes der Idee des Guten hin. So lassen sich in der Politeia ausreichend viele Hinweise darauf finden, dass der von Ebert in den Vordergrund gerückte Aspekt der Funktion des Guten eine wichtige Rolle für Platons Konzeption dieser Idee spielt. Dementsprechend ist Ebert insofern zuzustimmen, als man die Idee des Guten in der Tat als einen Grenzbegriff fassen kann, der den Standard der Vollkommenheit repräsentiert und anhand dessen alles andere zumindest formal seiner Qualität nach bemessen werden kann. Wie eben schon angemerkt worden ist, lässt sich laut Ebert über diese relative Bestimmung der Idee des Guten hinaus jedoch nichts weiter über sie feststellen. Dies würden die platonischen Schriften schon dadurch deutlich zeigen, dass sie eine jegliche Bestimmung der Idee im Sinne einer wirklichen Definition vermissen lassen würden.¹⁴⁶ Gleichzeitig ist allerdings auch die beschriebene Argumentation Marcel van Ackerens nachvollziehbar. Gemäß dieser wird die Möglichkeit der inhaltlichen Bestimmung des Guten nicht nur durch die vorliegenden Textzeugnisse nahegelegt. Laut van Ackeren ist sie auch für die Kohärenz des platonischen Gedankenganges unbedingt erforderlich. Wie ist diese Schwierigkeit der Interpretation in angemessener Weise zu lösen, ohne dabei einen der angeführten Einwände zu übergehen? Wie sind die scheinbaren Widersprüche in den Texten Platons, vor allem in der Politeia, zu erklären und aufzulösen? Grundlegend für das Entstehen des beschriebenen Interpretationsproblems ist der Umstand, dass die genannten Ansätze der Auslegung einen wesentlichen Aspekt des platonischen Begriffes der Idee des Guten übersehen. Dieser besteht in der selbstreflexiven Struktur, die das Gute selbst Platon zufolge aufweist.¹⁴⁷ Was bedeutet dies im näheren? Bezüglich des parmenideischen Begriffes des „Seienden“, das veridikal verstanden auch als „das Wahre“ genommen werden kann, ist bereits festgehalten worden,
erscheinen dabei die Ansätze Peter Stemmers (Platons Dialektik, S. 152–191) und Thomas A. Szlezáks (Die Idee des Guten in Platons Politeia, S. 97–103). Obwohl nämlich beide mehrfach betonen, dass es Platon zufolge möglich sei, das Gute selbst zu erkennen – was dieses Erkennen genauerhin bedeutet, erklären beide wie im Übrigen auch Marcel van Ackeren nicht – bleiben sie doch eine Explikation dessen, wie Platon das Gute „an sich“ (Die Idee des Guten in Platons Politeia, S. 100) bestimmt wissen wollte, schließlich schuldig. Während Stemmer in diesem Kontext lediglich auf die Ausführungen David Hitchcocks in dessen bereits zitiertem Artikel „The Good in Plato’s Republic“ verweist, geht Szlezák nur auf die sich bei Platon findenden relativen Bestimmungen des Guten ein, das heißt auf dessen Bestimmung als Ursache und als παράδειγμα des Handelns (S. 101–103). 146 Vgl. Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 133; 148f. und 208. 147 Darauf, dass die Idee des Guten in einer derartigen reflexiven Struktur besteht, hat mich dankenswerterweise Bernhard Uhde im Rahmen eines Seminars aufmerksam gemacht.
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dass dies als solches nur an sich selbst zu erkennen ist. Das Kriterium beziehungsweise der Maßstab des Wahren ist mithin die Wahrheit selbst, an der zu erkennen ist, was jeweils wahr ist. Daher wäre auch zu formulieren: Was wahr ist, ist deswegen wahr, weil es wahr ist oder, um es abstrakt zu fassen, weil es der Wahrheit entspricht. Gleiches gilt nun, wie Platon offensichtlich annimmt, auch für den Begriff des Guten. Auch dieses ist ebenso wie das Wahre nur an sich selbst zu erkennen und nicht im Unterschied zu anderem.¹⁴⁸ Damit unterscheidet es sich von (fast) allen anderen Ideen, die sich, wie schon erklärt worden ist, als auch Nichtseiende im Unterschied zu anderen Ideen bestimmen.¹⁴⁹ Dass Platon das Gute in einer derartigen selbstreflexiven Weise begreift, zeigt sich an verschiedenen Stellen in der Politeia. So heißt es beispielsweise in einer bereits zitierten Passage aus dem siebten Buch: Also verhält es sich auch mit Blick auf das Gute in dieser Weise.¹⁵⁰ Wer nicht in der Lage ist, die Idee des Guten mit Hilfe eines Begründungszusammenhanges zu bestimmen, indem er sie von allem anderen abtrennt und sich wie in einer Schlacht durch alle Widerlegungen hindurchschlägt, da er sich bemüht, die Untersuchung nicht gemäß dem Schein, sondern dem Wesen nach zu führen, und [wer nicht] durch all dieses mit einem feststehenden Begründungszusammenhang durchkommt, von einem solchen [Menschen] wirst Du doch sagen, dass er weder ein Wissen von dem Guten selbst (αὐτὸ τὸ ἀγαθόν) noch von irgendeinem anderen Guten habe (...).¹⁵¹
Besonders hervorzuheben ist hier, dass man, wie Platon erklärt, ohne die unterscheidende Bestimmung der Idee des Guten weder ein Wissen über das Gute selbst (!) noch über irgendein anderes Gutes haben könne. Nimmt man in diesem Zusammenhang hinzu, dass die Begriffe der „Idee des Guten“ und des „Guten selbst“ synonym verwendet werden können,¹⁵² zeigt die zitierte Passage deutlich, dass das Gute an sich selbst erkannt wird.¹⁵³ Wie die Stelle dabei des Weiteren veranschaulicht, gilt dies nicht nur für das Gute im Sinne des vollkommenen Gutseins, „das Gute selbst“. Auch kein anderes Gutes, so Platon, also auch kein mangelhaftes, kann als ein solches in seinem Verhältnis zum Guten selbst erkannt werden, wenn man nicht dem zuvor ein Wissen von der Idee des Guten erlangt hat. Für diese Idee ergibt sich daraus, dass sie
148 Weshalb Platon die Unmöglichkeit der Erkenntnis des Guten am Unterschied annimmt, wird im Folgenden genauer zu erörtern sein. 149 Wie der Dialog Hippias Maior zeigt, stellt die Idee des Schönen (καλόν) hier – wie auch das Wahre – eine Ausnahme dar. Vgl. dazu Platons Bestimmung des Schönen in Hippias 286d. 150 Und zwar so, dass der, der nicht den λόγος und die οὐσία einer Sache erfasst hat, auch keine Erkenntnis derselben hat. Dies geht aus der vorhergehenden Stelle Politeia 534b 3–6 hervor. 151 Platon Politeia 534b 8–c 5: „Οὐκοῦν καὶ περὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὡσαύτως· ὃς ἂν μὴ ἔχῃ διορίσασθαι τῷ λόγῳ ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφελὼν τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέαν͵ καὶ ὥσπερ ἐν μάχῃ διὰ πάντων ἐλέγχων διεξιών͵ μὴ κατὰ δόξαν ἀλλὰ κατ΄ οὐσίαν προθυμούμενος ἐλέγχειν͵ ἐν πᾶσι τούτοις ἀπτῶτι τῷ λόγῳ διαπορεύηται͵ οὔτε αὐτὸ τὸ ἀγαθὸν φήσεις εἰδέναι τὸν οὕτως ἔχοντα οὔτε ἄλλο ἀγαθὸν οὐδέν.“ 152 Laut Theodor Ebert zeigt sich dies beispielsweise in Politeia 507a–b. Vgl. dazu Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 139. 153 Trotz der Synonymität ist es wichtig, dass hier ein Unterschied benannt ist.
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einen allgemeinen Maßstab darstellt, den die Erkenntnis eines jeden Guten notwendigerweise voraussetzen muss.¹⁵⁴ Noch klarer zum Vorschein kommt der Aspekt der notwendigen Voraussetzung dieses Maßstabes in einem anderen Abschnitt der Politeia. Bereits im sechsten Buch ist zu lesen: (...) da du nämlich schon oft gehört hast, dass die Idee des Guten das höchste Lehrstück¹⁵⁵ ist, insofern sowohl das Gerechte als auch das andere nützlich und förderlich wird, indem es [die Idee des Guten] zu Hilfe nimmt (προσχρησάμενα).¹⁵⁶
Mit einem Verweis auf eine andere Stelle in der Politeia (522b 8–9), an welcher Platon das Verb προσχρᾶσθαι ebenfalls verwendet, hat Theodor Ebert herausgearbeitet, dass Platon mit diesem Ausdruck auf eine notwendige Bedingung hinweist. Das, was jeweils „zu Hilfe genommen wird“, ist laut Ebert etwas, ohne das etwas anderes nicht sein könne. Während dies in der von Ebert als Beispiel angeführten Passage aus dem siebten Buch die Mathematik ist, ohne die Platon zufolge keine τέχνη, διάνοια oder ἐπιστήμη möglich wäre, stellt der eben zitierte Absatz die Idee des Guten als die notwendige Bedingung dafür dar, dass das Gerechte sowie alles andere nützlich und förderlich ist.¹⁵⁷ Nichts nämlich, fährt Platon einige Zeilen später fort, ist für uns „förderlich“ (ὄφελος), wenn wir nicht um die Idee des Guten wissen.¹⁵⁸ Wie dieser Nachsatz zeigt, stellt das Gute selbst vor allem insofern eine notwendige Bedingung für die Nützlichkeit aller Dinge da, als sie nur vermittelt durch die Idee des Guten als nützlich und förderlich erkannt werden können.¹⁵⁹ Demgemäß sind hier zwei Aspekte entscheidend. Nur in dem Maß, in dem etwas dem Guten entspricht, ist es tatsächlich
154 Dass es sich beim Guten selbst um eine Art Standard der Vollkommenheit handelt, bemerkt auch Theodor Ebert in: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 148–151. Auf die reflexive Struktur des platonischen Begriffes des Guten geht er allerdings nicht ein. Bezeichnend dafür ist, dass Ebert die eben zitierte Stelle Politeia 504a, die den reflexiven Charakter des Guten herausstellt, nicht diskutiert. Dazu, dass das Gute als ein derartiger Standard begriffen werden kann, vgl. auch David Hitchcock: „The Good in Plato’s Republic“, S. 66. 155 Platons Verwendung des Begriffes des μάθημα, das überdies als höchstes und nicht etwa als höheres oder besseres vorgestellt wird, beinhaltet eine deutliche Anspielung auf protagoreisch-sophistisches Gedankengut. Vgl. dazu die erörterte Stelle aus Protagoras (318e 5–319a 2), an der Platon den Sophisten Auskunft über sein eigenes μάθημα geben lässt. An Stelle dessen tritt für Platon die Idee des Guten als Maßstab alles Nützlichen, wie nun im Folgenden auszuführen sein wird. 156 Platon Politeia 505a 2–4: „ἐπεὶ ὅτι γε ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα μέγιστον μάθημα͵ πολλάκις ἀκήκοας͵ ᾗ δὴ καὶ δίκαια καὶ τἆλλα προσχρησάμενα χρήσιμα καὶ ὠφέλιμα γίγνεται.“ 157 Vgl. Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, S. 134f. 158 Vgl. Platon Politeia 505a 6–b 1. 159 Etwas später merkt Platon in der Politeia an (505d 7–506a 10), dass auch niemand Gerechtes (δίκαια) und Schönes (καλά) in geeigneter, hinreichender Weise (ἱκανῶς) erkennen werde, wenn er nicht vorher eingesehen hat, was das Gute selbst ist. Auch hier ist auf die antisophistische Spitze hinzuweisen, die Platon an dieser Stelle vor allem durch die Verwendung des Terminus ἱκανῶς setzt.
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gut – was Platon hier in Hinsicht auf den Aspekt der Nützlichkeit hin betrachtet.¹⁶⁰ Und nur in dem Maß, in dem wir dies als dem Guten selbst entsprechend erkennen, können wir uns dieses Guten auch bedienen.¹⁶¹ Über diese selbstreflexive Bestimmung hinaus kann das Gute selbst nun nicht weiter bestimmt werden.¹⁶² Es ist nichts anderes als es selbst und anders als die übrigen Ideen nicht im Unterschied zu anderem Seienden bestimmbar. Diese Überlegungen stellen den Ausgangspunkt dafür dar, warum Platon die Idee des Guten vom Bereich der anderen Ideen absondert und sie im Unterschied zu diesen nicht als οὐσία ὄντως οὔσα, sondern vielmehr als ἐπέκεινα τῆς οὐσίας bezeichnet. Denn anders
160 Dass Platon an dieser Stelle auf die Verbindung zwischen dem Guten und dem Nützlichen bzw. Förderlichen verweist und das Nützliche unter den Begriff des Guten stellt, erweist sich als höchst bedeutsam vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit sophistischen Positionen, vor allem mit der traditionell mit dem Namen des Gorgias verbundenen. Hätte er nämlich formuliert, dass das Gerechte und alles andere durch die Zuhilfenahme des Guten gut – und nicht „nützlich“ und „förderlich“ – sei, hätte er sich möglicherweise verschiedenen Vorwürfen von Seiten der Sophistik ausgesetzt gesehen. Zum einen könnte ihm in diesem Fall vorgehalten werden, dass sich aus dem Begriff des Guten ebenso wenig wie aus dem parmenideischen Begriff des „Seienden“ ein Wissen ziehen lasse, da die Einsicht, dass das Gute gut sei, eine bloße Tautologie darstelle. Aus dieser Kritik wäre im Weiteren der Schluss zu ziehen, dass die Erkenntnis des Guten genauso nutzlos sei wie die des Wahren. Um einem derartigen Vorwurf von vornherein zu begegnen, wählt Platon die Formulierung, wie sie in der Politeia zu finden ist. Mit Hilfe dieser Formulierung betont er dabei, dass die Erkenntnis des Guten unter Vermittlung des Begriffes des Gerechten sehr wohl als nützlich zu erweisen ist. Diesen in der vorliegenden Arbeit zum Teil auch schon erörterten Zusammenhang zwischen dem Guten, dem Gerechten und dem Nützlichen herauszuarbeiten, darin kann eine der Hauptaufgaben der Politeia gesehen werden. 161 Vor diesem Hintergrund besehen zeigt es sich, dass das Nützliche und Förderliche die Idee des Guten nicht im Sinne einer bewirkenden Ursache „zu Hilfe nimmt“, die dieses „erzeugt“, sondern vielmehr als eine Formursache, der das Nützliche, in Hinsicht auf sein Gutsein betrachtet, entspricht. Vgl. dazu auch David Hitchcock: „The Good in Plato’s Republic“, S. 70, der dies mit Blick auf die Ursächlichkeit der Idee des Guten für die Erkennbarkeit der Dinge formuliert. 162 Auf den Umstand, dass das Gute nur in selbstreflexiver Weise erkannt werden kann, weist Platon auch mit Hilfe seines sogenannten Sonnengleichnisses hin. So wie die Sonne, die als das dem Guten „Ähnlichste“ (ὁμοιότατος) und als dessen „Spross“ (ἔκγονος) bezeichnet wird (Politeia 506e 3–5), die Grundlage für alle sinnlich-visuelle Erkenntnis darstellt, da alles nur in ihrem „Licht“ (φῶς) erkannt werden kann, ist auch das Gute die Basis für die Erkenntnis alles „Gedachten“ (νοούμενα). Denn, so Platon, die Idee des Guten ist es, die dem Erkannten die Wahrheit und dem Erkennenden die Fähigkeit (δύναμις) des Erkennens verleiht und als solche ist sie die „Ursache des Wissens und der Wahrheit“ (αἰτία δ‘ ἐπιστήμης οὖσαν καὶ ἀληθείας) (Politeia 508e 1–6). Während allerdings das Gute und die Sonne die jeweiligen Grundlagen für die Erkenntnis bzw. das Sehen des Erkennbaren und Sichtbaren darstellen, werden sie selbst jedoch nicht vermittelt durch ein anderes Licht oder eine Wahrheit anderen Ursprungs gesehen und erkannt. Vielmehr ist es das von der Sonne ausgehende Licht bzw. die vom Guten selbst ausgehende Wahrheit, aufgrund derer sie jeweils erkannt werden. Wenngleich Platon selbst auf dieses selbstreflexive Element der Erkenntnis der Sonne und des Guten nicht explizit eingeht, legt doch seine Auswahl des Bildes der Sonne die Annahme nahe, dass er damit auf den besagten selbstreflexiven Aspekt der Erkennbarkeit des Guten verweisen will.
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als die anderen Ideen ist die Idee des Guten nicht in dem Sinne, dass sie über ein bestimmtes Sein verfügt, das sich durch ein gleichzeitig – wenn auch in einer anderen Hinsicht – bestehendes Nichtsein konstituiert. Damit unterscheidet sie sich von den anderen Ideen nicht dadurch, dass sie etwas nicht ist, sondern gerade dadurch, dass sie nichts nicht ist und ihr mithin nichts fehlt. Bevor dieser Gesichtspunkt der Mangellosigkeit des Guten, die, wie noch zu zeigen sein wird, als die wesentliche Bestimmung des Vollkommenseins desselben betrachtet werden kann, weiter ausgearbeitet wird, sei nun kurz noch weiter auf das Thema der „Überwesenheit“ der ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ eingegangen. Weshalb nämlich, wäre zu fragen, ist das Gute nur selbstreflexiv zu bestimmen und nicht im Unterschied zu anderem? Weshalb verfügt es nicht über ein bestimmtes Sein, das es in einen Unterschied zu anderem setzt? Den Gedanken, dass das Gute jenseits der οὐσία liege und ihm dementsprechend kein bestimmtes Sein zugesprochen werden könne, legt schon ein bei Aristoxenos anekdotisch überlieferter Bericht über eine öffentliche Vorlesung Platons nahe, die dieser vor den Bürgern Athens gehalten haben soll.¹⁶³ In seinem Vortrag habe Platon die Idee des Guten zum Gegenstand genommen, dabei jedoch sehr zur Enttäuschung seiner Zuhörer nur über Mathematik und Geometrie gesprochen. Das Gute selbst habe er zu guter Letzt als das Eine bestimmt.¹⁶⁴ Die sich auch bei anderen antiken Autoren – beispielsweise schon bei Aristoteles¹⁶⁵ – findende Information, dass Platon das Gute mit dem Einen gleichgesetzt habe, haben Interpreten wie David Hitchcock und Peter Stemmer zum Anlass genommen, der These der Unbestimmbarkeit der Idee des Guten zu widersprechen.¹⁶⁶ Wollte man nun auch Hitchcock darin zustimmen, dass das Gute selbst in der Tat als das Eine zu begreifen ist, sähe man sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass sich auch aus dem Begriff eines solchen Einen nicht unmittelbar ein Wissen im Sinne einer Prädikation ergibt. Platon selbst macht auf diese Schwierigkeit der Erkennbarkeit eines derartigen vollkommen Einfachen in seinem Dialog Parmenides aufmerksam. Wie
163 Zu der Frage, ob es sich bei der von Aristoxenos erwähnten Vorlesung um ein historisches Faktum handelt, vgl. die Ausführungen Konrad Gaisers in dessen Artikel: „Plato’s enigmatic lecture ‚On the Good‘“, in: Phronesis 25 (1980), S. 5–37. 164 Vgl. Aristoxenus: Elementa Harmonica II, 30–32. 165 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1091b 13–15; 987b 21–988a 17; Eudemische Ethik 1218a 19–21; 1218a 25f.; was moderne Interpretationen Platons betrifft, findet sich eine Reihe von Argumenten für die Annahme, Platon habe das Gute mit dem Einen gleichgesetzt, bei Hans Joachim Krämer. Vgl. zum Beispiel dessen Aufsatz: „Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis (Buch VI 504 a–511 e)“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Platon: Politeia, (Reihe: Klassiker auslegen, Bd. 7), Berlin 1997, S. 179–203. 166 Vgl. David Hitchcock: „The Good in Plato’s Republic“, in: Apeiron. A Journal for Ancient Philosophy and Science 19 (1985), S. 65–92. Auffällig ist, dass Peter Stemmer sich in diesem Zusammenhang damit begnügt, lediglich auf den Artikel Hitchcocks zu verweisen, ohne eine eigene Argumentation zur Bestimmung der Idee des Guten zu entwickeln.
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dort deutlich wird, ist das Eine (ἕν) insofern unerkennbar, als man nichts, das von ihm unterschieden ist, von ihm aussagen kann.¹⁶⁷ Begründet liegt dies darin, dass eine jede solche Zuschreibung zur Voraussetzung hat, dass der Gegenstand, dem etwas zugeschrieben wird, zumindest in einer Zweiheit aus ihm selbst und dem, was ihm zugeschrieben wird, besteht. Im Fall eines vollkommen einfachen Gegenstandes ist eine derartige Zuschreibung dementsprechend nicht möglich.¹⁶⁸ Platons Behauptung, dass das Gute das Eine sei, ist folglich nicht nach der Weise einer (prädikativen) Bestimmung aufzufassen, die so zu verstehen wäre, dass das Gute vermittelt durch seine Eigenschaft, eines zu sein, im Unterschied zu anderem definiert würde. Vielmehr wird durch die Bestimmung des Guten als des Einen betont, dass das Gute als ein einheitliches gerade nicht im Unterschied zu anderem, sondern nur an sich selbst zu erkennen ist. Wodurch, das heißt, durch welche Eigenschaft, sollte es sich als das Eine auch von anderem unterscheiden? Die These, dass das Gute mit dem Einen zu identifizieren sei, beinhaltet zudem einen Hinweis darauf, dass und wie Platon das Gute selbst in der Tat als ein Vollkommensein begriffen hat. Zentral ist hier der Gedanke, dass es sich bei diesem Vollkommensein um ein Freisein von allem Mangel handelt, was, wie nun zu zeigen sein wird, gerade durch die Annahme, dass das Gute das Eine sei, gestützt wird. Dass ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten der Idee des Guten besteht, zwischen dem ihres Eines-Seins und dem ihres so verstandenen Vollkommenseins, legt dabei nämlich schon die folgende Überlegung nahe. Zeichnet es das Gute aus, gänzlich einfach zu sein, so hat dieses, wie eben schon erörtert worden ist, zur Folge, dass ihm keine Eigenschaft oder, um es sprachlich zu wenden, kein Prädikat zugeordnet werden kann. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Annahme, das Gute sei mangelhaft, nur unter der Voraussetzung sinnvoll ist, dass der vom Guten ausgesagte Mangel ein irgendwie geartetes Seiendes bezeichnet. Denn stellte dieser Mangel ein im strengen Sinne Nichtseiendes dar, so höbe er sich als Begriff selbst auf; ist doch ein Mangel an nichts kein Mangel.¹⁶⁹ Die These, dass dem Guten ein Mangel zukomme, sieht sich infolgedessen mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sie dem vollkommen einfachen und nur durch es selbst bestimmten Guten widersinnigerweise eine (weitere) Eigenschaft zuzuordnen versucht.
167 Dies zeigt vor allem die oben bereits zitierte Formulierung in Platon Parmenides 142b 7–142c 2: „Οὐκοῦν καὶ ἡ οὐσία τοῦ ἑνὸς εἴη ἂν οὐ ταὐτὸν οὖσα τῷ ἑνί οὐ γὰρ ἂν ἐκείνη ἦν ἐκείνου οὐσία͵ οὐδ΄ ἂν ἐκεῖνο͵ τὸ ἕν͵ ἐκείνης μετεῖχεν͵ ἀλλ΄ ὅμοιον ἂν ἦν λέγειν ἕν τε εἶναι καὶ ἓν ἕν.“ 168 Vgl. Platon Parmenides 141e 3–10: „Εἰ ἄρα τὸ ἓν μηδαμῇ μηδενὸς μετέχει χρόνου͵ οὔτε ποτὲ γέγονεν οὔτ΄ ἐγίγνετο οὔτ΄ ἦν ποτέ͵ οὔτε νῦν γέγονεν οὔτε γίγνεται οὔτε ἔστιν͵ οὔτ΄ ἔπειτα γενήσεται οὔτε γενηθήσεται οὔτε ἔσται. - Ἀληθέστατα. - Ἔστιν οὖν οὐσίας ὅπως ἄν τι μετάσχοι ἄλλως ἢ κατὰ τούτων τι; - Οὐκ ἔστιν. - Οὐδαμῶς ἄρα τὸ ἓν οὐσίας μετέχει. - Οὐκ ἔοικεν. - Οὐδαμῶς ἄρα ἔστι τὸ ἕν. - Οὐ φαίνεται.“ 169 Wie ein solches Nichtsein laut Platon gerade nicht als ein striktes Nichtsein zu denken ist, ist bereits mit Blick auf die Frage nach dem Nichtsein der Ideen erläutert worden.
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Wenngleich sich dieses Argument für die Vollkommenheit der Idee des Guten in dieser Form nicht bei Platon findet, lassen sich doch Stellen aus dem platonischen Werk heranziehen, die zeigen, dass für Platon ein solches Verständnis der Idee des Guten zugrunde zu legen ist. Als besonders aufschlussreich erweist sich dabei eine Passage aus dem Symposion, in welcher Diotima und Sokrates das Thema des Strebens des vom Eros Ergriffenen erörtern.¹⁷⁰ In diesem Zusammenhang weist Diotima darauf hin, dass jedes Streben einen irgendwie gearteten Mangel auf Seiten des oder der Strebenden voraussetzt. Dementsprechend heißt es im Symposion, dass Eros das Gute und das Schöne deswegen begehre, weil er ihrer beider bedarf und im Unterschied zu den Göttern nicht in ihrem Besitz ist.¹⁷¹ Wäre er in ihrem Besitz, würde er logischerweise nicht nach dem Guten und Schönen streben. Zu einem Ende nun, so Diotima weiter, komme das Streben schließlich mit der Erlangung des Guten, durch welches die Glücklichen glücklich seien¹⁷² und, so wäre zu ergänzen, durch dessen Besitz jeder Mangel getilgt wird. Setzt nämlich jedes Streben jeweils einen Mangel an dem voraus, worauf sich die Strebebewegung richtet und ist des Weiteren vorauszusetzen, dass das Streben seinen Endpunkt mit der Erlangung des Guten findet, so sind folgende Schlüsse zu ziehen. Erstens, dass sich derjenige, der im Besitz des Guten ist, in einem Zustand der Mangellosigkeit befindet, die als solche ein wesentliches Merkmal der εὐδαιμονία darstellt.¹⁷³ Und zweitens, dass die erstrebte Mangellosigkeit auch als die wesentliche Bestimmung der Idee des Guten zu begreifen ist, die der nach der εὐδαιμονία Strebende zu erreichen sucht.¹⁷⁴
170 Vgl. Platon Symposion 205a 5–209e 5. Obwohl Diotima und Sokrates in diesem Abschnitt des Dialogs in erster Linie das erotische Streben betrachten, zeigt es sich doch in 205a 5–d 9, dass das Ausgeführte auf das menschliche Streben im Allgemeinen anzuwenden ist. 171 Vgl. ebd. 202c 6–d 2; derselben Logik folgt auch der sich ebenfalls im Symposion findende Gedanke, dass die Götter nicht philosophieren, da sie schon weise sind. Vgl. ebd. 204a 1–3. 172 Vgl. ebd. 205a 1–4. 173 Im Symposion bringt Platon den Umstand, dass die εὐδαιμονία wesentlich durch die Mangellosigkeit bestimmt ist, durch den Begriff der mit dem Schönen und Guten erstrebten „Unsterblichkeit“ (ἀθανασία) zur Sprache. Die Verwendung dieses Begriffes ist dabei in diesem Zusammenhang insofern besonders passend, als das Gegenteil der Unsterblichkeit, die Sterblichkeit, auf das Grundmoment menschlicher Mangelhaftigkeit überhaupt verweist. Ist doch – auch nach klassischer griechischer Vorstellung – mit dem durch den Tod gegebenen Verlust des Seins auch der vollständige Mangel und die endgültige Unaufhebbarkeit desselben gegeben. Vgl. dazu auch Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 9–32. Die Unsterblichkeit hingegen stellt platonisch gedacht, insofern einen wesentlichen Aspekt der εὐδαιμονία dar, als der Zustand der Mangellosigkeit notwendigerweise als unvergänglich gedacht muss. Bestünde nämlich die Möglichkeit, dass dieser Zustand mit dem Eintreten des Todes enden könnte, wäre er gerade wegen des Bestehens dieser Möglichkeit nicht vollkommen mangellos. Dass die Unsterblichkeit mit dem Besitz des Guten notwendig miterstrebt werden müsse, erklärt Platon in Symposion 206e 8–207a 4. 174 Nach dem Guten selbst zu streben, bedeutet platonisch verstanden mithin nichts anderes, als nach einem Zustand völliger Mangellosigkeit zu streben und sich damit dem Guten selbst so weit wie möglich anzugleichen. Setzt man dieses voraus, so ist leicht zu sehen, dass der Begriff der εὐδαιμονία
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Einen weiteren Hinweis darauf, dass das Gute Platon zufolge in der Tat als das von Mangel Freie zu verstehen ist, gibt der Dialog Philebos. In diesem für gewöhnlich eher seinem Spätwerk zugerechneten Dialog¹⁷⁵ bestimmt Platon das Gute unter anderem als τέλεον¹⁷⁶ beziehungsweise sogar als τελεώτατον πάντων¹⁷⁷. Wie dieses Vollendet- und Vollendendsein des Guten aufzufassen ist – der Terminus τέλεον umfasst seiner Bedeutung nach im Griechischen beide Aspekte¹⁷⁸ –, zeigt der weitere Verlauf des Gespräches zwischen Sokrates und Protarchos. Besonderes Augenmerk ist dabei auf das Kriterium zu richten, das Sokrates zur Entscheidung der Frage, was mit dem Guten gleichzusetzen sei, die „Lust“ (ἡδονή) oder die „Einsicht“ (φρόνησις), einführt. „Es ist nämlich notwendig“, so Sokrates, „dass, wenn eines von diesen beiden [die ἡδονή oder die φρόνησις] das Gute ist, es weiter überhaupt nichts bedürfe. Zeigt sich aber eines dieser beiden als bedürftig, so gilt uns dieses im Weiteren in keiner Weise als das wahrhaft Gute.“¹⁷⁹ Überhaupt nichts zu bedürfen und in diesem Sinne frei von allem Mangel zu sein, dies zeichnet also Platon zufolge das „wahrhaft Gute“ (ὄντως ἀγαθόν) aus, das infolgedessen auch als auch als „hinreichend“ (ἱκανός) begriffen werden kann.¹⁸⁰ Freilich könnte an dieser Stelle der Einwand vorgebracht werden, dass das Gute damit an sich nur rein negativ bestimmt werde. Dem wäre jedoch entgegenzuhalten,
platonisch gedeutet eigentlich auf einen Aspekt des an sich Guten verweist, und zwar auf den der Zielhaftigkeit desselben. Das Gute als εὐδαιμονία zu begreifen, bedeutet mithin nichts anderes, als die Relation zur Sprache zu bringen, in der alles Strebende mit Blick auf das Gute als dem Ziel seines Strebens steht. Dass man das Verhältnis zwischen der Idee des Guten und der εὐδαιμονία in der Tat so denken kann, legt auch die Stelle Politeia 526e 3f. nahe, in welcher Platon die ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ als τὸ εὐδαιμονέστατον τοῦ ὄντος bezeichnet. 175 Vgl. dazu Dorothea Frede: Platon. Philebos. Übersetzung und Kommentar, (Reihe: Platon. Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. 3,2), Göttingen 1997, S. 383. 176 Vgl. Platon Philebos 20d 1. 177 Vgl. ebd. 20d 3. 178 Vgl. Wilhelm Gemoll/Karl Vretska: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, München/ Oldenbourg 2007, S. 786; dass das, was τέλεον ist, sowohl an sich selbst vollendet als auch (anderes) vollendend ist, zeigt sehr schön die beiden Aspekte des Guten, die in Hinsicht auf das menschliche Streben nach eben diesem bereits benannt worden sind. So ist das Gute als das Vollendete dasjenige, durch dessen Besitz das es Besitzende seinerseits vollendet wird, was zur Folge hat, dass das Gute auch als vollendend zu betrachten ist. 179 Platon Philebos 20e 4–21a 2. 180 Vgl. ebd. 20d 4. Dass das Gute im Bereich des ἐπέκεινα τῆς οὐσίας anzusiedeln ist, lässt sich als Schluss auch aus dem Gedanken seiner Mangellosigkeit ziehen. Denn, wie bereits mehrfach erwähnt worden ist, liegt der Bestimmung eines Gegenstandes als eines bestimmten Seienden als Voraussetzung zugrunde, dass sich der Gegenstand durch etwas von etwas anderem unterscheidet und mithin das Letztgenannte nicht ist. Dies bedeutet, anders gesagt, dass jedes bestimmte Sein auch immer ein bestimmtes Nichtsein impliziert, was jedoch mit Blick auf ein völlig Mangelfreies nicht angenommen werden kann. Dies zeigt die enge Verbindung zwischen der als Freiheit von Mangel verstandenen Vollkommenheit des Guten und der Unmöglichkeit einer prädikativen Bestimmung desselben.
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dass die Idee des Guten, platonisch gedacht, positiv überhaupt nur selbstreflexiv zu fassen ist und jede prädikative Bestimmung aufgrund ihres einheitlichen Charakters und, damit verbunden, aufgrund ihrer Vollkommenheit unmöglich ist.¹⁸¹ Hinsichtlich der Argumentationen Theodor Eberts und Marcel van Ackerens wäre mithin anzuführen, dass die von Ebert als einzig möglich angenommene funktionale Bestimmung des Guten, sofern sie im Sinne der Selbstreflexivität gedeutet wird, gerade die von van Ackeren geforderte inhaltliche Bestimmung dieser Idee darstellt. Mit der Aussage, dass das Gute durch das Gute gut sei, wird somit die gesuchte inhaltliche Bestimmung des Guten gegeben, und zwar im Sinne der Selbstreflexivität. Wer dies beachtet und das Gute als das Kriterium dafür verwendet, das jeweilige Gute zu erkennen, der hat den Weg aus der Höhle und wieder zurück in dieselbe gefunden und begangen.
6.4.5 „Das Gute“ und die μίμησις des Ideen-Kosmos Das, worauf sich der über eine gerecht geordnete Seele verfügende Mensch in seinem Streben ausrichtet, ist, wie das zuvor Erläuterte zeigt und es Platons Aussage, dass der Gerechteste auch der Glücklichste sei, nahelegt, das mangellose Vollkommensein, das als das wesentliche Charakteristikum der Idee des Guten erwiesen worden ist.¹⁸² Während der Gerechte aufgrund seines Wissens um das wahrhaft Gute und seiner Ausrichtung auf dieses darauf hoffen darf, das von allen Menschen erstrebte Ziel des guten und glücklichen Lebens zu erreichen, sieht sich der Ungerechte mit dem Problem konfrontiert, dass seine Seele aufgrund ihrer Fehlausrichtung Schaden nehmen¹⁸³ und er infolge seines Verfehlens des wahrhaft Guten „bedauernswert“ (ἐλεινός) und „elend“ (ἄθλιος)¹⁸⁴ sein wird.¹⁸⁵ Denn obwohl der Ungerechte – wie auch der Gerechte – in seinem Streben gleichsam von Natur aus auf das Gute ausge-
181 Auf den Umstand, dass die Idee des Guten nur negativ bestimmt werden kann, weist auch Jens Halfwassen in einer Anmerkung hin. In dieser heißt es: „In der „Politeia“ wird das Wesen des Guten bewusst zurückgehalten (506de, vgl. 509c 7), zugleich aber ein λόγος τῆς οὐσίας des ἀγαθόν gefordert (534bc), der freilich nur ein negativer sein kann (534b 9: ἀφελών, vgl. Theaitetos 201e ff., 205c ff. zur Undefinierbarkeit der letzten Prinzipien) – dies führt von selbst auf den negativen Begriff des Einen als des absolut Un-Vielen, auf den Platon 509c 1 (Apollon!) wohl anspielt.“ Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, S. 221, Anm. 4. 182 Vgl. Platon Politeia 580b 8–c 7. Vgl. zudem auch die sich im Dialog Kriton (53c 7) findende Aussage Platons, dass die ἀρετή und die διακιοσύνη „πλείστου ἄξιον“ für die Menschen seien. Siehe zudem Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 77. 183 Vgl. dazu Platons Bestimmung der Ungerechtigkeit als des „größten Übels unter allem Seiendem“ (μέγιστον ἂν κακὸν εἴη τῶν ὄντων) in Gorgias 477e 4–6. Siehe zudem auch ebd. 469b 8f.: „So wie es dem Ungerechtsein zukommt, das größte der Übel zu sein.“ 184 Vgl. Platon Gorgias 469b 3–6. 185 Vgl. Platon Politeia 353e 8–354a 4.
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richtet ist, irrt er laut Platon doch bezüglich dessen, worin das wahrhaft Gute seinem Inhalt nach besteht. Infolgedessen richtet er sein Streben wegen seiner Unwissenheit an mangelhaften Gütern aus, durch deren Besitz er allerdings nicht zu der durch die Mangellosigkeit gekennzeichneten Glückseligkeit gelangen kann. Begreift man Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der beschriebenen Weise, wird es ersichtlich, weshalb Platon es für „nützlicher“ (λυσιτελέστερον)¹⁸⁶ hält, gerecht als ungerecht zu sein, auch wenn uns dies auf den ersten Blick abwegig erscheinen mag.¹⁸⁷ Wie jedoch ist es nach Platon möglich, das Gute zu „erlangen“? Was bedeutet es, wenn er davon spricht, dass der Mensch danach strebe, in den „Besitz“ (κτῆσις) des Guten zu kommen? Wie eben schon angedeutet worden ist, begreift Platon das besagte Erlangen des Guten als eine Form der „Nachahmung“ oder „Imitation“ (μίμησις) der Ideen, und zwar vor allem der an der Spitze des Ideenkosmos stehenden Idee des Guten.¹⁸⁸ Inhaltlich gesehen besteht diese Nachahmung darin, in einem ersten Schritt zu erkennen, was das Gute selbst ist, und sich daraufhin dem Vollkommensein, für das diese Idee steht, in der Weise und in dem Maß anzugleichen, in dem dies dem Menschen möglich ist.¹⁸⁹ Was damit verwirklicht werden soll, ist die von Platon geforderte ὁμοίωσις τῷ θεῷ.¹⁹⁰ Als Königsweg zum Erreichen dieses Zieles gilt Platon die Betrachtung der Ideen, da diese aus verschiedenen Gründen als Vorbilder für die angesprochene Nachahmung begriffen werden können.¹⁹¹ Indem nämlich ihr Sein nach Art der Perfektion
186 Vgl. ebd. 354a 8f. 187 Damit wird die These vertreten, die der in der Politeia von Thrasymachos vertretenen entgegensteht. Dieser behauptet im ersten Buch dieses Werkes, dass der Unrecht Tuende am glückseligsten (εὐδαιμονέστατος) sei, der Unrecht Leidende und selbst kein Unrecht Tuende jedoch am elendsten (ἀθλιοτάτους). Vgl. Politeia 344a 3–6. Eine kritische Diskussion der von Platon in Politeia 352d–357d entwickelten Beweisführung bezüglich der Frage, ob das gerechte Leben vorteilhafter als das ungerechte sei, findet sich bei Norbert Blössner: „Platon ‚Politeia‘ 352d–357d“, in: Hermes 119 (1991), S. 61–73. Blössner gibt auch eine gute Übersicht zu der hinsichtlich dieser Frage erschienenen Forschungsliteratur. 188 Vgl. dazu vor allem Politeia 500c 9–d 1; Symposion 206c; sowie Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 77. 189 Diese Einschränkung, die sich zum Beispiel in Symposion 212a 5–7 findet, zeigt deutlich, dass die von Platon geforderte Angleichung an das Vollkommensein der Idee im Sinne einer dynamischen Forderung aufzufassen ist, der der Mensch niemals in perfekter Weise nachkommen kann. Dem Glückseligsein haftet damit stets etwas Prozesshaftes, Unvollkommenes an, was es nahelegt, von einem „Glückseligwerden“ zu sprechen. Vgl. dazu auch Bernhard Uhdes Überlegungen zum Begriff des Dämons in: „Zur frühen Bedeutung von ‚ ΔΑΙΜΩΝ‘. Für Richard Gramlich zum 50. Geburtstag“, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 59 (1975), S. 170–181. 190 Vgl. dazu Gabriel Richardson Lear: Happy Lives and the Highest Good. An essay on Aristotle’s Nicomachean ethics, Princeton 2004, S. 209–219. 191 Wie Platons Symposion zeigt, ist dieser Weg nicht der einzige in diesem Zusammenhang gangbare. Eine andere, wie Platon denkt, allerdings qualitativ niedriger stehende Möglichkeit der Nach-
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gegeben ist, lassen die Ideen erkennen, was es bedeutet, nach einer dem einzelnen Seienden angemessenen Weise, das heißt im Sinne des vollkommenen Gerechtseins, Schönseins etc., gut, das heißt frei von Mangel zu sein. Auf die Ordnung der Ideen blickend, in der diese vermittelt durch das ihnen allen zukommende Gutsein stehen, soll der Mensch sich dementsprechend selbst ebenfalls auf das Gute hinordnen und versuchen, den ihm höchstmöglichen Grad der Vollkommenheit – in diesem Fall – des Menschseins zu erreichen. Demgemäß schreibt Platon in der Politeia: (...) und da sie das Gute selbst sehen, mögen sie, jenes als Beispiel/Muster benützend, in ihrem übrigen Leben der Reihe nach sowohl die Polis als auch die einzelnen Bürger sowie sich selbst ordnen.¹⁹²
Nun geben die Ideen, platonisch gedacht, aber nicht nur insofern einen Anhaltspunkt für die Erkenntnis der richtigen Ordnung des menschlichen Strebens, als ihr eigenes Geordnetsein auf die Idee des Guten als das Letztziel des Handelns verweist. Darüber hinaus zeigen sie auch, worin die Ziele und Maßstäbe des Strebens im Einzelnen liegen sollen, was also in einer konkreten Handlungssituation gut ist. So lässt Platon zufolge beispielsweise die Betrachtung der Idee des Gerechten und ihrer Hinordnung auf das Gute sowohl erkennen, dass es nützlicher ist, gerecht zu sein als ungerecht,¹⁹³ als auch, was im Konkreten als das Gerechte im Sinne eines Handlungszieles zu verfolgen ist. Für Letzteres gibt Platons Politeia, die das besagte Verhältnis zwischen dem Guten und dem Gerechten thematisiert, ein illustrierendes Beispiel. Dabei geht Platon so vor, dass er das Prinzip der menschlichen Selbstbewegung, die Seele, in den Blick nimmt und bezüglich ihrer dahin gehend argumentiert, dass
ahmung des Guten besteht beispielsweise in der biologischen Fortpflanzung, die insofern ebenfalls einen Versuch darstellt, das Gute nachzuahmen, als sie auf die Unsterblichkeit des Zeugenden abzielt. Vgl. dazu Symposion 206c 1–208b 6. 192 Platon Politeia 540a 8–b 1: „καὶ ἰδόντας τὸ ἀγαθὸν αὐτό͵ παραδείγματι χρωμένους ἐκείνῳ͵ καὶ πόλιν καὶ ἰδιώτας καὶ ἑαυτοὺς κοσμεῖν τὸν ἐπίλοιπον βίον ἐν μέρει ἑκάστους.“ 193 Vgl. dazu Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten, S. 179: „Ohne Wissen von der Idee des Guten gibt es keinen Nutzen: Kein Gut, sogar jegliches Wissen – auch vom Gerechten und Schönen – ist solange wertlos und nicht hilfreich, wie die Idee des Guten nicht gewusst wird. Die Qualität der Güte, die etwas hat, wird erst mit dem Erkennen der Idee des Guten erkannt und damit nützlich.“ Vgl. zudem die von van Ackeren angeführten Stellen Politeia 505a–b und ebd. 506a. Wie Peter Stemmer betont, ist die Kenntnis dessen, was das Gute selbst ist, auch deswegen von fundamentaler Bedeutung, weil man nur so weiß, was man im Rahmen des Handelns als ein Gut verfolgen soll. Wer nicht weiß, ob beispielsweise das Gerechtsein gut ist und das Tun des Gerechten tatsächlich zur εὐδαιμονία führt, wird auch nicht wissen, ob es wirklich geboten ist, gerecht zu handeln. Denn, so fragt Stemmer: „[w]as nützt es zu wissen, welche Handlungen gerecht sind, wenn man nicht weiß, ob man gerechte Handlungen wählen soll? Das Wissen, was gerecht ist, ist allein noch nicht handlungsrelevant; handlungsrelevant wird es erst, wenn geklärt ist, ob man das, was gerecht ist, tun soll, weil es glückszuträglich ist, oder ob man es nicht soll, weil es glücksabträglich ist. Diese Klärung verlangt, wie gesehen, die Untersuchung der Frage, was das Gutsein und am Ende was das eigentlich Gute ist.“ So in Platons Dialektik, S. 169.
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sie nach dem Begriff des Gerechtseins geordnet werden müsse. Nur wenn dies der Fall ist, kann der Mensch die εὐδαιμονία als das Letztziel seines Strebens erreichen; ist doch laut Platon nur der über eine gerecht geordnete Seele verfügende Mensch in der Lage, das Ziel der εὐδαιμονία zu verwirklichen. Mithin vermag der Begriff der Gerechtigkeit insofern als ein praxisrelevanter Maßstab zu gelten, als sich anhand seiner erkennen lässt, ob eine Seele in der richtigen Weise geordnet ist oder nicht und wie sie gegebenenfalls zu ordnen wäre. Im Einzelnen bedeutet dieses beispielsweise, dass man eine bestimmte Seele unter Hinzunahme des Kriteriums der Gerechtigkeit in Hinsicht darauf untersuchen kann, welcher ihrer Teile die Herrschaft über sie als ganze innehat und ob ihre Streberichtung, wie es gerechterweise der Fall ist, durch das λογιστικόν vorgegeben ist.¹⁹⁴ In den platonischen Dialogen findet sich darüber hinaus noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele dafür, wie die Ideen die Ziele menschlichen Strebens und Handelns festsetzen können und sollen. So ist Platon zufolge derjenige, der eine Einsicht in dasjenige gewonnen hat, was das Gerechte, Schöne, Tapfere, Fromme etc. ist, in der Lage, diese in ihrem Sein vollkommenen Maßstäbe im Einzelnen anzuwenden und anhand ihrer zu erkennen, was in einer konkreten Situation zum Beispiel als tapfer oder fromm anzusehen und somit als Ziel zu verfolgen ist.¹⁹⁵ Auch mit Blick auf das Streben und Handeln im Konkreten geben die Ideen folglich eine Ordnung vor, an der sich der die Ideenwelt Betrachtende orientieren kann und soll. Kommt man dieser Forderung nach und richtet man sich an der durch die Ideen vorgegebenen Ordnung aus, handelt man in einer guten, das heißt auch in diesem Kontext „mangellosen“ Weise. Wer nämlich das jeweils wahrhaft Gute verfolgt, das anhand der Ideen erkennbar ist, der wird sich in seinem Streben nicht in dem Sinne verfehlen, dass
194 Platons bereits angesprochene Forderung, dass das λογιστικόν über die Ausrichtung der Seele bestimmen solle, verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt des Gerechtseins der Seele. So ist es nicht ausreichend, dass der Mensch unter Vermittlung durch das λογιστικόν erkennt, welches das Gute ist, auf das es sich auszurichten gilt. Hinzu kommt, dass die Seele auch in dem Sinne gerecht strukturiert sein muss, dass ihre übrigen Teile, das „Begehrungsvermögen“ (ἐπιθυμητικόν) und das „Muthafte“ (θυμοειδές), dem, was das „Überlegende“ als gut erkennt, Folge leisten. Wie hier deutlich wird, ist es erforderlich, dass beide Aspekte des Gerechtseins der Seele gegeben sind, damit die auf das gute Leben hin orientierte Bewegung des Menschen möglich ist. Die Anwendungsmöglichkeit der Idee des Gerechten als Maßstab für das konkrete Handeln ist selbstverständlich nicht auf die Frage nach der Gerechtigkeit der Seele beschränkt. „Das Seinige tun“ kann und soll man, platonisch gedacht, in vielen Bereichen, wie beispielsweise die sich im Kriton findende Diskussion zwischen Sokrates und den personifiziert dargestellten „Gesetzen“ veranschaulicht. Im Rahmen dieser Unterhaltung wird erörtert, ob Sokrates in gerechter Weise „das Seine“ täte, wenn er sich der Vollstreckung des gegen ihn ergangenen Urteils entzöge. 195 Dieser Gedanke steht in einem engen Zusammenhang mit den bereits angestellten Überlegungen hinsichtlich dessen, wie die Ideen, platonisch gedacht, als Maßstäbe zur Beurteilung von Auffassungen dienen können.
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er – ganz entgegen seiner eigentlichen naturgegebenen Intention – nicht das Gute zu erreichen sucht.¹⁹⁶ Demnach sind die Ideen in ihrem vollkommenen Sein nicht nur als Gegenstände eines sicheren Wissens darüber, wie es ist, und als Kriterien für die Bewertung von Auffassungen anzusehen. Vielmehr stellen sie auch die Ausgangspunkte für die Erkenntnis dessen dar, worauf sich das Streben seinem Inhalt nach¹⁹⁷ im Allgemeinen – die Angleichung an die Idee des Guten – und im Besonderen – die durch die einzelnen Ideen gesetzten Ziele – richten soll. Dies gilt dabei nicht nur für diejenigen Ideen, die man für gewöhnlich dem Bereich des Ethischen oder Moralischen zurechnen würde, wie zum Beispiel die besagte Idee des Gerechten. Für Platon stellen die Ideen vielmehr allgemeine Handlungsprinzipien dar, die als solche in Hinsicht auf alles Streben erkennen lassen, worauf dieses jeweils abzielen soll. So geben die Ideen auch im Bereich des technischen Wissens die Maßstäbe ab, nach denen sich zum Beispiel der ein Weberschiffchen anfertigende Handwerker richten soll.¹⁹⁸ Baut nämlich ein Zimmermann ein solches Schiffchen, dann, so Platon, werde er sich bei seiner Arbeit an demjenigen orientieren, „dessen Natur es ist zu weben (ἐπεφύκει κερκίζειν)“¹⁹⁹. Und geht ihm nun das Schiffchen, während er es baut, zu Bruch, wird er, wie Platon weiter ausführt, bei der Anfertigung eines neuen Weberschiffchens nicht auf das zu Bruch gegangene schauen. Vielmehr werde er seinen Blick auf das „Urbild“, die „Idee“ (εἶδος) des Schiffchens lenken, an der er sich schon beim Bau des ersten Exemplars ausgerichtet hatte.²⁰⁰ Dieses, darüber kommen Sokrates und Hermogenes im Kratylos überein, ist demgemäß gerechtfertigterweise als das, „was das Weberschiffchen selbst ist“ (αὐτὸ ὃ ἔστιν κερκίς), zu bezeichnen;²⁰¹ und es ist dasjenige, das den Maßstab setzt für die Anfertigung aller im Bereich der übergänglichen Welt vorkommenden Schiffchen.²⁰² In Anbetracht dessen, dass die Betrachtung der Ideen den Menschen erkennen lässt, was das jeweilige wahrhaft Gute sowohl im Sinne des Letztzieles als auch in Hinsicht auf die vielen im Konkreten zu verfolgenden Einzelgüter ist, kann mit
196 Das Streben dessen, der sich auf das durch die Ideen vorgegebene wahrhaft Gute ausrichtet, ist zudem auch als einheitlich zu charakterisieren. Dies deswegen, weil es nur auf das Gute, nicht aber gleichzeitig auch auf das Schlechte hingeordnet ist. Dies ist dabei insbesondere deswegen bedeutsam, weil Platon das Gute selbst, den höchsten Maßstab des Vollkommenseins, als das Eine begreift. 197 Wie bereits mehrfach angemerkt worden ist, ist das Streben, formal gesehen, stets auf das Gute ausgerichtet. Die Frage ist, platonisch gedacht, nur, ob jemand erkennt, was das wahrhaft Gute im Sinne des Letztzieles und der konkreten Einzelziele ist. 198 Vgl. Platon Kratylos 389a 5–d 3. 199 Ebd. 389a 5–8. 200 Vgl. ebd. 389b 1–3. 201 Vgl. ebd. 389b 5f. 202 Ein dazu analoges Beispiel, das sich auf die von Werkmeistern angefertigten Betten und Tische bezieht, gibt Platon in Politeia 596b.
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Ingemar Düring der Schluss gezogen werden, dass „[f]ür Platon (...) auf allen Gebieten des Wissens und des menschlichen Könnens die Ideen normativ [waren]“²⁰³. Und ganz ähnlich formuliert Rafael Ferber mit Blick auf den paradigmatischen Charakter der platonischen Ideen: Sie sind nicht nur Ideen im bisherigen ontischen Sinne, sondern auch Ideale, nicht nur Onta, sondern auch Deonta, kurz, nicht nur das, was ist, sondern auch das, was sein soll: Sie sind an sich gegebene Normen.²⁰⁴
Wie das eben angeführte Zitat aus der Politeia anklingen lässt, sollen die Philosophen, die eine Einsicht in die Ordnung der Ideen gewonnen haben, nicht nur sich selbst nach dieser Ordnung ausrichten. Auch – sophistisch gesprochen – „im Großen“, das heißt in Bezug auf die Polis als ganze, ist die sich aus der Ideenerkenntnis ergebende Möglichkeit des Ordnens des menschlichen Lebens zu verwirklichen.²⁰⁵ Dementsprechend fordert Platon, dass die über die Ideenerkenntnis verfügenden Philosophen „Herrscher“ (ἡγεμόνες) in den Poleis werden sollen. Denn nur sie seien in der Lage, sich, auf das „vollkommen Wahre“ blickend, nach diesem zu richten und für die Polis festzulegen, was in ihr – im Allgemeinen und im Konkreten – als vorzüglich, gerecht und gut gelten soll, und zu überwachen, dass das von ihnen Gesetzte auch eingehalten wird.²⁰⁶ Zusammengefasst findet sich diese Position Platons in der berühmten, exakt in der Mitte der Politeia stehenden Passage über die Philosophenkönige. In dieser heißt es: Wenn nicht, sagte ich, entweder die Philosophen zu Königen in den Poleis werden oder diejenigen, die man heute Könige und Machthaber nennt, in echter und geeigneter [ἱκανῶς] Weise Philosophie betreiben²⁰⁷ und dieses [nicht] in eines zusammenfällt, die politische Macht und die Philosophie, und die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder anderen von beidem streben, mit Zwang aus-
203 Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, S. 464. 204 Rafael Ferber: Platos Idee des Guten, S. 30. 205 Die antisophistische Spitze, die in diesem Gedanken liegt, tritt sehr deutlich zu Tage in Politeia 517c 4f., wo Platon davon spricht, dass die, die im Begriff sind, klug zu handeln im Bereich des Eigenen (ἰδία) oder in dem des den Demos betreffenden (δημοσία) die Idee des Guten geschaut haben müssten. 206 Vgl. Platon Politeia 484c 6–d 5; vgl. zudem Peter Stemmer: Platons Dialektik, S. 168f. 207 Auch an dieser Stelle ist auf die Wortwahl Platons aufmerksam zu machen, der, indem er die Tätigkeit des Philosophierens durch das Adverb ἱκανῶς näher bestimmt, etwas für „sophistische Ohren“ geradezu Selbstwidersprüchliches sagt. Die antisophistische (genauer gesagt: antiprotagoreische) Spitze, die hier zu bemerken ist, bringt Platon auch im Symposion (209a 5–8) mit Hilfe seiner Wortwahl zum Ausdruck, indem er im Rahmen seines Lobes der Tüchtigkeit der φρόνησις erklärt: „πολὺ δὲ μεγίστη͵ ἔφη͵ καὶ καλλίστη τῆς φρονήσεως ἡ περὶ τὰ τῶν πόλεών τε καὶ οἰκήσεων διακόσμησις͵ ᾗ δὴ ὄνομά ἐστι σωφροσύνη τε καὶ δικαιοσύνη (…).“
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geschlossen werden, gibt es kein Ende der Übel, mein lieber Glaukon, nicht für die Poleis und auch nicht, wie mir scheint, für das menschliche Geschlecht (...).²⁰⁸
Auch in Bezug auf die Ordnung der Polis gilt nun laut Platon, dass, wie schon der seiner Politeia beigefügte Untertitel ἢ περὶ δικαίου hervorhebt,²⁰⁹ die Gerechtigkeit das Ordnungsprinzip darstellt, an dem sich der in der Polis idealerweise herrschende Philosoph orientieren möge. In Entsprechung zur Darstellung der gerecht geordneten Seele des Einzelnen führt Platon dabei aus, dass die Polis dann im Sinne der Gerechtigkeit verfasst sei, wenn jede(r) ihrer Bewohner(innen) „das Seine/Ihre tut“ (τὰ αὑτοῦ πράττειν) und „sich nicht mit vielerlei Dingen beschäftigt“ (καὶ μὴ πολυπραγμονεῖν)²¹⁰. Die Grundlage für diese platonische Forderung des gerechten Tuns des Einzelnen in der Polis besteht in folgender Annahme: Ebenso wie es laut Platon möglich ist, zwischen den unterschiedlichen Vermögen der Seele zu differenzieren, kann man seines Erachtens auch mit Blick auf die Bevölkerung der Stadtgemeinschaft zwischen verschiedenen „Teilen“ unterscheiden. So geht er davon aus, jeder Bürger sei entweder dem Regenten-, dem Krieger- oder dem Handwerker- und Bauernstand zuzuordnen. Dass sich nach Platon auch diese Ordnung nach dem Prinzip der Gerechtigkeit richtet, wird in der Politeia dadurch veranschaulicht, dass sie vor den Hintergrund des von Platon als „phönizisch“ bezeichneten sogenannten „Metall-Mythos“ gestellt wird.²¹¹ Dieser Mythos sucht zu vergegenwärtigen, dass die Menschen von Natur aus über unterschiedliche Veranlagungen verfügen, weshalb sich nach Platon das von ihnen geforderte Tun des Ihrigen unterschiedlich bestimmt, je nachdem, in welcher Weise jemand disponiert ist.²¹² Daraus ergibt sich im Weiteren, dass die Menschen wie auch die Seelenteile, bedingt durch ihre jeweilige Veranlagung, entsprechend unterschiedliche ἔργα haben und dass die Gerechtigkeit der Polis dann gegeben ist, wenn jeder Einzelne in ihr das tut, „wozu seine „Natur“ (φύσις) am besten geeignet ist“²¹³. Ist
208 Platon Politeia 473c 11–d 6: „Ἐὰν μή͵ ἦν δ΄ ἐγώ͵ ἢ οἱ φιλόσοφοι βασιλεύσωσιν ἐν ταῖς πόλεσιν ἢ οἱ βασιλῆς τε νῦν λεγόμενοι καὶ δυνάσται φιλοσοφήσωσι γνησίως τε καὶ ἱκανῶς͵ καὶ τοῦτο εἰς ταὐτὸν συμπέσῃ͵ δύναμίς τε πολιτικὴ καὶ φιλοσοφία͵ τῶν δὲ νῦν πορευομένων χωρὶς ἐφ΄ ἑκάτερον αἱ πολλαὶ φύσεις ἐξ ἀνάγκης ἀποκλεισθῶσιν͵ οὐκ ἔστι κακῶν παῦλα͵ ὦ φίλε Γλαύκων͵ ταῖς πόλεσι͵ δοκῶ δ΄ οὐδὲ τῷ ἀνθρωπίνῳ γένει (…)“; vgl. ebenfalls Alkibiades Maior 134e 8–135a 7. 209 Argumente dafür, dass die Untertitelung der platonischen Dialoge möglicherweise auf Platon selbst und nicht erst auf Thrasylos zurückgeht, trägt Robert G. Hoerber: „Thrasylus’ Platonic Canon and the Double Titles“, in: Phronesis 2 (1957), S. 10–20, vor. 210 Vgl. Platon Politeia 433a 8f.; zum platonischen Begriff der Gerechtigkeit, vgl. auch Gregory Vlastos: „The Theory of Social Justice in the Polis in Plato’s Republic“, in: Helen F. North (Hrsg.): Interpretations of Plato. A Swarthmore Symposium, (Reihe: Mnemosyne. Supplementum. Collana, Bd. 50), Leiden 1977, S. 2–40. 211 Vgl. Platon Politeia 414b 8ff. 212 Besonders interessant ist an Platons „Metallmythos“ u. a. die Wahl der einzelnen Metallarten und deren Zuordnungen zu den jeweiligen Ständen. So ist mit Blick auf das den Herrschenden zugeordnete Gold beispielsweise zu beachten, dass dies keine Legierung ist, sondern in reiner und unvermischter Form gefunden wird. Eisen hingegen kommt so gut wie nie gediegen in der Natur vor. 213 Platon Politeia 433a 5–7.
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folglich jemand von Natur aus dazu bestimmt, ein Regent oder eine Regentin zu sein, da, um die Begrifflichkeit des phönizischen Mythos aufzunehmen, ihrer Seele eine große Menge Goldes beigemischt ist, so wäre es, mit Platon gedacht, ungerecht, wenn sie ihre Funktion in der Polis nicht oder statt dessen gar eine andere ausüben würde und nicht das täte, „wofür sie natürlich gewachsen ist“ (πρὸς ὅ τις πέφυκεν)²¹⁴. Auf eine weitere wichtige Bedingung dafür, dass die Gerechtigkeit in dieser Weise auch „im Großen“ verwirklicht werden kann, hat Andreas Graeser aufmerksam gemacht.²¹⁵ So ist es laut Graeser von fundamentaler Bedeutung, dass in der von Platon entworfenen gerechten Polis auch die Seelen der Einzelnen in gerechter Weise verfasst sind, da ansonsten die Ordnung der Stände nicht eingehalten werden könne.²¹⁶ Demgemäß ist es beispielsweise für die Vertreter des dritten Standes aufgrund der Disposition ihrer Seele besonders wichtig, über die Tüchtigkeit der Besonnenheit zu verfügen; ließen sich doch andernfalls ihre Begierden nicht von den mit Einsicht und richtiger Meinung geleiteten Strebungen der Regenten und von deren Klugheit beherrschen,²¹⁷ so dass die gerechte Ordnung des Staates keinen Bestand hätte. Gleichzeitig ist umgekehrt die Verfasstheit des Staates wichtig für die Realisierung der Gerechtigkeit auf der Ebene des Einzelnen, der dann nicht das Seinige tun und zu einer Harmonie mit sich selbst kommen kann, wenn er in der Gemeinschaft eine Funktion ausüben muss, die seiner Natur nicht entspricht. Der Gedanke, dass die jeweiligen Ebenen der Verwirklichung der Gerechtigkeit – „im Kleinen“ wie „im Großen“ – in einem engen Zusammenhang zueinander stehen, erlaubt es nicht nur, einige interessante Rückschlüsse in Bezug auf den platonischen Gerechtigkeitsbegriff zu ziehen. Darüber hinaus legt er es auch nahe, den platonischen Gerechtigkeitsbegriff als ein universelles Ordnungsprinzip zu begreifen, das keinen Bereich des menschlichen Lebens außer sich lässt.²¹⁸
214 Ebd. 423d 2–7. 215 Vgl. Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, S. 183–191. 216 Vgl. ebd. S. 188f. 217 Vgl. Platon Politeia 431a 4–d 3. 218 Dass die Gerechtigkeit im Rahmen des platonischen Denkens ein das menschliche Leben ordnendes Prinzip darstellt, ergibt sich auch daraus, dass das ἔργον der Seele nach Platon im Leben besteht (vgl. Politeia 353d 9), welches sich dann in der bestmöglichen Weise vollzieht, wenn es ein gerechtes Leben ist, da die ἀρετή der Seele Platon zufolge in der Gerechtigkeit besteht (vgl. u. a. Politeia 353e 8f.). Nimmt man nun hinzu, dass das Leben sich für gewöhnlich immer auch in einer Gemeinschaft vollzieht, folgt daraus, dass die Gerechtigkeit als „Lebensordnungsprinzip“ nicht nur den Einzelnen, sondern auch dessen Leben in der Gemeinschaft ordnet.
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6.4.6 Die platonische Polis – ein totalitäres Staatsgebilde? Im Anschluss an derartige Überlegungen zur Universalität der durch die Gerechtigkeit bestimmten Ordnung des menschlichen Lebens ist bisweilen die These vertreten worden, der platonische Staat stelle ein totalitäres System dar, das dem Einzelnen sein Recht auf Selbstbestimmung und seine Freiheit nehme.²¹⁹ Die von Platon entworfene politische Ordnung, so die Befürworter dieser These, gehe davon aus, (...) daß die Massen unfähig sind, sich selbst zu regieren, und daß sie darum geführt werden müssen. Aus ihrer politischen und geistigen Unmündigkeit folg[e] der Verlust der Autonomie, der Denk- und Handlungsfreiheit und aller Bildungsmöglichkeiten sowie die unkontrollierte Einengung und Überwachung der gesamten Lebensführung. Die Befugnis der Staatsleitung reich[e] dabei so weit, daß sie über Leib und Leben des einzelnen in eugenetischer Züchtung, Ehezwang und Ausmerzung der Untauglichen befinden kann.²²⁰
Zuzustimmen ist dieser Auffassung nun sicherlich insoweit, als das Leben der Bürger in Platons Idealpolis, wie deutlich geworden sein sollte, in größtmöglicher Weise an den von den Regenten eingesehenen Ordnungsprinzipien ausgerichtet ist. So fordert Platon in der Tat von den Bürgern der Polis, sich der durch die Ideenerkenntnis gesetzten Ordnung zu unterwerfen – auch wenn es der großen Mehrheit dieses Staates nicht möglich sein wird zu erkennen, weshalb dieses nötig ist. Ohne dass es möglich wäre, sich an dieser Stelle mit diesen und ähnlichen Problemen des platonischen Polisentwurfes detailliert auseinanderzusetzen, sei doch zu den gegen Platon gerichteten Einwänden einiges kurz bemerkt. So hat beispielsweise Hans Joachim Krämer darauf hingewiesen, dass der Versuch einer angemessenen Bewertung der politischen Entwürfe Platons nicht umhin komme, die allgemeinen Grundzüge der platonischen Philosophie in Betracht zu nehmen, die den Hintergrund darstellen würden, vor dem der Philosoph seine politischen Vorstellungen entwickelt.²²¹ Eine in diesem Kontext wichtige Rolle spielt dabei der bereits erörterte Gedanke Platons, dass alle Menschen nach dem Guten streben und dass nur diejenigen dieses Ziel erlangen können, die über eine Erkenntnis des Guten selbst beziehungsweise der durch die Ideen gesetzten Einzelgüter verfügen. Legt man diesen Standpunkt zugrunde, ergibt es sich, dass die Herrschaft der Philosophen, die diese Platon zufolge
219 Im 20. Jahrhundert ist die Diskussion bezüglich dieses Themas vor allem durch Karl Poppers Arbeit: The Open Society and its Enemies, Princeton/New Jersey 1956 angestoßen worden. Eine Zusammenfassung der zu Poppers These erschienenen Argumentationen und Beiträge gibt Hans Joachim Krämer: „Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon“, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/1967), S. 254–270. 220 Hans Joachim Krämer: „Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon“, S. 255. 221 Vgl. dazu hier nun schon mehrfach zitierten Aufsatz Krämers „Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon“.
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nur widerwillig übernehmen (!), dem Wohl der Polis und ihrer Bewohner dient, da diese nur durch die gerechte Ausrichtung ihres Strebevermögens zur εὐδαιμονία zu gelangen vermögen. So heißt es in der Politeia: Wenn aber nun die Vielen bemerken, dass wir Wahres über ihn [den Philosophen] vortragen, werden sie dann noch unwillig gegen die Philosophen und ungläubig gegenüber unseren Aussagen sein, dass eine Polis niemals in einer anderen Weise glücklich sein werde, wenn sie nicht diejenigen Maler entwerfen, die das Göttliche als Vorbild benutzen?²²²
Wird Platons Forderung der Herrschaft der Philosophen vor dem Hintergrund derartiger teleologisch ethischer Überlegungen betrachtet,²²³ erweist sie sich als die logische Konsequenz aus den von ihm zugrunde gelegten anthropologischen und metaphysischen Prämissen. Zudem ist zu beachten, dass die Herrschaft der Philosophen in Platons Polis genau genommen nicht gegen den Willen der Beherrschten eingerichtet wird, sondern in Entsprechung mit diesem. Denn nimmt man mit Platon an, dass, wie eben bereits angemerkt worden ist, alle Menschen ihren Willen letztlich auf die εὐδαιμονία ausrichten, diese jedoch nur durch die Erkenntnis dessen, was das Gute selbst ist, erstrebt und erlangt werden kann, ergibt es sich, dass man zusammen mit der εὐδαιμονία auch die Herrschaft der Philosophen und das, was diese bestimmen, wollen muss. Da es sich dabei um eine Form der bedingten Notwendigkeit handelt, widerstreitet dieses Müssen allerdings nicht der Freiheit der Müssenden. Wie Platons philosophische und politische Konzepte zusammenhängen, zeigt überdies auch der Umstand, dass die Totalität des platonischen Polisentwurfes in seiner Sicht auf die Wirklichkeit im Allgemeinen grundgelegt ist. So steht die Gesamtheit der Wirklichkeit in allen ihren Facetten in einer durch die Ideen und die an deren Spitze stehenden Idee des Guten bestimmten Ordnung, die die Herrscher in der gerecht geordneten Polis widerspiegeln sollen.²²⁴ So universal diese Ordnung im Kosmos herrscht, so umfassend soll sie nach platonischer Vorstellung auch in der Idealpolis herrschen, was erklärt, weshalb Platon den in ihr Herrschenden die Macht verleihen will, auf praktisch alle Bereiche des Lebens der Bürger Einfluss zu nehmen. Nur wenn sie in dieser Weise herrschen, können die Philosophen den Aspekt der Universalität der durch die Ideen repräsentierten Ordnung umsetzen. Jede gegen Platons politisches Modell vorgebrachte Kritik muss, sofern sie seinem Denken gerecht werden will, diese und andere Aspekte der Beziehung zwi-
222 Platon Politeia 500d 10–e 4: „Ἀλλ΄ ἐὰν δὴ αἴσθωνται οἱ πολλοὶ ὅτι ἀληθῆ περὶ αὐτοῦ λέγομεν͵ χαλεπανοῦσι δὴ τοῖς φιλοσόφοις καὶ ἀπιστήσουσιν ἡμῖν λέγουσιν ὡς οὐκ ἄν ποτε ἄλλως εὐδαιμονήσειε πόλις͵ εἰ μὴ αὐτὴν διαγράψειαν οἱ τῷ θείῳ παραδείγματι χρώμενοι ζωγράφοι;“ 223 Laut Christoph Horn ist Platon der Erste in der Geschichte der Philosophie, der eine „teleologische Glückstheorie“ entwickelt, vgl. dazu Antike Lebenskunst, S. 77. 224 Vgl. dazu Hans-Joachim Krämer: „Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon“, S. 261.
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schen seinen philosophischen und seinen politischen Theorien berücksichtigen, da sie, wie die angeführten Beispiele und die in diesem Kontext relevanten platonischen Dialoge zeigen, eng miteinander verknüpft sind.²²⁵ Lässt man dieses außer Acht und behandelt Platons politische Theorien ohne ihren philosophischen Kontext, bleiben viele ihrer Aspekte unverständlich und eine angemessene Kritik seines Denkens unmöglich. Ein Letztes, auf das in diesem Zusammenhang eingegangen werden soll, ist die in der Forschung ebenfalls viel diskutierte Frage nach der Absicht, die Platon bei der Abfassung seiner beiden die Gestaltung einer Polis diskutierenden Werke, der Politeia und der Nomoi²²⁶ verfolgte. Hat Platon diese Werke als Anleitungen zur Verwirklichung konkreter Poleis gedacht oder sind die in ihnen entwickelten Modelle als „Utopien“ zu begreifen, die als solche keinen Ort in der diesseitigen Welt haben? Die Schwierigkeit, in dieser Frage eine Entscheidung zugunsten einer der beiden genannten Möglichkeiten zu fällen, besteht vornehmlich darin, dass sich für beide Interpretationsmöglichkeiten eine Reihe von Stellen aus den besagten Werken anführen lassen.²²⁷ Daher erscheint es sinnvoll, eine Lösung zu suchen, die imstande ist, beide der besagten Aspekte – die von Platon angenommene Möglichkeit der Verwirklichung seiner Polis und ihren utopischen Charakter – zu integrieren. Einen Ansatzpunkt zur Entwicklung einer solchen Lösung bietet die platonische Bestimmung der von ihm entworfenen Polis als παράδειγμα.²²⁸ Der Begriff des παράδειγμα bietet hier insofern einen Ansatzpunkt, als die Beschreibung der von Platon ebenfalls als „Vorbild“ oder „Muster“ begriffenen Idee zeigen kann, wie etwas, das im Sinne eines utopischen in der diesseitigen Welt keinen Ort hat, dennoch in einem Verhältnis zur Welt des Raumes und der Zeit zu stehen vermag. Obwohl die platonische Polis nämlich selbst keine Idee ist, trägt sie doch in vielerlei Hinsicht die Züge einer solchen;²²⁹ setzt sie
225 In recht ausführlicher Weise ist diese Beziehung in Ada Babette Hentschkes Politik bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der „NOMOI“ im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles, Frankfurt am Main 1971, herausgearbeitet worden. 226 Auf Platons Nomoi ist bisher nicht im speziellen eingegangen worden, da die für das hier Verhandelte relevanten Grundelemente der politischen Theorie Platons, wie er sie in der Politeia entwickelt, auch in den Nomoi Anwendung finden. Dieses gilt, auch wenn Platon die in der Politeia entworfenen Grundzüge seiner politischen Theorie in den Nomoi in einigen wichtigen Punkten wie beispielsweise der Übertragung der Herrschaft auf die Gesetze, denen in den Nomoi alle, auch die Herrschenden, unterworfen sind, weiterentwickelt. 227 Vgl. dazu Reinhart Maurer: Platons ‚Staat’ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik, Berlin 1970, S. 291–299; zudem Thomas Alexander Szlezáks Einführung zu Platon: Der Staat – Politeia. Griechisch-deutsch, übersetzt von Rüdiger Rufener, Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht und Literaturhinweise von Thomas Alexander Szlezák, Düsseldorf 2000, S. 938–940. 228 Vgl. Platon Politeia 472c 5; 592b 3. 229 Vgl. Paul Friedländer: Platon, Bd. 3: Die platonischen Schriften. Zweite und dritte Periode, Berlin 1975, S. 128f.; auch Reinhart Klemens Maurer: Platons ‚Staat‘ und die Demokratie. Historisch-systema-
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doch in ihrer Vollkommenheit ein „ideales“ Vorbild, dem sich der Mensch bei der Gestaltung einer Polis in größtmöglicher Weise anzunähern versuchen soll.²³⁰ Dass dieses παράδειγμα dabei nicht in vollkommener Weise so verwirklicht werden kann, wie es beschrieben wird, liegt für Platon in der Natur der Sache (φύσιν ἔχει), weshalb man sich damit zufriedengeben solle, herauszufinden, wie eine Polis so eingerichtet werden könne, dass sie der beschriebenen „Idealpolis“ am meisten nahekommt.²³¹ Ist folglich die „Musterpolis“, die ihren Ort „im Himmel“ (ἐν οὐρανῷ) hat, nach Platon als solche in der Welt – außer ἐν λόγοις – zwar nicht vorzufinden, steht sie gleichzeitig dennoch in einem Verhältnis zu dieser Welt, indem sie für denjenigen, der sein Leben nach ihr ordnen will, als ein παράδειγμα ἐν οὐρανῷ dienen kann.²³² Es muss nun auf den ersten Blick hin betrachtet widersprüchlich erscheinen, wenn Platon in der Politeia auch davon spricht, dass es trotz vieler mit diesem Projekt verbundener Schwierigkeiten nicht unmöglich und in jedem Fall erstrebenswert sei, die zuvor als utopisch charakterisierte Idealpolis zu verwirklichen. Begreift man Platons Aufforderung zur Realisierung der von ihm entworfenen Polis jedoch vor dem Hintergrund ihrer Bestimmung als eines ideengleichen Vorbildes, zeigt es sich, dass seine Forderung als eine „dynamische“ zu begreifen ist, die zu einem fortwährenden Versuch der Annäherung an das Ideal aufruft, ohne davon auszugehen, dass dieses je vollkommen zu verwirklichen wäre.²³³ Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Annahme der Unmöglichkeit einer vollkommenen Verwirklichung der „Musterpolis“ nicht den Schluss zu ziehen erlaubt, dass sie überhaupt nicht zu verwirklichen sei; würde doch Platon auch die im Rahmen der schrittweise vollzogenen Annäherung an das Ideal geordneten Poleis in gewisser Weise als verwirklichte Formen der Idealpolis akzeptieren. Dieser Gedanke legt sich nahe, wenn man diese Poleis in Analogie zu den Gegenständen der δόξα begreift, die aufgrund ihrer Mittelstellung zwischen dem Sein und dem Nichtsein einerseits Anteil haben am Vollkommensein der Ideen, andererseits jedoch hinter diesen zurückbleiben. Ebenso stehen auch die am Vorbild der vollkommenen Polis ausgerichteten Poleis in der Mitte zwischen der Vollkommenheit
tische Überlegungen zur politischen Ethik, (= Univ. Habil.-Schr., Stuttgart, 1969), Berlin 1970, S. 296. 230 Vgl. Reinhart Maurer: Platons ‚Staat’ und die Demokratie, S. 296f. Im Dialog Politikos spricht Platon in diesem Kontext auch davon, dass ein solcher Staat den idealen „nachahmen“ (μιμνήσεσθαι) solle, vgl. dort 300e 11–301a 3. Dieses sei z. B. gegen Otfried Höffe bemerkt, der sich gegen die Möglichkeit einer solchen schrittweisen Annäherung an das Ideal der vollkommenen Polis ausspricht, vgl. Otfried Höffe: „Einführung in Platons Politeia“, in: Platon: Politeia. Klassiker Auslegen Bd. 7, hrsg. von Otfried Höffe, Berlin 1997, S. 21: „Diese Realisierbarkeit darf man aber nicht zu realistisch-programmatisch verstehen. Platon stellt ausdrücklich ein paradeigma, ein ideales Vorbild, auf (V 472e), das in dieser Form lediglich „im Himmel“ bestehe (IX 592b) und dem man sich keineswegs mehr und mehr annähern kann; denn entweder herrschen die Philosophen oder nicht.“ 231 Vgl. Platon Politeia 473a 1–b 2. 232 Vgl. ebd. 592a 10–b 6. 233 Dementsprechend steht sie in Parallele zu der platonischen Forderung nach der Verwirklichung der εὐδαιμονία des Einzelnen, die, wie erklärt, ebenfalls in ihrer Dynamik zu verstehen ist.
Die Idee als παράδειγμα für Theorie und Praxis
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der Idealpolis und dem Defizitären aller sich in Raum und Zeit befindlichen Gegenstände, was allerdings kein Hinderungsgrund ist, sie zumindest mit Blick auf einige ihrer Züge als Verwirklichungen der Musterpolis zu betrachten. Platons Bestimmung der von ihm entworfenen Polis als eines παράδειγμα lässt darüber hinaus noch einen weiteren Aspekt dessen erkennen, worauf die Politeia als ganze abzielt. So kann man die von Platon beschriebene Polis auch insofern als ein „Vorbild“ oder „Muster“ begreifen, als sie zeigt, in welcher Weise ein sicheres Wissen von Relevanz für die menschliche Praxis ist. Platon bringt dies im näheren dadurch zum Ausdruck, dass er darlegt, wie die Praxis der Philosophie in Gestalt der θεωρία die Maßstäbe für alle anderen Formen der Praxis erkennt und sie so für diese setzt. Zugrunde gelegt ist dabei der bereits angesprochene Gedanke, dass die θεωρία nicht in einem Gegensatz zur Praxis stehe, sondern in ihrer Eigenschaft als die „Betrachtung“ der Ideen eine besondere Form derselben, nämlich die der Philosophen, darstelle. Indem diese im Rahmen des dialektischen Vollzugs der „theoretischen Praxis“ ihre Aufmerksamkeit auf die obersten Grundsätze von allem richten und dabei vor allem das „höchste Lehrstück“, die Idee des Guten in den Blick nehmen, zeigt ihre Praxis auf, worin notwendigerweise das Letztziel allen menschlichen Handelns besteht und wie dieses Ziel durch das gerechte Leben zu verwirklichen ist. Dafür, wie Platon sich die Umsetzung des durch die Betrachtung der Ideen gewonnen Wissens in die Praxis vorstellt, gibt die Politeia, wie nun schon mehrfach zuvor angedeutet worden ist, ein Beispiel. Passend dazu beginnt das Werk mit dem Verb κατέβην, das schon hier am Anfang an das im Dialog immer wiederkehrende Motiv des dem Philosophen gebotenen Abstieges von den Höhen der Ideenwelt in unsere raum-zeitliche Welt erinnert. Auf die Ordnung der Ideenwelt blickend, soll der herabsteigende Philosoph Platon zufolge gemäß seinem Wissen um die obersten Maßstäbe auch die Ordnung unserer Welt bestimmen. In der Politeia sind es dabei vor allem die Ideen der Gerechtigkeit und die hinter dieser wie hinter allen Ideen stehende Idee des Guten, die sowohl den Dialog als auch die in ihm entworfene Polis zusammenhalten und in Kenntnis derer gewissermaßen Platon selbst mit dem Verfassen seines Werkes zu uns herabsteigt und darlegt, wie die besagten Ideen zur Ordnung der Menschen im Großen wie im Kleinen einsetzbar sind. So wird in der Politeia ein λόγος entwickelt, der anhand des Beispiels der vollkommenen Polis zeigt, wie eine Vermittlung der Bereiche der Ideenwelt auf der einen und der sinnlich wahrnehmbaren und durch Raum und Zeit bestimmten diesseitigen Welt auf der anderen Seite denkbar ist. Die Frage der konkreten Verwirklichbarkeit der in der Politeia als παράδειγμα dargestellten Polis spielt dabei in dieser Hinsicht betrachtet keine große Rolle; stellt doch für Platon genau genommen nicht die Polis als solche das Vorbild dar, sondern vielmehr der Umstand, dass sie nach der durch die Ideen vorgegebenen Ordnung ausgerichtet ist. Die jeweiligen sich in der raum-zeitlichen Welt findenden Poleis und das eigene Leben in Entsprechung zu dem dialektisch erworbenen Wissen um die Ideen zu ordnen, das ist das Eigentliche, wozu Platons Politeia aufruft und worin das Beispielhafte der Musterpolis und der sie Gestaltenden besteht. Dass es Platon dabei nicht in
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Platon – die Herrschaft der Norm
erster Linie darum geht, die von ihm in seinem Dialog beschriebene Polis quasi „eins zu eins“ zu verwirklichen, zeigt dabei bereits die Tatsache, dass er sich zu auffallend vielen Dingen, die für die konkrete Umsetzung der Idealpolis zu wissen wichtig wären, nicht äußert.²³⁴ Setzt man all dieses voraus, könnte man die Politeia als ein Vorbild dafür begreifen, wie es möglich ist, sich an einem vollkommenen Vorbild zu orientieren. Wird der Grundansatz der Politeia in dieser Weise interpretiert, zeigt sich deutlich, warum sie zu Recht oft als das Hauptwerk Platons bezeichnet wird; setzt sie doch das zentrale Thema der platonischen Philosophie um: die Frage, wie ein sicheres Wissen als praxisrelevant erwiesen werden kann. Wie die vorangegangene Betrachtung einiger Aspekte seiner Philosophie gezeigt hat, besteht der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage für Platon in der Erkenntnis der Ideen, aus welcher sich ein absolut sicheres, einsehbares und praxisrelevantes Wissen ergibt. So vermag derjenige, der über ein Wissen über die Ideen, und zwar vor allem über die als ἀρχὴ τοῦ παντός begriffene Idee des Guten, verfügt, nicht nur die Frage beantworten, was wir sicher wissen können, sondern auch, was wir tun sollen, um die εὐδαιμονία, das Ziel allen menschlichen Strebens, zu erlangen. Konsequenterweise ist das auf die Ideen bezogene Wissen mithin insofern als ein allgemeines zu betrachten, als es sowohl anzeigt, wie es ist, als auch, wie es, durch unser Handeln gestaltet, im Kleinen wie im Großen sein soll. Indem die Idee des Guten die Grundlage für die Erkenntnis aller anderen Ideen bildet, die die Gegenstände und Kriterien alles sicheren theoretischen und praktischen Wissens darstellen, und darüber hinaus auch das höchste Ziel des menschlichen Strebens markiert, ist sie nach platonischem Verständnis in der Tat als das „Prinzip von allem“ zu begreifen. „Alles“, das heißt in diesem Zusammenhang „das Wissen um alles“, sei es theoretisch, sei es praktisch, gründet letztlich in dieser Idee und hat diese zur Voraussetzung. Gegen Protagoras erhebt Platon folglich den Anspruch zeigen zu können, dass nicht der Mensch „das Maß des Urteils über alle Dinge“ ist.²³⁵ Vielmehr sind es platonisch gedacht die Ideen und an ihrer Spitze die Idee des Guten, die die Kriterien für die Urteile im Bereich des theoretischen und des praktischen Wissens und somit des Wissens im Allgemeinen abgeben.²³⁶
234 Ein solcher Versuch der konkreten Gestaltung einer πόλις mit genauen, auf Einzelfragen und Einzelfälle bezogenen Gesetzen kann m. E. erst in den Nomoi erkannt werden, nicht aber schon in der Politeia. 235 Vgl. dazu Platon Nomoi 716c 4f., wo der mit der höchsten Idee identisch gedachte Gott als das Maß aller Dinge bestimmt wird. 236 In äußerst kunstvoller Weise veranschaulicht das Proömium der Politeia, dass Platon zufolge die von Parmenides noch als getrennt betrachteten Bereiche der ἐπιστήμη auf der einen und der δόξα auf der anderen Seite mit Hilfe der Ideenerkenntnis in ein Verhältnis zueinander gebracht werden können. So ist zum Beispiel zu berücksichtigen, dass Sokrates, nachdem er nach Piräus hinabgestiegen (!) ist – auf das Motiv des Abstieges ist bereits eingegangen worden – sowohl der Göttin opfert als auch
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Mit der Einsicht in die Ideen ist Platon seines Erachtens imstande, die von der Sophistik entwickelten Einwände gegen die Möglichkeit der Einsicht in ein sicheres und zudem praxisrelevantes Wissen zu entkräften. Zumindest seinem Selbstverständnis gemäß kann Platon daher als der Erste betrachtet werden, dem eine Einsicht in ein „Prinzip von allem“, die „Idee des Guten“, gelingt. Den Titel des „Prinzips von allem“ trägt die Idee des Guten dabei insofern zu Recht, als sich anhand ihrer ein allgemeiner, alle Formen des Wissens umfassender Begründungszusammenhang für die Unterscheidungen zwischen dem, wie es ist und wie es nicht ist, und zwischen dem, wie zu handeln ist und wie nicht zu handeln ist, einsehen lässt.²³⁷ Vieles von dem, was in den vorausgehenden Abschnitten mit Blick auf den Prinzipiencharakter des platonischen Wissens ausgeführt worden ist, kann man mit den Worten Werner Jaegers in folgender Weise zusammenfassen: Gott ist das Maß aller Dinge, der in zugespitzter Wendung gegen den Satz des Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge, die absolute Norm auf den Thron der Welt setzt. Denn dieser platonische Gott ist das Gute an sich, die reine Monas, das Maß der Maße. Hier wird die Politik und Ethik zur Theologie, sie steht an der Spitze der theoretischen Philosophie, Sein und Sollen sind, im absoluten Sinne, identisch, das menschliche Tun geschieht im unmittelbaren Hinblick auf den höchsten Wert und Sinn der Welt.²³⁸
Noch zu Platons Lebzeiten sollte nun jedoch das von ihm als prinzipiell erachtete Wissen einer Kritik unterzogen werden. Interessanterweise sollte sich dabei allerdings nicht ein Sophist, sondern einer seiner langjährigen Schüler in besonderer Weise hervortun.
das dort veranstaltete Fest betrachtet. Genauer ausgearbeitet worden ist dieser und andere für das Verständnis des Proömiums der Politeia wesentliche Aspekte in Thomas Jürgasch: „‚Ein Abstieg als Aufstieg‘. Einige Bemerkungen zum Proömium der Politeia Platons“, S. 57–67. 237 Wie gezeigt worden ist, kann die Idee des Guten, so sei nochmals erinnernd gesagt, Platon zufolge deswegen als das Prinzip von allem begriffen werden, weil sie das Sein und die Erkennbarkeit der Ideen und mithin die jeweiligen Maßstäbe der Praxis begründet und darüber hinaus auch das Letztziel allen Strebens darstellt. 238 Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Zürich 1985, S. 90.
7 Aristoteles Die Notwendigkeit, das platonische Konzept eines sicheren und für alle Formen menschlicher Praxis relevanten Wissens zu kritisieren, ergab sich für Aristoteles aus einer Vielzahl von Gründen. Den Dreh- und Angelpunkt der von ihm gegen Platon vorgebrachten Einwände stellt dabei seine Auseinandersetzung mit der das Zentrum der platonischen Philosophie bildenden Ideenlehre dar.
7.1 Aristoteles’ Ideenkritik Hinsichtlich der aristotelischen Kritik an der Ideenlehre, die viel zu umfassend ist, als dass sie hier in ihrer Gesamtheit gewürdigt werden könnte, lassen sich dabei vor allem zwei Aspekte hervorheben, die für die in dieser Arbeit verhandelte Frage nach einem für die Praxis relevanten prinzipiellen Wissen von Bedeutung sind. So vertritt Aristoteles die Position, dass sich weder die von Platon angenommene Notwendigkeit des Seins der Ideen noch die Praxisrelevanz des bezüglich der Ideen eingesehenen Wissens aufzeigen lasse. Mit diesen beiden Thesen zielt die Kritik des Aristoteles auf das Herz der platonischen Philosophie, da sie ihr den Charakter eines Prinzipienwissens abspricht; bestreitet sie doch sowohl die Sicherheit als auch die Allgemeinheit des von Platon vorgetragenen Wissens. Wie Aristoteles dabei im genaueren argumentiert und welche Konsequenzen er aus seiner Beweisführung zieht, soll im Folgenden erörtert werden. Bezüglich des ersten der beiden genannten Aspekte der aristotelischen Ideenkritik schreibt Ingemar Düring: „Der Haupteinwand, der wie ein roter Faden durch seine Gegenargumente geht, ist, daß die akademischen Beweise für die Ideenlehre nicht das Dasein von Ideen erweisen, sondern nur die Möglichkeit, ein einziges Prädikat von vielen Dingen auszusagen.“¹ Dasselbe Argument begegnet auch an anderen Stellen in Aristoteles’ Œuvre, so zum Beispiel in den Analytica Posteriora, in denen es heißt: Dass es folglich Formen im Sinne eines Einen neben den vielen Dingen gibt, ist nicht notwendig, wenn es die Möglichkeit des Aufweises geben soll; dass es allerdings wahr ist, zu sagen, dass es ein Eines gibt, das in Bezug auf viele Dinge zutrifft, das ist notwendig.²
Obwohl es, wie der Kontext dieser Stelle zeigt, Aristoteles hier hauptsächlich um eine Untersuchung dessen geht, unter welchen Bedingungen ein „Aufweis“ (ἀπόδειξις)
1 Ingemar Düring: Aristoteles, S. 246; siehe auch Gail Fine: On Ideas, S. 103–119. 2 Aristoteles Zweite Analytik 77a 5–8: „Εἴδη μὲν οὖν εἶναι ἢ ἕν τι παρὰ τὰ πολλὰ οὐκ ἀνάγκη͵ εἰ ἀπόδειξις ἔσται͵ εἶναι μέντοι ἓν κατὰ πολλῶν ἀληθὲς εἰπεῖν ἀνάγκη.“
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zustande kommt, birgt diese Passage dennoch oder vielleicht gerade deswegen auch eine ernst zu nehmende Spitze gegen die platonische Ideenlehre. Inwiefern ist dem so? Spricht Aristoteles hier von einem „Aufweis“, so zielt dies, allgemeiner gefasst, auf die Frage nach der Begründbarkeit von Wissen, die deswegen eine zentrale Rolle spielt, weil sie ein Wissen erst zu einem solchen macht. Auch Aristoteles steht damit in der philosophischen Tradition der Forderung des λόγον διδόναι, auf die im Rahmen dieser Arbeit schon einige Male eingegangen worden ist. Wissen ist für Aristoteles wie auch schon für Platon stets begründet, weshalb er der Frage, wie eine solche Begründung und die dazu gehörigen Gründe gedacht werden können, eine große Bedeutung zumisst. Platon hatte in diesem Zusammenhang die Meinung vertreten, dass nur der Dialektiker aufgrund seiner Einsicht in die Ideen in der Lage sei, ein begründetes Wissen einzusehen, da er mit seinem Ideenwissen in Kenntnis der obersten, als vollkommen sicher und durch nichts weiter begründet gedachten Maßstäbe sei. Genau an diesem Punkt der behaupteten Sicherheit des über die Ideen einsehbaren Wissens setzt nun die aristotelische Kritik an. Sie tut dies, indem sie, wie das eben angeführte Zitat aus den Analytica Posteriora zeigt, bestreitet, dass es notwendig sei, derartige maßstäbliche „Formen“ als abgetrennt³ existierende anzunehmen, damit die Möglichkeit der Begründung von Wissen gewährleistet werde. Es fällt dabei auf, dass Aristoteles Platons Argumentation für die Annahme von Ideen hier vor allem vor einem erkenntnistheoretischen Hintergrund betrachtet. Sinnvoll, so vorzugehen, erscheint dies unter anderem deswegen, weil Platon selbst an einigen Stellen Argumente anführt, die die Ideen als die Grundlage allen begründeten Wissens zu erweisen suchen. Im Dialog Parmenides beispielsweise lässt er Sokrates erklären, dass jemand, der nicht zugeben will, dass es Ideen gibt, keine Bezugspunkte für sein Denken habe und die Möglichkeit des Betreibens der Dialektik zerstören werde. Kann nun die Dialektik als eine auf die Ideen ausgerichtete Wissenschaft auch als die Grundlage für die Einsicht in ein begründetes Wissen im Allgemeinen betrachtet werden, so ergibt sich daraus, dass platonisch gedacht mit der Leugnung der Existenz der Ideen auch die Möglichkeit der Einsicht in ein begründetes Wissen aufgehoben wird.⁴ Gegen diese Position wendet Aristoteles ein, dass die von Platon behauptete Notwendigkeit nicht bestehe. Für einen „Aufweis“ zur Begründung einer als Wissen behaupteten Kenntnis sei es nicht notwendig, jeweils ein „Eines neben den vielen Dingen“ (ἕν τι παρὰ τὰ πολλά), sondern nur ein „Eines, das in Bezug auf Vieles [zutrifft]“ (ἓν κατὰ πολλῶν) anzunehmen. In der von ihm typischerweise verwendeten Terminologie führt Aristoteles hier aus, dass es für die Begründung von Wissen
3 Der in diesem Zusammenhang von Aristoteles verwendete Begriff ist χωριστόν bzw. χωρισμός. 4 Denkt man an dieser Stelle mit Platon weiter, so hat dies zur Folge, dass die Leugnung der Ideen sich nie im Sinne eines (begründeten) Wissens darstellen ließe, da die Ideen ja gerade die Bedingung für die Einsicht in ein Wissen im strengen Sinne des Wortes, das heißt der ἐπιστήμη, darstellen.
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nicht notwendig sei, jeweils eine von den Einzeldingen abgetrennt bestehende Idee anzusetzen, sondern nur ein „Allgemeines“ (καθόλου), das zwar von mehreren Dingen ausgesagt wird, dem jedoch als einem solchen keine von den Einzeldingen gesonderte Existenz zukommt.⁵ Wie hier deutlich wird, geht auch Aristoteles – wie zuvor bereits Parmenides, Sokrates und Platon – davon aus, dass nicht das Einzelne, sondern das Allgemeine den Gegenstand von Wissen darstelle und dass, wie die zwei Letztgenannten betonen, dem Allgemeinen eine besondere Rolle bei der Begründung von Wissen zukomme. Für den diesen Standpunkt teilenden Aristoteles ergibt sich dies daraus, dass das „Allgemeine“ als ein „Mittleres“ (μέσον) zu dienen vermag, das im Rahmen einer jeden ἀπόδειξις notwendig vorauszusetzen ist.⁶ Wenngleich hier eine bestimmte Kontinuität im Gedankengang festzustellen ist, vertritt Aristoteles anders als Platon und in gewisser Weise ähnlich wie Sokrates⁷ die Auffassung, dass das „Allgemeine“ nicht ein von den vielen Einzeldingen Unterschiedenes und an sich Bestehendes bezeichne. Vielmehr kommt dem „Allgemeinen“ Aristoteles zufolge nur ein „logisches Sein“ zu, das sich als das Ergebnis einer ἐπαγωγή darstellt.⁸ Mit Blick auf die Argumente, welche die Vertreter der Ideenlehre für eine separate Existenz der Ideen anführen, merkt Aristoteles an, dass keines dieser Argumente in der Lage sei, die Notwendigkeit einer solchen Annahme zu erweisen. So schreibt er: Ferner [ist] bezüglich der Weisen, mit denen wir zeigen, dass die Ideen sind, [zu bemerken], dass sich dieses mit keiner [dieser Weisen] zeigen lässt. Aus einigen nämlich ergibt sich kein notwendiger Schluss, aus anderen ergibt sich, dass es Ideen von Dingen gibt, von denen wir keine Ideen annehmen.⁹
Dass es an sich bestehende Ideen gebe, ist folglich laut Aristoteles nichts anderes als eine Behauptung Platons, für deren Wahrheit sich kein zwingender Grund anführen lässt, was zur Folge hat, dass die Ideenlehre damit in den Bereich der δόξα gerückt wird.¹⁰ Mithin könnte ein Sophist wie Protagoras gegen Platon argumentieren, dass
5 Vgl. dazu Ingemar Düring, Aristoteles, S. 247, mit Verweisstellen auf Alexander von Aphrodisias. 6 Vgl. dazu Harold Cherniss: Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, Baltimore 1944, S. 71f. In welcher Weise eine ἀποδείξις ein solches Mittleres voraussetzt, ist bereits erläutert worden. 7 Vgl. dazu Aristoteles Metaphysik 1078b 30f.: „ἀλλ΄ ὁ μὲν Σωκράτης τὰ καθόλου οὐ χωριστὰ ἐποίει οὐδὲ τοὺς ὁρισμούς.“ 8 Zum Begriff der ἐπαγωγή, der im Deutschen oft ein wenig unpräzise mit dem von dem lateinischen „inductio“ herkommenden Wort „Induktion“ wiedergegeben wird, vgl. Kurt von Fritz: „Die epagoge bei Aristoteles“, (= Sitzungsbericht der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. PhilosophischHistorische Klasse), München 1964. 9 Aristoteles Metaphysik 990b 8–11: „ἔτι δὲ καθ΄ οὓς τρόπους δείκνυμεν ὅτι ἔστι τὰ εἴδη͵ κατ΄ οὐθένα φαίνεται τούτων· ἐξ ἐνίων μὲν γὰρ οὐκ ἀνάγκη γίγνεσθαι συλλογισμόν͵ ἐξ ἐνίων δὲ καὶ οὐχ ὧν οἰόμεθα τούτων εἴδη γίγνεται.“ 10 In gewisser Weise hatte der Mangel an Notwendigkeit auch schon ein Problem für Sokrates’ Position dargestellt. Wie bereits ausgeführt worden ist, ist die sokratische These, dass es notwendig sei, zu wissen, was X ist, um Aussagen über X machen zu können, insofern problematisch, als nicht einzuse-
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die Auffassung, es gebe Ideen, zwar für ihn, Platon, wahr sein mag, dass jedoch kein notwendiger Grund anzuführen sei, der einen anderen Menschen dazu zwingen könnte, diese Meinung zu teilen – außer natürlich der „Gewalt“ (βίας), die Platon selbst als „Überzeugungsmittel“ abgelehnt hatte.¹¹ Wollte nun ein Anhänger der platonischen Ideenlehre dagegen einwenden, dass auch der Sophist ein Wissen um ein „Allgemeines“ voraussetzen müsse, wenn er seine Auffassung als begründet darstellen will, könnte – all dies ist selbstverständlich rein hypothetisch gesagt – der Sophist sich in der folgenden Weise zu verteidigen versuchen. Er könnte zugeben, dass er zwar eine solche allgemeine Auffassung voraussetzen müsse, gleichzeitig aber einwenden, dass die inhaltliche Bestimmung der Auffassung Gegenstand der Beratung sei. Das heißt: Auch wenn ein Sophist im Rahmen einer Beratung darüber, was in einem Fall das bessere ist, zunächst bestimmen muss, was „gut“ ist, um seine Auffassung in einen Begründungszusammenhang stellen zu können, ist dennoch die inhaltliche Bestimmung des „Guten“ Gegenstand der Auffassung der Sich-Beratenden. Auch der Umstand, dass das, was dann jeweils inhaltlich als „gut“ gesetzt wird, nie vollkommen gut im Sinne der Idee des Guten sein wird, bedroht den Standpunkt des Sophisten dabei nicht; kann er doch anführen, dass er auch gar nicht behaupte, dass irgendetwas als gut Gesetztes vollkommen gut sei, sondern nur jeweils besser oder schlechter. Der dargestellte Aspekt der aristotelischen Kritik an der Ideenlehre zeigt, dass Platons Anspruch, ein sicheres Prinzipienwissen eingesehen zu haben, gerade in Bezug auf die Sicherheit dieses Wissens zu hinterfragen ist. Nimmt man nämlich mit Platon an, dass es Ideen gebe, wird man auch zugeben müssen, dass es widersinnig sei, zu behaupten, das vollkommen Gute, um bei diesem Beispiel zu bleiben, sei in seinem Gutsein vergänglich und könne aufhören zu existieren. Die Situation stellt sich allerdings anders dar, wenn jemand behauptet, es gebe überhaupt keine Idee des Guten. Dieses als unsinnig und damit die Annahme der Existenz der Idee als notwendig erweisen zu wollen, ist, wie Aristoteles betont, ungemein schwieriger, ja seines Erachtens sogar unmöglich. Obwohl nun Aristoteles Platon in der beschriebenen und in vielerlei anderen Weisen kritisiert, bedeutet dies nicht, dass er sich auf den Standpunkt der Sophisten stellt und die Meinung vertritt, es sei unmöglich, ein prinzipielles Wissen einzusehen. Er kritisiert an seinem Lehrer nicht dessen Versuch, eine Einsicht in ein derartiges sicheres Wissen zu gewinnen, sondern Platons Position bezüglich der Frage, was als der Gegenstand eines solchen Wissens angesehen werden kann. Infolgedessen
hen ist, weshalb dieses notwendigerweise zutreffen sollte. Dass es nützlich sein mag, über ein solches Wissen zu verfügen, ist zwar nicht zu bestreiten, eine Notwendigkeit ist jedoch hier nicht zu erkennen. 11 Die Position, dass das Durchsetzen der eigenen Auffassung unter Anwendung von Gewalt legitim sei, schreibt Platon vor allem dem im Gorgias auftretenden Sophisten Kallikles zu.
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bemüht sich Aristoteles, ein Prinzipienwissen einzusehen, das anders als das platonische unter anderem auch die Eigenschaft der Notwendigkeit an sich trägt.
7.2 Aristoteles’ Einsicht in die ἀρχὴ τοῦ παντός 7.2.1 Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch Bevor Aristoteles sich der Bestimmung der von ihm eingesehenen „Prinzipien von allem“ zuwendet, betrachtet er in einem ersten Schritt, wie ein solches Prinzip im Allgemeinen zu charakterisieren wäre.¹² Als ein Prinzip, so Aristoteles, müsse das Anzugebende vollkommen „sicher“ (βεβαιοτάτη)¹³ sein und es müsse unmöglich sein, sich über es zu täuschen (περὶ ἥν διαψευσθῆναι ἀδύνατον). Zudem, fährt Aristoteles fort, sei ein Prinzip als dasjenige zu kennzeichnen, das „am meisten erkennbar“ (γνωριμωτάτη) und „voraussetzungslos“ (ἀνυπόθετον) ist, während es als die ἀρχή aller anderen „Axiome“ (ἀξιώματα) bei allem „Erkennen“ (γνωρίζειν) vorauszusetzen sei.¹⁴ Dass ein solches „Prinzip von allem“ das sicherste sei, das ist laut Aristoteles „offenbar“ (δῆλον), welches dieses Prinzip jedoch ist, das müsse noch angegeben werden.¹⁵ Im eben beschriebenen Sinne sicher, am meisten erkennbar, täuschungsfrei, voraussetzungslos und bei allem Erkennen vorauszusetzen ist nach Aristoteles die Einsicht, [d]ass [es unmöglich ist,] dass dasselbe demselben zugleich und in Bezug auf dasselbe zukommt und auch nicht zukommt (...).¹⁶
Aristoteles zufolge entspricht dieses auch als der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bezeichnete Prinzip allen zuvor genannten Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit von einem Prinzip die Rede sein kann. So ist dieser Satz vollkommen sicher und mithin auch erkennbar, da, wie es das letzte der von Aristoteles genannten Charakteristika eines Prinzips zeigt, auch der Versuch der Bestreitung der Wahrheit
12 Zum Folgenden, vgl. Aristoteles Metaphysik 1005b 11–34. 13 Wörtlich eigentlich „durch- oder ausgeschritten“, was darauf anspielt, dass das Erste Prinzip der erste Grund von allem in einer Kette von Gründen ist und dass man mit der Angabe eines solchen ersten Grundes das Ende der Kette erreicht hat. Auch Platon hatte bei der Bestimmung des mit Hilfe der Dialektik eingesehenen sicheren Wissens das Verb βαίνειν verwendet, um die Erstursächlichkeit und die damit verbundene Sicherheit des Wissens um das den ersten Grund von allem darstellende Prinzip zu betonen. 14 Denn, so Aristoteles Metaphysik 1005b 16f: „(...) was aber jedem, der etwas erkennen will, notwendig ist zum Erkennen, dieses muss er beim Herangehen [bereits] haben“. 15 Vgl. ebd. 1005b 17f. 16 Ebd. 1005b 19f.: „τὸ γὰρ αὐτὸ ἅμα ὑπάρχειν τε καὶ μὴ ὑπάρχειν ἀδύνατον (…).“
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dieses Satzes dieselbe voraussetzen muss; gilt doch der Grundsatz, dass die gesuchte ἀρχή bei allem Erkennen notwendig vorauszusetzen ist. Infolgedessen umfasst dies auch den Versuch des Aufzeigens der Unwahrheit des Prinzips, indem derjenige, der behaupten möchte, der Satz sei nicht wahr, nicht gleichzeitig und in derselben Hinsicht behaupten möchte, dass er wahr sei, was zur Folge hat, dass der Einredende die Richtigkeit des Inhalts des Satzes als gegeben voraussetzen muss.¹⁷ Im Unterschied zu dem auf die Ideen bezogenen Wissen trägt die Einsicht in dieses Prinzip folglich den Charakter der Notwendigkeit an sich, die darin besteht, dass Aristoteles zufolge jedes Erkennen – ja selbst die „versuchte Erkenntnis“ der Unwahrheit des Satzes – notwendig (ἀναγκαῖον) voraussetzen muss, dass der Inhalt des Satzes wahr ist.¹⁸ Mit der Einsicht in dieses Prinzip gewinnt Aristoteles seinem Selbstverständnis gemäß ein vollkommen sicheres Wissen über etwas, das notwendigerweise ist, wie es ist, und das die Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit eine Auffassung darüber, „wie es ist“, wahr sein kann.¹⁹ Daraus ergibt sich, dass das „Kontradiktionsprinzip“ einen völlig sicheren Maßstab darstellt, anhand dessen sich das Erkennen dessen, wie es ist, von dem, wie es nicht sein kann, unterscheiden lässt.²⁰ Kann man nun, wie schon die Betrachtung der parmenideischen Philosophie gezeigt hat, vom „Denken“ im Sinne des νοεῖν streng genommen nur dann sprechen, wenn es nicht selbstwidersprüchlich ist, zeigt es sich des Weiteren, dass das von Aristoteles eingesehene Prinzip auch als das „Prinzip allen ‚Denkens‘“ zu begreifen ist, da sich an ihm das bloße Verwenden von Lauten vom (nicht widersprüchlichen) Denken und Sprechen – kurz gesagt: vom λόγος – unterscheidet.
17 Vgl. Bernhard Uhde: Erste Philosophie und menschliche Unfreiheit, S. 81–83. Der Satz selbst macht für seine Wahrheit keinerlei weiteren Voraussetzungen, weshalb es Aristoteles zufolge nicht möglich ist, seine Wahrheit abzuleiten. Vgl. Aristoteles Metaphysik 1006a 5–28. Dass er wahr ist, zeigt sich vielmehr daran, dass seine Negation insofern unmöglich ist, als sie, wie ausgeführt, schon die Wahrheit des propositionalen Gehalts des Satzes voraussetzt. 18 Die Notwendigkeit eines Sachverhaltes über den Erweis der Unmöglichkeit seiner Negation herbeizuführen, hatten sich, wie bereits gezeigt worden ist, schon Parmenides und Zenon bemüht. Siehe dazu auch Aristoteles’ Formulierung, der gemäß das notwendig sei, was nicht zulässt, dass es sich anders verhalte, vgl. Metaphysik 1015a 33–35: „ἔτι τὸ μὴ ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν ἀναγκαῖόν φαμεν οὕτως ἔχειν.“ 19 Der sogenannte „Satz vom zu vermeidenden Widerspruch“ bringt folglich die notwendigen und nicht die hinreichenden Bedingungen für die Wahrheit von Auffassungen zum Ausdruck. Denn ist es auch notwendig, dass ein Mensch entweder tot oder lebendig ist und dass die Behauptung, er sei beides zur selben Zeit und in derselben Hinsicht, unmöglich wahr ist, so ist damit aufgrund des formalen Charakters des angegebenen Prinzips noch nichts darüber zu sagen, ob der Mensch tatsächlich tot oder lebendig ist. 20 Somit zeigt der Satz, was, um an die Terminologie des Parmenides anzuknüpfen, überhaupt dafür in Frage kommt, ein „Seiendes“ zu sein. Dementsprechend ergibt sich aus dem Satz ein Kriterium, anhand dessen sich mögliche Sachverhalte von unmöglichen Sachverhalten scheiden lassen. Vgl. dazu auch Heribert Boeders Aufsatz: „Das Prinzip des Widerspruchs oder der Sachverhalt als Sachverhalt“, in: Ders.: Das Bauzeug der Geschichte, S. 239–256.
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Wird all dies zusammengenommen, lässt sich festhalten, dass Aristoteles imstande ist, den von den Sophisten vorgetragenen Einwänden gegen die Möglichkeit der Einsicht in ein sicheres und maßstäbliches Wissen zu begegnen und sie zu widerlegen. Auch der Einredende nämlich, so Aristoteles, muss dieses Prinzip voraussetzen, sofern er irgendetwas sagen (λέγειν) will, will er jedoch nichts sagen, dann redet er auch nicht gegen das Prinzip ein.²¹ Zu beachten ist hier, dass Aristoteles zufolge schon derjenige, der überhaupt etwas sagen möchte, der also nach aristotelischem Verständnis in einem λόγος einer Sache etwas zu- oder abspricht, das Kontradiktionsprinzip voraussetzen muss, wenn er überhaupt etwas Sinnvolles, das heißt hier: etwas Nichtselbstwidersprüchliches, vortragen möchte.²² Es ist daher gar nicht nötig, dass jemand behauptet zu wissen, „wie es ist“ oder „wie es nicht ist“, damit das Prinzip greift. Es reicht schon aus, dass der Betreffende überhaupt einen λόγος vorträgt, in welchem er eine Sache einer anderen zuordnet oder aber abspricht. Dass Aristoteles bei seiner Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch sophistische Einwände im Hinterkopf hat, wird, abgesehen davon, dass er die Lehre des Protagoras in diesem Zusammenhang explizit anspricht,²³ deutlich, wenn man Folgendes bedenkt: Ein Sophist könnte sich mit der Behauptung zu verteidigen versuchen, dass er gar nicht aussagen wolle, „wie es ist“, sondern nur, wie es ihm zu sein scheint. In diesem Fall, so könnte man ein mögliches Argument des Sophisten formulieren, griffe das Kontradiktionsprinzip nicht, da er gar nicht beanspruche zu sagen, dass einer Sache etwas, „objektiv betrachtet“, zukomme oder nicht. Indem Aristoteles betont, dass es nicht nötig sei, zu behaupten, etwas sei oder sei nicht (der Fall) im Sinne des Bestehens eines Sachverhaltes, damit das von ihm benannte Prinzip zur Wirkung kommt, zeigt er, dass der Geltungsbereich der ἀρχή auch derartige Fälle der „Meinungsäußerung“ umfasst. Denn für jegliche Rede – auch die, die „nur“ zum Ausdruck bringt, was jemandem scheint – gilt: Sie ordnet eine Sache einer anderen zu und kann nur dann als eine sinnvolle Rede betrachtet werden, wenn nicht zur selben Zeit und in derselben Hinsicht behauptet wird, dass sie die Zuordnung nicht vornehme. Wie hier klar wird, ist es unerheblich, ob der Redende zu wissen meint, „wie es ist“, oder nur seine Auffassung vorträgt; sein λόγος fällt in jedem Fall unter den Maßstab des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch. Solange er nur im Rahmen einer Rede einer Sache eine andere zu- oder abspricht, findet das Prinzip bereits Anwendung. Sagt nämlich Protagoras, wie es ihm zu sein scheint, so will er nicht zur selben Zeit und in selbiger Hinsicht sagen, dass es ihm nicht so zu sein scheine, da er in diesem Fall überhaupt nichts sagen würde und, wie Aristoteles sagt, einer Pflanze gliche.²⁴
21 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1006a 22f. 22 Vgl. ebd. 1006a 18–21. 23 Vgl. ebd. 1009a 6ff. 24 Vgl. ebd. 1006a 14f.
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Beachtet man dies, wird auch deutlich, warum Aristoteles davon spricht, dass die ἀρχή dasjenige sei, was bei allem „Erkennen“ (γνωρίζειν) und nicht bei allem „Wissen“ (ἐπίσταμαι) vorauszusetzen sei. Würde er nämlich Letzteres behaupten und den Geltungsbereich des von ihm eingesehenen Prinzips nicht in dessen Allgemeinheit darstellen, ginge die eben dargelegte fiktive „Verteidigungsstrategie“ der Sophisten auf.
7.2.2 Der νοῦς als ἀρχὴ τοῦ παντός Neben dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, den man mit Aristoteles als das formale Prinzip allen Erkennens begreifen kann,²⁵ gibt Aristoteles noch ein weiteres gewissermaßen inhaltliches Prinzip des „Denkens“ (νοεῖν) und Wissens (ἐπιστήμη) an. Wie dabei vor allem das zwölfte Buch der Metaphysik, unter anderem aber auch die Zweiten Analytiken und die Nikomachische Ethik zeigen, besteht dieses im durch einen „Denkakt“ (νόησις) verwirklichten „Denken“ (νοῦς),²⁶ der die von Aristoteles angegebenen Kriterien für ein Prinzip ebenfalls erfüllt.²⁷ Ebenso wie das Kontradiktionsprinzip ist das „Denken des Denkens“ Aristoteles zufolge aufgrund seiner Möglichkeit, sich reflexiv auf sich selbst zu beziehen und sich dadurch als νόησις der νόησις νοήσεως²⁸ durch sich selbst zu verwirklichen,²⁹ in dem Sinne „voraussetzungslos“ (ἀνυπόθετον), dass es keines anderen bedarf, um zu sein, aktuiert es sich doch dadurch, dass es sich selbst zum Gegenstand nimmt.³⁰ Gleichzeitig stellt der νοῦς Aristoteles zufolge die Voraussetzung für alle anderen Formen des Denkens und begründeten Wissens dar, da er, wie es in De anima heißt, dasjenige ist, mit dessen Hilfe die Seele denkt und Annahmen macht.³¹ Infolgedessen wird man das „Denken“ auch bei dem Versuch, es als nicht seiend zu denken, in
25 Vgl. dazu Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 94. 26 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072a 19–1073a 14; Zweite Analytik 100b 5–17, insbesondere b 15; Nikomachische Ethik VI, 6. 27 Spricht Aristoteles davon, dass der νοῦς ἀρχή sei, so ist zu beachten, dass es sich dabei um den im Rahmen eines „Denkaktes“ (νόησις) verwirklichten νοῦς, also ein „Denken“ handelt. Prinzip ist der „νοῦς“ folglich als ein denkender, was, sprachlich gesehen, dadurch zum Ausdruck kommt, dass es sich bei dem Wort νοῦς um eine kontrahierte Form von νόος handelt. Vgl. A Greek-English Lexicon, compiled by Henry G. Liddell and Robert Scott, S. 1180f. Denkt der νοῦς nicht, so ist er, wie in De anima 429a 24 deutlich wird, nicht verwirklicht, sondern nur der Möglichkeit nach seiend. 28 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1074b 33–35; vgl. zudem ebd. 1072b 19–21. 29 Laut Aristoteles braucht ein jedes Denken ein νοητόν, um von der Potenz in den Akt „bewegt“ zu werden. Vgl. dazu u. a. Metaphysik 1072a 30; vgl. zudem De anima 429a 24. Richtet sich das Denken des νοῦς auf es selbst, dann, so Aristoteles, ist das Denken und das Gedachte dasselbe, wird folglich das Denken zu seinem eigenen, es in den Akt überführenden νοητόν. 30 Damit denkt der νοῦς sein Denken (νόησις), das mithin im Denken (νόησις) des Denkens (νοήσεως) besteht. 31 Vgl. Aristoteles De anima 429a 22f.
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selbstwidersprüchlicher Weise voraussetzen müssen, kann ein solcher Versuch, aristotelisch gedacht, doch nur im Rahmen des νοεῖν vollzogen werden, das allerdings, wie eben angemerkt, ohne den νοῦς nicht möglich ist. Überdies ist zu beachten, dass der Gedanke, dass die sich auf sich selbst richtende νόησις des νοῦς – und mithin er selbst – nicht sei, einen unmöglich haltbaren Selbstwiderspruch beinhaltet. Denn auch im Fall einer solchen Negation des Bestehens des sich selbst denkenden Denkens liegt doch ein eben solches „Denken des Denkens des Denkens“ (νόησις νοήσεως νόησις) vor, da auch im Rahmen der gedachten Negation des Seins der νόησις νοήσεως eben diese zum Gegenstand einer νόησις genommen wird. Infolgedessen ist die Annahme, dass der durch die νόησις der νόησις νοήσεως aktuierte νοῦς nicht sei, insofern selbstwidersprüchlich, als auch dieser Denkakt wieder ein „Denken des Denkens des Denkens“ darstellt. Wie schon im Fall des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch zeigt sich in analoger Weise folglich auch mit Blick auf das Denken: Der Versuch, das Denken gleichsam in Form einer Reflexion als nicht seiend zu denken, ist ein Denkakt des Denkens, woraus sich die eben beschriebene Selbstwidersprüchlichkeit dieses Versuches ergibt.³² Dementsprechend stellt der νοῦς für Aristoteles einen unveränderlichen und daher „höchst erkennbaren“ Gegenstand des Denkens dar, über den man sich nicht täuschen kann³³ und dessen Sein im Sinne des Bestehens des Sachverhaltes des Denkens des Denkens nur in selbstwidersprüchlicher Weise bestreitbar ist.³⁴ Aristotelisch gedacht ist der νοῦς jedoch nicht nur als das Prinzip allen Denkens und Wissens zu begreifen, er ist darüber hinaus auch die ἀρχή, von der der „Himmel“ und die φύσις abhängen.³⁵ Wie die Sprachbilder des Himmels und der φύσις verdeutlichen, kann der νοῦς, mit Aristoteles gedacht, als das Erste Prinzip aller „Bewegung“ (κίνησις) betrachtet werden,³⁶ und zwar als „(...) etwas, das [während es selbst] unbe-
32 Allgemeiner lässt sich damit formulieren, dass das Denken im Unterschied zum Willen nicht imstande ist, sich im Sinne einer negativen Reflexion auf sich selbst zu beziehen. Denn während es dem Willen möglich ist, nicht zu wollen, dass er etwas will, ist es dem Denken unmöglich zu denken, es denke etwas nicht. Überdies ist anzumerken, dass der νοῦς, da er nicht als nicht seiend gedacht werden kann, zu demjenigen gehört, das als ein Notwendiges, wie Aristoteles sich ausdrückt, nicht zulässt, dass es sich anders verhalte. Vgl. dazu Metaphysik 1015a 33–35: „ἔτι τὸ μὴ ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν αναγκαῖόν φαμεν οὕτως ἔχειν.“ 33 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072b 10ff. 34 So hätte man hier einen Sachverhalt eingesehen, dessen Nichtsein im Sinne des Nichtbestehens nicht eingesehen werden kann. An dieser Stelle zeigt sich sehr schön, wie das formale und das inhaltliche Prinzip des Denkens miteinander verschränkt sind. 35 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072b 14. 36 Nach Aristoteles ist der hier mit „Bewegung“ übersetzte Begriff der „κίνησις“ recht weit zu fassen. Wie aus Physik 201a 10f. hervorgeht, umfasst er alle Prozesse, in deren Rahmen etwas, das der Möglichkeit (δύναμις) nach vorliegt, zu seiner Verwirklichung gelangt. Während nun der „Himmel“ für die ewige Bewegung der nicht gewordenen Gestirne steht, bezeichnet „φύσις“ die Form der Bewegung des Werdens und Vergehens der gewordenen Dinge.
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wegt [ist,] bewegt“³⁷. Der Grund dafür, warum Aristoteles dem νοῦς den Rang des von ihm gesuchten und notwendigerweise anzunehmenden³⁸ Ersten Bewegungsprinzips einräumt, besteht darin, dass dieser für sein „Tätigsein“ (ἐνέργεια) und seine damit einhergehende „Verwirklichung“ (ἐντελέχεια) keines anderen bedarf als dieses Tätigseins selbst. Denn wie bereits erklärt, kann sich das νοεῖν als die Form des Tätigseins des νοῦς auf sich selbst richten und damit als νόησις der νόησις νοήσεως³⁹ in reflexiver Form Gegenstand seiner selbst sein. Dies hat zur Folge, dass der νοῦς in seiner Verwirklichung ein von nichts anderem abhängiges und somit autarkes⁴⁰ Tätigsein darstellt, das als das Erste Prinzip aller κίνησις „ewig“ (αἴδιον), „Wesen“ (οὐσία) und „Tätig-“ beziehungsweise „Verwirklichtsein“ (ἐνέργεια) ist; ist es doch widersinnig anzunehmen, dass das Prinzip aller κίνησις irgendeiner Form der Veränderung unterliegen könnte.⁴¹
7.2.3 Der νοῦς als ἐρώμενον – eine höchste Zielursache Dass der νοῦς imstande ist zu bewegen, ohne selbst bewegt zu werden, ist darüber hinaus auch durch die Art und Weise bedingt, in der er bewegt. Die Weise seines Bewegens beziehungsweise Verursachens näher zu definieren, ist dabei insofern wichtig, als es Formen des Bewegens gibt, die immer auch eine Bewegung der Bewegungsursache mit einschließen.⁴² Mit Blick auf die durch den νοῦς verursachte Bewegung schließt Aristoteles dies aus, indem er ausführt, dass dieser wie ein „Geliebtes“ (ἐρώμενον), also gleichsam wie eine höchste „Zielursache“, ein τὸ οὗ ἕνεκα (τινος⁴³), bewege.⁴⁴ Dem Gedanken der Zielursächlichkeit des νοῦς liegt dabei die Vorstellung zugrunde, dass dieser ein vollkommenes, durch nichts anderes verwirklichtes und verwirklichbares „Tätigsein“ (ἐνέργεια)⁴⁵ darstellt, dem sich Aristoteles zufolge alle
37 Aristoteles Metaphysik 1072a 24f. 38 Die Notwendigkeit einer solchen Annahme eines ersten Bewegungsprinzips begründet Aristoteles u. a. in Metaphysik 1071b 3–1072a 18; Physik VI, 10. 39 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1074b 33–35; vgl. zudem ebd. 1072b 19–21. 40 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1177a 27ff. 41 Vgl. ebd. 1072b 7–11. Ließe der νοῦς Veränderung zu, wäre er nicht als das Erste Prinzip aller Bewegung zu begreifen, da er bezüglich seiner eigenen Verwirklichung kausal abhängig und folglich nicht als das Erste in der Kette von Ursache und Wirkung zu denken wäre. 42 Dies gilt beispielsweise für die sogenannte „Materialursache“ – vgl. zu dieser Aristoteles Physik 194b 24 – aber auch für die gemäß der mittelalterlichen Tradition als „bewirkende“ zu benennende Ursache (causa efficiens), die Aristoteles der Sache nach u. a. in Metaphysik 1041a 30 und Physik 194b 29 behandelt. Vgl. zudem Gabriel Richardson Lear: Happy Lives and the Highest Good, S. 74. 43 Zur Unterscheidung zwischen οὗ ἕνεκα τινος und οὗ ἕνεκα τινί, vgl. Metaphysik 1072b 1–3. 44 Vgl. ebd. 1072b 3. 45 Auch hier kommt wiederum der Doppelcharakter des Begriffes der ἐνέργεια zum Tragen, der sowohl den Aspekt des „Tätigseins“ als auch den des „Verwirklichtseins“ umfasst.
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nach ihrer eigenen ἐνέργεια beziehungsweise ἐντελέχεια strebenden Dinge – wenn auch „nur“ in der ihnen möglichen Weise – so weit wie möglich anzunähern suchen. In einer sehr prägnanten Weise herausgearbeitet hat diesen Gedanken Gabriel Richardson Lear, die in ihrem Buch Human Lives and the Highest Good den in diesem Kontext höchst adäquaten Begriff der „teleological approximation“ geprägt hat. Frau Lear schreibt: Central to Aristotle’s cosmology and biology is the teleological relationship of approximation or imitation. It is this relationship of imitation that Aristotle refers to in Metaphysics Λ when he makes the obscure remark that the heavenly spheres act for the sake of the Prime Mover as for an object of love. When we love something, in the sense relevant to the Metaphysics, I will argue, we strive to approximate it insofar as that is possible for us.⁴⁶
Interpretiert man Aristoteles’ Ausführungen zum Ersten Bewegenden in der von Frau Lear vorgeschlagenen Weise, ergibt es sich, dass der νοῦς aus folgendem Grund als das Erste Bewegende Unbewegte zu betrachten ist: Ein jedes, das gemäß seiner „Form“ danach strebt, den Zustand seiner Verwirklichung (ἐνέργεια) zu erreichen und zu bewahren, sucht sich dadurch letztlich dem vollkommen verwirklichten, somit unveränderlichen und ewigen νοῦς anzugleichen. Den göttlichen νοῦς als höchste Zielursache zu begreifen, bedeutet folglich nichts anderes, als das durch diesen repräsentierte vollkommene (Verwirklicht-) Sein als das höchste Ziel allen Strebens zu betrachten. Hinweise darauf, dass Aristoteles die von dem Ersten Bewegenden ausgehende Bewegung in der Tat so verstanden wissen möchte, finden sich an verschiedenen Stellen in seinem Oeuvre. So heißt es beispielsweise in einer von Frau Lear angeführten Stelle aus De anima mit Blick auf Sinnenwesen und Pflanzen: Denn die Ernährungsseele kommt auch den übrigen Wesen zu; sie ist die unterste und allgemeinste Seelenkraft, dank der allen das Leben zukommt. Ihre Leistungen sind Zeugung und Verdauung der Nahrung. Denn die natürlichste Leistung ist bei den lebenden Wesen, die ausgewachsen und nicht verstümmelt sind oder durch Urzeugung entstehen, die, das sie ein anderes gleichartiges erzeugen, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie nach Vermögen am Ewigen und Göttlichen Anteil haben. Denn nach diesem strebt alles, und auf diesen Endzweck hin wirkt gemäß der Natur alles, was wirkt; der Endzweck ist in doppeltem Sinne zu verstehen: als Endzweck von etwas und für etwas. Da diese Wesen am Ewigen und Göttlichen nicht in stetiger Dauer teilhaben können, weil nichts Vergängliches als zahlenmäßig ein und dasselbe dauern kann, so hat jedes, so wie es ihm möglich ist, daran Teil, das eine mehr, das andere weniger, und es dauert nicht als es selbst, sondern wie es selbst, der Zahl nach nicht eines, der Art nach aber eines.⁴⁷
46 Gabriel Richardson Lear: Happy Lives and the Highest Good, S. 72. 47 Aristoteles De anima 415a 25–b 7: „ἡ γὰρ θρεπτικὴ ψυχὴ καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει͵ καὶ πρώτη καὶ κοινοτάτη δύναμίς ἐστι ψυχῆς͵ καθ΄ ἣν ὑπάρχει τὸ ζῆν ἅπασιν. ἧς ἐστὶν ἔργα γεννῆσαι καὶ τροφῇ χρῆσθαι· φυσικώτατον γὰρ τῶν ἔργων τοῖς ζῶσιν͵ ὅσα τέλεια καὶ μὴ πηρώματα ἢ τὴν γένεσιν αὐτομάτην ἔχει͵ τὸ ποιῆσαι ἕτερον οἷον αὐτό͵ ζῷον μὲν ζῷον͵ φυτὸν δὲ φυτόν͵ ἵνα τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχωσιν
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Und in ganz ähnlicher Weise nimmt Aristoteles in Bezug auf Feuer und Erde an: Es wird das Unvergängliche von dem sich in Veränderung Befindlichen nachgeahmt, wie beispielsweise von Erde und Feuer.⁴⁸
Wie die angeführten Stellen verdeutlichen, nimmt Aristoteles an, dass die Bewegung alles dessen, dem ein Strebevermögen zukommt, darauf abzielt, im Zustand der Verwirklichung zu sein und sich in dieser Weise dem νοῦς anzugleichen.⁴⁹ In einer besonderen Weise nun ist es Aristoteles zufolge dem Menschen möglich, sich auf den νοῦς als das höchste Ziel auszurichten und danach zu streben, sich diesem im Sinne der „teleological approximation“ anzunähern. Darauf, dass und wie dieses von Aristoteles gedacht wird und welche Konsequenzen sich aus dieser Einsicht in die Zielhaftigkeit des Ersten Prinzips für die menschliche Praxis ergeben, wird später noch im Rahmen der Betrachtung der aristotelischen Konzeption des „glückseligen Lebens“ genauer eingegangen werden. Zu einem besseren Verständnis dieser Konzeption wird es allerdings dem zuvor nötig sein, einige grundlegende Betrachtungen hinsichtlich des aristotelischen Begriffes ethischer Praxis anzustellen. Mit Blick auf die aristotelische Prinzipienlehre lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Aristoteles mit seiner Einsicht in die beiden Prinzipien des Denkens imstande ist, ein vollkommen sicheres und vermittelbares Wissen einzusehen, anhand dessen man das, wie es notwendigerweise ist, von dem, wie es nicht sein kann, zu unterscheiden vermag. Wie aber steht es mit der menschlichen Praxis? Ist das Prinzipienwissen des Aristoteles auch „geeignet“, eine Unterscheidung erkennen zu lassen zwischen dem, wie man zu handeln hat und wie nicht? Ausgehend davon, was Aristoteles hinsichtlich dieser Fragestellung über die platonische Ideenlehre sagt, soll dies im Folgenden näher untersucht werden.
ᾗ δύνανται· πάντα γὰρ ἐκείνου ὀρέγεται͵ καὶ ἐκείνου ἕνεκα πράττει ὅσα πράττει κατὰ φύσιν (τὸ δ΄ οὗ ἕνεκα διττόν͵ τὸ μὲν οὗ͵ τὸ δὲ ᾧ). ἐπεὶ οὖν κοινωνεῖν ἀδυνατεῖ τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου τῇ συνεχείᾳ͵ διὰ τὸ μηδὲν ἐνδέχεσθαι τῶν φθαρτῶν ταὐτὸ καὶ ἓν ἀριθμῷ διαμένειν͵ ᾗ δύναται μετέχειν ἕκαστον͵ κοινωνεῖ ταύτῃ͵ τὸ μὲν μᾶλλον τὸ δ΄ ἧττον͵ καὶ διαμένει οὐκ αὐτὸ ἀλλ΄ οἷον αὐτό͵ ἀριθμῷ μὲν οὐχ ἕν͵ εἴδει δ΄ ἕν.“ Die Übersetzung dieser Passage stammt aus Aristoteles: Über die Seele, übersetzt von Willy Theiler, Darmstadt 1959, S. 30. 48 Aristoteles Metaphysik 1050b 28f.: „μιμεῖται δὲ τὰ ἄφθαρτα καὶ τὰ ἐν μετα βολῇ ὄντα͵ οἷον γῆ καὶ πῦρ.“ 49 Inwiefern die hier vorgestellte aristotelische Konzeption des Letztzieles des Strebens Parallelen zu Platons Verständnis dieses Letztzieles aufweist, wird im Folgenden noch genauer zu untersuchen sein.
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7.3 Die Nutzlosigkeit des platonischen Ideenwissens Aristoteles’ Auseinandersetzung mit der Ideenlehre seines Lehrers Platon ist, wie schon zuvor angemerkt worden ist, sehr vielschichtig. Eine in diesem Zusammenhang besonders wichtige Rolle spielt dabei die Frage, inwiefern die durch die Praxis der Theorie erreichte Erkenntnis der Ideen von Relevanz für andere Formen menschlicher Praxis ist. Sich in dieser Frage gegen seinen Lehrer stellend, zeigt Aristoteles auf, dass man einige Argumente gegen die von Platon behauptete allgemeine Praxisrelevanz des Ideenwissens vorbringen kann. Die zentralen Aspekte seiner Kritik entfaltet Aristoteles in seinen Ethiken, wobei im Folgenden unter Hinzunahme von Stellen aus der Eudemischen Ethik vor allem auf Passagen aus der Nikomachischen Ethik eingegangen werden soll. Bevor sich Aristoteles mit Fragen nach der Praxisrelevanz der Einsicht in die Ideen beschäftigt, geht er dem zuvor auf Probleme ein, die hinsichtlich ihres von Platon angenommenen Seins und, damit verbunden, ihrer Erkennbarkeit bestehen.⁵⁰ Wie nämlich, fragt Aristoteles zum Beispiel in seiner sich im ersten Buch der Nikomachischen Ethik findenden Ideenkritik, kann es eine einheitliche und übergreifende Idee des Guten geben, wenn die an ihr teilhabenden guten Einzeldinge in so unterschiedlicher Weise „gut“ sind, wie sie es sind? Auch wenn Aristoteles diese Schwierigkeit hier vor dem Hintergrund seiner eigenen Theorie der Wirklichkeit und unter Einsatz der dazugehörigen Terminologie formuliert, indem er beispielsweise von „Kategorien“ spricht, weist dieser Einwand dennoch auf ein für das platonische Denken zentrales Problem hin. Wie das eben angeführte Beispiel andeutet, besteht dieses darin, dass es, mit Aristoteles gedacht, nicht einsichtig ist, wie das Verhältnis zwischen der von Platon jeweils angenommenen „einen“ allgemeinen Idee und den vielen an ihr teilhabenden Dingen zu denken ist. Nimmt man nämlich eine einheitliche und übergreifend ausgesagte Idee des Guten an, müsste dieses eigentlich zur Folge haben, so Aristoteles, dass in den unterschiedlichen Einzelfällen guter Dinge ein identischer Begriff (ταύτος λόγος) von „gut“ aufzufinden wäre.⁵¹ Dann jedoch bliebe es unerklärlich, wodurch sich die Einzelgüter, insofern sie aufgrund ihrer Teilhabe an der einen Idee des Guten gut sind, in ihrem Gutsein unterscheiden. Wenn man dagegen davon ausgeht, dass es eine Vielzahl von verschiedenen guten Dingen gibt, dann, so die Argumentation, bliebe es hingegen fraglich, wie die in der Idee bestehende Einheit der Einzelgüter inhaltlich zu bestimmen sein soll; unterscheiden sich die einzelnen Güter doch gerade in Bezug auf den Begriff ihres jeweiligen Gutseins.⁵² Für die Idee des Guten ergäbe sich daraus, dass sie in diesem Fall lediglich
50 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1096a 11–1096b 31. Zu diesen Argumenten, vgl. Hellmut Flashar: „Die Platonkritik (I 4)“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik, S. 63–82. 51 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1096b 21–23. 52 Wie Aristoteles anführt, ist dies deswegen der Fall, weil es sich um Güter im Plural handelt, die
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eine formale Bestimmung wäre, ein, wie Aristoteles sich ausdrückt, εἶδος μάταιον, dessen Inhalt hinsichtlich des Gutseins nicht als ein einheitlicher zu bestimmen wäre. Infolgedessen lässt sich mit der Annahme der Idee des Guten Aristoteles zufolge entweder nicht die offensichtlich feststellbare Vielheit der einzelnen guten Dinge erklären oder aber die Idee des Guten muss aufgrund der Verschiedenheit des Gutseins der an ihr teilhabenden Gegenstände inhaltlich unbestimmt bleiben.⁵³ Abgesehen davon, dass die von Aristoteles vorgebrachte Kritik die platonische Ideenlehre im Allgemeinen in Erklärungsnöte bringt, stellt sie diese insbesondere im Bereich der Ethik vor Schwierigkeiten. In diesem Zusammenhang ist es dabei vor allem die nur schwer zu entkräftende These des Aristoteles, dass die Idee des Guten, selbst wenn man ihre Existenz annähme, aufgrund der Verschiedenheit der an ihr teilhabenden Güter ihrem Inhalt nach nicht einheitlich zu bestimmen sei. Dies ist insofern bedenkenswert, als es zur Konsequenz hat, dass die Idee des Guten der Annahme Platons entgegen nicht als ein möglicher Gegenstand menschlichen Strebens oder gar als dessen Letztziel in Frage kommt. Wie sollte man auch ein Gut als Ziel verfolgen, das inhaltlich nicht (positiv) bestimmt ist?⁵⁴ So schreibt Aristoteles: Auch wenn es nämlich ein Gut gäbe, das eines wäre und gemeinsam [von mehrerem] ausgesagt würde oder das abgetrennt und an sich bestünde, so ist es klar, dass es nicht durch menschliches Handeln verwirklicht oder erreicht werden könnte.⁵⁵
Der Schluss, dass das Gute selbst kein Ziel darstelle, das durch menschliches Handeln verwirklicht werden könne, lässt sich noch aus einem weiteren Grund ziehen. Wie erörtert worden ist, kann das Gute laut Platon als das vollkommen Mangelfreie bestimmt werden, mit dessen Besitz die εὐδαιμονία als ein Zustand vollkommener Mangelfreiheit erreicht wird. Aristoteles kritisiert an diesem Konzept des menschlichen Glückes unter anderem, dass ein solcher Zustand für den Menschen nicht
mithin aufgrund ihrer Mehrzahl notwendigerweise voneinander unterschieden sind. Vgl. Nikomachische Ethik 1096b 23–25. 53 Eine weitere Möglichkeit der Verteidigung der platonischen Position, die Aristoteles allerdings in der Nikomachischen Ethik nicht eigens thematisiert, sieht so aus, dass man behaupten könnte, dass das Gutsein der Idee und das der an ihr teilhabenden Einzelgüter qualitativ voneinander unterschieden seien. In diesem Fall jedoch träte das bereits an anderer Stelle erläuterte Problem des „dritten Mannes“ auf, da man die Existenz einer weiteren Idee des Guten annehmen müsste, an der sowohl die Idee des Guten als auch die im Vereinzelten auftretenden Güter teilhaben und die es rechtfertigt, beides als „gut“ zu bezeichnen. 54 Vgl. dazu die bereits erörterte aristotelische Annahme des Vorranges des Denkens vor dem Willen, welcher derselbe Gedanke zugrunde liegt. 55 Aristoteles Nikomachische Ethik 1096b 32–34: „εἰ γὰρ καὶ ἔστιν ἕν τι τὸ κοινῇ κατηγορούμενον ἀγαθὸν ἢ χωριστὸν αὐτό τι καθ΄ αὑτό͵ δῆλον ὡς οὐκ ἂν εἴη πρακτὸν οὐδὲ κτητὸν ἀνθρώπῳ·“ In der hier gewählten Formulierung „εἰ γὰρ καὶ ἔστιν (...)“ klingt etwas von der Form der gorgianischen und der dieser zugrunde liegenden zenonischen Weise der Argumentation an, auf die Aristoteles hier interessanterweise anspielt. Dazu, dass die Idee des Guten nach Aristoteles kein Ziel menschlichen Handelns darstellt, siehe auch Eudemische Ethik 1218a 40f.
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erreichbar sei. Wir können uns, wie Aristoteles denkt, diesem Idealzustand, insofern wir Menschen sind,⁵⁶ nur anzunähern suchen, ihn jedoch nicht völlig verwirklichen. Als Menschen sind wir vielmehr aus vielerlei Gründen stets als mangelhaft zu begreifen, indem wir zum Beispiel auch immer körperliche und soziale Wesen sind.⁵⁷ Da wir daher einen solchen Zustand völliger Freiheit von allem Mangel ohnehin nicht erreichen können, ist es laut Aristoteles wenig sinnvoll, die so bestimmte Form der εὐδαιμονία als ein durch menschliches Handeln verwirklichbares Ziel anzusetzen. Gerade ein solches erreichbares und verwirklichbares Ziel jedoch, so erklärt Aristoteles weiter, sei es, um welches die Frage nach dem höchsten Gut kreise.⁵⁸ Daher sei ein zwar vollkommenes, aber nicht verwirklichbares Gut wie die Idee des Guten und die Kenntnis dessen für die menschliche Praxis und das gute Leben „nicht brauchbar“ (μὴ χρήσιμος).⁵⁹ Eine mögliche Argumentation, die zur Verteidigung der platonischen Position heranzuführen wäre und die Aristoteles in diesem Kontext in Betracht nimmt, besteht darin, dass man die Idee des Guten als ein „Vorbild“ beziehungsweise „Muster“ (παράδειγμα) benutzen könnte. Dieses „Vorbild“ zu kennen, wäre dabei insofern von Vorteil, als es dieses leichter machen würde, die für uns verwirklichbaren Güter zu erkennen, die man, wenn man sie nur erst erkannt hat, auch verwirklichen würde.⁶⁰
56 Vgl. dazu Aristoteles’ Formulierung in Nikomachische Ethik 1177b 27: „οὐ γὰρ ᾗ ἄνθρωπός ἐστι οὕτω βιώσεται.“ 57 Auch wenn Aristoteles an dieser Stelle in der Nikomachischen Ethik nicht näher auf dieses Thema eingeht, zeigt doch sein eigenes Konzept des glückseligen menschlichen Lebens, dass er die besagten Formen der Einschränkung menschlicher Mangellosigkeit im Blick hat. So betont er in Buch X der Nikomachischen Ethik, dass der Mensch das Leben des νοῦς, mit dem sich seines Erachtens das glückselige Leben verwirklicht, auch immer nur in eingeschränkter Weise vollziehen kann, da es den Menschen unter anderem auch auszeichnet, ein körperliches und soziales Wesen zu sein. Als ein solches Wesen ist der Mensch dabei auch immer dadurch gekennzeichnet, Bedürfnisse zu haben, die er um seines Weiterlebens willen befriedigen muss. Vgl. dazu Nikomachische Ethik 1177b 27ff. Inwiefern diese Faktoren der menschlichen Existenz eine Einschränkung für den Vollzug des glückseligen Lebens bedeuten und inwieweit sich die Glückseligkeit überhaupt durch den Vollzug des geistigen Lebens verwirklicht, wird später noch genauer zu erklären sein. 58 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1096b 34f. Dass das Gute, das Aristoteles im Bereich der Praxis sucht, ein Ziel beziehungsweise Letztziel ist, zeigt bereits die sich am Anfang der Nikomachischen Ethik findende Definition des Guten als desjenigen, zu dem alles strebt. Vgl. ebd. 1094a 1–3. 59 Vgl. Aristoteles Eudemische Ethik 1217b 23–26: „ἔπειτ΄ εἰ καὶ ὅτι μάλιστ΄ εἰσὶν αἱ ἰδέαι καὶ ἀγαθοῦ ἰδέα͵ μή ποτ΄ οὐδὲ χρήσιμος πρὸς ζωὴν ἀγαθὴν οὐδὲ πρὸς τὰς πράξεις.“ Vgl. zudem ebd. 1218a 33–41. Dass die aristotelische Argumentation in diesem Zusammenhang zweigeteilt ist, indem sie zum einen die Schwierigkeit der inhaltlichen Bestimmung der Idee des Guten behandelt, um dann dazu überzugehen, die Relevanz der Erkenntnis derselben in Frage zu stellen, wird sehr deutlich in Eudemische Ethik 1217b 19–26. Zu beachten ist hier ebenfalls der Verweis auf die sophistische Kritik an der eleatischen Philosophie, die Aristoteles in gewisser Weise aufnimmt und auf die Philosophie Platons ausdehnt, indem er die Kenntnis der Idee des Guten als μὴ χρήσιμος bezeichnet. 60 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1096b 35–1097a 3.
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Auch gegen diese Position, die, wie die vorgenommene Erörterung des platonischen Denkens gezeigt hat, wohl Platon selbst tatsächlich vertreten hat, bringt Aristoteles einige Einwände vor. Denn, so Aristoteles, obwohl dieser „Begründungszusammenhang“ etwas sehr Überzeugendes habe, scheine er doch nicht mit dem übereinzustimmen, was im Bereich der „praktischen Künste“ (ἐπιστήμαι)⁶¹ zu beobachten ist.⁶² Sie alle nämlich würden im Rahmen ihrer Tätigkeit nach einem bestimmten Gut streben und das, was an diesem mangelhaft ist, zu verbessern suchen, ohne dass sie dabei die Erkenntnis der Idee des Guten weiter beachten würden. Dass jedoch alle „Künstler“ (τεχνίται)⁶³ ein so bedeutendes Hilfsmittel nicht kennen und auch nicht versuchen würden, es für sich nutzbar zu machen, dies erscheine doch wenig wahrscheinlich. Zusätzlich zu diesem der Empirie entnommenen Argument führt Aristoteles an, dass es fraglich sei, welcher Nutzen einem Künstler wie einem Weber oder einem Zimmermann in Bezug auf seine Kunst aus der Kenntnis „des Guten selbst“ erwachse.⁶⁴ Gleiches sei mit Blick auf den Arzt und den Strategen zu fragen, da auch in diesen Fällen nicht klar sei, wie die Betrachtung der Idee des Guten ihnen bezüglich der Ausübung ihrer Kunst nützen sollte. Der Arzt nämlich, so Aristoteles, habe bei seiner Tätigkeit nicht die Gesundheit an sich, sondern die des Menschen, ja, streng genommen, die dieses bestimmten zu heilenden Menschen im Auge; gehe es ihm doch darum, die Gesundheit des Sokrates oder des Kallias und nicht die „Gesundheit an sich“ wiederherzustellen.⁶⁵ Viel wichtiger, als zu wissen, worin die Gesundheit im Allgemeinen besteht, ist es daher Aristoteles zufolge, eine Einsicht zu gewinnen,
61 Die an dieser Stelle m. E. sinnvolle Übersetzung des griechischen ἐπίστημαι mit „praktische Künste“ stammt von Franz Dirlmeier. Vgl. dazu Dirlmeiers Übersetzung zu dieser Stelle in: Aristoteles Nikomachische Ethik, Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmidt, Stuttgart 1999. 62 Zum Folgenden, vgl. Nikomachische Ethik 1097a 3f. In Entsprechung zu seiner sich im ersten Buch der Metaphysik findenden Beschreibung dessen, wie sich das menschliche Wissen aus der am Anfang stehenden Empirie über das begründete Wissen der τέχνη hin zum sicheren, eine Notwendigkeit aufzeigenden Wissen der ἐπιστήμη entwickelt, setzt Aristoteles hier an den Anfang seiner Argumentation eine Beobachtung aus der Empirie. 63 Unter einem Künstler ist an dieser Stelle ein in einer τέχνη Bewanderter zu verstehen, was im Griechischen schon die Bezeichnung τεχνίτης verdeutlicht. 64 Vgl. zum folgenden Aristoteles Nikomachische Ethik 1097a 8–14. 65 Vgl. dazu Aristoteles Metaphysik 981a 18–20. Hinsichtlich der aristotelischen Erörterung der Frage nach der Nützlichkeit des Wissens um die Idee des Guten fällt auf, dass er die Betrachtung immer weiter ins Konkrete zieht. Spricht er zunächst noch von der Idee des Guten, geht er im Folgenden über die Güter der einzelnen Künste hin zum in der Gesundheit bestehenden Gut der Heilkunst und schließlich zu dem in der konkreten Gesundheit eines bestimmten Menschen bestehenden vereinzelten Gut.
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was einem bestimmten Menschen in einem konkreten Fall unter diesen oder jenen Umständen zuträglich ist, damit er möglichst bald wieder gesund wird.⁶⁶ Verallgemeinert man das, was Aristoteles in dieser Passage der Nikomachischen Ethik ausführt, so ist es auch wie folgt zu formulieren: In konkreten Situationen ist das menschliche Handeln nicht darauf ausgerichtet, die Mangellosigkeit im vollkommenen und allgemeinen Sinn zu erreichen. Laut Aristoteles zielt das Handeln vielmehr stets darauf ab, einen bestimmten, in einer konkreten Situation auftretenden Mangel zu beheben, wofür das Wissen um die vollkommene Mangellosigkeit, für die die Idee des Guten steht, nicht von Belang ist. So muss der bereits erwähnte Zimmermann für seine Tätigkeit wissen, was an einem bestimmten Tisch schad- und fehlerhaft ist, und nicht, was es heißt, gänzlich frei von allem Mangel zu sein.⁶⁷ An dieses Argument gegen die Relevanz der Idee des Guten für das Handeln des Menschen schließt sich noch ein weiteres an. Könnte man nämlich auch die Idee der Gesundheit als παράδειγμα im platonischen Sinne benutzen und anhand ihrer das Gesunde vom Ungesunden beziehungsweise das Gesündere vom Ungesünderen unterscheiden, so ergäbe sich aus diesem Wissen dennoch nichts darüber, was konkret zu unternehmen ist, um die Gesundheit eines bestimmten Menschen wiederherzustellen.⁶⁸ Ein bekanntes Wort des Aristoteles abwandelnd ließe sich daher gegen ein derartiges proplatonisches Argument anführen, dass es im Bereich der praktischen Philosophie nicht darum gehe, einzusehen, wer oder was gesund oder gesünder ist, sondern wie man wieder gesund wird.⁶⁹ Im Hintergrund dessen, was Aristoteles zu diesem Thema ausführt, steht der von ihm angenommene Grundsatz, dass die Praxis stets auf Einzelnes, man könnte
66 Vgl. dazu ebenfalls Aristoteles Metaphysik 981a 20–24, hier vor allem Aristoteles’ Aussage: θεραπευτὸν γὰρ τὸ καθ‘ ἕκαστον (a 23f.). Im Ausgang von solchen Überlegungen wäre gegen das bereits zitierte Beispiel aus Platons Kratylos einzuwenden, dass sich auch der Zimmermann beim Bau eines neuen Weberschiffchens nicht an „dem Weberschiffchen an sich“ orientieren werde. Viel eher muss er bedenken, was für Holz ihm zur Verfügung steht, mit welchem seiner Schnitzwerkzeuge er arbeiten soll, womit er die einzelnen Teile verbinden könnte, wie groß und schwer er das Gerät machen soll etc., so dass er sich bei seiner Arbeit an einem in seinem Denken bereits ziemlich konkreten Weberschiffchen orientieren wird, das aus einer bestimmten Holzart besteht, bei dessen Bau eine bestimmte Sorte von Nägeln Verwendung findet und das ganz bestimmte Maße aufweist. Ein solches, im Denken schon konkretisiertes Schiffchen zu kennen ist für den Handwerker wichtig, da er dies als sein Gut verfolgt, nicht die ohnehin niemals zu verwirklichende Idee des Weberschiffchens oder gar des Guten selbst. 67 Auf genau dieses Problem weist Aristoteles in der kurz zuvor schon zitierten Passage aus dem ersten Buch der Nikomachischen Ethik (1097a 5f.) hin, wenn er schreibt: „πᾶσαι γὰρ ἀγαθοῦ τινὸς ἐφιέμεναι καὶ τὸ ἐνδεὲς ἐπιζητοῦ σαι παραλείπουσι τὴν γνῶσιν αὐτοῦ.“ 68 Darauf, dass ein Wissen darüber, was z. B. gesünder ist, nicht dazu hinreicht, jemanden zu heilen, wird noch eingegangen werden. 69 Vgl. dazu Aristoteles Nikomachische Ethik 1103b 26–29; Eudemische Ethik 1216b 21f.; Magna Moralia 1182b 10ff.
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auch sagen, auf Einzelfälle oder Einzelsituationen, bezogen sei.⁷⁰ So bewegt sich das Handeln, mit Aristoteles gedacht, jeweils insofern im Gebiet des Vereinzelten, als es im Kontext bestimmter Situationen auf die Verwirklichung von konkreten Gütern abzielt. Dieses betrifft dabei auch Fälle, in denen es sich jemand zum Beispiel zum Prinzip macht, gerecht zu handeln; wird doch auch dieses Prinzip in der Praxis des gerechten Handelns in konkreten Einzelsituationen umgesetzt werden müssen. In einem solchen Zusammenhang geht es dann nicht nur um die Frage, was gerechtes Handeln im Allgemeinen ausmacht, sondern was es hier und jetzt heißt, gerecht zu handeln.⁷¹ Gleiches gilt für den Vorsatz, Gutes zu tun. Auch hier stellt sich beim Versuch der Umsetzung dieses Zieles sofort die Frage, worin das Tun des Guten im Konkreten bestehen und was für ein Gut verwirklicht werden soll. Daraus folgt: Will das Gute ein Ziel menschlicher Praxis sein, muss es notwendig in die Vereinzelung treten und in Gestalt eines inhaltlich bestimmten und damit verwirklichbaren Gutes auftreten. Ist das Handeln in dieser Weise auf Einzelfälle bezogen, ergibt sich daraus, dass es, wie Aristoteles andernorts ausführt, vorkommt, dass der „Erfahrene“ demjenigen gegenüber im Vorteil ist, der ohne jede „Erfahrung“ nur über eine Einsicht in einen „allgemeinen Begründungszusammenhang“ verfügt.⁷² Aristoteles zufolge hängt dieses damit zusammen, dass die „Erfahrung“ das Ergebnis der in der Erinnerung vorliegenden wiederholten Wahrnehmung desselben (vereinzelten) Gegenstandes⁷³ darstellt und als solche auf Einzelfälle bezogen ist. Verabreicht man beispielsweise einer Anzahl von Patienten eine bestimmte Medizin und beobachtet man, dass sich infolge der Einnahme ein Heilungserfolg bei ihnen einstellt, so ergibt sich aus der wiederholten und erinnerten Beobachtung dieses Erfolges eine Erfahrung, die zum Inhalt hat, dass die verabreichte Medizin in den betrachteten Fällen, in denen die gleichen Symptome auftraten, wirksam gewesen ist.⁷⁴ Eine derartige Kenntnis der ἐμπειρία unterscheidet sich nach Aristoteles nun dadurch von der der τέχνη, dass Letztere einen oder mehrere Gründe dafür anzugeben vermag, weshalb der empirisch
70 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 16: „ἡ δὲ πρᾶξις περὶ τὰ καθ΄ ἕκαστα.“ Deutlich herausgearbeitet hat dies Wolfgang Wieland in seinem Artikel „Norm und Situation in der aristotelischen Ethik“, in: Rémi Brague/Jean François Courtine (Hrsg.): Herméneutique et Ontologie. Mélanges en hommage à Pierre Aubenque, Paris 1990, S. 127–145. 71 Vgl. dazu Wolfgang Wieland: „Norm und Situation in der aristotelischen Ethik“, S. 128: „Diese Normen allein reichen nicht aus, um das richtige Handeln im Einzelfall zu determinieren. Keine allgemeine Regel kann antizipieren, was sich dem Handelnden erst erschließt, wenn er die Situation des jeweiligen Augenblicks betrachtet.“ 72 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 16–18. 73 Dass das πρᾶγμα, von dem Aristoteles in Metaphysik 980b 28–981a 1 spricht, ein vereinzeltes ist, ergibt sich aus Metaphysik 981a 15f., wo Aristoteles anmerkt, dass die ἐμπειρία eine καθ‘ ἕκαστον γνῶσις sei. 74 Vgl. Aristoteles Metaphysik 981a 5–9.
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beobachtete Sachverhalt, hier die Heilung, besteht.⁷⁵ So weiß der über ein solches technisches Wissen Verfügende, dass, um ein von Aristoteles selbst angeführtes Beispiel zu verwenden, leichtes Fleisch deswegen gesundheitsfördernd ist, weil es leicht verdaulich ist.⁷⁶ Der in dieser Weise angegebene Begründungszusammenhang bringt als solcher ein allgemein bestehendes Ursache-Wirkung-Verhältnis zur Sprache, ein καθόλου was insofern einen weiteren Unterschied zwischen dem technischen Wissen und der empirisch gewonnenen Kenntnis setzt, als die Empirie immer nur auf die von jemandem beobachteten Einzelfälle bezogen ist und keine allgemein bestehenden Verhältnisse erkennt.⁷⁷ Was allerdings die Praxis betrifft, so weist Aristoteles darauf hin, dass jemand, der einen „allgemeinen Begründungszusammenhang“ angeben kann, nicht notwendigerweise in höherem Maße dazu befähigt sein werde zu handeln als der Erfahrene, eher sei sogar gerade das Gegenteil zu beobachten.⁷⁸ In der Metaphysik heißt es dazu: Hat jemand [das Wissen um] einen Begründungszusammenhang ohne die Erfahrung und kennt er auch das Allgemeine, während er das in diesem [i. e. dem Allgemeinen] Enthaltene nicht kennt,⁷⁹ wird er oft das Heilverfahren verfehlen. Zu heilen ist nämlich der Einzelfall.⁸⁰
Aristoteles zielt hier darauf ab, dass das Wissen um einen „allgemeinen Begründungszusammenhang“⁸¹ wie zum Beispiel darum, dass leichtes Fleisch aufgrund seiner guten Verdaulichkeit gesundheitsfördernd ist, nicht dazu hinreicht, den mit diesem Wissen Ausgestatteten zu einem angemessenen Handeln zu befähigen. Aristotelisch gedacht ist es nämlich durchaus möglich, dass dieses Wissen völlig nutzlos bleibt, wenn jemand beispielsweise nicht weiß, welches Fleisch zu den leichten Fleischsorten gehört.⁸² In einem solchen Fall ist derjenige, der die Erfahrung gemacht hat, dass Geflügelfleisch leicht und gesund ist, nach Aristoteles viel eher imstande, jemanden von seinen Verdauungsproblemen zu befreien, als der um das „Allgemeine“ Wissende. Dass der Erfahrene dabei keine Kenntnis darüber hat, dass seine Therapie deswegen sinnvoll ist, weil Geflügelfleisch aufgrund seiner Leichtigkeit gesund ist, ist für sein Handeln und den von ihm erzielten Heilungserfolg unerheblich.
75 Vgl. ebd. 981a 28f. 76 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 18f. 77 Vgl. Aristoteles’ Bestimmung der τέχνη als γνῶσις τῶν καθόλου in Metaphysik 981a 16. 78 Vgl. ebd. 981a 12–15. 79 Freier wäre zu übersetzen: „(...) während er nicht weiß, was alles unter den allgemeinen Begriff fällt (...).“ 80 Ebd. 981a 21–24: „ἐὰν οὖν ἄνευ τῆς ἐμπειρίας ἔχῃ τις τὸν λόγον͵ καὶ τὸ καθόλου μὲν γνωρίζῃ τὸ δ΄ ἐν τούτῳ καθ΄ ἕκαστον ἀγνοῇ͵ πολλάκις διαμαρτήσεται τῆς θεραπείας· θεραπευτὸν γὰρ τὸ καθ΄ ἕκαστον.“ 81 Von einem „allgemeinen Begründungszusammenhang“ ist hier in Anlehnung an das eben angeführte Zitat die Rede, in dem das λόγον ἔχειν mit dem καθόλου in Verbindung gesetzt ist. 82 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 18–20.
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Aus diesem Blickwinkel betrachtet erscheint das Wissen um das „Allgemeine“, zu dem Aristoteles zufolge auch die platonische Ideenerkenntnis zu zählen ist,⁸³ zumindest als nicht notwendig für die gelingende, auf das Erreichen konkreter Ziele hingeordnete menschliche Praxis. Folglich kann Aristoteles, das Ausgeführte zusammenfassend, behaupten, dass sich die ἐμπειρία in Bezug auf die menschliche Praxis in nichts von der τέχνη unterscheide, ihr, wie Bonitz das Verb διαφέρειν hier erläuternd übersetzt, in diesem Fall in nichts „nachstehe“.⁸⁴ Ein Beispiel, das dieses nach Aristoteles verdeutlicht, ist das der Politiker, die, was ihr Handeln betrifft, mehr von ihrer Erfahrung als von einem theoretischen Wissen profitieren würden.⁸⁵ Die Einsicht in die von Platon angenommenen Ideen ist, so wäre die erörterte Argumentation des Aristoteles zusammenzufassen, nicht nur mangelhaft hinsichtlich des Erweises der Notwendigkeit der Existenz der Ideen. Es muss, wie Aristoteles zeigt, darüber hinaus auch fraglich bleiben, welchen Nutzen die Erkenntnis der Ideen für die menschliche Praxis haben soll. Diese Frage stellt sich dabei vor allem deswegen, weil sich Weisen denken lassen, in denen der Mensch auch ohne ein Ideenwissen auf der Grundlage von Erfahrungen so handeln kann, dass er die von ihm erstrebten Güter erreicht. Die Annahme der Existenz der Ideen erscheint mithin aristotelisch gedacht weder notwendig noch ist das Wissen um sie unmittelbar von Nutzen oder notwendig für die Praxis. Nimmt man überdies noch hinzu, dass es, wie Aristoteles denkt, nicht möglich ist, die von Platon angenommene Idee des Guten in ihrer Allgemeinheit inhaltlich zu bestimmen, könnte man, gleichsam sophistisch redend, behaupten, dass Platon, was die Praxis betrifft, weder im Großen noch im Kleinen ein Wissen vorträgt. Im Großen nicht, da er nicht imstande ist, ein Letztziel menschlichen Strebens anzugeben; im Kleinen nicht, da sein Wissen nicht dazu hinreicht, das Gute im Konkreten zu verwirklichen. Der Umstand, dass sich das bezüglich der Ideen eingesehene Wissen als irrelevant für die menschliche Praxis erweist, schränkt den Geltungsbereich dieses Wissens immens ein. Spielen die Ideen nämlich auch für Aristoteles zumindest in der
83 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1078b 27–36. 84 Vgl. ebd. 981a 13; in der Nikomachischen Ethik schwächt Aristoteles diesen Einwand in gewisser Weise ein wenig ab. Er vertritt dort die Position, dass die nach seiner Auffassung für das menschliche Handeln eine zentrale Rolle spielende „sittliche Einsicht“ (φρόνησις) zwar „nicht nur auf das Allgemeine gerichtet sei“, da es für das Handeln notwendig sei, das Einzelne zu kennen, dass es aber dennoch gleichzeitig notwendig sei, über beide Formen der Einsicht zu verfügen, wenn auch über die auf das Einzelne bezogene Form in höherem Maße. Vgl. dazu Nikomachische Ethik 1141b 14–22. Dazu, dass Aristoteles trotz dieser Aussage der Erfahrung letztlich doch die wichtigere Rolle in Bezug auf die Entwicklung von φρόνησις und mithin für das menschliche Handeln zuschreibt, zeigt sich z. B. in Nikomachische Ethik 1142a 14f. Auf den aristotelischen Begriff der φρόνησις wird im Rahmen der weiteren Analyse des aristotelischen Modells der Ethik noch genauer eingegangen werden. 85 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1181a 1–3; vgl. zudem Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Zürich 1985, S. 87.
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stark modifizierten Form der καθόλου-Begriffe noch eine wichtige Rolle bei der Einsicht in ein begründetes Wissen, wiegt der Verlust ihres Ranges als Kriterien für das auf die menschliche Praxis bezogene Wissen dennoch schwer. Ein Wissen darüber einzusehen, wie zu handeln ist und wie nicht, ist Aristoteles zufolge nicht Aufgabe der Philosophie, da man seinem Verständnis gemäß in diesem Bereich überhaupt kein sicheres Wissen einsehen kann. Seinen Grund hat dies für Aristoteles darin, dass das Gebiet der auf das Einzelne hingeordneten Praxis nichts „Bestehendes“ (ἕστηκος) aufweist.⁸⁶ Dies ist insofern von Bedeutung, als Aristoteles zufolge nur etwas, das sich nicht anders verhalten kann und mithin notwendig ist, als Gegenstand eines sicheren Wissens im Sinne der ἐπιστήμη in Frage kommt.⁸⁷ Sicher, das heißt „epistemisch“ gewusst werde nicht das Vereinzelte, sondern vielmehr das „Allgemeine“,⁸⁸ das jedoch, wie dargelegt, keinen Maßstab für das auf Einzelfälle bezogene menschliche Handeln abgeben kann. Daher, so Aristoteles, sei es vielmehr notwendig, dass die Handelnden das, was zum καιρός gehört, in den Blick nehmen. Dass Aristoteles hier den vielfältig übersetzbaren Begriff „καιρός“ verwendet, ist deswegen höchst bedeutsam, weil dieser auf eine Reihe der zum Teil bereits angesprochenen Aspekte des situativen Charakters menschlichen Handelns verweist. Denn da sich menschliches Handeln stets im Bereich konkreter Einzelsituationen abspielt, ist es dementsprechend in der Tat wichtig, stets das „rechte Maß“, den „rechten“ beziehungsweise „günstigen Augenblick“, den „rechten Ort“ und andere Gesichtspunkte des mit Blick auf eine Einzelsituation zu wählenden Angemessenen zu beachten. Um dieses zu illustrieren, wählt Aristoteles ein weiteres Mal das Beispiel der Gesundheit und die diese fördernde Kunst des Arztes, die seines Erachtens in besonderer Weise veranschaulichen vermag, dass sich das Handeln immer am konkreten Einzelfall orientieren muss.⁸⁹
7.4 Eine Ethik des rechten Augenblicks Eine wesentliche Bedingung für einen guten Vollzug des menschlichen Handelns besteht für Aristoteles darin, dass man sich hinsichtlich der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, die sich in den Einzelsituationen ergeben, richtig entscheidet, gleichsam die richtige auswählt und vorzieht.⁹⁰ Die „Entscheidung“, die „mit dem
86 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1104a 4. 87 Vgl. ebd. 1139b 19–23. 88 Vgl. ebd. 1140b 31f. 89 Dass die aristotelische Ethik den situativen Aspekt menschlichen Handelns betont und sich damit gegen normativ-ethische Konzepte wie das von Platon entwickelte wendet, ist in der Literatur vielfach betont worden. Vgl. z. B. Otfried Höffe: Praktische Philosophie: Das Modell des Aristoteles, Berlin 1996, S. 13; 101; zudem Andreas Luckner: Klugheit, Berlin 2005, S. 90f. 90 Diesen Gedanken und die auch von Aristoteles angeführte Etymologie des Wortes „προαίρεσις“
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richtigen λόγος und mit dem Durchdenken (des Sachverhalts) verbunden ist“⁹¹, ist, wie Aristoteles an anderer Stelle ausführt, das „Prinzip des [menschlichen] Handelns“ (ἀρχὴ πράξεως)⁹² und dann „richtig“ (ὀρθή), wenn sie aus einem Zusammenspiel von „sittlicher Tüchtigkeit“ (ἀρετὴ ἠθική) und „sittlicher Einsicht“ (φρόνησις)⁹³ resultiert. So heißt es in der Nikomachischen Ethik: (...) nicht wird die Entscheidung richtig sein ohne die sittliche Einsicht, aber auch nicht ohne die sittliche Tüchtigkeit, die eine nämlich legt das Ziel fest, die andere bewirkt, dass wir die Mittel zu dem Ziel ergreifen.⁹⁴
Bevor das für eine „richtige Entscheidung“ zentrale Zusammenwirken von ἀρετὴ ἠθική und φρόνησις näher in den Blick genommen wird, soll nun in einem nächsten Schritt zunächst noch genauer auf die beiden Konstituenten der richtigen Entscheidung eingegangen werden.
7.4.1 Aristoteles’ Konzeption der ἀρετὴ ἠθική Wie Platon begreift auch Aristoteles die ἀρετή als eine Form der „Tüchtigkeit“ oder „Bestheit“ im Sinne der Disposition eines Gegenstandes, die es diesem erlaubt, das ihm eigentümliche „Werk“ (ἔργον) in der bestmöglichen Weise zu verwirklichen.⁹⁵ In der Nikomachischen Ethik unterscheidet er dabei mit Blick auf die beiden⁹⁶
zugrunde legend – vgl. dazu Nikomachische Ethik 1112a 17f. –, bestimmt Ernst A. Schmidt die προαίρεσις als eine „Vorzugswahl aus Überlegung“. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmidt, Stuttgart 1999, S. 315, Anm. 18. 91 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1112a 15f. (Übersetzung Franz Dirlmeier). 92 Vgl. ebd. 1139a 31. Nach Aristoteles setzt der Umstand, dass Menschen aufgrund von Entscheidungen tätig sind, einen Unterschied zwischen ihrem Tätigsein, das ein Handeln darstellt, und dem der Tiere, deren „Bewegung“ (κίνησις) nicht der Entscheidung entspringt. Vgl. dazu ebenfalls Aristoteles Eudemische Ethik 1222b 19ff. 93 Was die Übersetzung von „φρόνησις“ betrifft, folge ich dem Vorschlag Franz Dirlmeiers, der sich u. a. auch auf Werner Jaeger berufen kann, der den Terminus in derselben Weise übersetzt. Die von Olof Gigon und Eugen Rolfes angegebene Übersetzung des Terminus mit „Klugheit“ ist dabei insofern problematisch, als das deutsche Wort „Klugheit“ m. E. nur einen Teilaspekt dessen umfasst, was Aristoteles mit der Verwendung von φρόνησις zum Ausdruck bringen möchte. Gegen Theodor Eberts Kritik an Jaegers und Dirlmeiers Übersetzungsvorschlag, der gemäß die Übersetzung mit „sittliche Einsicht“ hinsichtlich der Verwendungsweisen des Wortes im Griechischen zu eng ist, wäre einzuwenden, dass Aristoteles den Terminus im Kontext seiner in der Nikomachischen Ethik durchgeführten Betrachtung in einer sehr bestimmten Weise verstanden wissen will. 94 Aristoteles Nikomachische Ethik 1145a 4–6: „οὐκ ἔσται ἡ προαίρεσις ὀρθὴ ἄνευ φρονήσεως οὐδ΄ ἄνευ ἀρετῆς· ἣ μὲν γὰρ τὸ τέλος ἣ δὲ τὰ πρὸς τὸ τέλος ποιεῖ πράττειν.“ 95 Vgl. ebd. 1097b 22–1098a 18. 96 Vgl. ebd. 1102a 26–28. Mit der Vorstellung, dass die Seele zweigeteilt sei, hebt sich die Position des Aristoteles von der Platons ab, der, wie ausgeführt worden ist, eine Dreiteilung der Seele annahm.
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Teile der menschlichen Seele⁹⁷ – den „rationalen“ (λόγον ἔχον) und den „irrationalen“ (ἄλογον)⁹⁸ – und deren Tätigkeiten zwischen sogenannten „dianoetischen“ (διανοητικαί) und „ethischen“ (ἠθικαί) Tüchtigkeiten. Während die ersteren die Tüchtigkeit des rationalen Seelenteils darstellen und die „(philosophische) Weisheit“ (σοφία), den „Verstand“ (συνέσις) und die „sittliche Einsicht“ (φρόνησις) umfassen, sind Letztere auf den irrationalen Teil der Seele hingeordnet.⁹⁹ Als solche beinhalten sie Qualitäten wie beispielsweise eine „edle Gesinnung“ (ἐλευθεριότης) und „Besonnenheit“ (σωφροσύνη).¹⁰⁰ Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden von Aristoteles benannten Formen seelischer Tüchtigkeit ergibt sich aus dem, wie sie jeweils entstehen. Verdankt sich das „Werden“ und die „Vermehrung“ der dianoetischen Tüchtigkeiten vor allem der „Lehre“ (διδασκαλία), was zur Folge hat, dass es der Erfahrung und der Zeit bedarf, um in dieser Weise tüchtig zu werden, sind die „ethischen Tüchtigkeiten“ nach Aristoteles vielmehr das Ergebnis von „Gewohnheit“ (ἔθος). Aristoteles legt hier den Gedanken zugrunde, dass es sich bei den ethischen Tüchtigkeiten um Formen „fester Grundhaltungen“ (ἕξεις) handelt, die sich einstellen, wenn ein Mensch wiederholt in der gleichen Weise tätig ist.¹⁰¹ Für eine Tüchtigkeit wie die Gerechtigkeit folgt daraus, dass sie, aristotelisch gedacht, dadurch entsteht, dass ein Mensch in gefährlichen Situationen wiederholt tapfer handelt und sich in ihm infolgedessen die Grundhaltung der Tapferkeit verfestigt.¹⁰² Ebenso wie man sich jedoch daran gewöhnen kann, tapfer zu handeln, kann man, so Aristoteles, auch die Grundhaltung der Feigheit erwerben, indem man, analog gedacht, in Gefahrensituationen mehrfach feige handelt. Wie es schon das Beispiel der ἕξις der Tapferkeit andeutet, geht es Aristoteles im Rahmen seiner Betrachtung der ethischen Tüchtigkeit um eine ganz bestimmte Art fester Grundhaltungen.¹⁰³ So definiert er die ἕξεις an dieser Stelle als das, „gemäß dem wir uns in einem guten oder schlechten Zustand hinsichtlich unserer Affekte (πάθη) befinden“¹⁰⁴. Ist hier die Rede von „Affekten“ (πάθη), so bezieht sich dieses, wie Aristoteles zuvor erklärt, auf diejenigen Regungen oder Veränderungen der Seele,
97 Nach Aristoteles besteht die Tüchtigkeit des „ganzen“ Menschen in der Tüchtigkeit seiner Seele. Vgl. dazu Nikomachische Ethik 1102a 16f. 98 Vgl. ebd. 1102a 27f. 99 Vgl. ebd. 1103a 3–6. 100 Vgl. ebd. 1103a 6f. 101 Vgl. ebd. 1103b 21f. 102 Vgl. ebd. 1103b 16f. 103 Andernorts erwähnt Aristoteles eine Reihe anderer fester Grundhaltungen. Er spricht beispielsweise von der ἕξις ἀποδεικτική (1139b 31), der ἕξις ποιητική (1140a 10) und der ἕξις πρακτική (1140b 5). Vgl. dazu Aristotle. The Nicomachean Ethics. A Commentary by the late Harold H. Joachim, edited by David A. Rees, Oxford 1951, S. 80–82. 104 Aristoteles Nikomachische Ethik 1105b 25f.
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denen „Lust“ (ἡδονή) oder „Unlust“ (λύπη) folgen.¹⁰⁵ Die Beispiele, die er nennt, sind Zorn, Furcht, Begierde, Neid, Freude, Freundschaft, Hass und Mitleid. Ausgehend von der Definition und den Beispielen, die Aristoteles gibt, könnte man Affekte folglich als Formen von mit Lust oder Unlust assoziierten Gemütsregungen begreifen, die sich als Reaktionen auf bestimmte Situationen und die damit verbundenen Eindrücke ergeben.¹⁰⁶ Mit Blick auf die ἕξεις ergibt sich daraus, dass sie, um Aristoteles’ Definition aufzunehmen, feste Grundhaltungen darstellen, die darüber entscheiden, in was für einem Zustand wir uns hinsichtlich unserer Gemütsregungen befinden. Verhalten wir uns in einer solchen Situation in einer guten Art und Weise, so sind wir, wie Aristoteles denkt, ethisch gesehen, tüchtig, verhalten wir uns dagegen in einer schlechten Weise, sind wir schlecht/lasterhaft. Was aber, wäre in einem nächsten Schritt zu fragen, bedeutet es für Aristoteles überhaupt, sich „in einer guten Weise“ hinsichtlich der eigenen πάθη zu verhalten? Wie diese Frage zu beantworten ist, zeigt ein Beispiel, das Aristoteles im Anschluss an seine Definition der ἕξις anführt. So schreibt er in Bezug auf das πάθος des Zornes, dass wir uns, was eine Zornesregung betrifft, dann in einer schlechten Weise (κακῶς) verhalten, wenn wir sie – je nach Situation – zu heftig oder zu schwach, in einer guten Weise jedoch, wenn wir sie in einer „mittleren“ (...) Weise empfinden.¹⁰⁷ Den für das Verständnis dieses Beispiels und der aristotelischen Auffassung bezüglich des guten Verhaltens den eigenen Affekten gegenüber zentralen Begriff stellt der der „Mitte“ (μεσότης) dar. Nach Aristoteles ist es nämlich nicht schon der Umstand, dass wir überhaupt Zorn empfinden oder nicht empfinden, der uns zu ethisch hoch- oder niedrigstehenden Menschen macht. Die Affekte, denkt er, sind selbst weder sittlich gut noch schlecht, da sie nicht einer Entscheidung entspringen und daher nicht unserer Verantwortung zuzurechnen sind. Denn wir werden, schreibt Aristoteles, in einer „nicht auf Entscheidung beruhenden Weise“ (ἀπροαιρέτως) zornig,¹⁰⁸ was zur Folge hat, dass das Prinzip dieser in uns vorgehenden Veränderung nicht in uns selbst liegt und wir daher dafür auch nicht zu loben oder tadeln sind.¹⁰⁹
105 Vgl. ebd. 1105b 21–23. Im Allgemeinen wird der Begriff πάθος im Griechischen relativ weit verwendet. Er bezeichnet prinzipiell alles, was einem Gegenstand zustoßen kann und ist nicht auf seelische „Eindrücke“ beschränkt. Eine ausführliche Diskussion des aristotelischen πάθος-Begriffes und seiner Verwendung in der Nikomachischen Ethik findet sich bei Harold H. Joachim: Aristotle. The Nicomachean Ethics, S. 82ff. 106 Der passive Charakter des Affekts liegt bereits im Begriff des πάθος begründet, mit dem sich im Griechischen die Assoziation des Passiven verbindet. Vgl. dazu Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, Darmstadt 2002, S. 71. 107 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1108a 4–9. 108 Vgl. ebd. 1106a 2f. 109 Vgl. dazu Aristoteles’ Ausführungen zur Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit menschlichen Tuns und, damit verbunden, zur Verantwortung für derartiges Tun. Die Behandlung dieser Thematik findet sich vor allem im dritten Buch der Nikomachischen Ethik.
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Die Affekte sind also weder die Tüchtigkeiten noch die Schlechtigkeiten, denn wir werden nicht aufgrund der Affekte sittlich hochstehend (σπουδαίοι) oder niedrigstehend (φαύλοι) genannt, [sondern] aufgrund der Tüchtigkeiten und Schlechtigkeiten werden wir so genannt; und wir werden nicht aufgrund der Affekte gelobt oder getadelt – nicht nämlich wird jemand gelobt, der Angst hat oder der zornig ist, und es wird auch nicht der Zornige an sich getadelt, sondern die Art und Weise [des Zornigwerdens].¹¹⁰
Das Maß über das „Wie“ (πῶς) der affektiven Reaktion, das nach Aristoteles den Ausschlag darüber gibt, ob jemand über gute Grundhaltungen verfügt und mithin ethisch tüchtig oder bei Fehlen derselben untüchtig ist, besteht nun in der bereits angesprochenen „Mitte“. So definiert Aristoteles die ἀρετή unter anderem auch als eine „ἕξις, die eine Form der Mitte ist, da sie auf die Mitte abzielt“¹¹¹. Wie James O. Urmson ausführt, geht es Aristoteles, wenn er von der „Mitte“ spricht, dabei nicht darum, dass wir stets in mittelmäßiger Weise affiziert werden und uns, um beim Beispiel des Zorns zu bleiben, folglich immer zwischen den Extremen „sehr zornig“ und „überhaupt nicht zornig“ bewegen sollten.¹¹² Folgten wir einer solchen Forderung, ergäbe sich die absurde Konsequenz, dass wir in jeder Situation mit dem gleichen gemäßigten Zorn reagieren würden. Wie widersinnig ein solches Verhalten wäre, wird deutlich, wenn man sich einige Beispiele vor Augen führt. Man denke sich beispielsweise eine Situation, in der jemand ganz ohne Absicht etwas fallen lässt und kaputt macht, und vergleiche diese mit einem Fall, in dem man beobachtet, wie ein wehrloser Mensch überfallen wird. Während es mit Blick auf die erste Situation eher unangebracht erscheint, überhaupt Zorn zu empfinden, oder, wenn überhaupt, dann nur in einer sehr gemäßigten Weise, wäre es, was die zweite Situation betrifft, angemessen, mit „heiligem Zorn“ gegen den Angreifer vorzugehen. „Das Mittlere“ (τὸ μέσον), das der sittlich Hochstehende Aristoteles zufolge trifft, ist daher, wie er schreibt, kein „arithmetisches Mittel“ (τὸ μέσον κατὰ τῆν ἀριθμητικὴν ἀναλογίαν)¹¹³, sondern ein „Mittleres in Bezug auf uns“ (τὸ μέσον πρὸς ἡμᾶς).¹¹⁴ Betrachtet man dies vor dem Hintergrund der aristotelischen Auffassung über das Verhältnis zwischen den „festen Grundhaltungen“ und den „Affekten“, ergibt sich für das Mittlere im Bereich der Affekte, dass es zwischen einem „Zuviel“ (ὑπερβολή) und einem „Zuwenig“ (ἔλλειψις) des Affiziertwerdens liegt und als solches für eine Ange-
110 Aristoteles Nikomachische Ethik 1105b 28–1106a 1. 111 Ebd. 1106b 27f.: „μεσότης τις ἄρα ἐστὶν ἡ ἀρετή͵ στοχαστική γε οὖσα τοῦ μέσου.“ 112 Vgl. James O. Urmson: „Aristotle’s Doctrine of the Mean“, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.): Essays on Aristotle’s Ethics, (Reihe: Major thinkers series, Bd. 2), Berkeley/Los Angeles/London 1980, S. 161f.; sowie ders.: Aristotle’s Ethics, Oxford 1988, S. 28–35. 113 Ein solches „arithmetisches Mittel“ würde, könnte man das Empfinden von Zorn mit Hilfe einer Skala messen, das eben angesprochene „mittelmäßige Zornigsein“ darstellen. 114 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1106a 35f.
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messenheit des jeweiligen Affekts steht.¹¹⁵ Dann Furcht zu empfinden, wenn und in dem Maß, in dem dieses angebracht ist, sich jedoch nicht immer und schon beim leisesten Anzeichen einer Gefahr zu fürchten, das zeichnet aristotelisch gedacht den Tapferen aus, der sich als solcher in Bezug auf den Affekt der Furcht „in einer guten Weise“ verhält.¹¹⁶ Wie hier deutlich wird, stellt die ἀρετή eine Mitte zwischen zwei negativ bewerteten Extremen dar,¹¹⁷ die durch das besagte „Zuviel“ beziehungsweise ein „Zuwenig“ charakterisiert sind, das sich in vielfältiger Weise äußern kann. So beziehen sich die Vorwürfe der ὑπερβολή und der ἔλλειψις nicht nur auf ein, empfindungsmäßig gesehen, zu starkes oder zu schwaches Affiziertwerden, sie finden nach Aristoteles auch dann ihre Berechtigung, wenn jemand beispielsweise zu oft oder zu selten, zu einer unpassenden Gelegenheit oder auch am falschen Ort affiziert wird. Eine Passage, die den eben skizzierten Gedankengang des Aristoteles zum Verhältnis zwischen der Mitte und der sittlichen Tüchtigkeit in einer sehr prägnanten Weise zusammenzufassen vermag, findet sich in der Nikomachischen Ethik. Dort schreibt Aristoteles im fünften Kapitel des zweiten Buches: Die Tüchtigkeit (...) ist auf die Mitte abzielend. Ich spreche hier natürlich von der sittlichen [Tüchtigkeit]. Diese nämlich bezieht sich auf die Affekte und die Handlungen, und in diesen gibt es ein Zuviel, ein Zuwenig und ein Mittleres. So gibt es zum Beispiel beim Empfinden von Furcht, beim Tapfersein, beim Begehren, beim Zornigwerden, beim Empfinden von Mitleid und ganz allgemein beim Empfinden von Lust und Unlust ein Zuviel und ein Zuwenig, und keines von beiden ist gut. Dieses aber dann, wenn es nötig ist, und in den richtigen Situationen, ferner gegenüber den Menschen, denen gegenüber es nötig ist, und um des richtigen Grundes willen und in der notwendigen Weise [zu empfinden], ist das Mittlere und das Beste, es ist das, was zur Tüchtigkeit gehört. Gleichermaßen gibt es auch im Bereich des Handelns ein Zuviel, ein Zuwenig und ein Mittleres. Die Tüchtigkeit aber bezieht sich auf die Affekte und die Handlungen, in deren Fall das Zuviel ein Sichverfehlen bedeutet und das Zuwenig getadelt wird, das Mittlere jedoch das Richtige trifft und gelobt wird. Beides aber ist der Tüchtigkeit eigen. Eine Form der Mitte ist also die Tüchtigkeit, da sie auf die Mitte abzielt.¹¹⁸
115 Zu dem Vorschlag, das aristotelische εὖ ἔχειν πρὸς τὰ πάθη als eine Form der Angemessenheit (appropriateness) zu deuten, vgl. u. a. Gerard J. Hughes: The Routledge Philosophy Guidebook to Aristotle on Ethics, London 2001, S. 61–63. 116 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1107a 34–1107b 4. 117 Aristoteles’ Formulierung in Nikomachische Ethik 1107a 2 lautet: „μεσότης δὲ δύο κακιῶν“. 118 Ebd. 1106b 14–28: „ἡ δ΄ ἀρετὴ πάσης τέχνης ἀκριβεστέρα καὶ ἀμείνων ἐστὶν ὥσπερ καὶ ἡ φύσις͵ τοῦ μέσου ἂν εἴη στοχαστική. λέγω δὲ τὴν ἠθικήν· αὕτη γάρ ἐστι περὶ πάθη καὶ πράξεις͵ ἐν δὲ τούτοις ἔστιν ὑπερβολὴ καὶ ἔλλειψις καὶ τὸ μέσον. οἷον καὶ φοβηθῆναι καὶ θαρρῆσαι καὶ ἐπι θυμῆσαι καὶ ὀργισθῆναι καὶ ἐλεῆσαι καὶ ὅλως ἡσθῆναι καὶ λυπηθῆναι ἔστι καὶ μᾶλλον καὶ ἧττον͵ καὶ ἀμφότερα οὐκ εὖ· τὸ δ΄ ὅτε δεῖ καὶ ἐφ΄ οἷς καὶ πρὸς οὓς καὶ οὗ ἕνεκα καὶ ὡς δεῖ͵ μέσον τε καὶ ἄριστον͵ ὅπερ ἐστὶ τῆς ἀρετῆς. ὁμοίως δὲ καὶ περὶ τὰς πράξεις ἔστιν ὑπερβολὴ καὶ ἔλλειψις καὶ τὸ μέσον. ἡ δ΄ ἀρετὴ περὶ πάθη καὶ πράξεις ἐστίν͵ ἐν οἷς ἡ μὲν ὑπερβολὴ ἁμαρτάνεται καὶ ἡ ἔλλειψις [ψέγεται]͵ τὸ δὲ μέσον ἐπαινεῖται καὶ κατορθοῦ ται· ταῦτα δ΄ ἄμφω τῆς ἀρετῆς. μεσότης τις ἄρα ἐστὶν ἡ ἀρετή͵ στοχαστική γε οὖσα τοῦ μέσου.“
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Indem die ἕξεις – sowohl die ἀρεταί als auch die κακίαι – einen Menschen so disponieren, dass er affektmäßig/affektiv in einer angemessenen Weise auf eine bestimmte Situation reagiert, machen sie ihn ebenfalls dazu geneigt, sich, was sein Handeln betrifft, für gewöhnlich in einer bestimmten Weise zu entscheiden.¹¹⁹ So wird der tapfere Mensch, wenn er in einer gefährlichen Situation vor die Wahl gestellt ist zu fliehen oder der Gefahr zu begegnen, aufgrund seiner Tüchtigkeit das angemessene Maß an Furcht empfinden und sich dementsprechend für die Flucht oder das Standhalten entscheiden. In diesem Sinne zielt die sittliche Tüchtigkeit nicht nur auf die Mitte ab, sie ist, wie Aristoteles sagt, auch eine feste Grundhaltung, die „auf Entscheidung hingeordnet ist“ (ἕξις προαιρετική). Obwohl die ἀρεταί dabei in der beschriebenen Weise Entscheidungen befördern und damit gleichsam auch das Handeln des Menschen bestimmen,¹²⁰ wäre es jedoch verfehlt, hier eine Form von Determinismus anzunehmen. Sicherlich ist der sittlichen Tüchtigkeit ein sehr starker Einfluss auf die προαίρεσις des Menschen einzuräumen und man wird jemandem, der sich fortwährend anders entscheidet, als es aufgrund der ihm zugesprochenen Tüchtigkeit zu erwarten wäre, dieselbe absprechen können. Dennoch bedingt die ἀρετή nicht Entscheidungen mit der Kraft der Notwendigkeit.¹²¹ Deutlich wird dies zum Beispiel anhand einer schlechten ἕξις wie der Feigheit. So ist es denkbar, dass ein feiger Mensch in einer Gefahrensituation Furcht empfindet und Reißaus nehmen möchte, sich jedoch beherrscht und ausharrt.¹²² In einem solchen Fall entscheidet sich der Betreffende gegen den ursprünglichen, durch den Affekt der Furcht bedingten Handlungsimpuls dazu, eine andere Handlungsmöglichkeit vorzuziehen. Wie Gerard Hughes anmerkt, erklärt der Umstand, dass so etwas möglich ist, warum Aristoteles die ἀρεταί zwar an einer Stelle als „Formen von Entscheidungen“ (τίνες προαιρέσεις) bestimmt, dabei aber gleichzeitig einschränkend hinzufügt, dass sie jedenfalls zumindest nicht ohne ein Element der Entscheidung vorlägen.¹²³ Mögen die Grundhaltungen eines Menschen seine Entscheidungen zugunsten bestimmter Handlungsmöglichkeiten also auch stark beeinflussen, ist es folglich trotzdem unangebracht, hier einen durch die ἕξεις bestimmten Determinismus am Werk zu sehen.¹²⁴
119 Vgl. Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, S. 71: „Der Affekt ist zunächst eine passive Reaktion auf einen Sachverhalt, führt dann aber auch zu einer Strebung. Ein Sachverhalt, der mit Lust erfahren wird, führt zu der Strebung, ihn zu erhalten; ein Sachverhalt mit Unlust erlebt wird, ruft, wie im Beispiel des Zorns, die Strebung hervor, den Sachverhalt zu beseitigen (...).“ 120 Vor diesem Hintergrund ist die auch eben schon zitierte Aussage des Aristoteles zu verstehen, gemäß welcher sich die ἀρετή auf die Affekte und die Handlungen bezieht (ἡ δ΄ ἀρετὴ περὶ πάθη καὶ πράξεις ἐστίν), vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1106b 24f. 121 Vgl. dazu Gerard J. Hughes: The Routledge Philosophy Guidebook to Aristotle on Ethics, S. 68 122 Vgl. ebd. S. 70. 123 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1106a 2–4. 124 Wäre ein derartiger Determinismus anzunehmen, ergäbe sich zudem das Problem, dass es einem Menschen unmöglich wäre, seine festen Grundhaltungen zu ändern. Wie erläutert entstehen diese
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Ein weiterer Bestandteil der abschließenden Definition, die Aristoteles von der ἀρετή ἠθική gibt, besteht darin, dass die auf uns bezogene Mitte derart ist, dass sie durch einen λόγος festgelegt ist, und zwar durch denjenigen, mit dessen Hilfe der über praktische Einsicht Verfügende die Mitte bestimmen würde.¹²⁵ Diese nähere Bestimmung des für Aristoteles’ Konzept der sittlichen Tüchtigkeit so wichtigen Begriffes der „Mitte“ trägt einer Schwierigkeit Rechnung, die sich aus dem bisher Gesagten beziehungsweise noch nicht Gesagten ergibt. So fällt auf, dass Aristoteles’ Begriff der Mitte, auf welche die Tüchtigkeit als eine gute feste Grundhaltung hingeordnet ist, rein formal ist und daher keinen Maßstab für das konkrete Handeln darstellt. Weiß man nämlich auch, dass es aristotelisch gedacht nötig ist, hinsichtlich eines Affektes wie des Zornes die Mitte zu treffen, ergibt sich daraus noch kein Wissen darüber, was dies in einer konkreten Situation bedeutet, worin die Mitte in einem bestimmten Fall des Zornigseins liegt. Wie zornig soll man eigentlich werden, wenn man beispielsweise über einen längeren Zeitraum hinweg beleidigt wird? Wie sehr soll man sich über etwas freuen?¹²⁶ Wo liegt in derartigen Situationen die zu treffende Mitte? Aristoteles selbst weist auf das Problem, dass das bisher über die Mitte Gesagte nur formal ist, hin, indem er ausführt: Es ist notwendig, dieses [i. e. das, was über das Treffen der Mitte gesagt worden ist] nicht nur im Allgemeinen auszuführen, sondern auch auf Einzelfälle anzuwenden. In den Darlegungen über menschliche Handlungen sind nämlich die [allgemeinen Aussagen] leerer, die Aussagen über die Teile [i. e. Einzelfälle] jedoch näher an der Wahrheit. Im Bereich der Einzelfälle nämlich vollziehen sich menschliche Handlungen und es ist nötig, dass [unsere Aussagen] mit diesen im Einklang stehen.¹²⁷
Und an anderer Stelle schreibt er: Es ist zwar einerseits wahr, so zu sprechen [i. e., zu behaupten, dass die Mitte getroffen werden müsse], andererseits ist es überhaupt nicht deutlich. Auch im Bereich der übrigen menschlichen Bemühungen, bezüglich derer es ein Wissen gibt, ist es zwar wahr, dieses zu behaupten, dass es notwendig sei, sich weder zu viel noch zu wenig anzustrengen oder auszuruhen, sondern die Mitte so zu treffen, wie [es] die richtige Planung [vorschreibt]. Hätte jedoch jemand nur dieses [Wissen], wäre er um nichts
nämlich durch die Wiederholung bestimmter Formen des Handelns, so dass es, falls die bereits erworbenen ἕξεις das Handeln eines Menschen mit Notwendigkeit bestimmen würden, diesem nicht mehr möglich wäre, seine Grundhaltungen durch eine Änderung seines Handelns und einer damit verbundenen „Umgewöhnung“ zu verändern. Dass die Möglichkeit der Änderung der ἕξεις nach Aristoteles trotz einiger damit verbundener Schwierigkeiten möglich ist, erörtert dieser im siebten und achten Kapitel des dritten Buches der Nikomachischen Ethik (1113b 3–1115a 3). 125 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1106b 36–1107a 2. 126 Dass sich Aristoteles der Schwierigkeiten, die im Einzelnen mit dem Treffen der richtigen Mitte verbunden sind, bewusst ist, zeigt unter anderem Nikomachische Ethik 1109a 24ff. 127 Ebd. 1107a 28–32: „Δεῖ δὲ τοῦτο μὴ μόνον καθόλου λέγεσθαι͵ ἀλλὰ καὶ τοῖς καθ΄ ἕκαστα ἐφαρμόττειν. ἐν γὰρ τοῖς περὶ τὰς πράξεις λόγοις οἱ μὲν καθόλου κοινότεροί εἰσιν͵ οἱ δ΄ ἐπὶ μέρους ἀληθινώτεροι· περὶ γὰρ τὰ καθ΄ ἕκαστα αἱ πράξεις͵ δέον δ΄ ἐπὶ τούτων συμφωνεῖν.“
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wissender. Ginge es zum Beispiel darum, was dem Körper zu verabreichen ist[, wüsste er um nichts mehr,] wenn jemand sagen würde, dass das [zu verabreichen sei], was die Kunst des Arztes vorschreibt und wie es der, der in dieser Kunst fachkundig ist, empfehlen würde. Daher ist es auch mit Blick auf die festen Grundhaltungen der Seele notwendig, dass das Gesagte nicht nur wahr ist, sondern dass es auch bestimmt sei, was der richtige λόγος ist und wie seine Bestimmung lautet, wo seine Grenze liegt.¹²⁸
Um also einem möglichen Vorwurf, dass auch seine Rede vom Treffen der Mitte etwas rein Formales und somit für die Praxis Nutzloses darstelle, zu begegnen, merkt Aristoteles an, dass die Mitte durch denjenigen λόγος festgelegt sei, mit dessen Hilfe sie der über sittliche Einsicht Verfügende festlegen würde. Während folglich der Begriff der „Mitte“ das formale Maß für die Richtigkeit des Affektes darstellt, besteht dieses Maß, inhaltlich betrachtet, in dem besagten, durch einen von einem φρόνιμος festgelegten λόγος. In einer bestimmten Situation angemessen affiziert zu werden, das bedeutet dementsprechend, in der Weise affiziert zu werden, wie es dem sittlich Einsichtigen widerfahren würde, wäre er in dieser Situation.¹²⁹ Da Aristoteles an dieser Stelle allerdings noch nicht näher bestimmt, was er unter einem φρόνιμος versteht,¹³⁰ und infolgedessen auch nicht deutlich wird, in welcher Weise dieser einen λόγος anzugeben vermag, der die richtige Mitte festlegt, bleibt Aristoteles’ Aussage trotz der Einführung des λόγος des φρόνιμος vorerst noch rein formal.¹³¹ Dennoch ist dieser Ansatz zur Angabe eines Kriteriums zur inhaltlichen Bestimmung der μεσότης höchst interessant. Zum einen eröffnet Aristoteles mit seinem Verweis auf den φρόνιμος eine Perspektive darauf, wie ein solches inhaltliches Kriterium aussehen könnte und in welcher Richtung danach zu fragen wäre.¹³² Zum anderen weist Aristoteles’ Rede vom λόγος des φρόνιμος darauf hin, dass, wie Gerard
128 Ebd. 1138b 25–34: „ἔστι δὲ τὸ μὲν εἰπεῖν οὕτως ἀληθὲς μέν͵ οὐθὲν δὲ σαφές· καὶ γὰρ ἐν ταῖς ἄλλαις ἐπιμελείαις͵ περὶ ὅσας ἐστὶν ἐπιστήμη͵ τοῦτ΄ ἀληθὲς μὲν εἰπεῖν͵ ὅτι οὔτε πλείω οὔτε ἐλάττω δεῖ πονεῖν οὐδὲ ῥᾳθυμεῖν͵ ἀλλὰ τὰ μέσα καὶ ὡς ὁ ὀρθὸς λόγος· τοῦτο δὲ μόνον ἔχων ἄν τις οὐδὲν ἂν εἰδείη πλέον͵ οἷον ποῖα δεῖ προσφέρεσθαι πρὸς τὸ σῶμα͵ εἴ τις εἴπειεν ὅτι ὅσα ἡ ἰατρικὴ κελεύει καὶ ὡς ὁ ταύτην ἔχων. διὸ δεῖ καὶ περὶ τὰς τῆς ψυχῆς ἕξεις μὴ μόνον ἀληθῶς εἶναι τοῦτ΄ εἰρημένον͵ ἀλλὰ καὶ διωρισμένον τίς ἐστιν ὁ ὀρθὸς λόγος καὶ τούτου τίς ὅρος.“ Dazu, dass ὅρος hier nicht mit Definition, sondern mit „Grenze“ zu übersetzen ist, vgl. Gerard J. Hughes: The Routledge Philosophy Guidebook to Aristotle on Ethics, S. 88. 129 Vgl. Harold H. Joachim: Aristotle. The Nicomachean Ethics, S. 164f. 130 In ausführlicher Weise widmet sich Aristoteles dieser Frage erst im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik. Als Grund dafür, dass er eine derartige Bestimmung an diesem Punkt noch nicht vornimmt, führt Harold H. Joachim an: „Here – since Aristotle is at present concerned with virtue on its emotional side in abstraction from the controlling intelligence which it requires – he simply assumes the φρόνιμος.“ Vgl. Harold H. Joachim: Aristotle. The Nicomachean Ethics, S. 89. 131 Vgl. dazu Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, S. 130f. Wenngleich Frau Wolf hier eine andere Stelle aus der Nikomachischen Ethik kommentiert, treffen die von ihr gemachten Aussagen der Sache nach auch auf den hier diskutierten Punkt zu. 132 Darauf wird im Rahmen der Behandlung des aristotelischen Begriffes der φρόνησις noch genauer eingegangen werden.
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Hughes anmerkt, die menschlichen Affekte, aristotelisch gedacht, „(...) nicht einfach als gegeben zu akzeptieren sind“¹³³. Ob jemand in Hinsicht auf seine Affekte die richtige Mitte trifft, ist vielmehr Gegenstand rationaler Betrachtungen, aufgrund derer eine begründete Einsicht in Bezug auf die Frage nach dem Treffen der Mitte gewonnen werden kann. Um einen solchen „Begründungszusammenhang“ angeben zu können, ist es Aristoteles zufolge notwendig, über „sittliche Einsicht“ (φρόνησις) zu verfügen, mit deren Hilfe der φρόνιμος in der Lage ist richtig einzuschätzen, wie affektiv angemessen zu reagieren ist.¹³⁴ Dieses ist dabei nicht dahin gehend misszuverstehen, dass sich eine solche angemessene Reaktion als eine direkte Folge der sittlichen Einsicht ergibt.¹³⁵ Da der φρόνιμος allerdings einen Logos angeben kann, mit dessen Hilfe gute und schlechte feste Grundhaltungen zu unterscheiden sind, stellt seine Einsicht und die Befolgung derselben die Grundlage für die Einübung und mithin für die Entstehung guter fester Grundhaltungen dar. Der Gedanke, dass die φρόνησις in dieser Weise Einfluss auf die Bildung von ἕξεις nehmen könne, lenkt den Blick auf einen wichtigen Aspekt des Verhältnisses zwischen sittlicher Tüchtigkeit und sittlicher Einsicht. Bevor dieses Verhältnis und die aus diesem resultierende „Entscheidung“ Gegenstand einer genaueren Betrachtung werden, soll nun jedoch zunächst auf Aristoteles’ Verständnis der φρόνησις eingegangen werden.
7.4.2 φρόνησις Wie Aristoteles im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik erklärt, verfügt derjenige Mensch über „sittliche Einsicht“, der die Fähigkeit hat, (...) sich über das für ihn Gute und Nützliche in schöner Weise zu beratschlagen (βουλευσασθαι), und zwar nicht in Hinblick auf einen Teilbereich wie beispielsweise das, was das für die Gesundheit oder die Kraft Gute und Zuträgliche ist, sondern in Bezug auf das, was das Gute und Zuträgliche für den guten Lebensvollzug im Allgemeinen ist.¹³⁶
133 Gerard J. Hughes: The Routledge Philosophy Guidebook to Aristotle on Ethics, London 2001, S. 64. 134 Vgl. ebd. S. 64. 135 Wie Aristoteles formuliert, ist es nicht so, dass es sich ein sittlich lasterhafter Mensch wie ein Ungerechter nach einer möglichen Einsicht in das eigene Fehlverhalten nur zu wünschen bräuchte, gerecht zu werden, und infolgedessen aufhören würde, ungerecht zu sein. Auch ein Kranker nämlich, so Aristoteles, könne ja nicht auf diese Weise wieder gesund werden. Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1114a 13–15. 136 Aristoteles Nikomachische Ethik 1140a 25–28: „δοκεῖ δὴ φρονίμου εἶναι τὸ δύνασθαι καλῶς βουλεύσασθαι περὶ τὰ αὑτῷ ἀγαθὰ καὶ συμφέροντα͵ οὐ κατὰ μέρος͵ οἷον ποῖα πρὸς ὑγίειαν͵ πρὸς ἰσχύν͵ ἀλλὰ ποῖα πρὸς τὸ εὖ ζῆν ὅλως.“ Zu der Einschränkung, die Aristoteles hier hinsichtlich des Gegenstandes der Beratschlagung des φρόνιμος einführt und die die sittliche Einsicht vom Bereich des technischen Wissens absondert, vgl. Theodor Ebert: „Phronêsis. Anmerkungen zu einem Begriff der Aristotelischen Ethik (VI 5, 8–13)“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Ber-
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Indem Aristoteles die φρόνησις aus dem Bereich des rein Technischen herauslöst¹³⁷ und den φρόνιμος als einen Menschen bestimmt, der fähig ist, sich in schöner Weise mit Blick auf die Praxis des guten Lebens im Allgemeinen und nicht nur hinsichtlich der Mittel zur Verwirklichung von außerhalb des Handelns bestehenden Einzelzielen zu beratschlagen, gelingt ihm die Rückbindung der sittlichen Einsicht an das für ihn zentrale Thema der Ethik – die εὐδαιμονία.¹³⁸ Dabei fällt auf, dass Aristoteles anders als Platon nicht davon ausgeht, dass es für das „gute Leben“ und die damit einhergehende εὐδαιμονία notwendig sei, eine Einsicht in ein vollendetes Gutes wie die Idee des Guten zu gewinnen. An die Stelle eines solchen Wissens tritt für Aristoteles das dem φρόνιμος zugesprochene ἔργον des „sich gut Beratens“ (τὸ εὖ βουλεύεσθαι),¹³⁹ das die Verwirklichung des guten Lebens zum Ziel hat. Diese nähere Bestimmung der Tätigkeit des φρόνιμος, der sich gut zu beraten versteht,¹⁴⁰ ist vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, dass Aristoteles die φρόνησις auch als die ἀρετή eines der beiden Teile des μέρος λόγον ἔχον der Seele begreift, nämlich die des „abwägenden“ (λογιστικόν).¹⁴¹ Im Unterschied zu ihrem Gegenstück, dem ἐπιστημονικόν, hat diese Untersektion des „logischen“ Teiles der Seele dasjenige zum Gegenstand, welches Veränderung zulässt, während der „auf sicheres Wissen hingeordnete Teil“ sich nur auf solches bezieht, das sich in keinerlei Weise verändert. Niemand nämlich, so Aristoteles, wägt ab beziehungsweise berät sich¹⁴² über etwas, das keine Veränderung zulässt. Das Veränderung Zulassende, über welches der über die Tüchtigkeit der „sittlichen Einsicht“ verfügende Mensch mit sich zu Rate geht, sind nun die für den Menschen im Bereich des Handelns verwirklichbaren Güter. So definiert Aristoteles die φρόνησις als eine (...) feste Grundhaltung, die mit einem richtigen Begründungszusammenhang verbunden ist und die auf das Handeln in dem Bereich gerichtet ist, in dem die für den Menschen verwirklichbaren Güter liegen.¹⁴³
Obwohl Aristoteles betont, dass die sittliche Einsicht auf den Vollzug der Praxis des εὖ ζῆν im Allgemeinen abzielt, zeigen andere Stellen in der Nikomachischen Ethik, dass der Gegenstandsbereich der φρόνησις darüber hinaus auch die Güter umfasst, die im
lin 1995, S. 166; Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik’, S. 146f. 137 Noch deutlicher wird dies in Nikomachische Ethik 1140b 1ff. 138 Vgl. Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik’, S. 147. Auf den von Aristoteles angenommenen Zusammenhang zwischen der menschlichen Praxis und seiner εὐδαιμονία wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden. 139 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1141b 9f. 140 Der φρόνιμος wird von Aristoteles auch als βουλευτικός bezeichnet. Vgl. Nikomachische Ethik 1140a 30f. 141 Vgl. ebd. 1140b 25–28. 142 Laut Aristoteles ist das „Abwägen“ identisch mit dem „sich Beratschlagen“. Vgl. ebd. 1139a 12f. 143 Ebd. 1140b 20–21: „ὥστ΄ ἀνάγκη τὴν φρόνησιν ἕξιν εἶναι μετὰ λόγου ἀληθῆ περὶ τὰ ἀνθρώπινα ἀγαθὰ πρακτικήν.“
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Rahmen von auf Einzelfälle bezogenen πράξεις zu verwirklichen gesucht werden.¹⁴⁴ Im Kontext derartiger Einzelfallhandlungen ist es dabei deswegen besonders wichtig, sich wohl zu beraten, weil es, mit Aristoteles gedacht, aufgrund der Unterschiedlichkeit der einzelnen Handlungssituationen nicht unmittelbar erkennbar ist, was es jeweils bedeutet, gut zu handeln. Um die εὐπραξία zu verwirklichen, folgert Aristoteles, müsse man daher beide Formen der sittlichen Einsicht haben. Diejenige, welche sich auf das gute Handeln im Allgemeinen richtet, und die, die das gute Handeln im konkreten in den Blick nimmt, wobei Letztere laut Aristoteles die wichtigere ist. Interessant an der aristotelischen Definition der φρόνησις ist des Weiteren, dass sie die sittliche Einsicht als eine gute ἕξις bestimmt.¹⁴⁵ Für die φρόνησις ergibt sich daraus, dass sie, wie ebenfalls schon zuvor angemerkt worden ist, eine ἀρετή darstellt, und zwar die desjenigen Teils der Seele, der als „λογιστικόν“ bezeichnet worden war und den Aristoteles an anderer Stelle auch das μέρος δοξαστικόν, den „meinenden Teil“, nennt. Denn, so begründet Aristoteles die Möglichkeit, den besagten Seelenteil auch mit dieser Bezeichnung zu belegen, sowohl die δόξα als auch die sittliche Einsicht haben das zum Gegenstand, was sich anders verhalten kann.¹⁴⁶ Die gegen Platon gerichtete Provokation, die die aristotelische Einordnung der φρόνησις in den Bereich der δόξα enthält, wird nur noch durch die These übertroffen, dass der φρόνιμος, dessen λόγος immerhin das Maß für die richtige, „tüchtige“ Mitte darstellt, „wohlberaten“ sei. Aristoteles geht dabei sogar so weit, den Schluss zu ziehen, dass, wenn es Sache der sittlich Einsichtigen ist, wohlberaten zu sein, die „Wohlberatenheit“ (εὐβουλία) die Richtigkeit ist in Bezug auf das, was zum Erreichen des Zieles beiträgt, welches von der φρόνησις richtig erfasst wird.¹⁴⁷ Deutlicher könnte sich Aristoteles in diesem Punkt wohl kaum von seinem Lehrer Platon distanzieren, spricht er damit doch dem φρόνιμος die von Platon vielfach kritisierte „Paradetüchtigkeit“ des Sophisten zu. Dass und inwiefern sich der aristotelische φρόνιμος beziehungsweise der über sittliche Einsicht und sittliche Tüchtigkeit verfügende σπουδαῖος jedoch auch in wesentlichen Hinsichten von einem Sophisten unterscheidet, wird deutlich, wenn man in den Blick nimmt, wie und worüber sich der φρόνιμος wohlberät.
144 Vgl. ebd. 145 Dass die φρόνησις als eine gute feste Grundhaltung zu betrachten ist, wird man hier ergänzend hinzufügen dürfen. 146 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1140b 27f. Was diesen Punkt betrifft, werden auch Parmenides und Platon mit Aristoteles übereinstimmen. 147 Entscheidet man sich für die zweite der beiden Möglichkeiten, der gemäß sich die φρόνησις lediglich auf die Mittel bezieht, wird sie damit wieder sehr in die Nähe der τέχνη gerückt. Darauf, dass eine Analyse der aristotelischen Texte eine solche Nähe zwischen φρόνησις und τέχνη nicht ganz auszuschließen vermag, weist u. a. Ursula Wolf hin. Zu dieser Problematik und der diese verhandelnden Sekundärliteratur, vgl. Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, S. 146–154.
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So birgt Aristoteles’ eben zitierte Bestimmung der „Wohlberatenheit“ nicht nur eine Provokation, sie stellt den Leser darüber hinaus auch vor ein Interpretationsproblem, das den Gegenstand der besagten „Wohlberatenheit“ betrifft. Der Hintergrund, vor dem diese Problematik zu betrachten ist, besteht in einer Unterscheidung, die Aristoteles unter anderem im ersten Buch der Nikomachischen Ethik einführt. Dort weist er darauf hin, dass zu differenzieren sei zwischen Gütern, die man um anderer Güter willen verfolgt, und Gütern, die um ihrer selbst willen erstrebt werden.¹⁴⁸ Einfacher formuliert bedeutet dies eine Unterscheidung zwischen mittleren Gütern und Endzielen. Schreibt Aristoteles nun, dass sich die φρόνησις auf das für den Menschen verwirklichbare Gute richte, stellt sich sofort die Frage, was genau damit gemeint ist, ob sich die Wohlberatenheit des φρόνιμος nur auf die Mittel zur Verwirklichung der jeweiligen Endziele beziehe oder ob sowohl Mittel als auch die Endziele zu ihrem Gegenstandsbereich gehören.¹⁴⁹ In diesem Fall macht es die Sachlage sehr schwierig, dass die Befürworter beider Antwortmöglichkeiten Textbelege heranziehen können, die imstande sind, ihre jeweilige Position zu unterstützen. Nimmt man beispielsweise an, dass die sittliche Einsicht nur die Mittel zur Verwirklichung eines Zieles zum Gegenstand habe, lässt sich eine Stelle aus der Nikomachischen Ethik anführen, in welcher es heißt: Die sittliche Tüchtigkeit macht das Ziel¹⁵⁰ richtig, die φρόνησις das, was auf das Ziel bezogen ist.¹⁵¹
Ein Vertreter der Gegenposition, der gemäß die φρόνησις sowohl auf Endziele als auch auf die Mittel zu deren Erreichen gerichtet ist, könnte dagegen auf die bereits paraphrasierte Passage verweisen, die die Bestimmung der εὐβουλία enthält. Dort schreibt Aristoteles: Wenn das Wohlberatensein nun Sache der sittlich Einsichtigen ist, so ist die Wohlberatenheit eine Richtigkeit in Bezug auf das, was zum [Erreichen des] Ziel[es] beiträgt, von dem die sittliche Einsicht eine wahre Annahme ist.¹⁵²
Obwohl sich folglich die Befürworter beider Positionen auf Textstellen aus der Nikomachischen Ethik berufen können, legt es der Gesamtzusammenhang dessen, was
148 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1097a 25ff. 149 Logisch gesehen ist noch eine dritte Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die darin besteht, dass sich die φρόνησις nur auf die Endziele, nicht aber auch auf die Mittel zu deren Verwirklichung richtet. Für die Annahme, dass Aristoteles diese zwar logisch mögliche Variante vorziehe, lassen sich in den Ethiken allerdings keine Belege finden, weshalb sie im Weiteren nicht berücksichtigt werden wird. 150 Im Griechischen steht hier τὸν σκοπὸν. Wörtlich wäre am ehesten zu übersetzen mit: „das, worauf man es absieht“. 151 Aristoteles Nikomachische Ethik 1144a 7–9: „ἡ μὲν γὰρ ἀρετὴ τὸν σκοπὸν ποιεῖ ὀρθόν͵ ἡ δὲ φρόνησις τὰ πρὸς τοῦτον.“ 152 Ebd. 1142b 31–33: „εἰ δὴ τῶν φρονίμων τὸ εὖ βεβουλεῦσθαι͵ ἡ εὐβουλία εἴη ἂν ὀρθότης ἡ κατὰ τὸ συμφέρον πρὸς τὸ τέλος͵ οὗ ἡ φρόνησις ἀληθὴς ὑπόληψίς ἐστιν.“
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Aristoteles in Bezug auf die hier verhandelte Fragestellung zu sagen hat, dennoch nahe, sich für die zweite der genannten Interpretationsmöglichkeiten zu entscheiden. Nimmt man nämlich auch an, dass die sittliche Tüchtigkeit einen Menschen aufgrund der durch sie bedingten affektmäßigen Reaktion in der Tat dazu geneigt macht, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, so stellt sich trotzdem fast immer das Problem, dass das in dieser Weise gesetzte Ziel nicht so klar umrissen ist, dass es als ein verfolgbares Handlungsziel in Frage käme. Denn wird beispielsweise die Tapferkeit einen mit dieser Tüchtigkeit ausgestatteten Menschen auch das rechte Maß an Furcht empfinden lassen und ihn dementsprechend dazu disponieren, sich je nach Situation weder zu draufgängerisch noch feige zu verhalten, ergibt sich aus diesem affektmäßigen Impuls noch kein Wissen darüber, worin genau in diesem Fall das Ziel des angemessenen tapferen Handelns besteht. So wird auch der tapferste Feldherr, der in einer Schlacht in richtiger Weise Furcht empfindet, trotzdem noch bedenken müssen, ob er mit seinen Soldaten im Angesicht der Übermacht des Feindes standhält oder sie fliehen lässt, weil ein Ausharren töricht wäre. Der Begriff des tapferen Handelns schließt keine dieser beiden Möglichkeiten von vornherein aus, weshalb sich aus ihm auch kein konkretes Handlungsziel ergibt und es daher notwendig ist, sich darüber zu beraten, worin konkret das Ziel des tapferen Handelns in einem Fall wie dem beschriebenen besteht. Gerard Hughes formuliert diese Schwierigkeit folgendermaßen: (...) even our most perfect virtuous inclinations may be too coarse-grained until shaped by a judgement of precisely how they are to fit the particular situation. We may feel inclined to be kind and generous, but until we have understood how to do that here and now, the virtuous inclination is not sharp enough. Yet, once we have understood what generosity and kindness require now, it is the action, which exactly embodies that understanding which now becomes the content of our virtuous inclination.¹⁵³
Setzt die ἀρετή folglich auch das Ziel im Sinne eines spontanen Handlungsimpulses, ist die mit Hilfe der Beratschlagung gewonnene Einsicht darüber, worin dieses Ziel genauerhin besteht, dennoch von zentraler Wichtigkeit für die Ausführung der Handlung. Beraten wir uns dementsprechend zwar nicht darüber, ob wir tapfer sein beziehungsweise handeln sollen oder nicht – dies ist, aristotelisch gedacht, in der Tat durch die Tüchtigkeit der Tapferkeit bestimmt¹⁵⁴ –, ist sowohl die Frage, wie das Ziel des tapferen Handelns in einer Situation zu präzisieren ist, als auch, welche Mittel zur Verwirklichung des Zieles ergriffen werden sollten, Gegenstand der Beratung des φρόνιμος.
153 Gerard J. Hughes: The Routledge Philosophy Guidebook to Aristotle on Ethics, S. 107. 154 Wiederum ist allerdings zu betonen, dass hier, wie schon zuvor angemerkt worden ist, nach Aristoteles kein Determinismus angenommen werden darf.
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Wie ein weiteres Argument zugunsten der Annahme, dass sich die φρόνησις nicht nur auf Mittel, sondern auch auf Endziele beziehe, aussehen könnte, ist bereits angedeutet worden.¹⁵⁵ Ihren Ausgang nimmt diese Argumentation von dem bisweilen beobachtbaren Phänomen der „Beherrschung“ (ἐγκράτεια). So räumt Aristoteles die Möglichkeit ein, dass sich ein Mensch, der sich schlechte Grundhaltungen angewöhnt hat, entgegen den durch seine ἕξεις bedingten affektiven Handlungsimpulsen beherrschen kann und, was seine Handlungen betrifft, nicht notwendigerweise diesen Impulsen folgend handeln wird. Der „Unbeherrschte“ (ἀκρατής) nämlich, schreibt Aristoteles, (...) handelt, indem er begehrt, entschieden hat. Umgekehrt handelt der Beherrschte, da er sich entschieden hat, nicht jedoch, weil er begehrt.¹⁵⁶
Was den Unterschied zwischen dem Handeln des Unbeherrschten und dem des Beherrschten setzt, ist, wie dieses Zitat verdeutlicht, nach Aristoteles nicht das jeweilige Begehren (ἐπιθυμεῖν). Der Unbeherrschte wie auch der Beherrschte begehren zunächst einmal dasselbe, sie richten sich auf dasselbe Ziel aus. Während jedoch der Erste diesem Begehren Folge leistet und eine entsprechende, auf das durch das Begehren bestimmte Ziel hingeordnete Handlung ausführt, ist das Handeln des Beherrschten noch durch ein weiteres wesentliches Element geprägt – das „Durch“oder „Bedenken“ (διάνοια).¹⁵⁷ Mit diesem ist Aristoteles zufolge die „Entscheidung“ (προαίρεσις), die als die Grundlage für das Handeln des Beherrschten angeführt worden war, aufs Engste verbunden; entscheiden wir uns doch, aristotelisch gedacht, für das, was uns im Rahmen einer „Beratung“ (βούλευσις) als das Vorzuziehende erscheint.¹⁵⁸ In Bezug auf das Handeln des Beherrschten ergibt sich daraus, dass
155 Dies ist im Kontext der Betrachtung des λόγος, mit dessen Hilfe der φρόνιμος Aristoteles zufolge die richtige Mitte festlegt, geschehen. 156 Aristoteles Nikomachische Ethik 1111b 13–15: „καὶ ὁ ἀκρατὴς ἐπιθυμῶν μὲν πράττει͵ προαιρούμενος δ΄ οὔ· ὁ ἐγκρατὴς δ΄ ἀνά παλιν προαιρούμενος μέν͵ ἐπιθυμῶν δ΄ οὔ.“ 157 Vgl. John A. Stewarts Kommentar zu Nikomachische Ethik 1102b 14 in: Notes on the Nicomachean Ethics of Aristotle I, Oxford 1892, S. 164: „In the ἐγκρατής or ‚continent man‘ and ἀκρατής or ‚incontinent man‘ there is a struggle between ἐπιθυμία and λόγος, with the result that, in the case of the ἐγκρατής, λόγος generally prevails, and in the case of the ἀκρατής ἐπιθυμία i. e. both know that it is wrong to follow pleasure, but feel inclined to follow it; the ἀκρατής, however, yields to his inclination, whereas the ἐγκρατής does not.“ 158 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1112a 15ff. Dass Aristoteles das auf Entscheidung basierende Handeln an der eben zitierten Stelle nur an den Beherrschten bindet, bedeutet nicht notwendigerweise, dass der Unbeherrschte nicht ebenfalls vor dem Beginn seines Handelns innehält und sich berät. Da diese Beratung jedoch nicht zu dem Ergebnis führt, dass es besser sei, nicht gemäß der ursprünglichen Begierde zu handeln, schreibt Aristoteles, dass der Unbeherrschte handele, da er begehrt, und nicht, da er sich entschieden hat. Lässt Aristoteles es hier unerwähnt, dass es auch im Fall des Unbeherrschten möglich ist, dass er sich beraten hat, so geschieht dies deswegen, weil er in dieser Weise betonen möchte, dass es das Element des Denkens im Sinne der Beratung ist, das den
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seine Begierde gleichsam durch den Filter der „Beratung“ gegangen ist, in deren Rahmen er zu dem Schluss gekommen ist, dass es besser wäre, seiner Begierde nicht nachzugeben. Als ein Beispiel für einen solchen Fall der Beherrschung – hier einer schlechten Begierde – mag ein übertrieben furchtsamer Mensch dienen, dem es trotz der Angst, die er in einer bestimmten Situation empfindet, besser erscheint, dem Impuls, fliehen zu wollen, nicht nachzugeben und der sich infolgedessen dazu entscheidet, sich der von ihm als gefährlich beurteilten Situation zu stellen. Auch das Beispiel des Beherrschten zeigt nun, dass und wie sich das Sich-Beraten und mithin auch die φρόνησις, deren ἔργον, wie erörtert, in dem für eine gute Entscheidung zentralen εὖ βουλεύσασθαι besteht, nach Aristoteles auf Endziele richten können. Denn im Unterschied zum Tier, denkt Aristoteles, ist das Handeln des Menschen nicht notwendigerweise durch Instinkte, Triebe oder auch Affekte determiniert. Vielmehr ist es dem Menschen, wie die Betrachtung des Phänomens der Beherrschung zeigt, möglich, sich hinsichtlich derartiger das Handeln mitbestimmender Faktoren zu verhalten und sich gegen derartige Handlungsimpulse zu entscheiden. Auf die Vielzahl an Fragen, die sich an dieser Stelle aus dem aristotelischen Ansatz ergeben, sei nun lediglich hingewiesen. So geht aus Aristoteles’ Ausführungen beispielsweise nicht hervor, weshalb sich manche Menschen beherrschen und andere nicht, weshalb also im Fall des Beherrschten die Beratung zu dem Schluss kommt, dass es besser sei, sich zu beherrschen, im Fall des Unbeherrschten allerdings nicht. Aristoteles konstatiert lediglich, dass es so ist, dass es Beherrschte und Unbeherrschte gibt. Ein weiteres Problem besteht in der Frage, ob es jemandem, der sich schlechte ἕξεις angewöhnt hat, überhaupt noch möglich ist, diese abzulegen und sittlich tüchtig zu werden. Diese Frage ist dabei insofern von Bedeutung, als sie mit dem Thema der Verantwortung für die eigenen Tüchtigkeiten und Schlechtigkeiten verbunden ist. Während es nun Stellen in den Ethiken gibt, in denen Aristoteles behauptet, dass dem lasterhaften Menschen eine solche Veränderung nicht mehr möglich sei, er aber dennoch die Verantwortung für seinen Charakter trage, da er in der Lage gewesen sei, sittlich gut und mithin die ἀρετή befördernd zu handeln, bevor er seine schlechten Grundhaltungen eingeübt hat, lassen sich allerdings auch andere Stellen finden, die es erlauben, Aristoteles bezüglich dieser Problematik anders zu interpretieren. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang die eben erörterte Möglichkeit der Beherrschung. Gilt nämlich nach Aristoteles, dass es dem Beherrschten möglich ist, gegen seine ursprünglichen schlechten Begierden zu handeln, die sich als Folgen schlechter ἕξεις ergeben, und nimmt man hinzu, dass, wie Aristoteles sagt, die Grundhaltungen aus dem wiederholten Tätigsein in einer bestimmten Weise
Beherrschten dazu bringt, nicht der Begierde entsprechend zu handeln, und dass dieses Element, was den Unbeherrschten betrifft, am Ende nicht das letzte Wort hat. Daher kann Aristoteles vereinfachend behaupten, dass der Unbeherrschte aufgrund seiner Begierde und nicht aufgrund einer Entscheidung handele.
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resultieren,¹⁵⁹ so folgt daraus, dass sich aus dem wiederholten durch Beherrschung bestimmten Handeln neue gute Grundhaltungen ergeben können. Verspürt beispielsweise jemand, der sehr gern isst, angesichts eines großen Buffets die Begierde, maßlos viel zu essen, besteht dennoch die Möglichkeit, dass er sich eines besseren besinnt und sich, nachdem er sich über die Vor- und Nachteile des Verzehrs dieses üppigen Mahles beraten hat, dazu entschließt, seiner Begierde dieses Mal nicht nachzugeben und sich statt dessen zu beherrschen. Isst dieser Mensch bei besagter Gelegenheit infolgedessen nicht übertrieben viel und beherrscht er sich zudem auch zukünftig, wenn er sich mit der Möglichkeit konfrontiert sieht, übermäßig viel zu essen, wird er, wenn es in der Tat so ist, dass wiederholte Handlungen derselben Art feste Grundhaltungen entstehen lassen, die ἕξις erwerben, stets dem rechten Maß entsprechend viel essen zu wollen.¹⁶⁰ Obwohl Aristoteles auf eine solche Möglichkeit der Änderung fester Grundhaltungen nicht explizit eingeht, kann dennoch aus dem, was er in Hinsicht auf die Themen der Entstehung von ἕξεις und der Beherrschung ausführt, der Schluss gezogen werden, dass eine derartige Möglichkeit in Betracht zu ziehen ist. Einen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen der Beherrschung schlechter Begierden und ihrer sich daraus ergebenden „Heilung“ findet sich im dritten Buch der Nikomachischen Ethik, in welchem Aristoteles davon spricht, dass manche Menschen freiwillig krank seien, da sie in unbeherrschter Weise leben (ἀκρατῶς βιοτεύων) und nicht auf die Ärzte hören.¹⁶¹ Entscheidet man sich aufgrund der angeführten Argumente dafür, den Gegenstandsbereich der φρόνησις nicht nur auf die Mittel zur Verwirklichung von Endzielen zu beschränken, sondern auch die Ziele selbst als Objekte der sittlichen Einsicht zu begreifen, ergibt sich daraus für den „ὀρθὸς λόγος“, mit dem die ἕξις der φρόνησις laut Aristoteles verbunden ist, dass er sich auf beide der besagten Arten von für den Menschen verwirklichbaren Gütern bezieht. Das, worüber sich der φρόνιμος wohlberät, umfasst folglich sowohl das jeweilige Ziel seines Handelns – wenn auch mit den beschriebenen Einschränkungen – als auch die Mittel, die nötig sind, um das Ziel zu erreichen. Werden die Ausführungen des Aristoteles zum Thema der φρόνησις in dieser Weise interpretiert, folgt daraus des Weiteren, dass einsichtig wird, weshalb Aristoteles behaupten kann, dass die „richtige Mitte“ durch denjenigen λόγος bestimmt sei, mit dessen Hilfe sie der Mensch der sittlichen Einsicht festlegen würde.¹⁶² Setzt nämlich die ἀρετή auch das Ziel einer Handlung fest, ist diese „Zielsetzung“, wie
159 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1103b–1105b 18. 160 Hat man diese Tüchtigkeit einmal erworben, ist der Verzicht darauf, in übertriebenem Maße zu essen, nicht mehr Ergebnis einer Beherrschung, da der in dieser Hinsicht Maßvolle spontan nur noch so viel essen wollen wird, wie es dem rechten Maß entspricht. 161 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1114a 15f. 162 Vgl. ebd. 1106b 36–1107a 2.
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erörtert, trotzdem auch Gegenstand menschlicher Beratung. So können wir uns bei uns selbst oder mit anderen darüber beratschlagen und abwägen, inwiefern eine affektmäßige Reaktion in einer bestimmten Situation zu stark oder zu schwach wäre und wie die richtige, angemessene Reaktion in einem solchen Fall aussehen sollte.¹⁶³ Beraten wir uns dabei gut, da das μέρος δοξαστικόν unserer Seele über die Tüchtigkeit der φρόνησις verfügt, dann werden wir als „wohlberatene φρόνιμοι“ imstande sein, jeweils einen „Begründungszusammenhang“ (λόγος) anzugeben, der ein – wenn auch nicht notwendiges – Wissen darüber vermittelt, wo die richtige Mitte einer affektiven Reaktion liegt.
7.4.3 Der σπουδαῖος als κανών und μέτρον Ist nun ein Mensch in dem Sinne tüchtig, dass ihm sowohl die ἀρετὴ ἠθική als auch die φρόνησις zugesprochen werden können, werden die „Entscheidungen“, die er in den jeweiligen Einzelsituationen trifft und die die ἀρχαί seiner Handlungen darstellen, „richtig“ sein; wird er doch dank der sittlichen Tüchtigkeit und der sittlichen Einsicht dem richtigen Ziel den Vorzug geben und sich als ein aufgrund seiner φρόνησις Wohlberatener auch für die richtigen Mittel zum Erreichen des Zieles entscheiden. Einen solchen Menschen, dessen Entscheidungen mit dem ὀρθὸς λόγος verbunden sind und der nach diesem handelt, bezeichnet Aristoteles als den σπουδαῖος, den „sittlich Hochstehenden“. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er über die besagten Tüchtigkeiten verfügt und infolgedessen das als gut erstrebt, was auch wahrhaftig gut ist, während dem sittlich niedrigstehenden (φαῦλος) Dinge gut zu sein scheinen, die nur zufällig gut sind. Aufgrund seiner Fähigkeit, sich in den jeweiligen Handlungssituationen in der richtigen Weise zu entscheiden und so dasjenige Gute auszumachen, das es zu verfolgen gilt, stellt der σπουδαῖος nach Aristoteles die „Richtschnur“ (κανών) und das „Maß“ (μέτρον) dar; „beurteilt“ (κρίνει) er doch „jeden Einzelfall“ (ἕκαστα) „in der richtigen Weise“ (ὀρθῶς).¹⁶⁴ Indem Aristoteles den σπουδαῖος zum Maß der richtigen Entscheidung und des richtigen Handelns macht, setzt er seine Position sowohl gegen die Platons als auch gegen die des Protagoras ab. Denn im Unterschied zum platonischen Philosophen, der in den Genuss der Erfahrung der Schau des Wahren gekommen ist und daher am schönsten zu urteilen vermag (κάλλιστα κρίνει),¹⁶⁵ basiert die Fähigkeit des Urteilens
163 In der Nikomachischen Ethik gibt Aristoteles selbst eine Reihe von Beispielen für solche Erwägungen und Beratungen, indem er im Kontext seiner Betrachtungen der einzelnen Tüchtigkeiten untersucht, wie die richtige Mitte zwischen zwei extremen Reaktionen zu bestimmen ist. Vgl. dazu u. a. Nikomachische Ethik 1107a 28ff. 164 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1113a 29–33. 165 Vgl. Platon Politeia 582c 7–d 2.
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des aristotelischen σπουδαῖος nicht auf einem sicheren, in Bezug auf die Ideen eingesehenen Wissen. Wie ausgeführt, ist es vielmehr die Einübung guter fester Grundhaltungen, der ἀρεταί, und das Vermögen, sich klug beraten zu können, das den ethisch wertvollen Menschen dazu befähigt, sich in den jeweiligen Einzelsituationen richtig zu entscheiden und nicht ein allgemeingültiges, notwendig wahres Wissen.¹⁶⁶ Gleichzeitig bedeutet die Bestimmung des ethisch Hochwertigen als „Richtschnur und Maß“ jedoch auch eine Abgrenzung von der Haltung, die der Sophist Protagoras in dieser Frage einnimmt. Während nämlich Protagoras davon ausgegangen war, dass, bedingt durch die Bindung jeden Urteils an den das Urteil Fällenden, das besser und schlechter ist, was dem Urteilenden als solches erscheint, unterscheidet Aristoteles zwischen dem, was „κατ‘ ἀλήθειαν“ gut beziehungsweise „φύσει βουλητόν“ ist, und dem, was einem Menschen (nur) gut zu sein scheint.¹⁶⁷ Zu dieser in den Augen des Sophisten unsinnigen, da absolute Werte wie „gut“ und „schlecht“ voraussetzenden Unterscheidung¹⁶⁸ kommt folgendes noch hinzu: Aristoteles zufolge kommt nicht jeder zum Urteil Fähige als Maßstab für die besagte Unterscheidung in Frage, sondern nur der in besonderer Weise disponierte σπουδαῖος. Nur dieser kann, insofern er als φρόνιμος wohlberaten ist, einen λόγος und mithin ein (begründetes) Wissen darüber angeben, welches Gut in einer Situation als das wahrhaft Gute vorzuziehen und wie folglich zu handeln ist. Ob etwas gut oder schlecht ist, entscheidet sich nach Aristoteles demzufolge nicht anhand dessen, wie es von einem Menschen beurteilt wird. Vielmehr sind die Dinge je nach Situation gut oder schlecht und es ist unsere Aufgabe, uns selbst so zu disponieren, dass wir in den entsprechenden Situationen das Gute vom Schlechten zu unterscheiden wissen. Ist nun mit Aristoteles anzunehmen, dass der σπουδαῖος das als gut betrachtet, was wahrhaft gut ist, so bedeutet dies nicht, dass diese Güter deswegen gut sind, weil sie von dem ethisch wertvollen Menschen als solche eingeschätzt werden. Vielmehr verhält es sich Aristoteles zufolge so, dass
166 Harold Joachims Auffassung, dass Aristoteles’ Lehre in Hinsicht auf diese Frage „(...) substantially the same as that of ‘Socrates’ or Plato (…)“ sei, ist dementsprechend nicht zu halten. Vgl. dazu Joachims Werk Aristotle. The Nicomachean Ethics, S. 104, Anm. 1. 167 Dass Aristoteles bei der Abfassung dieser Passage tatsächlich die sophistische Position im Blick hat, wird u. a. deutlich in Nikomachische Ethik 1113a 20ff. Besonders auffällig ist dabei die Verwendung von Formulierungen wie „τὸ δοκοῦν“ (a 21) oder „τὸ φαινόμενον“ (a 24) und der dazugehörigen Entgegensetzung „τὸ κατ‘ ἀλήθειαν“ (a 25), die es, wie John A. Stewart anmerkt, nahelegen, die zitierte Stelle in Parallele zu Metaphysik 1062b 13ff. zu lesen. Vgl. dazu John A. Stewart: Notes on the Nicomachean Ethics of Aristotle I, S. 270f. 168 Dass Aristoteles an dieser Stelle von der Existenz solcher Güter ausgeht, die gleichsam „an sich“ gut sind, zeigt Paula Gottlieb in ihrer Betrachtung des Unterschiedes zwischen dem, was Aristoteles zufolge ἁπλῶς und dem, was τινί gut ist. Vgl. dazu Paula Gottlieb: „Aristotle and Protagoras: The Good Human Being as the Measure of Goods“, in: Apeiron XXIV, No. 1 (1991), S. 38: „On Aristotle’s account, what is good ἁπλῶς is not good ἁπλῶς simply because it appears good to the good person. On the contrary, what is good ἁπλῶς seems good to the good person precisely because it really is good for a human being.“
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der σπουδαῖος die besagten Güter als gut betrachtet, weil sie tatsächlich – situativ gesehen – gut sind.¹⁶⁹ Hinzu kommt, dass sich der ethisch Hochwertige als ein aufgrund seiner φρόνησις Wohlberatener auf einen λόγος berufen kann, was seine Unterscheidung zwischen gut und schlecht betrifft. Dies setzt insofern einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen der aristotelischen und der sophistischen Position hinsichtlich der Fragestellung des Maßes, als es zur Folge hat, dass der σπουδαῖος im Kontext der Beratung über die Frage, welche Entscheidung als die bessere vorzuziehen ist, in der Lage ist, Rechenschaft darüber abzugeben, weshalb er die von ihm favorisierte Möglichkeit vorzieht. Während der Sophist nur den Versuch unternehmen kann, seine Diskussionspartner mit Hilfe rhetorischer Mittel dazu zu überreden, seine „Auffassung“ als die bessere anzuerkennen, kann der σπουδαῖος seinen Gesprächspartnern unter Hinzunahme eines λόγος begründend und mithin überzeugend darlegen, weshalb es besser ist, sich so zu entscheiden, wie er es vorschlägt.¹⁷⁰ Insgesamt betrachtet wird man sagen können, dass der σπουδαῖος im Rahmen des aristotelischen Denkens gleichsam die Rolle eines selbstreflexiven vollkommenen Maßstabes situativ richtigen Entscheidens und Handelns einnimmt und er somit aristotelisch gedacht an die Stelle tritt, an der bei Platon die Idee des Guten gestanden hatte. So ist der ethisch Hochstehende insofern als ein selbstreflexiver Maßstab anzusehen, als all das, was er in einer bestimmten Situation als gut und als zu wählen erkennt, in dieser Situation auch tatsächlich gut und zu wählen ist, da er sich als der sittlich Hochstehende stets richtig entscheidet. Im Unterschied zur platonischen Idee des Guten ist der σπουδαῖος mithin nicht ein absoluter normativer Maßstab, der auf die Entscheidung im Einzelfall anzuwenden ist, sondern ein selbstreflexiver vollkommener Maßstab, der in der jeweiligen Entscheidungssituation richtig entscheidet und handelt. Vereinfacht gesagt wird er damit im Begriff zu einer Form richtigen Entscheidens und Handelns und dient nicht als ein inhaltlich bestimmter normativer Maßstab.
169 Vgl. Paula Gottlieb: „Aristotle and Protagoras: The Good Human Being as the Measure of Goods“, S. 43: „According to Aristotle, the good person has the correct view of goods, not because his character constitutes what is good, but because having the right sort of character is a necessary condition for having the appropriate sensitiveness and cognitive ability to detect what is really good.“ 170 Das begründete Wissen, das der σπουδαῖος angeben kann, ist trotz seiner Eigenschaft, „logisch“ zu sein, kein notwendiges, verdankt es sich doch der „Beratung“, die sich, wie angemerkt, nicht auf etwas Unveränderliches bezieht. Erkennt er etwas als „gut“, bedeutet dies folglich nicht, dass es sich dabei um einen unwandelbar ewig guten Gegenstand handelt, der in jeder Situation gut ist. Anders gesagt: Der ethisch Hochwertige verfügt nicht über ein Wissen um ewige gute Wesenheiten wie die platonische Idee des Guten.
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7.5 εὐπραξία und εὐδαιμονία Die Tüchtigkeit des ethisch hochwertigen Menschen versetzt diesen nun nicht nur in die Lage, sich im Zusammenhang von Handlungssituationen richtig zu entscheiden. Da die menschlichen προαιρέσεις Aristoteles zufolge als die „Prinzipien des Handelns“ zu begreifen sind, entscheiden sie mithin auch darüber, ob jemand in guter oder schlechter Weise handeln wird. Für die hier verhandelte Thematik ist dieses insoweit bedeutsam, als sich die menschliche εὐδαιμονία, aristotelisch gedacht, durch oder im Rahmen des „guten Handelns“ (εὖ πράττειν) verwirklicht. So schreibt Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik, dass das „gute Leben“ (εὖ ζῆν) und das „gute Handeln“ (εὖ πράττειν) wie sowohl „die Vielen“ (οἱ πολλοί) als auch die „feineren Geister“ (οἱ χαρίεντες) übereinstimmend annehmen, mit dem „Glücklichsein“ (εὐδαιμονεῖν) gleichzusetzen sei.¹⁷¹ Der Gedanke, der den Hintergrund für diese von Aristoteles als allgemein anerkannt dargestellte Annahme bildet, besteht darin, dass für ein jedes, das über eine spezifische „Leistung“ (ἔργον) und ein spezifisches „Handeln“ (πράξις) verfügt, „das Gut“¹⁷² und das in einer guten Weise sein „Gutsein“ im Erbringen dieser „Leistung“ liegt.¹⁷³ Dementsprechend wird ein Zimmermann sein „Zimmermannsein“ dann verwirklichen und sein „Gut“ erreichen, wenn er die ihm wesenhafte Tätigkeit ausübt, indem er zum Beispiel einen Tisch oder einen Dachstuhl baut und damit sein ἔργον vollbringt.¹⁷⁴ Nach der Weise einer ἐπαγογή schließt Aristoteles nun, dass es, so wie es ἔργα der verschiedenen Handwerker und der Teile des menschlichen Körpers gibt, auch ein ἔργον des Menschen als solchen gebe, das als sein ἴδιον ἔργον nur ihm zukomme.¹⁷⁵ Aristoteles zufolge besteht dieses, wie er im Rahmen eines Ausschlussverfahrens zu zeigen versucht, in einer bestimmten Form des „Lebens“ (ζωή), nämlich eines „Tätigseins der Seele gemäß dem rationalen Element oder [zumindest] nicht ohne das rationale Element“¹⁷⁶. Nimmt man
171 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1095a 17–20. 172 Dies ist hier im Sinne der jeweiligen Vervollkommnung bzw. Vollkommenheit zu verstehen. Dieses wird deutlich in Aristoteles Nikomachische Ethik 1098a 12–16. 173 Vgl. ebd. 1097b 25–28. 174 In Nikomachische Ethik 1098a 8ff. weist Aristoteles darauf hin, dass das Erbringen der „Leistung“ nicht davon abhängt, ob sie in einem qualitativ hochwertigen Sinn erbracht wird. Sowohl der „hervorragende Kithara-Spieler“ (σπουδαῖος κιθαριστός), so Aristoteles, als auch der durchschnittliche Spieler vollbringen das ἔργον des Kithara-Spielers, auch wenn ein Unterschied hinsichtlich der Qualität ihres jeweiligen Spieles festzustellen sein wird. Infolgedessen ist es nicht die Tätigkeit als solche, die sie unterscheidet, sondern die Art und Weise des Tätigseins, das an sich jedoch in derselben Gattung liegt, wie Aristoteles sagt. 175 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1097b 28–33. 176 Ebd. 1098a 7f.; vgl. auch ebd. 1098a 12–14. Bezüglich der Übersetzung des Ausdruckes κατὰ λόγον folge ich dem Vorschlag Franz Dirlmeiers. Dass es sinnvoll ist, an dieser Stelle so zu übersetzen, ergibt sich aus 1098a 3f., wo eindeutig auf den μέρος λόγον ἔχον der Seele verwiesen wird, was in der eben zitierten Passage wieder aufgenommen wird. Eine höchst aufschlussreiche Erörterung der Frage, inwie-
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nun noch hinzu, dass laut Aristoteles der „wertvolle Mensch“, der σπουδαῖος ἀνήρ, dieses Tätigsein in einer „guten und schönen Weise“ vollzieht (εὖ καὶ καλῶς) und ein jedes dadurch zu seiner Vollendung gelangt (ἀποτελεῖται), dass es sich gemäß der ihm eigenen ἀρετή in einer solchen guten Weise verhält (εὖ), ergibt es sich, dass (...) das für den Menschen verwirklichbare Gut in einem Tätigsein der Seele gemäß der Tüchtigkeit besteht. Gibt es aber mehrere Tüchtigkeiten, dann gemäß der besten und vollendetsten.¹⁷⁷
Nun gibt es in der Tat mehrere ἀρεταί, die in diesem Zusammenhang in Betracht zu ziehen sind, da Aristoteles den rationalen Seelenteil des Menschen nochmals als einen in zwei Teile untergliederten begreift und für beide dieser Teile eine ihnen eigene Tüchtigkeit ansetzt. Im Fall des μέρος λογιστικόν besteht diese in der φρόνησις, während das μέρος ἐπιστημονικόν dann in der bestmöglichen Weise tätig ist, wenn es über die ἀρετή der σοφία verfügt.¹⁷⁸ Infolgedessen gilt es hinsichtlich der aristotelischen These, dass das Erbringen der spezifisch-menschlichen Leistung in einer Tätigkeit des rationalen Seelenteils gemäß seiner Tüchtigkeit bestehe, insofern zu differenzieren, als dieses sowohl die ἐνέργεια im Sinne der φρόνησις als auch die im Sinne der ἀρετή der σοφία umfassen könnte. Welche dieser Formen des seelischen Tätigseins hat Aristoteles hier also im Blick? Oder nimmt er an, dass ein Mensch beide Arten der Tüchtigkeit erlangen muss, damit er in der Weise tätig sein kann, die für die Verwirklichung der εὐδαιμονία nötig ist? Welcher Antwortmöglichkeit man in diesem Kontext den Vorzug gibt, hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil davon ab, ob man mit Blick auf die aristotelische Bestimmung der εὐδαιμονία als dem „zielhaftesten Ziel“ (τέλος τελειότατον) von einer sogenannten inclusive-end- oder von einer exclusive- beziehungsweise domi-
fern Aristoteles mit Recht behaupten kann, dass das ἔργον des Menschen gerade in einem rationalen Tätigsein der Seele bestehe und inwiefern diese Annahme nicht einige wichtige andere Aspekte des Menschseins ausblendet, bietet Thomas Nagels Artikel „Aristotle on Eudaimonia“, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.): Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley 1980, S. 7–14. Eng mit dem hier geschilderten Gedanken des ἴδιον ἔργον des Menschen verbunden ist auch Aristoteles’ sich in der Politik findende Bestimmung des Menschen als dem ζῷον λόγον ἔχον. Vgl. Aristoteles Politik 1253a 9f.: „λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων.“ 177 Aristoteles Nikomachische Ethik 1098a 14–18: „σπουδαίου δ΄ ἀνδρὸς εὖ ταῦτα καὶ καλῶς͵ ἕκαστον δ΄ εὖ κατὰ τὴν οἰκείαν ἀρετὴν ἀποτελεῖται· εἰ δ΄ οὕτω͵ τὸ ἀνθρώπινον ἀγαθὸν ψυχῆς ἐνέργεια γίνεται κατ΄ ἀρετήν͵ εἰ δὲ πλείους αἱ ἀρεταί͵ κατὰ τὴν ἀρίστην καὶ τελειοτάτην.“ Eine sehr wichtige Rolle spielt in diesem Kontext der Begriff der ἐνέργεια der von Aristoteles sowohl im Sinne des „Tätigseins“ – vgl. z. B. in Nikomachische Ethik 1102a 5f., hier in Hinsicht auf das Tätigsein der Seele – als auch mit der Bedeutung des „Wirklich-“ oder „Verwirklichtseins“ verwendet wird – dies beispielsweise in Metaphysik 1048a 30–32, wo Aristoteles ἐνέργεια als Gegenbegriff zu δύναμις benutzt. Wie noch zu verdeutlichen sein wird, stehen diese beiden Aspekte des Begriffes, aristotelisch gedacht, auch mit Blick auf die ἐνέργεια der Seele in einem engen Verhältnis, da sich mit ihrem Tätigsein κατὰ λόγον auch ihr Wirklich- oder Vollkommensein einstellt. 178 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1144a 1–3.
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nant-end-Lösung ausgeht.¹⁷⁹ Die Vertreter einer inclusive-end-Lösung nehmen dabei an, dass sich die εὐδαιμονία aus der Ausübung einer Mehrzahl von Tätigkeiten und mithin aufgrund der Erlangung mehrerer im Rahmen dieser Tätigkeiten verwirklichten Güter ergibt.¹⁸⁰ Im Unterschied dazu vertreten die Anhänger des exclusive- oder dominant-end-Ansatzes die Meinung, dass es Aristoteles zufolge eine einzige Tätigkeit und dementsprechend auch nur ein Gut gibt, mit dessen Verwirklichung das Erreichen der εὐδαιμονία einhergehe.¹⁸¹ Hinsichtlich der schwer zu leugnenden Tatsache, dass Menschen für gewöhnlich eine Vielzahl von Gütern erstreben – ein Umstand, der vor dem Hintergrund der inclusive-end-Lösung sehr leicht zu erklären ist – sind die Gelehrten, die den dominant-end-Ansatz favorisieren, der Auffassung, dass Aristoteles diese Güter nur insofern als erstrebenswert betrachte, als sie in irgendeiner Weise für die eine Tätigkeit förderlich sind, durch welche die εὐδαιμονία verwirklicht wird. Vor diesem Hintergrund besehen, ist es zu erwarten, dass „Inklusivisten“ wie John Ackrill oder Terence Irwin dazu tendieren werden, die Frage nach der gesuchten ἐνέργεια τῆς ψυχῆς, durch welche das ἀνθρώπινον ἀγαθόν verwirklicht wird, dahin gehend zu beantworten, dass sie sowohl das Tätigsein des μέρος λογιστικόν als auch das des μέρος ἐπιστημονικόν als konstitutiv für die εὐδαιμονία ansehen.¹⁸² Alternativ dazu gehen die als „Exklusivisten“ zu bezeichnenden Interpreten wie Richard Kraut oder Gabriel Richardson Lear davon aus, dass die ἐνέργεια nur eines der beiden besagten Seelenteile ist, aus der sich die εὐδαιμονία ergibt, und zwar die des μέρος ἐπιστημονικόν. So vertritt Richard Kraut die Meinung, dass der Mensch laut Aristoteles das zielhafteste Ziel dadurch erreiche, dass er im Sinne der ἀρετή des μέρος
179 Die Verwendung dieser Terminologie geht auf William F. R. Hardie zurück. Vgl. ders.: Aristotle’s Ethical Theory, Oxford 1968, S. 23. 180 Ein bekannter Befürworter dieser Interpretationsmöglichkeit ist John Ackrill. Vgl. dazu Ackrills Artikel: „Aristotle on Eudaimonia“, S. 15–33. Als weitere Vertreter dieser Position sind mit ihren in diesem Zusammenhang relevanten Werken in Auswahl zu nennen: Roger Crisp: „Aristotle’s Inclusivism“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 12 (1994), S. 111–136; John Cooper: „The Magna Moralia and Aristotle’s Moral Philosophy“, in: Ders.: Reason and Emotion: Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory, Princeton 1999, S. 195–211; Terence Irwin: „Permanent Happiness: Aristotle and Solon“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 3 (1985), S. 89–124; Sarah Broadie: Ethics with Aristotle, Oxford 1991. 181 In der modernen Forschung sind die Befürworter dieser Position der Zahl nach weniger. Zu verweisen wäre beispielsweise auf: Robert Heinaman: „Eudaimonia and Self-Sufficiency in the Nicomachean Ethics“, in: Phronesis 33 (1988), S. 31–53; Richard Kraut: Aristotle on the Human Good, Princeton 1989; Anthony Kenny: Aristotle on the Perfect Life, Oxford 1992; Gabriel Richardson Lear: Happy Lives and the Highest Good. An Essay on Aristotle’s Nicomachean Ethics, Princeton 2004. 182 Auf diesen Zusammenhang macht Gerard J. Hughes aufmerksam in The Routledge Philosophy Guidebook to Aristotle on Ethics, S. 39f.
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ἐπιστημονικόν tätig ist, indem er sich der „Betrachtung“ (θεωρία) hingibt.¹⁸³ Was aber bedeutet es im aristotelischen Verständnis, θεωρία zu treiben?
7.6 θεωρία Es ist, wie Anthony Kenny sicher richtig bemerkt, auffällig, „(...) that Aristotle tells us tantalizing little about [what] it [i. e. contemplation] [is]“¹⁸⁴. Weder in den Ethiken noch im „philosophischen Wörterbuch“ Delta der Metaphysik findet sich eine Definition der θεωρία. Daher gilt es bei dem Versuch der Bestimmung dieses Begriffes, das zusammenzutragen, was Aristoteles an diversen Stellen in seinem Œuvre über die θεωρία ausführt. Was wir wissen, ist, wie Kenny erklärt, dass sie die Ausübung der rationalen Tüchtigkeit der σοφία darstellt, dass sie die herausragendsten Objekte des Wissens zum Gegenstand hat und dass, wie die Eudemische Ethik zeige, auch der Gott zu ihrem Gegenstandsbereich gehört.¹⁸⁵ Wenngleich die Annahme, die Theorie beziehe sich auch auf den Gott, auf einer umstrittenen Lesart der betreffenden Stelle in der Eudemischen Ethik basiert, scheint es in Anbetracht einer Reihe anderer hier heranzuziehender Passagen in jedem Fall sinnvoll, Aristoteles so zu interpretieren. Inwiefern? Einen aufschlussreichen Ansatz zur Beantwortung dieser Frage findet man darin, dass Aristoteles in der Metaphysik erklärt, es gebe drei theoretische Philosophien (τρεῖς φιλοσοφίαι θεωρητικαί): die „Mathematik“ (μαθηματική), die „Physik“ (φυσική) und die „Theologik“ (θεολογική).¹⁸⁶ Wichtig ist dabei, dass diese Philosophien nicht als gleichrangige nebeneinanderstehen, sondern dass es eine durch ihren jeweiligen Erkenntnisgegenstand bedingte Rangfolge unter ihnen gibt.¹⁸⁷ So betrachtet die „Erste“ (πρώτη) dieser Philosophien¹⁸⁸ dasjenige, was „ewig“ (ἀΐδιον), „unbewegt“ (ἀκίνητον) und „abgetrennt“ (χωριστόν) ist und das als solches weder Gegenstand der
183 Vgl. u. a. Richard Kraut: Aristotle on the Human Good, S. 196: „(...) perfect happiness consists in contemplation.“ Vgl. dazu Aristoteles Nikomachische Ethik 1178b 32: „ὥστ΄ εἴη ἂν ἡ εὐδαιμονία θεωρία τις.“ 184 Anthony Kenny: Aristotle on the Perfect Life, S. 103. 185 Vgl. ebd. Bezüglich der These, dass Aristoteles in der Eudemischen Ethik Gott als Gegenstand der θεωρία benenne, ist zu beachten, dass einige Wissenschaftler die von Kenny hier offensichtlich zugrunde gelegte Lesart der Eudemischen Ethik in Zweifel gezogen haben. Zu dieser Lesart, vgl. Wolfgang Kullmann: „Theoretische und politische Lebensform bei Aristoteles“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, (Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 2), Berlin 1995, S. 256. 186 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1026a 18f. 187 Vgl. ebd. 1026a 10–23, besonders a 22f. Vgl. dazu auch Ralf Elms Artikel „theôria/Betrachtung, Erkenntnis“, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles-Lexikon, S. 585. 188 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1026a 15f.
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Mathematik noch der Physik sein kann.¹⁸⁹ Aristoteles zufolge ist die gesuchte „Erste Philosophie“ (πρώτη φιλοσοφία)¹⁹⁰ dementsprechend die „Theologik“. Denn: (...) es ist unzweifelhaft, dass, wenn es irgendwo das Göttliche gibt, es sich in einer solchen Natur findet und dass es notwendig ist, dass die ehrenhafteste [theoretische Wissenschaft] sich auf die ehrenhafteste Gattung bezieht.¹⁹¹
Zumindest mit Blick auf die Metaphysik wird sich folglich die These halten lassen, dass Aristoteles auch und, wie deutlich geworden sein sollte, vor allem den Gott beziehungsweise das Göttliche als den Gegenstand der Theorie in ihrer Gestalt der θεολογική betrachtet.¹⁹² Das Vermögen, das den Menschen dazu befähigt, eine derartige, das Göttliche in den Blick nehmende „Betrachtung“ vorzunehmen, ist Aristoteles zufolge das „Denken“ (νοῦς)¹⁹³, das wie auch die ἐπιστήμη dem μέρος ἐπιστημονικόν der Seele zugehörig ist. Während die ἐπιστήμη jedoch die Fähigkeit zur Einsicht in ein Wissen – beziehungsweise das aufgrund dieser Fähigkeit eingesehene Wissen¹⁹⁴ – über dasjenige darstellt, was sich aus den Prinzipien ergibt,¹⁹⁵ ist der νοῦς auf eben diese selbst nicht mehr ableitbaren Prinzipien gerichtet.¹⁹⁶ Da der νοῦς als solcher, aristotelisch gedacht, allerdings selbst ebenfalls als ἀρχή τῆς ἐπιστήμης zu betrachten ist,¹⁹⁷ ergibt es sich, dass er sich im Rahmen seiner ἐνέργεια θεωρετική¹⁹⁸ auch auf sein eigenes Tätigsein, das νοεῖν, richtet, sich gleichsam auf sich selbst zurückbeugt, das heißt im – wenn auch anachronistischen – Terminus technicus „reflektiert“. In diesem von
189 Vgl. ebd. 1026a 10–16. 190 Vgl. ebd. 1026a 24. 191 Ebd. 1026a 19–22: „(οὐ γὰρ ἄδηλον ὅτι εἴ που τὸ θεῖον ὑπάρχει͵ ἐν τῇ τοιαύτῃ φύσει ὑπάρχει)͵ καὶ τὴν τιμιωτάτην δεῖ περὶ τὸ τιμιώτατον γένος εἶναι.“ Siehe auch Ralf Elm: „theôria/Betrachtung, Erkenntnis“, S. 586. 192 Vgl. auch Aristoteles Metaphysik 1064a 36–1064b 6. Angesichts dessen, dass die eben angeführte Stelle aus der Eudemischen Ethik so gelesen werden kann, dass sie dem mit Blick auf die Metaphysik erarbeiteten Ergebnis nicht widerspricht, bietet es sich an, die beiden Werke, was Gott als den Gegenstand der Theorie betrifft, in eine Parallele zu setzen. 193 Vgl. u. a. Aristoteles Nikomachische Ethik 1177a 12–22. 194 Dazu, dass es nach Aristoteles möglich ist, sowohl von dem als Fähigkeit (δυνάμει) vorliegenden als auch von dem als verwirklicht (ἐντελεχείᾳ) bestehenden Wissen als ἐπιστήμη zu sprechen, vgl. Metaphysik 1017b 3f. 195 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1139b 18–36, hier vor allem die Definition der ἐπιστήμη als ἕξις ἀποδεικτική (b 31f.). 196 Vgl. ebd. 1141a 7f.; 1142a 25f. Die Prinzipien selbst sind nach Aristoteles deswegen nicht mehr begründet oder abgeleitet, weil sich unter dieser Annahme ein infiniter Regress ergäbe, der die epistemisch eingesehenen Begründungszusammenhänge aufheben würde. Vgl. dazu Aristoteles Nikomachische Ethik 1140b 31–1141a 8; Zweite Analytik II, 19. 197 Vgl. Aristoteles Zweite Analytik 100b 15f. 198 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1177a 16–18; b 19.
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Aristoteles als νόησις der νόησις νοήσεως bezeichneten Akt¹⁹⁹ entfaltet der νοῦς eine Form des Tätigseins, die außer ihm selbst keiner weiteren Ursache bedarf und die ihn als einen autarken²⁰⁰ dazu qualifiziert, das von Aristoteles gesuchte „Etwas“ (τί) zu sein, welches als ein selbst nicht [von anderem] Bewegtes bewegt.²⁰¹ Infolgedessen kommt es dem νοῦς zu, „ewig“, „Wesen“ (οὐσία) und „Verwirklichung“ beziehungsweise „Tätigsein“ (ἐνέργεια) zu sein. Dieses „Bewegende“ (κινοῦν) nun nennt Aristoteles im Sinne einer Zuschreibung oder Prädikation „den Gott“, dessen Tätigsein in der eben beschriebenen ἐνέργεια θεωρετική besteht und das im Rahmen der νόησις νοήσεως das Denken des νοῦς selbst zum Gegenstand hat.²⁰² Der Gedanke, dass der Gott im Sinne der Praxis des θεωρεῖν tätig sei, ist von fundamentaler Bedeutung für Aristoteles’ Verständnis der menschlichen εὐπραξία und der mit dieser einhergehenden εὐδαιμονία. Deutlich wird dies, wenn man bedenkt, dass auch der Mensch Aristoteles zufolge in der Lage ist, den Akt der dem Gott zugeschriebenen νόησις νοήσεως zu vollziehen, indem er, als ein mit νοῦς ausgestatteter, sein Denken ebenso reflexiv auf es selbst zurückbeugen kann. Zu beachten ist dabei, dass die Tätigkeit, die der Mensch im Rahmen seiner Praxis der Theorie vollziehen kann, ihrer Bestimmung nach laut Aristoteles identisch ist mit der des göttlichen νοῦς.²⁰³ Damit ist der Mensch imstande, in derselben Weise tätig zu sein wie der Gott und sich diesem, um den Lear’schen Gedanken der „teleological approximation“ nochmals aufzunehmen, in Hinsicht auf dessen Tätigkeit der θεωρία nicht nur anzunähern, sondern sogar zur Identität mit ihm zu gelangen. Eine Einschränkung, die Aristoteles dabei hinsichtlich der Identität des theoretischen Tätigseins einführt, besteht darin, dass der Mensch im Unterschied zu dem Gott nicht dazu befähigt ist, die Praxis der Theorie in einer permanenten Weise auszuführen. So heißt es in der Metaphysik:
199 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1074b 33–35; vgl. zudem ebd. 1072b 19–21. 200 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1177a 27f. 201 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072a 23–27. 202 Dazu, dass die göttliche ἐνέργεια als eine ἐνέργεια θεωρετική betrachtet werden kann, vgl. u. a. auch Aristoteles Nikomachische Ethik 1178b 21f. Ein wichtiger Grund dafür, warum Aristoteles dem νοῦς das Göttlichsein zusprechen kann, besteht in der eben angemerkten Ewigkeit seiner ἐνέργεια. Klassisch griechisch – d. h. vor allem in der Dichtung – gedacht, stellt die Ewigkeit beziehungsweise die Unsterblichkeit den hauptsächlichen Unterschied zwischen den Göttern und den Menschen dar, weshalb z. B. Homer die Menschen bisweilen auch als θνητοί charakterisiert. In seiner bereits zitierten Habilitationsschrift „Gegenwart und Einheit“ hat Bernhard Uhde eine ganze Reihe von in diesem Kontext relevanten Stellen zusammengetragen. 203 Dementsprechend bezeichnet Aristoteles den νοῦς auch als „etwas Göttliches“ (θειόν τι), das im Menschen vorzufinden ist, und das Leben des Geistes als ein göttliches (βίος θεῖος). Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1177b 27ff.
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Eine solche Lebensweise aber ist die beste, wie sie uns [nur] für eine kurze Zeit zuteilwird. So nämlich ist jenes immer, wie es uns gewiss unmöglich ist (...).²⁰⁴
Und einige Zeilen weiter heißt es: Wenn sich also der Gott immer in einer solch guten Weise befindet, wie wir [nur] manchmal, ist dies erstaunlich.²⁰⁵
Besonders interessant an dieser Einschränkung ist, dass sie zeigt, dass Aristoteles in der Tat davon ausgeht, dass wir uns so „befinden“ (ἔχειν) können wie der Gott, auch wenn wir, wie eben angemerkt, nicht dazu fähig sind, dies immer zu tun. Insofern wir nämlich Menschen sind,²⁰⁶ ist es uns zeitlich gesehen nur in bedingter Weise möglich, das „Leben gemäß dem „Denken“ (ὁ κατὰ τὸν νοῦν βίος)²⁰⁷ zu führen; sind wir als Menschen doch dadurch bestimmt, nicht nur „geistige“, sondern auch körperliche und soziale Wesen zu sein. Da wir den Erfordernissen, die sich in diesen Zusammenhängen ergeben, ebenfalls nachkommen müssen, ist es uns, aristotelisch gedacht, unmöglich, das von ihm mithin auch als κρείττων ἢ κὰτ ἄνθρωπον bezeichnete Leben der θεωρία in ununterbrochener Weise zu führen.²⁰⁸ Trotz dieser Einschränkung stellt die Lebensweise des νοῦς Aristoteles zufolge dennoch die beste und infolgedessen die für den Menschen zuhöchst erstrebbare Form des „Lebens“ (βίος beziehungsweise ζωή)²⁰⁹ dar. Das Tätig- und Verwirklichtsein des νοῦς kann Aristoteles dabei deswegen als „Leben“ im Sinne der ζωή begreifen,²¹⁰ weil das Lebendige seinem Verständnis gemäß als dasjenige gilt, das über Selbstbewegung verfügt.²¹¹ Indem der νοῦς als das Erste Prinzip aller Bewegung für seine in der νόησις νοήσεως bestehende ἐνέργεια keines anderen bedarf, um diese zu vollziehen, und indem es, wie erörtert, undenkbar ist, dass diese (lebendige) Tätigkeit
204 Aristoteles Metaphysik 1072b 15–16: „διαγωγὴ δ΄ ἐστὶν οἵα ἡ ἀρίστη μικρὸν χρόνον ἡμῖν (οὕτω γὰρ ἀεὶ ἐκεῖνο· ἡμῖν μὲν γὰρ ἀδύνατον).“ 205 Ebd. 1072b 24f.: „εἰ οὖν οὕτως εὖ ἔχει͵ ὡς ἡμεῖς ποτέ͵ ὁ θεὸς ἀεί͵ θαυμαστόν.“ 206 Vgl. dazu Aristoteles’ Formulierung in Nikomachische Ethik 1177b 27: „οὐ γὰρ ᾗ ἄνθρωπός ἐστιν οὕτω βιώσεται (...).“ 207 Ebd. 1178a 6f. 208 Vgl. ebd. 1178a 9–1178b 7. Hier ist vor allem der sich am Ende dieser Passage findende Begriff des ἀνθρωπεύεσθαι hervorzuheben (b 7). Vgl. zudem ebd. 1178b 33ff. 209 Während der Begriff der ζωή bei Aristoteles das „Leben“ als eine artbildende Bestimmung hinsichtlich der Unterscheidung zwischen lebendigem Selbstbewegten und Fremdbewegten darstellt (vgl. Physik 192b 8f.), bezeichnet der Begriff βίος eine bestimmte Weise des Lebensvollzuges, vgl. dazu z. B. die Gegenüberstellung der unterschiedlichen βίοι (des Lebens des Genusses, des im Dienst für den Staat gelebten und des theoretischen) im ersten Buch der Nikomachischen Ethik, 1095b 14ff.; vgl. zudem auch die Unterscheidung zwischen den Lebensweisen (βίοι) der Nomaden, der Bauern, der Räuber, der Fischer und der Jäger in Politik 1256a 19–b 2. 210 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072b 26f. 211 Vgl. Aristoteles Physik 192b 8f.
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aufhören könnte, ist die ζωή des νοῦς als die „beste“ (ἀρίστη) und als „ewig“ (αἴδιος) zu betrachten.²¹² Darüber hinaus bestimmt Aristoteles das im Tätigsein des Denkens bestehende Leben auch als „freud-“ beziehungsweise „lustvoll“.²¹³ Seinen Grund hat dies darin, dass „das Leben“ (τὸ ζῆν), das sich laut Aristoteles im Falle des Menschen durch das Wahrnehmen und das Denken konstituiert,²¹⁴ ein „Gut an sich“ und eine „Lust“ darstellt. Nimmt man nun wahr, so Aristoteles, dass man im Besitz dieses Gutes ist, indem man wahrnimmt, dass man wahrnimmt und denkt, dass man denkt (συναίσθησις), dann, so der Gedankengang, empfinde man Freude über eben diesen Sachverhalt.²¹⁵ Liest man Aristoteles’ Aussage, dass das Leben des Denkens freudvoll sei, vor diesem Hintergrund, zeigt es sich, weshalb Aristoteles dies annimmt. Denn wie zuvor erörtert worden ist, ist das sich im Denken des Denkens vollziehende Leben des νοῦς als das beste und als ewig zu begreifen, so dass das im Rahmen der geistigen Selbstreflexion gewonnene Wissen um die Qualität seines Lebens dem νοῦς Freude bereitet. Vereinfacht gesagt, bedeutet dies: Der νοῦς weiß, dass er das beste Leben führt, und dies bereitet ihm Freude. Das „theoretische Leben“ (βίος θεωρετικός),²¹⁶ der βίος, der κατὰ τὸν νοῦν²¹⁷ geführt wird, stellt nun nicht nur die lustvollste Lebensform²¹⁸ und die beste Lebensweise dar,²¹⁹ es ist auch diejenige ἐνέργεια, mit deren Vollzug sich Aristoteles zufolge die menschliche εὐδαιμονία realisiert.²²⁰ Inwieweit lässt sich diese für Aristoteles’ Denken grundlegende These stützen?
212 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072b 27–30. Im Unterschied zum Leben des Geistes sind die anderen von Aristoteles aufgeführten Lebensweisen wie der βίος πολιτικός hinsichtlich ihrer Selbstbewegung dahin gehend eingeschränkt, dass sie zu ihrer Verwirklichung stets noch anderer Dinge bedürfen wie beispielsweise der Freigiebige des Geldes oder der Gerechte andere Menschen, an und mit denen er gerecht handeln kann. Vgl. dazu Aristoteles Nikomachische Ethik 1177a 27–b 1. Wird der Begriff des Lebens im Sinne der Selbstbewegung verstanden, entspricht ihm die ἐνέργεια des νοῦς in weitaus höherem Maße als die anderen Formen menschlichen rationalen Tätigseins. 213 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072b 27–30. 214 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1170a 33f. 215 Vgl. ebd. 1170a 25–1170b 1. 216 Vgl. u. a. ebd. 1095b 15–19; hier ist das „Leben“ im Sinne des oben beschriebenen Lebensvollzuges, des βίος zu verstehen. 217 Vgl. ebd. 1178a 6f. 218 In diesem Kontext spricht Aristoteles davon, dass der βίος gemäß dem Geist das „Lustvollste“ (ἥδιστον) sei. Vgl. ebenfalls Aristoteles Nikomachische Ethik 1178a 6f.; siehe auch Metaphysik 1072b 24: „καὶ ἡ θεωρία ἥδιστον καὶ ἄριστον.“ 219 Wie Aristoteles sich ausdrückt, handelt es sich dabei um die ἀρίστη διαγωγή, vgl. Metaphysik 1072b 14f. 220 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1177a 13–18; b 19; 1178b 7f.; b 32. Beispielsweise in der gerade u. a. zitierten Stelle 1177b 19 spricht Aristoteles explizit von der ἐνέργεια θεωρετική des νοῦς. Ist hier die Rede davon, dass sich die εὐδαιμονία des Menschen im Rahmen seines theoretischen Tätigseins „verwirkliche“, so ist anzumerken, dass diese „Verwirklichung“ aufgrund der vorhin erwähnten Fakto-
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Zum einen ist daran zu erinnern, dass das dem Menschen eigentümlich zukommende ἔργον im ersten Buch der Nikomachischen Ethik als eine Form des „Lebens“ (ζωή), und zwar genauerhin als ein „Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element oder [zumindest] nicht ohne das rationale Element“ (ψυχῆς ἐνέργεια κατὰ λόγον ἢ μὴ ἄνευ λόγου)²²¹ bestimmt worden ist. Indem der Mensch das Leben des νοῦς führt und somit im Sinne einer der dem rationalen Seelenteil eigentümlichen Tüchtigkeiten tätig ist,²²² verwirklicht er, aristotelisch gedacht, sein ἴδιον ἔργον und erlangt die mit dem Erbringen dieser Leistung verbundene εὐδαιμονία.²²³
7.7 Die εὐδαιμονία – inclusive- oder dominant-end? Weshalb aber, wäre von Seiten der Vertreter einer inclusive-end-solution zu fragen, soll die Verwirklichung der εὐδαιμονία ausschließlich auf das Tätigsein des rationalen Seelenteils im Sinne des μέρος λογιστικόν beschränkt sein? Aus welchem Grund sollte man dieses Tätigsein als hinreichend für das Erreichen der menschlichen Glückseligkeit betrachten, da doch die ἐνέργεια des rationalen Seelenteiles auch das Tätigsein des μέρος δοξαστικόν umfasst? Aufschluss geben in diesem Zusammenhang die eben schon zum Teil erörterten aristotelischen Betrachtungen zur Qualität des theoretischen Tätigseins, durch welche sich dieses von anderen Formen geistigen Tätigseins abhebt.²²⁴ So zeichnet es die ἐνέργεια θεωρητική unter anderem aus, dass sie in dem Sinne „sich selbst genügend“ (autark) ist, dass sie für ihr Tätigsein keiner anderen Sache bedarf²²⁵ und der Besitz anderer, ihr äußerlicher Güter sogar eher hinderlich für sie ist.²²⁶ Begründet liegt die Unabhängigkeit der „Betrachtung“ dabei für Aristoteles darin, dass sich das
ren, die die menschliche Fähigkeit, Theorie zu treiben, einschränken, niemals vollkommen gegeben ist. Aristoteles selbst verdeutlich dies in der Nikomachischen Ethik auch dadurch, dass er erklärt, dass diejenige ἐνέργεια des Menschen, die mit der göttlichen, d. h. der Theorie, „am engsten verwandt“ ist (συγγενέστατη), der „Glückseligkeit am meisten zuträglich“ (εὐδαιμονικότατη) sei. Die Verwendung der Superlativformen zeigt, dass Aristoteles von einem qualitativen Unterschied zwischen dem Tätigsein des Gottes und dem des Menschen ausgeht, wobei dieser Unterschied, wie erörtert worden ist, ein rein zeitlicher ist. Die Möglichkeit, die εὐδαιμονία zu erreichen, ist dementsprechend in ihrer Dynamik zu begreifen, die ein vollständiges Erreichen des Zieles im Sinne der Dauerhaftigkeit ausschließt. 221 Vgl. Nikomachische Ethik. 1098a 7f.; zur Bestimmung des ἔργον τοῦ ἀνθρώπου als ζῆν τις, vgl. ebd. 1098a 12–14. 222 Dabei handelt es sich um die Tätigkeit des μέρος ἐπιστημονικόν. 223 Auf den Zusammenhang zwischen dem Erbringen des ἔργον und der εὐδαιμονία ist schon zuvor eingegangen worden. 224 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1178a 9ff. 225 Vgl. ebd. 1178b 3f. 226 Vgl. ebd. 1178b 4f.
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Denken wie bereits erörtert in seiner reflexiven Form durch sich selbst verwirklicht, indem es zugleich Denkendes und Gedachtes ist und infolgedessen für den Vollzug des Denkaktes keiner anderen Sache bedarf. Im Unterschied dazu gilt laut Aristoteles für die anderen Formen des geistigen Tätigseins, die des μέρος λογιστικόν, dass sie nicht als autark anzusehen sind, da sie in durch vielerlei Faktoren bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen stehen.²²⁷ Als ein in dieser Weise autarkes stellt das Tätigsein des νοῦς dagegen ein, wie ebenfalls bereits herausgearbeitet worden ist, vollendetes Leben dar, da es gänzlich selbst bewegt und für seine Bewegung auf nichts anderes angewiesen ist. Stellt man diese Beobachtungen des Aristoteles vor den Hintergrund der Frage, durch welche Tätigkeit sich das ἔργον des Menschen verwirkliche, wird deutlich, dass dies in herausragender Weise durch die Praxis der θεωρία geschieht; stellt sie doch ein rationales Tätigsein dar, das als ein gänzlich autarkes dem Begriff eines vollkommenen rationalen Tätigseins und Lebens entspricht. So umfasst die Betrachtung beide der in diesem Kontext zentralen Aspekte. Zum einen ist sie eine ἐνέργεια des rationalen Seelenteils und verwirklicht damit das spezifisch menschliche ἔργον; zum anderen stellt sie darüber hinaus ein vollkommenes Leben dar, das in einer totalen, da autarken Selbstbewegung besteht. Ist der Mensch in dieser Weise tätig, lebt er Aristoteles zufolge das bestmögliche Leben, das als solches der göttlichen ἐνέργεια „am engsten verwandt“ (συγγενέστατη) und „der εὐδαιμονία am meisten zuträglich“ (εὐδαιμονικότατη) ist.²²⁸ So verwirklicht der Mensch in dieser Weise die maximal erreichbare „teleologische Annäherung“ an das Tätig- und Verwirklichtsein des ersten Bewegenden und erreicht in dieser Weise die εὐδαιμονία, ohne dass noch etwas anderes dazu nötig wäre.²²⁹ Der von Platon geforderten „Angleichung an Gott“ (ὁμοίωσις θεῷ)²³⁰ setzt Aristoteles damit die Möglichkeit einer – zumindest zeitweise erreichbaren – Identität mit dem Gott entgegen. Diese Identität zeichnet sich nach Aristoteles vor allem dadurch aus, dass der von den in der Nikomachischen Ethik explizit angesprochenen Dichtern angenommene Hauptunterschied zwischen den Göttern und den Menschen, die Sterblichkeit, im Vollzug der θεωρία aufgehoben wird. Sich durch die ἐνέργεια θεωρετική soweit wie möglich zu „verunsterblichen“ (ἀθανατίζειν) und damit das von allem Strebenden ersehnte Ziel der dauerhaften ἐνέργεια zu erreichen, das ist es, wozu die Theorie den Menschen befähigt. Was Platon nach aristotelischem Verständnis bloß der Form nach als eine vollkommene Mangelfreiheit beschreiben konnte, wird mithin – wohlgemerkt dem Selbstverständ-
227 Der Großzügige, so Aristoteles, wird beispielsweise Geld haben müssen, um seine Tüchtigkeit wirksam werden zu lassen, und der Tapfere Macht, um sein durch die Tapferkeit vorgegebenes Ziel erreichen zu können. Vgl. dazu Aristoteles Nikomachische Ethik 1178a 28–34. 228 Vgl. ebd. 1178b 23–25. 229 Unter diesen Voraussetzungen wäre daher m. E. eher den Vertretern einer dominant-end-Lösung zuzustimmen. 230 Vgl. Platon Theaitetos 176b 1f.
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nis des Aristoteles gemäß – im Rahmen der theoretischen Praxis tatsächlich erreicht: ein Zustand der vollkommenen Verwirklichung. Mit der These, dass die εὐδαιμονία im Vollzug des theoretischen Tätigseins erreicht werde, ist eine ganze Reihe von Fragen verbunden, auf welche hier einzugehen aufgrund des für die vorliegende Arbeit gesetzten Rahmens unmöglich ist. So wäre zum Beispiel zu untersuchen, in welchem Verhältnis die theoretische und die politische Lebensweise zueinander stehen und wie in diesem Kontext Aristoteles’ Aussage zu verstehen ist, dass alles – folglich auch das im Kontext des βίος πολιτικός Verrichtete – um willen (ἕνεκα τοῦ) der εὐδαιμονία getan werde. In welcher Weise, wäre hier als eine mögliche weitere Frage zu benennen, ist die von Aristoteles verwendete Formulierung „um willen“ richtig zu deuten und welche Konsequenzen ergeben sich aus den in diesem Zusammenhang möglichen jeweiligen Deutungsansätzen für den Gedanken, dass auch der βίος πολιτικός in der einen oder anderen Weise zum Gelingen eines glücklichen Lebens beitragen könnte?²³¹ Um diese und andere Fragen in angemessener Weise beantworten zu können, wäre es notwendig, eine Reihe weiterer Überlegungen anzustellen, was hier allerdings nicht geleistet werden kann, so dass es zunächst bei der bloßen Erwähnung dieser Fragen und Themen bleiben muss.
7.8 Aristoteles’ Kritik an einem Prinzip menschlicher Praxis Wie die bis zu diesem Punkt vorangeschrittene Betrachtung der ethischen Konzeption des Aristoteles gezeigt hat, ist dieser seinem Selbstverständnis gemäß in der Lage, eine bestimmte Form der Praxis anzugeben, mit deren Ausführung sich die menschliche Eudaimonie verwirklicht und die den Menschen infolgedessen dazu befähigt, das von ihm erstrebte τέλος τελειότατον zu erreichen. Was jedoch folgt daraus für die menschliche Praxis im Allgemeinen? Oder anders und vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit untersuchten Frage präzisierend gefragt: Ergibt sich aus der aristotelischen Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Praxis der θεωρία und der εὐδαιμονία ein prinzipielles, mithin allgemeines und sicheres Wissen darüber, wie zu handeln ist und wie nicht? Die Antwort auf diese Frage fällt bei genauerem Hinsehen eindeutig negativ aus. So ist es schon auf den ersten Blick auffällig, dass sich bei Aristoteles keinerlei Argumente finden, mit deren Hilfe er zu zeigen versuchen würde, dass sich aus der besagten Einsicht in die Verwirklichung der εὐδαιμονία durch die θεωρία ein prinzipielles praktisches Wissen ergibt. Wollte man nämlich auch, auf Aristoteles’ Bild des
231 Viele wertvolle Hinweise gibt auch hier das nun schon mehrfach zitierte Werk von Gabriel Richardson Lear Happy Lives and the Highest Good. Lears Deutungsansätze sind insbesondere zum Verhältnis zwischen den theoretischen und den politischen Lebensweisen höchst aufschlussreich.
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sich auf sein Ziel ausrichtenden Bogenschützen verweisend,²³² anführen, dass die Kenntnis des höchsten Zieles es dem Menschen leichter mache, sich wie ein Bogenschütze auf eben dieses auszurichten, wäre Folgendes zu beachten: Sieht man auch ein, dass die εὐδαιμονία das zielhafteste Ziel allen Strebens darstellt und sich mit dem theoretischen Tätigsein verwirklicht, gewinnt man doch aus dieser Erkenntnis noch kein Entscheidungskriterium dafür, welcher der in einer Situation jeweils gegebenen Handlungsmöglichkeiten man den Vorzug geben soll. Denn wie soll das Wissen um das „Glück“ als dem höchsten Ziel als Entscheidungsrichtlinie dienen, wenn man sich beispielsweise in einer Schlacht mit der Frage konfrontiert sieht, ob man besser flieht oder tapfer ausharrt? Und wie soll es zu entscheiden helfen, wenn man sich, seinen Ernährungsplan betrachtend, überlegt, ob man seine Essgewohnheiten in Zukunft eher am Maßstab der Gesundheit als an dem der Lust ausrichten sollte? In diesen und ähnlichen Fällen anzuführen, dass man sich für diejenige Möglichkeit entscheiden solle, die dem Glück am meisten zuträglich ist, ist dabei deswegen wenig hilfreich, weil es meist nicht unmittelbar einsichtig ist, welche der zur Auswahl stehenden Varianten die εὐδαιμονία am ehesten fördert. Dass der Mensch mit seinen Entscheidungen für eine der ihm zur Auswahl stehenden Handlungsmöglichkeiten letztlich immer darauf abzielt, die εὐδαιμονία zu erlangen, mag dabei unbestritten sein. Ein allgemeiner Entscheidungsmaßstab dafür, wie in konkreten Einzelsituationen zu handeln ist, ergibt sich aus dem Gedanken der Zielhaftigkeit des aristotelisch verstandenen Glückes jedoch nicht.²³³ Ähnlich ist mit Blick auf eine mögliche Variante dieser Position zu argumentieren. Gemäß dieser lässt sich insofern ein Handlungsmaßstab aus dem Gedanken der sich mit der Theorie verwirklichenden εὐδαιμονία gewinnen, als man daraus folgern könne, dass der Mensch all sein Handeln darauf ausrichten sollte, möglichst viel Zeit und Muße für die Theorie zu gewinnen.²³⁴ Setzt man dies als seine Handlungsrichtlinie und versucht infolgedessen, die für die Theorie zur Verfügung stehende Zeit zu maximieren und die Umstände auch ansonsten so zu gestalten, dass das Treiben der
232 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1094a 22–24. 233 Man könnte hier in analoger Weise das von Aristoteles selbst vorgebrachte Argument gegen den platonischen Gedanken der Zielhaftigkeit der Idee des Guten anführen. Gegen diesen merkt Aristoteles an, dass sich aus dem allgemeinen Begriff des Guten kein Anhaltspunkt für das Streben nach konkreten Gütern ergebe. In Entsprechung dazu wäre auch mit Blick auf den Begriff der Glückseligkeit zu formulieren, dass sich aus der Einsicht, dass alles Streben auf diese abziele, ebenfalls kein Wissen ergibt, wie dieses Ziel im Einzelnen zu verfolgen ist. 234 Dies entspricht der Position mancher eine „dominant-end-solution“ vertretender Gelehrter, die Aristoteles‘ Diktum, dass alles um der εὐδαιμονία willen getan werden müsse, so interpretieren, dass alles Tun auf die Ermöglichung des Tätigseins im Sinne der Theorie auszurichten sei. Dass es nicht möglich sei, aus dem Gedanken der sich mit dem βίος θεωρητικός verwirklichenden εὐδαιμονία ein „Glücksrezept“ herauszulesen, das zum Inhalt hätte „Maximiere den Anteil an Kontemplation in deinem Leben“, merkt auch Andreas Luckner: Klugheit, Berlin 2005, S. 87, an.
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Theorie möglich ist, sieht man sich dennoch auch in diesem Fall mit dem Problem konfrontiert, dass aus der angenommenen Maßgabe nicht abzuleiten ist, wie man im Einzelnen handeln soll, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Zieht man nämlich beispielsweise den Schluss, die Maxime, alles um der Theorie willen zu tun, beinhalte, dass man möglichst schnell zu viel Reichtum kommen sollte, um infolgedessen nicht mehr arbeiten zu müssen und so Zeit für die Theorie zu haben, weiß man im Ausgang von dieser Zielsetzung noch nicht, wie man dies unter den konkret gegebenen Umständen anstellen soll. Welche Laufbahn soll man einschlagen, welche Qualifikationen erwerben? Wie kann man seine Gesundheit, eine weitere für die Praxis der Theorie förderliche Komponente, am besten erhalten? Wie soll man seine Ernährung gestalten, wie viel Bewegung ist der Gesundheit zuträglich, wann beginnt sie ihr zu schaden? All diese und viele weitere praktische Fragen lassen sich allein im Ausgang von der besagten Maßgabe nicht beantworten. Nun stehen diese Beobachtungen im Einklang mit den Überlegungen, die Aristoteles selbst über die menschliche Praxis im Allgemeinen anstellt. So ist daran zu erinnern, dass er das Handeln als ein sich im Bereich von Einzelfällen abspielendes betrachtet, was es erforderlich macht, sich in „ethisch tüchtiger“ und „kluger“ Weise für die in einer konkreten Situation jeweils richtige Handlungsweise zu entscheiden. Dass es dabei allgemeine und daher situationsunabhängig geltende Handlungsprinzipien gebe, anhand derer sich stets die je richtige Handlungsweise von den falschen unterscheiden ließe, stellt, vor dem Hintergrund des beschriebenen situativen Verständnisses menschlichen Handelns betrachtet, eine widersinnige Annahme dar. Ergibt sich folglich auch aus der Einsicht in den Zusammenhang zwischen dem Vollzug der θεωρία und der sich mit diesem verwirklichenden εὐδαιμονία kein prinzipielles praktisches Wissen, ist dies nicht als ein Bruch innerhalb des ansonsten auf ein sicheres Prinzipienwissen ausgehenden aristotelischen Denkens oder als ein Defizit desselben zu betrachten. Ganz im Gegenteil entspricht es Aristoteles’ Begriff des Handelns, dass er die θεωρία „lediglich“ als die höchste Form der Praxis begreift,²³⁵ ohne dass er im Ausgang von dieser Erkenntnis versuchen würde, eine Einsicht in ein praktisches Prinzipienwissen zu gewinnen. Aristotelisch gedacht ist gutes Handeln damit nicht als Resultat einer Einsicht im Sinne eines sicheren Wissens zu betrachten. Vielmehr verdankt es sich der Ausbildung und des Zusammenspiels der „ethischen Tüchtigkeiten“ und der „Klugheit“ als der ἀρετή des μέρος λογιστικόν. Während es somit Aristoteles zufolge möglich ist, Prinzipien des Denkens einzusehen und anzugeben, die die notwendigen Bedingungen für das Erkennen dessen, wie es ist und wie es nicht ist, darstellen, muss ein solcher Versuch mit Blick auf die Frage, wie man handeln soll, aufgrund des situativen Charakters der Praxis notwendigerweise scheitern. Anders als Platon schränkt Aristoteles damit den Geltungsbe-
235 Dazu, dass die Theorie als „Einsicht um der Einsicht willen selbst die höchste Möglichkeit der Praxis ist“, vgl. Walter Bröcker: Aristoteles, Frankfurt 1957, S. 17.
Aristoteles’ Kritik an einem Prinzip menschlicher Praxis
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reich prinzipiellen Wissens dahin gehend ein, dass er ihn als nur die Theorie – und damit nur eine Form der Praxis – umfassend ansieht und die Praxis ansonsten vom Bereich des sicheren Wissens ausschließt. Mit Blick auf die Entwicklung eines prinzipiellen, für die Praxis maßstäblichen Wissens bedeuten die Überlegungen des Aristoteles einen wichtigen Wendepunkt. Indem er nämlich vor dem Hintergrund seiner Ideenkritik darzulegen weiß, dass – seinem Verständnis gemäß – nur dem Wissen im Bereich der Theoria der Status der Prinzipienhaftigkeit eingeräumt werden kann, fordert er diejenigen, welche ein solches Wissen auch für die Praxis einzusehen versuchen, in grundlegender Weise heraus. Dass und wie diese Herausforderung des Aristoteles in der Folge aufgenommen worden ist und welche Konsequenzen sich daraus für die weitere Entwicklung eines Prinzipienwissens im Bereich der Praxis ergeben, wird in den nächsten Kapiteln zu untersuchen sein.
8 Hellenistisch-philosophische Perspektiven Ein Beispiel dafür, wie folgenreich Aristoteles’ prinzipientheoretische Differenzierung bezüglich des Verhältnisses von Theoria und Praxis war, gibt die Entwicklung der sogenannten „hellenistischen Philosophenschulen“. Im Folgenden sollen einige der für die Frage nach einem praxisrelevanten Prinzipienwissen bedeutsamen Aspekte dieser Entwicklung im Rahmen des hellenistischen Denkens untersucht werden. Konkret durchgeführt wird dies in exemplarischer Weise, und zwar mit Blick auf die Schulen der Stoa und Epikurs, die nicht nur aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte pars pro toto für die hellenistische Philosophie im Allgemeinen genommen werden können; lässt sich doch anhand ihres Denkens eine ganze Reihe von Elementen aufweisen, die für die Philosophie des Hellenismus insgesamt bedeutsam sind. Ihren Anfang wird die folgende Untersuchung aus systematischen Gründen mit der Stoa nehmen, auch wenn historisch gesehen davon auszugehen ist, dass die Entwicklung der epikureischen Philosophie ihren Anfang vor dem der stoischen Philosophie genommen hat.¹
8.1 Die Stoa – Leben in Übereinstimmung mit der Natur Trotz der vielfältigen Differenzierungen, die hinsichtlich der Ausgestaltungen der stoischen Lehre in ihren verschiedenen Epochen und durch ihre verschiedenen Lehrer zu beobachten sind, kann in diesem Zusammenhang doch auch ein epochen- und schulübergreifendes Element ausgemacht werden.² Dieses besteht in den Formulierungen zum „Ziel“ beziehungsweise „Zweck“ (τέλος) menschlichen Handelns und Strebens. Frei und verallgemeinernd formuliert liegt dieses Ziel in einem „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“.³ Auch wenn nämlich, wie Joachim Lukoschus
1 Einige der hier zu betrachtenden Aspekte, die auch für die Überlegungen Epikurs wichtig sind, lassen sich dem stoischen Denken etwas klarer entnehmen. Daher soll die Schule der Stoa zunächst untersucht werden. 2 Die Angabe eines solchen verbindenden Elementes spiegelt einen wichtigen Aspekt des in diesem Kapitel gewählten Vorgehens wider. So wird es vor allem darum gehen, trotz der Unterschiede, die hinsichtlich der hier behandelten Positionen hellenistischer Philosophie deutlich zu Tage treten, auf das einzugehen, worin die skizzierten Positionen mit Blick auf das Thema eines praxisrelevanten Prinzipienwissens übereinstimmen. 3 Vgl. dazu Joachim Lukoschus: Gesetz und Glück. Untersuchungen zum Naturalismus der stoischen Ethik, Frankfurt am Main 1999, S. 1f. Die loci classici für diese Telosformel führt Lukoschus auf in Gesetz und Glück, S. 1, Anm. 4. Zum Verständnis der stoischen Telosformel vgl. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, (Reihe: Geschichte der Philosophie, Bd. 3), München 1995, S. 61f. Zum stoischen Gedanken der „Natur als Maßstab“ vgl. auch das gleichnamige Kapitel in Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 2005, S. 160–165.
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betont, der Schulgründer Zenon selbst in seinen beiden überlieferten Telosformeln die Natur nicht explizit erwähnt, spielt diese doch „(…) bereits von Anfang an eine wichtige Rolle (…) in der stoischen Ethik“⁴– und zwar auch für Zenon selbst.⁵ Explizite Verweise auf die „Natur“ (φύσις, natura) in stoischen Telosformeln finden sich in der Folgezeit unter anderem bei den Zenon-Nachfolgern Kleanthes und Chrysipp, aber auch bei Vertretern der sogenannten „mittleren“ und der „späteren“ Stoa wie bei Panaitios und Seneca. So reiht sich beispielsweise Senecas Aufforderung, „gemäß der Natur zu leben“ (secundum naturam vivere)⁶, in eine Traditionskette ein, an deren Anfängen neben anderen die Zenon’sche Formel des ὁμολογουμένως ζῆν⁷ und die Chrysipp’sche Forderung des ἀκολούθως τῆ φύσει ζην⁸ stehen. Schon die Tatsache, dass die Natur in den stoischen Telosformeln über einen so langen Zeitraum hinweg immer wieder ihren Platz findet, weist darauf hin, dass sie in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielt. Wie aber ist diese Rolle zu bestimmen? Und was verstehen die Stoiker unter der „Natur“ und unter einem ihr „gemäßen“ beziehungsweise „in Übereinstimmung mit ihr“ vollzogenen Leben? Ganz allgemein lässt sich feststellen: Die stoische Konzeption der „Natur“ ist zentral und grundlegend für die ethischen Überlegungen der Schule. Dementsprechend erklärt auch Brad Inwood: „Both human and cosmic nature serve as the foundations and first principles of Stoic ethics.“⁹ Wie Inwoods These andeutet, gilt es dabei, bezüglich des stoischen Naturbegriffes zu differenzieren; kann man doch offensichtlich zwischen unterschiedlichen „Naturen“ unterscheiden.¹⁰ Zwei dieser Naturen spricht Inwood bereits an: die „allgemeine“ (κοινή) oder, wie er sich ausdrückt, die „kosmische“ (cosmic) und die „menschliche“ (ἀνθρώπινη).¹¹ Darüber hinaus weist die Natur stoisch gesehen aber noch viele weitere Facetten auf, die beispielsweise die Tier-, die Pflanzen-, aber auch die unbelebte Welt umfassen.¹² Was
4 Vgl. Joachim Lukoschus: Gesetz und Glück, S. 1. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. z. B. Seneca Epistula 5, 4.; De Otio IV, 2. 7 Vgl. Stobaios Anthologion II, 7, 6a; bei Chrysipp findet sich Zenons Formel aufgenommen als ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν (SVF III, 5). 8 So überliefert z. B. in Philo v. Alexandrien Quod omnis probus liber sit 8 oder auch in Clemens v. Alexandrien Stromateis II, 101.1. 9 Brad Inwood (chs. I-VII)/Pierluigi Donini (chs. VIII-XI): „Stoic Ethics“, in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Vol. 1, hrsg. von Keimpe Algra/Jonathan Barnes/Jaap Mansfeld/Malcolm Schofield, Cambridge 1999, S. 676. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, S. 18–41; zudem Brad Inwood/Pierluigi Donini: „Stoic Ethics“, S. 682–684; Joachim Lukoschus: Gesetz und Glück, S. 1–27. 11 Vgl. dazu auch Joachim Lukoschus: Gesetz und Glück, S. 10f. 12 In diesem Fall bedeutet „Natur“ die, wie Forschner sich ausdrückt, „spezifische natürliche Struktur und Verfassung einzelner Dinge (ἡ κατὰ μέρος φύσις)“. Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 160; zudem Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, S. 26f.
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nun all diesen „Naturen“ ihren Zusammenhang verleiht, ist die oben genannte „allgemeine Natur“, von welcher die einzelnen Naturen jeweils Teile bilden.¹³ Demnach kann die κοινὴ φύσις mit Maximilian Forschner als ein „organisch strukturierte[s] Weltganze[s]“¹⁴ bestimmt werden, in dem alles, was überhaupt ist, seinen Ort hat.¹⁵
8.1.1 Alles nur „heiße Luft“? Garantiert wird die Einheit dieses natürlichen Weltganzen, dieses Kosmos¹⁶, nach stoischer Auffassung materialiter durch das sogenannte „Pneuma“ (πνεῦμα), den, wie Malte Hossenfelder übersetzt, „warmen Hauch“¹⁷. Dieser Hauch, der als eine Verbindung aus Feuer und Luft¹⁸ beziehungsweise bisweilen auch nur als „gestaltendes Feuer“¹⁹ gedacht wird, steht als das aktive „Prinzip“ (ἀρχή) alles Seienden der „Materie“ (ὕλη)²⁰ als dessen passivem Prinzip gegenüber.²¹ Indem das Pneuma die
13 Vgl. u. a. Michael Lapidge: „Stoic Cosmology“, in: John M. Rist (Hrsg.): The Stoics, Berkely 1978, S. 161. 14 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 160f. 15 Vgl. dazu Chrysipps Position, wie sie u. a. in Plutarchs De Stoicorum Repugnantiis 1050b wiedergegeben wird. Vgl. überdies die in De Stoicorum Repugnantiis 1054bf. geäußerte Ansicht, dass außerhalb des durch die allgemeine Natur zu einem Kosmos geordneten Weltganzen nur eine unendliche „Leere“ bestehe („ὅτι τοῦ κόσμου κενὸν ἐκτὸς ἄπειρόν ἐστι“). 16 Vgl. Michael Lapidge: „Stoic Cosmology“, S. 161 mit den Hinweis auf SVF II, 1132; Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 54 und dessen Verweis auf Diogenes Laertios De vitis et dogmatibus clarorum philosophorum VIII, 140. 17 Vgl. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 82; zu dieser „Funktion“ des Pneuma vgl. Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, S. 21: „(…) the unity of nature is maintained through the continuity of pneuma at all levels.“ Siehe dazu auch Sextus Empricus Adversus Mathematicos IX, 127, zitiert in Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 55, Anm. 14. Auf das Verhältnis zwischen Pneuma und Natur wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden. 18 Vgl. u. a. SVF I, 135; II, 786f.; dazu David Sedley: „Hellenistic Physics and Metaphysics“, in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Vol. 1, hrsg. von Keimpe Algra/Jonathan Barnes/Jaap Mansfeld/Malcolm Schofield, Cambridge 1999, S. 388; Carlos Lévy: Les philosophies hellénistiques , Paris 1997, S. 145f.; Anthony A. Long: Hellenistic Philosophy. Stoics, Epicureans, Sceptics, London 1974, S. 157f.; vgl. überdies Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 82. 19 Zum πῦρ τεχνικόν vgl. u. a. SVF I, 171; Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 55; vgl. zu dieser Differenzierung auch David Sedley: „Hellenistic Physics and Metaphysics“, S. 388, besonders auch Anmerkung 91 auf ders. Seite. Sedley verweist in diesem Zusammenhang auf Galen: De causis contentivis 1. 20 Vgl. z. B. SVF II, 300f. 21 Zur Aktivität und Passivität dieser beiden Prinzipien vgl. David E. Hahm: The Origins of Stoic Cosmology, Ohio 1977, S. 29; auf die faktische Untrennbarkeit der beiden Prinzipien geht u. a. Michael Lapidge: „Stoic Cosmology“, S. 163f. ein.
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Materie durchdringt, sich mit dieser verbindet und diese formt, entstehen zunächst die vier Elemente (die στοιχεῖα Feuer, Wasser, Erde, Luft)²² und vermittelt durch diese die Gesamtheit des übrigen Kosmos.²³ Als das kosmisch aktive Prinzip ist das Pneuma allerdings nicht nur an der Entstehung der Dinge beteiligt.²⁴ Darüber hinaus bestimmt sein Durchdringen der Materie auch „die Gestalt und qualitative Eigenart [aller Dinge]“²⁵, die folglich dem Pneuma nicht nur ihre Existenz, sondern auch ihre Essenz verdanken.²⁶ Die Bestimmung der Essenz durch das Pneuma steht dabei stoisch gedacht in einem engen Zusammenhang mit der Konzentration, in welcher der „warme Hauch“ in den jeweiligen Dingen vorkommt.²⁷ So wirkt das Pneuma beispielsweise in einem Stein im Sinne einer ἕξις, die den Zusammenhalt seiner Teile bedingt, während es im Fall einer Pflanze dafür sorgt, dass ihre φύσις als das, was sie in ihrer Eigenart ausmacht, gesichert wird.²⁸ Weitaus konzentrierter und damit in einer höheren Form manifestiert sich das alles durchziehende Pneuma allerdings im Menschen, und zwar als Logos. Bevor nun auf die Konsequenzen eingegangen wird, die sich aus dieser „pneumabedingten Vernunftbegabung“ des Menschen für das hier verhandelte Thema eines praxisrelevanten Prinzipienwissens ergeben, sei zuvor noch auf einen anderen wichtigen Aspekt der Alldurchdringung des Pneumas hingewiesen. Dieser besteht darin, dass sich für die Stoa aus dem Gedanken der pneumatischen Alldurchdringung auch ein strikter kausaler Determinismus ergibt.²⁹ Demnach ist alles, was geschieht, verursacht und notwendig bestimmt durch den „warmen Hauch“, der – wie erläutert – sowohl das Dass-Sein als auch das So-Sein der Dinge vollständig bewirkt und so den Verlauf allen Weltgeschehens mit Notwendigkeit festlegt. Auch in diesem Sinne erweist sich das Pneuma folglich als das universale aktive
22 Zum Unterschied zwischen dem „Feuer“ im Sinn eines der vier Elemente und dem Feuer im oben genannten Sinn des πῦρ τεχνικόν vgl. Michael Lapidge: „Stoic Cosmology“, S. 167. 23 Zum „corporealism“ der stoischen Kosmosvorstellung vgl. u. a. David E. Hahm: The Origins of Stoic Cosmology, S. 3–28. 24 Zu der stoischen Vorstellung bezüglich der Entstehung des Kosmos vgl. u. a. ebd. S. 57–90. 25 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 55. 26 Die formale, essentielle Bestimmung des Seienden durch das Pneuma wird sehr oft auch in Verbindung gebracht mit der dem Pneuma zugeschriebenen Funktion, die „Spannung“ (τόνος) in den Dingen zu erhalten. Vgl. dazu David E. Hahm: The Origins of Stoic Cosmology, S. 167; Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 82; Anthony A. Long: Hellenistic Philosophy, S. 156. 27 Vgl. dazu und zum Folgenden David Sedley: „Hellenistic Physics and Metaphysics“, S. 389; Anthony A. Long: Hellenistic Philosophy, S. 157; Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, S. 21. 28 Vgl. Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, S. 21. 29 Vgl. dazu u. a. Susanne Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, Oxford 1998, S. 16–58; dies.: „Early Stoic Determinism“, in: Revue de métaphysique et de morale 4 (2005), S. 489–516; Ricardo Salles: The Stoics on determinism and compatibilism, Ashgate, Aldershot 2005; Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 84–94.
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Prinzip des Seienden, das die Stoiker als solches mit der Natur selbst identifizierten. „Natur“ und „Pneuma“, letzteres vor allem verstanden als πῦρ τεχνικόν, verweisen somit nur auf unterschiedliche Aspekte ein und desselben Prinzips, das von den Stoikern aufgrund der alles bedingenden und bewirkenden Mächtigkeit dieses Prinzips zum Teil auch mit dem Göttlichen gleichgesetzt und als „Gott“ bezeichnet wird.³⁰ Als die pneumatische Kraft schlechthin ist die mit dem „gestaltenden Feuer“ beziehungsweise mit dem Gott gleichgesetzte Natur wie auch der Mensch als ein vernünftiges Wesen zu begreifen. So formuliert Maximilian Forschner: Die Stoa interpretiert schließlich die Einheit der Verbindung aller Dinge und Ereignisse als Leistung einer einzigen gesetzgebenden und nach dieser Gesetzgebung tätigen vernünftigen Kraft: die Heimarmenē [das Schicksal, T. J.] ist der Logos des Kosmos, die Ordnung der planvoll verwalteten Dinge der Welt, nach der alles wurde und wird, was war, was ist und was sein wird; und diese objektive Ordnung ist nichts anderes als der Ausdruck des einen tätigen göttlichen Geistes.³¹
Demnach geschieht alles, was geschieht, gemäß des vernünftigen „Antriebs“ (ὁρμή) und „Willens“ (βούλησις) des Gottes und der mit diesem identischen Natur, so dass, wie Brad Inwood erklärt, die Ereignisse des determinierten Weltgeschehens als die Ergebnisse der göttlichen Willensausübung zu betrachten sind.³² Da nun der Mensch aufgrund des in ihm wirkenden Pneumas selbst ebenfalls vernunftbegabt und damit in herausragender Weise der göttlichen Vernunft teilhaftig ist, vermag er es, eine Einsicht in den Sachverhalt der Allbestimmtheit des Kosmos durch die göttliche Vernunft zu gewinnen.³³ Für die Stoiker ist der Vollzug dieser Einsicht dabei auch und vor allem ethisch gesehen von fundamentaler Bedeutung; bildet die besagte Erkenntnis doch die zentrale Grundlage für die Erfüllung der Forderung, gemäß der Natur zu leben. Inwiefern ist dem so?
30 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 99: „(…) die auf Systematisierung bedachte Stoa [interpretiert] Namen und Begriffe, die in unterschiedlichen naturphilosophischen und mythologischen Vorstellungszusammenhängen beheimatet waren, zu Kennzeichnungen für das eine, metaphysisch verstandene Kausalprinzip [um] (…): gestaltendes Weltfeuer (πῦρ τεχνικόν), Weltvernunft (λόγος), Vorsehung (πρόνοια), Schicksal (εἱμαρμένη), Notwendigkeit (ἀνάγκη), Natur (φύσις), Zeus (Ζεῦς) etc.“ Zu dieser Gleichsetzung vgl. auch Michael Lapdige: „Stoic Cosmology“, S. 164f.; Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 82; Susanne Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, S. 45–47. 31 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 99. Vgl. dazu v. a. auch das von Forschner, S. 99, Anm. 11, angeführte Chrysipp-Zitat aus SVF II, 913 und die auf der gleichen Seite unter Anm. 12 angeführten Stellen aus SVF II, 929–933. 32 Vgl. Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, S. 26f.; dass diese alles bestimmende Kraft für die Stoiker weltimmanent ist und der Welt nicht als ein jenseitiges Prinzip entgegensteht, betont u. a. Geneviève Lloyd in „Leben mit Notwendigkeit“, in: Barbara Guckes (Hrsg.): Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004, S. 124–126. 33 Auf diese Sonderstellung des Menschen gehen u. a. Brad Inwood und Pierluigi Donini in „Stoic Ethics“, S. 682f. ein.
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8.1.2 Universeller Determinismus und menschliche Freiheit Wenn gilt, dass alles Geschehen im Universum vollständig determiniert ist, hat dies unter anderem weitreichende Folgen für das Thema der menschlichen Freiheit.³⁴ So umfasst die Determiniertheit allen Geschehens logischerweise auch den Bereich des menschlichen Handelns, das infolgedessen ebenfalls als kausal determiniert anzusehen ist.³⁵ Dass hier eine ganze Reihe von Schwierigkeiten auszumachen ist, die beispielsweise Fragen der Verantwortung für oder der Zurechenbarkeit von Handlungen betreffen, aber auch den Sinn ethischer und moralischer Ermahnungen in Frage stellen, ist schon seit der Antike vielfach bemerkt und bis heute diskutiert worden.³⁶ Wenngleich auf diese auch in der gegenwärtigen Forschungsliteratur sehr präsente Diskussion später noch genauer eingegangen wird, sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass sich das den Stoikern stellende Problem der Vereinbarung von Freiheit und Determinismus nicht leicht und möglicherweise – unter der Voraussetzung einiger stoischer Prämissen – sogar überhaupt nicht befriedigend lösen lässt.³⁷ Versucht man nun trotzdem, sich einer Lösung für dieses Problem anzunähern, könnte man unter anderem von folgender Überlegung ausgehen.³⁸ Dieser liegt der eben entwickelte Gedanke zugrunde, dass es dem Menschen möglich sei, Einsicht in die Determiniertheit aller Ereignisse zu gewinnen. Demnach wäre zu argumentieren, dass das Vermögen der Einsicht in die Schicksalshaftigkeit und Notwendigkeit des Weltgeschehens die Möglichkeit eröffne, sich dieser Notwendigkeit gegenüber zu verhalten. Genauer gefasst besteht dieses Sich-Verhalten in einer aus der besagten Einsicht resultierenden Zustimmung zu dem vom Göttlichen vorgegebenen Schicksal beziehungsweise in einer sich diese Einsicht nicht zu eigen machenden Ablehnung des schicksalhaften Geschehens. Ein viel zitiertes und recht eindrückliches Bild für diese Möglichkeit des Sich-Verhaltens findet sich der Überlieferung zufolge schon bei
34 Vgl. dazu und zum Folgenden Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 104–113, besonders S. 107. 35 In seinem Artikel „Chrysipp über Determinismus und Verantwortlichkeit“, in: Barbara Guckes (Hrsg.): Zur Ethik der älteren Stoa, S. 143, weist Christoph Jedan darauf hin, dass die eher negative Sicht auf einen derartigen Determinismus, wie sie heute in der Regel eingenommen wird, nicht von den Stoikern geteilt worden ist. Die Stoa wäre vielmehr von einer „wohlwollenden Steuerung des Weltgeschehens durch das göttliche Prinzip“ ausgegangen. 36 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 104–113; Carlos Lévy: Les philosophies hellénistiques, S. 151–154; Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 84–94. 37 Für die Unlösbarkeit dieses Problems unter Beibehaltung der stoischen Prämissen des universellen Kausaldeterminismus spricht sich u. a. der eben zitierte Maximilian Forschner aus in Die stoische Ethik, S. 113. Auf weitere Positionen, die in diesem Zusammenhang relevant sind, wird weiter unten noch genauer eingegangen. 38 Auch der im Folgenden skizzierte Lösungsansatz – so sei hier schon vorwegnehmend angemerkt – ist mit einigen Schwierigkeiten behaftet, auf die noch eigens eingegangen wird.
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Zenon und Chrysipp. So überliefert Hippolyt, dass der Mensch sich Zenon und Chrysipp zufolge in einer ähnlichen Situation befinde wie ein an einen Wagen gefesselter Hund.³⁹ Dieser könne sich entweder dafür oder dagegen entscheiden, die Bewegung des Wagens mitzumachen – diese Bewegung zu unterbinden oder in irgendeiner anderen Weise zu beeinflussen, stehe ihm allerdings nicht offen. Dementsprechend werde der Hund der Bewegung des Wagens entweder freiwillig oder unter Zwang folgen; dass er ihr folgen wird, stehe allerdings außer Frage. Übertragen auf die Situation des Menschen bedeutet dieses Bild, dass der Mensch – wie bereits angesprochen – den von der Natur mit Notwendigkeit bestimmten Lauf der Dinge annehmen und ihm freiwillig folgen kann oder sich ihm unter Zwang fügen muss – etwas ändern am Geschehen und daran, dass sich sein Schicksal vollziehen wird, kann er ebenso wenig, wie der Hund die Bewegung des Wagens zu ändern vermag. Infolgedessen kann Maximilian Forschner den Schluss ziehen, dass der Mensch stoisch gedacht eingelassen [ist] in einen vorgegebenen Fluß der Ereignisse und ihrer Verkettung. Seine Rolle bestimmt sich daher primär nicht darin, Ereignisse zu initiieren, sondern sich ihnen einzuordnen und zu fügen. Dies kommt beispielhaft zum Ausdruck in der Chrysippschen Formulierung des Lebensziels: τὸ ἀκολούθως τῇ φύσει ζῆν (der Natur nachfolgend leben), τὸ κατ᾽ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν (nach der Erfahrung dessen leben, was von Natur aus sich ereignet). Von der Telosformel her gesehen bestimmt die Stoa die dem Menschen mögliche Freiheit primär als Alternative des Sichfügens oder Sichverweigerns, wobei letztere nichts an dem vom Fatum beschlossenen Gang der Ereignisse im ganzen zu ändern vermag.⁴⁰
Für das stoische Verständnis der Freiheit ergibt sich daraus, dass, wie Forschner des Weiteren erklärt, [m]it der Stoa (...) offensichtlich die Privilegierung eines Freiheitsbegriffs ein[setzt], der primär in Termini der Innerlichkeit formuliert ist und das autarke Bewußtsein der Freiheit zum Inhalt hat: Freiheit ist ein Zustand des Gemüts und nicht primär ein objektiver Rechtszustand oder eine Qualität des Handelns in der Welt. Dieses mag nach Zwangsgesetzen verlaufen, Freiheit als Qualität der inneren Haltung, die das Handeln begleitet und in jedem Fall eine Identität von Wille und Handlung möglich macht, bleibt bestehen.⁴¹
39 Vgl. Hippolyt Philosophoumena 21, 2 (=SVF II, 975); zitiert u. a. bei Gisela Striker: „Following nature. A study in Stoic ethics“, in: Dies.: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics, Cambridge 1996, S. 221–280, hier S. 228; Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 110. 40 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 110. 41 Ebd. S. 110f.
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8.1.3 Eine „natürliche“ Form der Freiheit, die zur Glückseligkeit führt Wie am Ende des vorletzten Abschnittes (8.1.1) bereits angedeutet worden ist, besteht im Kontext stoischen Denkens ein enger Zusammenhang zwischen der naturgegebenen Determiniertheit allen Geschehens, der menschenmöglichen Einsicht in diesen Sachverhalt und der Forderung, gemäß der Natur zu leben. Nimmt man nun noch hinzu, was eben mit Blick auf die stoische Freiheitskonzeption ausgeführt worden ist, wird umso deutlicher, worin dieser Zusammenhang besteht. Einen besonders guten Ausgangspunkt für die Betrachtung dieses Komplexes gibt die vorhin bereits bei Forschner zitierte Chrysipp’sche Formulierung der Telosformel. Gemäß dieser soll der Mensch „nach der Erfahrung des sich von Natur aus Ereignenden leben“ (τὸ κατ᾽ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν)⁴². Im Unterschied zu anderen Versionen der stoischen Telosformel betont diese den Aspekt der „Erfahrung“ (ἐμπειρία), die der Mensch hinsichtlich des sich naturhaft Vollziehenden macht. Dementsprechend kann Gisela Striker, das Diktum Chrysipps kommentierend, folgern: „So the Stoics are telling us that the goal of life, happiness, consists in a conscious observation and following of nature’s will.“⁴³ Wer der Natur gemäß leben und die Glückseligkeit erlangen möchte, wird demnach zunächst seine Aufmerksamkeit beobachtend auf das lenken müssen, was (naturgemäß) geschieht,⁴⁴ um dann in einem zweiten Schritt dem Willen der Natur, der sich durch das beobachtete Geschehen ausdrückt, Folge zu leisten. Setzt man dies in Bezug dazu, was zur stoischen Freiheitskonzeption ausgeführt worden ist, wird deutlich, dass es dem Menschen stoisch gedacht um Folgendes gehen muss: den Vollzug der Einsicht in die Notwendigkeit des naturhaften Geschehens durch die Zurücknahme des eigenen Willens vor dem Willen der Natur. In eben dieser Verwirklichung der menschlichen Freiheit liegt der Kern dessen, was es bedeutet, „gemäß“ oder „in Übereinstimmung mit“ der Natur zu leben und so das Telos schlechthin zu erreichen; ist doch aus stoischer Sicht nur derjenige, der so denkt und lebt, glückselig zu nennen.⁴⁵ Auf den Zusammenhang zwischen einem Leben gemäß der Natur und dem Erreichen der Glückseligkeit geht auch Malte Hossenfelders Betrachtung zu dem von ihm formulierten Grundgedanken hellenistischer Ethik ein. Da Hossenfelders Überlegungen zu diesem Grundgedanken, den er auch im Rahmen der stoischen Ethik
42 Diogenes Laertios: Vitae Philosophorum VII, 87 (=SVF III, 4), hier zitiert nach Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 220. 43 Gisela Striker: „Following Nature“, S. 224. 44 Da die Natur alles Geschehen bestimmt, ist hier an alles zu denken, was überhaupt geschieht. 45 Vgl. SVF III, 16 oder auch Seneca De vita beata III, 3. Wie Joachim Lukoschus überzeugend herausgearbeitet hat, ist hier auch zu bedenken, dass der Unterschied zwischen der menschlichen und der allgemeinen Natur nicht zu streng zu ziehen ist. Dies deswegen, weil es die allgemeine Natur in die Natur des Menschen gelegt hat, dass dieser sich überhaupt vor der allgemeinen Natur zurücknehmen kann. Vgl. Joachim Lukoschus: Gesetz und Glück, S. 10–13.
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verwirklicht sieht, die bisher entwickelte Darstellung um einige wichtige Aspekte zu bereichern vermögen und sich zudem so in sinnvoller Weise die Frage nach der Glückseligkeit thematisieren lässt, soll im Folgenden kurz auf sie eingegangen werden.⁴⁶ Hossenfelder zufolge gehen alle hellenistischen Schulen – wie übrigens auch ihre antiken Vorgänger und Nachfolger – davon aus, dass die Glückseligkeit „das Telos, d. h. den höchsten Zweck oder das größte Gut [darstellt], dem alle anderen Güter untergeordnet sind“⁴⁷. Und auch wenn, so Hossenfelder weiter, zwischen den hellenistischen Schulen keine einhellige Meinung dazu geherrscht habe, wie das höchste Gut zu erreichen ist, so hätten sie doch, was die inhaltliche Bestimmung des Telos angeht, miteinander übereingestimmt. Demnach sei die Glückseligkeit – allgemein hellenistisch – zunächst in einer negativen Weise bestimmt worden, und zwar im Sinne „der Freiheit von innerer Erregung“⁴⁸. Hätten die Epikureer und Pyrrhoneer diesen Zustand der Freiheit auch als Ataraxie, die Stoiker ihn hingegen als Apathie bezeichnet, gemeint sei letztlich dasselbe gewesen, „nämlich die Abwesenheit von Affekten wie Furcht, Trauer, Begierde u. ä., d. h. von Zuständen seelischer Spannung und Erregung“⁴⁹. Positiv gewendet sei dieser Zustand dabei als „die vollkommene Ruhe und Ausgeglichenheit des Gemüts“ und als „innerer Friede“ aufzufassen.⁵⁰ In gewisser Weise stellt die hellenistische Bestimmung der Glückseligkeit damit eine Variante zu deren Bestimmung bei Platon und Aristoteles dar. Wie gezeigt verbinden diese beiden Denker die εὐδαιμονία mit einem Zustand der Mangellosigkeit, der im hellenistischen Kontext vor allem mit Blick auf den Gemütszustand des Menschen in den Fokus rückt. Dabei wird offensichtlich die Mangellosigkeit im Sinne der Ausgeglichenheit und der Gemütsruhe verstanden, die den affektbestimmten und mithin mangelhaften Seelenzuständen entgegensteht. Eine weitere Übereinstimmung bezüglich der Lehrmeinungen der hellenistischen Schulen findet sich laut Hossenfelder auch in der Einschätzung dessen, was den Zustand der Ruhe und der Ausgeglichenheit gefährdet und den Zustand seelischer Mangelhaftigkeit befördert. So seien die Vertreter der genannten Schulen trotz ihrer übrigen Differenzen davon überzeugt gewesen, dass es das Streben nach Unverfügbarem ist, wodurch das Glück zerstört wird. Denn, so die Argumentation, indem der Mensch Bedürfnisse ausbildet, deren Befriedigung ihm nicht selbst und zu jeder Zeit möglich ist, ist er aktiv an der Entstehung der oben genannten „Affekte“ (πάθη),
46 Vgl. zum Folgenden Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 23–25; 39–41; 45f. 47 Ebd. S. 23; siehe dazu auch SVF III, 2 und III, 16. 48 Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 23. 49 Ebd. S. 23f. 50 Vgl. ebd. S. 24.
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der „übermäßigen Triebe“⁵¹ (ὁρμαὶ πλεονάζουσαι)⁵², beteiligt. Diese treten dann auf, wenn die erstrebten Ziele nicht erreicht werden.⁵³ Um folglich den mit der Glückseligkeit identifizierten Seelenfrieden nicht durch Affekte wie Furcht, Lust, Begierde oder Zorn zu gefährden,⁵⁴ ist, wie Malte Hossenfelder schreibt, aus hellenistisch-philosophischer Sicht Folgendes zu beachten: Man darf (...) nur das begehren, von dem man sicher sein kann, dass man es auch erreicht, weil es von einem selbst abhängt, allem übrigen gegenüber aber muß man sich gleichgültig verhalten. (...) Das praktische Grundprinzip ist also, nur solche Bedürfnisse anzuerkennen, deren Befriedigung ganz in der eigenen Macht steht.⁵⁵
Dieses praktische Grundprinzip hellenistisch-ethischer Reflexion sieht Malte Hossenfelder auch für die stoische Ethik als maßgeblich an. Es finde sich zusammengefasst in Zenos Diktum, gemäß dessen man „einstimmig leben“ (ὁμολογουμένως ζῆν) soll.⁵⁶ Zenons Formel, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Kürze und Prägnanz schwer zu interpretieren sei, müsse dabei so verstanden werden, dass sie im Sinne des eben angeführten Grundprinzips hellenistischer – und auch stoischer – Ethik auf das Ziel der Einstimmigkeit des Wollens und des Könnens hinweise. Nur wer dieses Prinzip beachtet und sein Streben ausschließlich auf Ziele ausrichtet, deren Verwirklichung in der eigenen Macht stehen, könne, so Hossenfelder, „die innere Ausgeglichenheit und Harmonie [erreichen], die sich auch als ‚einstimmige Befindlichkeit‘ (διάθεσις ὁμολογουμένη)⁵⁷, als psychische Einstimmigkeit charakterisieren läßt“⁵⁸. Hossenfelders Auslegung der Zenon’schen Formel verweist auf einen zentralen Aspekt stoischer Ethik, der zuvor auch bereits mit Blick auf die Freiheitskonzeption der Schule zur Sprache gebracht worden ist: die Rolle der inneren Haltung des Menschen. So ist es – wie gesehen – gerade nicht die aufgrund der Determiniertheit des Weltgeschehens ohnehin unmögliche (völlige) Kontrolle der äußeren Umstände, die stoisch gedacht über Glück und Unglück des Menschen entscheiden. Demnach ist es nicht z. B. der Besitz materieller Güter oder ihr Verlust, es ist nicht sinnlicher Genuss, ebenso wenig wie der Mangel desselben, nicht das Erreichen von Ehren und
51 Zum stoischen Verständnis der ὁρμή vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 120. Forschner zufolge ist die ὁρμή zu begreifen als „die Vernunft selbst in einer Weise ihres Verhaltens (...): es ist das auf die Verwirklichung des Begehrten und Gebilligten gerichtete Streben, das in Handlungen äußert, falls externe Umstände diese Äußerung nicht verhindern“. 52 Vgl. SVF I, 205; zu den ὁρμαὶ πλεονάζουσαι vgl. auch Christoph Halbig: „Die stoische Affektlehre“, in: Barbara Guckes (Hrsg.): Zur Ethik der älteren Stoa, S. 45–49. 53 Vgl. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 24. 54 Wie Andronicus berichtet, unterteilt die Stoa die Affekte klassischerweise in vier Gattungen: Unlust (λύπη), Furcht (φόβος), Begierde (ἐπιθυμία) und Lust (ἡδονή). Vgl. SVF III, 391. 55 Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 24. 56 Vgl. ebd. S. 45f.; zu Zenos Formel vgl. Stobaios Anthologium II, 7, 6a. 57 Hossenfelder verweist hier auf SVF III, 39. 58 Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 46.
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Würden, aber auch nicht deren Verlust – nichts davon ist maßgeblich dafür, ob ein Mensch glücklich ist oder nicht. Das Ziel der Glückseligkeit erreicht der Mensch vielmehr dadurch, dass er die richtige innere Haltung gegenüber dem Weltgeschehen einnimmt, indem er seinen eigenen Willen frei vor dem Willen des Gottes zurücknimmt und diesen bejaht. Verwirklicht der Mensch seine in der pneumabedingten Einsichtsmöglichkeit bestehende Freiheit in dieser Weise, wird er, wie Malte Hossenfelder es formuliert, nur das begehren, von dem er sicher sein kann, dass er es auch erlangen wird, da sich sein Streben niemals gegen die alles Geschehen bestimmende Natur richten wird. Dies bedeutet nochmals anders gewendet: Wenn ich nur diejenigen Ziele erstrebe, die dem Willen der Natur gemäß sind, werde ich diese Ziele in jedem Fall erreichen, da alles, was geschieht, durch den Willen der Natur bestimmt ist. Wende ich mich allerdings gegen den Willen der Natur, indem ich etwas will, was dem Schicksal nicht entspricht, werden sich aufgrund des Nichterreichens dieser Ziele Affekte in mir ausbilden, die meinen Seelenfrieden stören und meine Glückseligkeit entsprechend zerstören. Der Vollzug der Freiheit und die Verwirklichung der Glückseligkeit sind somit als die Grundmomente eines Lebens gemäß der Natur anzusehen, zu deren Verbündetem der Mensch als ein „übereinstimmend Lebender“ wird.⁵⁹ Eng verbunden mit den Themen „Leben gemäß der Natur“ und „Verwirklichung der menschlichen Freiheit“ ist auch die stoische Konzeption der „Tüchtigkeit“ (ἀρετή, virtus); kann diese doch grundsätzlich mit der eben angesprochenen, richtigen inneren Haltung identifiziert werden. Dies ergibt sich daraus, dass die ἀρετή nach stoischer Auffassung eine Form der Einsicht darstellt, die das Streben und Handeln des Menschen so disponiert, dass es sich gemäß der Natur vollzieht. Denn was der tüchtige Mensch weiß, ist im Wesentlichen, dass er ein „distanziertes Verhältnis zu jenen Lebensgütern [haben soll], die nicht vollkommen in unserer Hand sind“⁶⁰. So besteht das einzige Gut, nach dem man stoisch gedacht streben soll, in der Erkenntnis, „daß es nichts gibt, an das das Glück gebunden und das daher unverzichtbar wäre, außer eben dieser Erkenntnis selbst. Pointiert könnte man sagen: Der einzige unabdingbare Zweck war, keine unabdingbaren Zwecke zu haben, das einzige echte Gut die Einsicht, daß es keine echten Güter gibt“⁶¹. Nur wer zu dieser Einsicht gelangt und sie in seinem Streben und Handeln vollzieht, erreicht – und zwar gerade in diesem Vollzug – das höchste Gut, die Glückseligkeit, da dieses, wie gezeigt, in einem Leben gemäß der Natur besteht, in welchem sich die affektfreie Seelenruhe einstellt.⁶²
59 Auf die Menschen als „Teile“ und „Bündnispartner Gottes“ geht u. a. Seneca Epistula 92, 30 ein. 60 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 215. 61 Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 54 mit einem Verweis auf SVF III, 33; III, 73; I, 374. 62 Die These, gemäß derer das einzige echte Gut in der mit der Tüchtigkeit identischen Erkenntnis bestehe, dass es keine echten Güter gibt, scheint prima facie dem zuvor entwickelten Gedankengang zu widersprechen, dem gemäß das höchste Gut in der Glückseligkeit besteht. Gilt allerdings, dass
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Diesen Gedanken aufnehmend, vertreten die Stoiker gemäß der Überlieferung den Standpunkt, dass das „Glückseligsein“ (τὸ εὐδαιμονεῖν) in einem „Leben gemäß der Tüchtigkeit“ (κατ᾽ ἀρετὴν ζῆν) bestehe, welches seinerseits mit dem „Leben in Übereinstimmung“ (ὁμολογουμένως ζῆν) und mit dem „Leben gemäß der Natur“ (κατὰ φύσιν ζῆν) gleichzusetzen sei.⁶³ Ganz auf derselben Linie liegt auch das Verständnis Ciceros, wenn er schreibt, dass die Tüchtigkeit in der kürzest möglichen Weise als „rechte Vernunft“ (recta ratio) bestimmt werden könne.⁶⁴ Dass die Tüchtigkeit im Zusammenhang stoischen Denkens in der Tat als eine Form der Einsicht beziehungsweise Vernunft zu begreifen ist, zeigt auch die Art und Weise, wie ihr „Gegenstück“, der Affekt, bestimmt wird. Neben dem bereits angeführten Verständnis des πάθος als „übermäßigem Trieb“ (ὁρμὴ πλεονάζουσα)⁶⁵ findet sich auch seine Einschätzung als ἄλογος κίνησις und als παρὰ τόν ὀρθὸν λόγον.⁶⁶ Maximilian Forschner zufolge ist dies so zu deuten, dass es sich bei der affektmäßigen Reaktion um eine „widervernünftige Bewegung der Vernunft selbst“⁶⁷ handelt, so dass „πάθος (...) in stoischer Sicht eine Perversion der Vernunft [ist]“⁶⁸. Der Affekt stellt sich somit nicht als das Ergebnis einer neben der Vernunft selbstständig bestehenden Kraft ein, sondern als der Ausdruck eines verkehrten Gebrauchs derselben, der ein Handeln „gegen die Natur“ (παρὰ φύσιν) zur Folge hat.⁶⁹ Legt man diese Bestimmungen der Tüchtigkeit und des Affekts zugrunde, könnte man auf den Gedanken kommen, dass die mit der ἀρετή zu identifizierende „Einsicht in die wahren Wertverhältnisse“⁷⁰ ein für die Praxis relevantes Prinzipienwissen beinhaltet. Ob und gegebenenfalls inwiefern dem so ist, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.
8.1.4 Die Natur, die Tüchtigkeit und das Prinzip praktischen Wissens Die Frage nach einem oder mehreren Prinzipien praktischen Wissens lässt sich im Kontext stoischen Denkens nicht leicht beantworten. Als eine mögliche Kandidatin für ein solches Prinzip bietet sich ganz offensichtlich die Natur an, auf welche die
sich die Glückseligkeit im Vollzug der „tüchtigen Einsicht“ verwirklicht, wird deutlich, dass hier kein Widerspruch besteht. Zu dieser Scheinwidersprüchlichkeit vgl. auch Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 54f. 63 Vgl. SVF III, 16. 64 Vgl. ebd. III, 198. 65 Vgl. ebd. I, 205. 66 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 122. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 122; zudem Christoph Halbig: „Die stoische Affektlehre“, S. 33–41. 70 Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 55.
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ἀρετή als die „naturgemäße“ – und daher möglicherweise prinzipiell praktische – Einsicht bezogen ist. Dafür, die Natur in diesem Zusammenhang als das Prinzip praktischen Wissens anzusehen, spricht vor allem der folgende Umstand: Für die Stoiker stellt die Natur das universell wirksame Prinzip allen kosmischen Geschehens dar – und es ist eben dieser Sachverhalt der natürlichen Allbestimmtheit des Kosmos, zu welchem die Tüchtigkeit den Menschen in die aus stoischer Sicht einzig angemessene Relation setzt. Infolgedessen legt sich der Gedanke nahe, die ἀρετή als eine Form praktischen Prinzipienwissens zu begreifen, die den Menschen so disponiert, dass er seinen eigenen Willen vor dem Willen der Natur zurücknimmt. So betrachtet erscheint die Natur ihrerseits insofern als das Prinzip praktischen Wissens, als es ihr Wille ist, der alles Geschehen bestimmt und der so den Maßstab dafür vorgibt, was der Mensch wollen und tun soll, um das Ziel der Glückseligkeit zu erreichen. Anders gesagt: Wer seinen eigenen Willen vor dem Willen der Natur zurücknimmt, will und handelt so, dass er das Ziel der Glückseligkeit bereits erreicht hat, indem er als Tüchtiger gemäß der Natur lebt. Eine derartige Konzeption eines praktischen Prinzipienwissens mag zunächst durchaus ansprechend erscheinen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sie mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden ist, auf welche bereits andeutend hingewiesen worden ist und welche die stoische Ethik als ganze vor grundlegende Probleme stellt. Diese – in der Forschungsliteratur schon oft bemerkten – Schwierigkeiten betreffen in erster Linie den stoischen Freiheitsbegriff;⁷¹ lässt sich doch an diesen die Frage herantragen, wie der Mensch angesichts der Alldeterminiertheit des kosmischen Geschehens dennoch als frei angesehen werden kann. Denn, ist wirklich alles, was geschieht, durch die Natur vorherbestimmt, dann ist es unklar, wie der Mensch in der Lage sein soll, seine eigenen Handlungsziele und -zwecke selbst zu setzen und sich so dem determinierten Weltgeschehen gegenüber zu verhalten.⁷² Auch wenn nämlich die menschliche Freiheit, wie von den Stoikern vorgeschlagen, nicht im Bereich des Handelns, sondern in dem der inneren Einstellung gegenüber dem von der Natur bestimmten Schicksal zu verorten ist, stellt sich dennoch die folgende Frage: Wie kann der Mensch frei dazu sein, die richtige innere Einstellung und Haltung gegenüber dem schicksalhaften Weltgeschehen einzunehmen, wenn der naturgegebene Determinismus als ein allgemeiner(!) konsequenterweise auch das vom Menschen
71 Vgl. dazu und zu der im Folgenden zu entwickelnden Argumentation v. a. Anthony A. Long: „Freedom and Determinism in the Stoic Theory of Action“, in: Ders. (Hrsg.): Problems in Stoicism, London 1971, S. 193f.; Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 112f.; Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 84–94; Dorothea Frede: „Determinismus in der Stoa“, in: Barbara Neymeyer/Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Bd. 1, Berlin 2008, S. 135–167. 72 Vgl. dazu und zum Folgenden v. a. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 90f.
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geforderte Einnehmen der richtigen inneren Haltung umfassen muss?⁷³ Hier wird deutlich, dass sich die Stoa mit einer Zwickmühle konfrontiert sieht, aus der vor dem Hintergrund ihrer eigenen Prämissen kein Ausweg möglich zu sein scheint.⁷⁴ Entweder es gilt, dass der Determinismus universell ist – dann allerdings würde die freie Zielsetzung und die damit verbundene innere Haltung des Menschen, zu welcher ihn die stoische Lehre aufruft, ein unsinniges Konzept darstellen. Wie nämlich sollte der Mensch als ein vollständig determinierter in der Lage sein, sich selbst irgendein Ziel zu setzen und so eine bestimmte Haltung einzunehmen? Seine Ziele und seine innere Haltung würden ihm in diesem Fall vielmehr von der alles bestimmenden Natur vorgesetzt werden und die stoischen Aufforderungen dazu, gemäß der Natur zu leben und seine eigenen Zielsetzungen an die Natur anzupassen, wären absurd.⁷⁵ Der Mensch hätte ja so gesehen gar keinen eigenen Willen, den er an die Natur anpassen könnte.⁷⁶ Oder aber es gilt, dass der Mensch seine Ziele selbst frei setzen kann – dann jedoch wäre die Annahme eines allumfassenden natürlichen Determinismus unhaltbar, und es würde sich die Frage stellen, weshalb man überhaupt seinen eigenen Willen vor
73 Vgl. dazu ebd. S. 92: „Es sieht also so aus, als sei die durchgängige Vorherbestimmtheit nur für das äußere Geschehen gültig, die innere Einstellung aber davon ausgenommen. Genau genommen läßt indes das stoische Lösungsmodell des Freiheitsproblems diese Auffassung nicht zu. Denn es steht uns ja nicht frei, wie wir unsere Zustimmung erteilen und unsere Zwecke setzen, sondern dies ist determiniert durch die Beschaffenheit unserer Vernunft (...). Im Bild hat also der Hund gar keine Wahl, ob er folgen oder sich sträuben will, dies ist durch seinen Charakter festgelegt. Das würde aber bedeuten, daß es auch vorherbestimmt ist, ob jemand glücklich wird oder nicht, und er daran nichts ändern kann.“ Wie Charlotte Stough herausgearbeitet hat, liegt die Ausbildung des Charakters nach stoischer Auffassung nicht in der Hand des Einzelnen. Der Charakter stellt vielmehr das Ergebnis eines Zusammenspiels zwischen der ererbten individuellen Natur und äußerer, vor allem frühkindlicher Einflüsse dar. Vgl. Charlotte Stough: „Stoic Determinism and Moral Responsibility“, in: John M. Rist: The Stoics, S. 225f. 74 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Stoiker selbst davon überzeugt waren, dass manche Dinge in der Hand des Menschen liegen, während er ihrer Auffassung zufolge über andere keine Kontrolle hat. Auf diesen Umstand und darauf, dass diese Überzeugung vor dem Hintergrund des stoischen Schicksalsverständnisses höchst problematisch ist, weist u. a. Josiah B. Gould hin in: „The Stoic Conception of Fate“, in: Journal of the History of Ideas 35, No. 1 (1974), S. 17–32, bes. S. 24–28. 75 Leicht variiert findet sich diese Kritik an Chrysipps Konzeption des Schicksals auch bereits bei Plutarch in De Stoicorum Repugnantiis 1055f–1056d. Diese Kritik aufnehmend, zieht Josiah B. Gould („The Stoic Conception of Fate”, S. 32) den Schluss: „The Stoic conception of fate is one with which the notion of human responsibility is incompatible.“ 76 Zudem ist zu beachten, was Hossenfelder in Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 91 erklärt: „Mit der Entscheidungsfreiheit schloß das stoische Modell aber nicht nur eigene Zwecksetzung aus, sondern auch die für die Antike so wichtige Zurechenbarkeit der Handlungen, die für Lob und Tadel, Belohnung und Bestrafung die Voraussetzung ist. Es sei denn, man nahm an, daß der Mensch für den Zustand seiner Vernunft selbst verantwortlich sei. Aber das konnte die Schwierigkeit nur verschieben, denn dann muß der Mensch eben an dem Punkt, wo er auf die Formung seiner Vernunft Einfluß nimmt, die Kausalkette der Heimarmene durchbrechen.“
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dem der doch nicht alles bestimmenden Natur zurücknehmen sollte.⁷⁷ Beide Möglichkeiten erweisen sich im Rahmen stoischen Denkens deswegen als nicht annehmbar, weil sie jeweils Grundpfeiler der stoischen Ethik aufheben.⁷⁸ Abgesehen davon erweisen sich diese Kritikpunkte gerade für die zuvor skizzierte mögliche Konzeption eines stoischen Prinzipienwissens im Bereich der Praxis als äußerst problematisch; stellt doch die These des natürlichen Universaldeterminismus genau genommen die Möglichkeit menschlicher Praxis überhaupt in Frage. Wenn es der Fall ist, dass die Natur pneumatisch alles Geschehen und damit auch die menschliche Zwecksetzung bestimmt, dann erscheint es wenig sinnvoll, noch
77 Wie gezeigt worden ist, stellt die Alldeterminiertheit des kosmischen Geschehens für die Stoa ja gerade einen der Hauptgründe dafür dar, weshalb man als Mensch seinen Willen vor dem Willen der Natur zurücknehmen soll. Begründet liegt dies darin, dass sich stoisch gedacht nur das in Übereinstimmung mit der Natur vollzogene Streben ausschließlich auf das ausrichtet, was es auch erreichen kann, so dass es den die Glückseligkeit gefährdenden Affekt vermeidet. 78 Einigen Interpreten zufolge schließt der von der Stoa vertretene naturbedingte Determinismus die Annahme menschlicher Freiheit und Verantwortung nicht aus. Gemäß dieser Position, die z. B. von Christoph Jedan („Chrysipp über Determinismus und Verantwortlichkeit“), Ricardo Salles („Compatibilism: Stoic and Modern“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 83 (2000), S. 1–23), Susanne Bobzien (Determinism and Freedom in Stoic Philosophy) oder Vladimir Mikes („Le paradoxe stoïcien: l’action déterminée et la responsabilité“, in: Philosophie Antique 8 (2008), S. 189–214) vertreten wird, können Determinismus und Freiheit nach Art kompatibilistischer Freiheitstheorien auch im Fall der stoischen Überlegungen zusammen gedacht werden. Wenngleich kompatiblistische Ansätze – wie beispielsweise der von Harry G. Frankfurt in „Alternate Possibilities and Moral Responsibility“, in: Journal of Philosophy 66 (1969), S. 829–839 entwickelte – im Allgemeinen durchaus das Potential haben, einige interessante Aspekte hinsichtlich der besagten Problematik zu benennen, scheint dieser Versuch mit Blick auf stoische Überlegungen wenig überzeugend. Ohne dies hier näher ausführen zu können, sei nur Folgendes bemerkt: Der von der Stoa angenommene naturbedingte und universelle Determinismus lässt keinen Raum für eine freie willentliche Reflexion, ein freies Sich-Verhalten gegenüber dem determinierten Geschehen, was allerdings notwendig wäre, um Determinismus und Freiheit in kompatibilistischer Weise zusammen zu denken. Der zentrale Punkt liegt dabei darin, dass nach stoischer Vorstellung – wie erläutert – nicht nur die äußerliche Welt, sondern auch die jeweilige innere Konstitution des Einzelnen durch das göttliche Pneuma bestimmt ist. Infolgedessen liegt auch das Sich-Verhalten zum determinierten Geschehen – anders als übrigens bei Harry Frankfurt – nicht in der Hand des Einzelnen, dessen willentliche Reflexion durch das Pneuma determiniert ist. Ricardo Salles selbst bringt diesen Einwand in „Compatibilism: Stoic and Modern“, S. 21, Anm. 51 vor, setzt ihm allerdings nichts Überzeugendes entgegen. Auch die Argumentation Dorothea Fredes, die selbst ebenfalls auf dieses Problem eingeht und zu dessen Lösung darauf hinweist, dass das Pneuma als das „göttliche Element in uns (...) unsere Persönlichkeit ist“, kann in diesem Zusammenhang nicht überzeugen. Denn auch wenn das göttliche Pneuma als das unsere Reflexion bestimmende Element in uns selbst liegt, so ist es doch noch immer dieses Pneuma, das die Entscheidung darüber trifft, ob der Einzelne einem notwendig sich vollziehenden Geschehen zustimmt oder nicht. Identifiziert mit der Persönlichkeit des jeweiligen Menschen ist es folglich eben diese Persönlichkeit, auf welcher die Last der Verantwortung für eine etwaige Zustimmung oder Ablehnung liegt, nicht aber im eigentlichen Sinn der Einzelne, welcher als der Sklave seiner Persönlichkeit erscheinen muss. Vgl. dazu Dorothea Frede: „Determinismus in der Stoa“, S. 161–164.
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von einer genuin menschlichen Praxis zu sprechen. Handelnd ist in diesem Kontext eigentlich nur die Natur, welche die menschliche Praxis bestimmt, indem sie die Handlungszwecke des Menschen setzt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Mensch als ein bloßer Automat, der ohne einen echten eigenen Willen nur den Willen der Natur vollzieht – ganz gleich, ob er es, wie von den Stoikern gefordert, versucht, seinen Willen vor dem der Natur zurückzunehmen oder nicht.⁷⁹ Überdies stellt sich die Frage, welchen Sinn ein praktisches Prinzipienwissen im oben geschilderten Sinne haben soll, wenn die mit den Zielsetzungen verbundene innere Haltung ohnehin durch die Natur selbst bestimmt wird. Ob jemand über ein solches Wissen verfügt oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, da es nicht die Einsicht in dieses Wissen ist, die darüber entscheidet, welche Einstellung ein Mensch zu einem naturgemäßen Leben einnehmen wird. So wäre die Natur als die „All-Bestimmerin“ zwar tatsächlich das Prinzip der Praxis, da sie jede Einstellung und alles Tun determiniert. Gleichzeitig wäre aber die Vorstellung eines auf dieses Prinzip bezogenen Wissens insofern sinnlos, als dieses Wissen völlig irrelevant wäre. In einem weiteren Schritt ist zu bedenken, dass das von der Stoa vorgetragene Wissen um die Notwendigkeit, den eigenen Willen vor dem der Natur zurück zu nehmen, sich auch deswegen nicht als ein prinzipielles praktisches Wissen zu qualifizieren vermag, weil ihm der Charakter des Allgemeinen fehlt. Das Wissen um die besagte Notwendigkeit ist eines, das auf den Einzelnen abzielt, der sein je eigenes fatum hat und der folglich seinen Willen vor dem zurücknehmen muss, was der göttliche Plan für ihn als Einzelnen vorsieht. Daher ist die Forderung, gemäß der Natur zu leben, immer auch im Sinne des Lebens gemäß der je eigenen Natur zu verstehen und die Natur des Einzelnen in diesem Sinne nie streng von der allgemeinen Natur zu trennen.⁸⁰ Indem die Stoa die Forderung, gemäß der Natur zu leben, auf den Einzelnen bezieht, trägt sie Aristoteles’ Einwand Rechnung, der gegen Platons Ideenethik auf den situativen Charakter menschlicher Praxis hingewiesen hatte.⁸¹ Sein Ziel – die Glückseligkeit – muss der Mensch aus stoischer Sicht als Einzelner innerhalb der ihm gegebenen Umstände verfolgen und erreichen, weshalb auch das höchste stoische Handlungsprinzip – das secundum naturam vivere – trotz seiner allgemeinen Formulierung in seiner Vereinzelung aufzufassen ist.⁸²
79 Noch immer sehr hilfreich in diesem Zusammenhang ist Richard Sorabji: „Causation, Laws, and Necessity“, in: Malcolm Schofield/Myles Burnyeat/Jonathan Barnes (Hrsg.): Doubt and Dogmatism. Studies in Hellenistic Epistemology, Oxford 1980, S. 250–282. 80 Vgl. Joachim Lukoschus: Gesetz und Glück, S. 10–13. 81 Siehe dazu oben Kapitel 7.2. 82 Vgl. dazu u. a. die sich bei Seneca findende Variation der stoischen Telosformel, nach der es gilt „gemäß der eigenen Natur zu leben“ (secundum naturam suam vivere). So z. B. in Seneca Epistula 41, 7–8; dazu Epistula 5, 3f. Auf die Konsequenzen, die sich daraus für das Verständnis der Telosformel ergeben, wird später noch genauer eingegangen werden.
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Wie Malte Hossenfelder herausgearbeitet hat, weist die stoische Lehre vom Erreichen der Glückseligkeit damit einen Grundzug auf, der auch im Fall anderer hellenistischer Philosophenschulen auszumachen ist: die Individualisierung des Glücksstrebens.⁸³ So ist es Hossenfelder zufolge das jeweilige persönliche, individuelle Glück des Einzelnen, das es hellenistisch-ethisch gedacht zu verwirklichen gilt.⁸⁴ Sowohl für die Stoa als auch für die anderen hellenistisch-philosophischen Schulen gilt somit: Sein Glück muss der Einzelne wie gesagt als Einzelner finden, und zwar im Kontext und nach den Umständen seines je eigenen Lebens. Hossenfelder zufolge ist die dementsprechende „Subjektivierung des Glücksbegriffs im Hellenismus“ dem „objektiven Glücksbegriff der Klassik“ entgegenzusetzen. Prägnant fasst er seine These zusammen, wenn er schreibt: „Das Glück wird [im Hellenismus, T. J.] zu einer reinen Privatsache.“⁸⁵ Angesichts einer solchen Subjektivierung des Glücksbegriffes und des Glücksstrebens muss die Suche nach einem allgemeinen Prinzip praktischen Wissens sinnlos erscheinen. Seinen Grund hat dies vor allem darin, dass ein derartiges Prinzip – wie bereits angemerkt – ein für alle Menschen gleichermaßen gültiges Handlungs- und Zielsetzungskriterium abzugeben beansprucht. Damit bestimmt das Prinzip sowohl die Art und Weise des Strebens als auch dessen Letztziel, das Glück, in einer für alle Menschen einheitlichen Form – und gerade dieser Gedanke steht der Subjektivierung des Glücksbegriffes diametral entgegen. Dass eine prinzipientheoretisch begründete
83 Vgl. u. a. Malte Hossenfelder: „Die Rolle des Glücksbegriffs in der Moralphilosophie. Das Vorbild der Antike“, in: Joachim Schummer: Glück und Ethik, Würzburg 1998, S. 169–187; dazu ders.: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 25–39. Die Rede vom „Individuum“ oder der hellenistischen „Individualethik“ ist m. E. insofern problematisch, als dieser Terminus Konnotationen zeitgenössischen Denkens hat, die man nur in anachronistischer Weise mit der Epoche des Hellenismus in Verbindung bringen kann. Der Sache nach ist Hossenfelders Einschätzung allerdings zuzustimmen, weshalb seine Terminologie im Folgenden auch übernommen wird. Glücklicher wäre es vielleicht, in diesem Zusammenhang vom „Einzelnen“ statt vom „Individuum“ zu sprechen. 84 Diese Einschätzung zur hellenistischen Philosophie teilen auch Peter Steinmetz und Ernst Vogt in ihrem Artikel zur (hellenistischen) „Philosophie“, in: Lexikon des Hellenismus, hrsg. v. Hatto H. Schmidt und Ernst Vogt, Wiesbaden 2005, Sp. 801–808, bes. 802f.; zum Individualismus als einem „Grundzug der hellenistischen Epoche“ vgl. Hans-Joachim Gehrke: Geschichte des Hellenismus, München 2003, S. 76; so auch Reimar Müller: Die epikureische Ethik, (Reihe: Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 32), Berlin 1991, S. 9–11 mit einem Verweis auf: Kulturgeschichte der Antike, 1: Griechenland, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Reimar Müller, Berlin 1980, S. 455ff.; 486ff. Eine Gegenposition zur These der Konzentration hellenistischer Philosophie auf das Individuum vertreten mit Blick auf die Stoa u. a. Karlhans Abel und Michael Erler in ihrem Artikel „Stoa“, in: Lexikon des Hellenismus, Sp. 1042–1046, bes. 1043. 85 Malte Hossenfelder: „Die Rolle des Glücksbegriffs in der Moralphilosophie. Das Vorbild der Antike“, S. 179; für seine Betrachtungen zu Lukrez und zum Epikureismus verweist auch Andreas Haltenhoff auf Hossenfelders These in seinem Aufsatz: „Lukrez, der Epikuerismus und die römische Gesellschaft“, in: Andreas Haltenhoff/Andreas Heil/Fritz-Heiner Mutschler: O tempora, o mores. Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, München 2003, S. 219–244.
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Ethik einer auf einem subjektiven Glücksbegriff basierenden Ethik entgegensteht, zeigt auch ein weiterer Kerngedanke stoischer wie auch allgemein hellenistischethischer Reflexion. Malte Hossenfelder formuliert diesen wie folgt: „Soll (...) der glückliche Einzelne der letzte Zweck sein, dann müssen alle Zwecke um seinetwillen gesetzt werden, und das heißt, er muß sie sich selbst setzen.“⁸⁶ Im Unterschied dazu ist es im Rahmen einer prinzipientheoretisch begründeten Ethik gerade nicht der Einzelne, der seine Zwecke selbst setzt, sondern das Prinzip. Anhand seiner kann der Einzelne erkennen, welche Zwecke er oder sie sich zu setzen hat, um den ebenfalls durch das Prinzip festgelegten höchsten Zweck zu erreichen. Damit gibt das Prinzip eine übergeordnete Struktur ab, die jeden einzelnen Menschen und jeden einzelnen der von ihm zu verfolgenden Zwecke zu umfassen beansprucht. Hellenistisch-ethisch gedacht führt die Annahme einer solchen übergeordneten Struktur, wie sie das Prinzip begründet, allerdings in einen Selbstwiderspruch. Dieser zeigt sich vor dem Hintergrund der Annahme, dass „der glückliche Einzelne der letzte Zweck sein“⁸⁷ soll und nicht ein übergeordnetes, allgemein gültiges Ziel. Gilt nämlich, dass das Glück des Einzelnen den letzten Zweck abgibt, dann, so Malte Hossenfelder, kann deswegen nichts und niemand anderes als der Einzelne seine Zwecke setzen, da ansonsten die Verwirklichung der übergeordneten Struktur und nicht das Glück des Einzelnen den höchsten Zweck setzen würde.⁸⁸ „Denn dann wäre er [der Einzelne] übergeordneter Zweck nur innerhalb einer vorgegebenen Ordnung, und dann wäre diese Ordnung das eigentlich und unbedingt zu Realisierende und damit letzter und dem Einzelnen noch übergeordneter Zweck, so daß nicht alle Zwecke um seinetwillen gesetzt wären.“⁸⁹ Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich den ethischen Überlegungen der Stoa kein prinzipielles praktisches Wissen entnehmen lässt. Dabei ist zum einen an die erörterten Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage nach einer im Rahmen stoischen Denkens möglichen genuin menschlichen Praxis zu erinnern. Zum anderen kann man den Quellen mit einiger Sicherheit entnehmen, dass die Stoa auch gar nicht den Anspruch erhoben hat, ein solches Prinzip anzugeben. Vielmehr legt das
86 Vgl. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 33. 87 Ebd. 88 Vgl. ebd. 89 Ebd. Hossenfelders Ausführungen zur Subjektivierung des Glücksbegriffes im Hellenismus lassen sich in Bezug setzen zu der zuvor bereits angeführten These, nach welcher man die Entwicklungen der hellenistischen Schulen unter anderem als Reaktion auf Aristoteles’ Einwände gegen die Möglichkeit eines prinzipiellen praktischen Wissens deuten kann. Für diese andernorts länger zu erörternde Überlegung spricht nicht nur, dass zumindest die Gründerfiguren der Stoa und des Epikureismus zeitlich kurz nach dem Tod des Aristoteles in Erscheinung treten. Darüber hinaus fällt auf, dass die genannten Schulen der aristotelischen Kritik an Platons normativer Ethik insofern Rechnung tragen, als sie wie erläutert den Einzelnen in seiner konkreten Situation in den Blick nehmen und ihre ethischen Modelle in Bezug auf das individuelle Glück entwickeln.
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stoische Denken eine Individualisierung der Glückseligkeit zugrunde, so dass die Eudaimonie, stoisch gesehen, die des jeweils Einzelnen ist. Dieser soll seinen je eigenen Willen vor seiner eigenen Natur und der mit dieser aufs Engste verbundenen Natur im Allgemeinen zurücknehmen. Daher spricht die stoische Telosformel trotz ihrer allgemeinen Formulierung eigentlich den einzelnen Menschen an – und genau daraus ergibt sich ein nicht zu unterschätzendes und weitreichendes Problem, auf das im folgenden Abschnitt eingegangen wird.
8.1.5 Die allgemeine Norm und ihre Vermittlung: das exemplum Bezieht man die These von der Vereinzelung und Individualisierung des Glücksstrebens im Rahmen allgemein hellenistischer und konkret stoischer Philosophie auf die stoische Telosformel, scheint sich zunächst ein gravierendes Problem zu ergeben. Auch wenn man nämlich – wie eben geschehen – behaupten kann, dass die Telosformel im Sinne der Vereinzelung aufzufassen sei, stellt sich doch die Frage, wie diese Vereinzelung genau genommen zu verstehen ist. Zur Sprache kommt hier das bereits mit Blick auf Aristoteles’ Platon-Kritik erläuterte Problem der Vermittlung allgemeiner Normen in den situativ geprägten Kontext menschlicher Praxis. Was nämlich heißt es für den Einzelnen ganz konkret in einer bestimmten Situation, gemäß der Natur zu leben, wie lassen sich normative und situative Ethik miteinander verbinden? Mit dieser Frage, die eine bleibende Herausforderung für die nacharistotelische philosophische Ethik darstellt, musste sich auch die Stoa auseinandersetzen. Die Lösung, die sie in diesem Zusammenhang entwickelte, sollte eine immense Wirkungsgeschichte entfalten.⁹⁰ Ansätze zu dieser Lösung wurden aller historischen Wahrscheinlichkeit nach bereits von Vertretern der sogenannten mittleren Stoa herausgearbeitet.⁹¹ So berichtet Seneca, dass der Stoiker Poseidonios eine ausgefeilte exemplum-Theorie entwickelt und betont habe, dass es für die Erziehung zu einer guten Lebensführung nicht ausreiche, einfach nur „Vorschriften“ (praecepta) vorzulegen. Vielmehr, so Seneca, müsse man auch Beispiele geben, anhand derer gelernt werden könne, wie das Vorgeschriebene umzusetzen ist. Demnach könne man entweder sagen: „Jenes wirst Du tun, wenn Du maßvoll bist“ oder aber erklären: „Maßvoll ist derjenige, der jenes tut, sich von jenem hingegen enthält“⁹². Während der erste Satz Seneca zufolge eine
90 Auf diese im Rahmen stoischen Denkens entwickelte Lösung des Problems der Verbindung von normativer und situativer Ethik hat Bernhard Uhde im Rahmen eines leider bislang noch nicht veröffentlichten Vortrages aufmerksam gemacht. 91 Vgl. dazu auch Wilhelm Geerlings: Christus Exemplum. Studien zur Christologie und Christusverkündigung Augustins, Mainz 1978, S. 146–155, hier S. 152. 92 Seneca Epistula 95, 66.
Die Stoa – Leben in Übereinstimmung mit der Natur
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„Vorschrift der Tüchtigkeit“ (praeceptum virtutis) beinhaltet, gibt der zweite ein „Beispiel“ (exemplar), da er jemanden „beschreibt“ (describere), der über die Tüchtigkeit des Maßhaltens verfügt.⁹³ Laut Seneca sind derartige Beschreibungen dabei für das Erwerben von Tüchtigkeiten sehr hilfreich. Denn, so das von ihm gewählte Beispiel, mag es auch schon sehr von Nutzen sein, wenn man Merkmale⁹⁴ gezeigt bekommt, anhand derer man beim Kauf eines Pferdes ein edles erkennt, so ist es doch umso nützlicher, die Kennzeichen einer hervorragenden Seele zu kennen, die man von jemandem anderen auf sich selbst „übertragen“ (transferre) kann.⁹⁵ Von zentraler Bedeutung für den hohen Wert des Beispiels ist, wie an dieser Stelle deutlich wird, dass man dessen positive Eigenschaften, dessen Tüchtigkeiten, auf sich selbst übertragen kann. Will man beispielsweise wissen, wie man in rechter Weise nach Ruhm strebt, dann, so Seneca im Schlussteil seines Briefes, sollte man sich jemanden wie Cato und dessen ruhmvolle Taten zum Vorbild nehmen und diesen nacheifern.⁹⁶ Charakteristisch für die von Seneca verwendeten Beispiele ist, dass sie jeweils die praecepta virtutis in einer herausragenden Weise befolgt und durch ihr tüchtiges Verhalten in die Tat umgesetzt haben. Sei es, dass Scipio, der Sieger über Hannibal, äußerst tapfer im Krieg war, sei es, dass Cato der Ältere sich durch hervorragende Taten um seine Familie und die Republik verdient gemacht hat. In jedem dieser Fälle zeigt das Beispiel solcher Menschen, dass und wie die als Normen begriffenen praecepta im Kontext der konkreten Lebenswelt umgesetzt werden können. Das tüchtige Verhalten dieser Menschen nun gilt es laut Seneca auf das eigene Leben zu übertragen, indem man, zum Beispiel dem exemplum des Tubero folgend, auf übertriebenen Luxus verzichtet⁹⁷ oder wie Scipio in den Konfliktsituationen, in die man selbst gestellt ist, tapfer bleibt. Einem Beispiel zu folgen, heißt demnach, die Lebensweise eines vorbildhaften Menschen zu betrachten, um daraus Schlüsse darauf zu ziehen, wie man selbst in seinem eigenen Leben situativ die als Normen dienenden praecepta virtutis befolgen und in die Tat umsetzen kann.⁹⁸ Übertragen auf die allgemeine stoische Forderung, gemäß der Natur zu leben, bedeutet dies, dass es auch für die Umsetzung dieser Norm sinnvoll ist, sich an exempla zu orientieren, welche die Umsetzung dieses praeceptums in idealtypischer Weise vollzogen haben. Hier liegt der Grund für die wichtige Rolle des „Weisen“ (σοφός), welche dieser im Rahmen stoischen Denkens spielt; stellt doch seine Lebens-
93 Vgl. ebd. 94 Wörtlich „Argumente“. 95 Vgl. Seneca Epistula 95, 67: „Putas utile dari tibi argumenta per quae intellegas nobilem equum, ne fallaris emturus, ne operam perdas in ignauo? Quanto hoc utilius est, excellentis animi notas nosse quas ex alio in se transferre permittitur.“ 96 Vgl. ebd. 95, 72f. 97 Vgl. ebd. 72. 98 Vgl. ebd.: „proderit non tantum quales esse soleant boni viri, dicere formamque eorum et lineamenta deducere, sed quales fuerint narrare et exponere (…).“
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führung das Norm und Situation vermittelnde Beispiel dar, an dem sich der Einzelne für seine eigene Lebensführung orientieren kann.⁹⁹ Wie zu Beginn dieses Abschnittes erwähnt, sollte die stoische Exemplum-Konzeption eine große Wirkungsgeschichte entfalten, und zwar nicht zuletzt im Rahmen der neuplatonischen und der christlichen Ethik. Es waren allerdings nicht nur die stoischen Überlegungen zum exemplum, welche dieser Schule bis heute einen wichtigen Einfluss im Bereich philosophisch ethischer Reflexion einräumen. Gerade weil das stoisch ethische Modell – gleichsam im Gefolge des Aristoteles – nicht von der Möglichkeit eines prinzipiellen praktischen Wissens ausgeht, ist es bis heute von einem gewissen Interesse für diejenigen, die ein nicht auf Prinzipien basierendes ethisches Modell zu entwickeln suchen. Bevor nun darauf eingegangen wird, wie die stoische Verhältnisbestimmung von Theoria und Praxis Einfluss auf andere antike und spätantike ethische Modelle – nämlich die des Neuplatonismus und des frühen Christentums – genommen hat, soll nun zunächst noch ein zweites Beispiel hellenistisch-philosophischer Ethik herangezogen werden – das Epikurs.
8.2 Die Schule der Lust – Epikur Es gibt wohl kaum eine andere Philosophenschule der Antike und Spätantike, über die so viele irreführende Vorurteile im Umlauf sind wie über die Schule Epikurs. Verschrien als Hedonisten werden die Epikureer meist als lust- und genusssüchtige Völler dargestellt, die ihr Heil in allerlei übertriebenen Sinnesfreuden suchten. Wenngleich sicherlich nicht auszuschließen ist, dass es im Lauf der Geschichte auch Vertreterinnen und Vertreter eines solchen „Vulgärepikureismus“ gab, die sich nach Kräften bemühten, die besagten Klischees zu erfüllen, wird man dieses Bild doch bei genauerem Hinsehen deutlich korrigieren müssen.¹⁰⁰
8.2.1 Die Lust als das höchste Gut Einen gewissen Anteil an der Verwirrung hinsichtlich dessen, worauf Epikur und die ihm Nachfolgenden eigentlich abzielten, haben sicherlich diese selbst; gaben sie doch mit der für gewöhnlich mit „Lust“ übersetzten ἡδονή eine inhaltliche Bestim-
99 Ohne an dieser Stelle weiter auf den speziellen Charakter des stoischen Weisen einzugehen, sei hier nur angemerkt, dass viele der zunächst merkwürdigen Aspekte dieser Figur sich in einem anderen Licht zeigen, wenn man sie vor dem Hintergrund der stoischen Exemplum-Konzeption betrachtet. 100 Auf die mit seiner Lehre verbundenen Missverständnisse geht schon Epikur selbst in seiner Epistula ad Menoeceum 132 ein – ebenso wie der in Ciceros De finibus auftretende Epikureer Torquatus. Vgl. De finibus I, 37.
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mung der εὐδαιμονία an,¹⁰¹ die schon damals mit einer Vielzahl von – nicht nur positiven – Assoziationen konnotiert war.¹⁰² Nur scheinbar entgegengesetzt zu dieser Bestimmung der Glückseligkeit, die auch für Epikur das höchste Gut darstellt,¹⁰³ findet sich bei ihm eine zweite Definition, welche den mit der εὐδαιμονία einhergehenden Zustand als ἀταραξία („Unerschütterlichkeit“ oder „Seelenruhe“) und als ἀπονία im Sinne der Abwesenheit körperlichen Schmerzes beschreibt.¹⁰⁴ Anders als es ihm seine Kritiker vorwerfen,¹⁰⁵ können diese beiden Bestimmungen der Glückseligkeit Epikur zufolge widerspruchsfrei zusammengedacht werden.¹⁰⁶ Dies ist des-
101 Wertvolle Hinweise zu Epikurs Argumentation dafür, die Lust als das höchste Gut anzusehen, finden sich u. a. bei Peter Preuss: Epicurean Ethics. Katastematic Hedonism, (Reihe: Studies in the History of Philosophy, Vol. 35), Lewiston NY 1994, S. 82–92. 102 Zu Epikurs Definition der Glückseligkeit als ἡδονή vgl. u. a. seine Epistula ad Menoeceum 128, 129 und 131 oder auch Cicero De finibus I, 29. Auf den „Eigenanteil“ Epikurs an der Beförderung polemischer Darstellungen seiner Lehre weisen auch Michael Erler und Malcolm Schofield in ihrem Aufsatz „Epicurean Ethics“, in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Vol. 1, hrsg. von Keimpe Algra/Jonathan Barnes/Jaap Mansfeld/Malcolm Schofield, Cambridge 1999, S. 643, hin. Die „Lust“ war schon vor Epikur in verschiedenen nachsokratisch philosophischen Kontexten vielfach zum Thema geworden, so z. B. bei Aristipp von Kyrene, bei Eudoxos von Knidos und sogar bei Platon – hier vor allem im Philebos – und in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik. Dezidiert gegen eine positive Bewertung der „Lust“ sprachen sich z. B. Antisthenes und Speusipp aus. Zu dieser Vorgeschichte des epikureischen Lustbegriffes vgl. v. a. Justin C. B. Gosling/Christopher C. W. Taylor: The Greeks on Pleasure, Oxford 1982; Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 43–58. Auf die sich vor allem mit Blick auf den Begriff der „Lust“ ergebende Spannung, die aus Epikurs Versuch, den normalen Sprachgebrauch aufzunehmen, resultiert, weist auch Carlos Lévy hin in: Les Philosophies hellénistiques, S. 85f. Zur Entgegensetzung des kyreanischen und des epikureischen Hedonismus vgl. Diogenes Laertios De vitis et dogmatibus clarorum philosophorum X, 136; zudem Jeffrey S. Purinton: „Epicurus on the telos“, in: Phronesis 38 (1993), S. 282–287; Peter Preuss: Epicurean Ethics. Katastematic Hedonism, (Reihe: Studies in the History of Philosophy, Vol. 35), Lewiston NY 1994, S. 97–101; Phillip Mitsis: Epicurus’ Ethical Theory. The Pleasures of Invulnerability, Ithaca 1988, S. 51–58. 103 Vgl. Diogenes Laertios De vitis et dogmatibus clarorum philosophorum X, 128; dass das höchste Gut auch epikureisch gedacht dasjenige ist, um dessentwillen alles andere erstrebt wird, geht u. a. aus der bereits angeführten Stelle in Cicero De finibus I, 29 hervor; vgl. ebenfalls Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 644. 104 Vgl. Epikur Epistula ad Menoeceum I, 128; Epikur spricht hier zwar nicht von der ἀπονία, sondern von der ὑγιεία τοῦ σώματος, der Sache nach aber ist sie gemeint. Vgl. dazu auch De vitis et dogmatibus clarorum philosophorum X, 136; siehe auch Jeffrey S. Purinton: „Epicurus on the telos“, S. 283–287; Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 653f. 105 Vgl. z. B. Cicero De finibus II, 3–30. Carlos Lévy weist darauf hin, dass interessanterweise die erste philosophische Lehre, in der Cicero unterwiesen wurde, die Epikurs war. Vgl. dazu Carlos Lévy: „Cicero and the New Academy“, in: Lloyd P. Gerson (Hrsg.): The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity, Volume 1, Cambridge 2010, S. 40. Zur antiepikureischen Polemik Ciceros und seiner Verwendung der Figur der „paradoxen Laudatio“ vgl. ders.: „Cicéron et l’épicurisme: la problématique de l’éloge paradoxal“, in: Clara Auvray-Assayas/Daniel Delattre (Hrsg.): Cicéron et Philodème: la polémique en philosophie, Paris 2001, S. 61–75. 106 Vgl. zum Folgenden Cicero De finibus I, 37; dazu Malte Hossenfelder: Epikur, München 2006, S.
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wegen möglich, weil die „Lust“ richtig verstanden nichts anderes ist als die Abwesenheit ihres Gegenteils, der Unlust, die als solche eine Störung der Seelenruhe und der körperlichen Gesundheit bedeutet. Der Lust Empfindende ist so gedacht folglich insofern „un-erschüttert“ (ἀτάραχος) und in seiner Seelenruhe ungestört, als für ihn diejenigen Faktoren abwesend sind, die eine derartige Erschütterung oder Störung verursachen und die mit den Begriffen der „Unlust“ oder des „Schmerzes“ bezeichnet werden können. Das Leben, das frei ist von den Störungen der Unlust, ist ein Leben der Lust und infolgedessen mit Epikur als glückselig zu begreifen.¹⁰⁷ Wie aber ist eine solche lustvolle Glückseligkeit zu erreichen? Und wie lässt sich ein solches Befinden inhaltlich näher fassen? Für Epikur ist das lustvolle Leben dann erreicht, wenn uns nichts „zu unserem naturgemäßen Zustand (...) fehlt“¹⁰⁸. Dabei ist es für sein Lustverständnis fundamental, dass nicht nur der Prozess zum Erreichen der Mangellosigkeit lustvoll ist – eben dies hatte z. B. Platons Lustkritik im Philebos vorausgesetzt und die Lust daher als mögliche Kandidatin für die Garantie eines guten Lebens ausgeschlossen.¹⁰⁹ Vielmehr bestimmt Epikur gerade denjenigen Zustand als lustvoll, der erreicht ist, wenn jeder seelische oder körperliche Mangel, jede so geartete Bedürftigkeit, die er mit der Unlust gleichsetzt, überwunden ist.¹¹⁰ Die so bestimmte „katastematische“ Lust¹¹¹ ist dem Menschen dabei nach epikureischer Auffassung immer verfügbar. Weshalb Epikur von einer solchen Verfügbarkeit der Lust ausgeht, wird deutlich vor dem Hintergrund folgender Überlegung.¹¹² Ist das lustvolle Leben durch das Fehlen jeg-
63–68; Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 653f.; zur Gleichsetzung von ἡδονή, ἀταραξία und ἀπονία vgl. auch Phillip Mitsis: Epicurus’ Ethical Theory, S. 51–58. 107 Epikur unterscheidet somit nicht zwischen drei Zuständen – der Lust, der Unlust und einem Mittleren –, sondern nur zwischen Lust und Unlust, weshalb die Abwesenheit der Unlust mit der Anwesenheit der Lust gleichzusetzen ist. Vgl. Cicero De finibus I, 38 und Diogenes Laertios De vitis et dogmatibus clarorum philosophorum X, 136 und die Kommentare zu der Diogenes-Stelle in Malte Hossenfelder, Epikur, S. 65–69 und Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 653f. 108 Vgl. Malte Hossenfelder, Epikur, S. 65–67, hier S. 77; siehe auch ders.: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 106f. 109 Zur Diskussion im Philebos und ihrem Bezug zu Epikurs Lustverständnis vgl. Justin C. B. Gosling/ Christopher C. W. Taylor: The Greeks on Pleasure, S. 129–142; Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 52f. Die vom Jünger Epikurs angestrebte Mangellosigkeit zeigt eine wichtige Nähe zu klassischen Konzeptionen der Eudaimonie, wie sie in den vorhergehenden Kapiteln erörtert worden sind. 110 Wie es nämlich in Ciceros De finibus I, 37 heißt, haben wir epikureisch gedacht dann die maxima voluptas, wenn wir empfinden, dass jeder Schmerz weggenommen ist (omni dolore detracto). 111 Zu der in der Forschungsliteratur viel diskutierten epikureischen Unterscheidung zwischen der kinetischen oder auch dynamischen Lust, die den Prozess der Mangeltilgung umfasst, und der „katastematischen“, der zustandsmäßigen Lust vgl. beispielsweise Cicero De finibus II, 31f. oder II, 9f. Vgl. auch die bereits zitierte Monographie Peter Preuss’: Epicurean Ethics. Katastematic Hedonism; zudem: Justin C. B. Gosling/Christopher C. W. Taylor: The Greeks on Pleasure, S. 365–396; Philip Merlan: Studies in Epicurus and Aristotle, Wiesbaden 1960, S. 1–37. 112 Vgl. zum Folgenden Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und
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lichen körperlichen und seelisch-geistigen Mangels gekennzeichnet, so gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, das Ziel eines solchen Lebens zu erreichen. Entweder man bemüht sich darum, jeden einzelnen Mangel zu tilgen, indem man den mit diesen Mängeln verbundenen „Begierden“ (ἐπιθυμίαι) nachgeht und sie befriedigt, oder aber man ändert seine Haltung zu den empfundenen Mängeln und Begierden. Epikur entscheidet sich für die zweite der genannten Möglichkeiten und unterzieht die Einschätzung dessen, was für gewöhnlich als begehrenswert gilt, einer gründlichen Kritik.¹¹³ In diesem Zusammenhang kommt er zu dem Ergebnis, dass nicht alle Begierden gleich zu bewerten sind. Während einige „natürlich“ (φυσικαί) sind, stellen sich andere als „leer“ (κεναί) dar, wobei von den „natürlichen“ einige „notwendig“ (ἀναγκαῖαι), andere hingegen nur natürlich sind.¹¹⁴ Auch die notwendigen Begierden unterteilt Epikur noch weiter, und zwar in diejenigen, die für die Eudaimonie notwendig sind; in diejenigen, die für die Ungestörtheit des Körpers notwendig sind; und schließlich in diejenigen, die für das Leben selbst von Notwendigkeit sind.¹¹⁵ Derartige Differenzierungen hinsichtlich der menschlichen Begierden finden sich auch schon vor Epikur und sind auch vor ihm schon vielfach diskutiert worden –¹¹⁶ allerdings spielen sie gerade für Epikurs Denken eine zentrale Rolle. Der Grund dafür wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass epikureisch gedacht ein weiser Mensch nur die natürlichen Begierden zu befriedigen versucht.¹¹⁷ Dieser Betonung sind einige wichtige Aspekte der epikureischen Ethik zu entnehmen. Zum einen zeigt sie, dass Epikur – ganz in Übereinstimmung mit seiner Konzeption der Lust als dem höchsten Gut – anders als die Stoa annimmt, dass es durchaus Begierden gibt, deren Befriedigung an sich notwendig ist, um zur Glückseligkeit zu gelangen.¹¹⁸ Darüber hinaus verdeutlicht die besagte Betonung, dass der Mensch die eben bereits angesprochene Möglichkeit hat, sich seinen Begierden gegenüber zu verhalten. Ich kann meine Begierden mithilfe meines Verstandes kritisch betrachten, diese nach dem oben skizzierten Raster ordnen und infolgedessen – am besten gemäß dem Vorbild des Weisen – entscheiden, welchen ich nachgehen möchte und welchen nicht. Es ist nun gerade diese Möglichkeit des kritischen Sich-Verhaltens gegenüber den eigenen Begierden, welche das Zentrum der epikureischen Überlegung zur Verfügbarkeit der
Skepsis, S. 23–25; ders.: Epikur, S. 76–98. 113 Vgl. dazu und zum Folgenden u. a. Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 81–91; Martin Euringer: Epikur. Antike Freude in der Gegenwart, Stuttgart 2003, S. 54–63; Carlos Lévy: Les Philosophies hellénistiques, S. 90–97; Tim O’Keefe: Epicureanism, Durham 2010, S. 124–127; Malte Hossenfelder: Epikur, S. 77. 114 Vgl. Epikur Epistula ad Menoeceum 127. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 657f. 117 Vgl. ebd. S. 658 mit einem Verweis auf die Epistula ad Menoeceum 129–132. 118 Dazu gehört z. B. der Wunsch, die Ataraxie zu erreichen. Vgl. Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 658.
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Lust darstellt. Wenn der Mensch nämlich imstande ist, Position zu seinen Begierden im Denken und im Handeln zu beziehen und seine eigenen Ziele zu setzen, verfügt er auch über die Fähigkeit, die nicht-notwendigen Begierden so zu bewerten, dass sie für die Eudaimonie unwichtig und daher nicht zu verfolgen sind. Eine besonders wichtige Untergruppe der nicht notwendigen und mithin nicht zu verfolgenden Begierden stellen dabei diejenigen dar, die wir nicht erfüllen können und die daher mit einem Mangel einhergehen, der nicht getilgt werden kann.¹¹⁹ Dass Epikur sein Augenmerk gerade auf diese Begierden richtet, liegt auf der Hand; vertritt er doch die Auffassung, dass die Erfahrung des Mangels und der Nichterfüllung der Begierde den Zustand der Unlust und des Schmerzes ausmachen und dass folglich ein untilgbarer Mangel und eine unstillbare Begierde sichere Quellen der Unlust und des Unglücks sind. Gilt also, dass der Mensch das Glück im Führen eines lustvollen Lebens verwirklicht, dass ferner die unstillbaren Begierden einem solchen Leben entgegenstehen und dass der Mensch sich seinen Begierden gegenüber verhalten kann, so lässt dies nur einen Schluss zu: Wenn wir die richtige Haltung gegenüber unseren Begierden entwickeln und in der Folge nur das begehren, was zum einen notwendig und zum anderen erreichbar ist, steht uns der Weg zu einem glückseligen Leben jederzeit offen. Wichtig für diese Argumentation ist noch eine weitere Voraussetzung, von der Epikur selbst auch ausgeht. Das Argument überzeugt nämlich nur dann, wenn wir all das, was wir notwendig brauchen, auch leicht erreichen können – und genau davon ist Epikur überzeugt. Eine prägnante Zusammenfassung dieser Überlegungen zu einem richtigen und gelingenden Begehren, das zur Glückseligkeit führt, gibt Epikurs folgendes, sehr berühmtes Diktum: Dank sei der glückseligen Natur, die es so eingerichtet hat, dass die notwendigen Dinge leicht zu erreichen und die schwer zu erreichenden nicht notwendig sind.¹²⁰
8.2.2 Die Schule der Lust und das Prinzip praktischen Wissens Worauf der skizzierte Gedankengang Epikurs abzielt, ist letztlich eine Änderung unseres Bewusstseins hinsichtlich dessen, wo wir tatsächlich unter einem Mangel leiden und wo nicht; wo unsere Begierden entsprechend angemessen sind und wo
119 Derartige Begierden sind nicht nur nicht notwendig für das Glück, vielmehr sind sie hinderlich für die Erreichung des glückseligen Zustandes. 120 Epikur Fragment 469 (Ed. H. Usener), zitiert nach Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt am Main 2002, S. 21. Epikurs Einlassung, dass das, was wir notwendig für das Überleben, für die Ungestörtheit des Körpers und für das Glück brauchen, leicht zu erreichen sei, muss zunächst verwundern. Er treibt daher einigen argumentativen Aufwand, um darzulegen, dass dies tatsächlich der Fall ist. Vgl. dazu u. a. Phillip Mitsis: Epicurus’ Ethical Theory, S. 29ff.
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sie durch Fehlleitung und Übertreibung Gründe für Unlust und damit für ein Unglück sind, das an sich nicht nötig wäre. Epikurs Philosophie¹²¹ erweist sich damit als eine lebenskünstlerische Reflexion oder, wie es Martin Euringer im Anschluss an Pierre Hadot formuliert, als ein „Versuch, das Leben gelingend zu gestalten“¹²². Eine solche Philosophie ist dabei nicht so sehr daran interessiert, ein sicheres Wissen nach Art der klassischen Theoria einzusehen, wenngleich die „theoretische Reflexion (...) auch ihren Platz im Philosophieren [hat]“¹²³. Ihr geht es, wie man wohl für die Philosophie der hellenistischen Schulen im Allgemeinen wird feststellen dürfen und wie mit Blick auf die Stoa bereits deutlich geworden ist, viel eher um eine „Therapie der Leidenschaften“¹²⁴, die auf eine „tiefgreifende Umwandlung der Denk- und Seinsweise des Individuums“¹²⁵ abzielt.¹²⁶ Auch die epikureische Philosophie stellt hier keine Ausnahme dar. Auch sie nutzt die theoretische Reflexion vornehmlich als Mittel zum Zweck, und zwar vor allem, um dem Menschen mit ihrer Hilfe zu zeigen, worauf sein Streben gerichtet sein soll – die lustvolle Glückseligkeit – und wie er sich seinen Begierden und Mängeln idealer Weise gegenüber verhalten soll.¹²⁷ Darüber hinaus erweist sich die epikureische Philosophie in erster Linie als eine Sammlung von „Maximen, Verhaltensregeln und eigentlichen Lehrsprüchen (...), die auswendig gelernt sein wollten, damit man in jeder Situation richtig handeln konnte“¹²⁸. Mit ihrem Fokus auf das situativ richtige Handeln nimmt auch die Schule Epikurs gleichsam in typisch hellenistischer Weise Abstand von dem Versuch, ein einheitliches Prinzip praktischen Wissens einzusehen. Denn wie auch die Stoiker geben die Epikureer zwar ein höchstes Ziel allen Strebens und Begehrens an und füllen dies auch inhaltlich.
121 Dass Epikur die Philosophie im Allgemeinen sehr hoch schätzte, zeigt u. a. Epistula ad Menoeceum 122. 122 Martin Euringer: Epikur, S. 81. Als „art of living“ wird die Philosophie auch in Michael Erler/Malcolm Schofield: „Epicurean Ethics“, S. 644, bestimmt. 123 Martin Euringer: Epikur, S. 81; dass die epikureische Philosophie nicht auf Ethik allein zu reduzieren sei, betont Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 11, mit einem Hinweis auf Margherita Isnardi Parente: „La dottrina di Epicuro e il ‚carratere pratico’ della filosofia ellenistica“, in: Rivista critica di storia della filosofia 33 (1978), S. 18ff. 124 Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 15; vgl. auch die dort angegebenen Verweise auf antike Quellen. 125 Ebd. 126 Vgl. auch Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 11: „Die Philosophie sah sich im Hellenismus vor die Aufgabe gestellt, für eine tief in ihrer Substanz gewandelte Welt eine neue Lebensorientierung zu geben. Stärker als jemals zuvor wurde sie zur „Lebenskunst“, zur Orientierungshilfe für den einzelnen in den Nöten des Lebens einer durch starke soziale Gegensätze und langwährende Kriege geprägten Zeit.“ 127 Zum weiteren Nutzen, den die Philosophie dem Menschen zu bringen vermag und der vor allem in für das Luststreben wichtigen Erkenntnissen bezüglich der Kosmologie, der Theologie und der Anthropologie besteht, vgl. Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 9–21; 75f.; zudem Tim O’Keefe: Epicureanism, S. 133–137. 128 Martin Euringer: Epikur, S. 81.
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Hellenistisch-philosophische Perspektiven
Dieses Ziel jedoch ist höchstens als eine letzte causa finalis, aber nicht als ein Prinzip praktischen Wissens im umfassenden Sinn zu betrachten; gibt doch auch dieses Ziel trotz seiner Allgemeingültigkeit keinen inhaltlich bestimmten Maßstab dafür ab, wie in den Einzelsituationen menschlicher Praxis jeweils zu handeln ist. Dazu dienen vielmehr die eben angesprochenen Maximen, Verhaltensregeln und Lehrsprüche, die der Einzelne in konkreten Situationen zur Anwendung bringen kann. Zu einer rechten Anwendung dieser Maximen und Regeln helfen uns nach epikureischer Vorstellung die „Tüchtigkeiten“, allen voran die „sittliche Einsicht“ (φρόνησις),¹²⁹ aber auch das Beispiel des Weisen, und zwar vor allem das Epikurs.¹³⁰ Die Vorstellung, dass wir uns am Beispiel Epikurs orientieren können, um eine gelingende und glückende Lebensweise zu entwickeln, steht in einer auffälligen Parallele zur stoischen Lehre vom exemplum. Ebenso wie die Lebensführung des stoischen Weisen dem Stoiker ein Beispiel gibt, kann auch der Epikureer vom Leben und Handeln seines Schulgründers lernen, wie die von diesem überlieferten Sprüche und Weisungen konkret in die Tat umzusetzen sind. Dieses Konzept der „imitatio Epicuri“ (Matthias Baltes)¹³¹ zeigt, dass und wie auch die epikureische Philosophie die aristotelische Kritik an Platons normativer Ethik ernst nimmt und ein Modell entwickelt, das dem situativen Aspekt der Ethik gerecht zu werden versucht.¹³² Auch die epikureische Ethik kann daher mit Recht als eine „Individualethik“ betrachtet werden,¹³³ da sie dem Einzelnen einen Weg weist, wie er als Einzelner in der sich ihm stellenden individuellen Situation richtig handeln kann. Folgt er nur dem Beispiel Epikurs und überträgt er dieses im Sinne der Analogie auf seine eigenen Lebensumstände, verwirklicht er nach epikureischem Verständnis ein Leben „wie ein Gott unter den Menschen“¹³⁴.
129 Vgl. Peter Preuss: Epicurean Ethics, S. 215–243; Phillip Mitsis: Epicurus’ Ethical Theory, S. 59–79; Reimar Müller: Die epikureische Ethik, S. 78–80; Tim O’Keefe: Epicureanism, S. 129–133. 130 Zur Beispielhaftigkeit Epikurs vgl. Matthias Baltes: „Nachfolge Epikurs. Imitatio Epicuri“, in: Barbara Aland/Johannes Hahn/Christian Ronning (Hrsg.): Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, S. 29–49. Ein eindrucksvolles Zeugnis von der großen Verehrung, die Epikur von seinen Nachfolgern zuteil wurde, geben die Vorreden zu einigen der Lukrez’schen Bücher De naturam rerum (u. a. zum ersten und zum dritten Buch). 131 Vgl. Matthias Baltes: „Nachfolge Epikurs. Imitatio Epicuri“, in: Barbara Aland/Johannes Hahn/ Christian Ronning (Hrsg.): Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, S. 29–49. 132 Für die Stoa, die sich – nota bene – kurz nach der epikureischen Philosophie zu entwickeln beginnt, war dies bereits erörtert worden. Siehe den vorherigen Abschnitt. 133 Vgl. dazu z. B. Dirk Fonfara: „Epikurs hedonistische Ethik als Erste Philosophie“, in: Edith und Klaus Düsing (Hrsg.): Geist und Sittlichkeit: Ethik-Modelle von Platon bis Levinas, Würzburg 2009, S. 69–89; siehe auch die bereits zitierten Arbeiten Hossenfelders: „Die Rolle des Glücksbegriffs in der Moralphilosophie. Das Vorbild der Antike“, S. 169–187 und Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 25–39. 134 Epikur Epistula ad Menoeceum 135.
Abschließende Bemerkungen
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8.3 Abschließende Bemerkungen Die Betrachtung der stoischen wie auch der epikureischen Philosophie hat gezeigt, dass keine dieser beiden Schulen ein prinzipielles Wissen im Bereich der Praxis angibt. Wie diese Betrachtung allerdings ebenfalls gezeigt hat, beanspruchen sie eine solche Angabe aber auch gar nicht; besteht doch das Problem, mit dem sich die Stoa und der Epikureismus beschäftigen, nicht in der Möglichkeit der Einsicht in ein Prinzip praktischen Wissens. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht vielmehr der Versuch, Entwürfe eines gelingenden und glücklichen Lebens zu entwickeln, die Aristoteles’ Kritik an Platons normativer Ethik einbeziehen und sich daher von einem allgemeinen Prinzip praktischen Wissens verabschieden. Dementsprechend lassen diese Entwürfe deutlich die Absicht erkennen, der Situativität menschlicher Praxis Rechnung zu tragen. Neben eigenständigen inhaltlichen Bestimmungen der Glückseligkeit stehen daher Erörterungen zum Thema der Tüchtigkeiten, die Angabe von Lebensregeln und Maximen und die Frage, wie diese Lebensregeln konkret umgesetzt werden können, im Vordergrund der hellenistisch-ethischen Untersuchungen. Gerade mit Blick auf das letztgenannte Thema, die Umsetzung allgemeiner Normen im Kontext konkreter Praxis, entwickeln die hellenistischen Schulen mit ihrer Konzeption des exemplum einen Lösungsansatz, der sich durch eine enorme Wirkungsgeschichte ausgezeichnet hat und das besagte Vermittlungsproblem in bemerkenswerter Weise behandelt. Wie im Folgenden deutlich wird, geht dies dabei so weit, dass die exemplum-Konzeption sogar von Denkern aufgenommen wird, die anders als die Stoa und der Epikureismus nach einem prinzipiellen Wissen im Bereich der Praxis suchen. Insgesamt ist festzustellen, dass die hier – wenngleich nur oberflächlich im Sinne eines Exkurses – betrachteten Schulen hellenistischer Philosophie Alternativentwürfe zu prinzipienbasierten Konzeptionen praktischer Philosophie bieten, die diese zwar einerseits zu bereichern, andererseits aber auch stark herauszufordern wussten. Wie diese Bereicherung aussah und welche Antworten die prinzipienorientierten Formen praktischer Philosophie auf die besagte Herausforderung einer nichtprinzipiellen Ethik gaben, soll im Folgenden weiter verfolgt werden. Ein herausragendes Beispiel dafür stellt die Philosophie Plotins dar, die Gegenstand des nächsten Kapitels sein wird.
9 Plotin – das „Eine“ als Prinzip Ein Erstes Prinzip allen Denkens angeben zu können, und zwar jeweils eines seiner Form und eines seinem Inhalt nach, diesen Anspruch hatte Aristoteles, ausgehend von seiner Einsicht in die prinzipielle Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch und in die Möglichkeit der Reflexion des Denkens, erhoben. Neben einer Mehrzahl von Eigenschaften, die Aristoteles den von ihm eingesehenen ἀρχαί zuschreibt, um ihren prinzipiellen Charakter zu explizieren, bezeichnet er sie unter anderem als ἀνυπόθετον. „Voraussetzungslos“, wie dies Wort im Deutschen meist wiedergegeben wird, sind die Prinzipien nach Aristoteles dabei deswegen, weil sie die ersten Gründe des Denkens und Wissens darstellen, die als solche nicht aus weiteren Gründen abzuleiten sind und für ihr „Der-Fall-Sein“ nichts anderes voraussetzen. An diesem Gedanken der Voraussetzungslosigkeit der Prinzipien setzt nun Plotins Kritik an der aristotelischen Prinzipienlehre an, indem er in überzeugender Weise darlegt, dass die von Aristoteles eingesehenen Prinzipien für ihre Gültigkeit doch etwas voraussetzen müssen und infolgedessen nicht als (Erste) Prinzipien zu begreifen sind.
9.1 Die Voraussetzung eines ersten, vollkommenen Einen Plotin bemerkt: „Alles Seiende“ (πάντα ὄντα) und – so die Supposition – mithin auch der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch und das auf sich selbst bezogene, den νοῦς konstituierende Denken setzen eine „Einheit“ (ἕν) voraus, durch welche sie erst „Seiende“ (ὄντα) sind.¹ „Was nämlich“, fragt Plotin, könnte es [i. e. das Seiende] sein, wenn es nicht eines wäre? Da es ja, wenn ihm die Einheit genommen worden ist, nicht mehr jenes ist, was es genannt wird. Weder nämlich ist ein Heer, wenn es nicht eines ist, noch [ist] ein Reigen und keine Herde, sofern sie nicht eines sind.²
Dass Plotin das sich durch die Einheit konstituierende Sein (τὸ εἶναι) des Seienden nicht nur im Sinne der bloßen Existenz begreift, zeigt nun seine in Enneade VI 9, 1, 4 einsetzende, eben zitierte Frage, was denn das Seiende sein könnte, wenn es nicht eines wäre, und die sich an diese Frage anschließende Erörterung dessen, wie das Seiende eine Einheit voraussetzt. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das Seiende insofern „durch die Einheit ist“ (τῷ ἑνί ἐστιν), als diese vor allem die Bedingung für die Bestimmtheit seines Seins darstellt. So führt Plotin an, dass sich das
1 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 1, 2f.: „Τί γὰρ ἂν καὶ εἴη͵ εἰ μὴ ἓν εἴη; Ἐπείπερ ἀφαιρεθέντα τοῦ ἓν ὃ λέγεται οὐκ ἔστιν ἐκεῖνα. Οὔτε γὰρ στρατὸς ἔστιν͵ εἰ μὴ ἓν ἔσται͵ οὔτε χορὸς οὔτε ἀγέλη μὴ ἓν ὄντα.“ 2 Ebd. VI 9, 1, 3–6: „Τί γὰρ ἂν καὶ εἴη͵ εἰ μὴ ἓν εἴη; Ἐπείπερ ἀφαιρεθέντα τοῦ ἓν ὃ λέγεται οὐκ ἔστιν ἐκεῖνα. Οὔτε γὰρ στρατὸς ἔστιν͵ εἰ μὴ ἓν ἔσται͵ οὔτε χορὸς οὔτε ἀγέλη μὴ ἓν ὄντα“; für weitere Beispiele dafür, dass das Seiende die Einheit voraussetzt, um sein zu können, vgl. ebd. VI 9, 4–18.
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Sein des Seienden, wenn ihm die Einheit verloren geht und es in die Vielheit zerbrochen wird, wandele (ἀλλάσσει), das „Wesen“ (οὐσία)³ des Seienden zerstört werde und es im Weiteren nicht mehr das sei, was es war (οὔκετι ὄντα ἃ ἦν).⁴ Wie sich hier in eindeutiger Weise zeigt, liegt der Akzent der plotinischen Betrachtung der Abhängigkeit des Seins von einer Einheit in der Tat auf dem, was beziehungsweise wie etwas ist, und, wie schon zuvor angemerkt, nicht auf einer von allem Bestimmtsein abstrahierenden Frage nach der Existenz, nach dem bloßen Dass der Dinge. Somit lässt sich auch für das Seinsverständnis Plotins festhalten, dass es den von Charles Kahn so benannten „veridikalen“ Aspekt des Seins in den Vordergrund stellt und das „Sein“ vornehmlich als ein „Der-Fall-“ beziehungsweise „Wahr-Sein“ von inhaltlich bestimmten Sachverhalten begreift.⁵ Begründet liegt die Abhängigkeit des Seienden von einer Einheit plotinisch gedacht darin, dass das Seiende in dem Sinne als eine „zusammenhängende Größe“ (συνεχὲς μέγεθος) zu betrachten ist, dass es in seiner Eigenschaft als ein bestimmtes Seiendes notwendigerweise als ein in sich Vielfältiges gedacht werden muss.⁶ Indem das Seiende nämlich bestimmt ist, besteht es in jedem Fall in einer Verbindung aus dem die Bestimmung(en) Tragenden, dem, was die nacharistotelische Tradition als „Wesen“ (οὐσία, lat. substantia) bezeichnet, und den dem Wesen zukommenden
3 Der Kontext dieser Stelle zeigt klar, dass der Begriff der „οὐσία“ hier in seiner Prägung durch die aristotelische Tradition zu interpretieren ist. Dieser Lesart gemäß bezeichnet sie im primären Sinn – als πρώτη οὐσία – das, was eine Sache wesenhaft ausmacht, ihr, wie Aristoteles sich ausdrückt, τὸ τί ἦν εἶναι. Dass Aristoteles die οὐσία tatsächlich so begreift und nicht etwa das aus μορφή und ὕλη zusammengesetzte Einzelding, das σύνολον, als οὐσία betrachtet, hat in überzeugender Weise Joseph Moreau in seinem Aufsatz „Sein und Wesen in der Philosophie des Aristoteles“ gezeigt. 4 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 10–14. 5 Vgl. dazu auch ebd. V 5, 6, 1–14: „Ἀλλὰ ταῦτα μέν͵ ὥς τις ἐθέλει͵ λελέχθω. Τῆς δὲ γενομένης οὐσίας εἴδους οὔσηςοὐ γὰρ δὴ ἄλλο τι ἄν τις εἴποι τὸ ἐκεῖθεν γενόμενονκαὶ εἴδους οὐ τινός͵ ἀλλὰ παντός͵ ὡς μὴ ἂν ὑπολιπεῖν τι ἄλλο͵ ἀνάγκη ἀνείδεον ἐκεῖνο εἶναι. Ἀνείδεον δὲ ὂν οὐκ οὐσία· τόδε γάρ τι δεῖ τὴν οὐσίαν εἶναι· τοῦτο δὲ ὡρισμένον· τὸ δὲ οὐκ ἔστι λαβεῖν ὡς τόδε· ἤδη γὰρ οὐκ ἀρχή͵ ἀλλ΄ ἐκεῖνο μόνον͵ ὃ τόδε εἴρηκας εἶναι. Εἰ οὖν τὰ πάντα ἐν τῷ γενομένῳ͵ τί τῶν ἐν τούτῳ ἐκεῖνο ἐρεῖς; Οὐδὲν δὲ τούτων ὂν μόνον ἂν λέγοιτο ἐπέκεινα τούτων. Ταῦτα δὲ τὰ ὄντα καὶ τὸ ὄν· ἐπέκεινα ἄρα ὄντος. Τὸ γὰρ ἐπέκεινα ὄντος οὐ τόδε λέγειοὐ γὰρ τίθησινοὐδὲ ὄνομα αὐτοῦ λέγει͵ ἀλλὰ φέρει μόνον τὸ οὐ τοῦτο. Τοῦτο δὲ ποιοῦν οὐδαμοῦ αὐτὸ περιλαμβάνει.“ Die Annahme, dass das „Sein“ im plotinischen Verständnis primär als ein veridikales zu interpretieren sei, schließt keineswegs aus, dass in diesem Zusammenhang auch dessen auf die Existenz bezogene Seite eine Rolle spielt. Nur ist sie eben nicht als die vordergründige und überdies nicht als eine vom Aspekt des Bestimmtseins abgetrennte zu begreifen. Darauf, dass das Eine sowohl konstitutiv für die Existenz des Seienden als auch für dessen Bestimmtsein ist, weist auch Jens Halfwassen in Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, S. 38–40, hin. Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten erscheint allerdings die von Halfwassen vorausgesetzte grundsätzliche Trennung zwischen dem Aspekt der Existenz und dem des Bestimmtseins des Seins als bedenklich. 6 Vgl. zu diesem Punkt auch Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 152.
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Plotin – das „Eine“ als Prinzip
Bestimmungen, den „Hinzugekommenen“ (συμβέβηκα, lat. accidentia).⁷ Verliert das in einer derartigen Vielheitlichkeit bestehende Seiende nun die sein Bestimmtsein konstituierende Einheit, hat dies zur Folge, dass es im Weiteren nicht mehr das ist, was es war, und dass an seine Stelle etwas anderes – nicht nichts (!) – tritt.⁸ Plotin bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: Auch aber [ist] ein Haus nicht oder ein Schiff, wenn es das Eine nicht hat, da ja das Haus und das Schiff eines sind. Büßen sie dieses [i. e. das Eine] ein, so ist im Weiteren weder das Haus ein Haus noch das Schiff ein Schiff.⁹
Und an anderer Stelle stellt er, diese Einsicht auf das Seiende im Allgemeinen anwendend, fest: (...) nichts ist nämlich seiend, das nicht eines ist.¹⁰
Nimmt man nun mit Plotin an, dass die Einheit als notwendige Voraussetzung für das Sein des Seienden zu begreifen ist und dass das so konstituierte Sein darüber hinaus in erster Linie in Hinsicht auf seinen Aspekt des „Der-Fall-“ oder „Wahr-Seins“ von Sachverhalten zu verstehen ist, lässt dieses des Weiteren den folgenden Schluss zu: Die Einheit stellt auch die notwendige Voraussetzung für die Erkenntnis dessen, „wie es ist“, dar; kann doch nur solches als (der Fall) seiend, das heißt als Sachverhalt, erkannt werden, das bestimmt und mithin notwendig auch eines ist.¹¹ Worum jedoch handelt es sich bei jenem Ersten Prinzip, welches allem Seienden die Einheit verleiht, was kann in dieser Hinsicht als ἀρχή angesehen werden?
7 Auf diese Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz, wie sie später im Anschluss an die mittelalterliche Tradition terminologisch gefasst worden ist, rekurriert Plotin zu Beginn von Enneade VI 9, und zwar in den Zeilen 2–3, in denen es heißt: „καὶ ὅσα ὁπωσοῦν λέγεται ἐν τοῖς οὖσιν εἶναι. Τί γὰρ ἂν καὶ εἴη͵ εἰ μὴ ἓν εἴη;“ Vgl. dazu auch Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 44: „Denn Bestimmtheit impliziert einerseits etwas, dem sie zukommt und dessen Bestimmung sie ist, und sie ist andererseits eben dadurch von diesem Etwas als dessen Bestimmung oder Wassein begrifflich unterscheidbar. Jedes bestimmte Etwas lässt sich darum auseinanderlegen in das Bestimmte und seine Bestimmtheit und weist damit bereits eine Zusammensetzung auf, eine ontologische Struktur als den Zusammenhang einer Mehrheit zumindest begrifflich unterschiedener Momente.“ 8 Zu dieser Formulierung, vgl. nochmals Plotin Enneade VI 9, 13f. Dazu, dass Plotin den Akzent darauf setzt, dass etwas anderes und nicht nichts entsteht, wenn etwas seine Einheit verliert, vgl. Enneade VI 9. Dort führt Plotin auch aus, dass das in dieser Weise neu Entstandene auch wieder der Einheit bedarf. 9 Plotin Enneade VI 9, 1, 6–9: „Ἀλλ΄ οὐδὲ οἰκία ἢ ναῦς τὸ ἓν οὐκ ἔχοντα͵ ἐπείπερ ἡ οἰκία ἓν καὶ ἡ ναῦς͵ ὃ εἰ ἀποβάλοι͵ οὔτ΄ ἂν ἡ οἰκία ἔτι οἰκία οὔτε ἡ ναῦς.“ 10 Ebd. VI 6, 13, 50f.: „οὐδὲν γὰρ ὄν͵ ὃ μὴ ἕν.“ Siehe auch Jens Halfwassens Kommentar zu dieser Stelle in Der Aufstieg zum Einen, S. 40. 11 Darauf, dass das Eine Prinzip sowohl des Seienden als auch des Denkens ist, weist Plotin u. a. in Enneade V 1, 4, 29f. hin. Wiederum ist dabei zu betonen, dass dies nicht ausschließt, dass die Einheit auch als notwendige Voraussetzung des Seins im Sinne der Existenz betrachtet werden kann.
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Plotin setzt sich mit dieser Fragestellung auseinander, indem er einiges von dem, was im Rahmen der ihm überkommenen Tradition als ἀρχή angegeben worden ist, daraufhin untersucht, ob es möglicherweise als das von ihm gesuchte einheitsstiftende Prinzip in Frage kommt.¹² Die Auswahl der „Kandidaten“, auf die er sein Augenmerk dabei richtet, umgreift sowohl die „Seele“ (ἡ ψυχή) als auch die „Ideen“ (τὰ εἴδη) sowie „das Denken“ (ὁ νοῦς), die jedoch, wie Plotin darlegt, alle drei nicht dafür in Frage kommen, „Erste [Prinzipien]“ (πρῶτα) zu sein. Seinen Grund hat dies darin, dass sie selbst nicht einheitlich sind und infolgedessen der Einheit bedürfen, deren Prinzip sie daher nicht sein können.¹³ In diesem Kontext besonders interessant ist die Feststellung, dass auch der νοῦς, den Aristoteles als das Prinzip des Denkens und Wissens wie auch aller Bewegung und des Seins betrachtet hatte, nicht als der Ursprung der von allem vorausgesetzten Einheit anzusehen ist. Vielmehr setzt der νοῦς laut Plotin seinerseits ebenfalls eine sein Sein konstituierende Einheit voraus, was zur Folge hat, dass er entgegen der aristotelischen Vorstellung nicht als Prinzip zu begreifen ist, sofern es, wie Aristoteles selbst denkt, ein Prinzip auszeichnet, „voraussetzungslos“ (ἀνυπόθετον) zu sein. Um zu verdeutlichen, dass und wie der νοῦς der Einheit bedarf, um sein zu können, führt Plotin in den Enneaden eine Reihe von Argumenten an, die den νοῦς als einen in sich vielheitlichen zu erweisen suchen.¹⁴
12 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 1, 18–2, 47. 13 Vgl. ebd. 14 Darauf, dass auch die von Platon als Referenzpunkte sicheren Wissens begriffenen Ideen insofern vielheitlich und mithin eine Einheit voraussetzend sind, soll hier im Weiteren nicht genauer eingegangen werden. Es ist ausreichend darauf hinzuweisen, dass die Ideen als bestimmte Seiende auch immer schon in einer Differenz zu denken sind. Vgl. dazu Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 41: „Zwar ist jede Idee eine Einheit, aber sie ist keine absolut einfache, schlechthin vielheitslose Einheit, die sich nicht weiter analysieren ließe, sondern jede Idee enthält als definierbare Wesenheit eine Mehrheit von Wesensmomenten in sich, die in ihrer Definition angegeben werden (…); als Einheit der Vielheit ihrer Wesensmomente ist jede Idee [Plotin zufolge] Zahl (vgl. VI 6). In diesem Sinne ist auch jede Idee eine „Einheit aus Vielem“ (ἕν ἐκ πολλῶν): nämlich die Einheit des vollständigen Ganzen ihrer Momente, wie Platon sie im Parmenides bestimmt hatte (157c–e).“ Was die von Platon als einheitlich gedachte Idee des Guten betrifft, so ist auch in Bezug auf diese festzustellen, dass sie – entgegen der Annahme Platons – nicht als völlig einheitlich begriffen werden kann. Begründet liegt dies darin, dass sich die Erkenntnis des Guten selbstreflexiv vollzieht, was zur Voraussetzung hat, dass das Gute als ein an sich selbst Erkanntes im Unterschied zu ihm selbst vorliegen muss und mithin vielheitlich ist. Vgl. dazu Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 98f.; zudem ist zu beachten, dass die Idee des Guten nach Platon in einer Beziehung zu den anderen Ideen steht und infolgedessen über ein Bestimmtsein verfügen muss. Dass das von Plotin als Prinzip eingesehene Eine aufgrund des Umstandes, dass es vollkommen unbestimmt ist, auch in keine Relation zu anderem treten kann, wird unten noch ausführlich thematisiert werden. Eine Reihe von wesentlichen Unterschieden zwischen platonischem und neuplatonischem Denken hat Philip Merlan in seinem Werk From Platonism to Neoplatonism, The Hague 1968, herausgearbeitet.
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Plotin – das „Eine“ als Prinzip
9.2 Der „zwiefältige νοῦς“ Den Ausgangspunkt für ein erstes solches Argument, das in variierter Form mehrfach in den Enneaden vorkommt,¹⁵ stellt die sich bei Aristoteles selbst findende Annahme dar, dass der νοῦς in seiner reflexiven Gestalt sowohl „Denkendes“ (νοοῦν) als auch „Gedachtes“ (νοούμενον) sei.¹⁶ Als solcher, schließt Plotin, sei er allerdings „zwiefältig“ (διπλοῦς) und mithin einer Einheit bedürftig, in welcher die beiden Seiten des Selbstreflexionsverhältnisses des νοῦς bestehen müssen, sofern dieser als ein sich selbst reflektierender bestimmbar sein soll. Die νόησις des νοῦς als reflexiv auf sich selbst bezogen zu denken, das heißt als νόησις νοήσεως, ist nämlich nur dann möglich, wenn sie sowohl das Subjekt als auch das Objekt ihrer eigenen Bewegung darstellt. Nur wenn der νοῦς beides ist, Denkendes und Gedachtes, und damit zumindest funktional in sich different, ist er in seinem Tätigsein als reflexiv zu bestimmen. Fehlt seinem Tätigsein eines dieser wechselseitig aufeinander bezogenen und voneinander abhängigen Momente,¹⁷ verliert er sein „Sein“ im Sinne der Bestimmung der Selbstreflexion¹⁸ und damit auch den Status, Prinzip zu sein.¹⁹ Ist das Denken doch auch nach Aristoteles nur in seiner reflexiven Form als ἀρχή zu begreifen.²⁰ Indem nun Plotin zeigt, dass der νοῦς auch als selbstreflexiver etwas voraussetzt, das er nicht aus sich selbst heraus haben kann, die Einheit, stellt er das den νοῦς als ἀρχή begreifende Denken des Aristoteles vor eine immense Herausforderung.²¹
15 Vgl. vor allem Plotin Enneaden VI 9, 2, 33–44; III 8, 9, 1–25; auf die zentrale Bedeutung dieser Stelle hat Bernhard Uhde aufmerksam gemacht in: Gegenwart und Einheit, S. 95, Anm. 251. 16 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1072b. Zur Abhängigkeit des νοῦς vom Einen, vgl. auch Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 94; Dominic O’Meara: Plotinus. An Introduction to the Enneads; Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 83f.; Heinz Robert Schlette: Das Eine und das Andere. Studien zur Problematik des Negativen in der Metaphysik Plotins, München 1966, S. 74ff. 17 Dass Plotin zufolge zwischen dem Denken und dem Gedachten ein derartiges wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht, sich also kein Denken ohne ein Gedachtes und kein Gedachtes ohne Denken annehmen lässt, geht u. a. aus Enneade III 8, 9, 6–11 hervor. 18 Der Gedanke, dass die reflexive Tätigkeit des νοῦς eine Einheit voraussetzt, legt sich darüber hinaus auch insofern nahe, als es der Akt der Selbstreflexion des Denkens erfordert, dass Subjekt und Objekt identisch, also auch in diesem Sinne eines sind und sich nur in ihrer Funktion voneinander unterscheiden. 19 Die These, dass der νοῦς sein Sein im Denken habe, wird auch durch eine Stelle in Enneade VI 9, 2, 33f. erhärtet. Dort heißt es: „τὸν νοῦν ἀνάγκη ἐν τῷ νοεῖν εἶναι.“ 20 Dass der νοῦς nur in seiner selbstreflexiven Form Prinzip ist, ist bereits erläutert worden. In seiner nicht-reflexiven Form ist der Geist auch nach Aristoteles nicht voraussetzungslos, sondern, was seine ἐνέργεια betrifft, von dem Objekt abhängig, auf das er sein Denken richtet. Auf den Umstand, dass das νοεῖν stets ein νόητον brauche, um von der Potenz in den Akt überführt zu werden, weist Aristoteles u. a. in Metaphysik 1072a 30 und De anima 429a 2 hin. 21 Wie aus dem Erläuterten zu schließen ist, besteht diese Herausforderung letztlich in einem Dilemma. Denn gibt der Vertreter der aristotelischen Position zu, dass der νοῦς vielheitlich ist, so sieht er sich mit dem Einwand konfrontiert, dass der Geist dann nur unter der Voraussetzung einer ihm daher
Der „zwiefältige νοῦς“
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Zu demselben Schluss der Vielheitlichkeit des νοῦς und seiner daraus resultierenden Abhängigkeit von dem Einen gelangt man Plotin zufolge auch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dem Denken nur etwas, das „etwas und etwas anderes in sich hat“ (ἔχει ἄλλο καὶ ἄλλο)²² und ein „in sich Unterschiedenes“ (ἕτερον καὶ ἕτερον)²³ ist, als Objekt dienen kann.²⁴ Ist etwas hingegen vollkommen einfach, so ist es in dem Sinne „unaussagbar“ (ἄρρητον)²⁵ und „undenkbar“ (ἀνόητον)²⁶, dass es keinerlei Bestimmungen an sich trägt und insofern nicht in sich unterschieden ist, da jegliche Bestimmtheit immer auch eine von einem vollkommen Einfachen auszuschließende Vielheitlichkeit impliziert.²⁷ Wenn es [das Denken] nämlich auf ein Einfaches und Ungeteiltes träfe, wäre es nicht in der Lage, einen Begründungszusammenhang einzusehen. Was hätte es [das Denken] auch über es [das Eine] zu sagen, was nämlich sollte es über es einsehen?²⁸
Ist es daher notwendig, dass das Denken sich auf ein in sich Differenziertes bezieht, um überhaupt Denken sein zu können,²⁹ und geht man ferner mit Aristoteles davon aus, dass der νοῦς im Rahmen seiner Selbstreflexion sich selbst denkt, so ergibt sich daraus, dass der νοῦς, da er gedacht wird, nicht vollkommen einheitlich sein kann. Wiederum steht der Vertreter der aristotelischen Position vor einem Dilemma. Entweder muss er zugeben, dass der νοῦς nicht sich selbst denken kann – in diesem Fall jedoch ist die These, dass das Denken Prinzip sei, nicht zu halten, da es nur als selbstreflektiertes voraussetzungslos ist. Oder aber er nimmt an, dass das Denken sich zum Objekt seiner selbst nehmen könne. Dies hat allerdings zur Folge, dass der νοῦς als ein denkbarer notwendigerweise in sich differenziert, somit vielheitlich und mithin der Einheit bedürftig ist. Wie die Argumentation auch gewendet wird, letztlich wird deutlich, dass Aristoteles’ Annahme, der νοῦς sei Prinzip, in unhaltbare Aporien
übergeordneten Einheit zu denken sei. Versucht er in der Folge dem Einwand dadurch zu begegnen, dass er den Gedanken der Vielheitlichkeit des νοῦς aufgibt und ihn als einheitlich „denkend“ oder „gedacht“ annimmt, so ist damit die für eine sich im Denken vollziehende Selbstreflexion vorauszusetzende Zweiheit nicht gegeben und der νοῦς als nicht reflektierter folglich auch nicht als Prinzip zu begreifen. 22 Vgl. Plotin Enneade V 3, 10, 28f. 23 Vgl. ebd. 10, 40. 24 Dazu und zum Folgenden, vgl. ebd. V 3, 10, 25–44. Siehe dazu auch Dominic O’Meara: Plotinus. An Introduction to the Enneads, Oxford 1993, S. 51–53. 25 Vgl. Plotin Enneade V 3, 13, 1. 26 Vgl. ebd. V 3, 10, 42; zudem V 5, 6, 24f. 27 Plotin spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Erkannte stets „Vieles“ (πολλά) sei. Siehe z. B. Enneade V 3, 10, 29; 34; 38. In besonders prägnanter Weise bringt der folgende Satz (V 3, 10, 34) diesen Sachverhalt zum Ausdruck: „ὥστε καὶ οὕτως πολλὰ ἂν εἶναι͵ ἵνα ἓν εἴη.“ 28 Ebd. 10, 31f.: „Εἰ γὰρ ἑνὶ καὶ ἀμερεῖ προσβάλλοι͵ ἠλογήθη· τί γὰρ ἂν ἔχοι περὶ αὐτοῦ εἰπεῖν͵ ἢ τί συνεῖναι;“ 29 Dies stellt Plotin, das zuvor Ausgeführte nochmals resümierend, in Enneade V 3, 10, 39–41 fest.
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Plotin – das „Eine“ als Prinzip
führt. So zeigt sich: Nur unter der Voraussetzung einer Einheit kann die Tatsache oder der Sachverhalt des Denkens des Denkens als „seiend“ gedacht werden.³⁰ Da nun, wie Plotin des Weiteren zeigt, auch für das von Aristoteles angegebene formale Prinzip des Denkens – den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch – gilt, dass es eine Einheit voraussetzt,³¹ ergibt es sich, dass beide der von Aristoteles angegebenen Prinzipien nicht als solche zu betrachten sind.³² Sie sind, wie Plotin formuliert, Prinzipien, nicht jedoch Prinzip.³³ Wie „alles Seiende“ sind auch sie nur „durch das Eine“ (τῷ ἑνί), das ihnen damit den Rang des Prinzips abläuft und sich im Sinne der ἀρχή πάντων als notwendige Voraussetzung für alles Sein und Denken erweist.³⁴
9.3 Das Eine als das an sich unbestimmte Prinzip aller Bestimmung Was nun ist jedoch mit Blick auf dieses Erste einzusehen, wie ist es als die notwendige Voraussetzung allen Bestimmtseins darüber hinaus an sich selbst zu bestimmen? Während es aus den genannten Gründen die notwendige Bedingung für alles Sein und Denken darstellt, bleibt das Eine selbst als das vollkommen Einfache, wie eben schon angedeutet, nach Plotin jenseits des Denkens³⁵ und der Erkenntnis (ἐπέκεινα γνώσεως)³⁶ – ja, sogar „jenseits von allem“ (ἐπέκεινα πάντων)³⁷. Was sollte man dem Einen auch zuschreiben können, da jede Prädikation eine seiner Einfachheit entgegenstehende und, grammatikalisch gewendet, in der Differenz zwischen Subjekt und Prädikat bestehende Vielheit impliziert?³⁸ Wie konsequent Plotin die Undenk-
30 Entgegen der sich in Metaphysik 1074b 38–1075a 5 findenden Annahme des Aristoteles ist der νοῦς, plotinisch gedacht, folglich doch nicht als „einfach“ zu bestimmen. 31 Vgl. Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 94: „(...) das Prinzip des Verstandes betrachtet ohnehin nur erscheinende Doppelungen“. Bernhard Uhde erklärt dies näher in der zu dieser Stelle gemachten Anm. 248: „Das Prinzip des Verstandes betrachtet entweder den Selbstausschluss einander widersprechender Zuordnungen, die Zuordnung eines Zuzuordnenden zum Zugeordneten oder eines anderen Zuzuordnenden zum Zugeordneten – mithin jeweils Doppelung.“ 32 Auch mit Blick auf die aristotelischen Prinzipien gilt folglich der von Plotin angenommene Grundsatz, dass die „Vielheit“ (πλῆθος) stets „[logisch] später“ (ὕστερον) ist als die „Einheit“ (ἕν). Vgl. Plotin Enneade III 8, 9, 3; vgl. dazu auch Heinz Robert Schlette: Das Eine und das Andere, S. 75. 33 Vgl. Plotin Enneade VI, 8, 14, 6f. Siehe dazu auch Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 94. 34 Das Eine ist demnach nicht nur in dem Sinne Prinzip des Denkens und Erkennens dessen, wie es ist, dass es die notwendige Bedingung für die Konstitution aller als „seiend“ bezeichneten denkbaren Sachverhalte darstellt. Auch das Sein des Sachverhaltes des Denkens selbst – sowohl in seiner reflexiven als auch in seiner auf anderes ausgerichteten Form – ist nur vermittelt durch das Eine denkbar. 35 Dieser von Plotin vielfach formulierte Gedanke findet sich z. B. in Enneade VI 9, 6. 36 Vgl. ebd. V 3, 12, 47. 37 Vgl. ebd. V 4, 2, 39f.; V 1, 6, 13. 38 Im Unterschied zu allem Vielheitlichen, das es selbst und anderes ist, ist das ἕν Plotin zufolge nur es selbst und wahrhaft es selbst. Vgl. Plotin Enneade VI 8, 21, 32f.: „(...) ἀλλὰ μόνον αὐτὸ καὶ
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barkeit und Unaussagbarkeit des ἕν „denkt“, wird vor allem an den Stellen deutlich, an welchen er es als „jenseits des Seienden“ (ἐπέκεινα ὄντος)³⁹ beziehungsweise als „jenseits des Wesens“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας)⁴⁰ bestimmt.⁴¹ Versteht man nämlich das „Sein“ auch in diesem Zusammenhang vornehmlich im Sinn der Veridikalität, zeigt es sich, dass das Eine als ein sich jenseits des (Bestimmt-)Seins findendes auch jenseits der Sprache und des Denkens sein muss.⁴² Infolgedessen bestimmt Plotin sogar Annahmen wie die, dass das Eine „gut“⁴³ oder „eines“⁴⁴ sei, als unzulässig und die negative oder absprechende Redeweise als die einzig adäquate.⁴⁵ Nichtsdestotrotz finden sich in den Enneaden auch positive Aussagen über das Eine, was, auf den ersten Blick betrachtet, einen Selbstwiderspruch in die plotinische Position hinsichtlich der Erkenn- und Aussagbarkeit des ἕν zu legen scheint.⁴⁶ Plotin selbst ist sich dieses Problems durchaus bewusst, wie beispielsweise in Enneade V 3 deutlich wird. Dort fragt er: Wie also sprechen wir über das Eine? Sagen wir etwas über es aus, sagen wir gewiss nicht es selbst aus, haben wir weder eine Erkenntnis noch ein Denken seiner. Wie
ὄντως αὐτό͵ εἴ γε τῶν ἄλλων ἕκαστον αὐτὸ καὶ ἄλλο.“ Vgl. dazu auch Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, S. 43f.: „Wird reine Einheit aber konsequent gedacht, dann weist sie jedwede Bestimmung strikt von sich ab, weil jede überhaupt denkbare Bestimmung sie in die Vielheit hineinziehen würde (…). [Absolute Einfachheit] bedeutet das Herausgenommensein aus jeder Vielheit, auch aus jeder nur begrifflichen Vielheit, und damit den Ausschluss jedweder wie auch immer gearteten ontologischen Struktur, die immer eine begriffliche Zusammensetzung impliziert. Sie bedeutet damit zugleich das Herausgenommensein aus jedweder Bestimmtheit.“ 39 Vgl. Plotin Enneade V 5, 6, 11; III 8, 10, 30ff. V 3, 14, 17. 40 Vgl. ebd. I 7, 1, 19; V 4, 1, 10. 41 Noch gesteigert wird der Gedanke der Jenseitigkeit des Einen zum Beispiel in den Enneaden V 3, 13, 2 und V 1, 6, 13f., in denen Plotin das Eine als „ἐπέκεινα πάντων“ bzw. „ἁπάντων“ bezeichnet. 42 Bezüglich des Zusammenhanges zwischen Sein und Denken, vgl. auch Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 173. Ein überzeugendes Argument dafür, dass es sich bei dem Sein, das Plotin dem Einen abspricht, nicht um ein die Existenz anzeigendes handeln kann, hat Charles H. Kahn vorgetragen. In seinem Artikel „A return to the Theory of the Verb be and the Concept of Being“ schreibt er auf Seite 386: „If by Being Plotinus understood what we call existence, it would be absurd for him to deny it so categorically of the One. For if the One did not exist, nothing else would exist―there would be no world at all, neither a noetic cosmos nor a sensible cosmos, since everything else depends for its reality upon the One. By denying εἶναι of the One, Plotinus denies it not reality but predicative structure, on the grounds that the being of predication implies plurality, namely, the conceptual distinction between the subject (ὑποκείμενον) and what is predicated of it. (…) I submit that Plotinus is relying here on his acute philosphical sense for the fundamental function of the verb εἶναι in Greek.“ 43 Hier ist zu beachten, dass das Eine laut Plotin das ὑπεράγαθον ist. Vgl. Plotin Enneade VI 9, 6, 41. 44 Vgl. ebd. V 4, 1, 8f. 45 Vgl. ebd. V 3, 14, 6f.; siehe auch Heinz Robert Schlette: Das Eine und das Andere, S. 66; außerdem Edgar Früchtel: Weltentwurf und Logos. Zur Metaphysik Plotins, Frankfurt am Main 1970, S. 14; und Arthur H. Armstrong: „Negative Theology“, in: Ders.: Plotinian and Christian Studies, London 1979, S. 176–189 (= No. XXIV). 46 Vgl. Dominic O’Meara: Plotinus, S. 56.
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also sprechen wir über es, wenn wir es nicht haben? Nun, haben wir es nicht in der Erkenntnis, [bedeutet dies nicht], dass wir es überhaupt nicht haben. Vielmehr haben wir es so, dass wir zwar über es sprechen, es selbst jedoch nicht aussagen.⁴⁷
Ein wichtiger Unterschied, der hier mit Blick auf die Rede über das Eine benannt wird und auf den Dominic O’Meara in seiner Einführung zu den Enneaden hinweist,⁴⁸ besteht zwischen dem Treffen von Aussagen über (περί) das ἕν und dem Aussagen des ἕν selbst. Was aber bedeutet es, über das Eine zu sprechen, statt es selbst auszusagen? Und wie lassen sich damit die Schwierigkeiten umgehen, die laut Plotin mit Blick auf den Versuch, etwas von einem vollkommen Einfachen zu prädizieren, bestehen? Eine Antwort auf diese Frage findet sich O’Meara zufolge im dritten Kapitel von Enneade VI 9, in welchem Plotin schreibt: Denn auch zu sagen, dass es [i. e. das Eine] Ursache sei, bedeutet nicht, irgendein Akzidenz von ihm auszusagen, sondern von uns, dass wir nämlich etwas von eben jenem haben, das in ihm selbst ist. Es ist notwendig, dass derjenige, der genau spricht, es weder als „jenes“ noch als wahrhaft (seiend) bezeichnet, sondern dass wir, indem wir es gleichsam von außen her umkreisen, darauf abzielen, unsere eigenen Eindrücke zu erklären, da wir [ihm] bisweilen nahe sind, bisweilen aber auch von ihm abfallen (ἀποπίπτοντας) wegen der Ausweglosigkeiten, mit denen es verbunden ist.⁴⁹
Worüber wir sprechen, wenn wir über das Eine sprechen und es zum Beispiel als „Ursache“ (αἰτία) bezeichnen, ist demnach nicht das Eine selbst, sondern die von ihm ursächlich abhängige Welt und deren Relation zum Einen als ihrem Ersten Prinzip. Dominic O’Meara fasst dies folgendermaßen zusammen: When we speak ‘about’ the One, saying it is the cause, we are in fact speaking of ourselves, saying that we are causally dependent and expressing what we experience in this condition of dependence. We are speaking of ourselves when we speak about the One. In this way the One remains ineffable in itself, even though we speak about it.⁵⁰
Gleiches gilt nun, plotinisch gedacht, auch für alle anderen Prädikate, die, wenngleich wir sie dem Einen beilegen, eigentlich etwas über uns selbst aussagen und nicht zum Ausdruck bringen, was das Eine ist.⁵¹ So geht jedes Sprechen über das Prinzip von dem (logisch) „Späteren“ (ἐκ τῶν ὑστέρων), von dem, dessen Sein durch
47 Plotin Enneade V 3, 14, 1–6: „Πῶς οὖν ἡμεῖς λέγομεν περὶ αὐτοῦ; ῍Η λέγομεν μέν τι περὶ αὐτοῦ͵ οὐ μὴν αὐτὸ λέγομεν οὐδὲ γνῶσιν οὐδὲ νόησιν ἔχομεν αὐτοῦ. Πῶς οὖν λέγομεν περὶ αὐτοῦ͵ εἰ μὴ αὐτὸ ἔχομεν; ῎Η͵ εἰ μὴ ἔχομεν τῇ γνώσει͵ καὶ παντε λῶς οὐκ ἔχομεν; Ἀλλ΄ οὕτως ἔχομεν͵ ὥστε περὶ αὐτοῦ μὲν λέγειν͵ αὐτὸ δὲ μὴ λέγειν.“ 48 Vgl. Dominic O’Meara: Plotinus, S. 56. 49 Plotin Enneade VI 9, 3, 49–54: „Ἐπεὶ καὶ τὸ αἴτιον λέγειν οὐ κατηγορεῖν ἐστι συμβεβηκός τι αὐτῷ͵ ἀλλ΄ ἡμῖν͵ ὅτι ἔχομέν τι παρ΄ αὐτοῦ ἐκείνου ὄντος ἐν αὐτῷ· δεῖ δὲ μηδὲ τὸ ἐκείνου μηδὲ ὄντως λέγειν ἀκριβῶς λέγοντα͵ ἀλλ΄ ἡμᾶς οἷον ἔξωθεν περιθέοντας τὰ αὑτῶν ἑρμηνεύειν ἐθέλειν πάθη ὁτὲ μὲν ἐγγύς͵ ὁτὲ δὲ ἀποπίπτοντας ταῖς περὶ αὐτὸ ἀπορίαις.“ 50 Dominic O’Meara: Plotinus, S. 56. 51 Vgl. Plotin Enneade V 3, 14, 7: „ὃ δέ ἐστιν͵ οὐ λέγομεν.“
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das Eine bedingt ist, aus und bleibt letztlich auch bei diesem.⁵² Nennen wir es beispielsweise „gut“, dann, so Plotin, thematisieren wir damit nichts anderes als die Einsicht in unsere eigene Mangelhaftigkeit und in unsere seinsmäßige Abhängigkeit von dem Einen.⁵³ Nur für anderes (τοῖς ἄλλοις)⁵⁴, das heißt mit Blick auf die Relation der von dem Einen kausal abhängigen Welt, ist dieses folglich als „gut“ zu bestimmen, indem es das Sein, die Grundlage für alles Gute, konstituiert.⁵⁵ Als das „Übergute“ (ὑπεράγαθον)⁵⁶ steht es selbst hingegen weit über allem Guten, ist es doch im Unterschied zu dem von ihm Konstituierten völlig „selbstgenügsam“ (ἱκανὸν ἑαυτοῦ)⁵⁷ und „unbedürftig“ (ἀνενδεές).⁵⁸ Gilt das Ausgeführte für alle „Namen“ (ὀνόματα) des Einen,⁵⁹ ergibt es sich des Weiteren, dass sogar der Gedanke, dass das Prinzip an sich selbst als „eines“ zu bestimmen sei, letztlich als unangebracht zurückzuweisen ist.⁶⁰ Ist es nun aber aus naheliegenden Gründen notwendig, das Prinzip in irgendeiner Weise zu benennen, dann, so Plotin, ist die Bezeichnung „das Eine“ trotzdem noch am ehesten angemessen.⁶¹ Dieses nicht nur deswegen, weil auch der Begriff der Einheit – so wie der des „Guten“ oder der „Ursache“ – auf das Abhängigkeitsverhältnis des vielheitlichen Prinzipierten von dem Einheit stiftenden Prinzip verweist. Darüber hinaus nämlich bringt diese Bezeichnung in erster Linie die in Hinsicht auf das ἕν notwendigerweise anzunehmende vollkommene Negation aller Vielheitlich-
52 Vgl. ebd. V 3. 53 Vgl. ebd. VI 9, 6, 40–42. 54 Vgl. ebd. VI 9, 6, 42. 55 Vgl. dazu auch Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 178: „Die Kennzeichnung als das Gute steht also in Relation zur Bedürftigkeit, diese aber ist die Beziehung des Seienden, das nur als Einheit sein kann, zum absoluten Einen (...).“ 56 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 6, 41. 57 Vgl. ebd. I 8, 2, 4f. 58 Vgl. ebd. VI 9, 6, 41f.; 6, 56–58. Zur Unbedürftigkeit des Einen, vgl. ebd. VI 9, 6, 35–39; zudem I, 8, 2, 1–7. 59 Dass es keinen angemessenen „Namen“ für das Eine gebe, erklärt Plotin beispielsweise in den Enneaden VI 9, 5, 31 und V 3, 13, 1–5. 60 Vgl. dazu z. B. ebd. V 4, 1, 9. Die in diesem Kontext auch von Jens Halfwassen bemühte Rede von der Relation, in der das Seiende zum Einen steht und die die Grundlage für unser Sprechen über es bildet, ist streng genommen höchst problematisch. Dies deswegen, weil auch die relationale Bestimmung des Einen eigentlich mit dem Prinzip seiner Unaussagbarkeit bricht. Sagen wir nämlich, dass das Eine insofern als „gut“ zu bezeichnen ist, als dies unsere Bedürftigkeit und seinsmäßige Abhängigkeit zum Ausdruck bringt, so sagen wir nolens volens doch auch etwas über das Eine aus, und zwar, dass es den Grund unseres Seins darstellt. Den Kern dieses Problems bildet der Umstand, dass jede relationale Bestimmung immer etwas über beide der das Verhältnis konstituierenden Relata aussagt und niemals nur über ein Glied der Relation. Auf diese Schwierigkeit wird weiter unten im Zusammenhang mit Augustinus’ Gedanken zur Möglichkeit des Redens über Gott noch genauer eingegangen werden, es sei hier zunächst nur angesprochen. 61 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 5, 32f.
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keit zum Ausdruck.⁶² So veranschaulicht der Name des „Einen“ die in der besagten Negation implizierte vollkommene Seins- und Erkenntnistranszendenz des Prinzips. Zur Folge hat dies, dass, wie Gerhard Huber formuliert, der (…) Name des Einen (…) keinen positiven Inhalt [hat]; er bezeichnet eigentlich nur die Aufhebung der Vielheit (…); darum kann er [der Name] als Hinweis auf die Einfachheit zwar zunächst dienen, am Ende muß aber auch hier die Negation eintreten und die Bestimmung als unangemessen fahrengelassen werden.⁶³
Indem die Bezeichnung „das Eine“ auf die notwendige Aufhebung aller Bezeichnungen für das Prinzip – sie selbst eingeschlossen – verweist, lenkt sie den Blick in besonderer Weise darauf, dass wir eigentlich nur negativ über das Prinzip sprechen können, und wenn positiv, dann nur im Sinne der Redeweise gemäß der Relation, in der wir zu dem Einen stehen.⁶⁴ Dies macht den Namen „Eines“ oder „das Eine“ zu der „(…) angemessenste[n] unter allen unangemessenen Bezeichnungen, die am deutlichsten auf die reine Transzendenz des Absoluten verweist“⁶⁵. Beziehen sich alle positiven Aussagen über das Eine stets nur auf unterschiedliche Aspekte unserer Relation der ursächlichen Abhängigkeit von dem ersten Prinzip, so ist damit auch schon die Grenze unserer Einsichtsmöglichkeit hinsichtlich des Einen gekennzeichnet. Was wir bezüglich des Einen einsehen und zur Sprache bringen können, ist lediglich die Notwendigkeit seiner Voraussetzung für alles Seiende und alles Denken,⁶⁶ nicht jedoch eine aus den erörterten Gründen unmögliche Erkenntnis dessen, was das Prinzip ist.⁶⁷
9.4 Das Leben des Einen Und dennoch kann der Gedanke, dass das Eine nur entweder negativ oder aber durch die Artikulation des einseitigen Abhängigkeitsverhältnisses, in dem alles Seiende mit Blick auf es steht, zu bestimmen sei, letztlich nicht völlig befriedigen. Nichtsdesto-
62 Vgl. ebd. V 5, 6, 26. 63 Gerhard Huber: Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologischen Problematik in der spätantiken Philosophie, Basel 1955, S. 81f. Zur Stützung seiner Argumentation weist Huber in diesem Zusammenhang auf Plotins Ausführungen in Enneade V 5, 6, 26–28 sowie 30–35 hin. 64 Vgl. ebd. S. 82; machen wir in dieser Weise affirmative Aussagen über das Eine, so sind diese stets durch ein οἷον einzuschränken. Dazu und zu den entsprechenden Verweisstellen bei Plotin, vgl. Edgar Früchtel: Weltentwurf und Logos, S. 14f., dort vor allem auch Anm. 12. 65 Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 180. 66 Vgl. Plotin Enneade V 1, 4, 29f. 67 Vgl. z. B. ebd. V 1, 4–6; hier vor allem 6, 2f.; auf den zuvor erörterten Begriff des „Sachverhaltes“ hin gewendet kann man das Ausgeführte auch so verstehen, dass das Eine das Sein aller Sachverhalte konstituiert, ohne dass bezüglich seiner selbst als eines vollkommen unbestimmten irgendwelche Sachverhalte einzusehen wären.
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trotz nämlich stellte sich, gesetzt den Fall, das Ausgeführte wäre zutreffend, auch dann noch die Frage, wie wir überhaupt zu der Einsicht kommen können, dass „alles Seiende (…) durch das Eine seiend [ist]“⁶⁸. Woher wissen wir, dass das Eine notwendig vorauszusetzen oder dass es nur negativ bestimmbar ist, wenn wir doch aufgrund seiner Einheit eigentlich überhaupt nicht und überhaupt nichts von ihm wissen könnten?⁶⁹ In diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass sich der Begriff des Einen aus dem des vielheitlichen Seienden ableiten lasse, ist dabei deswegen nicht überzeugend, da sowohl die fortschreitende Unterteilung des Seienden als auch dessen Überhöhung nicht zu dem gewünschten Ergebnis des Begriffes einer vollkommenen Einheit führen.⁷⁰ Und selbst wäre dieses möglich, stünde doch der Gedanke, dass sich das Eine vermittelt durch eine Ableitung aus der Welt des Seienden denken ließe, im Widerspruch zu der nun bereits mehrfach erörterten Problematik des auf einer Prädikation basierenden Denkens einer absoluten Einheit. Woher also stammt unser „Wissen“ von „dem Einen“, wie kommt es, dass wir es als ein notwendig Vorauszusetzendes erkennen? Und was kann es bedeuten, wenn hier von „Wissen“ die Rede ist?⁷¹ Einen ersten Hinweis auf eine Möglichkeit, wie dieses Problem gelöst werden könnte, gibt eine bereits in einem anderen Kontext zitierte Passage aus Platons Phaidon.⁷² In dieser lässt Platon Sokrates erklären, dass die Feststellung der Mangelhaftigkeit einer an einem Gegenstand vorkommenden Bestimmung immer schon ein Wissen über eine nicht-mangelhafte und in diesem Sinne „vollkommene“ Form dieser Bestimmung voraussetze, wäre doch ansonsten der Mangel als solcher überhaupt nicht feststellbar. Wendet man diese Gedankenführung nun auf die Frage nach der Möglichkeit der Einsicht in die Voraussetzung des Einen an, so zeigt es sich, dass auch die Erkenntnis, dass das (vielheitliche) Seiende der Einheit bedürftig und mithin mangelhaft ist, zur Voraussetzung hat, dass wir bereits vor dem Fällen dieses Urteils über eine irgendwie geartete Kenntnis der Einheit verfügen müssen. Hätten wir diese nicht, wären wir nicht imstande, das Seiende als in dieser Hinsicht betrachtet mangelhaft zu erkennen. Mag nun in dieser Weise zwar die Notwendigkeit einer „Vorauskenntnis“ des Einen erwiesen werden können, so ist damit doch noch nicht die Frage beantwortet, woher eine solche Vorauskenntnis stammen könnte. In verschärfter Weise stellt sich
68 Plotin Enneade VI 9, 1, 1. 69 Hier zu argumentieren, dass man, um behaupten zu können, dass das Eine notwendig vorauszusetzen sei, gar nichts über das Vorauszusetzende wissen müsse, ist ebenfalls wenig sinnvoll, da man über etwas, von dem man überhaupt nicht(s) weiß, auch nicht wissen kann, dass es notwendig vorauszusetzen ist. 70 Dies ist bereits in Hinsicht auf die von Platon angenommene Idee des Guten, die ebenfalls – wenn auch anders als das plotinische Eine – als einheitlich gedacht wird, festgehalten worden. 71 Vgl. dazu Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 98. 72 Vgl. Platon Phaidon 74d 7–e 4.
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diese Frage dabei auch und vor allem dann, wenn man, wie bereits erklärt, berücksichtigt, dass der Begriff des Einen nicht aus der Welt des vielheitlichen Seienden abzuleiten ist und das Eine nicht in dem Sinne zu denken ist, dass man ihm eine Eigenschaft zu- oder abspricht. Ist dementsprechend sowohl die an einem Unterschied zu allem Seienden vorzunehmende Bestimmung des Einen als auch ein ihm etwas zu- oder absprechendes Denken auszuschließen, bleibt letztlich nur eine Möglichkeit, wie von ihm als einem notwendig Vorauszusetzenden gewusst werden kann: Es selbst muss der Ausgangspunkt seiner „Erkenntnis“ sein und sich selbst als ein notwendig Vorauszusetzendes bekannt gemacht haben.⁷³
9.4.1 Die κατανόησις des Einen Dass Plotin in der Tat eine derartige „Selbstbekanntmachung“ des Einen annimmt und wie diese zu denken ist, lässt sich unter anderem im Ausgang von seinen Ausführungen in Enneade V 4, 2 rekonstruieren. Dort erklärt er der von ihm ansonsten vielerorts vertretenen These, gemäß der das Eine jenseits des Denkens ist,⁷⁴ scheinbar widersprechend, dass dieses ein „Gedachtes“ (νοητόν) sei,⁷⁵ dass es „nicht gleichsam wahrnehmungslos“ (οὐκ οἷον ἀναίσθητον) sei⁷⁶ und über ein „völliges Durchdenken“ oder „Hinabdenken“ (κατανόησις) seiner selbst verfüge – und zwar „gleichsam wie durch eine Mitwahrnehmung“ (οἱονεὶ συναισθήσει)⁷⁷. Diese Bemerkungen Plotins über eine mögliche noch näher zu fassende Denkbarkeit des Einen haben bei den Interpreten dieser Stelle für nicht geringe Verwirrung gesorgt. Eine Möglichkeit, mit dieser Schwierigkeit umzugehen, besteht darin, die Enneade V 4 einer frühen Phase der Entwicklung des plotinischen Denkens zuzurechnen, in welcher Plotin den Begriff eines des Denkens jenseitigen „Einen“ noch nicht ausgearbeitet und das Eine als eine Art „höheren Intellekt“ (higher intellect) begriffen habe.⁷⁸ Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass Plotin, wie Porphyrius glaub-
73 Auf die zentrale Bedeutung dieser Notwendigkeit hat Bernhard Uhde im Rahmen unzähliger Veranstaltungen immer wieder hingewiesen. Ansonsten findet sich diese These in der Forschungsliteratur zu Plotin nicht vermerkt. Immerhin eine wenn auch nicht weiter erklärte Andeutung dazu, dass sich das Eine selbst bekannt gemacht haben muss, macht Arthur H. Armstrong in seinem Artikel „Negative Theology“, S. 177f. 74 Eine Übersicht über die Stellen, an denen Plotin betont, dass dem Einen kein Denken zugeschrieben werden könne, findet sich bei Hans Joachim Krämer in: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, S. 394f. 75 Vgl. Plotin Enneade V 4, 2, 13. 76 Vgl. ebd. V 4, 2, 16. 77 Vgl. ebd. V 4, 2, 18f. 78 Eine Übersicht über diejenigen Interpreten, die die Ansicht vertreten, dass Plotin in Enneade V
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haft versichert, wohl erst relativ spät mit der Abfassung seiner Werke begonnen hat, so dass nicht anzunehmen ist, dass die Enneaden als ganze die Entwicklung des plotinischen Gedankengebäudes abbilden.⁷⁹ Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Kerninhalte der plotinischen Lehre, zu welchen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon früh auch die Lehre von der Jenseitigkeit des Einen gehört, bei Beginn der Abfassung der Enneaden bereits festgestanden haben und später lediglich noch um Spezialfragen betreffende Diskussionen ergänzt wurden.⁸⁰ Begreift man folglich die Stellen aus Plotins Werk, die die Möglichkeit des Denkens des Einen nahelegen, als Zeugnisse einer bereits gereiften Überlegung, gilt es nach Wegen zu suchen, wie diese Überlegung mit den Aussagen, dass das Eine jenseits des Denkens sei, in Einklang gebracht werden könnte. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, die näheren Bestimmungen der Art und Weise des Denkens und Gedachtwerdens, die Plotin dem Einen an dieser Stelle zuspricht, nicht außer Acht zu lassen. So ist beispielsweise zu beachten, dass die νόησις, die von dem Einen ausgesagt wird, durch ein κατά bestimmt ist und daher von Plotin als solche nicht synonym zu der nicht weiter bestimmten νόησις verwendet wird.⁸¹ Von Bedeutung ist dies insofern, als das κατά unter anderem auf die Richtung des Denkens des Einen verweist. Dieses Denken des Einen geht gleichsam in das Eine selbst hinab und zielt damit nicht auf ein ihm Äußeres, ein von ihm Unterschiedenes hin.⁸² Und so ist das „Denken“ des Einen auch streng zu unterscheiden von dem des νοῦς, bestimmt sich dieses doch dadurch, dass dieser sich in seinem Denken auf sich selbst als auf ein von sich Unterschiedenes richtet und erst durch seine Denkbewegung zum („noetisch“) denkerischen Erfas-
4 – einer von diesen Auslegern der frühen Phase des plotinischen Schaffens zugerechneten Schrift – noch den Standpunkt habe, dass das Eine sich nach der Weise des Denkens selbstreflektiere, gibt John Bussanichs Kommentar zu dieser Enneade in: The One and its Relation to Intellect in Plotinus (Philosophia Antiqua XLIX), Leiden 1988, S. 26f. Bussanich verweist dabei auf Eric R. Dodds: „Numenius and Ammonius“, in: Les Sources de Plotin (= Entretiens Hardt V, 1960), S. 20f.; Otfrid Becker: Plotin und das Problem der geistigen Aneignung, Berlin 1940, S. 31; Thomas A. Szlezák: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel 1979, S. 164. Dass Plotin das Konzept eines vollkommen jenseitigen Einen zur Zeit der Abfassung von V 4 noch nicht ausgearbeitet habe, wird zudem auch von Arthur H. Armstrong vertreten in: The Architecture of the Intelligible Universe in the Philosophy of Plotinus: An Analytical and Historical Study, Amsterdam 1967. 79 Vgl. Porpyhrios Vita Plotini 4, 1–13, bes. 10–13. Ausgehend von dieser Stelle ist anzunehmen, dass Plotin ungefähr 50 Jahre alt gewesen sein muss, als er seine ersten Werke verfasst hat. 80 Diese These vertritt auch H. J. Blumenthal in seinem Artikel „Nous and Soul in Plotinus: Some Problems of Demarcation“, in: Ders.: Soul and Intellect. Studies in Plotinus and Later Neoplatonism, Aldershot 1993, S. II, 205. 81 Eine andere Meinung dazu vertritt John Bussanich, wenn er schreibt: „Now it is certainly true that in their few occurances κατανοεῖν/κατανόησις are synonymus with νοεῖν/νόησις.“ So in: The One and its Relation to Intellect in Plotinus, S. 26f. 82 Dass das Eine sich allerdings selbst gänzlich zu unterscheiden vermag, betont Plotin in Enneade V 4, 2, 17, wo er von ihm aussagt, dass es πάντη διακριτικόν sei.
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sen seiner selbst gelangt. Dem gegenüber stellt Plotin die κατανόησις des Einen, von welchem er jede Bewegung (κίνησις) ausschließt⁸³ und welches sich in dem Sinne „katanoetisch“ zu ergreifen vermag, dass es in einem ewigen Stillstehen (ἐν στάσει ἀιδίῳ) beharrend⁸⁴ schon immer „bei sich selbst“ (ἐφ᾽ ἑαυτοῦ) ist beziehungsweise „bleibt“ (μένειν).⁸⁵ Auf den Punkt gebracht findet sich dieser Gedanke bei Plotin, wenn er schreibt, dass „alles, was seines ist, in ihm selbst und mit ihm selbst [zusammen ist]“⁸⁶. Im Unterschied zum „noetischen Denken“ des νοῦς ist eine solche Form des als „katanoetisch“ – und an anderer Stelle auch als ὑπερνόησις⁸⁷ – bestimmten Denkens dem Einen nun deswegen nicht notwendigerweise abzusprechen, weil dieses keinerlei Differenz impliziert, die der Einheitlichkeit des Einen entgegenstünde. Weder nämlich ist ein solches Hinabdenken grundgelegt in einem Unterschied zwischen dem Einen als dem Denkenden und ihm als dem Gedachtem, noch ist sie das Ergebnis einer Bewegung des denkenden Einen zu sich selbst – ist dieses doch schon immer bei sich. Und auch eine dritte Möglichkeit, wie das so bestimmte Denken des Einen vielleicht doch eine Vielheitlichkeit desselben beinhalten könnte, weiß Plotin auszuschließen, indem er betont, dass das Eine „dasselbe“ (αὐτό) sei wie seine κατανόησις.⁸⁸ Gänzlich unmittelbar, das heißt auch nicht vermittelt durch einen von dem Einen selbst unterschiedenen Denkakt, erfasst sich das Eine, welches infolgedessen in vollkommen einheitlicher Weise bei sich selbst ist.⁸⁹ Nur scheinbar widerspricht diesem Befund Plotins Aussage in Enneade VI 9, 6, 49–53, in welcher er sich dahin gehend äußert, dass dem Einen „das Denken“ (τὸ νοεῖν), „das Anwesendsein“ (τὸ συνεῖναι) und auch der „auf es selbst bezogene Denkakt“ (ἑαυτοῦ νόησις) abzusprechen sei, da nur so die Einheit des Einen bewahrt werden könne. Dass dieser Widerspruch nur scheinbar besteht, zeigt schon der
83 Vgl. ebd. V 1, 6, 17–20. 84 Vgl. ebd. V 4, 2, 19. 85 Dass das Eine „bei sich selbst ist“ bzw. „bleibt“ (μένειν), betont Plotin unter anderem in den Enneaden VI 9, 6, 15; VI 9, 6, 50; I 6, 7, 22; III 2, 1, 44; V 2, 2, 25f.; V 4, 1, 6; V 4, 2, 13; VI 4, 2, 39; VI 5, 10, 7. 86 Vgl. ebd. V 4, 2, 16f.; da alles, was zu ihm gehört, in ihm und mit ihm zusammen ist, ist das Eine nicht nur nicht unterschieden von dem Gegenstand seiner κατανόησις, sondern auch dasselbe wie diese. Deutlich wird dies vor allem in V 4, 2, 18f., wo es heißt: „καὶ ἡ κατανόησις αὐτοῦ αὐτό (...).“ 87 Vgl. Plotin Enneade VI 8, 16, 33. Vgl. zu diesem Begriff auch Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, S. 397. 88 Vgl. Plotin Enneade V 4, 2, 18f. 89 Vgl. dazu auch ebd. VI 8, 16, 19–21, in welcher das „Auf-sich-selbst-Blicken“ des Einen mit dessen „Sein“ gleichgesetzt wird. So heißt es dort: „καὶ τὸ οἷον εἶναι τοῦτο αὐτῷ τὸ πρὸς αὐτὸν βλέπειν.“ Die Unmittelbarkeit der „Selbsterfassung“ des Einen wird überdies auch durch die Verwendung des Begriffes der „Wahrnehmung“ beziehungsweise „Mitwahrnehmung“ zum Ausdruck gebracht. Obwohl nämlich im Fall des Einen nicht an eine „Wahrnehmung“ sinnlicher Art zu denken ist, birgt doch gerade der Aspekt der Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung den Vergleichspunkt, auf den auch Plotins Rede von der Mitwahrnehmung des Einen abzielt.
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nächste Satz dieser Passage, in welchem deutlich wird, welche Art des Denkens und des Anwesendseins Plotin vom Einen ausgeschlossen wissen möchte. So heißt es dort, dass das Eine nicht dem Bereich des „Denkenden“ (τὸ νοοῦν) zugeordnet werden dürfe, sondern dem des „Denkaktes“ (νόησις).⁹⁰ Der Denkakt nämlich, so Plotin, denke selbst nicht, vielmehr sei er der Grund des Denkens für ein anderes (αἰτία τοῦ νοεῖν ἄλλῳ).⁹¹ Was Plotin damit vom Einen ausschließt, ist ein Denken nach Art des νοῦς, der als das „Denken des Denkens“ dem Bereich des „Denkenden“ zuzuordnen ist, und der – auch in seiner selbstreflexiven Form – für seine Tätigkeit einen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt.⁹² Dem gegenüber steht die νόησις des Einen, die sich durch ihre oben beschriebene Einheitlichkeit auszeichnet und als solche nicht durch eine Subjekt-Objekt-Struktur bestimmt ist. Vielmehr ist dieses Denken als ein „reiner Denkvollzug“ zu betrachten,⁹³ welcher der unmittelbaren Anwesenheit des Einen bei sich selbst nicht entgegensteht, sondern vollendeter Ausdruck derselben ist.⁹⁴ Der Gedanke eines derartigen katanoetischen Bei-sich-selbst-Seins des Prinzips hat nun weitreichende Konsequenzen für die zu Beginn dieses Kapitels angesprochene Problematik seiner Selbstbekanntmachung. So kann die Anwesenheit des Einen bei sich selbst als die notwendige Voraussetzung dafür angesehen werden, dass wir überhaupt von ihm wissen, dass es also auch bei uns ist. Angedeutet findet
90 Vgl. ebd. VI 9, 6, 53f. 91 Vgl. ebd. 6, 54f. 92 Will man den weitverbreiteten und in Hinsicht auf den νοῦς sicher adäquaten Sprachgebrauch der „Selbstreflexion“ aufnehmen, so ist diese, was die κατανόησις des Einen betrifft, auszuschließen. Das Eine „denkt“ sich katanoetisch gerade nicht im Sinne einer Selbstreflexion, da diese immer eine aus Reflexionssubjekt und Reflexionsobjekt bestehende Zweiheit beinhaltet. Plotins Ablehnung einer solchen auf den aristotelischen νοῦς anwendbaren, von dem Einen aber definitiv auszuschließenden Konzeption der Selbstreflexion zeigt sich beispielsweise deutlich in Enneade V 1, 9, 7–9. Dort spricht Plotin die aristotelische Position direkt an, wenn er schreibt: „Ἀριστοτέλης δὲ ὕστερον χωριστὸν μὲν τὸ καὶ νοητόν, νοεῖν δὲ αὐτὸ ἑαυτὸ λέγων πάλιν αὖ οὐ τὸ πρῶτον ποιεῖ.“ Dass es schwierig ist, die dem Einen von Plotin beigelegte katanoetische Denkform sprachlich zu benennen, liegt auf der Hand. Ist doch hier von einem „Denken“ die Rede, das anders als alle anderen Formen des Denkens keine Zweiheit impliziert. Um dies hervorzuheben, wird zur Kennzeichnung der Besonderheit des einheitlichen Denkens des Prinzips die Rede von einem „katanoetischen Denken“, einer „Erfassung“ oder einer „Anwesenheit des Einen bei ihm selbst“ sein. Bezüglich des Begriffes der „Anwesenheit“ ist zu bemerken, dass dieser im vorliegenden Kontext insbesondere von Bernhard Uhde geprägt worden ist. 93 Vgl. Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, S. 397. 94 Die Einheitlichkeit dieses „reinen Denkvollzuges“ hat Hans Joachim Krämer in dem eben zitierten Werk: Der Ursprung der Geistmetaphysik, S. 394–403 mit dem Verweis auf eine Vielzahl anderer Stellen bei Plotin klar herausgearbeitet. Überdies eröffnet die Vollkommenheit der Anwesenheit des Prinzips bei sich selbst das Verständnis für eine zweite Bedeutungsebene von „κατά“, welches Plotin zur näheren Bestimmung der νόησις des Einen verwendet. So ist dieses aufgrund der Vollkommenheit der Anwesenheit nicht nur mit „hinab“, sondern auch im Sinne einer Verstärkung eines „Durch-unddurch-Denkens“ zu übersetzen.
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sich dies unter anderem dann, wenn Plotin als Grund dafür, dass wir überhaupt von dem Einen wissen, angibt, dass „etwas von ihm“ (τι αὐτοῦ) „bei uns“ (παρ᾽ ἡμῖν) ist. Vermöge welchen Überkommens [nämlich] könnte einer etwas die Beschaffenheit des Denkens Übersteigendes erlangen? In Bezug auf dieses ist zu zeigen, dass es etwas ist, von dem wir ein Gleichendes in uns behaupten werden. Es ist nämlich etwas bei uns von ihm; und es ist unmöglich, dass es gar nicht bei denen ist, denen Teilhabe an ihm möglich ist.⁹⁵
An dieser Stelle zeigt sich: Ausgangspunkt für die Anwesenheit des Einen für unser Denken ist es selbst und gerade nicht unser Denken, das zwar die anderen Dinge und sich selbst zu erkennen vermag, das Eine jedoch, wie es an sich selbst ist, nicht.⁹⁶ Dementsprechend ist das Eine, wie Plotin andernorts schreibt, selbst „bei allem“ (πᾶσι σύνεστιν)⁹⁷ und „gegenwärtig“ (παρόν) für alle diejenigen, die es zu berühren (θιγεῖν) vermögen.⁹⁸ Für kein Ding liegt es daher „außerhalb“ (ἔξω), vielmehr ist es bei allen, auch wenn diese es nicht wissen.⁹⁹ Wie aber ist es zu denken, dass etwas von dem Einen „bei uns“ ist? Auch wenn Plotin dies nicht explizit sagt, lässt sich dennoch ein Zusammenhang feststellen zwischen dem katanoetischen Bei-sich-selbst-Sein des Einen und seinem Bei-uns-Sein. Wie dieser Zusammenhang im näheren zu bestimmen ist, wird deutlich, wenn man Plotins Schilderung der „Zeugung des Denkens“ durch das Eine in den Blick nimmt.
9.4.2 Die Zeugung des Denkens Ohne dass hier auf Einzelheiten eingegangen werden könnte, sei darauf hingewiesen, dass die Frage, wie die Zeugung des νοῦς zu denken sei, in der Forschung sehr kontrovers diskutiert worden ist und noch immer wird.¹⁰⁰ Betrachtet man die bei den Interpretationsversuchen auftretenden Schwierigkeiten, fällt Folgendes auf: Sie sind vor allem dadurch bedingt, dass Plotins Beschreibung des Hervorgangs des νοῦς aus dem Einen in einer „ontischen“ Weise verstanden und infolgedessen angenommen wird, dass es sich um eine Schilderung dessen handele, wie das Eine einen als an sich
95 Plotin Enneade III 8, 9, 21–24: „ὑπερβεβηκὸς τοῦτο τὴν νοῦ φύσιν τίνι ἂν ἁλίσκοιτο ἐπι βολῇ ἀθρόᾳ; Πρὸς ὃν δεῖ σημῆναι͵ ὅπως οἷόν τε͵ τῷ ἐν ἡμῖν ὁμοίῳ φήσομεν. Ἔστι γάρ τι καὶ παρ΄ ἡμῖν αὐτοῦ· ἢ οὐκ ἔστιν͵ ὅπου μὴ ἔστιν͵ οἷς ἐστι μετέχειν αὐτοῦ.“ Die Übersetzung dieses Absatzes ist entnommen aus Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 95. 96 Vgl. Plotin Enneade III 8, 9. 97 Ebd. VI 9, 8, 29. 98 Ebd. VI 9, 7, 5f. 99 Ebd. VI 9, 7, 29f.; vgl. dazu auch ebd. IV 9, 8, 37f. 100 Einen sehr guten Überblick über diese Diskussion gibt John Bussanichs The One and its Relation to Intellect in Plotinus, S. 36–43. Vgl. zudem Plotinus: Ennead V. 1, On the Three Principal Hypostases. A Commentary with Translation by Michael Atkinson, Oxford 1983, S. 154–184.
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ontisch real existierenden „Geist“ in die Existenz setzt.¹⁰¹ Der hier im Folgenden zu entwickelnde alternative Interpretationsvorschlag dieses „Hervorgangs“ (πρόοδος) des Denkens nimmt dementgegen an, dass Plotins Rede von dessen Zeugung auf etwas gänzlich anderes hinweisen möchte. Erstens darauf, dass die katanoetische Tätigkeit des Einen als die notwendige Voraussetzung für unser Wissen in Bezug auf das Eine anzusehen ist. Und zweitens, dass dieses Wissen um das Eine seinerseits die notwendige Voraussetzung für die Tätigkeit des Denkens darstellt. Wie gezeigt werden wird, stellt dabei vor allem Letzteres den Schlüsselgedanken für ein adäquates Verständnis der plotinischen Rede von der Zeugung des Denkens dar. Dass Plotins Beschreibung der Denk-Zeugung vor allem auf die genannten Aspekte abhebt, wird deutlich, wenn man sie vor dem Hintergrund dessen liest, was bereits bezüglich der κατανόησις des Einen ausgearbeitet worden ist. Neben den Textabschnitten, die schon zur Erörterung der κατανόησις herangezogen worden sind, soll in diesem Zusammenhang vor allem eine Passage aus Enneade V 1 als Textgrundlage für die nachfolgende Untersuchung dienen.¹⁰² Schon ein flüchtiger Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass die Interpretation dieser Passage mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden ist. Dabei stellt schon die Frage nach der richtigen Lesart des Textes die Interpreten vor große Probleme.¹⁰³ Grundsätzlich möglich sind nämlich in diesem Zusammenhang zwei Lesarten, aus denen sich jeweils gänzlich unterschiedliche Rückschlüsse auf die Bedeutung der Passage ergeben. So ist der Text, der eine Antwort auf die Frage, wie das Eine das Denken zeuge, zu geben sucht, entweder in Variante A: Πῶς οὖν νοῦν γεννᾷ; Ἢ ὅτι τῇ ἐπιστροφῇ πρὸς αὐτὸ ἑώρα · ἡ δὲ ὅρασις αὕτη νοῦς
oder in Variante B: Πῶς οὖν νοῦν γεννᾷ; Ἢ ὅτι τῇ ἐπιστροφῇ πρὸς αὑτὸ ἑώρα · ἡ δὲ ὅρασις αὕτη νοῦς
zu lesen. Wie schon die Hervorhebung andeutet, geht es, was die Wahl der Lesart und der damit verbundenen Übersetzung und Interpretation betrifft, im Wesentlichen um die Frage, ob man sich an der entsprechenden Stelle dafür entscheidet, das αυτο als αὐτὸ oder aber, es reflexiv aufnehmend, als αὑτὸ zu lesen. Dies ist insofern von grundlegender Bedeutung, als sich hier jeweils unterschiedliche Interpretationen dessen ergeben, was als das Subjekt und was als das Objekt der beschriebenen „Zuwendung“
101 Eine Vielzahl der Interpretationsprobleme der für diesen Kontext relevanten Stellen und Sachverhalte ist nicht zuletzt der sehr unglücklichen Übersetzung des Terminus νοῦς geschuldet, der im Deutschen sehr oft mit „Geist“ übersetzt wird. 102 Es geht hier im Näheren um den Abschnitt in Enneade V 1, 7, 5–7. 103 Eine Übersicht über die Forschungsdiskussion zu dieser Passage findet sich bei Ritsuko Okano: „How does the One Generate Intellect? Plotinus, Ennead V 1[10]7.5–6?“, in: Ancient Philosophy 25 (2005), S. 155–171.
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(ἐπιστροφή) anzusehen ist und wie man infolgedessen die Zeugung des Denkens zu begreifen hat. Welche Schwierigkeiten mit der Frage nach der korrekten Zuordnung des Subjektes und des Objektes des betrachteten Abschnittes verbunden sind, zeigt sich noch deutlicher, wenn man die sich in Abhängigkeit von den Textvarianten ergebenden Übersetzungsmöglichkeiten in den Blick nimmt. Variante A legt dabei die folgende Übersetzung nahe: Wie also zeugt es [das Eine] das Denken? Doch wohl so, dass es [das Denken] in der Zuwendung zu diesem [dem Einen] [schon immer]¹⁰⁴ sah. Dieses Sehen aber ist das Denken.
Variante B hingegen legt den Grund für die folgende Übersetzung: Wie also zeugt es [das Eine] das Denken? Doch wohl so, dass [das Eine] in der Zuwendung zu sich selbst [schon immer] sah. Dieses Sehen aber ist das Denken.
Wer also wendet sich wem zu, damit es zur Zeugung des Denkens kommt? Ist es das Denken, das sich dem Einen zuwendet und so seine eigene Zeugung konstituiert? Oder ist es nicht vielmehr das Eine, das sich sich selbst zuwendet und so den Hervorgang des Denkens verursacht?¹⁰⁵ Für beide Möglichkeiten der Interpretation ist eine Vielzahl von Gründen angeführt worden, so dass man bislang in der Forschung zu keinem einheitlichen Ergebnis gekommen ist, wie Plotin die durch die Zuwendung hervorgebrachte Zeugung des Denkens verstanden wissen möchte.¹⁰⁶ Die Deutung dieser Stelle, wie sie nun hier entwickelt werden soll, geht mit Interpreten wie Richard Harder, Pierre Hadot, Kirchhoff, Müller, Émile Bréhier und John Bussanich davon aus, dass Variante B der Vorzug zu geben und dementsprechend αὑτό zu lesen ist. Infolgedessen wird die Zeugung des Denkens als das Ergebnis der Zuwendung des Einen zu sich selbst gesehen, die – an dieser Stelle liegt das Spezifische der hier vorgelegten Deutung – im Sinne eines katanoetischen Denkaktes aufzufassen ist. Das heißt: Wendet sich das Eine sich selbst zu, dann, so die hier vertretene These, entspricht dies dem andernorts von Plotin beschriebenen und bereits erörter-
104 An dieser Stelle ist die Verwendung des Imperfekts und der damit verbundene durative oder iterative Aspekt zu beachten. 105 Wie Ritsuko Okano ausführt, findet sich dasselbe Problem der angemessenen Zuordnung des Subjektes und des Objektes der ἐπιστροφή auch in einer anderen Passage in Enneade V 1, nämlich in Kapitel 6, 17–19. Vgl. dazu Ritsuko Okano: „How does the One Generate Intellect? Plotinus, Ennead V 1[10]7.5–6“, S. 155, Anm. 1. 106 Einen Überblick darüber, welche Forscher welcher Variante den Vorzug geben und wie sie ihre jeweilige Interpretation dieser Stelle begründen, findet sich u. a. in John Bussanichs The One and its Relation to Intellect in Plotinus, S. 37–43; die neuere Diskussion dieses Themas ist aufgenommen und wird diskutiert von Ritsuko Okano in seinem Artikel: „How does the One Generate Intellect? Plotinus, Ennead V 1[10]7.5–6“, S. 155–161.
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ten Akt der κατανόησις – eines vollkommen einheitlichen Bei-sich-selbst-Seins des Einen.¹⁰⁷ Wie aber, wäre in einem nächsten Schritt zu fragen, steht die katanoetisch begriffene ἐπιστροφή in Bezug zu der Zeugung des Denkens?¹⁰⁸ Um dies zu verstehen, gilt es sich nochmals zu vergegenwärtigen, dass Plotin das Eine als die notwendige Voraussetzung jeglichen Denkens begreift, während es an sich selbst nicht zum Gegenstand des Denkens werden kann. Wird dies angenommen, ergibt sich allerdings das nun schon mehrfach angesprochene Problem, dass unklar ist, wie man in diesem Fall zu einem Wissen hinsichtlich der notwendigen Voraussetzung des Einen kommen kann. Einen Anhaltspunkt für eine mögliche Lösung dieses Problems gibt nun die ebenfalls bereits angesprochene Annahme der Selbstbekanntmachung des Einen, die im Zusammenhang mit der katanoetisch verstandenen ἐπιστροφή des Einen zu sehen ist. Zusammengefasst ist der Grundgedanke dieser Lösung folgendermaßen zu formulieren: Im Rahmen seiner Selbstzuwendung zeugt das Eine das Denken in dem Sinne, dass es, indem es sich selbst erfasst, die Grundlage dafür schafft, dass das Denken ein für seine Tätigkeit notwendiges Wissen um das Eine erlangt. Das heißt, nur weil sich das Eine selbst katanoetisch denkend erfasst und so bei sich ist, ist es auch einem anderen Denkenden möglich, etwas von ihm zu erkennen. Wie jedoch ist das so gewonnene Wissen um das Eine zu bestimmen? Was „weiß“ das Denken hinsichtlich des Einen und inwiefern ist dieses Wissen notwendig für die Tätigkeit des Denkens? Da das Eine bei sich ist, indem es sich katanoetisch „denkt“, erfasst es sich – sowohl der Form als auch dem Inhalt nach – als ein in jeder Hinsicht vollkommen Einheitliches. Vereinfacht wäre demnach zu sagen, dass das Eine durch seine Selbsterfassung, in der es katanoetisch „Eines“ denkt, den Begriff seiner selbst aus sich entlässt. Eben diesen Begriff nun gibt das Eine dem Denken, so dass es (das Prinzip) infolgedessen nicht nur bei sich selbst, sondern auch für das Denken anwesend ist.¹⁰⁹ Was diese Anwesenheit betrifft, sind allerdings die schon zuvor angeführten Beschränkungen der Denk- und Wissensmöglichkeiten bezüglich des Einen nicht außer Acht zu lassen. So ist daran zu erinnern, dass das Eine als ein vollkommen Einheitliches Plotin zufolge jenseits des Denkens¹¹⁰ und der Erkenntnis (ἐπέκεινα
107 Nimmt man die ἐπιστροφή in dieser Weise auf, hat dies den Vorteil, dass man der beispielsweise von Paul Aubin vorgebrachten Argumentation zur Unmöglichkeit einer Selbstzuwendung des Einen begegnen kann. Aubin zufolge ist eine solche Selbstzuwendung deswegen nicht denkbar, da sie eine Zweiheit in das Eine lege und somit der Einheit des Einen entgegenstehe. Dazu, dass Plotin die Möglichkeit einer Selbstzuwendung des Einen prinzipiell einräumt, zeigt sich auch in Enneade VI 8, 16, 19–21, in der er davon spricht, dass das Eine sich selbst sieht. 108 Auf den Zusammenhang zwischen der Selbstzuwendung des Einen und der Entstehung alles Übrigen weist Plotin auch in Enneade V 1, 6, 18f. hin. 109 Vgl. dazu die bereits zitierte Passage aus Enneade III 8, 9. 110 Vielfach formuliert findet sich dieser Gedanke z. B. in Enneade VI 9, 6.
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γνώσεως)¹¹¹ ist und nicht an sich selbst zum Gegenstand des Denkens werden kann. Einzusehen ist mit Blick auf das Eine lediglich die Notwendigkeit seiner Voraussetzung, die sich, wie eben gezeigt worden ist, auch auf das Wissen um eben dieses Vorausgesetztsein des Einen erstreckt. Nur weil es sich selbst bekannt gemacht und ins Denken gesenkt hat, kann es überhaupt gedacht werden und können wir von ihm wissen. Nur weil es den Begriff seiner selbst hergibt, können wir, diesen als Maßstab anwendend, einsehen, dass alles Seiende in Bezug auf seine Einheit defizitär und daher hinsichtlich seines Seins von dem Einen abhängig ist. Gilt dies für alles Seiende, so besteht auch das Denken in Abhängigkeit von dem Einen. Dass dem so ist, erkennt das Denken im Akt seiner Selbstreflexion, in welchem es sich sich selbst gegenüberstellt. Dabei sieht es ein, dass es in mehreren Hinsichten betrachtet von dem Einen abhängt. Neben den bereits erörterten formalen Gründen für diese Abhängigkeit ist in diesem Kontext vor allem auf Folgendes hinzuweisen. Auch das selbstreflexiv vollzogene Denken, das Aristoteles noch als selbstgenügsam angesehen hatte, setzt das Eine in dem Sinne voraus, dass es sich selbst inhaltlich betrachtet als ein einheitliches denken muss. Denn auch das selbstreflexive Denken kann nur dann als ein solches bestehen, wenn es sich mit Blick auf sein Subjekt- und sein Objektsein als ein und dasselbe und insofern als eines denkt. Um dies tun zu können, bedarf das Denken eines Begriffes der Einheit, den es jedoch nicht aus und von sich selbst heraus entwickeln kann. Dieser hat vielmehr seinen Ursprung im Prinzip selbst, das durch die Schenkung dieses seines eigenen Begriffes das Denken erst ermöglicht. Dieser Gedankengang stellt den Hintergrund dar, vor dem Plotins Rede von der Zeugung des Denkens durch das sich sich selbst zuwendende Eine zu verstehen ist. Indem das Eine, so sei nochmals zusammenfassend gesagt, sich sich selbst von Ewigkeit her zuwandte und sich schon immer sah,¹¹² schafft es die Möglichkeitsbedingung dafür, dass das Denken einen Begriff des Einen erlangen und mithin (als Denken) sein kann. In prägnanter Weise fasst Plotin das hier Ausgeführte in dem bereits zitierten Satz aus Enneade V 1 zusammen, in dem es heißt: Wie also zeugt es [das Eine] das Denken? Doch wohl so, dass [das Eine] in der Zuwendung zu sich selbst [schon immer] sah. Dieses Sehen aber ist das Denken.
Wie hier deutlich wird, steht die Selbstzuwendung und das Sich-selbst-Sehen des Einen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Sehen des Denkens. Blickt nämlich das Denken auf das, was das Eine in seiner Selbstzuwendung sieht und somit freisetzt – seinen eigenen Begriff einer vollkommenen Einheit – dann blickt es auf ein Einheitliches hin, welches jedoch, da es nun ein Gegenstand des Denkens ist, nicht
111 Vgl. ebd. V 3, 12, 47. 112 Dass es sich hier um ein sich in Ewigkeit vollziehendes Zuwenden und Sehen des Einen handelt, zeigt u. a. die Tatsache, dass in Enneade V 1, 7, 6 die Imperfektform des Verbs gewählt ist (ἑώρα).
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mehr vollkommen einheitlich sein kann. So schaut das Denken auf eine Einheit, die gleichzeitig in einer – wenn auch nur minimalen – Zweiheit besteht, sofern sie ein Gegenstand des Denkens ist. Was das Denken dabei sieht, ist Plotin zufolge es selbst, das heißt: es selbst im Sinne des selbstreflexiven Denkens.¹¹³ Wird das Eine also nach Art des noetischen Denkens¹¹⁴ und nicht nach Art der κατανόησις¹¹⁵ gesehen, so zeigt es (das Eine) sich als das „Denken des Denkens“ (νοῦς), das zwar eines ist, aber auch vieles.¹¹⁶ Aus diesem Grund kann Plotin den νοῦς auch als ein Abbild (εἰκών) des Einen bezeichnen, das in gewisser Weise jenes (das Eine) ist, vieles von dem Einen bewahrt und eine Gleichheit in Bezug auf das Eine aufweist.¹¹⁷ Und so ist das Denken des Denkens als dasjenige Seiende zu betrachten, das die minimalste Vielheit an sich trägt und damit in vorzüglicher Weise dem Einen angeglichen ist.¹¹⁸ Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass die im letzten Abschnitt dargestellte Rekonstruktion des plotinischen Begriffes der Denkzeugung im Einklang damit steht, was Plotin im Allgemeinen über die Möglichkeit des Denkens und Sprechens über das Eine sagt. Dieses ist deswegen anzunehmen, weil der hier gewählte Ansatz der Darstellung davon ausgeht, dass Plotin mit seiner Beschreibung der Denkzeugung keine Aussagen über das Eine, wie es an sich selbst ist, trifft. Seiner Konzeption treu bleibend nimmt Plotin die von dem Prinzip abhängige Welt als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über das Eine, wobei er in diesem konkreten Fall das Denken auf dessen Voraussetzungen hin untersucht. Dabei wird deutlich, dass sowohl die Konzeption der κατανόησις als auch die der durch die ἐπιστροφή konstituierten Zeugung des Denkens von Plotin im Ausgang von einer Betrachtung des Denkens und seiner Voraussetzungen entwickelt wird und nicht das Ergebnis einer Untersuchung des Einen an sich selbst darstellt.¹¹⁹ Dass sich nämlich das Eine selbst erfasst haben muss,
113 Daher kann Plotin auch in dem eben zitierten Satz aus Enneade V 1 sagen, dass „dieses Sehen das Denken [ist]“. 114 Dieser Denkweise wäre in Bezug auf den zitierten Vers V 1, 7, 5f. das Sehen als ὅρασις (Zeile 6) zuzuordnen, die Plotin mit dem νοῦς gleichsetzt. 115 Hier hingegen ist auf das ἑώρα aus Zeile 6 der zitierten Passage aus V 1, 7 zu verweisen, da dieses Sehen im Rahmen der ἐπιστροφή des Einen geschieht und mithin als katanoetisch zu begreifen ist. 116 In Plotins Terminologie, die u. a. durch seine Auslegung des platonischen Parmenides beeinflusst ist, wird der νοῦς daher auch als ἓν πολλά bezeichnet. Vgl. Plotin Enneade V 1, 8, 23–26; vgl. dazu auch Enneade VI 9, 2, 35f.: „εἰς αὑτὸν γὰρ ἐπιστρέφων εἰς ἀρχὴν ἐπιστρέφει.“ Vgl. dazu auch Ubaldo Ramón Pérez Paoli: Der plotinische Begriff Hypostasis und die augustinische Bestimmung Gottes als subiectum, Würzburg 1990, S. 23: „Der Geist ist somit die verselbständigte Hinwendung des Einen zu sich selbst in der Weise des Sehens.“ 117 Vgl. Plotin Enneade V 1, 7, 1–4. 118 Wie noch zu zeigen sein wird, ist der Gedanke der Angeglichenheit des Denkens an das Eine von zentraler Bedeutung für die plotinische Konzeption der Ethik. 119 Den Eindruck, dass eine solche von einem Begriff des Einen selbst ausgehende Betrachtung der Zeugung des Denkens möglich sei, suggerieren die dem Verfasser bekannten gängigen Interpretationen durchweg.
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wenn überhaupt etwas über es gedacht werden kann, dass es dabei allerdings gleichzeitig gänzlich einheitlich bleiben muss und infolgedessen von einer ἐπιστροφή und einer κατανόησις des Prinzips auszugehen ist, all dies ergibt sich aus seinen Wirkungen. Das heißt hier: aus dem Umstand, dass wir von dem Einen als von einem einheitlichen und damit notwendig vorauszusetzenden wissen. Dementsprechend verstößt Plotin auch im Fall der Schilderung der Denkzeugung nicht gegen seinen Grundsatz, dass die Rede von dem Einen streng genommen nur dessen Wirkungen zum Gegenstand haben könne. Mit Blick auf Plotins Überlegungen zum Prinzip allen Seins und Denkens zeigt sich demnach Folgendes. Das Wissen um es ist ein von dem Prinzip selbst gegebenes und seinem Inhalt nach darauf beschränkt, dass das Eine nur in Hinsicht auf die Notwendigkeit seiner Voraussetzung eingesehen werden kann. Welche Konsequenzen sich aus diesem Ergebnis für die Frage nach einem sicheren praktischen Wissen ergeben, wird nun im folgenden Kapitel erörtert werden.
9.5 Das Eine als Prinzip praktischen Wissens? Dass das Eine als der Urgrund allen Seins auch die Voraussetzung für alles Erkennen darstellt und mithin als das Prinzip der theoretischen Praxis und des sich aus dieser Praxis ergebenden theoretischen Wissens anzusehen ist, kann im Rahmen des plotinischen Denkens nicht sinnvoll in Zweifel gezogen werden. Wie aber steht es um ein mögliches sicheres Wissen, das für die anderen Formen der Praxis von Relevanz ist? Vermag die Einsicht in die Prinzipienhaftigkeit des Einen auch den Ausgangspunkt für ein solches Wissen abzugeben? Um sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, ist es sinnvoll, sich nochmals zu vergegenwärtigen, welche Standpunkte Platon und Aristoteles mit Blick auf die Problematik eines sicheren, praxisrelevanten Wissens einnehmen. Wie gezeigt worden ist, vertritt Platon die Position, dass mit den Ideen Gegenstände sicheren Wissens gegeben sind, die darüber hinaus Kriterien darstellen, anhand derer sich entscheiden lässt, wie man handeln soll. Eine besondere Rolle spielt dabei die Idee des Guten, die sowohl das Prinzip der Erkennbarkeit der Ideen darstellt als auch in Gestalt der εὐδαιμονία für das Letztziel allen menschlichen Strebens steht. Als solche ist sie die den anderen Ideen vorgelagerte höchste Idee, die deswegen als das „Prinzip von allem“ begriffen werden kann, weil alles Wissen, das theoretische wie auch das praktische, seinen Ursprung in ihr hat. Ebenso wie Platon geht auch Aristoteles davon aus, dass es möglich sei, ein prinzipielles Wissen im Bereich der Theorie einzusehen. Was hingegen den Bereich des praktischen Wissens betrifft, stellt sich Aristoteles insofern gegen Platon, als er es für unmöglich hält, ein Prinzip für diese Form des Wissens anzugeben. Diese Unmöglichkeit begründet Aristoteles damit, dass sich das menschliche Handeln stets in konkreten Situationen vollzieht, in denen es je nach den Erfordernissen der jeweiligen Situ-
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ation gilt, sich in richtiger Weise zu verhalten. Ein sicheres, allgemeines Wissen, das situationsübergreifend Gültigkeit für sich beanspruchen könnte, lehnt er dementsprechend ab. In Übereinstimmung mit Platon findet sich Aristoteles dagegen wieder darin, dass auch er annimmt, es gebe ein höchstes Ziel menschlichen Handelns. Wenngleich er dieses wie zuvor unter anderem auch Platon als εὐδαιμονία bezeichnet, ist doch dieser Begriff bei Aristoteles inhaltlich anders gefüllt. Während Platon die εὐδαιμονία beziehungsweise das Gute selbst¹²⁰ nämlich nur formal im Sinne der Selbstreflexivität oder aber negativ als das vollkommen Mangellose bestimmt, gibt Aristoteles eine Form des Tätigseins an, mit der sich die menschliche Glückseligkeit seines Erachtens verwirklicht – die θεωρία. Geht man nun der Frage nach, ob sich aus der plotinischen Einsicht in die Notwendigkeit der Voraussetzung des Einen auch ein prinzipielles praktisches Wissen ergibt, ist ein Blick auf die platonische und die aristotelische Konzeption praktischen Wissens notwendig und hilfreich. Dies nicht nur deswegen, weil Plotin aller historischen Wahrscheinlichkeit nach mit den Überlegungen beider Denker und ihrer Schulen vertraut war und sich evidentermaßen mit diesen auch in Bezug auf andere Fragestellungen auseinandergesetzt hat. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Platon und Aristoteles einige für die Frage nach der Möglichkeit und der Gestalt eines prinzipiellen praktischen Wissens zentrale Aspekte thematisieren, die hier zum Teil auch schon zur Sprache gebracht worden sind. So wird beispielsweise zu untersuchen sein, ob sich aus der plotinischen Einsicht in die Notwendigkeit der Voraussetzung des Ersten Prinzips auch ein Wissen um ein oder mehrere handlungsrelevante Kriterien ergibt, die gleichsam ein Pendant zu den platonischen Ideen darstellen könnten. Des Weiteren wird im Anschluss an die Betrachtungen zu den platonischen und aristotelischen Konzeptionen praktischen Wissens zu fragen sein, ob sich aus der Einsicht Plotins ein Wissen um ein höchstes Ziel des Strebens ziehen lässt und wie dieses gegebenenfalls bestimmt ist. Ein letztes Thema, das in diesem Zusammenhang behandelt werden wird, ist das der Vermittelbarkeit von Norm und Situation. Gelingt es Plotin, eine solche Vermittlung herzustellen und wie ist diese näherhin zu denken? Zu Beginn nun soll die erste der oben genannten Fragen in den Blick genommen werden: Können im Ausgang von Plotins Einsicht in das Erste Prinzip ein oder mehrere praxisrelevante Kriterien angegeben werden?
120 Inwiefern die εὐδαιμονία und die Idee des Guten in einem Zusammenhang stehen und wie dieser näher zu charakterisieren ist, ist zuvor bereits erörtert worden.
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9.5.1 Das ἕν als Kriterium praktischen Wissens? In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, in Betracht zu ziehen, ob nicht „das Eine“ als ein solcher Handlungsmaßstab begriffen werden könnte. Diesen Gedanken legt dabei nicht nur der Umstand nahe, dass Plotin das Eine als das Prinzip allen Seins und allen theoretischen Wissens einsieht, weshalb es sich anzubieten scheint, das Eine auch als das Prinzip praktischen Wissens zu begreifen. Darüber hinaus findet sich in Enneade VI 9, 7 ein Indiz dafür, dass Plotin in der Tat in eine solche Richtung denkt. So legt er an dieser Stelle anhand des Beispiels des Zeusvertrauten Minos dar, wie es möglich sei, sich des „Gemeinsamseins“ (συνουσία) mit dem Göttlichen erinnernd (μεμνημένος), den anderen Menschen davon zu künden und „Gesetze“ (νόμοι) zu erlassen, die gleichsam „Abbilder“ (εἴδωλα) der zuvor erreichten Gemeinschaft darstellen würden.¹²¹ In welcher Weise jedoch kann die besagte Erinnerung an die Gemeinschaft mit „dem Einen“ als Basis für eine Gestaltung der diesseitigen Welt genommen werden und inwiefern ergibt sich aus dieser Erinnerung möglicherweise ein Wissen um ein Handlungskriterium? Da Plotin selbst an dieser Stelle nicht weiter darauf eingeht, wie er sich die in der Erinnerung an das Gemeinsamsein mit dem Einen grundgelegte Gesetzgebung vorstellt, ist es notwendig, weitere Stellen aus seinem Werk hinzuzuziehen. Als besonders aufschlussreich erweist sich in diesem Kontext eine Passage aus Enneade I 7, einer Abhandlung, die das „Erste Gute“ (πρῶτον ἀγαθόν) zum Gegenstand hat. Dort erklärt Plotin unter anderem, dass all dasjenige, welches nur dadurch gut ist, dass es an dem Guten, das heißt, wie der Kontext dieser Stelle zeigt, an dem „Einen“, Anteil nimmt (μεταλαμβάνειν), in zweifacher Weise in Besitz eben dieses Guten sein könne.¹²² Zum einen, indem es dem Guten gleich geworden ist (ὁμοιῶσθαι), zum anderen, indem es sein „Tätigsein“ (ἐνέργεια) auf das Gute richtet, und zwar – so wäre logisch zu ergänzen –, um diesem gleich zu werden.¹²³ Geht man davon aus, dass der Besitz des Guten durch eine Angleichung an das, was „in schlechthinniger Weise“ (ἁπλῶς) gut beziehungsweise durch ein auf diese Angleichung ausgerichtetes Tätigsein bedingt ist, so kann man mit Lloyd P. Gerson schließen, dass [p]roximity to the One, under the aspect of the Good, is the objective criterion of moral evaluation. In so far as actions, persons, and things are susceptible to moral evaluation, they are judged to be good or bad, right or wrong, relative to each other depending on how close they are to the One. Whatever supports and produces advancement towards the first principle is positively evaluated; whatever does the opposite is nega-
121 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 7, 21–28. 122 Vgl. ebd. I 7, 11–13. 123 Vgl. ebd. Zum ὁμοιωθῆναι θεῷ, vgl. auch ebd. I 2, 1, 3f.
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tively evaluated. Everything other than the One can be judged according to whether it is made to be more of a unity and whether its activity advances it towards unity.¹²⁴
Aus der Einsicht in die Prinzipienhaftigkeit und das damit verbundene Gutsein des „Einen“ wäre daher laut der Argumentation Gersons insofern ein Wissen um ein handlungsrelevantes Kriterium zu ziehen, als sich anhand des Begriffes der Einheit und der Angleichung an diese gutes von schlechtem Handeln unterscheiden ließe.¹²⁵ Demnach kann dasjenige Handeln, welches die Angleichung des Menschen an das „Eine“ befördert, als gut, und dasjenige, welches ihn dem Einen weniger gleich werden lässt, als schlecht angesehen werden. Dass Plotin die Angleichung an das Eine in der Tat als das höchste Ziel menschlichen Handelns betrachtet, zeigt sich am Ende der die Glückseligkeit zum Gegenstand nehmenden Enneade I 4, in welcher Plotin schreibt: Zu Recht nämlich fordert auch Platon, dass derjenige, der beabsichtigt, weise und glücklich zu werden, das Gute von dort oben her nehmen und auf jenes schauen möge und dass er sich jenem angleichen und gemäß jenem leben solle.¹²⁶
Liest man diese Einlassung Plotins vor dem Hintergrund dessen, was er mit Blick auf das Prinzip zu sagen weiß, wird deutlich, dass er sich hier in der Tat in die Tradition Platons stellt. Denn ebenso wie das Gute, die höchste der von Platon angenommenen Ideen, als ein vollkommen Mangelloses zu begreifen ist, kann auch bezüglich der plotinischen Konzeption des Einen festgestellt werden, dass dieses keinerlei Mangel aufweist. Zumindest der Form nach stimmen Platon und Plotin daher darin überein, dass die Annäherung an das Erste Prinzip und damit an die εὐδαιμονία in einer Annäherung an einen Zustand der völligen Mangellosigkeit besteht.¹²⁷ Nun lässt die bisherige Darstellung der von Plotin als wesentlich für den Besitz des Guten und der Glückseligkeit betrachteten Angleichung an das „schlechthin Gute“ allerdings eine Reihe von wesentlichen Fragen offen, die im Weiteren zu erörtern sein werden. Nimmt man nämlich mit Gerson an, dass die Angleichung an das
124 Lloyd P. Gerson: Plotinus, London 1994, S. 186. 125 Gersons Meinung wird im Übrigen auch von John M. Dillon geteilt. In seinem Artikel „An Ethic for the Late Antique Sage“, in: Lloyd P. Gerson (Hrsg.): The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge 1996, S. 320, erklärt er mit Blick auf die Enneaden I 2 und I 6: „It is clear that for Plotinus any action must be evaluated primarily from the perspective of its capacity to assimilate us to the divine realm.“ 126 Plotin Enneade I 4, 16, 10–13: „Ὀρθῶς γὰρ καὶ Πλάτων ἐκεῖθεν ἄνωθεν τὸ ἀγαθὸν ἀξιοῖ λαμβάνειν καὶ πρὸς ἐκεῖνο βλέπειν τὸν μέλλοντα σοφὸν καὶ εὐδαίμονα ἔσεσθαι καὶ ἐκείνῳ ὁμοιοῦσθαι καὶ κατ΄ ἐκεῖνο ζῆν.“ Siehe zudem auch I 6, 7, 1–12; zu Platons Begriff der ὁμοίωσις θεῷ, vgl. Theaitetos 176a 5–c 3; Symposion 207–209. 127 Trotz dieser formalen Übereinstimmung fällt die inhaltliche Bestimmung der menschlichen Glückseligkeit dabei schon deswegen unterschiedlich aus, weil Platon und Plotin das Prinzip, dem es sich anzunähern gilt, in unterschiedlicher Weise auffassen.
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Eine das „objective criterion of moral evaluation“ darstellt, wären unter anderem die beiden folgenden Fragen zu stellen: (1) Woher weiß man, was es im Rahmen konkreter Handlungssituationen jeweils bedeutet, sich dem Einen anzugleichen? (2) Lässt sich dieses Kriterium in dem Sinne als ein allgemeines begreifen, dass sich anhand seiner in allen denkbaren Situationen menschlichen Handelns gutes von schlechtem Handeln unterscheiden lässt? Wie der zweite Punkt bereits andeutet, könnte man auch, die beiden angesprochenen Problemfelder zusammenfassend, fragen, inwiefern die genannte Handlungsnorm im Kontext konkreter Handlungssituationen als eine allgemeine angewendet werden kann.¹²⁸ In gewisser Weise lässt sich damit in abgewandelter Form die von Aristoteles an Platon gestellte Anfrage hinsichtlich der Anwendbarkeit allgemein gültiger ethischer Normen im Bereich des durch das Situative bestimmten menschlichen Handelns wiederholen. Denn ebenso, wie es laut Aristoteles problematisch ist, die von Platon angesetzten Ideen in ihrer Allgemeinheit im Kontext des situativen Handelns als Maßstäbe zu verwenden, erscheint es – zumindest auf den ersten Blick – ebenfalls nicht einsichtig, wie die Handlungsnorm der Angleichung an das Eine als ein solcher Maßstab dienen soll. Was die erste der eben angeführten Fragen betrifft, wäre zu untersuchen, wie die allgemein gestellte Forderung der Einheitsangleichung zum Beispiel im Kontext der Gestaltung des eigenen sozialen Lebens umgesetzt werden sollte. Gleicht man sich der Einheit mehr an, wenn man sich weitestgehend von anderen Menschen isoliert, oder ist vielmehr ein soziales Engagement gefragt, wie es Plotin selbst zugesprochen wird?¹²⁹ Und wenn die Antwort darin besteht, dass man sich dem Beispiel Plotins folgend sozial engagieren soll: Welche Handlungen sind in diesem Bereich diejenigen, die mich meinem Ziel, der Einheit, näherbringen? Der zuletzt angesprochene Punkt leitet über zu dem durch die zweite der oben genannten Fragen markierten Problemfeld.
128 Damit ist die im Sinne einer allgemein gültigen Norm formulierte plotinische Forderung, man solle „jenem [dem Einen] gemäß leben“ (I 4, 16, 13), dahin gehend befragt, was dies im Bereich des stets situativ bestimmten Handelns heißen könnte. 129 Vgl. Porphyrius Vita Plotini cap 9. Eine Reihe namhafter Interpreten wie John Dillon, Paul Plass oder Margaret R. Miles, die die plotinische Ethik vornehmlich als eine weltabgewandte, zur Weltflucht aufrufende begreifen, würden aller Wahrscheinlichkeit nach dafür plädieren, dass Plotin wohl für die erste der genannten Möglichkeiten, die Isolation, Partei nehmen würde. Vgl. dazu: John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, besonders S. 320; Paul Plass: „Plotinus’ Ethical Theory“, in: Illinois Classical Studies 7 (1982), S. 241–259, besonders S. 253 und 255; Margaret R. Miles: Plotinus on Body and Beauty, Oxford 1999, S. 124. Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, dass die helfende Zuwendung zu anderen Menschen insofern als eine Annäherung bzw. Angleichung an das Eine betrachtet werden könnte, als Plotin zufolge auch das Eine gut ist „für anderes“, nämlich für die von ihm abhängige Welt. Vgl. dazu Enneade VI 9, 6, 42.
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Fällt es doch auf, dass es einige Bereiche menschlichen Handelns gibt, bezüglich derer sich der Eindruck nahelegt, dass in ihnen das Kriterium der Einheitsangleichung kaum bis gar nicht zur Anwendung zu bringen ist. So scheint es mehr denn fraglich, ob das besagte Handlungsprinzip von Nutzen ist, wenn man sich beispielsweise als Gesetzgeber für eine Herrschaftsform in einem bestimmten Staat entscheiden und entweder der Demokratie oder der Monarchie den Vorzug geben soll.¹³⁰ Oder auch auf den Einzelnen bezogen: Kann es Umstände geben, unter denen es gerechtfertigt ist, einen sich in Gefahr Befindlichen nicht zu retten oder das eigene Land zu verraten?¹³¹ Und wie soll man sich in unterschiedlichen Situationen jeweils in einer guten Weise in Hinsicht auf seine Triebe und Affekte verhalten? Mit Blick auf diese und weitere dazu analoge Fälle wird deutlich, dass dem Handlungsprinzip der Angleichung an das Eine hinsichtlich vieler Situationen nicht unmittelbar ein Wissen bezüglich des richtigen Handelns zu entnehmen ist und sich daher die Frage nach seinem Geltungsbereich stellt.¹³² Dass sich Plotin dieser Schwierigkeiten wohl schon allein aufgrund seiner Studien der aristotelischen Ethiken bewusst war,¹³³ zeigt nicht nur der Umstand, dass er, obwohl er selbst auch eine eigene Ideenlehre konzipiert, Platon nicht darin folgt, Ideen als Maßstäbe guten und gelingenden Handelns anzusetzen.¹³⁴ Darüber hinaus
130 Wenngleich Plotins Antwort an dieser Stelle wohl eher in Richtung einer Monarchie ginge, ließen sich allein aus der Aufforderung zur Angleichung an das Eine Argumente für beide Herrschaftsformen entwickeln. 131 Vgl. zu diesen Fragestellungen Plotin Enneade VI 8, 6, 14–17. 132 Hier wird wohlgemerkt nicht behauptet, dass es unmöglich sei, das angegebene Handlungskriterium auch in derartigen Fällen anzuwenden. Es wird nur darauf hingewiesen, dass sich aus diesem Kriterium nicht unmittelbar ein für solche Situationen relevantes Wissen ergibt. 133 Für eine solche Vertrautheit Plotins mit Aristoteles’ Konzeptionen spricht sich auch Lloyd P. Gerson aus. Vgl. Plotinus, S. 187. 134 Dies mag unter Umständen auch den Besonderheiten der plotinischen Ideenkonzeption und ihren Unterschieden zu der Platons geschuldet sein. In diesem Kontext sei lediglich erwähnt, dass Plotin wohl auch Ideen von vereinzelten Gegenständen annimmt, was Platon selbst noch abgelehnt hatte. Vgl. dazu Enneade V 7. Ob hier allerdings ein Zusammenhang mit dem Fehlen einer praktischen Anwendung der Ideenlehre besteht, wäre eigens zu untersuchen. Dass Plotin auch praktische Konsequenzen aus seiner Ideenlehre gezogen habe, legt Pauliina Remes’ Argumentation in ihrem Artikel „Plotinus’s Ethics of Disinterested Interest“, in: Journal of the History of Philosophy 44 (2006), S. 1–23, besonders S. 13–17, nahe. Remes zufolge ist das plotinische Wissen um „essences and the real nature of things“ (S. 15) und die „Ordnung der Welt“ („world order“) (S. 16) in dem Sinne praxisrelevant, dass es dem Weisen, der über ein solches Wissen verfügt, ermögliche, eine bestimmte „Gelassenheit“ („serenity“) (S. 15) bezüglich der Geschehnisse in der von ihm als geordnet eingesehenen Welt zu entwickeln. Abgesehen davon, dass sich diese Zusammenhänge den Texten Plotins trotz der Vielzahl der von Pauliina Remes angeführten Zitate nur schwer entnehmen lassen, ist es zudem fraglich, ob damit wirklich ein praxisrelevantes Wissen gewonnen ist. Dies vor allem deswegen, weil das Problem der Anwendung des von Remes skizzierten allgemeinen Wissens um die Ordnung der Welt im Bereich des situativen Handelns auch in diesem Fall nicht gelöst wäre. Die Ergebnisse, zu denen Remes
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ist auffällig, dass Plotin einen für den Entwurf der aristotelischen Ethik zentralen Gedanken aufnimmt, der gerade dem Problem der Situationsgebundenheit menschlichen Handelns Rechnung trägt – den der „Tüchtigkeit“ (ἀρετή). Wie Plotin die aristotelische Konzeption der ἀρετή aufnimmt und wie mit ihrer Hilfe der oben skizzierten Herausforderung für den plotinischen Begriff der Angleichung an das Eine als dem allgemeinen Handlungskriterium begegnet werden kann, soll im nächsten Abschnitt betrachtet werden.
9.5.2 Die ἀρετή als Weg zur Angleichung an das Eine Grundsätzlich lassen sich Plotin zufolge mindestens zwei Arten oder Grade der ἀρετή unterscheiden: die „politischen Tüchtigkeiten“ (ἀρεταὶ πολιτικαί) und die „höheren Tüchtigkeiten“ (μείζονες ἀρεταί), die auch als „Reinigungen“ (καθάρσεις) bezeichnet werden.¹³⁵
9.5.2.1 Plotins Konzept der ἀρεταὶ πολιτικαί Bezüglich der ersten dieser beiden Arten von Tüchtigkeit, der politischen, führt Plotin aus, dass sie die „Begierden“ (ἐπιθυμίαι) des Menschen und die „Affekte im Allgemeinen“ (ὅλως τὰ πάθη) „begrenzen und ihnen ein Maß setzen“ (ὁρίζουσαι καὶ μετρῦσαι) und die „falschen Meinungen beseitigen“ (ψευδεῖς δόξας ἀφαιροῦσαι).¹³⁶ Benannt werden sie im Anschluss an das vierte Buch der platonischen Politeia als „Klugheit“ (φρόνησις), „Tapferkeit“ (ἀνδρεία), „Besonnenheit“ (σωφροσύνη) und „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη).¹³⁷ In ihrer Bezogenheit auf die Affekte und Begierden spielen diese Tüchtigkeiten eine wichtige Rolle für die Praxis des Menschen, sofern er als ein aus dem Körper und einer „belebenden Kraft“¹³⁸ „Zusammengesetztes“ (συναμφότερον) begriffen werden kann. Denn laut Plotin ist es nicht der (wahrhafte) Mensch, der sich
kommt, lassen eher den Schluss zu, dass der Weise, der ein Wissen um die Weltordnung eingesehen hat, sich selbst in dieser Ordnung positionieren und sich den Geschehnissen der Welt in gewisser Weise entheben kann. Wie er in dieser Welt konkreter Handlungssituationen handeln soll, weiß er damit jedoch noch nicht. 135 Zu dieser Unterscheidung, vgl. Plotin Enneade I 2, 1–3; siehe zudem Lloyd P. Gerson: Plotinus, S. 199–201; John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, besonders S. 320–325; ders.: „Plotinus, Philo and Origen on the Grades of Virtue“, in: Horst Dieter Blume/Friedhelm Mann (Hrsg.): Platonismus und Christentum, Münster 1983, S. 92–105; Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, Chicago 1946, S. 12. 136 Vgl. Plotin Enneade I 2, 2, 15–17. 137 Vgl. ebd. I, 2, 2, 17–20. 138 Wie John Dillon ausführt, unterscheidet Plotin diese Kraft von der Seele und begreift sie vielmehr nur als eine „Erleuchtung“ oder eine „Spur“ der Seele. Vgl. John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 323.
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dem Einfluss der Begierden und Affekte ausgesetzt sieht, sondern der Mensch im Sinne jenes Zusammengesetzten.¹³⁹ Dieser ist es auch, der als das Subjekt in dem Bereich der Praxis anzusehen ist, der dem Alltagsleben in dieser Welt entspricht und der als solcher durch das dem menschlichen Handeln inhärente situative Element geprägt ist.¹⁴⁰ Einem Bereich also, in dem man sich mit Fragen konfrontiert sieht, die sowohl das körperliche als auch das geistige Leben betreffen und die beispielsweise die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen oder die Erhaltung der körperlichen Gesundheit zum Gegenstand haben. Dazu, sich in derartigen Gebieten situationsabhängig richtig zu verhalten, seine Begierden und Affekte in angemessener Weise zu begrenzen, ihnen ein Maß zu setzen und sich von falschen Meinungen über das Handeln zu befreien, dazu disponieren den Menschen die ἀρεταὶ πολιτικαί. Sie sind es demnach, die es ermöglichen, in denjenigen Bereichen richtig und gut zu handeln, bezüglich derer zuvor in der zweiten der oben genannten Fragen angemerkt worden war, dass in ihnen aufgrund ihres situativen Charakters das Angleichungsprinzip möglicherweise nicht zur Anwendung kommen könnte. Und so ist es, mit Plotin gedacht, tatsächlich beispielsweise die ἀρετή der Tapferkeit – und nicht der Maßstab der Einheitsangleichung –, die den Menschen dazu befähigt, der jeweiligen Situation entsprechend angemessen zu reagieren und sein Handeln nicht einem übermäßigen Affekt zu unterwerfen.¹⁴¹ Nichtsdestotrotz steht das für Plotin übergeordnete Letztziel der Angleichung an das Eine aber auch in einem Verhältnis zu der Disposition durch die politischen Tüchtigkeiten. Dies ist dabei dadurch bestimmt, dass die ἀρεταὶ πολιτικαί als das Maß der Begierden und Affekte „dem jenseitigen Maß gleichen“ (ὡμοίωνται τῷ ἐκεῖ μέτρῳ)
139 Die Unterscheidung zwischen dem, was der Mensch wahrhaft ist, und dem Zusammengesetzten findet sich vor allem in Enneade I 4, 14, 1f. und Enneade I 1. Vgl. dazu auch John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 326; zudem Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 131. 140 Dass die ἀρεταὶ πολιτικαί dem, was man als Alltagsleben bezeichnen könnte, zuzurechnen sind, geht auch aus Paul Plass’ Ausführungen zum Anwendungsbereich dieser Tüchtigkeiten hervor. So nennt Plass u. a. „preservation of life, satisfaction of basic physical needs (health, food, drink), adequate wealth, social standarding and security, proper pleasure, political power, physical beauty“ etc. Vgl. dazu Paul Plass: „Plotinus’ Ethical Theory“, S. 245; vgl. zudem John Dillons Ausführungen zu den ἀρεταὶ πολιτικαί in „An Ethic for the Late Antique Sage“, hier besonders S. 321–324. 141 Schon Plotins Wortwahl zeigt dabei an, dass er hinsichtlich seines Konzepts der „politischen Tüchtigkeit“ von Aristoteles’ Gedanken der μετροπάθεια beeinflusst worden ist. Dass hier eine Parallele festzustellen ist, ist auch in der Forschung bereits vermerkt worden. Vgl. z. B. Pauliina Remes: „Plotinus’s Ethics of Disinterested Interest“, S. 4. Neben Aristoteles ist es aber auch vor allem Platon, der in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt. Dies lässt nicht nur der Umstand erkennen, dass Plotin bei der Benennung der Tüchtigkeiten auf Platons Politeia zurückgreift. Darüber hinaus gibt auch seine Rede davon, dass die ἀρεταὶ πολιτικαί „falsche Meinungen beseitigen“ (ψευδεῖς δόξας ἀφαιροῦσαι) einen Hinweis auf platonisches Gedankengut. Ist doch die Abwehr von solchen falschen oder lügnerischen Meinungen ein zentrales Anliegen Platons, auf den Plotin hier wohl mit Hilfe der Verwendung der besagten Terminologie anspielt.
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und so eine „Spur des jenseitigen Ersten aufweisen“ (ἔχουσιν ἴχνος τοῦ ἐκεῖ ἀρίστου). Bestimmt dieses Maß den Menschen und wird er durch dieses geordnet, ist er, so Plotin, in dem Sinne besser (ἀμείνων) geworden, dass auch er dem jenseitigen Maß angeglichen ist.¹⁴² So kann Plotin schließen: Auch wenn das Erste Prinzip als ein von allen Affekten und Begierden freies nicht über die ἀρεταὶ πολιτικαί verfügt,¹⁴³ bedeutet es für den Menschen dennoch einen Schritt in Richtung der Annäherung an das Eine, wenn er sich bemüht, in diesem Sinne tüchtig zu werden.¹⁴⁴ Obwohl also das Angleichungskriterium nicht immer einen Anhaltspunkt dafür geben mag, was in einer konkreten Situation zu tun ist, ist die Angleichung dennoch der eigentliche Grund dafür, weshalb man sich überhaupt um eine Disposition nach Art der ἀρεταὶ πολιτικαί bemühen sollte.¹⁴⁵ Ihren Wert ziehen die politischen Tüchtigkeiten für Plotin damit nicht daraus, dass sie dem Menschen eine gelingende Praxis zum Beispiel im Bereich der Alltagswelt ermöglichen, sondern daraus, dass sie ihn durch ihre ordnende und Maß setzende Wirkung dem Einen als dem obersten Ordnungsprinzip angleichen. Wer nach der Maßgabe der ἀρεταὶ πολιτικαί handelt, handelt dementsprechend nicht deswegen gut, weil er sich in einer bestimmten Situation affektmäßig angemessen und klug entscheidet und infolgedessen das Richtige tut. Seine Handlung wird vielmehr deswegen als gut einzuschätzen sein, weil er als ein durch die ἀρεταὶ πολιτικαί geordneter Mensch handelt, der dem Einen mithin mehr angeglichen ist als der in seiner Praxis von seinen Affekten bestimmte und daher ungeordnete Mensch. Vor diesem Hintergrund besehen wird deutlich: Die Angleichung an das Eine kann nicht als ein allgemein anwendbares Kriterium zur Unterscheidung von guten und schlechten Handlungen verwendet werden. Dennoch spielt sie eine zentrale Rolle für die durch das Maß der politischen Tüchtigkeit bestimmte Praxis, da sie, plotinisch gedacht, die Zielursache (causa finalis) eines solchen tüchtigen Handelns darstellt.
9.5.2.2 Die Angleichung an das Eine in konkreten Handlungssituationen Wie aber verhält es sich mit Blick auf die erste der oben genannten Fragen, die das Problem der konkreten Umsetzung der Einheitsangleichung thematisiert? Stellt sich doch in vielen Situationen die Frage, was es überhaupt heißt, sich unter den gegebenen Umständen dem Einen anzunähern. Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich im
142 Vgl. Plotin Enneade I 2. 143 Vgl. ebd. I 2, 1, 15–21; 30–32; I 2, 3, 31f. 144 Dazu, dass sich der Mensch im Allgemeinen durch den Besitz der Tüchtigkeit an das Eine angleiche, vgl. Enneade I 2, 45–51; in Hinsicht auf die politischen Tüchtigkeiten erklärt Plotin dies in I 2, 1, 23–27; I 2, 2, 12–26. 145 Dementsprechend ist die Angleichung an das Eine in diesem Zusammenhang als causa finalis des Tätigseins nach Maßgabe der ἀρετή zu bestimmen.
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Anhalt an die plotinische Konzeption der „höheren Tüchtigkeiten“, auf die nun im Folgenden eingegangen werden soll.
9.5.2.3 Die μείζονες ἀρεταί Über den politischen stehen Plotin zufolge die „höheren Tüchtigkeiten“. Diese auch als „Reinigungen“ (καθάρσεις) bezeichneten Formen oder Grade der ἀρετή stehen laut Plotin ihrem Rang nach deswegen höher als die politischen, weil sie die Angleichung an das Eine je nachdem, wie man Plotin versteht, entweder in höherem Maße oder überhaupt erst ermöglichen. Was ihre Benennung betrifft, sind sie zwar identisch mit den politischen ἀρεταί, in ihrer Eigenschaft als „höhere Tüchtigkeiten“ werden sie jedoch inhaltlich anders bestimmt.¹⁴⁶ Hinsichtlich dieser Bestimmungen fällt dabei auf, dass den Tüchtigkeiten allen gemeinsam zukommt, dass der über sie verfügende Mensch insofern „rein“ ist, als er frei ist von jeglichem Affekt.¹⁴⁷ Während also die politischen Tüchtigkeiten für eine Disposition im Sinne der Angemessenheit der Affekte sorgen und damit eine μετροπάθεια befördern, wie sie in ganz ähnlicher Weise auch von Aristoteles als erstrebenswert gedacht wird, sind die höheren Tüchtigkeiten vielmehr auf einen Zustand der ἀπάθεια ausgerichtet, der im Rahmen der stoischen Ethik als das mit der εὐδαιμονία identische Letztziel angesetzt wird.¹⁴⁸ Im Unterschied zu den Stoikern betrachtet Plotin die Affektfreiheit und die ἀρετή, die diese Freiheit konstituiert,¹⁴⁹ allerdings nicht als das höchste Ziel menschlichen
146 Zu diesen Bestimmungen, vgl. Plotin Enneade I 2, 3, 12–19. Der Umstand dieser andersartigen Bestimmung macht es sinnvoll, nicht von unterschiedlichen Tüchtigkeiten, sondern von unterschiedlichen Graden derselben zu sprechen, wie es beispielsweise John Dillon vorgeschlagen hat in: „Plotinus, Philo and Origen on the Grades of Virtue“, in: Horst-Dieter Blume/Friedhelm Mann (Hrsg.): Platonismus und Christentum: Festschrift für Heinrich Dörrie, (= Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 10), Münster 1983, S. 92–105. 147 Mit Blick auf die höheren Tüchtigkeiten ist dabei zwischen zwei Phasen zu unterscheiden, der ihrer Unvollkommenheit und der ihrer Vollkommenheit. Auf den Punkt bringt dies Bruno Switalski, indem er schreibt: „In general, [the higher virtues’] (...) office is to cleanse the soul, to free it from the sensible world and to make it more similar to God. According as the process of purification is present or already completed, so must two phases of the purifying virtues be considered: the imperfect and the perfect. Consequently, the perfect, the higher of the two, is not the purification itself but its result. The purifying virtue in its stage of imperfection is supposed to produce a total liberation of the soul from the sensible element, so that first of all the soul may act of itself independently of the body (...). As was said before, the purifying virtue in its stage of perfection is not the purification itself but its result. Its effect is this: the soul, detached from the whole sensible element, free from all feelings, becomes enclosed in itself and returns to the contemplation of the world of ideas (...).“ Vgl. Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, S. 13 und die dort angegebenen Verweisstellen bei Plotin. 148 Vgl. John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 320; Pauliina Remes: „Plotinus’s Ethics of Disinterested Interest“, S. 4. 149 Vgl. dazu Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis,
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Strebens,¹⁵⁰ sondern als ein Mittel zur Erreichung des eigentlichen Letztzieles – der Angleichung an das Eine. Wie aber ist diese Angleichung durch ein Tätigsein nach den höheren Tüchtigkeiten zu erreichen? Wie steht die Reinigung von den Affekten in Zusammenhang mit der Verwirklichung des Letztzieles? Den Kern der Antwort auf diese auch von Plotin selbst gestellten Fragen¹⁵¹ bildet der Gedanke, dass es die Reinigung von den Affekten dem Menschen ermöglicht, zu seinem „(wahren) Selbst“ (ὁ αὐτός) zu gelangen. Anders als das „Zusammengesetzte“ ist der zu seinem Selbst gekommene Mensch aufgrund seiner Freiheit von der Herrschaft der Affekte und Begierden in besonderer Weise dazu imstande, denkend tätig zu sein¹⁵² und sich dadurch dem Einen anzunähern.¹⁵³ Lloyd P. Gerson merkt dazu an: „The composite of body and soul does not think, even if all psychic activities other than the highest form of thinking cannot be done without a body.“¹⁵⁴ Und ein paar Zeilen weiter schreibt er: Those elementary activities, such as digestion, that normally occur below the threshold of consciousness, may be said to have as their agent the composite itself. For the rest, especially cognitive activities, the agent is other than the composite, even though these activities may not occur apart from the composite.¹⁵⁵
Dasjenige, welches für die „cognitive activities“ zuständig ist, so Gerson weiter, ist das gereinigte Selbst, das Gerson auch als das „ideal self“ bezeichnet.¹⁵⁶ Inwiefern aber, wäre in einem nächsten Schritt zu fragen, ist das denkerische Tätigsein des gereinigten Selbst förderlich für die Annäherung an das Eine, wie es Plotin in Enneade I 2, 3, 20–22 behauptet? Worauf der plotinische Gedankengang an diesem Punkt abzielt, wird deutlich, wenn man in Betracht nimmt, um was für eine Form des Denkens es sich handelt, durch welche sich die Angleichung an das Eine ergibt. So erklärt Plotin im weiteren Verlauf der eben zitierten Passage, dass das Göttliche ebenfalls rein und sein Tätigsein auch ein solches – hier ist zu ergänzen: „Denken“ (νοεῖν)¹⁵⁷ – sei (καὶ ἡ ἐνέργεια τοιαύτη),¹⁵⁸ so dass das es Nachahmende über
(Reihe: Geschichte der Philosophie, Bd. 3), München 1995, S. 53–58. 150 Vgl. Plotin Enneade I 8, 6, 19. 151 Vgl. ebd. I 2, 3, 12f. 152 Zum Unterschied zwischen dem „Selbst“ und dem „Zusammengesetzten“ vgl. Plotin Enneade II 3, 9, 30f.; vgl. überdies John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 327: „The only proper thing to be done about the composite is to purify it, or rather to seperate our true selves from it.“ 153 Vgl. Plotin Enneade I 2, 3, 20–22. 154 Lloyd P. Gerson: Plotinus, S. 140. 155 Lloyd P. Gerson: Plotinus, S. 140. 156 Vgl. ebd. S. 141. 157 Dass es sich bei der angegebenen ἐνέργεια um das Denken handelt, geht aus dem vorhergehenden Satz hervor. 158 Vgl. Plotin Enneade I 2, 3, 20–22.
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die ἀρετή der „Klugheit“ verfüge.¹⁵⁹ Um was für ein Göttliches handelt es sich hier jedoch, das von dem denkenden reinen Menschen nachgeahmt wird? Wie der nachfolgende Absatz verdeutlicht, ist es laut Plotin nicht das Eine, welchem man sich durch die Tätigkeit des Denkens anzugleichen vermag, da dieses in überhaupt keinem Zustand vorliegt und mithin auch nicht denkt.¹⁶⁰ Die Stufe des Göttlichen, die durch das Denken zu erreichen ist, ist vielmehr die des νοῦς;¹⁶¹ eines Denkens also, das in seiner Selbstreflexion bei sich selbst und bei allem Seienden ist und das als solches (fast) vollkommen einheitlich ist.¹⁶² Dieser Form des Denkens nun soll sich der Mensch annähern, indem er sich mit Hilfe der höheren Tüchtigkeiten in dem Sinne reinigt, dass er zu einem nicht durch die Affekte und Begierden behinderten und insofern reinen Denken des Denkens gelangt. Gelingt ihm das νοῦςWerden, so ist er, wie Plotin schreibt, „(...) nur Gott; Gott aber wie einer von denen, die nach dem Ersten kommen“¹⁶³. Bevor der Frage nachgegangen wird, wieso Plotin der νοῦς-Werdung einen so hohen Stellenwert einräumt und ob er darüber hinaus noch weitere Möglichkeiten der Angleichung an das Eine sieht, soll vor dem Hintergrund des eben Ausgeführten nun zunächst nochmals auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels eingegangen werden. Diese hatte das Problem aufgeworfen, dass es nicht klar ist, wie die Forderung der Angleichung an das Eine in konkreten Handlungssituationen umgesetzt werden soll. In Anbetracht des bislang Erörterten wird man annehmen dürfen, dass Plotins Antwort auf diese Frage in etwa folgendermaßen ausfällt: Der Mensch sollte versu-
159 Vgl. ebd. I 2, 3, 22f. 160 Vgl. ebd. I 2, 3, 23f. 161 Vgl. ebd. I 2, 3, 25–32; zudem Lloyd P. Gerson: Plotinus, S. 201: „All of the higher virtues are specifications or facets of the process of orientation towards intellect.“ Siehe auch die von Gerson angegebene Verweisstelle auf Plotin Enneade I 8, 6, 21–28. 162 An dieser Stelle ist auf einen wesentlichen Unterschied zwischen der aristotelischen und der plotinischen Konzeption des νοῦς hinzuweisen. Während der νοῦς, wie er von Aristoteles entworfen wird, nur sich selbst denkt, ist er im Begriff Plotins in seinem Selbstbezug auch bezogen auf alles Seiende im strengen Sinn des Wortes, das heißt auf die Gesamtheit der Ideen. Jens Halfwassen bringt diese Besonderheit der plotinischen νοῦς-Konzeption auf den Punkt, wenn er schreibt: „In seinem Denken weiß der Geist sich selbst als die Identität von Denken und Sein. Diese Identität ist keine punktuelle Identität, in der der Geist nur seine eigene Existenz erkennt, sondern die vollständige Selbsterkenntnis seines Wesens. Der Geist weiß sich darin auch nicht als ein Seiendes unter anderem Seienden, sondern er weiß sich selbst als die gesamte Fülle des Seins, außer der nichts seiend im eigentlichen Sinne ist. Es gibt darum auch nichts, das der Geist nicht wüsste, wenn er um sich selbst weiß. Sein Sich-Wissen ist das vollkommene Sich-selbst-Durchsichtigsein des Seins als der Totalität aller Ideen.“ Vgl. Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 59; vgl. zudem unter anderem auch Plotin Enneade VI 7, 14 und Enneade V 9, 8. 163 Plotin Enneade I 2, 6, 7: „(...) θεὸς μόνον, θεὸς δὲ τῶν ἑπομένων τῷ πρώτῳ.“ Auch diese Stelle verdeutlicht, dass es dem Menschen auf dem Weg der Reinigung und des Denkens „lediglich“ möglich ist, die Göttlichkeitsstufe des νοῦς zu erreichen, nicht aber darüber hinaus bis zur vollkommenen Angleichung an das Eine zu kommen.
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chen, die Einheitsangleichung so umzusetzen, dass er nach der Maßgabe der höheren Tüchtigkeiten lebt. Sich dem Einen anzugleichen, heißt demnach, sein Streben auf die Reinigung durch die höheren Tüchtigkeiten auszurichten und anschließend auch im Zustand der erfolgten κάθαρσις ein Leben gemäß der μείζονες ἀρεταί zu führen. Schaut man an dieser Stelle etwas genauer hin, lässt sich nun feststellen, dass es damit nicht die Angleichung an das Eine, sondern die höhere Tüchtigkeit ist, die jeweils das Kriterium darstellt, anhand dessen in einer bestimmten Situation gutes von schlechtem Handeln zu unterscheiden ist. Was jeweils zu tun ist, wie also die Reinigung und das daran anschließende Tätigsein konkret vor sich gehen sollen, dies ist nach Plotin durch das Maß der höheren Tüchtigkeiten bestimmt. Folglich ist die Angleichung an das Prinzip in diesem Zusammenhang nicht als ein in den jeweiligen Situationen anwendbares Handlungskriterium, sondern – wie schon im Fall der politischen Tüchtigkeiten – als der Zielpunkt guten Handelns zu verstehen. So gesehen kann die Einheitsangleichung nur als ein Orientierungspunkt im Sinne eines Letztzieles dienen, im Anhalt an welches allgemein festzustellen ist: Es gilt, sich dem Einen anzugleichen. Wie jedoch die Verwirklichung dieses Zieles konkret zu erreichen ist, lässt sich nicht aufgrund des Wissens um das angegebene Letztziel ermitteln.¹⁶⁴ Dafür sind vielmehr die höheren Tüchtigkeiten zuständig; disponieren sie den Menschen doch dazu, eine bestimmte Form der Praxis zu vollziehen, die es ihm erst ermöglicht, das Letztziel zu erreichen. Für Plotin ist dies die Praxis des νοῦς – die θεωρία. Dass Plotin der νοῦς-Werdung einen so hohen Stellenwert einräumt, ist leichter zu verstehen, wenn man sich nochmals vergegenwärtigt, welche Eigenschaften er dem νοῦς zuschreibt. Denn wenngleich er im Rahmen seiner Aristoteleskritik darum
164 Infolgedessen ist Werner Beierwaltes’ Ausführungen in „Das Eine als Norm des Lebens. Zum metaphysischen Grund neuplatonischer Lebensform“, in: Theo Kobusch/Michael Erler (Hrsg.): Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens. Akten des Internationalen Kongresses vom 13.–17. März 2001 in Würzburg, München 2002, S. 121–151, nur bedingt zuzustimmen. Beierwaltes zufolge ist das Eine als das „absolut Maß-Gebende (…) zugleich dasjenige, an dem der Mensch für sein bewußtes Leben Maß nimmt“ (S. 128, Hervorhebung des Autors). Was die konkrete Ausgestaltung dieses Maßnehmens betrifft, so ist dieses in der Darstellung Beierwaltes’ allerdings auf ein „Denken des Einen“ beschränkt, das einen „das Leben insgesamt bestimmend prägende[n] Prozess“ darstelle (S. 128). Auch wenn man Beierwaltes in diesem Zusammenhang insofern Recht geben mag, als die Erkenntnis des „ontologischen Rückbezug[s] des vielheitlichen Seienden auf das Eine als Grund und Ursache“ ein wesentliches Element plotinischen Denkens ausmacht, wird man doch – und zwar auch hinsichtlich der weiteren Ausführungen Beierwaltes’ – anmerken müssen, dass damit eine bloß formale und damit für die stets situativ umzusetzende Praxis nicht als allgemeine Norm verwertbare Bestimmung gegeben ist. So kann das Denken des Einen, wie es von Beierwaltes verstanden wird, möglicherweise als eine Maßgabe des geistigen Tätigseins und vielleicht als die höchste causa finalis menschlichen Tätigseins angesehen werden. Als eine im Bereich menschlicher Praxis universal anwendbare Norm wird diese Form des Denkens, wie das bisher hier Ausgeführte zeigt, jedoch nicht dienen können.
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bemüht ist aufzuzeigen, dass der νοῦς aufgrund seiner Vielheitlichkeit nicht als das Erste Prinzip betrachtet werden kann, gesteht Plotin ihm gleichzeitig immerhin den zweithöchsten Rang nach dem Einen zu.¹⁶⁵ So bezeichnet er ihn, wie bereits angeführt worden ist, als ein „Abbild“ (εἰκών) des Einen, welches in gewisser Weise sogar identisch ist mit jenem.¹⁶⁶ Als solches, so Plotin weiter, bewahrt der νοῦς vieles von dem Einen und weist eine Gleichheit in Bezug auf es auf.¹⁶⁷ Begründet ist der hohe Rang des Denkens dabei dadurch, dass es das am wenigsten Vielheitliche unter dem Seienden darstellt, da es in seiner selbstreflexiven Form nur insofern in einer Vielheit vorliegt, als es sowohl Denkendes wie auch Gedachtes ist. Dementsprechend bezeichnet Plotin diese Form des Denkens im Anschluss an seine Interpretation des platonischen Parmenides auch als „Eines Vieles“ (ἓν πολλά).¹⁶⁸ Ist nun der Mensch nach Art der ἐνέργεια des νοῦς tätig, indem er, gereinigt von den Affekten und Begierden, ein Denken vollzieht, das auf sich selbst und damit gleichzeitig auf alles Seiende bezogen ist, nähert er sich der für das Vielheitliche höchstmöglichen Form der Einheit an.¹⁶⁹ Dass ihm selbst dieser Aufstieg zum νοῦς-förmigen Denken mehrfach gelungen sei, berichtet Plotin in Enneade IV 8, in der es heißt: Oft, da ich aus dem Körper zu mir selbst aufgeweckt worden bin und äußerlich geworden bin für alles andere, mir selbst aber innerlich, sehe ich eine staunenerregende und wundervolle Schönheit und glaube, dann am meisten ein Teil des höheren Bereichs zu sein, indem ich das beste Leben verwirkliche und mit dem Göttlichen gleich geworden bin (…).¹⁷⁰
Diese Schilderung, die, wie Dominic O’Meara bemerkt, oft fälschlicherweise als eine Beschreibung der Einswerdung mit dem Einen angesehen wird,¹⁷¹ zeigt, wie hoch Plotin die νοῦς-Werdung einschätzt. Durch sie wird das beste Leben verwirklicht und die als das Letztziel des menschlichen Strebens angesetzte Gleichwerdung mit dem Gott erreicht.
165 Vgl. Plotin Enneade V 1, 6, 40f. 166 Dies erläuternd schreibt Jens Halfwassen: „‚Der Geist ist Bild des Einen‘ meint also: Er ist als Repräsentation des absolut einfachen, über Sein und Denken erhabenen Einen selbst das zweite Eine, das seiende, durch sein Sein in die Vielheit entfaltete und in die Denkbarkeit herausgetretene Eine gemäß der zweiten Hypothese des Platonischen „Parmenides“. Das überseiende Eine selbst, das Eine einfachhin, manifestiert sich in ihm, ohne als Es selbst in ihm anwesend zu sein. Das seiende Eine aber verweist durch seinen Charakter als Einheit über sich selbst hinaus auf das seiende Übereine, das absolut einfache Eine selbst (…).“ Vgl. Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 137. 167 Vgl. Plotin Enneade V 1, 7, 1–4. 168 Vgl. ebd. V 1, 8, 23–26. 169 Im Fall der Einswerdung der Seele mit dem νοῦς spricht Plotin auch von einer ἕνωσις. Vgl. dazu ebd. IV 4, 2, 26. 170 Ebd. IV 8, 1, 1–5: „Πολλάκις ἐγειρόμενος εἰς ἐμαυτὸν ἐκ τοῦ σώματος καὶ γινόμενος τῶν μὲν ἄλλων ἔξω͵ ἐμαυτοῦ δὲ εἴσω͵ θαυμαστὸν ἡλίκον ὁρῶν κάλλος͵ καὶ τῆς κρείττονος μοίρας πιστεύσας τότε μάλιστα εἶναι͵ ζωήν τε ἀρίστην ἐνεργήσας καὶ τῷ θείῳ εἰς ταὐτὸν γεγενημένος.“ 171 Vgl. Dominic J. O’Meara: Plotinus, S. 104f.
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Plotin – das „Eine“ als Prinzip
Ist nun aber, wäre in diesem Zusammenhang zu fragen, mit der Angleichung an den νοῦς wirklich schon das höchstmögliche Ziel des Menschen verwirklicht oder kann darüber hinaus nicht vielleicht sogar ein Einswerden mit dem Einen selbst erreicht werden?
9.6 Die „Einung mit dem Einen“¹⁷² – das wahre Letztziel des Strebens? Den Eindruck, dass eine solche Möglichkeit bestehe und der Mensch tatsächlich imstande sei, über die Einswerdung mit dem νοῦς (ἕνωσις) hinaus eines mit dem Ersten Prinzip selbst zu werden, legen einige Stellen in Plotins Werk nahe.¹⁷³ Charakteristisch für diese Einung,¹⁷⁴ die von einigen Interpreten dem Bereich der Mystik zugeordnet wird,¹⁷⁵ ist, dass sie – wie auch die νοῦς-Werdung – durch eine Form des Erkennens erreicht wird. Im Unterschied zum „‚normalen‘ Sehen oder Schauen“ und zur Betrachtung des νοῦς sei allerdings der „absolute Akt des Sehens“ des Einen dadurch gekennzeichnet, dass er nicht auf dem Unterschied zwischen einem Sehenden und einem Gesehenen basiere.¹⁷⁶ „(…) [I]m Sehen des Einen“, so Werner Beierwaltes, „[soll] die Distanz gerade aufgehoben sein: Das „einende“ Sehen ist als ein absolutes Sehen oder als ein nicht mehr gegenständlich sehendes Aufgehen im Absoluten zu fassen. Diese andere ‚Art des Sehens‘¹⁷⁷ hat die Erhebung in die Differenzlosigkeit zur Konsequenz.“¹⁷⁸ Plotin zitierend fährt Beierwaltes fort: „[E]s ist nichts zwischen ihnen, sie sind nicht mehr Zwei, sondern beide sind Eins; du kannst sie auch nicht mehr trennen, solange es oder er (das Eine) gegenwärtig ist.“¹⁷⁹ Für die im Sehen vollzogene Einung mit dem Einen ergibt sich daraus, dass wir, wie Jens Halfwassen ausführt, dann „(…) der Gegenwart des Absoluten inne [werden], wenn wir in die ununterschiedene Einheit, die der Grund unseres Denkens ist, so zurückkehren,
172 Vgl. Werner Beierwaltes: Denken des Einen: Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt 1985, S. 123. 173 Vgl. vor allem Plotin Enneade VI 9, 8–11. 174 Auf Enneade VI 9, 9, 34 verweisend erklärt Werner Beierwaltes, dass Plotin in diesem Zusammenhang den Begriff des ἑνωθῆναι verwende. Vgl. dazu Werner Beierwaltes: Denken des Einen, S. 123, Anm. 1. 175 So u. a. von Werner Beierwaltes in Denken des Einen, S. 123ff.; ders.: „Reflexion und Einung. Zur Mystik Plotins“, in: Werner Beierwaltes/Hans Urs von Balthasar/Alois M. Haas: Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, S. 9–36; dass Plotin ein „Mystiker“ (mystic) gewesen sei, behauptet u. a. auch Kieran MacGroarty in: „Does the Mystic Care? The Ethical Theory of Plotinus“, in: Maynooth University Record (2000), S. 11–14, hier S. 11. 176 Vgl. Werner Beierwaltes in Denken des Einen, S. 137. 177 Hier verweist Beierwaltes auf Plotin Enneade VI 9, 11, 22f. 178 Werner Beierwaltes: Denken des Einen, S. 137. 179 Vgl. ebd. mit einem Verweis auf Plotin Enneade VI 7, 34, 13f.
Die „Einung mit dem Einen“ – das wahre Letztziel des Strebens?
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dass wir in keiner Weise aus der Einheit heraustreten, wie dies schon dann geschieht, wenn wir sie als Einheit denkend zu thematisieren versuchen: ‚Entschließt sich aber die Seele, sich rein für sich allein auf die Schau des Einen zu richten, dann schaut sie Es, indem sie mit Ihm zusammen und Eines ist, und eben weil sie dann mit Ihm Eines ist, glaubt sie noch gar nicht zu haben, was sie sucht, weil sie von dem, was sie denkt, selber nicht unterschieden ist‘“¹⁸⁰. Dass Plotin tatsächlich von einer solchen Möglichkeit der Einung mit dem Einen ausgehe, wird vielfach und – wie gesehen – auch von namhaften Plotin-Forschern vertreten. Nichtsdestotrotz lassen sich einige Anfragen an diese Position stellen, von denen hier nur zwei herausgegriffen werden sollen.¹⁸¹ Die erste bezieht sich auf das Wissen, das sich aus beziehungsweise über die Einung gewinnen lässt; die zweite auf den Verbleib desjenigen, der die Einung vollzieht. Geht man mit Plotin davon aus, dass das Eine jenseits des (Bestimmt-)Seins (ἐπέκεινα οὐσίαs) und „jenseits des Denkens und des Denkaktes“ (ἐπέκεινα νοῦ καὶ νοήσεως) liegt, stellt sich die nun schon mehrfach angesprochene Frage, wie ein Denken des Einen möglich sein kann, das über die Einsicht in die Notwendigkeit der Voraussetzung des Prinzips hinausgehen soll. Gerade um ein solches Denken und Erkennen jedoch scheint es sich bei derjenigen „Schau“ (θέα)¹⁸² zu handeln, die im Kontext der Einswerdung mit dem Einen angestrebt wird; besteht diese doch in einem unmittelbaren Kontakt, in einem „Berühren“ (θιγγάνειν)¹⁸³ des Einen und in einer Anwesenheit (παρουσία)¹⁸⁴ bei ihm. Um den Gedanken an ein noetisches, Unterschiedenheit voraussetzendes Denken des Einen auszuschließen und den in einem solchen Fall offensichtlich auftretenden Widerspruch zu vermeiden, betonen die Interpreten, die sich für die Möglichkeit einer Einung aussprechen, dass es sich bei der Schau des Einen um eine gänzlich andere Art des Sehens und Erkennens handele. „Die Erfahrung der Einheit mit dem Absoluten“, so Jens Halfwassen, sei gerade kein „bewußter Akt, in dem uns das Absolute thematisch bewußt würde, sondern bleibt als die Rücknahme der alles thematische Bewußtsein bestimmenden Intentionalität in die jedem Unterschied vorgängige Einheit vorbewußt“¹⁸⁵. Gleichzeitig jedoch, betont Halfwassen, handele es sich aber auch nicht um eine unbewusste Erfahrung.¹⁸⁶ Sie
180 Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 56; das Zitat stammt aus Plotin Enneade VI 9, 3, 10–13. 181 Eine tiefergehende Erörterung dieser Thematik würde den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem überschreiten. Sie ist auch für das, was hier gezeigt werden soll, nicht notwendig, weshalb es bei der angesprochenen Beschränkung bleiben soll. 182 Vgl. z. B. Plotin Enneade VI 9, 11, 30. 183 Vgl. ebd. VI 9, 7, 4f. 184 Vgl. ebd. VI 9, 4, 1–10. 185 Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 56. 186 Vgl. ebd.
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sei „nicht weniger, sondern mehr als alles Bewußtsein“¹⁸⁷. Damit übereinstimmend erklärt Werner Beierwaltes, dass „(…) die Ekstasis [als der „absolute Akt des Sehens und des Einswerdens“¹⁸⁸] trotz der Funktionslosigkeit diskursiven Denkens in ihr dennoch nicht einen Zustand totaler Bewußtlosigkeit meinen kann: In der Einung ‚sieht die Seele den Gott und sich selbst‘ als Einheit, sie ‚empfindet‘ sich als mit dem Einen geeint, sie ‚sieht sich‘ als einen, der zugleich im Einen und in sich selbst oder im Einen in sich selbst ist“¹⁸⁹. Fragt man sich nun, worin der Inhalt dieser unbewussten und gleichzeitig doch bewussten Erfahrung bestehen soll, was da also erfahren wird, erhält man von den genannten Interpreten als Antwort darauf nur entweder Verweise auf schwer zu deutende Stellen bei Plotin, die selbst nicht weiter erklärt werden,¹⁹⁰ oder aber rein formale und mithin inhaltslose Auskünfte.¹⁹¹ Ein Beispiel für eine solche formale Auskunft gibt Halfwassen, wenn er schreibt, dass es sich bei der besagten Erfahrung um ein Erwachen handele, das „ewig Erwachen und (…) und nie ein Wachsein“ [sei];¹⁹² „(…) ein reines Übergehen, das nicht mehr von etwas zu etwas übergeht wie vom Schlaf zum Wachsein, sondern ein bloßes Aufgehen, in dem nicht mehr etwas aufgeht, das dann thematisch bewußt wird, so dass der Erwachende auch nicht zum Bewußtsein seiner selbst kommt, sondern im Erwachen selbst aufgehend über sich hinausgeht.“¹⁹³ Darüber hinaus ist das Wissen, das sich nach der Darstellung der Forscher aus der Schau ziehen lässt, dadurch gekennzeichnet, dass es auf das Eine als den Urgrund des Denkens verweist.¹⁹⁴ Genau genommen ist damit jedoch kein Wissen bezüglich des Prinzips, wie es an sich selbst ist, gewonnen, sondern „nur“ eines hinsichtlich der Notwendigkeit seiner Voraussetzung.
187 Ebd. 188 Werner Beierwaltes: Denken des Einen, S. 140. 189 Ebd. S. 143f. mit einem Verweis auf Plotin Enneade VI 9, 9, 56; 10, 10ff.; 11, 43. 190 Wie eben gesehen gibt Werner Beierwaltes als Begründung dafür, dass die Ekstasis nicht einen Zustand der totalen Bewusstlosigkeit meinen könne, lediglich ein Zitat aus Enneade VI 9, 9, 56 an. Er erläutert dabei allerdings nicht, was es bedeuten soll, wenn Plotin schreibt, dass „die Seele den Gott und sich selbst“ als Einheit sieht und sich mit dem Einen als geeint „empfindet“. Vgl. Werner Beierwaltes: Denken des Einen, S. 143. 191 Auf das Problem der Kommunikabilität der von Beierwaltes als mystische Erfahrung charakterisierten Schau des Einen weist er selbst hin in „Reflexion und Einung. Zur Mystik Plotins“, S. 31. 192 Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 56. 193 Ebd. 194 Vgl. ebd.: „Die Selbsterfassung der Einheit des Denkens in der intellektuellen Anschauung schließt das Wissen ein, daß es der Vorgriff auf die differenzlose reine Einheit, auf das absolut Eine ist, der das Denken als Einheit erst ermöglicht: ‚Wer sich selbst kennt, weiß auch sein Woher‘ (VI 9, 7, 33), ‚denn indem er sich seinem Selbst zuwendet, wendet er sich zu seinem Urgrund hin‘ (VI 9, 2, 35f.). Die Voraussetzung, um die Gegenwart des Einen zu erfahren, ist die Rücknahme der Intentionalität des Denkens und Sehens in jene ursprünglichste Einheit im Denken, die alles Denken erst ermöglicht, selbst aber kein Denken mehr ist, sondern dessen Grund.“
Die „Einung mit dem Einen“ – das wahre Letztziel des Strebens?
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Dafür, dass sich aus der angenommenen Anwesenheit beim Ersten Prinzip kein kommunikables Wissen um dieses, wie es an sich selbst ist, und auch keines um die Anwesenheit bei ihm ziehen lässt, lassen sich dem Werk Plotins einige Belegstellen entnehmen. In Enneade VI 9, 10, 13–17 heißt es beispielsweise: Das Gesehene aber (wenn es überhaupt nötig ist, sie zwei zu nennen, das Sehende und das Gesehene und nicht beide eines) – verwegen ist nämlich die Rede davon – sieht der Sehende dann nicht, noch unterscheidet er es und nicht zeigen sich zwei (οὐκ φαντάζεται δύο). Vielmehr ist er gleichsam ein anderer geworden und nicht er selbst, nicht mehr ist er sein eigen, er gehört nach dort und zu jenem und er ist eines, so wie ein Mittelpunkt einen Mittelpunkt berührt.¹⁹⁵
Und in der bereits zitierten Stelle aus Enneade VI 9, 3, 10–13 führt Plotin aus: Entschließt sich aber die Seele, sich rein für sich allein auf die Schau des Einen zu richten, dann schaut sie Es, indem sie mit Ihm zusammen und Eines ist, und eben weil sie dann mit Ihm Eines ist, glaubt sie noch gar nicht zu haben, was sie sucht, weil sie von dem, was sie denkt, selber nicht unterschieden ist.¹⁹⁶
Für die Schau ergibt sich nach Plotin daraus, dass sie infolge der besagten Ununterschiedenheit „unaussprechlich“ (δύσφραστον) ist¹⁹⁷ und das, was man über sie sagen kann, bloß „dunkle Andeutungen“ (αἰνίγματα) sind.¹⁹⁸ Dass die θέα des Einen, was sie selbst und was ihren „Gegenstand“ betrifft, letztlich auskunftslos bleibt, lässt selbstverständlich nicht unmittelbar den Schluss zu, dass Plotin selbst gar nicht davon ausging, dass eine derartige Schau möglich sei und er daher die νοῦς-Werdung als die höchstmögliche Stufe des menschlichen Aufstiegs zum Einen ansetzte. Vorstellbar ist zum Beispiel, dass er die Einung mit dem Einen als Ziel annahm, jedoch entweder nicht imstande war, diesen Vorgang kommunikabel darzustellen, oder aber keine Notwendigkeit sah, dies zu tun. In jedem Fall ergibt sich aus der Inkommunikabilität der Einung jedoch eine Schwierigkeit für die plotinische Konzeption der Angleichung an das Eine als dem Letztziel menschlichen Strebens.¹⁹⁹ Interpretiert man nämlich die Aufforderung der Angleichung im Sinne des Einswerdens mit dem Einen – und nicht „nur“ mit dem νοῦς – so stellt sich folgendes Problem: Die Tätigkeit, durch welche sich die Anglei-
195 Plotin Enneade VI 9, 10, 13–17: „(…) τὸ δὲ ὀφθέν͵ εἴπερ δεῖ δύο ταῦτα λέγειν͵ τό τε ὁρῶν καὶ ὁρώμενον͵ ἀλλὰ μὴ ἓν ἄμφω· τολμηρὸς μὲν ὁ λόγος. Τότε μὲν οὖν οὔτε ὁρᾷ οὐδὲ διακρίνει ὁ ὁρῶν οὐδὲ φαντάζεται δύο͵ ἀλλ΄ οἷον ἄλλος γενόμενος καὶ οὐκ αὐτὸς οὐδ΄ αὑτοῦ συντελεῖ ἐκεῖ͵ κἀκείνου γενόμενος ἕν ἐστιν ὥσπερ κέντρῳ κέντρον συνάψας.“ 196 Ebd. VI 9, 3, 10–13: „Καθ΄ ἑαυτὴν δὲ ἡ ψυχὴ ὅταν ἰδεῖν ἐθέλῃ͵ μόνον ὁρῶσα τῷ συνεῖναι καὶ ἓν οὖσα τῷ ἓν εἶναι αὐτῷ οὐκ οἴεταί πω ἔχειν ὃ ζητεῖ͵ ὅτι τοῦ νοουμένου μὴ ἕτερόν ἐστιν.“ Hier in der Übersetzung von Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 56. 197 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 10, 20. 198 Vgl. ebd. 11, 28–30; vgl. dazu auch Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 58. 199 Dies gilt selbstverständlich nur dann, wenn man Plotin so interpretiert, dass er die Einung mit dem Ersten Prinzip als das höchste Ziel betrachtet.
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chung vollziehen und das Letztziel des Strebens verwirklicht werden soll, die sogenannte „Schau“, bliebe ihrem Inhalt nach unbestimmt und nur formal oder aber rein negativ als ein „Nicht-am-Unterschied“ oder ein „Nicht-diskursiv-Erkennen“ fassbar. Als äußerst missliche Konsequenz ergäbe sich daraus, dass Plotin nicht in der Lage wäre, diejenige Tätigkeit inhaltlich positiv zu bestimmen, durch welche sich das Letztziel allen Strebens verwirklicht.²⁰⁰ Aristoteles’ Kritik an Platons Konzeption der Idee des Guten aufnehmend ließe sich daher auch formulieren, dass Plotin im beschriebenen Fall nicht in der Lage wäre, ein für den Menschen verwirklichbares Gut anzugeben, da er keine Form der Praxis angeben könnte, durch welche sich das Letztziel verwirklichen ließe. Eine weitere Schwierigkeit, die sich im Anhalt an den Gedanken der Unerkennbarkeit des Einen ergibt und die eng mit der eben diskutierten Problematik der Inkommunikabilität der Einung verbunden ist, lässt sich folgendermaßen beschreiben. Wenn das Erste Prinzip an sich selbst vollkommen unbestimmbar und daher unerkennbar ist, kann die Angleichung an dieses streng genommen auch nicht als das höchste Ziel angesehen werden.²⁰¹ Wie nämlich sollte man etwas erstreben – hier das vollkommene Einssein, das sich durch die Einung mit dem Einen einstellt –, wenn man nicht weiß, wie das Erstrebte inhaltlich zu bestimmen ist? So wäre zu fragen, was es überhaupt bedeutet, „eines zu sein“ und wie dieser „Zustand“ seinem Inhalt nach bestimmt werden kann. Beantwortet man diese Frage nur mit Hilfe negativer Formulierungen, indem man den besagten Zustand als ein „Nicht-vielheitlich-“ oder ein „Nicht-mangelhaft-Sein“ bestimmt, oder aber in einer rein formalen Weise, so bleibt das Problem bestehen, dass man gar nicht weiß, welches Ziel man als das Letztziel erstrebt. Auch an dieser Stelle wäre demnach mit Aristoteles einzuwenden, dass man mit der Einswerdung mit dem Einen kein für den Menschen verwirklichbares Letztziel benannt hätte. Die zweite der oben erwähnten Anfragen thematisiert eine Schwierigkeit, die auch Dominic J. O’Meara mit Blick auf den Gedanken der Einung mit dem Einen anspricht. Geht man von der Möglichkeit der Einung mit dem Prinzip aus, stellt sich die Frage, wie der sich Einende als er selbst in diesem Prozess noch bestehen bleiben soll. O’Meara formuliert in diesem Zusammenhang: The Union with the One raises a number of difficult questions, particularly if we wish to compare it with various types of religious mystical experience. As compared for example with the experience of Christian mystics, union with the One might be thought to entail annihilation of the self, whereas in the Christian version the distinction between creator and creature must remain, whatever the intensity of the experience of unification. If such issues merit a much more extensive discussion than can be
200 Darüber hinaus sähe man sich mit dem Problem konfrontiert, dass man auch im Fall des Vollzugs der Schau nicht wissen könnte, dass man sie vollzogen hat. 201 Eine Gegenposition vertritt in diesem Zusammenhang Werner Beierwaltes in „Das Eine als Norm des Lebens“, S. 121–151, hier insbesondere Anm. 11, S. 126.
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attempted here, it might at least be noted that Plotinus himself does not think that the total union of the self with the one entails the annihilation of the self (see VI. 7. 34).²⁰²
Die in diesem Zusammenhang vorgetragene These, dass der Vollzug der Schau, verstanden als ein „Sich-Ineinanderfügen oder Berühren der Mittelpunkte“, nicht impliziere, „(…) daß die Individualität oder das Selbst des Sehenden als solche total ausgelöscht würde (…)“, dass sie „(…) vielmehr in die Einheit mit dem Einen oder dem Gotte in einem zeitfreien Nu aufgehoben und damit in ihre höchste Vollendung erhoben [werde] (…)“²⁰³, ist zunächst einmal als eine bloße Behauptung aufzunehmen. Dies gilt, solange keine Möglichkeit aufgezeigt wird, wie es zu denken ist, dass der die Einung Vollziehende in seinem Eines-Sein mit dem Prinzip dennoch als er selbst bestehen bleibt. Dabei auf Stellen bei Plotin zu verweisen, an denen dieser entweder nur scheinbar oder tatsächlich von einem Bestehenbleiben des sich im Zustand der Einung Befindlichen spricht,²⁰⁴ ist wenig hilfreich, da sich in diesem Fall mit Blick auf eben diese Stellen die Frage stellt, wie sie zu verstehen sind.²⁰⁵ Die genannten Anfragen reichen gewiss nicht dazu hin überzeugend darzulegen, dass Plotin selbst überhaupt nicht von einer Möglichkeit der Einung mit dem Prinzip ausging und dass infolgedessen die Stellen, die (vielleicht nur) scheinbar für eine solche Möglichkeit sprechen, so zu deuten sind, dass sie eigentlich die νοῦς-Werdung des Menschen thematisieren.²⁰⁶ Um vor allem Letzteres aufzuzeigen, wäre eine intensivere Beschäftigung mit der Fragestellung nötig, was in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann und auch nicht muss. Deutlich sollte allerdings geworden sein, dass die These, Plotin habe die Vereinigung mit dem Prinzip als das Letztziel des menschlichen Strebens angenommen, nicht ganz unproblematisch ist. Inwiefern diese Erkenntnis von Relevanz für die hier vorgenommenen Betrachtungen ist, wird nun in den Schlussbetrachtungen zum plotinischen Konzept der praktischen Philosophie deutlich werden.
202 Dominic J. O’Meara: Plotinus, S. 106. 203 Werner Beierwaltes: „Reflexion und Einung“, S. 29. 204 So bei Werner Beierwaltes in: Denken des Einen, S. 143f.; „Reflexion und Einung“, S. 29f.; ebendieses ist auch bei Jens Halfwassen zu beobachten in: Plotin und der Neuplatonismus, S. 58. 205 Eine Interpretationsmöglichkeit, die m. W. in der Forschungsliteratur nicht diskutiert wird, besteht darin anzunehmen, dass die Tatsache, dass das Eine dem Nichtwiderspruchsprinzip enthoben ist, es erlauben würde, sowohl das Sein als auch das Nichtsein des Geeinten als gleichzeitig bestehend zu denken. Kann man in dieser Weise auch den vom Satz vom zu vermeidenden Widerspruch her kommenden Einwand gegen die Einungsmöglichkeit aushebeln, ist diese Antwort doch für ein positives Verständnis der das höchste Ziel realisierenden Tätigkeit unbefriedigend. 206 Diese These ist m. E. letztlich weitaus überzeugender als die für gewöhnlich vertretene Auffassung, dass Plotin selbst von einer Einungsmöglichkeit ausgegangen sei. Weshalb dies so ist und wie die besagten Passagen vor allem aus Enneade VI 9 dementsprechend zu deuten sind, wird an anderer Stelle zu zeigen sein.
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9.7 Schlussbetrachtungen zu Plotin Hinsichtlich der Frage nach einem allgemeinen, sicheren, als notwendig vermittelbaren und insgesamt damit prinzipiellen Wissen ist mit Blick auf die plotinische Philosophie das Folgende festzuhalten. Während Plotin ein Prinzip für den Bereich des theoretischen Wissens angeben kann, das Eine, ist ihm dies bezüglich eines für die Praxis relevanten Wissens nicht möglich.²⁰⁷ Wie gut zu handeln ist, lässt sich im Rahmen des plotinischen Denkens nicht anhand eines allgemeinen, für alle Situationen gültigen und anwendbaren Maßstabes entscheiden. Dem in der Tradition vor allem von Aristoteles betonten Umstand Rechnung tragend, dass die Praxis in ihrer Ausgestaltung immer durch die Anforderungen der jeweiligen Situation geprägt sein muss, gibt Plotin den Gedanken an einen solchen allgemeinen Maßstab zu Gunsten einer Tüchtigkeitsethik auf. Die Fähigkeit, in einer konkreten Situation gut zu handeln, ist damit in erster Linie aufgrund einer durch die Tüchtigkeit bestimmten Disposition gegeben, die sich auf eine affektmäßig angemessene Reaktion und ein kluges Auswählen bezieht. Dies gilt zunächst und vor allem für die Praxis in denjenigen Bereichen, in denen die „politischen Tüchtigkeiten“ in Anwendung zu bringen und die weitestgehend der Praxis des Alltagslebens zuzurechnen sind. Darüber hinaus gilt es, plotinisch gedacht, sich über diesen durch die Affekte bestimmten Bereich des Handelns zu erheben, indem man sich mit Hilfe der „höheren Tüchtigkeiten“ reinigt und in Folge der Reinigung ein Leben nach diesen Tüchtigkeiten lebt. Zu bestimmen ist dieses Leben dabei als eines des Denkens, das sich nach der Weise des selbstreflexiven νοῦς vollzieht und damit die höchstmögliche Angleichung an das Eine erreicht, die einem Vielheitlichen möglich ist. Diese Angleichung nun stellt Plotin zufolge den Zielpunkt aller anderen Formen der Praxis dar – sei es der nach den politischen Tüchtigkeiten, sei es der nach den höheren. Alles Handeln, so Plotin, ist letztlich auf dieses Ziel der Angleichung hingeordnet, darauf also, möglichst einheitlich und infolgedessen möglichst frei von aller Unvollkommenheit zu werden. Als die höchste causa finalis ist dementsprechend das Eine selbst anzusehen, dem sich der Handelnde anzugleichen sucht und das mithin von Plotin als das für uns Gute angesprochen werden kann. Hier ist allerdings zu beachten: Für uns ist das Eine gut, nicht aber an sich selbst; bleibt doch das Prinzip in Hinsicht darauf, was es an sich selbst ist, unerkennbar und unaussprechlich. Daher sieht Plotin sich gezwungen, das Eine nicht nur als das Gute, sondern auch als das „Übergute“ anzusprechen, um so dem Eindruck entgegenzuwirken, dass das Prinzip an sich selbst erkannt werden könnte. Wenn nun Plotin, wie zuvor erläutert, nicht das Eine als das Kriterium für Entscheidungen im Bereich der Praxis ansetzt, so lässt sich dies auch im Ausgang von
207 Das Eine als das Prinzip des theoretischen Wissens ist in Hinsicht auf die Praxis lediglich als die oberste causa finalis zu begreifen, nicht jedoch als ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Handlungen.
Schlussbetrachtungen zu Plotin
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dem Gedanken der Undenkbarkeit des Einen begreifen. Denn wie sollte etwas als ein im konkreten Fall anwendbares Kriterium zur Unterscheidung zwischen guten und schlechten Handlungen dienen, wenn es an sich selbst nicht positiv bestimmt werden kann? Dies beiseitegelassen, ergeben sich aus der Undenkbarkeit des Prinzips noch weitere Schwierigkeiten für die Konzeption der plotinischen Ethik. So stellt sich unter anderem die oben bereits erläuterte Frage, welche Art von Wissen sich über die Einung mit dem Ersten Prinzip ziehen lässt, wie also die Kommunikabilität des Einungsvollzuges zu erreichen ist. Zieht man sich in diesem Zusammenhang darauf zurück, zu sagen, dass Plotin selbst gar nicht von der Möglichkeit einer Einung mit dem Einen ausgegangen sei und vielmehr die νοῦς-Werdung als die höchst mögliche Stufe der Einheitsangleichung angesehen habe, stellt sich zwar nicht das Problem der Inkommunikabilität des Einungsvollzuges. Andererseits sieht man sich jedoch mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass es in diesem Fall eine Stufe des Einsseins gäbe, die der Mensch, falls er tatsächlich „nur“ die νοῦς-Werdung verwirklichen könnte, niemals erreichen würde. So bliebe in jedem Fall ein Abstand zwischen der erreichbaren Stufe der Einheit und der vollkommenen Einheit, so gering er auch sein mag. Die Forderung, sich dem Einen anzugleichen, erschiene mithin als eine dynamische Forderung, die letztlich niemals völlig umgesetzt werden könnte. Wie noch zu zeigen sein wird, ist das Bestehenbleiben dieses Abstandes zum vollkommenen Einen eines der zentralen Themen, mit dem sich die Plotin nachfolgende Tradition beschäftigt. Ein drittes Problem, das in diesem Zusammenhang angesprochen worden ist, besteht in der Unbestimmbarkeit des Letztzieles, wenn dieses als die Angleichung an das vollkommene Eine begriffen wird. So ist der Zustand der vollkommenen Einswerdung insofern als Letztziel ungeeignet, als er sich ebenso wie das Eine selbst nicht positiv bestimmen und mithin auch nicht erstreben lässt. Dem zu Beginn dieser Schlussbetrachtungen zur Sprache gebrachten Umstand, dass sich der plotinischen Philosophie kein allgemeines Prinzip praktischen Wissens entnehmen lässt, entspricht eine Plotin vielfach attestierte Tendenz zur Weltflucht.²⁰⁸ Dass sich eine solche Tendenz bei Plotin tatsächlich feststellen lässt und worin diese Flucht besteht, zeigt dabei unter anderem eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen den höheren und den politischen Tüchtigkeiten.²⁰⁹ Gilt es nämlich, sich mit Hilfe der höheren Tüchtigkeiten von den Affekten und Begierden freizumachen, stellt sich die Frage, welchen Zweck die politischen Tüchtigkeiten nach einer erfolgreichen Reinigung noch erfüllen sollen; besteht ihre Aufgabe doch in der Mäßigung und Beschränkung der Affekte und Begierden, die damit für die Ausübung der politischen Tüchtigkeiten logischerweise noch vorhanden sein müssen. Plotin selbst geht dieser Frage ebenfalls nach und beantwortet sie dahin gehend, dass der über die höheren
208 Vgl. Joseph Katz: Plotinus’ Search for the Good, New York 1950, S. 46–62. 209 Dazu passt Plotins sich in Enneade V 3, 17, 38 findende Aufforderung des ἄφελε πάντα.
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Plotin – das „Eine“ als Prinzip
Tüchtigkeiten Verfügende prinzipiell nur noch nach diesen handelt und nur in Situationen der Bedrängnis²¹⁰ vielleicht auch einmal gemäß den politischen Tüchtigkeiten tätig sein wird.²¹¹ Überhaupt, so Plotin, wird sich der im höheren Sinne Tüchtige, so weit dies möglich ist, „absondern“ (χωρίζειν) und nicht das Leben des guten Menschen leben, wie es nach Maßgabe der politischen Tüchtigkeiten zu bemessen wäre. Indem er diese Lebensweise hinter sich lässt, entscheidet er sich vielmehr für ein anderes Leben, das der Götter.²¹² Passend zu diesem Befund beschreibt Plotin die Angleichung an Gott dann auch tatsächlich als eine „Flucht“ (φυγή),²¹³ die, wie aus dem zuvor Erörterten hervorgeht, im Wesentlichen als eine Flucht aus dem Bereich unserer alltäglichen, durch soziale und physische Verpflichtungen bestimmten Lebenswelt anzusehen ist. So kann John Dillon mit Blick auf Plotins Aufforderung zur Reinigung feststellen: „All earthly concerns, such as love for family or kin, not to mention care for the poor and oppressed, and all passions, such as pity or grief, must be shaken off (like clothes at an initiation ceremony) in the process of purification.“²¹⁴ Dass diesen Bereichen der menschlichen Lebenswelt keine allzu große Rolle für das Erreichen und Bewahren der Einheitsangleichung und mithin auch der Glückseligkeit zuzumessen sei, betont Plotin unter anderem in Enneade I 4. Dort führt er aus, dass der „ethisch wertvolle Mensch“ (σπουδαῖος), d. i. der nach den höheren Tüchtigkeiten Lebende, zwar wollen mag, dass alle Menschen gut handeln und es für niemanden etwas Schlechtes gibt, dass er jedoch, wenn dies nicht eintritt, dennoch gleichermaßen glückselig sein wird.²¹⁵ Einige Zeilen weiter erklärt er zudem mit Blick auf die Formen des „Tätigseins“ (ἐνέργειαι) des σπουδαῖος, dass diese auch durch widrige Umstände nicht behindert würden.²¹⁶ Denn was das Tätigsein im Bereich der „Betrachtung“ (θεωρία) angeht, so könnte es immerhin vielleicht einige Formen derselben geben, die tatsächlich durch ungünstige Konstellationen beeinträchtigt würden.²¹⁷ „Das größte Lehrstück“ (τὸ μέγιστον μάθημα) jedoch, so Plotin, das, wie hier zu ergänzen wäre, im Nachvollzug der θεωρία des νοῦς besteht, stehe allerdings immer bereit zur Betrachtung. Dies gelte auch und sogar in besonderer Weise für jemanden, der solche körperlichen Qualen erleidet wie die im Stier des Phalaris Steckenden.
210 Wörtlich: „als Umstellter“ (περιστατικῶς). 211 Vgl. Plotin Enneade I 2, 7, 19–22. 212 Vgl. ebd. I 2, 7, 24–27. 213 Vgl. ebd. 1, 2–4. 214 John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 320. 215 Vgl. Plotin Enneade I 4, 11, 12–14; vgl. auch John Dillon: „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 324: „One feels of Plotinus that he would have gladly helped an old lady across the road – but he might very well fail to notice her at all. And if she were squashed by a passing wagon, he would remain quite unmoved.“ 216 Vgl. Plotin Enneade I 4, 13, 1–3. 217 Dazu und zum Folgenden, vgl. ebd. 13, 3–7.
Schlussbetrachtungen zu Plotin
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Wenn Plotin sowohl dem sozialen Leben als auch dem physischen Wohlbefinden des Menschen jegliche Bedeutung für das Erreichen der Glückseligkeit abspricht, so ist dies vor allem auf seine bereits zuvor angesprochene Unterscheidung zwischen dem, was der Mensch – und insbesondere der σπουδαῖος – eigentlich ist, und dem Menschen im Sinne des „Zusammengesetzten“ zurückzuführen.²¹⁸ Da der Mensch gerade nicht identisch ist mit dem aus dem Leiblichen und Seelischen Zusammengesetzten, ist es laut Plotin folglich auch lächerlich anzunehmen, dass sich die Glückseligkeit auf das Lebewesen als Ganzes erstrecken müsse. Als ein Tätigsein im Sinne des „guten Lebensvollzuges“ (εὐ ζῆν) sei die Glückseligkeit vielmehr an die Tätigkeit eines Teiles der Seele gebunden – an den zur θεωρία und zum νοεῖν fähigen.²¹⁹ Was hingegen die Seite des Leibes betrifft, erklärt Plotin, dass diese, sofern sie droht, den Menschen zu sehr von dem für seine Glückseligkeit Wesentlichen abzulenken, klein und gering gemacht werden müsse. Dies nämlich mache deutlich, dass der Mensch als er selbst wohl unterschieden ist von den Dingen der Außenwelt. Wie das Verhältnis des Weisen zu dieser Außenwelt in plotinisch gedacht idealer Weise aussieht, zeigt die folgende Passage aus Enneade I 4: Der Mensch dieser Welt mag schön, groß, reich und der Herrscher aller Menschen sein, denn er gehört zu dieser Welt, und man missgönne ihm solches nicht; wird er doch durch dieses getäuscht. Was den Weisen betrifft, so mag ihm all dieses vielleicht schon von Anfang an gar nicht zuteilwerden, falls aber doch, so wird er es selbst reduzieren, sofern er sich um sich selbst kümmert. Das Mehrhabenwollen des Körpers wird er durch Vernachlässigung verringern und auslöschen und seine Ämter niederlegen. Während er die Gesundheit des Körpers zu bewahren sucht, wird er es dennoch nicht wollen, gänzlich unerfahren zu sein mit Blick auf die Krankheit und gewiss wird er auch nicht gänzlich ohne die Erfahrung der Krankheit zu bleiben wünschen (…) ist er aber dann alt, wird er nicht von ihnen und nicht von den Lüsten belästigt werden wollen, überhaupt von nichts Irdischem, möge es angenehm sein oder das Gegenteil, damit er seinen Blick nicht auf den Leib zu richten braucht; gerät er aber in Schmerzen, so wird er ihnen die Kraft entgegenstellen, die ihm gegen sie verliehen ist; für ihn bedeutet weder Lust, Gesundheit, Schmerzlosigkeit einen Zuwachs, noch deren Gegenteil einen Verlust oder eine Minderung in der Glückseligkeit; denn wenn einem und demselben Ding durch das eine von zwei Gegenteilen nichts hinzugesetzt wird, kann ihm natürlich durch das andere Gegenteil nichts fortgenommen werden.²²⁰
Hier wird deutlich: Ein weiser, ethisch wertvoller Mensch nach plotinischem Bild ist den Geschehnissen und Belangen dieser Welt in dem Sinne enthoben, dass er zu dem, was ihm hier widerfährt, weder eine positive noch eine negative Relation aufbaut. Dementsprechend entwickelt er keine übersteigerten Begierden und keine Affekte
218 Vgl. ebd. I 4, 14, 1–4. 219 Dies ergibt sich an dieser Stelle (Enneade I 4, 14, 6–11) in einem Ausschlussverfahren, da nach Plotin weder der für das Wachstum noch der für die Wahrnehmung zuständige Seelenteil für den Vollzug des εὐ ζῆν in Frage kommen. 220 Plotin Enneade I 4, 14, 14–31.
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mit Blick auf das ihm hier Begegnende. Da er der Welt mit Gleichmut und Gelassenheit begegnet, ist er vielmehr frei dazu, derjenigen Tätigkeit nachzugehen, die die menschenmögliche εὐδαιμονία konstituiert – der θεωρία. Dass Plotin den gelingenden Vollzug des in der durch die leib-seelische Verfasstheit des, wenn man so will, „diesseitigen“ Lebens als fast gänzlich irrelevant für die Erlangung der Glückseligkeit betrachtet, ist von zentraler Bedeutung für die Bewertung seiner Nichtangabe eines allgemeinen Prinzips praktischen Wissens. Insofern nämlich das Tätigsein im Bereich des diesseitigen Lebens nicht konstitutiv ist für die menschliche Glückseligkeit, ist die Praxis in diesem Bereich zu vernachlässigen und somit auch die Frage nach einem Prinzip für eine solche Form der Praxis nicht weiter zu verfolgen. Anstatt darüber nachzudenken, ob es ein Prinzip der Praxis des „Zusammengesetzten“ gibt, sollte man sein Streben, plotinisch gedacht, vielmehr darauf richten, sich durch die höheren Tüchtigkeiten zu reinigen, um in Folge der so erreichten Abgrenzung von der hiesigen durch Affekte und Begierden bestimmten Lebenswelt das Ziel der Einheitsangleichung durch ein Leben des Denkens zu erreichen. Mit Blick auf das Denken Plotins mag es angesichts dessen nachvollziehbar sein, dass und weshalb er kein allgemein gültiges Praxisprinzip angibt, das auch einen Maßstab für das Handeln in der diesseitigen Welt abgeben würde. Gleichzeitig ergibt sich aus der Tatsache, dass Plotin kein solches Prinzip angibt, gerade vor dem Hintergrund seiner Prinzipienkonzeption ein Problem für eben diese. So erweist sich dies nicht nur deswegen als misslich, weil so auch mit Plotin das Problem der Angabe eines allgemeinen und sicheren praktischen Wissens nicht gelöst ist. Darüber hinaus nämlich stellt sich die Frage, wie das Eine als das allgemeine Prinzip allen Wissens betrachtet werden kann, wenn es auch nur einen Bereich des Wissens gibt, in dem es nicht zur Anwendung zu bringen ist. Wie hier deutlich wird, untergräbt der Umstand, dass das Eine nicht auch als das Prinzip im Gebiet des praktischen Wissens zu dienen vermag, dessen Stellung als Prinzip; ist ein Prinzip doch notwendig immer auch durch seine Allgemeingültigkeit gekennzeichnet. Insgesamt besehen ergeben sich im Ausgang von Plotins Konzeption praktischer Philosophie bezüglich der Frage nach einem sicheren Wissen im Bereich der Praxis vor allem die folgenden Schwierigkeiten: (1) Es wird kein allgemein gültiges Prinzip praktischen Wissens angegeben. (2) Entweder ist das Letztziel der Angleichung an das Eine darauf beschränkt, dass es „nur“ im Zuge der νοῦς-Werdung verwirklicht werden kann – in diesem Fall ist jedoch ein vollkommenes Einssein nicht erreicht. Oder aber die Angleichung wird als eine Einung mit dem Einen begriffen. Dann jedoch stellt sich das Problem, dass hier ein Vorgang beschrieben wird, der sich der menschlichen Einsichtsmöglichkeit entzieht und als solcher nicht kommunikabel gemacht werden kann. (3) Wird das von Plotin angesetzte Letztziel im Sinne der Einung mit dem Ersten Prinzip begriffen, ist es – wie auch das Eine selbst – an sich selbst nicht bestimmbar und erkennbar und somit auch nicht als Letztziel geeignet.
Schlussbetrachtungen zu Plotin
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Für die weitere Entwicklung eines prinzipiellen Wissens im Bereich der Praxis erweisen sich die hier mit Blick auf Plotins praktische Philosophie angesprochenen Probleme als von grundlegender Bedeutung; ergibt sich doch aus Plotins Überlegungen zum Ersten Prinzip ein neues Paradigma, welches die nachfolgende philosophische Tradition fundamental bestimmen sollte. Dementsprechend kann Plotins sogenannter „Neuplatonismus“ als exemplarisch für diese Richtung philosophischen Nachdenkens angesehen werden, die sich in der Folgezeit auch mit der Frage auseinandersetzen musste, wie das Erste Prinzip auch als Prinzip praktischen Wissens gelten könne. Und in der Tat lässt sich beobachten, dass diese Frage die nachfolgenden Diskussionen zu einem erheblichen Teil mitbeeinflussen sollte. Beispielhaft erläutert wird dies im Folgenden anhand einer Traditionslinie, die das Einheits-Denken Plotins und seiner Nachfolger aufgenommen und sich kritisch mit den genannten Schwierigkeiten der plotinischen praktischen Philosophie auseinandergesetzt hat. Verbunden ist diese Traditionslinie mit dem Namen des Kirchenvaters Augustinus, dessen Konzeption einer Philosophie der Praxis zum Gegenstand des nächsten Kapitels werden soll.
10 Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott Die Einsicht Plotins aufnehmend, geht auch Augustinus von einem Ersten vollkommen einheitlichen Prinzip – „Gott“ (Deus) genannt – aus.¹ Im Unterschied zu Plotin nimmt er jedoch an, dass sich dieses einheitliche Prinzip gleichzeitig auch als eine „Dreieinheit“ (trinitas) denken lasse, ohne dass damit allerdings dessen Einheit aufgehoben würde. Diese Modifikation der plotinischen Konzeption des Ersten Prinzips, die Augustinus wohl vor allem im Anschluss an die Überlegungen des Porphyrius und des Marius Victorinus vornimmt,² ist in vielerlei Hinsicht höchst bedeutsam für Augustinus’ Theologie im Allgemeinen und von immenser Wichtigkeit für seinen Begriff des praktischen Wissens. Bevor die sich aus der besagten Veränderung der Prinzipienkonzeption ergebenden Konsequenzen für die Ethik des Augustinus untersucht werden, soll nun in einem ersten Schritt kurz auf die Modifikation selbst eingegangen werden.³
1 Die Frage nach der Aufnahme neuplatonischen Gedankengutes durch Augustinus ist in der Forschung sehr viel diskutiert worden. Dabei herrscht selbst unter den Interpreten, die einen Einfluss des Neuplatonismus auf Augustinus annehmen, Uneinigkeit darüber, welche Autoren er wohl gelesen hat. Während die libri platonici, von denen Augustinus in Confessiones VII, 9, 13 sagt, dass er sie gelesen habe, zunächst nur Plotin zugeordnet wurden (vgl. z. B. Olivier Du Roy: L’intelligence de la foi en la trinité selon saint Augustin. Genèse de sa théologie trinitaire jusqu’en 391 (Études Augustiniennes), Paris 1966, S. 70), kam in der Folge die These auf, dass der augustinische Neuplatonismus gänzlich porphyrianischer Prägung sei. Dieser Behauptung Willy Theilers, die dieser vor allem in „Porphyrios und Augustinus“, in: Ders.: Forschungen zum Neuplatonismus, Berlin 1966, S. 4f. vorgetragen hat, ist beispielsweise von Paul Henry widersprochen worden, der die Auffassung vertritt, dass Augustinus ausschließlich Plotin gelesen habe. Vgl. dazu Paul Henry: Plotin et l’Occident, Louvain 1934, S. 67–77; einen Überblick über die Forschungsgeschichte zu dieser Fragestellung bietet Karlheinz Ruhstorfer: „Die Platoniker und Paulus. Augustins neue Sicht auf das Denken, Wollen und Tun der Wahrheit“, in: Norbert Fischer/Cornelius Mayer (Hrsg.): Die Confessiones des Augustinus von Hippo: Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern, (Reihe: Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, Bd. 1), Freiburg 1998, S. 284–341. 2 Zum Einfluss des Marius Victorinus auf Augustinus’ Denken, vgl. Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in „De Trinitate“, (Reihe: Paradeigmata, Bd. 19; = Univ. Habil.-Schr., Tübingen), Hamburg 2000, S. 20–23. Was Porphyrius betrifft, so ist Johannes Brachtendorf zuzustimmen, wenn er anführt, dass „[e]iner verläßlichen Einschätzung der Rolle, die Porphyrius für Augustin gespielt hat, (...) die miserable Quellenlage im Wege [steht]“. Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 35, Anm. 89. 3 Die Behandlung der von Augustinus vorgenommenen Modifikation der plotinischen Einheitskonzeption und der sich daraus entwickelnden Trinitätslehre kann hier nur in aller Kürze erfolgen. Sie ist zudem stark darauf ausgerichtet, diejenigen Elemente der Trinitätslehre herauszuarbeiten, die für die Frage nach Augustinus’ Begriff des praktischen Wissens von Relevanz sind.
Der Eine Gott – dreieinig
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10.1 Der Eine Gott – dreieinig Wie bereits erwähnt, folgt Augustinus Plotin darin, das Erste Prinzip als vollkommen einfach anzusehen. Gott, so Augustinus, ist „zuhöchst und vollkommen einfach“ (summe perfecteque simplex)⁴ und als solcher unter anderem „unwandelbar“ (immutabilis), „unvergänglich“ (incorruptibilis) und „ewig“ (aeternus).⁵ Aus seiner Einfachheit ist zudem auf seine Unbegreiflichkeit zu schließen, und so kann Augustinus in Sermo CXVII formulieren: „si enim comprehendis, non est Deus.“⁶ Andererseits begreift Augustinus Gott allerdings nicht nur als eine Einheit, sondern auch als eine Dreieinheit.⁷ Wie aber ist dies möglich? Wie kann man etwas, das eines ist, gleichzeitig als dreiheitlich denken? Diese Frage stellt sich auch und vor allem mit Blick auf das als vollkommen einheitlich begriffene Erste Prinzip, das seine Einheit zu verlieren droht, wenn von ihm angenommen wird, dass es auch dreiheitlich sei. Den Kern der augustinischen Lösung dieses Problems bildet der Gedanke, dass dem Prinzip trotz seiner Einfachheit zugesprochen werden könne, dass es in einer Beziehung zu sich selbst stehe, indem es sich selbst reflektiere und dass es infolgedessen als einheitlich und dreiheitlich zugleich gedacht werden könne. Damit nimmt Augustinus ein Konzept auf, das sich aller Wahrscheinlichkeit nach bereits bei Porphyrius findet und das dadurch gekennzeichnet ist, dass es wesentliche Merkmale, die Plotin dem νοῦς zugeschrieben hatte, dem Einen zuspricht.⁸
4 Augustinus De Trinitate VII, 2, 1; zur Einheit Gottes, vgl. auch ebd. V, 10, 11; VI, 7, 8; XV, 5, 7f.; XV, 13, 22; dazu Jörg Trelenberg: Das Prinzip „Einheit“ beim frühen Augustinus, Tübingen 2004. 5 Vgl. Augustinus De Trinitate XV, 5, 8; wie Augustinus an dieser und an einigen anderen Stellen ausführt, kommen Gott diese Eigenschaften nicht im Sinne von Akzidenzien zu. Vielmehr ist er aufgrund seiner Einheit identisch mit diesen Eigenschaften. Vgl. dazu auch De Trinitate V, 4, 5–5, 8; V, 8, 9; VI, 6, 8. Weshalb Augustinus Gott überhaupt derartige Eigenschaften zusprechen kann und ob nicht dieses schon – wie von Plotin angenommen – den Begriff der Einheit Gottes gefährdet, wird später noch untersucht werden. 6 Augustinus Sermo CXVII, 3, 5; zur Aus- bzw. Unaussagbarkeit Gottes, vgl. auch ebd. V, 7 und De doctrina christiana I, 6, 6. 7 Vgl. u. a. Augustinus De doctrina christiana II, 7, 10: „hoc enim affectu ab omni mortifera iucunditate rerum transeuntium sese extrahit et inde se avertens convertit ad dilectionem aeternorum, incommutabilem scilicet unitatem eandemque trinitatem.“ 8 Zu den von Porphyrius an der plotinischen Einheitskonzeption vorgenommenen Veränderungen, vgl. vor allem die Ausführungen Pierre Hadots in: Porphyre et Victorinus (Études Augustiniennes, 2 Bände), Paris 1968, besonders S. 484 (Bd. 1); ders.: „Die Metaphysik des Porphyrios“, in: Die Philosophie des Neuplatonismus, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 436), hrsg. von Clemens Zintzen, Darmstadt 1977, S. 208–237, besonders S. 223–226; zudem Werner Beierwaltes: „Das seiende Eine. Neuplatonische Interpretationen der zweiten Hypothesis des platonischen ‚Parmenides‘ und deren Fortbestimmung in der christlichen Theologie und in Hegels Logik“, in: Ders.: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main 1985, S. 198–202. In seiner Monographie The Theological Epistemology of Augustine’s De Trinitate, Oxford 2008, gibt Luigi Gioia zu
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
10.1.1 Der menschliche Geist als Bild der göttlichen Trinität Als „Bild“ (imago) dafür, wie die Selbstreflexion Gottes in einer nicht selbstwidersprüchlichen Weise gedacht werden kann, dient Augustinus der menschliche „Geist“ (mens).⁹ Auch dieser verfügt laut Augustinus über die Möglichkeit, sich selbst zu reflektieren, da er, begriffen als Denken und Wollen,¹⁰ ebenfalls in der Lage ist, sich auf sich selbst zu richten. Dass der Geist in dieser Form eine trinitarische Struktur aufweise, die zugleich eine Einheitlichkeit und eine Dreiheitlichkeit erkennen lässt und infolgedessen als ein Bild des im Glauben als dreieinig bekannten Gottes verwendet werden könne, bemüht sich Augustinus vor allem in De Trinitate aufzuzeigen.¹¹ So bestimmt er dort die mens in ihrem Selbstbezug unter anderem als eine in einer Dreiheit aus „Gedächtnis“ (memoria)¹², „Einsicht“ (intelligentia) und „Wille“ (voluntas) bestehende.¹³ Wesentlich für diese den Akt der geistigen Selbstreflexion
bedenken, dass Augustinus’ De Trinitate nicht zu sehr im Sinne eines systematisch-philosophischen Traktates aufzufassen sei. Der trinitarische Gott, so Gioia, sei für Augustinus trotz der Möglichkeiten, die eine Analyse der mens bietet, nicht als ein Objekt menschlichen Wissens zu begreifen. Gioias Hinweise sind überaus wertvoll und bedenkenswert, es sollte dabei allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass Augustinus in De Trinitate auch ein theologisches Projekt verfolgt. Worin dieses genauerhin besteht und wo die von Augustinus angesetzten Grenzen dieses Vorhabens liegen, auf die Gioia völlig zu Recht hinweist, wird weiter unten diskutiert werden. 9 Vgl. dazu Augustinus’ Ausführungen in De Trinitate. Zu Augustinus’ Verständnis der facultates der mens siehe auch Peter Burnell: The Augustinian Person, Washington D. C. 2005, S. 54–70. 10 Wie dieses Denken und Wollen im Weiteren zu differenzieren ist, wird weiter unten noch genauer behandelt werden. 11 Einen höchst ausführlichen Überblick über die Forschungsliteratur zu De Trinitate gibt Roland Kanys Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu „De Trinitate“, Tübingen 2007. 12 Die Übersetzung von memoria mit „Gedächtnis“ ist gebräuchlich und soll daher hier ebenfalls verwendet werden. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Übersetzung insofern nicht ganz glücklich ist, als sie wesentliche Aspekte dessen, was die memoria ausmacht, nicht zum Ausdruck bringt. Angemessener erscheint es, wie u. a. von Bernhard Uhde vorgeschlagen worden ist, von einem „Vermögen der Vergegenwärtigung“ zu sprechen. So ist die memoria, wie Basil Studer ausführt, nicht nur auf Vergangenes bezogen (vgl. Augustins De Trinitate. Eine Einführung, Paderborn 2005, S. 201), wie es der Ausdruck „Gedächtnis“ im Deutschen nahelegt – sondern auch auf das, was jetzt ist, und auf das, was sein wird. 13 Im Rahmen der von Augustinus in De Trinitate entwickelten Argumentation löst diese Dreiheit als „evidentior trinitas“ (vgl. Augustinus’ Rückblick auf das Gesamtwerk von De Trinitate in XV, 3, 5) die Dreiheit von mens, amor und notitia, die Augustinus zunächst (d. h. in Buch IX) zur Charakterisierung der dreieinheitlichen Struktur des Geistes verwendet hatte, ab. Wie das zehnte Buch von De Trinitate zeigt, ergibt sich diese Änderung infolge von für Augustinus notwendigen Differenzierungen bezüglich des Konzeptes der geistigen Selbstreflexion. Auf die Gründe für diese Änderung wird weiter unten noch eingegangen werden. Es sei hier bereits verwiesen auf Johannes Brachtendorf: „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes – Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten“, in: Ders.: Gott und sein Bild, Paderborn 2000, S. 162f.
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konstituierende Dreiheit ist dabei, dass der Geist laut Augustinus identisch mit jedem der drei genannten Glieder ist.¹⁴ Die mens ist memoria, sie ist intelligentia und sie ist voluntas. In ihrer selbstreflexiven¹⁵ Form ist sie eine memoria, die sich sich selbst vergegenwärtigt, eine intelligentia, die sich selbst einsieht, und eine voluntas, die sich selbst will.¹⁶ Darüber hinaus umfasst zudem jedes der Glieder der sich selbst reflektierenden mens nach Augustinus jeweils auch die beiden anderen.¹⁷ Dementsprechend vergegenwärtigt sich die mens im Sinne der memoria auch als eine, die sich selbst einsieht und die sich selbst will, während sie als intelligentia nicht nur einsieht, dass sie einsieht, sondern auch, dass sie sich sich selbst vergegenwärtigt und sich selbst will. Und als voluntas will die mens nicht nur sich selbst als Willen, sondern auch, dass sie sich sich selbst vergegenwärtigt und sich selbst einsieht. Dass die mens identisch mit den genannten Gliedern sein und dass jedes dieser Glieder alle anderen umfassen muss, ergibt sich daraus, dass sie sich selbst reflektiert. Weshalb aber sind es gerade drei Glieder, die die Selbstreflexion ausmachen, und weshalb sind es ausgerechnet die drei genannten? Es liegt nahe, die erste dieser beiden Fragen mit einem Hinweis auf die theologische Motivation des Augustinus zu beantworten. Da es ihm darum gehe, die mens als ein Bild der göttlichen trinitas darzustellen, so eine mögliche These, müsse diese auch als eine dreiheitliche verfasst sein. Darüber hinaus lassen sich Augustinus’ Ausführungen jedoch auch andere Gründe für seine Annahme der Dreigliedrigkeit des Geistes entnehmen, die sich aus seiner Analyse des Vorgangs der geistigen Selbstreflexion ergeben.¹⁸ Dass die mens im Kontext ihrer Selbstreflexion neben intelligentia und voluntas auch als memoria angesprochen werden kann, stellt für Augustinus eine Konsequenz aus dem Gedanken dar, dass nichts geliebt werden könne, das man nicht kennt.¹⁹ Infolgedessen ist es notwendig, dass die mens bereits eine Art (Vor-)Kenntnis ihrer selbst besitzt, bevor sie sich in einem Akt der Liebe²⁰ sich selbst zuwenden kann, um
14 Vgl. Augustinus De Trinitate X, 11, 18: „haec igitur tria, memoria, intelligentia, voluntas, quoniam non sunt tres vitae sed una vita, nec tres mentes sed una mens, consequenter utique nec tres substantiae sunt sed una substantia.“ 15 Nach Augustinus ist die menschliche mens nicht notwendigerweise in selbstreflexiver Weise tätig, sie kann sich auch auf ganz andere Dinge außerhalb ihrer selbst richten. Vgl. Augustinus De Trinitate IX, 4, 5. 16 Vgl. ebd. X, 11, 18; dazu Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 187f. 17 Zum Folgenden, vgl. Augustinus De Trinitate IX, 5, 8; X, 11, 18. 18 Die nachfolgende Betrachtung zu den Elementen der mens ist an Johannes Brachtendorfs Ausführungen in Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus angelehnt. 19 Vgl. Augustinus De Trinitate VIII, 4, 6: „sed quis diligit quod ignorat? sciri enim aliquid et non diligi potest; diligi autem quod nescitur, quaero utrum possit (...).“ Vgl. zudem ebd. X, 3, 5: „(...) nec quisquam possit amare quod nescit.“ 20 Inwiefern die mens sich selbst liebt und die Liebe als eine Form des Willens begriffen werden
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sich einzusehen und sich zu wollen.²¹ Wie schon in den Confessiones – wenn auch dort in Hinblick auf einen anderen Zusammenhang – deutlich wird, ist das Vermögen, mit dessen Hilfe ein solches Vorwissen vergegenwärtigt werden kann, die memoria²², die sich damit als ein konstitutives Element der Selbstreflexion der mens erweist; kann sich diese doch nur dann sich selbst in Denken und Wollen zuwenden, wenn sie auch das diesen Akten zugrundeliegende Vermögen der Selbstvergegenwärtigung im Sinne des se nosse darstellt. Im Übergang von diesem Vorwissen der mens um sich selbst, ihrem se nosse, zu ihrem Sich-selbst-Denken, ihrem se cogitare, liegt die auf sich selbst bezogene „Einsicht“ (intelligentia) der mens begründet.²³ Demnach kann der Geist bei Annahme seiner Identität mit den ihn konstituierenden Elementen als ein auf sich selbst – sowie auf die beiden anderen Elemente der mens – bezogenes Einsehen begriffen werden, in dessen Fall Subjekt und Objekt identisch sind.²⁴ Im Kontext der Selbstreflexion kommt der Einsicht dabei eine entscheidende Rolle zu, da sie den sich unter anderem im Denken vollziehenden Selbstbezug der mens konstituiert.²⁵
kann, wird noch erörtert werden, wenn die voluntas als ein Element der auf sich selbst bezogenen mens thematisiert wird. 21 Vgl. Augustinus De Trinitate X, 3, 5 und X, 1, 2; siehe zudem auch ebd. IX, 3, 3, wo Augustinus bereits auf das Problem der Voraussetzung der Selbsterkenntnis des Geistes für dessen Selbstliebe verweist. Deutlich wird dieser Punkt vor allem auch in De Trinitate X, 4, 6, wo es heißt: „At si novit quid quaerat, et se ipsam quaerit, se ipsam utique novit.“ Mit Johannes Brachtendorf lässt sich daher bei Augustinus eine Unterscheidung zwischen einer „impliziten“ und einer „expliziten Selbsterkenntnis“ der mens feststellen, die laut Brachtendorf terminologisch dadurch fixiert ist, dass Augustinus im Fall der impliziten Selbsterkenntnis von einem „sich kennen“ (se nosse) und im Fall der expliziten Selbsterkenntnis von einem „sich denken“ (se cogitare) spricht (vgl. dazu auch De Trinitate X, 5, 7). Wie eben schon angesprochen, ist diese Einteilung des Denkens der mens in memoria und intelligentia logisch dadurch begründet, dass es, wie Augustinus annimmt, nicht möglich ist, dass die mens nach einer Einsicht in sich selbst strebt, ohne zuvor bereits ein „fundamentaleres Wissen“ (Brachtendorf) nach Art des se nosse um sich selbst zu haben. Vgl. dazu und die dort angegebenen Verweisstellen bei Augustinus in: Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 163–174; zu der Unterscheidung zwischen se nosse und se cogitare, vgl. auch Salvino Biolo: L’autocoscienza in S. Agostino (AnGr 172), Rom 2000; Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 516f. 22 Auf dieses macht Johannes Brachtendorf (Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 42) mit einem Verweis auf Confessiones 10, 20, 29 aufmerksam. 23 Vgl. Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 170–174. Wie Augustinus in Buch XIV von De Trinitate im Anhalt an die Begriffe des „inneren Gedächtnisses“ (memoria interior), der „inneren Einsicht“ (intelligentia interior) und des „inneren Willens“ (voluntas interior) erklärt, besteht das Selbstverhältnis des Geistes schon von dem Moment an, in dem er zu existieren beginnt (vgl. vor allem De Trinitate XIV, 7, 10). Der „Übergang“, von dem hier die Rede ist, ist folglich als ein logischer und nicht als ein zeitlicher aufzunehmen. Vgl. dazu die Ausführungen von Johannes Brachtendorf in „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 165. 24 Vgl. Augustinus De Trinitate X, 11, 18. 25 Welche Rolle die intelligentia im Kontext des Vollzuges der Selbstreflexion spielt, wird noch weiter erörtert werden, wenn es um Augustinus’ Konzept des „inneren Wortes“ (verbum interior) geht.
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Das dritte Glied des dreieinheitlich verfassten Geistes, das Augustinus anführt, ist der „Wille“ (voluntas). Auch er wird als identisch mit der mens gedacht, so dass diese im Rahmen ihrer Selbstreflexion als ein Wille begriffen werden kann, der sich selbst will. Darüber hinaus nun will dieser Wille, eben da er die mens als ganze ist, sich selbst auch in dem Sinne, dass er seine Vergegenwärtigung und seine Einsicht will.²⁶ Der Umstand, dass die voluntas von Augustinus so gedacht wird, dass sie auch auf die anderen Glieder der mens bezogen ist, legt es nahe, sie mit Johannes Brachtendorf in einer allgemeineren Weise als ein „Streben“ zu betrachten. Dementsprechend heißt es bei Brachtendorf: „Der Tätigkeit der ‚mens‘ in Hervorbringung des Wissens liegt wie jeder Tätigkeit ein Streben zugrunde. Auf dieses Streben zielt Augustinus mit den Begriffen ‚voluntas‘ und ‚amor‘.“²⁷ Die Bestimmung des Willens als „Liebe“ (amor), auf die Brachtendorf hier mit Blick auf De Trinitate IX rekurriert, ist dabei insofern von Bedeutung, als sie verdeutlicht, worauf das auf sich selbst gerichtete Streben der mit voluntas gleichgesetzten mens abzielt und wie dieses im Verhältnis zu ihrer Selbstreflexion steht. So bestimmt Augustinus den amor in De Trinitate IX als ein „Wollen“ (velle), das darauf gerichtet ist, bei dem Geliebten gegenwärtig (praesto) zu sein, um ihn zu genießen (frui).²⁸ Gerade ein solcher liebender Wille ist es nun, der laut Augustinus auch das Streben der mens bestimmt, das darauf abzielt, von dem an die memoria gebundenen se nosse zu einem se cogitare zu gelangen, auf dass sich so die intelligentia sui der mens vollziehe; wird doch durch diese Einsicht die Gegenwart der mens bei sich selbst und damit das Ziel ihrer Selbstliebe erreicht.²⁹ Für die auch als amor zu begreifende voluntas der mens ergibt sich daraus, dass sie für die geistige Selbstreflexion insofern notwendig ist, als sie das Streben darstellt, das die mens auf den Vollzug ihrer Selbstreflexion hin ausgerichtet sein lässt.³⁰ Nimmt man das bislang mit Blick auf die Selbstreflexion des Geistes Ausgeführte zusammen, ergibt sich das folgende Bild. Die mens ist als ein geistiges Tätigsein zu begreifen, das sich nach der Weise des Vergegenwärtigens von schon zuvor Bekanntem (memoria), nach der Weise des Einsehens in dieses (intelligentia) und nach der Weise eines Strebens vollzieht, das darauf abzielt, das, was bereits bekannt ist, einzusehen beziehungsweise das Eingesehene zu wollen (voluntas). Die drei Elemente oder Glieder dieses einen geistigen Tätigseins umfassen dabei jeweils einander und sind zudem aufeinander bezogen, indem nur das zum Gegenstand einer Einsicht – nach Art des cogitare – werden kann, das in irgendeiner Weise schon vorher – im Sinne des
26 Vgl. Augustinus De Trinitate X, 11, 18. 27 Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 162. 28 Diese Bestimmung wird im Ausgang von Augustinus’ Beschreibung der Selbstliebe des Geistes vorgenommen, wie sie in De Trinitate IX, 2, 2 zu finden ist. Dort heißt es: „quid est autem amare se nisi praesto sibi esse velle ad fruendum se.“ Vgl. zudem De Trinitate VIII, 10, 14: „Quid est ergo amor nisi quaedam vita duo aliqua copulans vel copulari appetens, amantem scilicet et quod amatur?“ 29 Zu der so gearteten Selbstliebe des Geistes, vgl. Augustinus De Trinitate IX, 2, 2–3, 3. 30 Vgl. Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 162f.
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nosse – bekannt ist; indem es dem Einsehen zuvor ein Streben danach geben muss, eine Einsicht in das zuvor „lediglich“ Bekannte zu erlangen; indem das Streben nach einer solchen Einsicht voraussetzt, dass es bereits zumindest eine Kenntnis dessen gibt, was eingesehen werden soll; und indem der Wille, auf einer anderen Ebene betrachtet, sich nur auf solches richten kann, das schon eingesehen worden ist.³¹ Wie hier deutlich wird, stellen die drei angegebenen Glieder die nach Augustinus notwendigen Elemente – man könnte auch von „Momenten“ sprechen – einer jeden Selbstreflexion des Geistes dar.³² Das heißt in anderen Worten: Die Selbstreflexion vollzieht sich stets als ein Akt des Vergegenwärtigens von schon Bekanntem als eine Einsicht in dieses und ein Wollen, das Bekannte einzusehen – beziehungsweise als ein Wollen des bereits Eingesehenen. Reflektiert sich die mens, muss sie sich daher sich selbst vergegenwärtigen, sich selbst einsehen und sich selbst im oben beschriebenen Sinne wollen. All dies sind dabei wohlgemerkt mit der mens selbst identische Tätigkeiten und nicht etwa ihr zukommende „Teile“ (partes), so als würde sie beispielsweise über die Eigenschaft verfügen, etwas einzusehen, ohne dass sie selbst identisch mit diesem ihrem Einsehen wäre.³³ Daraus ergibt sich für das Tätigsein des Geistes, dass es, obwohl es sich um ein Tätigsein – nämlich das der Selbstreflexion – handelt, dennoch auch so gedacht werden muss, dass es die genannten drei Momente aufweist, die ihrerseits mit dem Geist identisch sind und dessen Selbstreflexion konstituieren.³⁴
31 Da sich die voluntas/amor entweder auf Bekanntes oder auf bereits Eingesehenes richten kann, ist eine zweifache Struktur des Strebens zu erkennen. Johannes Brachtendorf arbeitet dies genau heraus, wenn er schreibt: „Auf einer untergeordneten Ebene nimmt der ‚amor‘ Stellung zu einem fertigen Gedanken, indem er das in diesem Gedanken Gedachte [hier im Sinne des Eingesehenen zu verstehen, T. J.] als mehr oder weniger bedeutendes Gut oder Übel beurteilt. Dieses Urteil kann moralischer Kritik unterworfen werden. Auf einer grundsätzlicheren Ebene stellt der ‚amor‘ die bewegende Kraft in allen geistigen Akten des Denkens an etwas, des sich Erinnerns, des seine Aufmerksamkeit auf etwas Richtens etc. dar. Der Tätigkeit der ‚mens‘ in Hervorbringung des Wissens liegt wie jeder Tätigkeit ein Streben zugrunde.“ Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 162. 32 Vgl. dazu u. a. Johann Kreuzers Einleitung zu: Aurelius Augustinus: De Trinitate. Neu übersetzt und mit Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer, Darmstadt 2001, S. XXVIf. 33 Vgl. De Trinitate IX, 4, 7; siehe auch ebd. IX, 4, 5. Hier betont Augustinus, dass die Liebe und die Kenntnis des Geistes nicht in diesem wie in einem subiectum seien, sondern als substantiae begriffen werden müssten. 34 Daher wäre es sinnvoller den Terminus mens, wie er von Augustinus verstanden wird, im Deutschen mit „geistiges Tätigsein“ wiederzugeben. Gestützt wird dies unter anderem auch dadurch, dass Augustinus die mens als ein „Leben“ (vita) bezeichnet (vgl. z. B. De Trinitate X, 11, 18). Da die Übersetzung „Geist“ üblich geworden ist, wird sie allerdings auch hier übernommen. Ein wenn auch nicht weiter begründetes Votum dafür, die mens als eine Aktivität zu begreifen, findet sich auch bei Roland Kany. So schreibt er in Augustins Trinitätsdenken (S. 283): „Ob die mens etwa des neunten oder zehnten Buches [von De Trinitate, T. J.] wirklich nur den denkfähigen Geist und nicht vielmehr den notwendig sich stets wissenden Geist als Aktivität meint, wäre zu fragen.“ Kany wendet sich damit gegen eine These Christoph Horns, der zufolge der Begriff der mens keinen Denkvollzug oder Akt des
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10.1.2 Das Wissen der mens als ihr „Wort“, „Sprössling“ und „Bild“ Wie gezeigt worden ist, geht aus der Selbstreflexion der mens Augustinus zufolge ein Wissen derselben um sich selbst hervor. Dies wird im neunten Buch von De Trinitate als „Kenntnis“ (notitia), ab dem zehnten als „Einsicht“ (intelligentia) bezeichnet.³⁵ Als dasjenige, was die mens erkennt, bestimmt Augustinus dieses Wissen zudem als ein „Wort“ (verbum),³⁶ das die mens gleichsam „in sich selbst ausspricht“ und in dieser Weise „zeugt“ (dicendo intus gignimus).³⁷ Indem das Wissen der mens aus ihrer Selbstreflexion hervorgeht, ist es als ihr „Wort“, ihr „Sprössling“ (proles)³⁸ und als ihr „Bild“ (imago) notwendig identisch mit ihr.³⁹ Die Grundlage für Augustinus’ Annahme der Identität der einsehenden mens und ihres als ihr Bild begriffenen Wortes bildet dabei der folgende Gedanke. Wenn, so Augustinus, ein Bild dasjenige, dessen Bild
Denkens und Liebens bezeichnet, sondern ein Vermögen oder eine Fähigkeit. Vgl. dazu Christoph Horn: „Selbstbezüglichkeit des Geistes bei Plotin und Augustinus“, in: Johannes Brachtendorf: Gott und sein Bild. Augustins De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn 2000, S. 89; 98f. Woher Horn allerdings weiß, dass die Begriffe, die Augustinus verwendet, „in Wahrheit“ [sic!] „teils für mentale Fähigkeiten, teils für mentale Akte“ stehen, dass „mens und intelligentia (...) sicher [sic!] keinen Denkakt, sondern die Denkfähigkeit oder das Vernunftvermögen [bezeichnen]“, dass memoria „(...) nicht für den Erinnerungsakt, sondern für die Erinnerungsfähigkeit [steht]“ etc. („Selbstbezüglichkeit des Geistes bei Plotin und Augustinus“, S. 98), bleibt im Dunklen. Horns Ausführungen ist es jedenfalls nicht zu entnehmen. 35 Dass Augustinus hier einen Wechsel in der Terminologie von der notitia hin zur intelligentia vornimmt, ergibt sich aus der bereits angesprochenen Unterscheidung, die er hinsichtlich der impliziten und der expliziten Selbsterkenntnis der mens ansetzt und die in Buch X thematisiert wird. So argumentiert Augustinus dort, dass es, bevor es zu einer expliziten Selbsterkenntnis der mens nach Art des se cogitare kommen könne, bereits ein anderes Kennen ihrer selbst (se nosse) auf Seiten der mens geben müsse. Andernfalls könnte sich die mens augustinisch gedacht nicht sich selbst zuwenden, um sich zu erkennen. Während der Begriff der notitia dabei dem se nosse entspricht, steht die intelligentia für ein Wissen, das durch das se cogitare bestimmt ist. 36 Vgl. Augustinus De Trinitate IX, 12, 18: „et est quaedam imago trinitatis, ipsa mens et notitia eius, quod est proles eius ac de se ipsa verbum eius, et amor tertius, et haec tria unum atque una substantia.“ Um zu vermeiden, dass das hier gemeinte „Wort“ auf das gesprochene Wort reduziert wird, führt Augustinus später in De Trinitate (Buch XIV und XV) den Begriff des „Gedankens“ (cogitatio) für das innere Wort ein. Vgl. dazu z. B. De Trinitate XIV, 7, 10 und 10, 13; zudem Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 266f. 37 Vgl. ebd. IX, 7, 12: „(…) atque inde conceptam rerum veracem notitiam tamquam verbum apud nos habemus et dicendo intus gignimus (…).“ 38 Vgl. ebd. IX, 12, 18. 39 Vgl. ebd. IX, 11, 16: „ex quo colligitur quia cum se mens ipsa novit atque approbat sic est eadem notitia verbum eius ut ei sit par omnino et aequale atque identidem quia neque inferioris essentiae notitia est sicut corporis neque superioris sicut dei. et cum habeat notitia similitudinem ad eam rem quam novit, hoc est cuius notitia est, haec habet perfectam et aequalem qua mens ipsa quae novit est nota. ideoque et imago et verbum est quia de illa exprimitur cum cognoscendo eidem coaequatur, et est gignenti aequale quod genitum est.“
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es ist, vollkommen erfüllt⁴⁰, sind Bild und Abgebildetes gleich (coaequatur).⁴¹ So weist das Bild in einem solchen Fall⁴² eine „Übereinstimmung“ (congruentia), eine „erste Gleichheit“ (prima aequalitas) und eine „erste Ähnlichkeit“ (prima similitudo) auf und ist demnach „in keiner Sache nicht übereinstimmend“ (nulla in re dissidens), „in keinerlei Weise ungleich“ (nullo modo inaequalis) und „zu keinem Teil unähnlich“ (nulla ex parte dissimilis). Vielmehr entspricht das Bild dem, dessen Bild es ist, bis zur „Selbigkeit“ (ad identidem).⁴³ Der Geist nun kennt sich Augustinus zufolge in dem Sinne „als ganzen“ (se totam novit), dass er sich „vollkommen kennt“ (perfecte [se] novit) und seine Kenntnis (notitia) ihn mithin als ganzen umfasst.⁴⁴ Infolgedessen gilt auch für ihn, dass seine Selbstkenntnis als sein verbum und seine imago dasselbe sind wie er;⁴⁵ stellt doch das verbum der mens insofern ein vollkommenes Bild derselben dar, als ihre Selbstkenntnis vollkommen ist. Den Dreh- und Angelpunkt der Argumentation für die Identität der mens und ihres Wortes stellt damit die Annahme der Vollkommenheit der geistigen Selbstkenntnis beziehungsweise Selbsteinsicht dar. Das heißt: Weil der Geist sich als ganzer vollkommen kennt und einsieht, ist das, was er einsieht, als sein vollkommenes Abbild identisch mit ihm.⁴⁶ Daher kann Augustinus behaupten,
40 Das hier wörtlich wiedergegebene implere ist an dieser Stelle als ein „Abbilden“ oder „Erschöpfen“ zu verstehen. Vgl. dazu auch Michael Schmaus’ Übersetzung dieser Stelle in: Aurelius Augustinus: Über den dreieinigen Gott, ausgewählt und übertragen von Michael Schmaus, Leipzig 1936, S. 90. 41 Vgl. dazu und zum Folgenden Augustinus De Trinitate VI, 10, 11: „imago enim si perfecte implet cuius imago est, ipsa coaequatur ei (…).“ 42 Den Ausgangspunkt der augustinischen Überlegungen zum Begriff des Bildes stellen an dieser Stelle die Thesen des Hilarius von Poitiers dar, der in seinem Werk De Trinitate II mit Blick auf den Sohn von einer species in imagine spricht. 43 Vgl. Augustinus De Trinitate VI, 10, 11: „in qua imagine speciem nominavit [Hilarius], credo, propter pulchritudinem ubi iam est tanta congruentia et prima aequalitas et prima similitudo nulla in re dissidens et nullo modo inaequalis et nulla ex parte dissimilis, sed ad identidem respondens ei cuius imago est.“ Der von Augustinus verwendete Ausdruck identidem ist wörtlich mit „zu wiederholten Malen“ oder „immer wieder“ zu übersetzen. 44 Vgl. ebd. IX, 4, 7: „mens vero cum se totam novit, hoc est perfecte novit, per totum eius est notitia eius.“ Vgl. darüber hinaus ebd. X, 3, 6: „quid ergo dicemus? an quod ex parte se novit, ex parte non novit [mens]? sed absurdum est dicere non eam totam scire quod scit. non dico: totum scit, sed: quod scit tota scit. cum itaque aliquid de se scit quod nisi tota non potest, totam se scit. scit autem se aliquid scientem, nec potest quidquam scire nisi tota. scit se igitur totam.“ 45 Vgl. dazu die eben schon zitierte Stelle aus De Trinitate IX, 11, 16: „ex quo colligitur quia cum se mens ipsa novit atque approbat sic est eadem notitia verbum eius ut ei sit par omnino et aequale atque identidem quia neque inferioris essentiae notitia est sicut corporis neque superioris sicut dei. et cum habeat notitia similitudinem ad eam rem quam novit, hoc est cuius notitia est, haec habet perfectam et aequalem qua mens ipsa quae novit est nota. ideoque et imago et verbum est quia de illa exprimitur cum cognoscendo eidem coaequatur, et est gignenti aequale quod genitum est.“ 46 Das Thema der Vollkommenheit der Selbsterfassung des Geistes ist schon in der Antike viel diskutiert. So muss sich Augustinus, die Konzeption Plotins aufnehmend, vor allem mit einer von Sextus Empiricus an der Möglichkeit einer vollkommenen Selbsterfassung des Geistes geäußerten Kritik
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„der Geist selbst und seine Kenntnis, die sein Sprössling und sein Wort von ihm selbst ist, und als Drittes die Liebe (…) [seien] eines und ein „Wesen“ (substantia)⁴⁷ [Hervorhebung T. J.]“⁴⁸. Was die von Augustinus hier angesprochene Liebe betrifft, gelangt diese im Fall der sich selbst liebenden mens dadurch zur Erfüllung, dass die mens in der Kenntnis ihres Wortes bei sich selbst anwesend ist. So erklärt Augustinus, dass mit dem Geist, „(...) wenn er sich kennt und liebt, (...) sein Wort in Liebe verbunden ist“⁴⁹. Und an einer anderen Stelle in De Trinitate heißt es: „Unser Wort also und unseren Geist, von dem es gezeugt wird, verbindet gleichsam als Mittleres die Liebe (...).“⁵⁰ Betrachtet
auseinandersetzen. Zur Kritik des Sextus, vgl. Adversus Mathematicos VII, 284–286; 310–312; Plotins Behandlung dieses Themas findet sich vor allem in Enneade V 3; zu Plotins Argumentation, vgl. Jens Halfwassen: Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, (Reihe: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, 1994,10), Stuttgart 1994, S. 12f.; Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 26–34; Richard T. Wallis: „Scepticism and Neoplatonism“, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Teil II, Band 36,2, Berlin 1987, S. 917–925; Werner Beierwaltes: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3, Frankfurt am Main 1991; zu Augustinus’ Argumentation bezüglich der Möglichkeit einer Selbsterfassung der mens, vgl. vor allem De Trinitate X, 3, 6–4, 6; Christoph Horn: „Selbstbezüglichkeit des Geistes bei Plotin und Augustinus“, besonders ab S. 87; zu Augustinus’ Konzept der Selbsterfassung im Allgemeinen und der ihm bezüglich dieses Themas vorausgehenden Tradition, vgl. auch Edward Booth: „St. Augustine’s ‚notitia sui‘ Related to Aristotle and the Early Neoplatonists“, in: Augustiniana 27–29 (1977–1978); Eliza G. Wilkins: ‚Know Thyself‘ in Greek and Latin Literature, Chicago 1971; Pierre Courcelle: „Connais-toi toi-même de Socrate à Saint Bernard“, in: Études augustiniennes 58–60 (1974–1975). 47 Zum Begriff der substantia in Augustinus’ De Trinitate, vgl. ebd. V, 8, 9: „essentiam dico quae οὐσία graece dicitur, quam usitatius substantiam vocamus“; dazu, dass nach Augustinus die Begriffe substantia und essentia im Lateinischen als Äquivalente verwendet werden können, vgl. De Trinitate VII, 4, 7: „non aliter in sermone nostro, id est latino, essentia quam substantia solet intelligi.“ Da substantia von subsistere abzuleiten sei, so Augustinus, sei die substantia als dasjenige anzusehen, welches als ein subiectum Träger von Eigenschaften ist. Darauf, dass dies u. a. aus De Trinitate VII, 5, 10 hervorgeht, macht Johannes Brachtendorf aufmerksam (Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 59), in VII, 5, 10 heißt es dabei: „de his enim rebus recte intelligitur [sc. subsistere J. B.] in quibus subiectis sunt ea quae in aliquo subiecto esse dicuntur sicut color aut forma in corpore. corpus enim subsistit et ideo substantia est.“ Im Anschluss an diese Überlegungen des Augustinus erscheint es insofern sinnvoll, substantia mit „Wesen“ zu übersetzen, als sie dasjenige kennzeichnet, was sich bei allem Wandel hinsichtlich der Eigenschaften einer Sache als etwas Durchgängiges behauptet und somit das Wesen der Sache zum Ausdruck bringt. Vgl. zudem zur Geschichte des Begriffes „Substantia“ im Allgemeinen: Curt Arpe: „Substantia“, in: Philologus 94 (1941); zu Augustinus’ Substanzbegriff siehe zudem: Niceto Blázquez: „El concepto de substancia según san Augustín. Los libros De Trinitate“, in: Coleccion Augustinus 14 (1969), S. 305–350; Roland J. Teske: „Augustine’s Use of ‚Substantia‘ in Speaking About God“, in: Modern Schoolman 62 (1984/85), S. 147–163. 48 Augustinus De Trinitate IX, 12, 18: „(…) ipsa mens et notitia eius, quod est proles eius ac de se ipsa verbum eius, et amor tertius, et haec tria unum atque una substantia.“ 49 Vgl. ebd. IX, 10, 15. 50 Ebd. IX, 8, 13.
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man dies vor dem Hintergrund der Definitionen der Liebe, die Augustinus in De Trinitate gibt,⁵¹ zeigt es sich, dass die mens, wenn sie mit ihrem Wort in Liebe verbunden ist, bei eben diesem „anwesend“ ist.
10.1.3 Die relationale Unterschiedenheit der mens und ihrer Hervorgänge Bei Annahme der Gleichheit der mens und ihrer proles stellt sich nun allerdings die Frage, wie die beiden als voneinander unterschieden gedacht werden können. Dass es überhaupt notwendig ist, einen solchen Unterschied anzunehmen, ergibt sich daraus, dass es bei Nichtbestehen desselben unmöglich wäre, von einem von dem Abgebildeten unterschiedenen Abbild zu sprechen.⁵² Allgemeiner gewendet bedeutet dies, dass die Feststellung der Identität zweier Dinge auch immer einen Unterschied zwischen diesen beiden voraussetzt. Augustinus zufolge liegt dieser Unterschied im Fall der mens und ihrer imago in der Relation begründet, in der die beiden zueinander stehen.⁵³ So ist die mens insofern unterschieden von ihrem verbum, als sie dieses hervorbringt, während das verbum als von der mens hervorgebracht zu bestimmen ist. Einerseits kann daher das verbum der mens – verstanden als deren Kenntnis beziehungsweise Einsicht – als identisch mit ihr betrachtet und damit auch „an sich selbst“ (ad se) als mens benannt werden.⁵⁴ Andererseits ist das Wort jedoch auch „in Bezug auf etwas anderes“ (ad aliquid relative) zu bestimmen, und zwar in Bezug auf die mens, deren Wort sie ist.⁵⁵ Johannes Brachtendorf fasst dies sehr klar zusammen, wenn er schreibt:
51 Vgl. ebd. IX, 2, 2: „quid est autem amare se nisi praesto sibi esse velle ad fruendum se.“ Vgl. zudem ebd. VIII, 10, 14: „quid est ergo amor nisi quaedam vita duo aliqua copulans vel copulari appetens, amantem scilicet et quod amatur?“ 52 Darauf verweist auch Johannes Brachtendorf in: „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 155; 170. 53 Seinen Begriff der relationalen Unterscheidung, den er in erster Linie auf die innertrinitarischen Verhältnisse anwendet, entwickelt Augustinus vor allem in Buch V von De Trinitate. Er sucht damit die These abzuwehren, dass alle Aussagen über Gott – also auch die über die Verhältnisse von Vater, Sohn und Heiligem Geist – dessen Substanz betreffen. Wäre dies nämlich der Fall, so würden die Aussagen, dass der Sohn gezeugt, der Vater hingegen ungezeugt sei, eine Substanzverschiedenheit von Vater und Sohn bedeuten, was gegen die auf dem Konzil von Nicäa festgehaltene Homoousie von Vater und Sohn verstieße. Vgl. dazu Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 200. 54 Dies gilt laut Augustinus im Übrigen auch für die memoria und die voluntas, wie sogleich deutlich werden wird. 55 In De Trinitate X, 11, 18 erklärt Augustinus dies mit Blick auf die intelligentia, die allerdings, wie gezeigt worden ist, identisch ist mit der notitia und dem verbum der mens. So heißt es dort: „memoria quippe quod vita et mens et substantia dicitur ad se ipsam dicitur; quod vero memoria dicitur ad aliquid relative dicitur. hoc de intelligentia quoque de voluntate dixerim, et intelligentia quippe et voluntas ad aliquid dicitur. vita est autem unaquaeque ad se ipsam et mens et essentia.“
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Unterscheidbar sind die drei Glieder [mens, notitia, amor] durch ihre spezifischen Relationen, die die genetischen Verhältnisse widerspiegeln. Die mens bringt die notitia sui, d. h. das Wissen um sich selbst, als verbum mentis hervor. Daher ist die mens die Zeugende, das verbum mentis aber das Gezeugte.⁵⁶
Als das perfekte Bild des Geistes ist damit dessen Wort mit Augustinus gedacht seinem „Wesen“ nach dasselbe wie er, gleichzeitig aber auch aufgrund des Zeugungsverhältnisses relational unterschieden von ihm. Was ihre Struktur betrifft, kommen der auf sich selbst bezogenen mens damit die folgenden Merkmale zu: „Gleichheit, Substantialität der Einzelglieder bei Substanzeinheit der Gesamtheit und relationale Verschiedenheit.“⁵⁷
10.1.4 Die Denkmöglichkeit eines dreieinheitlichen Wesens Indem er den Aufweis der Identität und der gleichzeitigen relationalen Unterschiedenheit der mens und ihrer Glieder erbringt, ist Augustinus seinem Selbstverständnis gemäß imstande, der zu Beginn dieses Kapitels angesprochenen Herausforderung zu begegnen. Diese, so sei erinnernd gesagt, besteht darin, dass es prima facie unmöglich scheint, etwas als einheitlich und dreiheitlich zugleich zu denken. Was Augustinus folglich durch die Betrachtung der Struktur des menschlichen Geistes gewinnt, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Denkmöglichkeit. Es ist möglich, so das Ergebnis der augustinischen Geistanalyse, etwas als einheitlich und doch auch als dreiheitlich zu denken und somit aufzuzeigen, dass der Begriff eines dreieinheitlichen Gottes nicht notwendig selbstwidersprüchlich und der „Glaube“ (fides) nicht etwas (nur) „Ausgedachtes“ ist (ut non ficta sit fides nostra)⁵⁸.⁵⁹
56 Johannes Brachtendorf: „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 161. Zur augustinischen Unterscheidung zwischen Aussagen ad se und ad aliquid relative, vgl. auch ders.: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 56–74; eine kritische Diskussion des augustinischen Begriffes der innertrinitarischen Relationen findet sich bei Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 200–209. Kany bespricht in diesem Zusammenhang auch die zu dieser Thematik erschienene Forschungsliteratur. 57 Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 127; vgl. dazu auch ders.: „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 161. 58 Vgl. Augustinus De Trinitate VIII, 5, 7–5, 8. 59 Dass dies das hauptsächliche Ziel der augustinischen Erörterungen in De Trinitate ist, wird in aller Regel übersehen. Am ehesten noch in die Richtung einer solchen Interpretation scheint Roland Kany zu gehen, der diesen Gedanken jedoch nicht weiter ausarbeitet und sich auf eine Andeutung beschränkt. Vgl. Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 510. An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass Augustinus in Buch VIII von De Trinitate den Weg einer direkten Erkenntnis der Trinität als unbegehbar erweist, um in der Folge (Bücher IX–XV) die göttliche Trinität in ihrem Bild, dem menschlichen Geist, zu schauen. Zum Verhältnis von fides und intellectus in De Trinitate, vgl. auch Basil Studer: Augustins De Trinitate, S. 98–102.
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Was Augustinus mit seiner Betrachtung des Geistes hingegen nicht gewinnt und auch nicht gewinnen will, ist eine Beschreibung des Wesens Gottes oder der innergöttlichen Verhältnisse, wie sie an ihnen selbst tatsächlich sind. Der menschliche Geist ist nicht Gott und Gott ist nicht im eigentlichen Sinne als Geist zu begreifen.⁶⁰ Verträte Augustinus derartige Thesen zur Identität von menschlicher Geisttrinität und göttlicher Trinität, würde er in einen deutlichen Widerspruch zu der von ihm selbst an vielen Stellen angemahnten Beachtung der Unbegreiflichkeit Gottes geraten.⁶¹ So gilt: Auch wenn die mens humana als imago Dei genommen werden kann und ihr damit eine herausragende Stelle unter den Geschöpfen einzuräumen ist,⁶² ist damit doch nicht der bereits angesprochene notwendig immer bleibende Abstand zwischen dem Bild und dem Abgebildeten aufgehoben.⁶³ Was wir sehen, wenn wir die mens sehen, so Augustinus, ist noch nicht Gott, aber doch schon ein Bild Gottes.⁶⁴ Problematisch erscheinen muss die Betonung der Unterschiedenheit der göttlichen trinitas von derjenigen der mens nur dann, wenn man Augustinus’ Geist-Begriff in einer verfehlten Weise als eine Beschreibung des göttlichen Wesens auffasst. Dann nämlich drängt sich in der Tat der Eindruck auf, Augustinus’ Pochen auf die besagte Differenz relativiere seine Theorie der mens als imago Dei in übertriebener Weise und wende sich damit faktisch gegen das in den Büchern I–XIV von ihm selbst Ausgeführte.⁶⁵ Begreift man Augustinus’ Projekt in De Trinitate allerdings in erster Linie
60 Dies nochmals in aller Deutlichkeit hervorgehoben zu haben, ist eines der Verdienste Johannes Brachtendorfs. 61 Vgl. dazu nochmals das in diesem Zusammenhang wohl prominenteste Zitat aus Sermo CXVII, 3, 5: „si enim comprehendis, non est Deus.“ 62 Vgl. z. B. Augustinus De Trinitate XI, 5, 8; XIV, 4, 6. 63 Dafür, dass der Unterschied zwischen der mens und Gott trotz ihres Bildcharakters nicht aufgehoben ist, finden sich vor allem im fünfzehnten Buch von De Trinitate eine Reihe von Argumenten. Eine Übersicht zu diesen Argumenten gibt Johannes Brachtendorf in „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 166–170; ders.: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 257–265, besonders S. 260, wo Brachtendorf eine Kurzzusammenfassung der augustinischen Argumente gibt. Er schreibt: „Zusammenfassend ist festzustellen, daß die göttliche Trinität Augustin zufolge diejenige des menschlichen Geistes auf drei verschiedene Weisen übersteigt: 1) Gott vollzieht nicht seine Dreifaltigkeit, sondern ist sie. 2) Im menschlichen Geist ist jedes Vermögen einem spezifischen Akt zugeordnet: Der Mensch erinnert sich nur durch das Gedächtnis, sieht nur ein durch die Einsicht und liebt nur durch den Willen, während in Gott jede einzelne Person trinitarisch ist. 3) Gott denkt simultan, der Mensch hingegen diskursiv. In diesen drei Punkten muss das Bild Gottes, das die ‚mens humana‘ ist, negiert werden, damit zutreffend über das Original gesprochen werden kann.“ Vgl. zudem Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 528f.; überdies Michael Schmaus: Die psychologische Trinitätslehre des heiligen Augustinus, Münster 1967, S. 399–406. 64 Vgl. Augustinus De Trinitate XIV, 8, 11. 65 Für eine solche Haltung mag man mit Johannes Brachtendorf („Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 155) beispielhaft die folgenden Autoren anführen: Michael Schmaus: Die psychologische Trinitätslehre des heiligen Augustinus, S. 399–406; Joseph Moingt: Oeuvres de saint Augustin, Bibliothèque Augustinienne, Paris 1949ff., Band 16, S. 643–645; Edward Booth: „St.
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als einen Versuch, eine Denkmöglichkeit des im Glauben Festgehaltenen darzulegen, sieht man sich nicht mit der besagten Schwierigkeit konfrontiert. In diesem Fall ist die Hervorhebung der Unterschiedenheit völlig nachvollziehbar, da Augustinus so dem Eindruck entgegenwirken möchte, er würde mit seiner Darstellung der trinitas mentis etwas über Gott aussagen, wie dieser an sich selbst ist. Dass ein solcher Eindruck durchaus entstehen kann, zeigt gerade die eben angeführte Kritik an Augustinus’ Betonung der erörterten Unterschiedlichkeit.
10.1.5 Gott als Geist – die mens humana und der dreieine Gott Wenngleich Augustinus sehr viel Wert auf die eben dargestellte Differenz zwischen dem menschlichen Geist und der göttlichen Trinitas legt, ist dennoch zu beobachten, dass er die Struktur der auf sich selbst bezogenen mens heranzieht, um das innertrinitarische Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist zu erörtern. Dieses Vorgehen ist augustinisch gedacht deswegen legitim, weil die göttliche Dreifaltigkeit dieselben bereits angeführten Strukturmerkmale aufweist wie die mens humana. Ebenso wie auf die mens in ihrem Selbstbezug trifft auch auf die göttliche Trinitas Folgendes zu: Sie besteht in einer „Gleichheit“ der Glieder, es gilt die „Substantialität der Einzelglieder bei Substanzeinheit der Gesamtheit“ und eine „relationale Verschiedenheit“⁶⁶. Die Annahme dieser Strukturgleichheit bedeutet dabei nicht, dass Augustinus’ These der Unterschiedenheit von geistiger und göttlicher Trinität zurückgenommen wäre. Nach wie vor steht für Augustinus fest: Der menschliche Geist ist nicht Gott, aber seine Struktur ist ihrer Form nach geeignet, die göttliche Trinität zu repräsentieren; gilt doch auch für Vater, Sohn und Heiligen Geist, dass sie in dem Sinne eines sind, dass alle drei göttlichen Personen „eines Wesens“ (unius substantiae) und damit „ein Gott“ (unus Deus) sind, während sie gleichzeitig in einer relationalen Unterschiedenheit zueinander stehen. Letzteres heißt in diesem Zusammenhang, dass der Sohn deswegen nicht der Gleiche wie der Vater ist, weil der Vater ihn gezeugt hat; dass zudem der Vater nicht der gleiche wie der Sohn ist, da der Sohn von ihm gezeugt worden ist; und schließlich, dass der Heilige Geist von Vater und Sohn unterschieden ist, da er keiner von beiden, sondern beider Geist ist.⁶⁷ Wie hier deutlich wird, besteht insofern eine strukturelle Identität zwischen der mens und der göttlichen Trinität, als, wie bereits erklärt, in beiden Fällen eine „Gleichheit der drei Personen [beziehungs-
Augustine’s ‚notitia sui‘“, in: Augustiniana 29 (1979), S. 122. 66 Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 127; vgl. dazu auch ders.: „Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes“, S. 161. 67 Vgl. Augustinus De Trinitate I, 4, 7.
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weise Glieder], ihre Substanzidentität und ihre Verschiedenheit voneinander“⁶⁸ zu erkennen ist. Diese formale Übereinstimmung zugrunde legend entwickelt Augustinus eine Interpretation der eben angesprochenen Zeugung des Gottessohnes, indem er diese in Parallele zu seiner Konzeption der Zeugung des Wortes durch die mens setzt. An dieser Stelle ist zu betonen, dass Augustinus die beiden Zeugungsvorgänge in Parallele zueinander setzt. Damit sei – wie schon mit Blick auf Augustinus’ Trinitätskonzeption der mens – nochmals darauf hingewiesen, dass er mit seinem im Anhalt an die Geistanalyse gewonnenen Begriff der göttlichen Zeugung nicht eine Beschreibung eines tatsächlich sich so vollziehenden Vorganges in Gott geben will. Das Wissen darüber, wie es in Gott aussieht und welche „Vorgänge“, die man sich wohlgemerkt in zeitloser Art vorstellen müsste, sich in Gott abspielen, übersteigt das menschliche Begreifen augustinisch gedacht bei Weitem.⁶⁹ Infolgedessen beschränkt Augustinus sich darauf, ein begriffliches Modell zu entwickeln, anhand dessen Folgendes gezeigt werden kann: Es ist ein Hervorgang einer Sache aus einer anderen Sache denkbar, bei dem das Hervorgebrachte wesensidentisch mit dem Hervorbringenden ist und bei dem dennoch diese beiden aufgrund des Hervorbringungsverhältnisses relational voneinander unterschieden sind. Was Augustinus erhebt, ist demnach eine Denkmöglichkeit, die verdeutlicht, dass das im Glauben Bekannte nicht notwendigerweise für die ratio als widersinnig gelten muss. Zur Legitimation seiner Annahme, dass der Sohn Gottes als Wort zu begreifen sei, kann Augustinus dabei auf das Neue Testament zurückgreifen; wird doch beispielsweise im Prolog zum Johannesevangelium – zumindest nach augustinischem Verständnis – der Sohn Gottes als dessen Wort (λόγος) bestimmt.⁷⁰ So wie das Wort der mens wird nun nach Augustinus auch das Wort Gottes dadurch gezeugt, dass Gott sich selbst weiß und sich selbst in seinem Wort ausspricht.⁷¹ Da das Wissen Gottes (scientia Dei) vollkommen ist⁷² und Gott sich zudem „vollständig und vollkommen“
68 Vgl. Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 56. 69 Vgl. dazu u. a. Augustinus De Trinitate V, 1, 1 mit einem Zitat aus 1 Kor 13,12: „hinc iam exordiens ea dicere quae dici ut cogitantur uel ab homine aliquo uel certe a nobis non omni modo possunt, quamuis et ipsa nostra cogitatio cum de deo trinitate cogitamus longe se illi de quo cogitat imparem sentiat neque ut est eum capiat sed, ut scriptum est etiam a tantis quantus Paulus apostolus hic erat, per speculum in aenigmate videatur.“ 70 Vgl. dazu Joh 1,1; Augustinus De Trinitate XV, 10, 19; XV, 11, 20: „filius quod est verbum Dei“; XV, 14, 23: „verbum ergo Dei patris unigenitus filius per omnia patri similis et aequalis“. 71 Vgl. Augustinus De Trinitate XV, 13, 22: „propter hoc sicut nostra scientia illi scientiae Dei, sic et nostrum verbum quod nascitur de nostra scientia dissimile est illi verbo Dei quod natum est de patris essentia. (tale est autem ac si dicerim, de patris scientia, de patris sapientia; vel quod est expressius, de patre scientia, de patre sapientia).“ Ebenso De Trinitate XV, 14, 23: „proinde tamquam se ipsum dicens pater genuit verbum sibi aequale per omnia.“ 72 Vgl. ebd. XV, 13, 22: „ad omnia quippe scienda quae scit sufficit sibi illa perfectio.“
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(integre perfecteque) in seinem Wort ausspricht,⁷³ ist dieses ihm in allem gleich (per omnia aequale [Deo])⁷⁴. So gilt für dieses Wort: Es ist „Gott von Gott, Licht von Licht,⁷⁵ Weisheit von Weisheit, Wesen von Wesen, es ist gänzlich das, was der Vater ist (...).“⁷⁶ Der Umstand, dass sich Gott in seinem Wort ausspricht, setzt ihn in einen Unterschied zu ihm selbst, der nach Augustinus allerdings weder akzidentell noch als sein Wesen betreffend zu denken ist. So ist Gott Augustinus zufolge von sich als von seinem ihm in allem gleichen Wort allein dadurch unterschieden, dass er zum einen derjenige ist, der das Wort spricht und es mithin als „Vater“ zeugt, während er gleichzeitig auch derjenige ist, der als Wort ausgesprochen und somit als „Sohn“ des Vaters gezeugt wird. Dementsprechend erklärt Augustinus in der eben bereits zum Teil zitierten Stelle aus De Trinitate XV, dass der Sohn zwar gänzlich das ist, was der Vater ist, aber „dennoch nicht Vater, weil er [wörtlich: dieser] Sohn, jener Vater ist“⁷⁷. Augustinus’ Begriff der Zeugung des göttlichen Wortes hat weitreichende Folgen für seinen Entwurf praktischen Wissens. Dass und weshalb dem so ist, wird vor allem in Anbetracht seiner Identifikation des Wortes Gottes mit der göttlichen Wahrheit und Weisheit deutlich, die im Folgenden näher betrachtet werden soll.
10.2 Das Wort Gottes als dessen Wahrheit und Weisheit Wie eben bereits angemerkt worden ist, wird das göttliche Wort von Augustinus auch als die „Weisheit“ (sapientia)⁷⁸ und – dies war noch nicht angesprochen worden – als die „Wahrheit“ (veritas) Gottes⁷⁹ begriffen.⁸⁰ Dass Augustinus eine derartige Identifi-
73 Vgl. ebd. XV, 14, 23. 74 Vgl. ebd. 75 Dass Augustinus schon seit der Zeit seiner frühen Schriften wie De fide et symbolo als Vertreter des in Nizäa formulierten Glaubensbekenntnisses anzusehen ist, hat Basil Studer herausgearbeitet in: „Augustin et la foi de Nicée“, in: Recherches Augustiniennes 19 (1984), S. 133–154; ders.: „Das nizänische Consubstantialis bei Augustinus von Hippo“, in: Logos (Festschrift für Luise Abramowski), hrsg. von Hanns Christof Brennecke/Ernst Ludwig Grasmück/Christoph Markschies, Berlin 1993, S. 402–410. 76 Vgl. Augustinus De Trinitate XV, 14, 23: „verbum ergo Dei patris unigenitus filius per omnia patri similis et aequalis, Deus de Deo, lumen de lumine, sapientia de sapientia, essentia de essentia, est hoc omnino quod pater (...).“ 77 Ebd. XV, 14, 23: „(...) unigenitus filius (...) est hoc omnino quod pater non tamen pater quia iste filius, ille pater.“ 78 Vgl. z. B. ebd. XV, 13, 22; dass der Sohn Gottes als dessen Weisheit zu bestimmen ist, ist das im Vordergrund stehende Thema des sechsten Buches von De Trinitate, vgl. hier in erster Linie De Trinitate VI, 1, 1. 79 Vgl. z. B. ebd. XV, 14, 23; als Wahrheit wird der Sohn bei Augustinus auch in den folgenden Werken bestimmt: De magistro 11, 38; De vera religione 38, 71; De civitate dei 11, 2; In Iohannis evangelium 19, 9; 42, 14. 80 Die Gleichsetzung des Wortes Gottes mit dessen Sohn als dessen Weisheit findet sich u. a. auch
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kation vornimmt, ist vor allem vor dem Hintergrund seiner Konzeption der Zeugung des göttlichen Wortes zu verstehen, die er nach dem Entwurf der Wortzeugung durch die mens gestaltet. So sind diese Bestimmungen des göttlichen Wortes in Parallele dazu zu sehen, dass bei der Zeugung des geistigen Wortes neben dem „Gedächtnis“ (memoria) sowohl die „Kenntnis“/„Einsicht“ (notitia/intelligentia) der mens als auch deren „Liebe“/„Wille“ (amor/voluntas) einbezogen sind. Denn, wie erörtert worden ist, zeugt die mens ihr Wort, indem sie sich einsieht und sowohl das Einsehen als auch das Eingesehene liebt beziehungsweise will. Für das so gezeugte Wort ergibt sich daraus, dass es als die „geliebte Kenntnis“ und das Abbild der mens identisch mit dieser und in dem Sinne in Liebe mit ihr verbunden ist, dass die mens in ihrem Wort bei sich selbst anwesend ist. Überträgt man nun diese Konzeption auf die Zeugung des göttlichen Wortes, wird deutlich, weshalb Augustinus es abgesehen von den Anhaltspunkten, die die Schrift dazu gibt,⁸¹ als Wahrheit und Weisheit Gottes bestimmen kann.
10.2.1 Das verbum Dei als Wahrheit Gottes Was Augustinus’ Begriff des Wortes als Wahrheit betrifft, ergibt sich dieser aus dem folgenden Gedankengang.⁸² Augustinus gemäß weiß Gott sich selbst vollkommen und spricht das, was er weiß, in seinem Wort auch vollständig und vollkommen aus. Da das Wort Gottes sich dabei so unveränderlich verhält (immutabiliter se habet) wie der, von dem es stammt, ist das, was das Wort (zum Inhalt) hat und zum Ausdruck bringt, niemals „falsch“ (falsum); zeigt doch das Wort deswegen vollkommen, wie es ist, weil sich in ihm derjenige ausspricht, der in unveränderlicher Weise ist, wie er ist.⁸³ So gilt für das Wort Gottes: Mit Blick auf es wird in höchster Weise erkannt, dass das „es ist“ ein „es ist“ ist und dass das „(es ist) nicht“ ein „(es ist) nicht“ ist.⁸⁴ Indem das Wort mithin in perfekter Weise ausdrückt, wie es ist, ist es „(…) wahrhaft Wahrheit (vere veritas), da ja alles, was in dem Wissen ist, von dem es [das Wort] gezeugt wurde, auch in ihm selbst ist“⁸⁵.
bereits in De Trinitate IV, 20, 27. 81 Vgl. zur Weisheit in diesem Zusammenhang beispielsweise 1 Kor 1,24; zur Wahrheit Joh 14,6. 82 Vgl. zum Folgenden Augustinus De Trinitate XV, 14, 23. 83 Vgl. dazu auch Augustinus De immortalitate animae XI, 18. Dort bezeichnet Augustinus Gott als die veritas, „quae semper eodem modo est“. 84 Vgl. dazu auch De Trinitate XV, 15, 24: „Et magna illius verbi potentia est non posse mentiri quia non potest esse illic est et non sed est, est; non, non.“ 85 Ebd. XV, 14, 23; vgl. zudem ebd. XV, 11, 20, wo Augustinus erklärt, dass ein Wort dann wahr sei, wenn das, was in der „Kenntnis“ (notitia) ist, auch im Wort ist. Dass der Sohn als veritas zu begreifen sei, vertritt Augustinus schon in seinem Frühwerk. So zum Beispiel in dem bereits 386 entstandenen De beata vita. Hier identifiziert Augustinus den Vater mit dem „Maß“ (modus), den Sohn mit der
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Bestimmt Augustinus das göttliche Wort darüber hinaus auch als „Weisheit“, so ist dies in enger Verbindung mit seinem Begriff des Wortes als „Wahrheit“ zu sehen.⁸⁶ Wenngleich nämlich Gott nicht dadurch weise ist, dass er einen Sohn hat,⁸⁷ und zudem gilt, dass allen drei göttlichen Personen die Eigenschaft der Weisheit zuzusprechen ist,⁸⁸ kann doch von dem Sohn beziehungsweise Wort Gottes im Sinne einer proprietas der persona ausgesagt werden,⁸⁹ dass es die Weisheit Gottes sei.⁹⁰
10.2.2 Das verbum Dei als Weisheit Gottes Weshalb es dem Wort als „angestammte Eigenheit“ (proprietas) zukommt, die Weisheit Gottes zu sein, wird ebenfalls deutlich, wenn man diese These des Augustinus vor dem Hintergrund seines Entwurfes der geistigen Wortzeugung betrachtet und das hinzunimmt, was er im Allgemeinen zum Begriff der Weisheit ausführt. Wie Wolfgang Stein in seinem Überblick zur Entwicklung des augustinischen Weisheitsbegriffes herausgearbeitet hat, ist dieser schon in Augustinus’ frühen, in Cassiciacum entstandenen Schriften auf ein „Wissen“ (scientia), auf die „Wahrheit“ (veritas) und auf das „glückselige Leben“ (beata vita) hin ausgerichtet.⁹¹ Eine Modifikation dieses Weisheitskonzeptes, so Stein, sei im Folgenden in den Werken zu erkennen, die der „Übergangszeit“ (386–390) zuzurechnen seien und in denen Augustinus
„Wahrheit“ (veritas) und den Geist mit der „Ermahnung“ (admonitio). Wie auch in De Trinitate sind die Anklänge an neuplatonisches Gedankengut in De beata vita deutlich zu erkennen – Plotin wird selbst namentlich erwähnt. Dass in beiden Werken auch der parmenideische Wahrheitsbegriff – wenn auch gefiltert durch Platon und Plotin – zur Anwendung kommt, ist eher angedeutet; dass dem so ist, ließe sich allerdings vor allem im Anhalt an Augustinus’ Begriff einer auf ein Maß verweisenden beziehungsweise von Gott selbst ausgesprochenen Wahrheit, die er selbst ist (!), recht leicht zeigen. 86 Inwiefern hier eine Verbindung besteht, wird im Folgenden noch erörtert werden. Bezüglich dieser Thematik sei hier aber bereits verwiesen auf Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 50f.; vgl. zudem vor allem Augustinus Contra Academicos III, 3, 5, auf welches Stein in seiner Monographie (S. 51) hinweist. 87 Vgl. Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 67–74. 88 Vgl. Augustinus De Trinitate VII, 3, 6: „Et ideo sapientia pater, sapientia filius, sapientia spiritus sanctus; et simul non tres sapientiae, sed una sapientia; et quia hoc est ibi esse quod sapere, una essentia pater et filius et spiritus sanctus.“ 89 Vgl. ebd. VIII, Prooemium 1; zudem Basil Studer: Augustins De Trinitate, S. 181–183. 90 Vgl. Augustinus De Trinitate VII, 2, 3; dazu Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, Winterschlick (bei Bonn) 1973, S. 83–86. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die Wahrheit Gottes, die ebenfalls nicht nur dem Wort oder Sohn Gottes zuzusprechen ist, dem sie aber in vorzüglicher Weise zugesprochen werden kann. Vgl. dazu Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 67–74; zu Augustinus’ Identifikation des Sohnes mit der Weisheit, vgl. auch De Trinitate XIV, 1, 1; Contra Academicos II, 1, 1; De beata vita 34; De libero arbitrio II, 4, 10; De magistro XI, 1 (hier wird Christus als sempiterna sapientia Dei bezeichnet). 91 Vgl. Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 67.
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den sapientia-Begriff mehr und mehr religiös deute.⁹² So werde nun die Wahrheit, die der Weise anschaut, beispielsweise in De immortalitate animae mit Gott gleichgesetzt, dem der Weise anhängt (inhaeret), indem er ihm in göttlicher Liebe verbunden ist (divino amore coniunctus).⁹³ Für die Weisheit, in deren Besitz die Seele, wie es an anderer Stelle in De immortalitate animae heißt, durch die Hinwendung (conversio) zu Gott kommt, ergibt sich daraus laut Stein, dass sie sich „(...) in einer Gottverbundenheit im Sinne eines intueri, inhaerere und converti [erweist]“⁹⁴. Eine den augustinischen Weisheitsbegriff der Übergangszeit gut zusammenfassende Definition der sapientia findet sich nach Stein in De libero arbitrio, wo es heißt: Was hältst du denn anderes für die Weisheit als die Wahrheit, in der das höchste Gut erkannt und erfasst wird?⁹⁵
Das Weisheitsideal der als „Zeit der Reife“ zu bezeichnenden Phase des augustinischen Schaffens ist nach Stein’scher Auffassung ganz von der Bibel und dabei vornehmlich durch das Alte Testament geprägt.⁹⁶ Über das hinaus, was Augustinus in seiner Übergangszeit bezüglich des Weisheitsbegriffes ausgearbeitet hat, sind in seiner Reifezeit, wie vor allem die Schrift De utilitate credendi zeigt, noch die folgenden Elemente erkennbar: „Die cognitio Dei, verbunden mit der ‚entsprechenden Lebensgestaltung‘ (vita moresque), dann deo mente coniunctum esse, schließlich imitari deum.“⁹⁷ Ihren Höhepunkt erreicht die Entwicklung des augustinischen Weisheitsbegriffes laut Stein mit der Schrift De Trinitate. In dieser wird nicht nur die bereits in den Enarrationes in Psalmos im Anhalt an Hiob 28,28 vorgenommene Bestimmung der „Weisheit“ als Frömmigkeit (pietas) aufgenommen. Zudem erörtert Augustinus dort das, wie Stein schreibt, „eigentliche und tiefste Wesen menschlicher Weisheit, die contemplatio [Betrachtung]“⁹⁸. Genauer gefasst werde diese in De Trinitate als „contemplatio aeternorum“ (XII, 14, 22; XV, 3, 5)⁹⁹, als „contemplativa scientia“ (XV, 10, 17) und als „aeternarum rerum cognitio intellectualis“ (XIII, 15, 25).¹⁰⁰
92 Vgl. ebd. S. 67f. 93 Vgl. ebd. S. 68 mit einem Verweis auf De immortalitate animae XI, 18. 94 Ebd.; vgl. zudem auch die von Stein als Verweisstelle angegebene Passage aus De immortalitate animae XII, 19. 95 Augustinus De libero arbitrio II, 9, 25: „Num aliam putas esse sapientiam nisi ueritatem in qua cernitur et tenetur summum bonum?“ 96 Vgl. Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 69. 97 Ebd. S. 70. 98 Ebd. S. 71f.; zu Augustinus’ Begriff der contemplatio, vgl. auch Gerard J. P. O’Daly und Luc Verheijen: Art. „Actio – contemplatio“, in: Augustinus-Lexikon (vol. 1), hrsg. von Cornelius Mayer, in Verbindung mit Erich Feldmann et alii, Basel 1986–1994, Sp. 58–63. 99 Vgl. dazu Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 201. 100 Vgl. Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 71f.; zudem Goulven Madec: „Christus, sapientia et scientia. Le princip de cohérence de la doctrine augustinienne“, in: Ders.: Saint Augustin et la philosophie, Paris 1996, S. 121–124; Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 524–528.
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Zentral für das Verständnis des Weisheitsbegriffes in De Trinitate ist zudem, dass die contemplatio im vorliegenden Fall nicht als eine rein intellektuelle Betrachtung zu verstehen ist, die nichts mit anderen Formen menschlicher Praxis zu tun hat. Obwohl es nämlich die scientia ist, die laut Augustinus das auf das Handeln in dieser Welt ausgerichtete Wissen darstellt,¹⁰¹ spielt die sapientia in diesem Zusammenhang dennoch eine wichtige Rolle. Dies deshalb, weil sie die scientia im Idealfall so bestimmt, dass diese die weltlichen Dinge nicht als Letztziele menschlichen Handelns ansieht.¹⁰² So richtet der weise Mensch sein Streben Augustinus zufolge vielmehr auf Gott als sein Letztziel aus, bei welchem er in der contemplatio aeternorum anwesend zu sein sucht.¹⁰³ Wie hier deutlich wird, steht die Weisheit nicht nur in einem Zusammenhang zur Wahrheit, die Gott ist und die der Weise im Rahmen der contemplatio aeternorum betrachtet, sondern auch zum Willen, und zwar in Bezug auf die Ausrichtung desselben. Das heißt vereinfacht formuliert: Wer weise ist, verfügt nicht nur über ein bestimmtes Wissen, das sich aus der Betrachtung der Wahrheit ergibt. Er hat auch einen bestimmten Willen, der die Betrachtung Gottes zum Letztziel nimmt, alles andere auf dieses Ziel hin ausrichtet und damit eine, wie Wolfgang Stein sich im Anhalt an De utilitate credendi ausdrückt, „entsprechende Lebensgestaltung“ (vita moresque) des Menschen bewirkt. Nimmt man diese beiden Aspekte des augustinischen Weisheitsbegriffes zusammen und stellt sie in einen Zusammenhang mit seinen Ausführungen bezüglich der Zeugung des Wortes durch die mens, wird deutlich, weshalb Augustinus das göttliche Wort auch als Weisheit begreifen kann. Denn, wie erörtert worden ist, sind bei der Zeugung des Wortes durch den Geist neben der memoria auch die Vermögen des Einsehens und des Willens beteiligt. So ist das Wort das Ergebnis der Selbsteinsicht der mens sowie ihres Willens, eine solche Einsicht ihrer selbst zu gewinnen, um in dieser Weise bei sich anwesend zu sein. Überträgt man dieses Modell auf Gott und nimmt man mit Augustinus an, dass Gott sich nach Art der als memoria, intellectus und voluntas begriffenen mens selbst einsieht und will und sich infolgedessen in seinem Wort ausspricht, ist auch mit Blick auf das göttliche Wort anzunehmen, dass es aus den Reflexionen des göttlichen Einsehens und Wollens hervorgeht. Legt man nun den eben entwickelten Weisheitsbegriff des Augustinus zugrunde, zeigt es sich, dass Gott, da er sich selbst
101 Zu dem in dieser Hinsicht bestehenden Unterschied zwischen sapientia und scientia, vgl. Augustinus De Trinitate XII, 14, 22ff. 102 Vgl. dazu Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 524f.: „Die Kunst des rechten Lebens besteht darin, das Zeitliche nicht um seiner selbst willen zu genießen, sondern es auf das höchste Gut hin gut zu gebrauchen. Es geht darum, die scientia auf die sapientia zu beziehen, in der die intelligiblen Vernunftgründe und nicht mehr nur die sinnlichen Gegenstände erfaßt werden.“ Vgl. zudem Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 201 und die dort und bei Kany angegebenen Verweisstellen bei Augustinus. 103 Auf das für Augustinus’ Ethik zentrale Thema der Betrachtung Gottes als dem Letztziel menschlichen Strebens wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden.
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weiß und will und sich in seinem Wort ausspricht, ebenfalls als weise zu denken ist; betreibt er doch im Zeugen und Aussprechen seines Wortes selbst auch eine contemplatio aeternorum, nämlich sui; „hängt er“ doch als ein sich selbst wollender, wie es in De immortalitate animae heißt, der „Wahrheit an“ (inhaeret), die er selbst ist; ist doch dieses Wollen immer schon dadurch zur Erfüllung gekommen, dass er durch sein ihm wesensgleiches Wort mit sich selbst in göttlicher Liebe verbunden ist (divino amore coniunctus).¹⁰⁴ Ebenso wie der Sohn in seiner Eigenschaft als das göttliche Wort in besonderer Weise mit der Wahrheit Gottes identifiziert werden kann, ist er folglich auch als die göttliche Weisheit zu bestimmen, in der sich Gott selbst betrachtet und sich selbst in Liebe anhängt.
10.3 Das Wort Gottes als veritas und sapientia – einige Konsequenzen Augustinus’ im Anhalt an die Heilige Schrift vorgenommene Bestimmung des Wortes Gottes als Weisheit und Wahrheit hat weitreichende Konsequenzen für seinen Gottesbegriff und damit verbunden auch für seine Konzeption praktischen Wissens. Indem Augustinus nämlich Gott zuspricht, über Wissen (scientia) zu verfügen, und dieses – im vorliegenden Kontext zunächst nur auf Gott selbst bezogene – Wissen als Ausgangspunkt für die Selbstaussprache Gottes in seinem Wort nimmt, ergibt sich folgender Schluss: Zumindest als Wort kann man Gott als Gegenstand eines Wissens ansehen. Das Erste Prinzip, so Augustinus’ These, weiß sich und ist damit prinzipiell wissbar. So etwas anzunehmen, war noch für Plotin deswegen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, weil ihm der Gedanke der Selbstreflexion einer vollkommenen Einheit notwendigerweise zu einem Selbstwiderspruch zu führen schien. Denn, so Plotins Argument, wenn das Eine sich denkt, dann ist es sowohl Denkendes als auch Gedachtes – mithin aber nicht mehr vollkommen eines. Aller Wahrscheinlichkeit nach angeregt durch Porphyrius’ Modifikation des plotinischen Prinzipienbegriffes legt nun Augustinus anhand seiner Strukturanalyse der mens – gegen Plotin – dar, dass es doch möglich sei, anzunehmen, dass Gott sich selbst einsieht beziehungsweise weiß, ohne dass damit seine Einheit gebrochen wäre.¹⁰⁵ So zeigt die Betrachtung des
104 Vgl. Augustinus De immortalitate animae XI, 18. 105 Zu Augustinus’ Argumentation zu diesem Punkt, vgl. auch Edward Booth: „St. Augustine’s ‚notitia sui‘“, in: Augustiniana 27 (1977), S. 396f.; Booth verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf De Trinitate XV, 6, 10, wo Augustinus schreibt: „aut vero putandum est, sapientiam quae Deus est, scire alia et nescire se ipsam, vel diligere alia nec diligere se ipsam?“ Zudem auf De Trinitate IX, 11, 16: „quia nec tantum eum novimus, quantum ipse se.“ Zu der wohl von Porphyrius vorgenommenen Modifikation des plotinischen Prinzipien-Begriffes, vgl. Werner Beierwaltes: „Das seiende Eine“, S. 198: „Der Grundgedanke der aristotelischen Theologik, daß der Gott als Erstes Sein oder UnbewegtBewegender reine Wirklichkeit, sich selbst denkendes Denken ist, hat sich mit dem Begriff des göttli-
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Geistes, mit Augustinus gedacht, nicht nur, dass es möglich ist, etwas widerspruchsfrei als einheitlich und dreiheitlich zugleich zu denken. Sie zeigt darüber hinaus auch, dass eine Form der Selbstreflexion denkbar ist, die nicht der vollkommenen Einheit des sich selbst Reflektierenden entgegensteht; kann doch die mens als eine intelligentia aufgenommen werden, die, sofern sie sich selbst vollkommen einsieht, keinen ihre substantia beziehungsweise essentia betreffenden Unterschied zwischen ihr als einer einsehenden und ihr als einer eingesehenen setzt. Denn im Fall einer vollkommenen Erkenntnis beziehungsweise Einsicht der Einsicht wird das Eingesehene, wie Augustinus ausführt, auch in einer vollkommenen Weise abgebildet, so dass das Bild und das Abgebildete als ihrem Wesen nach identisch betrachtet werden können und beide trotz ihres Reflexionsverhältnisses eines sind. Daraus ergibt sich, dass man auch dem Ersten, als vollkommen einheitlich begriffenen Prinzip, sofern man voraussetzt, dass es sich selbst vollkommen weiß und ausspricht, mit Augustinus doch zusprechen kann, über ein Selbstwissen zu verfügen, das nicht als dessen Einheit gefährdend einzuschätzen ist und das sich in seinem Wort als Wahrheit ausspricht.¹⁰⁶ Nimmt man nun mit Augustinus an, dass das Erste Prinzip sich selbst reflektiert, so folgt daraus, dass es nicht notwendigerweise vollkommen „undenkbar“ (ἀνόητον)¹⁰⁷ und „unaussagbar“ (ἄρρητον)¹⁰⁸ ist. Bezug nehmend auf den Anfang des fünften Buches von De Trinitate, bemerkt Alfred Schindler dazu in seiner 1965 erschienenen Monographie zu Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre: Obschon dieser Anfang [des fünften Buches, T. J.] über die Unaussprechlichkeit Gottes redet, wird doch nicht die totale Unaussprechlichkeit behauptet – ein Gedanke, den Augustin, wo er ihn profiliert ausspricht, als in sich widersprüchlich empfindet¹⁰⁹ –, sondern sorgfältig die Zwischenstufe des Denkens unterschieden (...). Die Brücke, die zwischen diesen entfernten Ebenen [zwischen unserem Denken und Gott, T. J.] geschlagen wird, ist jenes Spiegel-Verhältnis, jenes Abbild- und Gleichnishafte, durch
chen Einen zu einer neuen Gotteskonzeption verbunden. Darin unterscheidet sich Porphyrius sowohl von Plotin als auch vom späteren Neuplatonismus. Präzis diese Denkstruktur aber kommt der christlichen Theologie entgegen; diese konnte Gott schwerlich als relationslos und daher als über-seiend und über-denkend in sich verstehen, sondern mußte ihn vielmehr als denkende trinitarische Relation entfalten.“ 106 Auch an dieser Stelle ist zu betonen, dass sich aus der Analyse der Struktur der mens eine Denkmöglichkeit ergibt. Man kann Gott eine Selbstreflexion und ein Selbstwissen zusprechen, da, wie das Beispiel des Geistes zeigt, nicht jede Selbstreflexion notwendig einen Bruch der Einheitlichkeit des Reflektierenden nach sich zieht. 107 Vgl. Plotin Enneade V 3, 10, 42; zudem V 5, 6, 24f. 108 Vgl. ebd. V 3, 13, 1; an dieser Stelle ist von Bedeutung: Für Augustinus ist Gott nicht vollkommen unaussagbar. Dies ist nicht so zu verstehen, als wäre er überhaupt gänzlich aussagbar. Wie nun im unmittelbar Folgenden gezeigt werden wird, wird allerdings die Radikalität des plotinischen Gedankens der vollkommenen Unaussagbarkeit Gottes von Augustinus nicht übernommen. Zum Spannungsverhältnis zwischen der Aussagbarkeit und Unaussagbarkeit Gottes bei Augustinus, vgl. De doctrina christiana I, 6, 6. 109 Hier gibt Schindler einen Hinweis auf Augustinus De doctrina christiana I, 6; Epistula 120, 13.
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das nun doch eine Erkenntnis trotz aller Schattenhaftigkeit möglich ist. Zu dieser einen Möglichkeit, die weitgehend auf einer analogia entis beruht, tritt die zweite Verbindung, die in der Willenskundgebung Gottes liegt, d. h. darin, daß er will, daß über ihn gedacht – und geredet – wird, und daß er auch bereit ist, die Schwäche menschlichen Redens zu verzeihen.¹¹⁰
Damit, so Schindler, sei Augustinus’ Ansatz bezüglich der Denk- und Aussagbarkeit Gottes grundsätzlich vom „neuplatonischen Theologietreiben“¹¹¹ unterschieden.¹¹² Dies deswegen, weil (...) dort die Unaussprechlichkeit des höchsten Einen mit ganz anderer Konsequenz durchgeführt ist: Es ist nicht analogisch zu erkennen, sondern nur durch Preisgabe alles Bestimmten überhaupt, es gibt über das Eine keine verbindliche, positive Aussage, sondern nur die konsequente Negation.¹¹³
Im Unterschied dazu kann bezüglich des sich in seinem als Wahrheit begriffenen Wort selbst wissenden Gottes mit Augustinus angenommen werden, dass dieser deswegen ein möglicher Gegenstand des Wissens ist, weil er sich selbst weiß. Mag in dieser Weise auch der Gedanke der prinzipiellen Erkennbarkeit Gottes gerechtfertigt sein, ist damit allerdings noch nicht erklärt, weshalb wir etwas von Gott denken und etwas über ihn sagen können und nicht nur er selbst. Bevor dieser Frage nachgegangen werden wird, soll nun zuvor noch kurz auf das zweite der eben angesprochenen Themen eingegangen werden – die Weisheit Gottes und die Konsequenzen, die sich aus ihrer Annahme ergeben. Begriffen als Wort, ist Gott laut Augustinus nicht nur „wissbar“, er ist auch als ein Gegenstand des Willens anzusehen. Dies zeigt die Konzeption des Wortes Gottes als Weisheit. So kann Gott insofern gewollt werden, als er sich in der Zeugung seines als seine Weisheit begriffenen Wortes nicht nur selbst weiß, sondern auch will. Demnach betrachtet sich Gott in seiner Weisheit, so hängt er sich in ihr an und so ist er in seiner göttlichen Liebe mit sich selbst verbunden. Ebenso wie er sich in seinem Wort selbst weiß, will er sich daher in diesem auch selbst, was zur Folge hat, dass er prinzipiell „erstrebbar“ ist. Dass Augustinus Gott in Analogie zum näherhin als Liebe aufzufassenden Willen der mens einen liebenden Willen zuschreibt, den dieser reflexiv auf sich selbst richtet, setzt einen weiteren wesentlichen Unterschied zu Plotins Konzept des Ersten Prinzips. Denn laut Plotin ist dem Einen nicht nur kein Denken, sondern
110 Alfred Schindler: Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre, S. 148. Zur Stützung seiner These verweist Schindler an dieser Stelle zudem auf den Prolog zu Buch I von De Trinitate. 111 Schindlers doch stark verallgemeinernde Rede von einem „neuplatonischen Theologietreiben“ erfordert sicherlich eine Differenzierung. Für Plotin jedoch kann das, was Schindler ausführt, sicherlich als zutreffend genommen werden, und es ist auch dieser, auf dessen Denken Schindler im Folgenden vor allem eingeht. 112 Vgl. Alfred Schindler: Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre, S. 148. 113 Ebd. Bezüglich der plotinischen Annahme der Unerkennbarkeit des Ersten Prinzips verweist Schindler auf Christian Rutten: Les catégories du monde sensible dans les Ennéades de Plotin, Paris 1961, S. 18ff.
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auch kein Wille nach irgendeinem Guten zuzusprechen, da es als ein vollkommen Einheitliches auch vollkommen selbstgenügsam ist.¹¹⁴ Gott weiß sich und er will sich – Gott ist insbesondere in seinem Wort Wahrheit und Weisheit. Diese beiden im Vergleich zu Plotins Einheitsentwurf vorgenommenen Änderungen bezüglich des Begriffes des Ersten Prinzips haben, wie eben bereits angemerkt worden ist, gravierende Folgen, da sie die Möglichkeit eröffnen, Gott als einen Gegenstand des Wissens¹¹⁵ und des Wollens zu betrachten.
10.4 Das fleischgewordene Wort Gottes als Mittler des Wissens Gottes Nun ergibt sich, wie bereits angemerkt worden ist, aus dem Gedanken der prinzipiellen Wiss- und Erstrebbarkeit Gottes allerdings noch keine Erklärung dafür, weshalb auch wir etwas von ihm wissen und ihn zum Gegenstand unseres Willens nehmen können. Das Problem, das hier aufscheint, ist das der Vermittlung des Wissens Gottes – im genitivus subiectivus et obiectivus – in unser menschliches Denken, auf dass auch wir zu einem solchen Wissen Gottes – allerdings nur im genitivus obiectivus – gelangen.¹¹⁶ Wie schwerwiegend dieses Problem ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Gott von Augustinus trotz der Annahme seiner Selbstreflexion als eine vollkommene Einheit betrachtet wird und dass bezüglich dieser Einheit gilt: „si enim comprehendis, non est Deus.“ Gott wohnt auch in seiner Dreieinheit im unzugänglichen Licht und ist dort im strengen Sinn des Wortes für uns nicht denk- oder aussagbar. Wenn Augustinus nun dennoch Aussagen über Gott trifft und ihn sogar zum Gegenstand einer theologia macht, erfordert dies eine gewisse Rechtfertigung von seiner Seite.
114 Vgl. Plotin Enneade VI 9, 6, 40–58. 115 Auf die von Augustinus angenommene grundsätzliche Erkennbarkeit Gottes weist auch Rudolf Lorenz hin – wenn auch nicht im Ausgang von Augustinus’ Überlegungen zur Trinität, sondern im Anhalt an dessen Illuminationslehre. Lorenz schreibt dazu: „Zur Erleuchtung gehört, daß Gott selbst sich erschließt. Das erleuchtende Licht zeigt sich stets auch selbst, und das bedeutet, daß Gott grundsätzlich erkennbar ist.“ In diesem Zusammenhang verweist Lorenz unter anderem auf Augustinus In Johannis evangelium tr. 47, 3, wo es heißt: „lumen cum alia monstrat quae videntur in lumine, numquid alio indiget ut monstretur? lumen cum ergo et alia demonstrat et seipsum.“ Darüber hinaus verweist Lorenz auch auf Augustinus Soliloquia I, 8, 15 und führt dazu aus: „Aus der Sichtbarkeit des göttlichen Lichtes folgt, daß Gott erkannt werden kann: ‚Ergo quomodo in hoc sole tria quaedam licet animadvertere; quod est, quod fulget, quod illuminat: ita in illo secretissimo deo quem vis intellegere, tria quaedam sunt; quod est, quod intelligitur, et quod caetera facit intelligi‘.“ Vgl. dazu Rudolf Lorenz: „Gnade und Erkenntnis bei Augustinus“, in: Carl Andresen (Hrsg.): Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart II, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 327), Darmstadt 1981, S. 84f. mit den Anm. 171 und 172. 116 Dass wir ein solches Wissen dabei nur in einer sehr eingeschränkten Art und Weise erlangen können, wird weiter unten noch genauer ausgeführt werden.
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
Zentral für Augustinus’ Lösung der beschriebenen Problematik ist der sich schon in seinen frühesten Schriften findende Gedanke, dass die Vermittlung des göttlichen Wissens durch die Menschwerdung des Wortes Gottes geschehe. Keine Philosophie dieser Welt nämlich, erklärt er in Contra Academicos und auch nicht der „verfeinertste Verstand“ (ratio subtilissima) könnten die Seelen der Menschen zur „einsehbaren Welt“ (mundus intelligibilis)¹¹⁷ zurückrufen. Vielmehr habe es dazu eines Aktes göttlicher Milde bedurft, in welchem Gott „den Urheber des göttlichen Einsehens“ (auctoritatem divini intellectus) bis zum menschlichen Leib hinabgebeugt und ihn diesem unterworfen habe.¹¹⁸ Viel später, in De Trinitate, wird Augustinus unter Bezugnahme auf den Johannesprolog formulieren, dass das Wort, indem es Fleisch wird und bei uns wohnt, den Vater offenbart (revelat), der dieses Wort als sein Wort ausgesprochen hat.¹¹⁹ Dementsprechend ist es, wie es ebenfalls in De Trinitate heißt, „der Mensch Christus Jesus“ (homo Christus Iesus), der als „Mittler zwischen Gott und den Menschen“ (mediator dei et hominum) alle aus dem Glauben Lebenden zur Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht führen wird.¹²⁰ Dass der Inkarnation eine zentrale Rolle für die Vermittlung des göttlichen Wissens zukommt, zeigt sich noch an einer Reihe von anderen Stellen in Augustinus’ Œuvre. So bemerkt Basil Studer in seinem Werk Gratia Christi – Gratia Dei bei Augustinus von Hippo die Confessiones zitierend: Als Mensch macht Christus die Offenbarung der ewigen Weisheit, das heißt, des Wortes möglich, in dem alle Gedanken Gottes enthalten sind. In diesem Sinn bekennt Augustinus: „(…) ich fand den Weg nicht, bis ich den Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Christus Jesus ins Herz schloss, der Gott über alles in Ewigkeit gepriesen ist und der mir zurief: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, und der die mir wegen meiner Schwäche unzugängliche Speise mit dem Fleisch vermischte; das Wort ist nämlich Fleisch geworden, damit deine Weisheit, durch welche Du alles geschaffen hast, zur Milch für unsere Kindheit werde“.¹²¹
117 Wie der Kontext dieser Stelle zeigt, handelt es sich dabei um die im weitesten Sinne göttliche Welt. 118 Vgl. Augustinus Contra Academicos III, 19, 42: „non enim est ista huius mundi philosophia, quam sacra nostra meritissime detestantur, sed alterius intelligibilis, cui animas multiformibus erroris tenebris caecatas et altissimis a corpore sordibus oblitas numquam ista ratio subtilissima revocaret, nisi summus deus populari quadam clementia divini intellectus auctoritatem usque ad ipsum corpus humanum declinaret atque summiteret (...).“ 119 Vgl. Augustinus De Trinitate VII, 3, 4. Zum Begriff der Offenbarung, wie er dem Werk des Augustinus zu entnehmen ist, vgl. vor allem Wolfgang Wieland: Offenbarung bei Augustinus, Mainz 1978. 120 Vgl. ebd. I, 8, 16 in Verbindung mit 1 Kor 15,24ff. Was es mit dieser Schau von Angesicht zu Angesicht auf sich hat, wird weiter unten noch thematisiert werden, wenn es um die Frage nach dem Letztziel menschlichen Strebens geht. 121 Basil Studer: Gratia Christi – Gratia Dei bei Augustinus von Hippo. Christozentrismus oder Theozentrismus?, Rom 1993, S. 81 mit einem Zitat aus Augustinus Confessiones VII, 18, 24; vgl. zudem Confessiones X, 43, 68.
Das fleischgewordene Wort Gottes als Mittler des Wissens Gottes
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(Theo-)logisch ist der Gedanke der Vermittlung des göttlichen Wissens durch den mediator Jesus Christus in zwei Überlegungen des Augustinus grundgelegt, die in den eben zitierten Stellen auch schon angeklungen sind. Zum einen darin, dass Christus identisch mit dem Wort Gottes ist, in welchem sich dieser – in der Person des Vaters – selbst weiß und ausspricht. Zum anderen nimmt Augustinus darüber hinaus mit der ihm überkommenen Tradition an, dass das Wort Gottes in Jesus Christus Mensch geworden ist und so den anderen Menschen das ihm als Wort eigene Wissen vermittelt hat. Dementsprechend schreibt Augustinus in seinen Confessiones: Warum so, ich bitte, Herr, mein Gott! Irgendwie sehe ich es ja, aber wie ich es ausdrücken soll, weiß ich nicht. Etwa so: Alles, was anfängt zu sein und aufhört zu sein, fängt dann an zu sein und hört dann auf zu sein, alswann sein Anfangensollen oder Aufhörensollen in der ewigen Vernunft geschaut wird, in der all das weder einen Anfang noch ein Aufhören hat. Eben sie ist Dein Wort, das auch der Anfang (principium) ist, weil es auch spricht zu uns. So hat das Wort im Evangelium durch Vermittlung des Fleisches gesagt, und das ertönte äußerlich in den Ohren der Menschen, damit man es glaube und es innen in sich suche und es finde in der ewig feststehenden Wahrheit, dort, wo jeglichen Schüler der gute und einzige Meister belehrt.¹²²
Bezüglich des Wissens Gottes im Wort ist dabei zum besseren Verständnis noch der folgende „argumentative Zwischenschritt“ notwendig. Bislang war lediglich die Rede davon gewesen, dass Gott sich qua Vater in seinem Wort selbst weiß und ausspricht. Dies nun könnte den irrigen Eindruck erwecken, dass der Vater über ein göttliches Selbstwissen verfügt, der Sohn, begriffen als Wort, allerdings nicht. Dem steht beispielsweise eine Passage aus dem XV. Buch von De Trinitate entgegen, in welcher es heißt: Alles weiß daher Gott Vater in sich selbst, alles weiß er im Sohn, in sich selbst aber wie sich selbst, im Sohn wie sein Wort, das von all dem gezeugt ist, das im Vater selbst ist. In ähnlicher Weise weiß alles auch der Sohn, in sich selbst nämlich als das, was von dem geboren ist, das der Vater in sich weiß, im Vater aber als das, von dem geboren ist, was der Sohn in sich selbst weiß. Es kennen sich also der Vater und Sohn, jener, indem er zeugt, dieser, indem er gezeugt wird.¹²³
Nicht nur in der Person des Vaters weiß Gott sich daher selbst, auch sein als Wort verstandener Sohn verfügt über das (Selbst-)Wissen Gottes. Bestimmt Augustinus auch das Wort als „wissend“, so ergibt sich dies aus der Annahme der vollkommenen Selbstreflexion Gottes. Weiß Gott sich nämlich in einer perfekten und umfassenden Weise, weiß er sich notwendigerweise auch als einen sich selbst Wissenden. Dement-
122 Augustinus Confessiones XI, 8, 10; die Übersetzung dieser Passage stammt aus Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt 1987; vgl. dazu Robert D. Crouse: „St. Augustine’s De Trinitate. Philosophical Method“, S. 504f. 123 Augustinus De Trinitate XV, 14, 23 (die Übersetzung dieser Stelle ist Basil Studers Augustinus De Trinitate, S. 203, entnommen).
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sprechend weiß der Sohn, wie es in der eben zitierten Passage heißt, ebenfalls alles, und zwar „in sich selbst als das, was von dem Vater geboren ist, das der Vater in sich weiß, im Vater aber als das, von dem geboren ist, was der Sohn in sich selbst weiß“. Wäre dies nicht der Fall, wäre die Selbstreflexion nicht umfassend, da das Wort als die gesetzte Seite der göttlichen Reflexion nicht alles zum Ausdruck brächte, was der es aussprechende Vater ist. Die Geist-Gott-Analogie des Augustinus aufnehmend formuliert Basil Studer diesen Gedanken in folgender Weise: Wenn Augustinus den Sohn als intelligentia hinstellt, will er damit nicht allein zum Ausdruck bringen, daß der Sohn dem Vater gleich ist. Er hält ebenso fest, dass es dem Sohn eigen ist, alles widerzuspiegeln, was im Vater ist. In ihm wird das Wissen des Vaters zur forma, ohne dass er selbst deswegen formabilis gewesen wäre, wie das beim inneren Wort des Menschen der Fall ist.¹²⁴
Wird nun der alles wissende Sohn beziehungsweise das Wort Gottes Fleisch und manifestiert es sich damit auch für die menschlichen Sinne,¹²⁵ zeigt es als Wort „den Vater so, wie er ist, weil es selbst so ist [wie der Vater, T. J.] (…)“¹²⁶. Wie einige Zeilen zuvor in derselben Passage deutlich wird, geschieht dieses „Zeigen“ laut Augustinus dadurch, dass die mit dem Sohn als identisch zu betrachtende Weisheit Folgendes tut: (…) durch ein Erleuchten sagt sie uns sowohl über sich als auch über den Vater das, was den Menschen gesagt werden muss. Daher sagt sie [die Weisheit]: ‚Niemand kennt den Sohn außer dem Vater und niemand kennt den Vater außer dem Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will‘¹²⁷, weil der Vater durch den Sohn offenbart, das heißt durch sein Wort.¹²⁸
Uns sagen, was gesagt werden muss, und damit als Mittel für die Offenbarung des Vaters dienen, kann der Sohn qua Weisheit und Wort mit Augustinus gedacht dabei deswegen, weil er eines Wesens mit dem Vater ist und mithin über dasselbe göttliche Wissen verfügt wie der Vater. Vereinfacht könnte man die Offenbarung Gottes durch sein Wort auch wie folgt formulieren. Gott spricht sich selbst – in Ewigkeit und daher zeitlos gedacht – als Vater in seinem ihm wesensgleichen und von ihm lediglich relational unterschiedenen Wort aus. Dieses wird Mensch und sagt uns seinerseits als Mensch und in menschlicher Sprache, was über es selbst und den Vater zu sagen ist. Es kann dieses, da es
124 Basil Studer: Augustinus De Trinitate, S. 203, mit einem Verweis auf Augustinus De Trinitate XV, 3, 5. 125 Vgl. Augustinus De Trinitate XV, 11, 20. 126 Vgl. ebd. VII, 3, 4: „(…) quod ita ostendit patrem sicuti est pater quia et ipsum ita est (…).“ 127 Im Lateinischen steht die Verbform (voluerit) im Futur II, was im Deutschen allerdings stilistisch nur sehr unschön wiedergegeben werden kann. 128 Augustinus De Trinitate VII, 3, 4 mit einem Zitat aus Mt 11,27: „(…) et inluminando dicit nobis et de se et de patre quod dicendum est hominibus. ideoque ait: ‚nemo novit filium nisi pater, et nemo novit patrem nisi filius et cui voluerit filius revelare‘ quia per filium revelat pater, id est per verbum suum.“
Das fleischgewordene Wort Gottes als Mittler des Wissens Gottes
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selbst Gott ist und infolgedessen auch über dessen Wissen verfügt. Wie sich folglich Gott Vater in seinem Wort selbst ausspricht, spricht das fleischgewordene Wort Gott – wenn auch in einer gänzlich anderen Weise als der Vater¹²⁹ – für uns aus, um ihn so zu offenbaren.¹³⁰ Prägnant zusammengefasst findet sich das, was hier zu der sich durch die Inkarnation des Wortes ereignenden Selbstmitteilung Gottes ausgeführt worden ist, in Augustinus’ Sermo CXVII. Dort schreibt er: Damit wir aber dazu gelangen[, Gott zu sehen], wenn wir noch nicht das Wort, Gott, sehen können, sollen wir das Wort, das Fleisch, hören: Weil wir als fleischliche gemacht worden sind, sollen wir das Wort hören, das Fleisch geworden ist. Deshalb nämlich ist es gekommen, deshalb hat es unsere Schwäche auf sich genommen, damit du die feststehende Rede¹³¹ Gottes fassen kannst, da Gott deine Schwäche trägt. (...) Es bereitet uns das, was wir verstehen können.¹³²
So ist es, wie Augustinus in De doctrina christiana schreibt, Gott selbst, der (…) obwohl nichts über jenen in angemessener Weise gesagt werden kann, die Ergebenheitsbezeugung¹³³ der menschlichen Stimme zugelassen [hat], und der wollte, dass wir uns mit unseren Worten an seinem Lob erfreuen. Denn von daher kommt es auch, dass Gott [überhaupt, T. J.] ausgesagt wird.¹³⁴
129 Wie diese Weise näherhin zu bestimmen ist, wird noch eigens thematisiert werden. 130 Christus als das inkarnierte Wort ist mithin auch als der „innere Lehrer“ (intus magister) zu begreifen (vgl. De magistro XII, 40). Wie Augustinus in De magistro erklärt, umfasst sein Lehren allerdings nicht nur die Dinge, die mit der göttlichen Offenbarung verbunden sind. Als Wahrheit und Weisheit lehrt Christus vielmehr alles, was überhaupt einsehbar ist, so dass auch die theoretische Einsicht durch ihn vermittelt ist. Vgl. dazu Gillian R. Evans: Getting it wrong. The Medieval Epistemology of Error, Leiden 1998, S. 74ff.; vgl. zudem die Einleitung zu Augustinus De magistro – Der Lehrer. Zweisprachige Ausgabe unter Mitarbeit von Peter Schulthess und Rudolf Rohrbach eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Therese Fuhrer, Paderborn 2002, S. 73–78. 131 Die von Augustinus an dieser Stelle verwendete Entgegensetzung der menschlichen infirmitas und der firmitas der göttlichen locutio kann im Deutschen so nicht nachgemacht werden, wie sie das lateinische Original bietet. Es sei hier jedoch zumindest auf sie hingewiesen. 132 Augustinus Sermo CXVII, 10, 16: „Sed ut perveniamus, si nondum possumus videre Verbum Deum, audiamus Verbum carnem: quia carnales facti sumus, audiamus Verbum carnem factum. Ideo enim venit, ideo suscepit infirmitatem nostram, ut possis firmam locutionem capere Dei portantis infirmitatem tuam. (…) Conficit nobis quod capere possimus.“ Vgl. zudem In Psalmos 99, 9. 133 So übersetzt Karla Pollmann den Terminus „obsequium“ an dieser Stelle. Vgl. dazu Pollmanns Übersetzung in Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana), Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann, Stuttgart 2002, S. 19. 134 Augustinus De doctrina christiana I, 6, 6: „et tamen deus, cum de illo nihil digne dici possit, admisit humanae vocius obsequium, et verbis nostris in laude sua gaudere nos voluit. Nam inde est et quod dicitur deus.“ Zu De doctrina christiana vgl. auch Karla Pollmann: Doctrina Christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana, (Reihe: Paradosis, Bd. 41), Freiburg 1996.
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Setzt man das, was zu Augustinus’ Konzept der Vermittlung des göttlichen Wissens durch das Wort Gottes ausgeführt worden ist, in Bezug zu der von ihm entworfenen Analogie zwischen der Trinität des Geistes und der göttlichen Trinität, zeigt sich eine enge Verbindung zwischen beidem. Daher ist Roland Kany zuzustimmen, wenn dieser schreibt, dass „[d]ie Trinitätslehre (…) nicht zuletzt ein Konzept [liefert], auf dessen Grundlage eine Vermittlung zwischen Schöpfer und Schöpfung gedacht werden kann“¹³⁵. Diese Meinung ist insofern zu teilen, als die im Anhalt an die mens-Analyse entwickelte Annahme des Augustinus, dass Gott als sich selbst reflektierend gedacht werden könne, in der Tat eine Denkmöglichkeit dafür eröffnet, wie sich die Vermittlung des göttlichen Wissens in das Denken der Menschen kommunikabel darstellen lässt. Zusammengefasst lässt sich die Vermittlung dabei folgendermaßen beschreiben: Da Gott sich selbst weiß und dieses Wissen in Gestalt seines Wortes unter den Menschen wohnen lässt, können auch die Menschen etwas von ihm wissen.¹³⁶
10.5 „Denn sagen, wie es ist, wer kann das wohl?“¹³⁷ Ist am Ende des letzten Abschnittes die Rede davon, dass die Menschen aufgrund der Selbstoffenbarung Gottes etwas von ihm wissen können, weist dies auf eine wichtige Einschränkung bezüglich des Wissens hin, das der Mensch nach Augustinus mit Blick auf Gott einsehen kann. Augustinus zufolge besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Wissen, das Gott in seinem Wort von sich selbst hat, und dem Wissen, das wir durch die Menschwerdung des Wortes erlangen können. Angedeutet findet sich dieser Unterschied beispielsweise in dem eben zitierten Abschnitt aus De Trinitate VII, 4, 3, in dem Augustinus davon spricht, dass die (göttliche) Weisheit uns „über sich und über den Vater das sagt, was den Menschen gesagt werden muss (quod dicendum est)“¹³⁸. Das, was dicendum est hominibus, sagt die Weisheit, nicht aber, so ist hier implizit vorausgesetzt, alles, was der Sohn qua Wort weiß. Noch deutlicher zeigt sich die von Augustinus angenommene Einschränkung des menschenmöglichen Wissens über Gott im ersten Tractatus seines Kommentars zum Johannesevangelium. Ausgehend von der Frage nach der Verständnismöglichkeit dessen, was im ersten Vers des Evangeliums gesagt wird, fragt Augustinus dort, wer denn schon sagen könne, „wie es ist“ (ut est);¹³⁹ wer also imstande wäre zu verstehen, was das Schriftwort „In principio erat uerbum, et uerbum erat apud deum, et deus erat uerbum“
135 Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 490. 136 Dementsprechend kann Augustinus den Sohn auch als doctrina begreifen. Vgl. Augustinus De Trinitate II, 2, 4. 137 Vgl. Augustinus In Iohannis evangelium tractatus I, 1: „nam dicere ut est, quis potest?“ 138 Vgl. Augustinus De Trinitate VII, 3, 4. 139 Vgl. Augustinus In Iohannis evangelium tractatus I, 1: „nam dicere ut est, quis potest?“
„Denn sagen, wie es ist, wer kann das wohl?“
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bedeutet.¹⁴⁰ Vielleicht, so „wagt“ Augustinus, wie er sich selbst ausdrückt, zu sagen (audeo dicere), habe nicht einmal Johannes als derjenige, der diese Worte aufgeschrieben hat, gesagt, „wie es ist“ (ut est), sondern nur, „wie er es [sagen] konnte“ (ut potuit).¹⁴¹ Denn, so Augustinus weiter, es hat hier ein Mensch über Gott gesprochen, und auch wenn es sich um einen inspirierten Menschen handelte, war es dennoch (nur) ein Mensch.¹⁴² Wäre Johannes nicht inspiriert gewesen, hätte er laut Augustinus überhaupt nichts sagen können. Da er aber ein inspirierter Mensch war, hat er nicht alles (totum), was ist, gesagt, sondern nur das, was ein Mensch sagen konnte.¹⁴³ In ähnlicher Weise äußert sich Augustinus zu Beginn des fünften Buches von De Trinitate über die Möglichkeit, Gott zu erfassen, wobei hier der Akzent dem Kontext des Werkes entsprechend auf Augustinus’ eigener Darstellung Gottes als Trinität liegt. Wie in seinem Johanneskommentar erklärt er auch in De Trinitate V, 1, dass wir Gott, die Dreieinheit, nicht „fassen“ (capere) können, wie er ist.¹⁴⁴ Vielmehr werde er, wie auch schon der Apostel Paulus geschrieben habe, nur in einem Spiegel und im Rätsel gesehen. Auch hier gilt demnach, dass unser Denken – Augustinus spricht hier von der cogitatio – sich als unzureichend erkennen muss, wenn es versucht, Gott zum Gegenstand zu nehmen. Wie die angeführten Stellen zeigen, ist die dem Menschen verliehene Möglichkeit, Gott zu erkennen, Augustinus zufolge stark eingeschränkt. So gilt: Obwohl Gott sich selbst reflektiert und durch die Inkarnation auch etwas von sich offenbart, ist laut Augustinus ad homines doch keine vollkommene Selbstoffenbarung Gottes anzunehmen. Die hier mit Blick auf Augustins Theologie festzustellende Spannung zwischen der Erkennbarkeit Gottes auf der einen und seiner Unerkennbarkeit auf der anderen Seite kommt sehr schön in der Entgegensetzung zweier Begriffe zum Ausdruck, die in Sermo CXVII Verwendung finden. In diesem führt Augustinus aus, dass es gänzlich unmöglich sei, Gott zu „begreifen“ (comprehendere), bis zu einem gewissen Grad jedoch könnten wir ihn mit dem Geist „berühren“ (attingere).¹⁴⁵ Möglich ist diese
140 Vgl. dazu auch Augustinus Sermo CXVII, 3, 5: „sed non potes tale aliquid cogitare magis pia est talis ignorantia, quam praesumpta scientia. loquimur enim de deo. dictum est, ‚et deus erat verbum‘. de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus.“ 141 Vgl. ebd.: „audeo dicere, fratres mei, forsitan nec ipse Iohannes dixit ut est, sed et ipse ut potuit.“ 142 Vgl. ebd.: „quia de deo homo dixit, et quidem inspiratus a deo, sed tamen homo.“ 143 Vgl. ebd.: „quia uero homo inspiratus, non totum quod est dixit, sed quod potuit homo, dixit.“ 144 Vgl. Augustinus De Trinitate V, 1, 1 mit einem Zitat aus 1 Kor 13,12: „hinc iam exordiens ea dicere quae dici ut cogitantur uel ab homine aliquo uel certe a nobis non omni modo possunt, quamuis et ipsa nostra cogitatio cum de deo trinitate cogitamus longe se illi de quo cogitat imparem sentiat neque ut est eum capiat sed, ut scriptum est etiam a tantis quantus Paulus apostolus hic erat, per speculum in aenigmate videatur.“ 145 Vgl. Augustinus Sermo CXVII, 3, 5; dazu, dass Gott incomprehensibilis ist, vgl. auch De Trinitate XV, 2, 2. Die Gegenüberstellung von comprehendere und attingere Deum findet sich auch in Sermo CLVII. Zur im Denken erstrebten Berührung des Göttlichen, vgl. auch De Doctrina Christiana I, 7, 7; zudem Confessiones IX, 10, 24.
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Berührung, die zwischen einer vollkommenen Unkenntnis und dem Begreifen Gottes liegt, nach Augustinus allein deswegen, weil das göttliche Wort Mensch geworden ist. In aller Deutlichkeit hat dies Matthias A. Smalbrugge in seinem Artikel „L’emploi de la théologie apophatique“ herausgearbeitet.¹⁴⁶ Verweisend auf eine Stelle aus dem bereits zitierten Sermo CXVII schreibt er bezüglich der beschriebenen Problematik: „C’est par le Verbe que nous pouvons atteindre le divin, c’est par Lui que nous pouvons atteindre ce que nous ne sommes pas.“¹⁴⁷ Worin aber besteht die „Berührung“ Gottes, die uns durch dessen Wort möglich ist? Wie können wir im Ausgang von ihr über Gott sprechen, was können wir, da wir ihn berührt haben, über ihn sagen? Die Frage, ob die Möglichkeit der Gotteserkenntnis bei Augustinus womöglich so weit eingeschränkt ist, dass wir nur mit Hilfe von Verneinungen über Gott zu sprechen vermögen und er infolgedessen als ein Vertreter der sogenannten „Negativen Theologie“ anzusehen ist, ist vielfach diskutiert worden. Dass sich dabei tatsächlich einige Elemente einer solchen Form von Theologie in Augustinus’ Werk nachweisen lassen, hat bereits Vladimir Lossky gezeigt.¹⁴⁸ Ob dies allerdings dazu hinreicht, Augustinus als einen über Gott nur apophatisch denkenden Theologen darzustellen, ist zu bezweifeln.¹⁴⁹ Auch wenn Augustinus nämlich an einigen Stellen in der Tat davon spricht, dass Gott unaussagbar (ineffabilis) sei,¹⁵⁰ dass er besser durch Nichtwissen gewusst werde (scitur melius nesciendo)¹⁵¹ und dass es in der Seele kein Wissen von Gott gebe außer dem, wie sehr sie kein Wissen vom ihm hat,¹⁵² sprechen doch gleichzeitig einige Indizien dafür, dass er auch Gott etwas zusprechende und in diesem Sinne kataphatische Aussagen für zumindest teilweise legitim hält. So fällt schon rein äußerlich auf, dass Augustinus Gott beispielsweise in
146 Vgl. Matthias A. Smalbrugge: „L’emploi de la théologie apophatique“, in: Revue de Théologie et de Philosophie 120 (1988), S. 263–274. 147 Ebd. S. 271; vgl. auch die von Smalbrugge zitierte Stelle aus Sermo CXVII, X, 15: „Non autem mundato corde, quid potuit misericordius procurari aut donari ab eo, nisi ut illud verbum, de quo tanta et tam multa diximus, et nihil dignum diximus; nisi ut illud verbum, per quod facta sunt omnia, fieret quod nos sumus, ut attingere possimus illud quod non sumus.“ 148 Vgl. Vladimir Lossky: „Les éléments de ‚Théologie négative‘ dans la pensée de Saint Augustin“, in: Augustinus Magister (Études Augustiniennes), Bd. 1, Paris 1954, S. 575–581. Losskys Analyse aufgenommen, ihr teilweise zugestimmt und sie weiter ausdifferenziert hat u. a. Deirdre Carabine: „Negative Theology in the Thought of Saint Augustine“, in: Recherches de Théologie Ancienne et Médiévale 59 (1992), S. 5–22. 149 In „Negative Theology in the Thought of Saint Augustine“, S. 5f., stellt Deirdre Carabine in diesem Zusammenhang in Frage, ob es sinnvoll ist, eine zu strenge Trennung von apophatischer und kataphatischer Theologie vorzunehmen. Er schreibt dazu: „We should not be tempted to make a too radical distinction between apophatic and kataphatic, for apophasis exists at the heart of all true theology; without the initial assertion of apophatic principles, kataphatic theology is impossible, and without something to negate, apophatic theology is impossible, at least for the Christian believer.“ 150 Vgl. Augustinus De doctrina christiana I, 6, 6. 151 Vgl. Augustinus De ordine II, 16, 44. 152 Vgl. ebd. II, 18, 47.
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den Confessiones des Öfteren direkt anspricht und dabei auch Namen für ihn verwendet.¹⁵³ Darüber hinaus lassen sich auch Passagen heranziehen, in denen Augustinus Gott explizit als einen möglichen Gegenstand des menschlichen Geistes benennt. In Sermo CXVII, der bereits zitiert worden war, um auf die von Augustinus angenommene Unbegreiflichkeit Gottes hinzuweisen, findet sich auch eine Stelle, in der es heißt: Gott ist auf den Geist hingeordnet, er ist [von ihm] einzusehen. Den Augen [ist] der Körper [zugeordnet], er ist [von ihnen] zu sehen. Aber glaubst Du, dass Du den Körper mit den Augen begreifen¹⁵⁴ kannst? Auf keinen Fall kannst Du das. Was auch immer nämlich du anschaust, du schaust es nicht als Ganzes an. Siehst du das Gesicht eines Menschen, siehst du nicht zur selben Zeit, zu der du das Gesicht siehst, seinen Rücken. Und wenn du den Rücken siehst, siehst du nicht zur selben Zeit das Gesicht. Folglich siehst du nicht so, dass du auch begreifst.¹⁵⁵
Auch wenn Gott daher – ebenso wenig wie ein Körper von den Augen – „begriffen“ (comprehendere) werden kann, ist er doch laut Augustinus für den menschlichen Geist „einsehbar“ (intelligendus), man könnte auch vor dem Hintergrund des zuvor Ausgeführten sagen, „berührbar“. Augustinus eine rein negative Theologie zu unterstellen, scheint damit wenig sinnvoll zu sein, wenngleich man sicherlich einige Elemente einer derartigen Form des Theologietreibens bei ihm ausmachen kann.¹⁵⁶ Dies zeigt sich auch in dem
153 Hier ist z. B. an den Anfang der Confessiones zu denken, an dem Augustinus Gott mit den Worten anruft: „Summe, optime, potentissime, omnipotentissime, misericordissime et iustissime (...).“ JeanLuc Marion zufolge ist die „Weise des Lobpreises“ (mode of praise), in der Gott mit mehreren Namen angesprochen wird, für Augustinus die einzige Art und Weise, wie über oder, wie Marion sagt, zu Gott gesprochen werden kann. Nach Marion ergibt sich dies daraus, dass weder die kata- noch die apophatische Redeweise in Bezug auf Gott angemessen sind, da Gott beide Redeweisen, die Affirmation wie auch die Negation, transzendiere. Vgl. dazu Jean-Luc Marion: „Idipsum: The Name of God according to Augustine“, in: George Demacopoulos/Aristotle Papanikolaou: Orthodox Readings of Augustine, New York 2008, S. 167–190, hier S. 169; Marions These weist einige höchst interessante Aspekte auf, die hier nicht weiter verfolgt werden können. Man wird sie allerdings insgesamt gesehen mit Blick auf Augustinus’ Standpunkt hinsichtlich der Möglichkeit des Redens über Gott als zu eng gefasst ansehen müssen, da sich zeigen lässt, dass Augustinus durchaus auch andere Redeweisen als nur die lobpreisende in Bezug auf Gott für zulässig erachtet. Dies wird im Folgenden noch näher ausgeführt werden. 154 Comprehendere ist hier im Sinne eines umfassenden, alle Seiten eines Körpers zugleich wahrnehmenden Sehens zu verstehen. 155 Augustinus Sermo CXVII, 5: „ad mentem deus pertinet, intelligendus est: ad oculos corpus, uidendum est. sed corpus oculo comprehendere te putas? omnino non potes. quidquid enim aspicis, non totum aspicis. cuius hominis faciem uides, dorsum non uides eo tempore quo faciem uides: et quando dorsum uides, eo tempore faciem non uides. non sic ergo uides, ut comprehendas.“ Zitiert und besprochen wird dieser Abschnitt u. a. bei und von Phillip Cary: Augustine’s Invention of the Inner Self, Oxford 2000, S. 55–58, hier besonders S. 58; vgl. zudem den auf Carys Ausführungen verweisenden David Bradshaw: Aristotle – East and West. Metaphysics and the Division of Christendom, Cambridge 2004, S. 226f. 156 Vgl. Christoph Horn: Augustinus, München 1995, S. 147–153. Nach Arthur H. Armstrongs Mei-
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Umstand, dass er sich gegen die These Plotins wendet, gemäß derer das Erste Prinzip jenseits des Seienden,¹⁵⁷ des Wesens¹⁵⁸ und der Erkenntnis¹⁵⁹ liegt.¹⁶⁰ Nach Augustinus ist Gott vielmehr mit dem im höchsten Sinne so zu nennenden „Sein“ (esse) gleichzusetzen und nicht jenseits desselben.¹⁶¹ Gott – und eigentlich nur er – ist wahrhaft, da er, wie es in den Confessiones heißt, in unveränderlicher Weise bleibt¹⁶² und er selbst immer derselbe ist.¹⁶³ Fasst man auch hier das „Sein“ mit Charles Kahn vornehmlich als ein veridikales, das anzeigt, was der Fall ist, so ergibt sich daraus ein weiteres Indiz dafür, dass Gott laut Augustinus nicht nur negativ zu denken und zu benennen ist.¹⁶⁴ Gott ist, er ist dementsprechend auch in irgendeiner Weise bestimmt und infolgedessen zumindest für ihn selbst auch prinzipiell erkennbar. Er ist daher nicht jenseits des Wesens, sondern Wesen¹⁶⁵ und mithin auch nicht jenseits aller Erkenntnis; weiß er sich doch und spricht er sich in seinem Wort doch selbst aus.¹⁶⁶
nung wird man – im Unterschied zum Denken vieler neuplatonischer Philosophen – hinsichtlich der christlichen Theologen der Väterzeit im Allgemeinen und damit auch für Augustinus feststellen können, dass die von ihnen vertretene Theologie nicht als eine rein negative zu betrachten ist. Vielmehr, so Armstrong, sei bei ihnen eine Mischform von apo- und kataphatischer Theologie zu bemerken, wie sie sich auch schon bei den Denkern des Mittelplatonismus finde. Vgl. dazu „The Escape of the One. An Investigation of Some Possibilities of Apophatic Theology Imperfectly Realised in the West“, in: Ders.: Plotinian and Christian Studies, S. 77–89 (= No XXIII), besonders S. 77f.; Armstrongs Einschätzung, dass Augustinus deswegen eine gänzlich apophatische Theologie abgelehnt habe, weil er versuchte, die Trinität philosophisch zu deuten – und nicht nur an sie zu glauben (S. 86) – ist dabei nicht zu teilen. Wie bereits erörtert worden ist, geht Augustinus von einer wenn auch noch so beschränkten Möglichkeit einer Gotteserkenntnis aus, weil sich Gott in seinem Wort selbst ausspricht und sich dementsprechend, vermittelt durch die Personen des Sohnes und des Geistes, als trinitarisch offenbart. 157 Vgl. Plotin Enneade V 5, 6, 11; III 8, 10, 30ff.; V 3, 14, 17. 158 Vgl. ebd. I 7, 1, 19; V 4, 1, 10. 159 Vgl. ebd. V 3, 12, 47. 160 Vgl. dazu nochmals Edward Booth: „St. Augustine’s ‚notitia sui‘“, in: Augustiniana 27 (1977), S. 396f.; Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, S. 15–20; Christoph Horn: Augustinus, S. 152. 161 Vgl. Augustinus De moribus ecclesiae II, 1, 1: „hoc enim maxime esse dicendum est, quod semper eodem modo sese habet, quod omni modo sui simile est, quod nulla ex parte corrumpi ac mutari potest, quod non subiacet tempori, quod aliter nunc se habere quam habebat antea, non potest. id enim est quod esse uerissime dicitur. subest enim huic uerbo manentis in se atque incommutabiliter sese habentis naturae significatio. hanc nihil aliud quam deum possumus dicere, cui si contrarium recte quaeras, nihil omnino est. esse enim contrarium non habet, nisi non esse.“ 162 Vgl. Augustinus Confessiones VII, 11, 17: „id enim vere est [i. e. deus], quod incommutabiliter manet.“ 163 Vgl. ebd. VII, 20, 26. 164 Dies bemerkt auch Christoph Horn, ohne dabei allerdings auf Kahns Interpretation des SeinsBegriffes zu verweisen. Vgl. Christoph Horn: Augustinus, S. 152. 165 Vgl. Augustinus De Trinitate V, 2, 1: „[Deus] est tamen sine dubitatione substantia uel si melius hoc appellatur essentia, quam graeci ousian uocant.“ 166 Darin, dass Gott ist und sich selbst weiß und ausspricht, liegen augustinisch gedacht die notwendigen Bedingungen dafür, dass er in jedem Fall von sich selbst und, vermittelt durch die Inkar-
„Denn sagen, wie es ist, wer kann das wohl?“
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Das, was ihnen gesagt werden muss, sagt das göttliche Wort den Menschen – so Augustinus in De Trinitate. Worum aber handelt es sich dabei, was muss den Menschen gesagt werden? Zum Thema wird hier die Frage, welcher Art die Inhalte sind, die durch die Selbstoffenbarung Gottes in Christus vermittelt werden. Dass sich Gott den Menschen mitteilt, ist nach Augustinus nicht auf das Geschehen der Inkarnation beschränkt. Schon zuvor hat er, wie vor allem das Alte Testament zeigt, etwas von sich offenbart und laut Augustinus ist sogar davon auszugehen, dass es eine Sendung des Sohnes bereits vor dessen Inkarnation gegeben hat.¹⁶⁷ Nichtsdestotrotz stellt die Menschwerdung Gottes eine Form der göttlichen Offenbarung dar, die nach Augustinus alle ihre anderen Formen bei Weitem übersteigt und in vielerlei Hinsicht von immenser Tragweite ist.¹⁶⁸ Gezeigt werden soll dies anhand der Darstellung von zwei konkreten Offenbarungsinhalten, die mit Blick auf die Frage nach Augustinus’
nation des Wortes, auch von uns erkennbar ist. Hinreichend dafür, dass wir ihn erkennen, sind diese Bedingungen allerdings nicht. Dazu, dass der Mensch zur Erkenntnis Gottes gelangt, bedarf es laut Augustinus auch und vor allem der göttlichen Gnade (gratia), durch welche sich die Erkenntnis vermittelt. Ein genaueres Eingehen auf das Thema der gnadenhaften Vermittlung der Erkenntnis Gottes würde den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem sprengen und eine eigene Untersuchung erfordern. So wäre beispielsweise zu untersuchen, welche Rolle in diesem Kontext dem Heiligen Geist zukommt, welche Prädisposition im Menschen vorliegen muss, damit die gnadenhafte Vermittlung wirksam werden kann, wie die moralische Reinigung im Verhältnis zur Erkenntnis steht und wie die Gnade bei dieser Reinigung als mitwirkend zu denken ist. Wenngleich das Wirken der Gnade im Zusammenhang mit der rechten menschlichen Lebensweise, seiner Erlangung der Weisheit und seinem Erreichen des Letztzieles weiter unten nochmals zum Thema werden wird, sei an dieser Stelle auf die folgenden Werke verwiesen, die sich vor allem mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Gnade und Erkenntnis beschäftigen: Rudolf Lorenz: „Gnade und Erkenntnis bei Augustinus“, in: Carl Andresen (Hrsg.): Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart II, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 327), Darmstadt 1981, besonders S. 78–98; Josef Lössl: Intellectus gratiae. Die erkenntnistheoretische und hermeneutische Dimension der Gnadenlehre Augustins von Hippo (= Supplements to Vigiliae Christianae 38), Leiden 1997; Phillip Cary: Inner Grace. Augustine in the Traditions of Plato and Paul, Oxford 2008; Wolfgang Wieland: Offenbarung bei Augustinus, S. 64–81. 167 Vgl. Johannes Arnold: „Begriff und heilsökonomische Bedeutung der göttlichen Sendungen in Augustinus De Trinitate“, in: Recherches Augustiniennes XXV (1991), S. 3–69, hier S. 14: „Die christologische Deutung von Weish 7, 25 veranlasst Augustinus, auch eine Sendung des Sohnes vor der Inkarnation anzunehmen, denn in Weish 9, 10 bittet Salomo, Gott möge ihm die Weisheit – also den Sohn – senden, damit sie ‚bei ihm‘ sei.“ 168 Zum Verhältnis von alt- und neutestamentlicher Offenbarung, vgl. Wolfgang Wieland: Offenbarung bei Augustinus, S. 294–304; 320–328; zur Besonderheit des Offenbarungsgeschehens in der Inkarnation im Vergleich zu den früheren Theophanien, vgl. ebd. S. 341f. und die von Wieland angegebene Literatur: Tarsicius J. van Bavel: Recherches sur la christologie de saint Augustin. L’humain et le divin dans le Christ d’après saint Augustin (= Paradosis 10), Fribourg 1954, S. 26–30; Alfred Schindler: Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre, S. 138–143; Basil Studer: Zur Theophanie-Exegese Augustins. Untersuchung zu einem Ambrosius-Zitat in der Schrift ‚De videndo Deo‘ (Epist. 147), Rom 1971, S. 5–8 und 98–106; zudem: Johannes Arnold: „Begriff und heilsökonomische Bedeutung der göttlichen Sendungen in Augustinus De Trinitate“, S. 14f.
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
Konzeption eines sicheren Wissens im Bereich der Praxis von besonderer Wichtigkeit sind. Diese Inhalte bestehen (1) darin, dass Gott als das summum bonum das Letztziel allen Strebens darstellt, und (2) darin, dass Gott über einen Willen verfügt, der dem Menschen zugänglich ist. Obwohl beides, wie Augustinus denkt, grundsätzlich bereits aus dem Alten Testament bekannt ist,¹⁶⁹ wird das Wissen um das in diesem Zusammenhang Offenbarte durch die Menschwerdung des Sohnes um eine Reihe von wesentlichen Aspekten bereichert. Worin diese Aspekte bestehen und welche Konsequenzen sich daraus für den augustinischen Entwurf des praktischen Wissens ergeben, soll im Folgenden untersucht werden. Was die Betrachtung der genannten Offenbarungsinhalte des Weiteren exemplarisch zeigen soll, ist, was es genauerhin bedeutet, wenn Augustinus meint, dass Gott mit Hilfe des menschlichen Geistes „berührt“ werden könne. Was ist es, das wir von Gott aussagen, wenn wir über ihn sprechen? Was von ihm treffen wir damit? Diesen Fragen soll im Rahmen eines kleinen, das zuvor zum Sprechen über Gott Erörterte vertiefenden Exkurses nachgegangen werden.
10.6 Gott – das summum bonum Die augustinische Bestimmung Gottes als „höchstes Gut“ (summum bonum) beziehungsweise als „höchsten Guten“ (summus bonus) findet sich in seinem Werk an einer Vielzahl von Stellen belegt.¹⁷⁰ So heißt es beispielsweise gleich am Anfang von De natura boni: Das höchste Gut, über welchem nichts höheres ist, ist Gott. Und dadurch ist es ein unveränderliches Gut, daher ist es wahrhaft ewig und wahrhaft unsterblich.¹⁷¹
Ein weiterer Beleg ist im zweiten Buch der Confessiones zu finden, in welchem Augustinus unter anderem beschreibt, wie er als Heranwachsender Früchte gestohlen hat und wie ihn dies nun reut. Dort heißt es:
169 Dass sich der Wille Gottes Augustinus zufolge auch bereits in den Büchern des Alten Testamentes findet, geht hervor aus De doctrina christiana II, 9, 14; als summum bonum zeigt sich Gott nach Augustinus schon im Psalmwort. Vgl. dazu Sermones novissimi, Sermo 2D (= 359B), par7, 332, 146 mit einem Zitat aus Ps 15: „ille nullo bono nostro eget, nos omnium bonorum eius indigemus, et ipso deo nostro summo bono. summum enim bonum nostrum et optimum, quo nihil melius sit, ipse deus est. vide seruum confitentem, audi illum de psalmo: ‚dixi domino: deus meus es tu, quoniam bonorum meorum non eges‘.“ Vgl. dazu De moribus ecclesiae I, 9, 14–10, 16, wo Augustinus gegen die manichäische Position erklärt, dass auch der im Alten Testament verehrte Gott zu lieben sei. 170 Zu Augustinus’ Begriff von Gott als summum bonum, vgl. auch Stanislaw Kowalczyk: „Dieu en tant que bien suprême selon l’acception de St. Augustin“, in: EstAg 6 (1971), S. 199–213. 171 Augustinus De natura boni liber 1 (CSEL 25/2, 855): „summum bonum, quo superius non est, deus est; ac per hoc incommutabile bonum est; ideo vere aeternum et vere immortale.“
Gott – das summum bonum
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Schön waren jene Früchte, die wir gestohlen haben, da sie ja deine Schöpfung waren, Schönster von allen, Schöpfer von allem, guter Gott, Gott, höchstes Gut und mein wahres Gut.¹⁷²
Zu guter Letzt sei noch auf eine Stelle aus De moribus ecclesiae verwiesen, in der Augustinus erklärt: Dass er gänzlich das höchste Gut ist und dass nichts Besseres als er sein oder gedacht werden kann, muss von Gott entweder eingesehen oder geglaubt werden, falls wir darauf bedacht sind, von Gotteslästerungen frei zu sein.¹⁷³
Die Wendung, derer sich Augustinus für gewöhnlich bedient, um die Unüberbietbarkeit der Güte Gottes, des summum bonum, zum Ausdruck zu bringen, ist bereits sowohl im ersten als auch im letzten der drei eben genannten Zitate angeführt worden. Mit leichten Varianten¹⁷⁴ spricht diese Wendung Gott zu, derjenige zu sein, „über den hinaus nichts Besseres gedacht werden kann“ beziehungsweise „über den hinaus nichts Besseres sein kann“.¹⁷⁵ Als locus classicus für Augustinus’ Verwendung dieser Gottesbezeichnung ist eine Stelle aus den Confessiones (VII, 4, 6) heranzuziehen, in der es heißt: Und nicht nämlich hat jemals eine Seele etwas denken können noch wird sie es je vermögen, etwas zu denken, das besser ist als du, der du das höchste und beste Gut bist.¹⁷⁶
Insbesondere geeignet dazu, die Unüberbietbarkeit der Güte Gottes herauszustellen, ist die besagte Wendung dabei vor allem aufgrund der Verwendung des Komparativs melius. Was es nämlich auch immer an Gutem geben mag, besser als Gott kann es per definitionem nicht sein beziehungsweise gedacht werden. Denn wäre etwas tatsäch-
172 Augustinus Confessiones II, 6, 12: „pulchra erant poma illa, quae furati sumus, quoniam creatura tua erat, pulcherrime omnium, creator omnium, deus bone, deus summum bonum et bonum verum meum.“ 173 Augustinus De moribus ecclesiae II, XI, 24: „summum bonum omnino et quo esse aut cogitari melius nihil possit, aut intelligendus aut credendus est deus, si blasphemiis carere cogitamus.“ 174 Eine solche weist beispielsweise das erste der oben genannten Zitate aus De natura boni I auf, in dem statt des melius ein superius zu finden ist. 175 In der vorhin zitierten Passage aus De moribus ecclesiae II, XI, 24 findet sich beides, das quo nihil melius esse possit und das quo nihil melius cogitari possit. Das erste der drei eben angeführten Zitate aus De natura boni I spricht von Gott als dem quo superius non est und weist damit zusätzlich die eben schon angesprochene Variante superius zu melius auf, die sich im Zusammenhang mit der besagten Wendung auch in De libero arbitrio II, 6, 14 findet. Ein weiteres Beispiel für Augustinus’ Verwendung des esse gibt De doctrina christiana I, 7, 7 mit der Formulierung: „omnes tamen certatim pro excellentia dei dimicant nec quisquam invernie potest, qui hoc deum credat esse, quo est aliquid melius.“ So auch Epistula CLV, 4, 13 und der eben zitierte Sermo novissimus 2d. Beispielhaft für Augustinus’ Verwendung des quo nihil melius cogitari possit ist u. a. Confessiones VII, 4, 6. 176 Augustinus Confessiones VII, 4, 6: „neque enim ulla anima umquam potuit poteritve cogitare aliquid, quod sit te melius, qui summum et optimum bonum es.“
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
lich besser als das, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, so ergäben sich zwei Konsequenzen. Zum einen träte ein Selbstwiderspruch auf, da das, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, nicht das wäre, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann – sofern es etwas gibt, das besser ist als es. Zum anderen wäre Gott in der Folge mit eben diesem Besseren gleichzusetzen, da er ja, wie sein Begriff zeigt, dasjenige ist, über welches hinaus nichts Besseres gedacht werden kann. In Anbetracht dessen wird deutlich, dass die oben genannte Wendung in der Tat in vorzüglicher Weise dazu geeignet ist, den Begriff eines summum – und damit unüberbietbaren – bonum zu explizieren.¹⁷⁷ Auf dieses höchste Gut nun soll der Mensch sein Streben ausrichten, um so zu einem „glücklichen Leben“ (beata vita) beziehungsweise zur „Glückseligkeit“ (beatitudo) zu gelangen.¹⁷⁸ Dass wir alle glückselig sein wollen¹⁷⁹ und das Glück das Ziel allen Handelns darstellt,¹⁸⁰ kann Augustinus im Anhalt an die ihm überkommene philosophische Tradition als gesichert betrachten.¹⁸¹ Wie aber ist dieses Ziel, das, wie Augustinus im Anschluss an Varro erklärt, den Grund eines jeden Philosophierens ausmacht,¹⁸² zu erreichen und worin besteht die Glückseligkeit ihrem Inhalt nach? Eine erste für das Erlangen des höchsten Gutes zentrale Konsequenz, die Augustinus aus der Bestimmung Gottes als summum bonum zieht, besteht darin, dass er diesem alle anderen Güter unterordnet. Somit entsteht eine Ordnung der Güter, an deren Spitze Gott als höchstes Gut steht. Auf dieses hin sind alle anderen Güter in dem Sinne auszurichten, dass sie nur als Mittel zur Erlangung des summum bonum
177 Markus Enders hat viele wesentliche Aspekte dieser variiert in Anselm von Canterburys Proslogion vorkommenden Wendung herausgearbeitet. Enders’ Ergebnisse sind – bei Berücksichtigung der gegebenen Unterschiede zwischen Augustinus’ und Anselms Versionen der besagten Gottesbezeichnung (während Augustinus den Komparativ melius verwendet, spricht Anselm von maius) – zu weiten Teilen auf die von Augustinus gebrauchte Wendung übertragbar. Vgl. Markus Enders: „Denken des Unübertrefflichen. Die zweifache Normativität des ontologischen Gottesbegriffs“, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 1 (2002), S. 50–86; zu Anselms Rezeption augustinischen Gedankengutes im Proslogion, vgl. u. a. Reinhold Rieger: „Augustin-Rezeption in einzelnen Werken Anselms“, in: Augustin Handbuch, hrsg. von Volker Henning Drecoll, Tübingen 2007, S. 576–579. 178 Zur augustinischen Bestimmung der beatitudo und dem Verhältnis dieses Begriffes zu dem der beata vita, vgl. Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, in: Augustinus-Lexikon (vol. 1), hrsg. von Cornelius Mayer, in Verbindung mit Erich Feldmann et alii, Basel 1986–1994, Sp. 624–638, besonders Sp. 624–626; zudem Ragnar Holte: Béatitude et Sagesse. Saint Augustin et le problème de la fin de l’homme dans la philosophie ancienne, Paris 1962, S. 207–220. 179 Vgl. Augustinus De beata vita II, 10: „Atque ego rursus exordiens: beatos nos esse volumus, inquam.“ 180 Vgl. Augustinus De civitate Dei VIII, 8. 181 Dieses „teleologische Axiom der antiken Philosophie“ (Henrique de Noronha Galvão: „Beatitudo“, Sp. 627) wird Augustinus wohl durch Ciceros Hortensius vermittelt, vgl. dazu Fragment 58 (Ed. Alberto Grilli); vgl. zudem beispielsweise Platon Symposion 205a 1–3; Aristoteles Nikomachische Ethik I, 2; Seneca De vita beata I, 1. 182 Vgl. Augustinus De civitate Dei XIX, 1: „nulla est homini causa philosophandi nisi ut beatus sit.“
Gott – das summum bonum
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anzusehen und dazu zu gebrauchen sind.¹⁸³ Begründet liegt Augustinus’ Annahme einer solchen Hierarchie der Güter in den folgenden Überlegungen. Wie er schon in De beata vita ausführt, ist ein Mensch, der nicht hat, was er will, und daher einen Mangel leidet, unmöglich glückselig (beatus) zu nennen.¹⁸⁴ Da es aber erstrebte Dinge gibt, die den Menschen, wenn er in ihren Besitz gelangt, nicht glücklich machen, ist hier Augustinus zufolge eine Einschränkung vorzunehmen. Vorgetragen wird diese in De beata vita von Monica, die darauf hinweist, dass nur der, der Gutes will und dieses auch erlangt, glückselig genannt werden dürfe. Wer Schlechtes will und es infolgedessen bekommt, werde hingegen elend sein.¹⁸⁵ Was nun dieses Gute betrifft, so führt Augustinus bezüglich seiner ebenfalls eine Differenzierung ein. Nur dasjenige Gute nämlich könne das Erreichen der Glückseligkeit garantieren, das man als ein unverlierbares Gut immer besitzen kann. Damit diese Bedingung erfüllt ist, muss das gesuchte Gut mithin „ewig bleibend“ (semper manens) und darf nicht „von Fortuna abhängig“ und „den Zufällen unterworfen“ sein.¹⁸⁶ Entscheidet sich jemand dazu, glückselig zu sein, so Augustinus, gelte daher, (…) dass er das (Gut) erlangen muss, das immer bleibt und ihm nicht von irgendeiner rasenden Fortuna entrissen werden kann.¹⁸⁷
Nur ein solches Gut ist laut Augustinus imstande, jeden „Mangel“ (egestas) dauerhaft zu beseitigen und den Menschen damit glückselig zu machen;¹⁸⁸ ist doch der Besitz von vergänglichen oder anders verlierbaren Gütern, mit Augustinus gedacht, niemals hinreichend dazu, den Mangel völlig aufzuheben. In De beata vita thematisiert Augustinus dieses Problem mit Blick auf die „Furcht“ (timor) vor dem Verlust
183 Grundlegend ist an dieser Stelle Augustinus’ Unterscheidung zwischen dem „Gebrauchen“ (uti) und dem „Genießen“ (frui) von Dingen, die er vor allem im ersten Buch von De doctrina christiana erläutert und auf die noch im Folgenden genauer eingegangen wird. 184 Vgl. Augustinus De beata vita II, 2, 10; vgl. dazu und zum Folgenden auch Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins (= Beiträge zur Historischen Theologie 109), Tübingen 1999, S. 34–49; zudem Christoph Horn: Augustinus, S. 43–45. Augustinus reiht sich damit in die platonisch-aristotelische Tradition ein, die – wenn auch nur formal gesehen – darin übereinstimmt, die Glückseligkeit als durch die Mangellosigkeit bestimmt anzusehen. Dass der Begriff des Mangels bzw. der Mangellosigkeit auch eine zentrale Rolle mit Blick auf Augustinus’ Bestimmung Gottes als des summum bonum einnimmt, wird weiter unten noch herausgearbeitet werden. 185 Vgl. Augustinus De beata vita II, 2, 10: „quid? omnis, qui quod vult habet, beatus est? – tum mater: si bona, inquit, velit et habeat, beatus est, si autem mala velit, quamvis habeat, miser est.“ 186 Vgl. ebd. II, 2, 11: „id [i. e. bonum] ergo, inquam, semper manens nec ex fortuna pendulum nec ullis subiectum casibus esse debet.“ 187 Ebd. I, 2, 11: „(…) id eum sibi comparare debere quod semper manet, nec ulla saeviente fortuna eripi potest.“ 188 Dass „Unglück“ (miseria) und „Mangel“ (egestas) nach Augustinus nicht voneinander zu trennen sind, zeigt De beata vita IV, 27f. mit einer prägnanten Zusammenfassung am Schluss von Kapitel 28: „ergo ut omnis egestas miseria, ita omnis miseria egestas esse convincitur.“
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
der Güter, die man besitzt.¹⁸⁹ Auch wenn man nämlich zwischen der Furcht vor dem Mangel an etwas und dem tatsächlich bestehenden Mangel unterscheiden müsse,¹⁹⁰ sei doch eine solche Furcht selbst schon auch als die Folge eines Mangels zu begreifen, eines Mangels nämlich an „Weisheit“ (sapientia).¹⁹¹ Dies zeigen Augustinus zufolge Fälle wie die des Sergius Orata, der zwar alles im Übermaß besaß, dennoch aber nicht glückselig war, da es ihm an Weisheit mangelte und er infolgedessen in der Furcht vor dem Verlust seiner Güter lebte.¹⁹² Wäre er weise gewesen, so ist aus Augustinus’ Ausführungen zu schließen, wäre Orata sich dessen bewusst gewesen, dass all seine Güter vergänglich sind und daher an sich nicht zur Erlangung der Glückseligkeit taugen. Demnach ist es nicht primär die Furcht vor dem Verlust der Güter, die das Unglück eines Menschen wie des Sergius Orata ausmacht, sondern seine Fehleinschätzung bezüglich dessen, was für Güter die menschliche Glückseligkeit konstituieren. Daher kann Augustinus folgern, dass es keinen größeren und elenderen Mangel gibt als den Mangel an Weisheit und dass es demjenigen, dem es nicht an Weisheit fehlt, an überhaupt nichts fehlen könne;¹⁹³ weiß der sapiens doch, welches dasjenige Gut ist, dessen Besitz den Menschen glückselig macht. Als dieses Gut, das die genannten Bedingungen für die Erlangung der Glückseligkeit erfüllt, kommt nach Augustinus nur Gott in Frage, da er nicht nur selbst „ewig“ (aeternus)¹⁹⁴ und „in unveränderlicher Weise bleibend“¹⁹⁵ ist, sondern als dasjenige, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, notwendigerweise ein unveränderliches und daher wahrhaft ewiges und unsterbliches Gut darstellt.¹⁹⁶ Wäre er
189 Vgl. dazu und zum Folgenden ebd. II, 2, 11; IV, 26–28; vgl. zudem De moribus ecclesiae I, 3, 5: „nam si id est beatum esse, ad tale bonum pervenisse quo amplius non potest, id est autem quod dicimus optimum; quo tandem pacto potest in ea definitione [i. e. beati] includi, qui ad summum bonum suum nondum pervenerit? aut quomodo summum est, si est aliquid melius quo pervenire possimus? hoc igitur si est, tale esse debet quod non amittat invitus. quippe nemo potest confidere de tali bono, quod sibi eripi posse sentit, etiamsi retinere id amplecti que voluerit. quisquis autem de bono quo fruitur non confidit, in tanto timore amittendi beatus esse qui potest?“ 190 Vgl. Augustinus De beata vita IV, 27: „egere est enim in non habendo, non in timore amittendi quae habeas.“ 191 Vgl. ebd.: „nam et iste, qui dives et locuples erat et nihil, ut dicitis, amplius desiderabat, tamen, quia metuebat ne amitteret, egebat sapientia.“ 192 Vgl. ebd.: „non igitur omnis, qui miser est, eget.“ 193 Vgl. ebd. IV, 27: „nam et maior ac miserabilior egestas nulla est quam egere sapientia et, qui sapientia non eget, nulla re omnino egere potest.“ 194 Vgl. u. a. Augustinus De vera religione XXXVII, 68; De Trinitate XV, 5, 8; Enarrationes in Psalmos 91, 14; Contra Felicem I, 18. 195 Vgl. Augustinus Confessiones VII, 11, 17: „id enim vere est [i. e. deus], quod incommutabiliter manet.“ 196 Vgl. dazu nochmals die eben bereits zitierte Passage aus Augustinus De natura boni liber 1 (CSEL 25/2, 855): „summum bonum, quo superius non est, deus est; ac per hoc incommutabile bonum est; ideo vere aeternum et vere immortale.“ Dass die Suche nach der beata vita mit der nach Gott identisch ist, geht auch aus Confessiones X, 20, 29 hervor.
Gott – das summum bonum
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nämlich in seinem Gutsein veränderlich und vergänglich, so wäre ein besseres Gut denkbar, das seinerseits unveränderlich und ewig wäre. Infolgedessen betrachtet Augustinus Gott als das summum bonum, das es für das Erreichen der Glückseligkeit zu erlangen gilt.¹⁹⁷
10.6.1 „Gott ist das summum bonum“ – eine Aussage über das Wesen Gottes? Dass es nach Augustinus aufgrund der Selbstoffenbarung Gottes möglich ist, nicht nur negative, sondern auch positive Aussagen über ihn zu treffen, ist bereits gezeigt worden. Was aber sagen wir über Gott aus, wenn wir mit Augustinus beispielsweise davon sprechen, dass er das summum bonum sei? Treffen wir damit eine Aussage, die sich auf das Wesen Gottes bezieht? Oder sprechen wir damit – quasi nach dem Vorbild Plotins – eigentlich nur über uns selbst und unsere Abhängigkeit von dem Ersten Prinzip? Beide Möglichkeiten des Sprechens über Gott scheiden im Kontext des augustinischen Denkens aus. Weder können wir in irgendeiner Weise Aussagen über Gott treffen, die dessen Wesen zum Gegenstand haben, noch ist unser Reden über ihn darauf beschränkt, dass wir eigentlich nur über uns selbst und überhaupt nicht über ihn sprechen. Könnte unsere Rede sein Wesen treffen, wäre sowohl das Prinzip der göttlichen Einheit als auch das sich aus diesem ergebende augustinische Axiom verletzt, gemäß dem Gott nicht begreifbar ist. Wäre Gott hingegen vollkommen unaussagbar, würde sich der Gedanke seiner Selbstoffenbarung als ad absurdum geführt erweisen. Was also sagen wir, wenn wir das Unaussagbare aussagen? Die Rede davon, dass Gott das höchste Gut sei, drückt in erster Linie ein Verhältnis aus, in welchem wir zu Gott stehen und in welchem er dementsprechend zu uns steht.¹⁹⁸ Gott, so lässt sich dieses Verhältnis beschreiben, ist das Ziel unseres Strebens und dasjenige Gut, auf das wir alle anderen Güter hin ausrichten sollen. Demgemäß spricht Augustinus Gott auch als „mein wahres Gut“¹⁹⁹ an und schreibt andernorts, dass Gott der „Inbegriff der Güter für uns (nobis)“ und „uns (nobis) das höchste Gut“²⁰⁰ sei.²⁰¹ Während er damit aussagt, was Gott in Bezug auf uns ist, sagt
197 Vgl. Augustinus De beata vita II, 2, 11: „Deus, inquam, vobis aeternus et semper manens videtur? – hoc quidem, inquit Licentius, ita certum est, ut interrogatione non egeat, ceterique omnes pia devotione concinuerunt. – deum igitur, inquam, qui habet, beatus est.“ Vgl. zudem De moribus I, 11, 18: „Secutio igitur dei beatitatis appetitus est, assecutio autem ipsa beatitas.“ 198 Vgl. dagegen Stanislaw Kowalczyk: „Dieu en tant que bien suprême selon l’acception de St. Augustin“, S. 199–213. Kowalczyk zufolge spricht Augustinus auch über die Natur Gottes. 199 Vgl. Augustinus Confessiones II, 6, 12. 200 Vgl. Augustinus De moribus ecclesiae I, 8, 13: „bonorum summa deus nobis est. deus nobis est summum bonum.“ 201 Vgl. auch Augustinus Epistula 155, XII, 13: „haec ibi erit plena et sempiterna sapientia eademque
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er damit noch nichts über das aus, was Gott an sich selbst ist. Zu sagen, wie es ist, und damit das Wesen Gottes zum Gegenstand des Denkens und des Sprechens zu machen, dies ist wie bereits gesehen Augustinus zufolge unmöglich.²⁰² Gleichzeitig gilt nach Augustinus, dass wir im Zur-Sprache-Bringen des besagten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch tatsächlich etwas Wahres über Gott sagen und damit in unserem Reden über das Erste Prinzip nicht darauf beschränkt sind, nur über uns selbst sprechen zu können, wie dies noch von Plotin angenommen worden war. Gott ist unser höchstes Gut, und das heißt nicht nur, dass wir uns als Menschen in einer Situation der Bedürftigkeit befinden – auch wenn dies sicherlich ein wichtiger, da die menschliche Demut fördernder Aspekt dieser Aussage ist. Dass wir in dieser Weise über Gott reden können, liegt augustinisch gedacht darin begründet, dass Gott das Verhältnis, in dem wir zu ihm stehen und in dem er zu uns steht, in seiner Offenbarung und dabei vor allem in der Inkarnation seines Wortes selbst zur Sprache bringt.²⁰³ Dies zeigt sich beispielsweise in einer Passage aus dem ersten Buch von De moribus ecclesiae, in welcher Augustinus schreibt: Lasst uns sehen, in welcher Weise der Herr selbst uns im Evangelium zu leben vorgeschrieben hat, so wie auch der Apostel Paulus; diese Schriften nämlich wagen jene [i. e. die Manichäer] nicht zu verwerfen. Hören wir also, welches Ziel der Güter Du, Christus, uns vorschreibst; es besteht kein Zweifel daran, dass es das Ziel sein wird, welches mit höchster Liebe zu erstreben Du uns befiehlst. ‚Du sollst‘, sagt er, ‚den Herrn, deinen Gott, lieben‘ (...). Wir haben gehört, was wir lieben müssen und in welchem Maß; zu ihm muss man ganz und gar streben, auf es sind alle unsere Ratschlüsse zu beziehen. Der Inbegriff der Güter ist für uns Gott. Gott ist uns das höchste Gut.²⁰⁴
uita ueraciter iam beata; peruentio quippe est ad aeternum ac summum bonum, cui adhaerere in aeternum est finis nostri boni.“ 202 Auch hier wird deutlich, wie passend die von Augustinus für die Bezeichnung der Güte Gottes gewählte Formulierung „quo nihil melius cogitari possit“ ist. Sie ist deswegen so geeignet, weil sie, wie die Negativität der Formulierung zeigt, nicht eine positive Aussage über das trifft, was Gott an sich selbst ist, sondern ihn in ein Verhältnis zu allen anderen denkbaren Gütern setzt. Damit zeigt sie uns an, wie wir Gott im Verhältnis zu allen anderen Gütern ansehen und dass wir ihn als das höchste Gut erstreben sollen. 203 Unser Verhältnis zu diesem Gut ist nicht nur dadurch bestimmt, dass wir zu ihm streben. Gott ist auch derjenige, von dem wir, wie Augustinus sagt, sind (a quo sumus) und der uns erhält, da wir, wäre er nicht bei uns gegenwärtig, nicht sein könnten (quo absente nec esse possemus). Vgl. De Trinitate VIII, 4, 6. Das hier thematisierte Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf kann dabei ebenfalls als Ausgangspunkt für unser relationales Sprechen über Gott dienen; ist doch, wie Augustinus sich ausdrückt, der Schöpfer durch die geschaffenen Güter „zu lernen“. Vgl. dazu Henrique de Noronha Galvão: Die existentielle Gotteserkenntnis bei Augustin. Eine hermeneutische Lektüre der Confessiones, Einsiedeln 1981, S. 86, und die dort angegebenen Verweisstellen bei Augustinus; vgl. dazu auch Augustinus De doctrina christiana I, 4, 9 mit einem Verweis auf Röm 1,20. 204 Augustinus De moribus ecclesiae I, 8, 13: „uideamus quemadmodum ipse dominus in euangelio nobis praeceperit esse uiuendum; quomodo etiam paulus apostolus: has enim scripturas illi condemnare non audent. audiamus ergo quem finem bonorum nobis, Christe, praescribas; nec dubium est quin
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Wie hier deutlich wird, ist es laut Augustinus Gott selbst, der uns in der Person Jesu Christi, des inkarnierten Wortes, zeigt, dass er das höchste Gut ist und uns befiehlt, ihn zu lieben und so nach ihm zu streben. Das heißt: Wir können Gott als höchstes Gut ansprechen, er ist dies für uns, weil er uns dies als das göttliche Wort selbst mitteilt, und zwar in menschlicher Sprache. In Entsprechung zu dem Gedanken, dass es Gott selbst ist, der uns das Wissen über sich als höchstes Gut vermittelt, formuliert Augustinus an anderer Stelle, dass Gott als trinitas und – so könnte man ein wenig überspitzt formulieren – nicht als vollkommene Einheit zu erstreben ist. So heißt es beispielsweise in De doctrina christiana: Die Dinge folglich, die man genießen muss, sind Vater, Sohn und Heiliger Geist und die mit diesen gleiche Dreieinigkeit (...).²⁰⁵
Und in De Trinitate schreibt Augustinus: Dieselbe Dreieinigkeit ist es ja freilich, welche zu genießen ist, damit wir glückselig leben.²⁰⁶
Das Ziel unseres Strebens stellt damit der sich in seiner Trinität selbst reflektierende Gott dar, dessen Selbstbezug in Verbindung mit seiner Selbstoffenbarung die Bedingung dafür schafft, dass wir erkennen können, dass er in Beziehung zu uns steht.²⁰⁷ Das heißt nicht, dass Gott, da er sich selbst reflektiert, nicht vollkommen einfach wäre. Er ist nur, mit Augustinus gedacht, von uns als ein trinitarischer anzustreben, da seine trinitarische Selbstreflexion die Bedingung dafür ist, dass wir ihn überhaupt von ihm als höchstes und zu liebendes Gut wissen können.²⁰⁸ Würde er sich nicht in
is erit finis, quo nos summo amore tendere iubes: diliges, inquit, dominum deum tuum (...) audiuimus quid diligere, et quantum diligere debeamus: eo est omnino tendendum, ad id omnia consilia nostra referenda. bonorum summa, deus nobis est.“ 205 Augustinus De doctrina christiana I, 5, 5: „res igitur, quibus fruendum est, pater et filius et spiritus sanctus eademque trinitas (...).“ – „Genießen“ (frui) ist hier im Sinne von ‚erstreben um seiner selbst willen‘, d. h. als höchstes Gut, zu verstehen. Im Zusammenhang mit seinem Gegensatz „gebrauchen“ (uti) wird es später noch genauer thematisiert werden. 206 Augustinus De Trinitate VIII, 5, 8: „Eadem quippe trinitate fruendum est, ut bene vivamus.“ 207 In Beziehung zu uns tritt Gott dabei augustinisch gedacht nicht nur durch seine Selbstoffenbarung in der Schrift und in der Inkarnation der zweiten göttlichen Person. In Beziehung zu uns tritt er schon allein durch die Tatsache, dass er die Welt schafft. 208 Vgl. dazu Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, Freiburg 1980, S. 267 (auch zitiert bei Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 109): „Auch die Liebe zu Gott selbst kann nur eine vermittelte sein. Sie ist undenkbar ohne den „Mittler“ und also ohne den nur durch seine Menschwerdung den Menschen offenbar gewordenen Unterschied von „Vater“ und „Sohn“ in Gott. Dieser Unterschied bleibt aber ungedacht ohne die Sendung des „Geistes“, der uns in „alle Wahrheit“ eingeführt hat. Der Gedanke, Gott zu genießen, steht ganz und gar in der Offenbarung seiner Dreifaltigkeit. Eben deshalb führt Augustinus „die Sachen, die zu genießen sind“ in der Bestimmtheit ein, „der Vater und der Sohn
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eine Beziehung zu sich selbst setzen und sich nicht selbst offenbaren, könnten wir ihn überhaupt nicht als höchstes Gut erkennen und nicht verstehen, dass er so auch in einer Beziehung zu uns steht. Die augustinische Konzeption des Ersten Prinzips unterscheidet sich damit wesentlich von der Plotins; ist doch das von ihm als Prinzip angenommene ἕν als eine vollkommen relationslos bleibend gedachte Einheit aufzufassen, die weder für sich selbst noch für irgendjemanden anderen zum Gegenstand des Denkens werden kann. Demgegenüber steht der Gott des Augustinus, der sich selbst denkt und ausspricht und so die Möglichkeit dafür schafft, dass wir ihn zumindest relational als unser höchstes Gut denken können. Anders als Plotin dies mit Blick auf das ἕν zu tun gezwungen ist, muss Augustinus seine Rede über Gott daher nicht in jedem Fall durch ein οἷον relativieren und das Eine, gedacht als das Gute, im selben Atemzug auch als das „Übergute“ bezeichnen. Angesichts dessen, was bisher bezüglich der von Augustinus angenommenen Möglichkeit des Sprechens über Gott ausgeführt worden ist, soll an dieser Stelle retrospektiv auf zwei Schwierigkeiten hingewiesen werden, die sich aus der plotinischen Konzeption der Denk- und Aussagemöglichkeit des Ersten Prinzips ergeben. Beide dieser Schwierigkeiten waren zuvor schon angedeutet worden, sie sollen jetzt allerdings – wenn auch nur in aller Kürze – eingehender betrachtet werden. Nimmt man mit Plotin an, dass das von ihm als Prinzip eingesehene ἕν notwendigerweise als eine vollkommene Einheit begriffen werden muss, ergibt es sich als Konsequenz, dass dieses an sich selbst gänzlich unbestimmbar ist. Wird nun dennoch von dem Einen gesprochen, so ist dies Plotin zufolge nur entweder negativ oder aber, wie einige Interpreten Plotin auslegend meinen, in Form von Relationsbildungen möglich. Das heißt, so sei hier nur nochmals erinnernd gesagt, dass wir demgemäß nur entweder zu sagen vermögen, was das Eine nicht ist, oder aber, wenn wir positive Aussagen treffen wollen, streng genommen nur über unsere eigene Abhängigkeit von dem Einen sprechen können. In einer bereits zitierten Passage aus seinem Werk Plotinus. An Introduction to the Enneads fasst Dominic J. O’Meara dies wie folgt zusammen: When we speak ‘about’ the One, saying it is the cause, we are in fact speaking of ourselves, saying that we are causally dependent and expressing what we experience in this condition of dependence. We are speaking of ourselves when we speak about the One. In this way the One remains ineffable in itself, even though we speak about it.²⁰⁹
Sachlich übereinstimmend mit O’Mearas Auffassung erklärt auch Jens Halfwassen hinsichtlich der plotinischen Bestimmung des Einen als des Guten:
und der heilige Geist“ zu sein (De doctrina christiana I § 5, 1).“ 209 Dominic O’Meara: Plotinus, S. 56.
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Die Kennzeichnung als das Gute steht also in Relation zur Bedürftigkeit, diese aber ist die Beziehung des Seienden, das nur als Einheit sein kann, zum absoluten Einen (...).²¹⁰
Beide Interpreten übersehen an dieser Stelle die logische Schwierigkeit der Bildung einer völlig einseitigen Beziehung oder Relation.²¹¹ Wie nämlich, wäre zu fragen, soll es im Rahmen der Bestimmung des Einen als des Guten möglich sein, das Seiende in einer Abhängigkeit von dem Einen zu denken, ohne dass damit gleichzeitig etwas über das Eine ausgesagt wäre?²¹² Sprechen wir über unsere kausale Abhängigkeit von dem Einen (O’Meara), sprechen wir damit unmöglicherweise nur über uns selbst, sondern immer auch über das Eine, zu dem wir als Abhängige in Beziehung stehen. Begründet liegt dies darin, dass der Begriff einer jeden Beziehung unter anderem voraussetzt, dass das, was zueinander in Beziehung steht, erstens überhaupt und zweitens so bestimmt sein muss, dass es die Beziehung in dem, wie sie ist, bestimmt. So ist bezüglich des erstgenannten Punktes zu beachten, dass beispielsweise die Beziehung der Bedürftigkeit nur dann als bestehend zu denken ist, wenn es etwas gibt, das bedürftig ist, und etwas, dessen das Bedürftige bedarf. Ist das, dessen das Bedürftige bedarf, nämlich überhaupt nicht zu bestimmen, so ist es auch nicht als dasjenige denkbar, dessen das Bedürftige bedarf, und infolgedessen ist das Bedürftige auch nicht bedürftig. Mithin ist jedoch in diesem Fall auch keine Beziehung der Bedürftigkeit denkbar. Gewendet auf den oben beschriebenen Fall, in dem das Seiende als des Einen bedürftig gedacht wird, hieße das: Bei einer völligen Unbestimmtheit des Einen, die sich aus seinem Begriff in der Tat zu ergeben scheint, wäre streng genommen gar keine Bedürftigkeit des Seienden mit Blick auf sein Einssein feststellbar. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Beziehung der Bedürftigkeit nicht nur voraussetzt, dass beide Glieder dieser Beziehung in irgendeiner Weise bestimmt sind. Sie müssen vielmehr genau so bestimmt sein, dass die Beziehung als die, die sie ist, konstituiert wird. Demnach kann die Beziehung der Bedürftigkeit nur dann als bestehend gedacht werden, wenn es etwas gibt, das als ein Bedürftiges zu bestimmen ist, und etwas, das als das zu denken ist, dessen das Bedürftige bedarf. Wollte man etwas als bedürftig denken, ohne dass man das bestimmen könnte, dessen das Bedürftige bedarf, geriete man in die oben bereits erläuterte Aporie einer einseitigen und damit unmöglichen Beziehung oder Relation²¹³.
210 Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, S. 178. 211 Auf dieses Problem ist im Rahmen der Ausführungen zu Plotin bereits hingewiesen worden. 212 Im vorliegenden Fall ist doch auch ausgesagt, dass das Eine der Grund des Seins des Seienden ist. 213 Dass eine Beziehung immer mindestens zwei Glieder voraussetzt, welche so bestimmt sein müssen, dass sie diese Beziehung konstituieren, lässt schon der lateinische Terminus der re-latio erkennen. Dieser impliziert, dass es etwas (Bestimmtes) geben müsse, auf das etwas anderes rück(re) „getragen“ wird.
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Für die relationale Bestimmung einer absoluten Einheit ergibt sich daraus, dass diese streng genommen nicht denkbar ist, da es der Begriff der absoluten Einheit und ihrer damit einhergehenden Unbestimmtheit nicht zulässt, dass irgendeine Relation zu ihr gebildet wird. Daraus folgt: Es mag zwar möglich und sinnvoll sein, die Beziehung zwischen der Welt des Seienden und dem Einen in dem Sinne als einseitig zu betrachten, dass das Eine das Seiende nicht braucht, während umgekehrt das Eine von dem Seienden gebraucht wird. Daraus jedoch zu folgern, dass man mit einer solchen Aussage zwar etwas über das Seiende, nicht aber auch etwas über das Eine sagen würde, ist widersinnig. Träfe man in dem diskutierten Fall nämlich tatsächlich keine Aussage über das Eine, wäre auch die beschriebene Beziehung nicht bestimmbar, da eines ihrer Glieder unbestimmt bliebe. Relational (positiv) bestimmbar ist das Erste Prinzip daher nur dann, wenn es überhaupt bestimmbar ist.²¹⁴ Angesichts dessen wird man an dieser Stelle von einem nicht zu unterschätzenden Problem der plotinischen Philosophie sprechen dürfen, das sich auf die Frage nach der Vermittelbarkeit des Wissens um das Eine bezieht.²¹⁵ Denn wie soll das Eine bestimmt werden, wenn es, wie es der Begriff seiner vollkommenen Einheitlichkeit verlangt, in keinerlei Relation zu etwas anderem gedacht werden kann? Dass hier tatsächlich ein Problem der plotinischen Philosophie besteht, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass Plotins Schüler Porphyrius sich intensiv mit dem Thema der Vermittelbarkeit des Wissens um das Eine beschäftigt hat.²¹⁶ So wird gerade die besagte Schwierigkeit, diese eine These, die andernorts noch eigens zu erörtern wäre, wohl den Grund dafür abgegeben haben, weshalb Porphyrius die oben bereits angesprochene Modifikationen der Einheitskonzeption seines Lehrers vorgenommen hat; eröffnet er doch dadurch, dass er „die vertikale Stufung der drei Hypostasen Plotins durch eine horizontale Triadik aufzuheben oder zu ergänzen“ sucht,²¹⁷ eine Denkmöglichkeit, wie das sich selbst denkende Eine trotz seiner Einheit dennoch als prin-
214 Relationale Bestimmungen des Einen, die in einer Negation dem Einen lediglich absprechen, das zu sein, was das Seiende ist, sind von der geschilderten Problematik selbstverständlich nicht betroffen. Allerdings ist zu bedenken, dass derartige Aussagen logischerweise keinen positiven Gehalt haben und damit nur von geringem Erkenntniswert hinsichtlich des Einen sind. 215 Mit Blick auf die bereits zitierte, in „Das seiende Eine“ (S. 198) vorgetragenen These Werner Beierwaltes’, gemäß der die christliche Theologie „(…) Gott schwerlich als relationslos und daher als über-seiend und über-denkend in sich verstehen [konnte], sondern (…) ihn vielmehr als denkende trinitarische Relation entfalten [musste]“, ist im Anschluss an das eben Ausgeführte Folgendes zu bemerken. Nicht nur die christliche Theologie, sondern auch die plotinische Philosophie sieht sich mit der Schwierigkeit der Notwendigkeit einer anzunehmenden Relation zwischen dem Einen und dem Vielen konfrontiert. 216 Darauf, dass das Problem der Vermittlung Porphyrius besonders interessiert hat, weist u. a. auch Eugene TeSelle hin in: „Porphyry and Augustine“, in: Augustinian Studies 5 (1974), S. 123–133; dazu, dass Plotins Ansätze das „natürliche Verstehen“ nicht befriedigt haben, vgl. auch Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, S. 237. 217 Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 454.
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zipiell bestimm- und denkbar und das Wissen um es damit als vermittelbar gedacht werden kann.²¹⁸ Eine zweite, eng mit der geschilderten Relationsproblematik verbundene Schwierigkeit, die hinsichtlich der beschriebenen plotinischen Einheitskonzeption auftritt, betrifft das Thema der Erstrebbarkeit des Einen.²¹⁹ Nimmt man mit Plotin an, dass das Eine an sich selbst vollkommen unbestimmt ist und daher auch nicht relational gedacht werden kann, stellen sich einige Fragen bezüglich des von Plotin angesetzten Letztzieles menschlichen Strebens. Wie zuvor erklärt worden ist, besteht in diesem Kontext insofern eine Schwierigkeit der Interpretation, als es nicht leicht zu klären ist, ob Plotin die Einswerdung mit dem νοῦς oder die mit dem Einen selbst als das höchste Ziel des Menschen ansetzt. Beide Deutungsansätze sind mit einer Reihe von bereits diskutierten Schwierigkeiten verbunden. Dabei erweist sich der zweite der genannten Ansätze, gemäß dem Plotin die Einswerdung mit dem Einen selbst als Letztziel angesetzt habe, vor allem aufgrund der Unbestimmbarkeit des Einen als problematisch. Ist nämlich das Eine selbst unbestimmbar, hat dies auch weitreichende Konsequenzen für den Gedanken, dass der Mensch eine Einung mit dem Einen erreichen könne. So ergibt sich das Problem, dass sich der Zustand des vollkommenen Einsseins mit dem Einen ebenso wie das Eine selbst der menschenmöglichen Kommunikabilität entzieht, da hier wie auch im Fall der absoluten Einheit von einem vollkommenen Einssein die Rede ist.²²⁰ Geht man dementsprechend statt dessen davon aus, dass Plotin die Einswerdung mit dem νοῦς als das höchste dem Menschen erreichbare Ziel ansetzt, zeigt sich hier seinerseits das Problem, dass damit keine völlige Einswerdung erreicht wird; besteht doch der νοῦς in einer wenn auch nur minimalen Zweiheit.²²¹
218 Die These, dass Porphyrius die oben genannte Veränderung der Einheitskonzeption Plotins deswegen vorgenommen habe, weil er damit das Problem der Vermittelbarkeit des Wissens um das Eine lösen wollte, ist m. W. in der Forschung noch nicht vertreten worden. Eine genauere Erörterung dessen, inwiefern dies der Fall ist, würde allerdings den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und ist daher auf eine andere Untersuchung zu verschieben. Dafür, dass Augustinus den Gedanken der Notwendigkeit einer Vermittlung des Wissens um das Erste Prinzip aller Wahrscheinlichkeit nach von Porphyrius übernommen hat, sprechen laut Eugene TeSelle einige Indizien. Vgl. „Porphyry and Augustine“, S. 125. 219 Diese Schwierigkeit ist im Zusammenhang mit der Darstellung der plotinischen Philosophie bereits erörtert worden. Ihre Betrachtung soll nun nur noch um einige Aspekte erweitert werden, die sich ausgehend von der Untersuchung zu Augustinus’ Konzeption des menschenmöglichen Sprechens über Gott ergeben. 220 Dies gilt zumindest, wenn man sich nicht auf den in diesem Zusammenhang überstrapazierten und dabei auch noch meist falsch gebrauchten Begriff der „mystischen Erfahrung“ zurückziehen will. 221 Während es im Fall der ersten geschilderten Problematik um eine Vermittlung gleichsam von oben nach unten ging, da sich die Frage stellte, wie das Wissen um Gott zu den Menschen gelangen soll, ist hier nun ein Problem der Vermittlung von unten nach oben Thema. Dies insofern, als sich nun die Frage stellt, wie der Mensch zu dem Ersten Prinzip gelangen soll.
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Dass hier eine weitere Schwierigkeit des plotinischen Denkens auszumachen ist, zeigt wiederum der Umstand, dass sich die Plotin nachfolgende Tradition bereits sehr früh mit der geschilderten Problematik auseinandergesetzt hat. Auch hier nimmt Porphyrius eine herausragende Stellung ein, da er sich intensiv mit der Frage nach der Möglichkeit des Erreichens des menschlichen Letztzieles beschäftigt hat.²²² Und auch hier mag es seine Modifikation der plotinischen Einheitskonzeption gewesen sein, die einen Weg aus dem sich im Rahmen des plotinischen Denkens ergebenden Problems der Verwirklichung des Letztzieles gewiesen hat. Indem Porphyrius nämlich die Ebenen des vollkommenen Einen und des νοῦς in eines denkt, bietet er einen Anhaltspunkt dafür, wie das bei Plotin auftretende Dilemma aufzulösen ist; war doch laut Plotin nur entweder eine inkommunikable Form der vollkommenen Einswerdung oder aber eine kommunikable, aber dafür unvollkommene Form der Einswerdung zu erreichen. Während es aufgrund der äußerst schlechten Überlieferungslage der porphyrianischen Werke nur sehr schwer ist herauszuarbeiten, ob und gegebenenfalls wie Porphyrius selbst tatsächlich den Gedanken der Selbstreflexion des Einen nutzbar für die Lösung des eben beschriebenen Problems gemacht hat, kann man mit Sicherheit feststellen, dass Augustinus dies getan hat. Kurz zusammengefasst besteht die von Augustinus im Anhalt an Porphyrius entwickelte Lösung darin, dass das Eine als ein sich selbst reflektierendes auch als ein prinzipiell denkbares angesehen werden kann und als solches nicht jenseits des Denkens und des Seins liegt. Ausgehend davon lässt sich, wie bei Augustinus noch genauer zu zeigen sein wird, die Verwirklichung des menschlichen Letztzieles als eine Form des – wenn auch erst im Jenseits möglichen – intellektuellen Anschauens (visio) des Ersten Prinzips begreifen.²²³ Indem Augustinus die Verwirklichung des Letztzieles an den logisch aufgrund der Selbstreflexion Gottes möglichen Gedanken einer visio Dei bindet, ist er imstande, einen kommunikablen Begriff des Erreichens des Letztzieles anzugeben. Wie dieser Begriff genauerhin zu bestimmen ist und inwiefern sich Augustinus durch diesen von Plotin unterscheidet, wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch eigens thematisiert werden. In einem nächsten Schritt soll nun allerdings die der angedeuteten Konzeption der Verwirklichung des Letztzieles zugrundeliegende These des Augustinus, gemäß der Gott das summum bonum ist, auf ihre Begründung hin betrachtet werden.
222 Vgl. dazu Eugene TeSelle: „Porphyry and Augustine“, S. 129–133; Andrew Smith: Porphyry’s Place in the Neoplatonic Tradition, Den Haag 1974. 223 Ob Porphyrius selbst möglicherweise in eine ähnliche Richtung dachte, ist wie gesagt aufgrund der schlechten Überlieferungssituation der porphyrianischen Werke nicht zu entscheiden. Zeigen lässt sich allerdings in jedem Fall, dass er, wie bereits erwähnt worden ist, ein großes Interesse an der Frage nach der Vermittlung des Einen in die Welt der Vielheit hatte und sich sehr intensiv mit dem Thema der menschlichen Glückseligkeit auseinandergesetzt hat.
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10.6.2 Der Eine Gott – das summum bonum Dass Gott nach Augustinus mit dem höchsten Gut zu identifizieren ist, war bereits dargelegt worden. Weshalb aber kann er diese Identifikation vornehmen, wie ist dies im Kontext seines Denkens zu begründen? „Gott ist dasjenige, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann.“ Diese von Augustinus verwendete Formulierung ist nicht nur in vorzüglicher Weise dazu geeignet, der Unüberbietbarkeit der Güte Gottes Ausdruck zu verleihen. Sie gibt zudem einen Hinweis darauf, dass Augustinus es tatsächlich für begründbar hält, dass Gott als das höchste Gut zu denken ist. Erklärt Augustinus, dass über Gott hinaus nichts Besseres gedacht werden könne, so liegt dies für ihn darin begründet, dass der Gedanke, es gebe etwas Besseres als Gott, seines Erachtens in einen Selbstwiderspruch führt. Worin aber besteht dieser Selbstwiderspruch? Einen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage gibt eine Passage aus De Trinitate VIII, in welcher Gott mit dem „Guten selbst“ (ipsum bonum) und dem „einfachen Gut“ (simplex bonum) gleichgesetzt wird.²²⁴ Beide Bezeichnungen erinnern an die platonisch-neuplatonische Tradition, in welche sich Augustinus durch die Aufnahme dieser Begriffe stellt. So hatte bereits Platon von „dem Guten selbst“ (αὐτὸ τὸ ἀγαθόν)²²⁵ gesprochen und dieses, wenn man den Zeugnissen des Aristoteles²²⁶ und des Aristoxenos²²⁷ Glauben schenken darf, als „eines“ bestimmt. Aufgenommen und fortgeführt wird dieser Gedanke der Einheit des Guten vor allem bei den sogenannten „neuplatonischen“ Denkern wie den schon mehrfach genannten Plotin und Porphyrius, deren Rezeption durch Augustinus hier bereits thematisiert worden ist. Wenn nun Augustinus nirgends in seinem Werk explizit begründet, weshalb Gott das höchste Gut ist,²²⁸ so hat dies seinen Grund unter anderem darin, dass er die platonisch-neuplatonische Tradition voraussetzt, der das Gute als das Eine (Platon) beziehungsweise das Eine als das Gute (Plotin) gilt.²²⁹ Wie dabei mit Blick auf Platons Konzeption der Idee des Guten bereits erläutert worden ist, besteht dabei insofern ein Zusammenhang zwischen dem „Einssein“ von etwas und seiner Güte, als etwas völlig Einheitliches keinerlei Mangel aufweist und in diesem Sinne gut beziehungsweise vollkommen gut ist.²³⁰ Wäre etwas
224 Vgl. Augustinus De Trinitate VIII, 3, 5. 225 Vgl. Platon Politeia 534b 8–d 1; vgl. zudem ebd. 517c 5f. 226 Vgl. Aristoteles Metaphysik 1091b 13–15; 987b 21–988a 17; Eudemische Ethik 1218a 19–21; 1218a 25f. 227 Vgl. Aristoxenos Elementa Harmonica II, 30–32. 228 Es findet sich zumindest keine mir bekannte Stelle in Augustinus’ Werk, an der er in irgendeiner Weise erklären würde, dass Gott das höchste Gut sei, weil er in einer bestimmten Weise beschaffen ist. 229 Vor allem hinsichtlich des Standpunktes, den Plotin in Hinsicht auf die Güte des Einen einnimmt, sind dabei die oben diskutierten Schwierigkeiten bezüglich der Bestimmung des Einen als des Guten nicht außer Acht zu lassen. 230 Dies ist bereits mit Blick auf Platons Konzeption der Idee des Guten herausgearbeitet worden.
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Einheitliches in irgendeiner Weise mangelhaft, so sei hier nur nochmals zur Erinnerung angeführt, bestünde es in einer Vielheitlichkeit; ist doch jedes Mangelhafte etwas, dem etwas anderes hinzukommt, das seinen Mangel konstituiert, so dass das Mangelhafte als Ganzes in einer Zweiheit besteht. Wäre der Mangel, wie man möglicherweise einwenden könnte, überhaupt und im strengen Wortsinn nichts, wäre dasjenige, dem er anhaftet, auch nicht mangelhaft. Denn ein Mangel, der überhaupt nichts ist, kann auch nicht als ein Mangel aufgefasst werden.²³¹ Eben diese ursprünglich aus der platonisch-neuplatonischen Tradition stammende Gedankenführung nimmt nun Augustinus auf, wenn er Gott als das summum bonum denkt. Dies verdeutlicht beispielsweise eine Passage zu Beginn der Soliloquia, in welcher es heißt: Was auch immer von mir gesagt worden ist, du, der Eine Gott, du bist mir zu Hilfe gekommen; ein ewiges, wahrhaftes Wesen, wo keine Uneinigkeit ist, keine Vermischung, kein Vergehen, keine Bedürftigkeit, kein Tod; wo die höchste Eintracht, die höchste Klarheit, die höchste Beständigkeit, die höchste Fülle, das höchste Leben ist; wo nichts fehlt, nichts im Überfluss da ist.²³²
Dem vollkommenen Einen, welches Augustinus mit Gott identifiziert, hängt demnach in keinerlei Hinsicht ein Mangel an, so dass er auch als „vollkommen“ anzusehen ist.²³³ Weder ist der Eine Gott in ihm selbst uneins oder einem Mischungsverhältnis unterlegen, so dass „Teile“ von ihm im Widerstreit miteinander liegen oder auseinandertreten könnten, noch ist er als solcher der Zeit unterworfen. Als ein „ewiges, wahrhaftes Wesen“ ist Gott, wie er ist, und in dem, wie er als einheitlicher ist, perfekt im Sinne der völligen Mangellosigkeit.²³⁴ Daher kann Augustinus beispielsweise in den Confessiones, Gott anredend, formulieren:
Dass auch Augustinus die Mangellosigkeit als charakteristisch für den Zustand der Vollkommenheit oder des „Gutseins“ ansieht, ist bereits mit Blick auf seine Ausführungen in De beata vita erläutert worden. 231 Zur Differenzierung bezüglich des Mangelbegriffes wird man sagen müssen, dass der Mangel zwar nichts an sich selbst, sondern nur an dem ist, dem er anhängt; dass er aber dennoch nicht „nichts“ im strengen Sinn des Wortes ist, da er wie gesagt ansonsten auch den von ihm betroffenen Gegenstand nicht als mangelhaft bestimmen könnte. 232 Augustinus Soliloquia I, 1, 4: „quidquid a me dictum est, unus Deus tu, tu ueni mihi in auxilium; una aeterna uera substantia, ubi nulla discrepantia, nulla confusio, nulla transitio, nulla indigentia, nulla mors. ubi summa concordia, summa euidentia, summa constantia, summa plenitudo, summa uita. ubi nihil deest, nihil redundat.“ 233 Zu dem von Augustinus angenommenen Zusammenhang zwischen Mangellosigkeit und Vollkommenheit, vgl. De beata vita IV, 25: „nullus autem perfectus aliquo eget (…).“ Dass Gott in dieser Weise vollkommen ist, geht u. a. aus De beata vita IV, 35 hervor, wo es heißt: „(…) nihilque aliud etiam hoc apparet esse quam deum nulla degeneratione inpediente perfectum. nam ibi totum atque omne perfectum est simulque est omnipotentissime deus.“ 234 Auf den von Augustinus angenommenen Zusammenhang zwischen der Einheit Gottes und seiner Mangellosigkeit weist u. a. auch eine Stelle aus De moribus ecclesiae II, 11, 20 hin, in der es heißt:
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Du aber, Gut, das keines anderen Gutes bedarf, bist immer ruhig, da du ja selbst deine Ruhe bist.²³⁵
Ganz ähnlich heißt es in De vera religione: Gott nämlich bedarf keines anderen Gutes, da er ja von ihm selbst ist.²³⁶
Dass es die Einheit Gottes ist, aufgrund derer Augustinus ihn als summum bonum begreift, zeigt auch die bereits zitierte Identifikation Gottes mit dem höchsten Gut, wie sie in De beata vita vorgenommen wird. Dort erklärt Augustinus, dass nur ein solches Gut als das höchste und glückselig machende angesehen werden könne, das ewig bleibend, nicht vom Schicksal abhängig und unverlierbar ist.²³⁷ Als ein solches Gut kommt Augustinus zufolge nur Gott in Frage, da dieser „ewig“ (aeternus)²³⁸ und selbst auch „in unveränderlicher Weise bleibend“²³⁹ ist und zudem als dasjenige, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, ein wahrhaft ewiges und unsterbliches Gut darstellt.²⁴⁰ Auch hier wird deutlich: Gott ist deswegen als das höchste Gut anzusehen, weil er in dem Sinne vollkommen einer ist, dass er, ein und derselbe bleibend, unveränderlich und ewig ist. An anderer Stelle stellt Augustinus den Gedanken der durch die Einheit bedingten Güte Gottes mit Blick auf den Aspekt des vollkommenen und damit einheitlichen göttlichen Seins dar. So schreibt er in Sermo 156, 6, Exodus 3, 14 zitierend, dass Gott (…) zuhöchst gut ist, weil er zuhöchst derjenige ist, welcher der, ‚Ich bin, der ich bin‘, ist.²⁴¹
Zusammenfassend lässt sich angesichts des Ausgeführten feststellen, dass sich Augustinus’ These, gemäß der Gott das höchste Gut ist, aus einer Entfaltung des Begriffes seiner göttlichen Einheit ergibt. Demnach ist Gott das summum bonum,
„docet enim ratio, nec sane recondita, sed in promptu sita et exposita omnium intellectui, sed invicta et eo invictior quod eam nemo ignorare permittitur, deum esse incorruptibilem, incommutabilem, inviolabilem, in quem nulla indigentia, nulla imbecillitas, nulla miseria cadere possit.“ 235 Augustinus Confessiones XIII, 38, 53: „tu autem bonum nullo bono indigens bono semper quietus es, quoniam tua quies tu ipse es.“ 236 Augustinus De vera religione XIV, 27: „deus enim bono alterius non indiget, quoniam a se ipso est.“ 237 Vgl. Augustinus De beata vita II, 2, 11: „id [i. e. bonum] ergo, inquam, semper manens nec ex fortuna pendulum nec ullis subiectum casibus esse debet.“ 238 Vgl. u. a. Augustinus De vera religione XXXVII, 68; De Trinitate XV, 5, 8; Enarrationes in Psalmos 91, 14; Contra Felicem I, 18. 239 Vgl. Augustinus Confessiones VII, 11, 17: „id enim vere est [i. e. deus], quod incommutabiliter manet.“ 240 Vgl. dazu nochmals die eben bereits zitierte Passage aus Augustinus De natura boni liber 1 (CSEL 25/2, 855): „summum bonum, quo superius non est, deus est; ac per hoc incommutabile bonum est; ideo vere aeternum et vere immortale.“ 241 Augustinus Sermo 156, 6: „deus summe bonus est, quia summe est qui sit, ‚Ego sum qui sum‘.“
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indem er Einer und mithin vollkommen mangellos ist. Spricht nun jemand gegen die These ein, dass nichts Besseres als Gott gedacht werden könne, und behauptet er dementsprechend, dass es etwas Besseres als Gott gebe, so gerät er dabei, wie zuvor angemerkt worden war, in einen Selbstwiderspruch; wird doch mit einer solchen Einrede behauptet, dass der Eine vollkommen mangellose Gott, da er schlechter als etwas anderes ist, doch einen Mangel aufweise, und zwar im Vergleich zu demjenigen, das besser ist als er.²⁴² Unser Wissen um all dies hat nach Augustinus seinen Ursprung darin, dass uns die Einheit selbst in der Person Jesu Christi davon kündet, dass sie das summum bonum ist.²⁴³ Damit ist sie es selbst, die vor und für uns ihren eigenen Begriff dahin gehend entfaltet, dass sie sich uns als das summum bonum vorstellt. Infolgedessen kann das Wissen um das Eine Gute als ein „gegebenes“ betrachtet werden, das seinen Ursprung und seinen Gegenstand in Gott selbst hat.²⁴⁴ Zudem legt der Gegebenheitscharakter dieses Wissens auch den Grund dafür, weshalb Augustinus – anders als Plotin – überhaupt denken und sagen kann, dass das Eine das höchste Gut ist. Denn, wie bereits gezeigt worden ist, ist es die Selbstreflexion des Einen in Verbindung mit dessen Selbstoffenbarung, die es laut Augustinus ermöglichen, den Einen Gott überhaupt und genauerhin als summum bonum zu denken. Wie aber ist das höchste Gut, das sich dem Menschen als solches selbst zu erkennen gibt, zu erlangen und wie ist diese Erlangung inhaltlich zu bestimmen?
242 Augustinus’ Bestimmung Gottes als desjenigen, „über das hinaus nichts Besseres gedacht werden kann“, weist dabei insofern eine Strukturähnlichkeit mit der Bestimmung der Güte Gottes als dem völligen Freisein von allem Mangel auf, als in beiden Fällen streng genommen nicht gesagt wird, was Gott ist, sondern was er nicht ist. Gleichzeitig bleiben sie aber nicht bei dieser rein negativen Aussage stehen, indem sie zum Ausdruck bringen, in welchem Verhältnis Gott zu allen anderen Dingen steht, die im Vergleich zu ihm aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit schlechter sind und zu ihm als ihrem höchsten Gut streben. Auch hier liegt demnach eine Form der relationalen Bestimmung vor. 243 Dies war bereits mit Blick auf De moribus ecclesiae I, 8, 13 festgestellt worden. 244 Den Gegebenheitscharakter des augustinischen Wissens im Allgemeinen hat v. a. Robert D. Crouse im Ausgang von seiner Betrachtung zu der von Augustinus in De Trinitate verwendeten Methode erarbeitet. Vgl. Robert D. Crouse: „St. Augustine’s De Trinitate. Philosophical Method“, in: Elizabeth A. Livingstone (Hrsg.): Papers presented to the Seventh International Conference on Patristic Studies held in Oxford 1975, part 2, Monastica et ascetica, orientalia, e saeculo secundo, Origen, Athanasius, Cappadocian Fathers, Chrysostom, Augustine, (Reihe: Studia patristica, Bd. 16; = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 129), Berlin 1985, S. 501–510, bes. S. 504f.; vgl. auch ders.: „Semina Rationum. St. Augustine and Boethius“, in: Dionysius 4 (1980), S. 75–86, bes. S. 83f.
Der Wille Gottes und das Erreichen der Glückseligkeit
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10.7 Der Wille Gottes und das Erreichen der Glückseligkeit Wer zu Gott, dem höchsten Gut, kommen will, so Augustinus, muss die von ihm eingerichtete Ordnung (ordo) beachten.²⁴⁵ Da Gott diese Ordnung dabei nicht nur einsetzt, sondern auch bezüglich ihrer will, dass sie eingehalten wird, erlässt er ein ewiges Gesetz (lex aeterna)²⁴⁶, das die Bewahrung seiner Ordnung befiehlt und die Verletzung derselben verbietet.²⁴⁷ So eng denkt Augustinus dabei die Verbindung zwischen dem göttlichen Willen und dem ewigen Gesetz, dass er beide bisweilen gleichsetzt und die voluntas dei als die lex dei bezeichnet.²⁴⁸ Verstößt der Mensch gegen das ewige Gesetz, indem er wider den Willen Gottes die göttliche Ordnung stört, sündigt er und kommt dementsprechend nicht zu Gott und auch nicht zur Glückseligkeit.²⁴⁹ Nach Bruno Switalski ist Augustinus’ Begriff der Sünde (peccatum) seinem Inhalt nach dabei genauer genommen wie folgt zu fassen: Sin is contempt for God and His commandments, a turning away from God and a turning to creatures and one’s self. The creatures to which man turns are good themselves but that which is wrong is inordinate attachment to them, so that they become man’s ultimate end.²⁵⁰
245 Vgl. Augustinus De Ordine I, 9, 27: „ordo est quem si tenuerimus in vita, perducet ad deum (...)“; vgl. dazu und auch zum Folgenden die Ausführungen des diese Stelle zitierenden Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, New York 1946, S. 42; vgl. zum Folgenden auch Joseph Mausbach: Die Ethik des Heiligen Augustinus. Erster Band: Die Sittliche Ordnung und ihre Grundlagen, Freiburg 1909, S. 84–127. 246 Vgl. dazu Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, S. 42, und die dort zitierte Stelle aus Augustinus De libero arbitrio I, 6, 15: „ut breviter aeternae legis notionem, quae impressa nobis est, quantum valeo verbis explicem, ea est qua iustum est tu omnia sint ordinatissima.“ Siehe auch Dietrich Ritschl: „Some Comments on the Background and Influence of Augustine’s Lex aeterna Doctrine“, in: Ders.: Konzepte. Gesammelte Aufsätze 1: Patristische Studien, Bern 1976, S. 123–140. Vgl. auch die etwas in die Jahre gekommene, aber noch immer sehr lesenswerte Monographie von Alois Schubert: Augustins Lex-aeterna-Lehre: nach Inhalt und Quellen, Münster 1924. 247 Vgl. Augustinus Contra Faustum Manichaeum 22, 27: „lex vero aeterna est, ratio divina vel voluntas dei ordinem naturalem conservari iubens perturbari vetans.“ 248 Vgl. Augustinus Enarrationes in Psalmos 36, Sermo 3, 5; dazu Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, S. 43. 249 Vgl. Augustinus Contra Faustum Manichaeum 22, 27: „peccatum est factum vel dictum vel concupitum aliquid contra aeternam legem.“ Vgl. dazu Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, S. 47; auf den Zusammenhang zwischen dem Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen und der zur Glückseligkeit führenden Liebe zu Gott hat in aller Deutlichkeit auch Ragnar Holte: Béatitude et Sagesse, S. 221–231, hingewiesen. 250 Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, S. 47. Vgl. zudem die von Switalski angegebenen Verweisstellen. Zu Augustinus’ Verständnis der menschlichen Natur und der Person, die wichtige Grundlagen für seine Auffassung der Sünde bilden, siehe auch die Ausführungen Peter Burnells in The Augustinian Person, S. 71–96.
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
Wesentlich für den in der Sünde begangenen Verstoß gegen die göttliche Ordnung ist demnach eine falsche Hinordnung des Willens, der nicht Gott, sondern etwas Geschaffenes zum Letztziel seines Strebens hat. Zum Tragen kommt hier eine Unterscheidung, die Augustinus vor allem in De doctrina christiana einführt und auf die in der vorliegenden Untersuchung schon einige Male andeutend hingewiesen worden ist. Es ist dies die Unterscheidung zwischen dem „Genießen“ (frui) und dem „Gebrauchen“ (uti) einer Sache. Während eine Sache laut Augustinus genossen wird, wenn man ihr um ihrer selbst willen „anhängt“ (inhaerere), ist sie Gegenstand des Gebrauchens, sofern man ihr um eines anderen willen anhangt.²⁵¹ Der von ihm angenommenen Rangfolge der Güter entsprechend, erklärt Augustinus dabei, dass nur der dreieine Gott als das höchste Gut zum Genuss genommen werden dürfe,²⁵² da sich im Genießen Gottes das glückselige Leben verwirkliche.²⁵³ Für alle anderen Dinge gilt, dass sie zu gebrauchen sind und infolgedessen mit Blick daraufhin erstrebt werden sollen, ob sie zur Erlangung des höchsten Gutes beitragen.²⁵⁴ Handelt man dieser Konzeption entsprechend so, dass man alle übrigen Güter auf Gott hinordnet, bleibt man, mit Augustinus gedacht, in der von Gott vorgegebenen Ordnung und handelt nach dessen Willen.²⁵⁵ Setzt man hingegen irgendeines der Geschöpfe in seiner Wertigkeit über Gott, verletzt man die göttliche Ordnung und verspielt damit die Möglichkeit, zu Gott zu gelangen. Infolgedessen ist es laut Augustinus vor allem nötig, dass man, wie er in De doctrina christiana schreibt, aus der Furcht vor Gott heraus umkehrt zur Erkenntnis seines [i. e. Gottes] Willens, was dieser uns zu erstreben und was er uns zu meiden vorschreibt.²⁵⁶
Indem der göttliche Wille „vorschreibt“ (praecipiat), was zu „erstreben“ (appetere) und was zu „meiden“ oder – wörtlich übersetzt – zu „fliehen“ (fugere) ist, erweist er sich als das Kriterium, anhand dessen man gutes von schlechtem Handeln unterscheiden kann. Das gute Handeln ist dabei dadurch bestimmt, dass es dem Willen Gottes entspricht, sich auf die fruitio Dei als das höchste Ziel ausrichtet und so auf das
251 Vgl. Augustinus De doctrina christiana I, 4, 4: „frui enim est amore inhaerere alicui rei propter se ipsam. uti autem, quod in usum venerit, ad id, quod amas obtinendum referre, si tamen amandum est.“ 252 Vgl. ebd. I, 5, 5: „res igitur, quibus fruendum est, pater et filius et spiritus sanctus eademque trinitas (...).“ 253 Vgl. ebd. I, 29, 30: „(...) quo [Deo] perfrui beate vivere est.“ Zudem: De libero arbitrio II 13, 36: „beatus est quippe qui fruitur summo bono (sive deo).“ Zur fruitio Dei, vgl. auch Heribert Boeder: „Fruitio Dei“, in: Ders.: Das Bauzeug der Geschichte, herausgegeben von Gerald Meier, Würzburg 1994, S. 363–370. Rudolf Lorenz: „Fruitio Dei bei Augustin“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 63 (1950/51), S. 75–132; ders.: „Die Herkunft des augustinischen ‚frui deo‘“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 64 (1952/53), S. 34–60. 254 Vgl. Augustinus De doctrina christiana I, 4, 4. 255 Vgl. dazu Rudolf Lorenz: „Fruitio Dei bei Augustin“, S. 88–98. 256 Augustinus De doctrina christiana II, 7, 9: „ante omnia igitur opus est dei timore converti ad cognoscendam eius voluntatem, quid nobis appetendum fugiendumque praecipiat.“
Der Wille Gottes und das Erreichen der Glückseligkeit
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Erreichen der Glückseligkeit hinwirkt. Das schlechte Handeln hingegen setzt etwas Weltliches über Gott, nimmt dieses zum Letztziel und führt damit nicht zum Erreichen der beatitudo. Daher gilt für Augustinus, dass nur derjenige glückselig werden kann, der in der beschriebenen Weise gut handelt, da er den göttlichen Willen in allen Bereichen seines Lebens²⁵⁷ als Maßstab dafür verwendet, was er erstreben und was er meiden soll.²⁵⁸ Diese Grundüberzeugung des Augustinus findet sich schon in seinen frühesten Werken. So bindet Augustinus das „Haben Gottes“ (deum habere), durch welches sich die Glückseligkeit verwirklicht und das im vorliegenden Kontext als ein Erlangen und Genießen des höchsten Gutes aufzufassen ist,²⁵⁹ bereits in De beata vita an eine bestimmte Form der Lebensführung.²⁶⁰ Wie die Antworten zeigen, die Augustinus’ Gesprächspartner auf dessen Frage geben, wie das „Haben Gottes“ näher zu bestimmen sei, ist diese Lebensführung dabei vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie im Einklang mit dem Willen Gottes steht. Gott nämlich, so Licentius, hat derjenige, „der gut lebt“ (qui bene vivit), was, wie die zweite, von Trygetius gegebene Antwort verdeutlicht, nichts anderes bedeutet, als dass er „das tut, wovon Gott will, dass es geschehe“ (facit quae deus vult fieri).²⁶¹ Auch die dritte, von Adeodatus vorgetragene Antwort, dass derjenige Gott habe, der „keinen unreinen Geist hat“ (qui inmundum spiritum non habet)²⁶², weist in dieselbe Richtung. Dies wird deutlich, wenn Adeodatus seine These auf die Anfrage des Augustinus dahin gehend präzisiert, dass derjenige über keinen unreinen Geist verfüge, der „keusch lebt“ (caste vivit), was bedeutet, dass er „seine Aufmerksamkeit auf Gott richtet und sich nur an ihn hält“ (qui deum adtendit et ad ipsum solum se tenet).²⁶³ Schon in De beata vita finden sich damit die wesentlichen Elemente, die auch der spätere Augustinus als charakteristisch für die Beschreibung derjenigen Lebensführung ansieht, die in dem Sinne „gut“ ist, dass sie dem Willen Gottes entspricht und sich auf Gott als das Letztziel allen Strebens hin ausrichtet.
257 Vgl. dazu u. a. Ragnar Holte: Béatitude et Sagesse, S. 251–273. 258 Wenn es hier heißt, dass der gut handelnde Mensch glückselig werden kann, verweist dies darauf, dass ein solches Handeln nicht die hinreichende Bedingung für das Erreichen des Zieles der Glückseligkeit darstellt. Zur Verwirklichung dieses Zieles ist ein Akt der göttlichen Gnade notwendig. Wie dies genauer zu verstehen ist, wird erörtert werden, wenn es darum gehen wird, wie Augustinus das Erreichen des Letztzieles bestimmt. 259 Vgl. Augustinus De beata vita IV, 34: „hoc est animis deum habere, id est deo perfrui.“ 260 Vgl. ebd. II, 12; dazu Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, S. 35f. 261 Vgl. Augustinus De beata vita II, 12; zur Identifikationsmöglichkeit dieser beiden Antworten, vgl. ebd. III, 18; dazu Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, S. 36. 262 Vgl. Augustinus De beata vita II, 12. 263 Vgl. ebd. III, 18.
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10.7.1 Die Weisheit des dem Willen Gottes folgenden Menschen Ein Mensch nun, der aus Gottesfurcht zu der in De doctrina christiana angesprochenen Erkenntnis des göttlichen Willens umgekehrt ist und infolgedessen, Gott als dem höchsten Gut anhängend, „in Frieden und Ruhe genießt“ (pacatus tranquillusque perfruitur), kann laut Augustinus „weise“ (sapiens) genannt werden.²⁶⁴ Wie sich an dieser Stelle bei genauerem Hinsehen zeigt, entspricht diese Bestimmung des Weisen aus De doctrina christiana genau dem bereits zuvor erörterten Begriff der Weisheit, wie er von Augustinus auch in anderen Werken gefasst wird. So war die sapientia von Augustinus bereits in De libero arbitrio als diejenige Wahrheit bestimmt worden, „in der das höchste Gut erkannt und erfasst wird“²⁶⁵. Setzt man dieses höchste Gut mit Gott gleich, kann man den Weisen, auf De immortalitate animae Bezug nehmend, auch als denjenigen begreifen, der Gott anhängt (inhaeret), da er ihm in göttlicher Liebe verbunden ist (divino amore coniunctus).²⁶⁶ Allgemein gefasst ist die Weisheit mit Augustinus somit als ein „Gott-Anhängen“ zu begreifen, dem eine bestimmte Form der Erkenntnis und des Willens zugrunde liegt; schätzt er doch denjenigen Menschen als weise ein, der Gott als das höchste Gut erkennt und dies infolgedessen zu erreichen sucht. Gott in dieser Weise anhängend, nimmt der sapiens diesen als sein summum bonum und mithin zum Gegenstand des Genusses, während ihm alles andere zum Gebrauch dient. Als Bedingung dafür, dass der Mensch die Tüchtigkeit der Weisheit erlangen kann, ist Augustinus zufolge die Inkarnation der göttlichen Weisheit anzusehen. Dies liegt im folgenden Gedankengang begründet. Nach Augustinus ist die göttliche Weisheit, wie oben bereits gezeigt worden ist, mit dem Wort Gottes gleichzusetzen, das aus der Selbstreflexion der göttlichen memoria, seines intellectus und seiner voluntas hervorgeht. Demnach hängt Gott sich selbst als ein sich selbst wollender Wille an, was zur Folge hat, dass er durch sein ihm wesensgleiches Wort mit sich selbst in göttlicher Liebe verbunden ist (divino amore coniunctus).²⁶⁷ Aus dem Umstand, dass Gott sich selbst anhängt, lässt sich des Weiteren der bereits erläuterte Schluss ziehen, dass er prinzipiell als ein Gegenstand des Willens angesehen werden kann, da er sich, gedacht als Willen, bei der Zeugung seines Sohnes auf sich selbst richtet. Wird nun der so gezeugte und als Weisheit Gottes begriffene Sohn Mensch, so hängt Gott in der Person des inkarnierten Sohnes sich selbst an,²⁶⁸ und da er dies als Mensch tut, zeigt
264 Vgl. Augustinus De doctrina christiana II, 7, 11. 265 Vgl. Augustinus De libero arbitrio II, 100. 266 Vgl. Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 68, mit einem Verweis auf De immortalitate animae XI, 18. 267 Vgl. Augustinus De immortalitate animae XI, 18. 268 Dass Gott sich auch in der Person des Sohnes und nicht nur in der des Vaters selbst anhängt, ist deswegen anzunehmen, weil der Sohn aus einer vollkommenen Selbstreflexion des sich selbst einsehenden und wollenden Vaters hervorgeht.
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er damit, dass und auch wie ein Mensch in vollkommener Weise Gott anhängen kann. Diese Überlegung stellt den Hintergrund dar, vor dem Augustinus behauptet, dass der Mensch zur Erkenntnis der göttlichen Weisheit darauf angewiesen ist, dass sich diese inkarniert.²⁶⁹ Wie schon im Fall der Erkenntnis Gottes im Allgemeinen ist der Mensch daher auch mit Blick auf das mit der Weisheit gegebene Wissen darum, dass Gott das höchste Gut ist und dass man ihm infolgedessen anhängen soll, davon abhängig, dass Gott selbst ihm dies mitteilt.²⁷⁰
10.7.2 Die Offenbarung des göttlichen Willens in der Heiligen Schrift Strebt nun der weise Mensch auf die fruitio Dei hin und richtet er seinen Willen dementsprechend am Willen Gottes aus, sieht er sich unmittelbar mit der Frage konfrontiert, worin der göttliche Wille seinem Inhalt nach besteht. Was soll er tun, was ist es, von dem gilt, dass Gott will, dass es geschehe? Eine Antwort auf diese Frage, so erklärt Augustinus in De doctrina christiana, erhält der Gottesfürchtige in den Büchern der Heiligen Schrift.²⁷¹ In ihr werde er dabei nichts anderes finden, als dass Gott um seiner selbst willen und der Nächste um Gottes willen geliebt werden müsse.²⁷² Demnach ist es laut Augustinus die Schrift selbst, die die von ihm im ersten Buch von De doctrina christiana als Letztziel beschriebene fruitio Dei in diesen Rang erhebt und das Streben nach Gott über alles andere Streben stellt. Ausgefaltet findet sich diese Grundregel des guten Lebens laut Augustinus in den „Vorschriften zur Lebensführung“ (praecepta vivendi), die die Schrift neben den „Regeln des Glaubens“ (regulae credendi) enthält.²⁷³ Wer gut handeln will, soll demnach die fruitio Dei zum Letztziel nehmen und sein Handeln dem göttlichen
269 Vgl. dazu Augustinus Sermo VI, 1; De trinitate V, 20, 28; Sermo XXVIII, 5. Vgl. dazu den diese Stellen anführenden Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 86f. 270 Vgl. dazu nochmals die bereits zitierte Stelle aus Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, S. 267 (auch zitiert bei Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit, S. 109): „Auch die Liebe zu Gott selbst kann nur eine vermittelte sein. Sie ist undenkbar ohne den „Mittler“ und also ohne den nur durch seine Menschwerdung den Menschen offenbar gewordenen Unterschied von „Vater“ und „Sohn“ in Gott. Dieser Unterschied bleibt aber ungedacht ohne die Sendung des „Geistes“, der uns in „alle Wahrheit“ eingeführt hat. Der Gedanke, Gott zu genießen, steht ganz und gar in der Offenbarung seiner Dreifaltigkeit. Eben deshalb führt Augustinus „die Sachen, die zu genießen sind“, in der Bestimmtheit ein, „der Vater und der Sohn und der heilige Geist“ zu sein (De doctrina christiana I § 5, 1).“ Ein wesentlicher Aspekt des augustinischen Verständnisses der sapientia, der der contemplatio Dei, ist hier bewusst außer Acht gelassen worden. Dieses Thema soll mit Bedacht erst im Kapitel über die visio Dei als der die beata vita konstituierenden Tätigkeit erörtert werden. 271 Vgl. Augustinus De doctrina christiana II, 9, 14; III, 1, 1. 272 Vgl. ebd. II, 7, 10. 273 Dies geht hervor aus Augustinus De doctrina christiana II, 9, 14.
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Willen unterwerfen, den er in der Heiligen Schrift in Form der praecepta vivendi entfaltet findet.²⁷⁴
10.7.3 Der Wille Gottes und die praecepta vivendi – eine nicht verwirklichbare Normenethik? Unternimmt man nun den Versuch, sich bei der eigenen Lebensführung am Willen Gottes und dessen Ausgestaltungen, den praecepta vivendi, zu orientieren und bemüht man sich, diesen gemäß zu leben und zu handeln, sieht man sich allerdings mit einer weiteren, nicht zu unterschätzenden Schwierigkeit konfrontiert, die mutatis mutandis auch schon mit Blick auf die platonische Ethik angemahnt worden war. So erscheint es zumindest auf den ersten Blick betrachtet nicht ersichtlich, wie die als Normen für die rechte Lebensführung dienenden praecepta vivendi in den jeweiligen situativen Kontexten menschlichen Handelns Anwendung finden sollen. Wie vor ihm schon Platon und Plotin gerät damit auch Augustinus unter den Verdacht, dass er eine rein normative Ethik entwickele, die als solche nicht dem situativen Element menschlichen Handelns Rechnung trägt. Was, so wäre vor diesem Hintergrund beispielsweise als Anfrage zu formulieren, mag es im Rahmen konkreter Situationen beispielsweise bedeuten, seinen Nächsten zu lieben?²⁷⁵ Wer ist jeweils der Nächste? Muss man jeden Nächsten in derselben Weise lieben? Oder auch: Ist das als allgemein gültig angenommene Gebot der Gottesliebe zu jeder Zeit und in jeder Situation in derselben Weise zu befolgen? Gibt es eine allgemeine Form der Gottesliebe, die situationsunabhängig zu praktizieren ist?
10.8 Christus als exemplum Im Zentrum der von Augustinus für das skizzierte Problem entwickelten Lösung steht der Gedanke, dass Jesus Christus als der inkarnierte Sohn Gottes ein „Beispiel“ (exemplum) dafür gibt, wie der göttliche Wille als die absolute Norm allen Handelns in der jeweiligen konkreten Situation umgesetzt werden kann.²⁷⁶ Mit einer derartigen
274 Vgl. dazu u. a. De moribus ecclesiae I, 7, 12: „verae religionis fide praeceptisque servatis non deseruerimus viam quam nobis deus et patriarcharum segregatione et legis vinculo et prophaetarum praesagio et suscepti hominis sacramento et apostolorum testimonio et martyrum sanguine et gentium occupatione munivit.“ 275 Vgl. dazu die an Jesus gerichtete Frage des Schriftgelehrten in Lk 10,29. 276 Auf diesen Ansatz zur Lösung des Problems der Verbindung von normativer und situativer Ethik hat Bernhard Uhde im Rahmen eines Vortrages aufmerksam gemacht. Einige Andeutungen in diese Richtung macht auch bereits Joseph Mausbach: Die Ethik des Heiligen Augustinus. Erster Band, S. 125–127.
Christus als exemplum
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Anwendung des exemplum-Begriffes, auf dessen Ursprünge im Hellenismus bereits eingegangen worden ist,²⁷⁷ stellt Augustinus sich in die griechisch-römische Tradition. In dieser galten exempla „(...) allgemein als vermittelnde Instanzen zwischen abstrakt-vernünftiger Einsicht einerseits und konkreter Wirklichkeit bzw. konkretem Verhalten andererseits [fungierten]“²⁷⁸. Dass der menschgewordene Gottessohn in seiner Eigenschaft als Beispiel eine Vermittlung zwischen „abstrakt vernünftigen Einsichten“ – hier repräsentiert durch den Willen Gottes beziehungsweise die praecepta vivendi als die absoluten Normen des Handelns – und der „konkreten Wirklichkeit bzw. konkretem Verhalten“ zu leisten imstande sei, wird dabei nicht erst von Augustinus vertreten. Indem er allgemein antikes Gedankengut zum Thema des „Beispiels“ aufnimmt, prägt schon Tertullian den Begriff Christi als exemplum in der lateinischen Patristik nachhaltig.²⁷⁹ Eine für Augustinus’ exemplum-Verständnis zentrale Rolle spielen zudem die Ausführungen des Ambrosius, die das spezifisch Christliche des exemplum-Begriffes in den Vordergrund zu stellen suchen.²⁸⁰ Diese Einflüsse aufnehmend, entwickelt Augustinus sein eigenes Modell des Situation und Norm vermittelnden Beispiels.²⁸¹ Wie bereits angemerkt, sieht Augustinus Jesus Christus als das exemplum par excellence an. Christus wird dem Menschen zum Beispiel, damit dieser sich nicht von Gott entferne.²⁸² Ihn als das „Beispiel ohne Beispiel“ (sine exemplo nobis exemplum est), das er für uns als das „Bild Gottes“ (imago Dei) ist, soll der Mensch „nachahmen“ (imitari), um so zu Gott zurückzukeh-
277 Siehe dazu oben Kapitel 8.1 und 5. 278 Andreas Kessler: Art. „Exemplum“, in: Augustinus-Lexikon, Bd. 2, Sp. 1174; zur Konzeption des Exemplums in der antiken rhetorischen Tradition, vgl. auch Bennett J. Price: Paradeigma and Exemplum in Ancient Rhetorical Theory, Universitätsdissertation Berkeley, California 1975; zudem Hildegard Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Göttingen 1936; Wilhelm Geerlings: Christus Exemplum. Studien zur Christologie und Christusverkündigung Augustins, Mainz 1978, S. 146–155. 279 Vgl. H. Pétré: L’exemplum chez Tertullien, Dijon 1945; Wilhelm Geerlings: Christus Exemplum, S. 159–164; Andreas Kessler: Art. „Exemplum“, Sp. 1175. 280 Vgl. Wilhelm Geerlings: Christus Exemplum, S. 164–168. 281 Zu Augustinus’ Begriff des exemplum, vgl. Wilhelm Geerlings: Christus exemplum, S. 168–195; ders.: „Christus als exemplum (beispielhaftes Vorbild)“, in: Augustin Handbuch, S. 434–438; Andreas Kessler: Art. „Exemplum“, Sp. 1175–1181; Basil Studer: „,Sacramentum et exemplum‘ chez saint Augustin“, in: Recherches Augustiniennes vol. X (1975), S. 87–141. Vor allem bei Geerlings findet sich auch eine Betrachtung dessen, wie sich Augustinus’ Begriff des Exemplums im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Pelagianern entwickelt. Vgl. dazu Wilhelm Geerlings: „Christus als exemplum (beispielhaftes Vorbild)“, S. 436–438; wichtig ist in diesem Kontext auch Geerlings’ Hinweis, dass sich im gesamten Werk des Augustinus keine ausdrückliche exemplum-Theorie finden ließe. Vgl. „Christus als exemplum (beispielhaftes Vorbild)“, S. 436. 282 Vgl. Augustinus De Trinitate VII, 3, 5: „propterea igitur cum pronuntiatur in scripturis aut enarratur aliquid de sapientia, siue dicente ipsa siue cum de illa dicitur, filius nobis potissimum insinuatur. cuius imaginis exemplo et nos non discedamus a deo (…).“
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ren (exemplum redeundi).²⁸³ Das exemplum, das uns der Sohn gibt, umfasst dabei das Leben des Menschen in all seinen Facetten. So ist er ein Vorbild für all diejenigen, die Gott in der Höhe schauen, und für die, die auf der Welt über den Menschen staunen; für die Gesunden, dass sie beharrlich bleiben, und für die Kranken, dass sie gesund werden; für die Sterbenden, dass sie keine Furcht haben, und für die Toten, dass sie auferstehen.²⁸⁴ Als ein solches universelles Beispiel führt der Sohn den Menschen, der ihm nachfolgt und mithin in rechter Weise lebt (recte vivere)²⁸⁵, zu Gott und damit auch zur Glückseligkeit. Dementsprechend erklärt Augustinus in De Trinitate: Da nämlich der Mensch niemandem anderen außer Gott folgen durfte, um zur Glückseligkeit zu gelangen, er diesen aber nicht wahrnehmen konnte, sollte er dadurch, dass er dem menschgewordenen Gott nachfolgte, gleichzeitig sowohl dem, den er wahrnehmen konnte, als auch dem, dem er folgen musste, nachfolgen. Lieben wir ihn also und hangen wir jenem an mit der Liebe, die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen worden ist.²⁸⁶
Hier wird deutlich: Derjenige, der die Glückseligkeit erlangen will, muss dem menschgewordenen Gott nachfolgen, was wie gesehen nichts anderes heißt, als dass er dem Beispiel folgen soll, das Christus für das recte vivere im Sinne der Befolgung des göttlichen Willens gibt.²⁸⁷ Indem er die Nachfolge Christi als die Bedingung für die Erlangung der Glückseligkeit ansetzt, kann Augustinus daher im eben mehrfach zitierten Abschnitt De Trinitate VII, 3, 5 den Beispielcharakter Christi auch in den Kontext seiner Betrachtungen zum Begriff der göttlichen Weisheit stellen; besteht diese doch wie erläutert in einer Erkenntnis Gottes als höchstes Gut und in einer Ausrichtung des Willens auf dieses. In der Betrachtung der Offenbarung und der dort unter anderem von Christus selbst gegebenen praecepta soll der Mensch dementsprechend, dem Beispiel Christi folgend, Gott als das höchste Gut erkennen und seinen Willen auf Gott ausrichten.²⁸⁸ Wilhelm Geerlings fasst das bis hierher zu Augustinus’
283 Vgl. ebd. 284 Vgl. ebd. 285 Vgl. ebd. XV, 11, 20. 286 Ebd. VII, 3, 5: „quia enim homo ad beatitudinem sequi non debebat nisi deum et sentire non poterat deum, sequendo deum hominem factum sequeretur simul et quem sentire poterat et quem sequi debebat. amemus ergo eum et inhaereamus illi caritate diffusa in cordibus nostris per spiritum sanctum qui datus est nobis.“ 287 Vgl. dazu Wilhelm Geerlings: Christus exemplum, S. 169: „Christus, exemplum sine exemplo, erleuchtet den einzelnen Menschen, und in ihm ist uns das exemplum des menschlichen Lebensweges durch Gott selbst vor Augen gehalten (…). Wer diesem Beispiel folgt, findet in der Suche nach der Glückseligkeit seine Erfüllung, weil er einem sichtbaren Beispiel folgt, das der unsichtbare Gott selbst gegeben hat. Diesem Vorbild zu folgen, heißt weise leben, und darum schließt Augustinus mit der Aufforderung: „Amemus ergo eum et inhaereamus illi caritate diffusa in cordibus nostris per spiritum sanctum qui datus est nobis.“ 288 Vgl. Augustinus De Trinitate VII, 3, 5: „non igitur mirum si propter exemplum quod nobis ut reformemur ad imaginem dei praebet imago aequalis patri, cum de sapientia scriptura loquitur, de filio
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exemplum-Begriff Ausgeführte in knapper und präziser Weise zusammen, wenn er schreibt: Das Beispiel ist für ihn [i. e. Augustinus] ein indicium (ein Hinweis; vgl. De cathecizandis rudibus 8) und ein signum (ein Zeichen, vgl. In Johannis evangelium tractatus 25,11). Ein Beispiel zeigt auf (vgl. Enarrationes in Psalmos 102,6) oder demonstriert (vgl. De trinitate 13,22), und das, was abstrakt vorgeschrieben ist, gewinnt in ihm Anschaulichkeit. Dies gilt wiederum speziell von Christus: Quod nos monuit praecepto, demonstravit exemplo (Was er uns durch das Gebot anmahnte, das hat er durch sein Beispiel gezeigt; Sermo 119,7).²⁸⁹
Fragt man sich nun, wie die imitatio des Beispiels Christi Augustinus zufolge ganz konkret vorzustellen ist, so sind dafür die augustinischen Betrachtungen zum neutestamentlichen Samaritergleichnis äußerst aufschlussreich. Bemerkenswert ist dabei bezüglich des Gleichnisses, wie es bei Lk vorkommt, dass es die Antwort auf eine Frage gibt, die genau das beschriebene Problem der Vermittlung von Norm und Situation thematisiert. So geht dem Gleichnis die Frage eines Gesetzeslehrers voran, der Jesus darauf hin anspricht, wer denn mit dem Nächsten gemeint sei, der Jesu Worten zufolge geliebt werden soll.²⁹⁰ Um dies zu beantworten, erzählt Jesus das sogenannte „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“, der, wie die Geschichte zeigt, ein Beispiel dafür gibt, wie das Gebot der Nächstenliebe umzusetzen ist und wen man als den Nächsten ansehen kann.²⁹¹ In Augustinus’ Interpretation ist der Samariter dabei mit Christus gleichzusetzen,²⁹² so dass es dieser selbst ist, der mit seinem beispielhaften Verhalten zeigt, wie das normativ geltende Gebot der Nächstenliebe in der konkreten Situation zu befolgen ist. Dieser Lesart des Augustinus entsprechend gibt Christus uns das Beispiel des barmherzigen Samariters in einer zweifachen Weise. Zum einen, indem er das Gleichnis erzählt; zum anderen aber auch, indem er, da er es selbst ist, der sich als Samariter um den Verletzten kümmert, beispielhaft für uns handelt.²⁹³
loquitur quem sequimur uiuendo sapienter, quamuis et pater sit sapientia sicut lumen et deus.“ 289 Wilhelm Geerlings: „Christus als exemplum (beispielhaftes Vorbild)“, S. 436; die Titel der augustinischen Werke, auf die Geerlings verweist, sind hier – anders als in seinem Text – nicht abgekürzt. 290 Vgl. Lk 10,25–29. 291 Dass gerade die beschriebene Problematik des Verhältnisses zwischen Norm und Situation den Hintergrund darstellt, vor dem das Gleichnis zu lesen ist, zeigt zudem vor allem auch die sich am Schluss der Perikope findende und an den Gesetzeslehrer gerichtete Aufforderung Jesu, zu gehen und, wie Augustinus zitiert, „ähnlich“ (similiter) zu handeln. Vgl. Augustinus Enarrationes in Psalmos Ps. 48, sermo 1, 14: „quae in mysterio dicta sunt, et ad discutiendum nunc prolixiora uidentur; tamen propter quod proposui, fratres, ait dominus: quis est illorum illi sauciato proximus? respondit ille: credo, qui cum illo fecit misericordiam. uade, inquit, et tu fac similiter.“ 292 Vgl. Augustinus Enarrationes in Psalmos, zu Ps 125 „transiit samaritanus quidam, id est dominus noster Iesus Christus: illi enim dictum est: nonne uerum dicimus nos, quia samaritanus es tu, et daemonium habes?“ 293 Solche beispielhaften Handlungen Christi kommen in der Schrift nach augustinischem Verständnis an verschiedenen Stellen vor. Einen besonders herausragenden Fall, in dem das Beispielgeben-
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Wer Christus nachahmen will, muss infolgedessen nach dem Verständnis des Augustinus die Heilige Schrift studieren und die Beispiele, die Christus in seinem Handeln und mit den von ihm selbst erzählten Geschichten gibt, darauf hin betrachten, wie sich aus ihnen Rückschlüsse auf die eigenen Lebens- und Handlungssituationen ziehen lassen. Geboten ist damit nach Augustinus, so weit es geht, so zu handeln wie Christus selbst oder aber, wie er es in seinen Gleichnissen und Geschichten selbst positiv darstellt. Indem Augustinus den inkarnierten Gottessohn als das exemplum für das Befolgen des göttlichen Willens begreift, ist er imstande, das Problem der Vermittlung von normativer und situativer Ethik zu lösen. So kann er den Willen Gottes und die praecepta vivendi, die dessen Ausfaltungen bilden, als Kriterien und Normen des guten Handelns bestimmen, die nach der Maßgabe des Beispieles Jesu Christi in der jeweiligen Situation umzusetzen sind.²⁹⁴ Lebt und handelt man in dieser Weise, hat man die Bedingung dafür erfüllt, die Glückseligkeit zu erreichen – verwirklicht ist dieses Ziel damit jedoch noch nicht. Wie man nach Augustinus das Letztziel des Menschen als die höchste Stufe erreichen kann und wie dieses Erlangen inhaltlich gesehen zu bestimmen ist, soll im folgenden Abschnitt erklärt werden.²⁹⁵
de von Christi Handeln explizit zur Sprache gebracht wird, stellt die von Augustinus kommentierte Perikope Joh 13,1–20 dar. In dieser wird erzählt, wie Jesus vor seiner Passion den Jüngern die Füße gewaschen und gesagt habe, dass er ihnen damit ein Beispiel gegeben habe – in der Übersetzung der Vulgata: exemplum enim dedi vobis (Joh 13,15). In seinem Kommentar zu dieser Stelle (In Joh Evangelium 58, 4) erklärt Augustinus, dass Jesus damit dem Menschen ein Beispiel dafür gegeben habe, in welcher Weise man demütig sein solle und dass man dies beispielsweise im Bereich der Gastfreundschaft umsetzen könne. 294 Vgl. dazu nochmals die in diesem Zusammenhang grundlegende Stelle aus Sermo CXIX, 7, in der es heißt: „Quod nos monuit praecepto, demonstravit exemplo.“ 295 Der Gedanke, dass man mit Hilfe eines exemplum die Verbindung zwischen einer normativen und einer situativen Ethik leisten könne, wird u. a. auch von Porphyrius aufgenommen. Dieser bedient sich der exemplum-Konzeption, um eine hier auch bereits erörterte Schwierigkeit der plotinischen Ethik zu lösen, die darin besteht, dass Plotin kein allgemeines sicheres Wissen im Bereich der Praxis angibt. So sparen die ethischen Betrachtungen Plotins, wie gezeigt worden ist, den Bereich des auf die diesseitige Welt bezogenen Lebens weitgehend aus und beschränken sich mit Blick auf diesen Bereich auf eine Tüchtigkeitsethik nach dem Vorbild des Aristoteles. Diese „Leerstelle“ in Plotins „System“ sucht nun Porphyrius dadurch auszufüllen, dass er, die exemplum-Konzeption anwendend, Plotin in der Vita Plotini als ein Beispiel dafür darstellt, wie ein sich dem Einen angenäherter Mensch in dieser Welt leben soll. Wie dies genauerhin zu denken ist, wird im Rahmen einer eigenständigen Arbeit erörtert werden.
Das Erreichen der Glückseligkeit in der jenseitigen Schau Gottes
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10.9 Das Erreichen der Glückseligkeit in der jenseitigen Schau Gottes Das dem Menschen gebotene „gut Leben“ (bene vivere), das dem Willen Gottes gemäß ist und dem Beispiel Christi folgt, stellt nach Augustinus die Bedingung für das „glückselig Leben“ (beate vivere) dar, es fällt allerdings nicht in eins mit diesem.²⁹⁶ Dafür sind, mit Augustinus gedacht, vor allem zwei Gründe anzuführen. Zum einen ist die vollständige Glückseligkeit nicht in der diesseitigen Welt, auf die das recte vivere des Menschen naturgemäß beschränkt ist, zu erlangen; lässt sich doch in dieser Welt kein Gut finden, das nicht verloren gehen könnte und spätestens mit dem Tod verloren geht.²⁹⁷ Infolgedessen lebt auch der recht lebende Mensch grundsätzlich in der Furcht darum, dass er das, was er hier erlangt, wieder verlieren könnte, beziehungsweise in der Gewissheit, dass er es verlieren wird.²⁹⁸ Glückselig werden kann der Mensch daher nach augustinischem Verständnis erst im jenseitigen Leben, in dem er Gott, das summum und aeternum bonum, in dem Sinne „hat“, dass er es genießt²⁹⁹ und die göttliche Weisheit und das ewige Leben gewinnt.³⁰⁰ Nur wer in dieser Weise im Besitz des unverlierbaren Gutes ist, kann nach Augustinus
296 Vgl. dazu Werner Beierwaltes: Regio Beatitudinis. Zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens, Heidelberg 1981, S. 32; siehe auch Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, in: Augustinus-Lexikon, Sp. 637; dass das gute Leben, welches durch die Liebe zu Gott bestimmt ist, laut Augustinus die Bedingung für das Erlangen der im Sehen Gottes bestehenden Glückseligkeit darstellt, zeigt sich u. a. auch in De Trinitate VIII, 4, 6, wo es heißt: „quem [i. e. deum] tamen nisi iam nunc diligamus, numquam videbimus.“ Siehe überdies auch De moribus ecclesiae I, 6, 10; inwiefern die Glückseligkeit im „Sehen Gottes“ erreicht wird, ist im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch zu erörtern. 297 Wie Augustinus’ Retractationes zu De beata vita (I, 2) zeigen, wird man wohl von einem Wandel ausgehen dürfen bezüglich der Einschätzung, die Augustinus zur Möglichkeit des Erreichens des glückseligen Lebens vornimmt. Während er in De beata vita noch sehr optimistisch ist, was ein Erlangen des glückseligen Lebens in der diesseitigen Welt betrifft, gewinnt im Zuge seiner reiferen theologischen Überlegungen die eschatologische Komponente in diesem Zusammenhang immer mehr an Gewicht. Gemäß dieser ist, wie eben bereits angemerkt worden ist, die Verwirklichung der beatitudo an das jenseitige Leben gebunden. Vgl. dazu Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, Sp. 628–631; zudem Ragnar Holte: Béatitude et Sagesse, S. 205. 298 Dass die Furcht als ein Hinderungsgrund für das glückselige Leben anzusehen und dieser Furcht mit Weisheit zu begegnen ist, ist bereits erörtert worden. Vgl. dabei u. a. De beata vita II, 2, 11; zudem Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, Sp. 636; ders.: Die existentielle Gotteserkenntnis bei Augustin, S. 88–91. 299 Vgl. Augustinus De beata vita IV, 34: „hoc est animis deum habere, id est deo perfrui.“ 300 Vgl. Augustinus De civitate Dei XIX, 4: „si ergo quaeratur a nobis, quid civitas dei de his singulis interrogata respondeat ac primum de finibus bonorum malorumque quid sentiat: respondebit aeternam vitam esse summum bonum, aeternam vero mortem summum malum.“ Vgl. dazu u. a. Werner Beierwaltes: Regio Beatitudinis, S. 30.
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die Furcht vor einem Zustand der Mangelhaftigkeit ablegen und in den Genuss der beatitudo gelangen.³⁰¹ Der zweite Grund dafür, weshalb das recte vivere Augustinus zufolge nicht mit dem beate vivere gleichzusetzen ist, besteht darin, dass der Mensch, so gut er auch, und zwar mit Gottes Hilfe,³⁰² leben mag, die Glückseligkeit nicht ohne die Hilfe der göttlichen „Gnade“ (gratia) erlangen kann.³⁰³ Der hier auf Erden in rechter Weise lebende Mensch kann nur „hoffen“ (sperare), dass Gott ihn im zukünftigen ewigen Leben für sein Tun belohnen und zur beatitudo führen wird.³⁰⁴ Sich auf sein eigenes gutes Handeln berufen und das glückselige Leben infolgedessen für sich einfordern, kann der Mensch laut Augustinus nicht. Vielmehr muss er auf die Gnade Gottes hoffen, von der er für das Erreichen der beata vita abhängig ist.³⁰⁵
301 Vgl. Augustinus De civitate Dei XI, 13: „quocirca cuivis iam non difficulter occurrit utroque coniunctio effici beatitudinem, quam recto proposito intellectualis natura desiderat, hoc est ut et bono incommutabili, quod Deus est, sine ulla molestia perfruatur et in eo se in aeternum esse mansurum nec ulla dubitatione cunctetur nec ullo errore fallatur.“ 302 Auch das recte vivere kann der Mensch nach Augustinus nur mit göttlicher Hilfe und nicht aus sich selbst heraus verwirklichen. Dies zeigt u. a. De civitate Dei XIX, 4 deutlich: „neque ipsum recte vivere nobis ex nobis est, nisi credentes adiuvet et orantes qui et ipsam fidem dedit, qua nos ab illo adiuvandos esse credamus.“ 303 Vgl. dazu die von Augustinus an den ihm überkommenen philosophischen Glückseligkeitslehren vorgebrachte Kritik in De civitate Dei XIX, 4. Er schreibt dort: „hic beati esse et a se ipsis beatificare mira vanitate voluerunt. inrisit hos veritas per prophetam dicentem: ‚dominus novit cogitationes hominum‘ (Ps. 93,11) vel, sicut hoc testimonium posuit apostolus Paulus: ‚dominus novit cogitationes sapientium, quoniam vanae sunt‘ (1 Kor 3,20).“ 304 Zur „Hoffnung“ (spes) auf das Erlösungswerk Gottes, vgl. Augustinus Confessiones X, 29, 40; dass die visio eine Art Folge der „Reinigung des Herzens“ anzusehen ist, geht aus Epistula CXLVII, 20, 48 hervor. 305 Vgl. Augustinus De spiritu et littera 36, 64–66: „videmus enim nunc per speculum in enigmate, tunc autem facie ad faciem. (…) cum ab hac peregrinatione, in qua per fidem nunc ambulatur, perventum erit ad speciem, quam nondum visam speramus et per patientiam expectamus, procul dubio et ops dilectio non solum supra quam hic habemus, sed longe supra quam petimus et intellegimus erit (…) si [iustus] quid habet iustitiae, non de suo sibi esse praesumere, sed de gratia iustificantis dei (…) nullo modo (…) dicendum est deo deesse possibilitatem, qua voluntas sic adiuvetur humana, ut non solum iustitia ista, quae ex fide est, omni ex parte modo perficiatur in homine, verum etiam illa, secundum quam postea in aeternum in ipsa eius contemplatione vivendum est.“ Zitiert nach Bruno Switalski: Neoplatonism and the Ethics of St. Augustine, Chicago 1946, S. 59, Anm. 297. Den Zusammenhang zwischen der Erlösungs- und der Gnadenlehre des Augustinus hat in jüngster Zeit Volker Henning Drecoll in prägnanter Weise in dem bereits mehrfach zitierten Werk Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins herausgearbeitet. Vgl. dazu Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, Sp. 631. Neben seinem beispielgebenden Handeln ist es, wie Augustinus denkt, vor allem die Passion Christi, die die Gnade der menschlichen Erlösung bewirkt. Auf dieses Thema kann hier allerdings nicht weiter eingegangen werden, da dies über das Maß dieser Arbeit hinausginge.
Das Erreichen der Glückseligkeit in der jenseitigen Schau Gottes
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Wie ist allerdings das glückselige Leben laut Augustinus zu bestimmen? Einen ersten Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage gibt eine Passage aus De moribus ecclesiae. In dieser erklärt Augustinus: Das Streben nach Gott³⁰⁶ ist folglich das Verlangen nach der Glückseligkeit, das Erreichen dessen aber die Glückseligkeit selbst. Wir folgen ihm nach, da wir ihn lieben, wir erlangen ihn jedoch nicht, indem wir gänzlich dazu gemacht werden, was er selbst ist, sondern ihm nahe sind und ihn auf wundersame und geistige Weise berühren und von seiner Wahrheit und Heiligkeit eindringlich erleuchtet und umfasst werden.³⁰⁷
Die schon von Platon als Letztziel angesetzte ὁμοίωσις θεῷ wird von Augustinus mithin im Sinne einer Nähe zu Gott beziehungsweise einer geistigen Berührung Gottes ausgelegt. Sich Gott anzugleichen heißt somit, wie an anderen Stellen in Augustinus’ Werk deutlich wird, Gott zu schauen, und zwar, wie er, 1 Kor 13,12 zitierend, schreibt, „von Angesicht zu Angesicht“ (facie ad faciem).³⁰⁸ Erreicht der Mensch diese „Schau Gottes“ (visio Dei), zu welcher er durch Jesus Christus geführt wird,³⁰⁹ hat er „das Ziel aller Handlungen“ (actionum omnium finis) und die „ewige Vervollkommnung der Freuden“ (aeterna perfectio gaudiorum) erlangt.³¹⁰ Mit Blick auf diese jenseitige Freude erklärt Augustinus, dass sie von solch einer Qualität sei, dass diejenigen, die zu der Betrachtung Gottes kommen, nichts anderes mehr suchen würden;³¹¹ gibt es doch über diese Freude hinaus nichts mehr, das überhaupt noch gesucht werden könnte.³¹² Inwiefern jedoch ist mit der Schau Gottes eine Nähe zu Gott beziehungsweise ein Berühren Gottes oder – um es platonisch zu formulieren – eine Angleichung an Gott gegeben? Wie bereits in De beata vita deutlich wird, stellt das glückselige Leben eine Form der Teilhabe des Menschen am Leben der Trinität dar. Dies wird ersicht-
306 Wörtlich eigentlich das „Folgen Gottes“ (secutio dei). 307 Augustinus De moribus ecclesiae I, 11, 18: „Secutio igitur Dei, beatitatis appetitus est, assecutio autem ipsa beatitas. Sed eum sequimur diligendo, consequimur vero, non cum hoc omnino efficimur quod est ipse, sed ei proximi eumque mirifico et intelligibili modo contingentes eiusque veritate et sanctitate penitus illustrati atque comprehensi.“ Vgl. zudem: Epistula CXLVII, 36. 308 Vgl. Augustinus De Trinitate I, 8, 16. Vgl. auch Werner Beierwaltes: Regio Beatitudinis, S. 41: „Der Weg zum glücklichen Leben und der Akt, es in permanenter Gegenwart zu behalten, ist Erkennen (cognoscere), Einsehen (intelligere), Wissen (scire), Betrachten (contemplari), intelligibles (geistiges) Sehen (videre, visio), das eine Erleuchtung erwirkt.“ Als Verweisstellen bei Augustinus gibt Beierwaltes dazu in Anm. 154 an: für cognoscere, contemplari: De moribus ecclesiae I, 19, 35; De agone christiano 33, 35; De diversis quaestionibus LXXXIII, 35, 2; Sermo CCCLXIII, 29, 30f.; Epistula CLXXXVII, 6, 21; für die visio begriffen als ein scire: De trinitate XIII, 4, 7; Retractationes I, 2; für videre, visio: De civitate Dei XX, 21, 1; XXII, 29f.; De genesi ad litteram XII, 16, 54; De sermone domini in monte II, 12, 34; Enarrationes in Psalmos 83, 8. 309 Vgl. Augustinus De Trinitate I, 8, 16. 310 Vgl. ebd. I, 8, 17. 311 Vgl. ebd.: „neque enim quaeremus aliud cum ad illius contemplationem peruenerimus.“ 312 Vgl. ebd.: „illa laetitia nihil amplius requiretur quia nec erit quod amplius requiratur.“
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lich, wenn Augustinus am Ende des Dialoges davon spricht, dass wir drei Dinge „in frommer und vollkommener Weise erkennen“ (pie perfecteque cognoscere)³¹³ sollen: „a) von wem du zur Wahrheit geführt wirst, b) an welcher Wahrheit du genießend verweilst (perfrui) und c) wodurch du dich an den summus modus anknüpfst (…).“³¹⁴ Sich Gott anzugleichen heißt somit in diesem Kontext die göttliche Selbstreflexion „nachzuahmen“, indem man Gott in der im Jenseits zu erlangenden beata vita betrachtet.³¹⁵ Der hier angesprochene Zusammenhang zwischen der augustinischen Konzeption der göttlichen Selbstreflexion und der menschenmöglichen visio Dei zeigt sich auch vor dem Hintergrund des Begriffes der „Weisheit“. So wird die sapientia, wie bereits herausgearbeitet worden ist, von Augustinus unter anderem als eine Form der „Betrachtung Gottes“ (contemplatio Dei) verstanden und in erster und vorrangiger Weise dem Sohn Gottes zugesprochen. Indem sich diese göttliche Weisheit inkarniert, wird sie uns in Christus, wie Wolfgang Stein, Augustinus zitierend, schreibt, zur „Weisheit von Gott her, zur Gerechtigkeit (iustitia), Heiligung (sanctificatio) und Erlösung (redemptio) (…)“³¹⁶. Infolgedessen bringt sie uns durch ihre Menschwerdung das „ewige Heil“,³¹⁷ das sich, wie aus anderen, bereits zitierten Stellen bei Augustinus hervorgeht, in der Schau Gottes verwirklicht. Zum Heil führen kann die göttliche Weisheit den Menschen dabei insofern, als der an ihr Anteil Gewinnende Gott „anhangt“ (inhaerere) und ihn „betrachtet“ (contemplari). Das heißt anders gesagt: Da sich die göttliche Weisheit, die Gott in vollkommener Weise anhangt und betrachtet, inkarniert und uns ein Beispiel gibt, sind auch wir, dies nachahmend, imstande, weise zu werden und nach Art einer geistigen Berührung in eine Anwesenheit bei Gott zu treten. Auch wenn sich dies, wie es sich sogar bereits in De beata vita angedeutet findet,³¹⁸ erst im jenseitigen, ewigen Leben verwirklichen lassen mag, zeigt sich hier doch die Perspektive, auf die der Mensch sein Leben und Streben hinordnen soll. Er soll sich Gott in dem Sinne angleichen, dass er die Tüchtigkeit der Weisheit erlangt und – so wie auch die göttliche Weisheit dies tut – sich auf Gott ausrichtet und diesen zu betrachten sucht. Gott gleich zu werden heißt für Augustinus mithin Christus in seiner Eigenschaft als Weisheit Gottes gleich zu
313 Vgl. Augustinus De beata vita IV, 35. 314 Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, S. 41 mit einem Verweis auf Augustinus De beata vita IV, 35; vgl. dazu auch Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, Sp. 629; zur in der fruitio Dei vollzogenen Teilhabe am göttlichen Leben, vgl. auch Ragnar Holte: Béatitude et Sagesse, S. 203–205. 315 Vgl. William S. Babock: „Cupiditas and Caritas: The Early Augustine on Love and Human Fulfilment“, in: Ders.: The Ethics of St. Augustine, (Reihe: JRE Studies in Religion, Bd. 3), Atlanta 1991, S. 39–66. 316 Vgl. Wolfgang Stein: Sapientia bei Augustinus, S. 87, und die dort angegebenen mannigfachen Verweisstellen bei Augustinus. 317 Vgl. ebd. 318 Vgl. Augustinus De beata vita IV, 35.
Schlussbemerkungen zu Augustinus
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werden oder, wie man auch sagen könnte, dem Beispiel Christi nachzufolgen. Dass Augustinus zufolge dabei immer noch ein immenser Abstand zwischen der durch Christus vollzogenen Betrachtung Gottes und der dem Menschen möglichen bestehen bleibt, zeigt nicht zuletzt die oben zitierte Einlassung des Augustinus, gemäß der wir auch im Jenseits nicht das werden, was Gott ist.³¹⁹ Wir werden nicht zu der göttlichen Weisheit, sondern gewinnen nur Anteil an dieser. Und so bleiben wir in unserer Möglichkeit der Schau Gottes ebenfalls bei Weitem hinter der im Rahmen der göttlichen Selbstreflexion erreichten vollkommenen Betrachtung Gottes zurück. Wie demnach auch der augustinische Begriff der Weisheit verdeutlicht, ist seine Konzeption der Verwirklichung des Letztzieles sehr stark von seinem trinitarischen Gottesbild geprägt. Weil Gott als sich selbst reflektierend gedacht werden kann, ist es laut Augustinus möglich anzunehmen, dass auch der Mensch Gott im Rahmen einer jenseitigen Schau betrachten und ihm so nahe sein kann. Damit zeigt Augustinus nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Denkmöglichkeit auf, die verdeutlicht, dass es widerspruchsfrei zu denken ist, dass der Mensch in Anwesenheit zu dem Ersten Prinzip tritt. Dass Augustinus nicht mehr leisten kann und will und keine Aussage darüber treffen möchte, wie es tatsächlich in der jenseitigen Welt aussieht, zeigt sich beispielsweise in Epistula CXLVII („De videndo Dei“). In dieser erklärt er, dass die jenseitige Schau mit keiner Form des weltlichen Sehens zu vergleichen sei und wir nur deswegen wissen können, dass eine solche visio überhaupt möglich ist, weil dies in der Schrift gesagt wird.³²⁰ Für das Wissen, das Augustinus hier entfaltet, ergibt sich daraus, dass es als ein „gegebenes“ einzuschätzen ist, das nicht als „wahr“ bewiesen, sondern nur als widerspruchsfrei erwiesen werden kann. Wir können, so der Inhalt dieses Wissens, denken, dass der Mensch in Anwesenheit zu dem Ersten Prinzip zu treten vermag, weil Gott selbst in der Heiligen Schrift davon spricht, dass dies möglich ist. Und wir können zudem im Ausgang von dem Modell der Selbstreflexion einen Begriff dessen entwickeln, wie diese Anwesenheit widerspruchsfrei zu denken ist.
10.10 Schlussbemerkungen zu Augustinus Mit Augustinus wird ein für den Bereich der menschlichen Praxis relevantes Wissen erreicht, das den Kriterien des gesuchten prinzipiellen praktischen Wissens in fast allen Hinsichten genügt. Als Prinzip dieses Wissens sieht der Kirchenvater dabei den dreieinen Gott an, der als notwendig vorauszusetzender erster Grund im Idealfall den Ausgangs- und Endpunkt aller gelingenden menschlichen Praxis darstellt. So
319 Vgl. Augustinus De moribus ecclesiae I, 11, 18. 320 Vgl. Augustinus Epistula CXLVII.
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gibt der mit Gott selbst gleichzusetzende göttliche Wille³²¹ mit Augustinus gedacht den sich in den praecepta vivendi ausfaltenden Maßstab ab, anhand dessen sich gutes von schlechtem Handeln unterscheiden lässt. Wer sich dem göttlichen Willen unterwirft und den Inhalt dessen in den Heiligen Schriften sucht, bewahrt damit als ein in rechter Weise Lebender die göttliche Ordnung und hat infolgedessen die Möglichkeit, das wahre Letztziel allen Strebens zu erreichen – die Anwesenheit bei Gott. Demgemäß stellt Gott nicht nur – in Gestalt seines mit ihm identischen Willens – das Kriterium des guten Handelns dar; er ist auch das Letztziel dieses Handelns, das summum bonum, auf das der Mensch all sein Streben ausrichten soll. Bezüglich dessen, wie der Mensch dabei den Willen Gottes als die absolute Handlungsnorm im Rahmen der konkreten Lebenswelt und mithin situativ umsetzen soll, ist es Augustinus zufolge ebenfalls Gott, der die Möglichkeit dafür eröffnet. Nach augustinischem Verständnis tut er dies, indem er in Gestalt der inkarnierten zweiten trinitarischen Person ein Beispiel dafür gibt, wie eine solche Umsetzung der Norm in die situative Lebens- und Handlungswelt geleistet werden kann. Lebt ein Mensch nach dem Vorbild Christi und richtet er mithin sein Streben auf Gott aus, darf er darauf hoffen, die mit Gott selbst identische Glückseligkeit³²² zu erreichen. Laut Augustinus besteht diese ihrem Inhalt nach in der Schau oder Betrachtung Gottes, die dem Menschen nur deswegen möglich ist, weil Gott sich selbst reflektiert und dem Menschen in einem Akt seiner Gnade erlaubt, in der Schau eine Imitation dieser Selbstreflexion nachzuvollziehen. Dementsprechend ist der dreieine Gott, mit Augustinus gedacht, insofern als das Prinzip praktischen Wissens anzusehen, als er: (1) als der Erste, notwendig vorauszusetzende Grund allen Seins die Möglichkeitsbedingung dafür darstellt, dass überhaupt etwas ist, das streben und handeln kann; (2) ein in Gestalt seines in der Schrift und dort insbesondere durch den Sohn offenbarten Willens in allen Handlungssituationen anzuwendendes Kriterium zur Unterscheidung von gutem und schlechtem Handeln gibt; (3) in Gestalt des Sohnes ein exemplum dafür gibt, wie sein Wille konkret umzusetzen ist; (4) als summum bonum das Ziel allen Strebens und damit auch allen Handelns darstellt; Indem Augustinus Gott in dieser Weise als Prinzip begreift, ist er imstande, einen Weg aufzuweisen, wie man mit den bezüglich der plotinischen praktischen Philosophie angesprochenen Schwierigkeiten umgehen kann. So gibt er mit dem Willen des dreieinig gedachten Gottes ein sicheres, da notwendig vorauszusetzendes Prinzip praktischen Wissens an, das in dem Sinne allge-
321 Dass Gott – vorgestellt als mens – gleichzusetzen ist mit seiner voluntas, ist mit Blick auf Augustinus’ trinitätstheologische Überlegungen erörtert worden. 322 Vgl. Henrique de Noronha Galvão: Art. „Beatitudo“, Sp. 637.
Schlussbemerkungen zu Augustinus
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mein und universal ist, dass es jeden Bereich des menschlichen Handelns umgreift. In allen Bereichen des Handelns soll der Mensch demnach seinen Willen dem Willen Gottes unterwerfen und sich auf die fruitio Dei ausrichten. Möglich ist eine solche ihrem Anspruch nach universelle Anwendbarkeit dieser Norm augustinisch gedacht dabei deswegen, weil der Sohn Gottes ein Beispiel dafür gibt, wie der göttliche Wille im Einzelnen umgesetzt werden kann. So geben der göttliche Wille und das Beispiel des inkarnierten göttlichen Wortes einen Weg vor, auf dem, wie Augustinus sich ausdrückt, der durch das Meer der Sünde versperrte Weg in die wahre „Heimat“ (patria) erreicht werden kann. Dieses von Augustinus verwendete Motiv der Heimat, welche die Platoniker Augustinus zufolge zwar aus der Ferne sehen, welche sie aber nicht erreichen konnten,³²³ ist dabei unter anderem auch höchst aufschlussreich für dessen Einschätzung der plotinischen praktischen Philosophie. Während diese nämlich nach Augustinus’ Verständnis das Prinzip als Prinzip bereits erkannt haben mag, hat sie es doch nicht vermocht, einen Weg aufzuweisen, wie die Anwesenheit bei dem Ersten zu erreichen ist. Man kann hier womöglich einen Reflex auf die bereits mit Blick auf Plotins Denken benannte Schwierigkeit erkennen, dass dieser nicht in der Lage war, die Relation zwischen dem Prinzip und der von diesem abhängigen Welt in befriedigender Weise darzustellen. Dass hier tatsächlich ein Problem hinsichtlich der plotinischen Philosophie zu erkennen ist, zeigen nicht nur die sachlichen Hinweise, die bezüglich der Frage nach der von Plotin konzipierten Einungsmöglichkeit mit dem Prinzip gegeben worden sind. Darüber hinaus weist vor allem Porphyrius’ Beschäftigung mit der Frage der Vermittlung zwischen dem Einen und dem Vielen, die ihren Niederschlag unter anderem in dessen Interesse an theurgischen Praktiken und Dämonologien findet,³²⁴ darauf hin, dass hier eine von Plotin noch nicht gelöste Schwierigkeit besteht. In Entsprechung dazu kann man beobachten, dass sich Augustinus’ Auseinandersetzung mit nicht-christlichem neuplatonischem Gedankengut im Gebiet der Frage nach der Vermittlung von Einheit und Vielheit nicht so sehr auf Plotin, sondern vor allem auf Porphyrius’ Überlegungen konzentriert.³²⁵ So beschäftigt sich Augustinus in De Civitate Dei explizit mit paganen neuplatonischen Dämonenlehren und dabei eben auch mit der Dämonologie des Porphyrius.³²⁶ Augustinus’ Ziel seiner Auseinandersetzung mit
323 Vgl. z. B. Augustinus De Trinitate XIV, 19, 26; Confessiones VII, 20, 26; vgl. dazu Robert D. Crouse: „St. Augustine’s De Trinitate. Philosophical Method“, S. 504f. 324 Vgl. Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 490–493. 325 John J. O’Meara: „The Neoplatonism of Saint Augustine“, in: Dominic J. O’Meara (Hrsg.): Neoplatonism and Christian Thought, (Reihe: Studies in Neoplatonism. Ancient and Modern, Bd. 3), Albany N. Y. 1982, S. 38f. 326 Vgl. Augustinus De civitate dei VIII, 12. Neben Porphyrius’ Dämonologie ist es vor allem die des Apuleius, mit der sich Augustinus in De civitate dei auseinandersetzt. Vgl. dazu Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 491; zudem Manfred Svensson: Theorie und Praxis bei Augustinus. Eine Verhältnisbestimmung, (Reihe: Alber-Reihe Thesen, Bd. 36), Freiburg 2009, S. 129–131.
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Augustinus – der Weg zu dem dreieinen Gott
den besagten Dämonenlehren ist es dabei, seinen eigenen Begriff der Vermittlung zwischen Gott und Mensch in und durch Jesus Christus dem pagan-neuplatonischen Gedanken der durch Dämonen bewirkten Vermittlung gegenüberzustellen und als überlegen zu erweisen.³²⁷ Weshalb sich Augustinus in dieser Sache vor allem mit Porphyrius auseinandersetzt, wird verständlich, wenn man bedenkt, dass Porphyrius gerade in Bezug auf die Frage nach der Vermittlung von Einheit und Vielheit ein Konkurrenzmodell zu dem der christlichen Theologie entwickelt.³²⁸ Angesichts des hinsichtlich der Konzeption eines prinzipiellen praktischen Wissens mit Augustinus erreichten Fortschrittes stellt sich die Frage, was dem von Augustinus Vorgetragenen noch hinzugefügt werden könnte. Eine Antwort darauf ergibt sich aus einer Betrachtung dessen, wie Anicius Manlius Severinus Boethius Augustinus’ Gedankengut aufnimmt und es wenn auch nur in minimaler Weise so ändert, dass es weitreichende Konsequenzen für den Begriff Gottes als des Prinzips praktischen Wissens hat.
327 Vgl. Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken, S. 491f.; vgl. überdies Manfred Svensson: Theorie und Praxis bei Augustinus, S. 129–131. 328 Wie der Umstand, dass Porphyrius auch ein Werk Contra Christianos geschrieben hat, zeigt, hat wohl Porphyrius die Christen selbst ebenfalls als eine Art der Konkurrenz wahrgenommen. Wie dieses Konkurrenzverhältnis dabei genauer zu bestimmen ist, geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus und soll daher einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben.
11 Boethius und das Prinzip praktischen Wissens Dass es ein Erstes vollkommen einheitliches Prinzip praktischen Wissens gibt, dies hatte Augustinus unter Aufnahme sowohl christlichen als auch neuplatonischen Gedankengutes erarbeitet. Weshalb jedoch ist dieses Prinzip praktischen Wissens, das Augustinus mit dem christlichen Gott identifiziert, als ein solches anzusehen? Wie ist diese These zu begründen, wie folglich das Wissen um die praktische Prinzipienhaftigkeit Gottes so kommunikabel zu machen, dass ihre Notwendigkeit herausgestellt wird? Inwiefern Boethius hinsichtlich dieser Problematik einen anderen Begründungszusammenhang als Augustinus vorlegt und mit seinem Denken ein Fortschritt in der Suche nach einem prinzipiellen praktischen Wissen erreicht wird, soll im Folgenden genauer untersucht werden.
11.1 Ein philosophischer Trost? Die Philosophie vermag zu trösten. Diese Grundeinsicht, welche die boethianische Consolatio Philosophiae dem Leser zu vermitteln sucht, ist alles andere als selbstverständlich und bedarf einer Begründung.¹ Dementsprechend gibt Thomas Schumacher mit Blick auf den „philosophischen Trost“ zu bedenken: Seine Basis ist die distanzierte Haltung der Theorie, der jeder unmittelbare Kontakt mit dem Vereinzelten notwendig abgeht. Philosophische Theorie abstrahiert, begründet das Einzelne im Allgemeinen und kann sich dabei nicht anders verhalten, als über alle Probleme, die nur ein Einzelnes betreffen, hinwegzusehen. Das Gegenteil aber scheint im Falle der Tröstung gefordert, da der Schmerz kein allgemeines, sondern ein konkretes, um nicht zu sagen: individuelles Problem darstellt.²
Wie also kann die Philosophie angesichts der von Schumacher angesprochenen Schwierigkeiten dennoch als tröstend angesehen werden? Wie ist ein solcher Trost genauerhin zu fassen, wie ihn die Philosophie angeblich spendet, und welche Schlüsse ergeben sich daraus für die Frage nach einem prinzipiellen praktischen Wissen?
1 Boethius’ fünf Bücher De Consolatione Philosophiae werden die hauptsächliche Textgrundlage für die nachfolgende Betrachtung darstellen. Sie werden – abgekürzt mit Cons. – zitiert nach der von Claudio Moreschini herausgegebenen und in der Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana erschienenen Ausgabe des Werkes. Bibliographisch angegeben ist dies als: Boethius, Anicius Manlius Severinus: De consolatione philosophiae. Opuscula theologica, hrsg. von Claudio Moreschini, München 2005. Viele wichtige Hinweise zu Boethius’ Werk im Allgemeinen gibt auch Joachim Grubers jüngst erschienene Einführung: Boethius. Eine Einführung, (Reihe: Standorte in Antike und Christentum, Bd. 2), Stuttgart 2011. 2 Thomas Schumacher: „Heilung im Denken. Zur Sache der philosophischen Tröstung bei Boethius“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 40 (1993), S. 26.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Um zu verstehen, wie diese Fragen im Kontext des boethianischen Denkens zu beantworten sind, liegt es nahe, in einem ersten Schritt zu untersuchen, wie Boethius die Philosophie in der Consolatio näher bestimmt.³ Wie in dem eben angeführten Zitat aus Thomas Schumachers „Heilung im Denken“ bereits angedeutet worden ist, wird man in diesem Zusammenhang grundsätzlich feststellen können, dass die in der Consolatio personifiziert als Dame auftretende Philosophia in erster Linie im Sinne einer bestimmten Form menschenmöglichen Wissens oder menschenmöglicher Weisheit – und nicht als ein ontisch reales Wesen – zu begreifen ist.⁴ Unter dieser Voraussetzung gilt: Es ist ein Wissen, das der gefangene Boethius sich und seinem Leser mit Hilfe des Bildes der Philosophia vor Augen führt – oder das ihm und uns vor Augen geführt wird – und aus welchem ihm Trost erwächst.⁵ Wie aber, so wäre der vorhin schon angeführte Einwand Schumachers zu wiederholen, soll ein Wissen wie das der Philosophie trösten können? Ist nicht gerade ein derartiges Wissen denkbar ungeeignet dazu, dem Gefangenen Trost zu spenden, da es auf Allgemeines gerichtet ist und mithin das von Boethius in seiner konkreten Situation erfahrene Leid notwendig unberücksichtigt lassen muss? Was also sieht der von der Philosophia besuchte Boethius ein, dass er dennoch einen Trost der Philosophie beschreiben kann? Was weiß er? Und inwiefern ist dieses Wissen nicht nur tröstend, sondern auch eines, das für die menschliche Praxis im Sinne eines prinzipiellen Wissens von Relevanz ist?⁶
3 Vgl. dazu vor allem Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie. Das Philosophie-Verständnis des Boethius in der ‚Consolatio philosophiae‘“, in: Gerhard Leibold/Winfried Löffler (Hrsg.): Entwicklungslinien mittelalterlicher Philosophie. Vorträge des V. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie vom 1.–4. 02. 1998 in Innsbruck (= Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie 3), Wien 1999, S. 10–35. 4 Vgl. dazu u. a. Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire. Antécédents et Postérité de Boèce, Paris 1967, S. 21f.; Stephen Varvis: The „Consolation“ of Boethius: An Analytical Inquiry into his Intellectual Processes and Goals, San Francisco 1991, S. 32; 35f.; zudem John Marenbon: Boethius (Great Medieval Thinkers), Oxford 2003, S. 154; Thomas Schumacher: „Heilung im Denken“, S. 21. Zu der Nähe, in welcher Boethius’ Beschreibung der Philosophia zu den Epiphaniebeschreibungen der klassischen griechischen und lateinischen Literatur steht, vgl. Joachim Gruber: „Die Erscheinung der Philosophie in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, in: Rheinisches Museum für Philologie 112 (1969), S. 166–186; ders.: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, Berlin 2006, S. 62. Vgl. dazu auch Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 11; dass es sich trotz dieser Nähe zu den klassischen Epiphaniebeschreibungen bei der Philosophie nicht um eine Göttin handele, betont John Marenbon in Boethius, S. 154, und zwar unter Bezugnahme auf Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 21f. 5 Auch auf diesen Umstand hat Thomas Schumacher in seinem Artikel „Heilung im Denken“ mit Nachdruck hingewiesen. 6 Wie noch genauer zu zeigen sein wird, ist das Wissen der Philosophia deswegen tröstend, weil es ein prinzipielles praktisches Wissen darstellt, das den Blick auf das menschliche Leben grundlegend ändert. Dies hier zunächst nur thesenhaft Formulierte wird weiter unten noch eigens begründet werden.
Ein philosophischer Trost?
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Einen ersten Ansatzpunkt zur Charakterisierung des Wissens der Philosophia gibt die sich vor allem im ersten Buch der Consolatio findende Bildsprache, die Boethius zur Beschreibung der ihn in seinem Gefängnis besuchenden Dame verwendet. Wie Markus Enders herausgearbeitet hat, zeigt eine ganze Reihe der in diesem Kontext benutzten Bilder, dass der Philosophia ein „(…) Prinzipien-Wissen, d. h. (…) ein Wissen des die gesamte Wirklichkeit beherrschenden Wissens alles intellektuell und sinnlich Erscheinenden zukommt“⁷. So würden beispielsweise die „(…) funkelnden und in ihrer Durchdringungskraft über das gewöhnliche Vermögen hinausgehenden Augen (…)“ der Philosophia zum Ausdruck bringen, dass diese „(…) ein das gewöhnlich-durchschnittliche Maß menschlicher Einsicht weit übertreffendes Erkenntnisvermögen besitzt, das ihr als einem Wissen der letzten Bestimmungsgründe aller Wirklichkeit eignet“⁸. Für das Prinzipien-Wissen der Philosophia steht laut Enders auch die Beschreibung ihres Gewandes. Als ein „(…) aus feinstem Gewebe mit peinlich genauer Kunstfertigkeit und aus einem unzerstörbaren Stoff von ihren eigenen Händen [gefertigtes] (…) [stehe es] (…) metaphorisch für das eigentümliche Wissen oder die Lehre der Philosophie als der Wissenschaft von den Prinzipien bzw. dem Prinzip alles Seienden“⁹. Von besonderer Bedeutung sei dabei der Stoff des Gewandes, da es als „(…) die reine Reflexion des Denkens als das innerste Organon und zugleich die höchste Form der Philosophie (…) unauflöslich [sei], weil sie [i. e. die Reflexion] sich in raum- und zeitfreier Weise vollzieht“¹⁰. Neben den bisher angesprochenen Sprachbildern ist es vor allem Boethius’ Beschreibung der wechselnden Größe der
7 Vgl. Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 13; eine prägnante Zusammenfassung des boethianischen Philosophie-Verständnisses in der Consolatio Philosophiae gibt Markus Enders in eben diesem Werk (S. 32), wenn er schreibt: „Philosophie in ihrer höchsten, eigentlichen Form ist daher nach Auskunft der ‚Consolatio philosophiae‘ ein reflexives Wissen von dem absoluten Prinzip, soweit dieses menschlicher Erkenntnis zugänglich ist, näherhin seines Wesens und seiner Erkenntnisweise.“ Die philologisch relevanten quellengeschichtlichen Aspekte der boethianischen Beschreibung der Philosophia haben vor allem Pierre Courcelle in La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 17–28, und Joachim Gruber in „Die Erscheinung der Philosophie in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, in: Rheinisches Museum für Philologie 112 (1969), S. 166–186, und im Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, Berlin 2006, S. 62–81 herausgearbeitet. Zu Boethius’ Philosophieverständnis vgl. auch Alain Galonnier: „Le statut contrasté de la philosophie chez Boèce“, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 67 (2000), S. 51–69. 8 Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 13; zur Darstellung der Augen der Philosophia, vgl. Boethius Cons. I, 1, 1. 9 Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 15; vgl. zudem Boethius Cons. I, 1, 3. 10 Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 15. Auf die Interpretation des Θ und des Π auf dem Gewand der Philosophie wird später noch genauer eingegangen werden. Einige sehr wertvolle Hinweise auf die Interpretation des Gewandbildes gibt auch John Magee, indem er auf Parallelen zwischen Cons. I, 1, 5; I, 3, 7 und Passagen aus dem Alten und dem Neuen Testament verweist. Wie John Magee selbst anmerkt, ist dies insbesondere auch für die später noch ausführlicher zu behandelnde Frage nach der Christlichkeit der Consolatio von Bedeutung. Vgl. John Magee: „Note on Boethius, Consolatio I,1,5; 3,7: A New Biblical Parallel“, in: Vigiliae Christianae 42 (1988), S. 79–82.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Philosophia, die den prinzipiellen Charakter ihres Wissens hervorhebt. So berichtet er ebenfalls im ersten Buch der Consolatio, dass die ihn besuchende Dame sich bald zur gewöhnlichen Größe der Menschen zusammenzog, bald aber mit dem Scheitel den Himmel zu berühren schien und, als sie ihr Haupt noch höher erhob, sogar in den Himmel selbst hineinragte und sich so dem Anblick der Menschen entzog.¹¹ Das Hineinragen der Philosophia in den Himmel, das Markus Enders als eine Reminiszenz an die Seelen-Reise in Platons Phaidros deutet,¹² ist in diesem Kontext insofern als ein Sinnbild für das Prinzipien-Wissen der Philosophie zu interpretieren, als es im Bild vorwegnimmt, was Boethius im fünften Buch der Consolatio als eine Möglichkeit des menschlichen Denkens benennt: das Sich-Aufrichten zum höchsten Gipfel der Einsicht.¹³ Erreicht man diesen Gipfel, dann, so Boethius, habe man an nichts Geringerem Anteil als am „Urteil des göttlichen Denkens“ (divinae iudicium mentis), das mit Markus Enders auch als die „eigentümliche Erkenntnisweise des göttlichen Geistes“ zu bezeichnen ist.¹⁴
11.2 Boethius’ Bestimmung des Prinzips Fragt man nun, wie dieses Prinzipienwissen der Philosophia näher zu bestimmen ist, was also Boethius zufolge philosophisch bezüglich des Prinzips eingesehen werden kann, fällt auf, dass Boethius’ Begriff desselben, unter anderem stark durch eine bestimmte Form neuplatonischen Denkens geprägt ist.¹⁵ So hat Matthias Baltes beobachtet, dass eine ganze Reihe von Prädikaten, die Boethius dem „Gott“ (Deus) genannten Prinzip (princeps)¹⁶ zuschreibt, mit dem übereinstimmen, was einige Neuplatoniker mit Blick auf den göttlichen νοῦς vortragen.¹⁷ Demnach ist Gott der „Gründer des Erdkreises“ (conditor orbis)¹⁸ und als solcher die „Quelle aller Dinge“ (fons omnium
11 Vgl. Boethius Cons. I, 1, 1f. 12 Vgl. Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 15 mit einem Verweis auf Platon Phaidros 247c 2–d 1. 13 Vgl. Boethius Cons. V, 5, 11f. 14 Vgl. Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 15 mit einem Verweis auf Boethius Cons. V, 5, 11f. 15 Vgl. dazu Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius. Die Consolatio Philosophiae als ein Dokument platonischer und neuplatonischer Philosophie“, in: Vigiliae Christianae 34 (1980), S. 313–340, hier besonders S. 315–320. 16 Diese In-eins-Setzung geht beispielsweise aus Cons. III, 10, 8f. hervor. 17 Vgl. Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius. Die Consolatio Philosophiae als ein Dokument platonischer und neuplatonischer Philosophie“, in: Vigiliae Christianae 34 (1980), S. 318. 18 Vgl. Boethius Cons. V, 2c., 7. Diese und die nachfolgenden Stellen hat Matthias Baltes zusammengestellt in „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, S. 315–320.
Boethius’ Bestimmung des Prinzips
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rerum)¹⁹, „aus welcher alles hervorgegangen ist“ (unde cuncta processerint)²⁰. Des Weiteren – und auch hier zeigt sich eine enge Parallele zum νοῦς – begreift Boethius Gott als das „erste“ (prima)²¹ und „hohe“ (alta)²² „Denken“ (mens), das die Welt nach dem Vorbild des sich in ihm findenden νοητὸς κόσμος geschaffen hat.²³ Dementsprechend formuliert Matthias Baltes Boethius zitierend: „Alles, was Gott geschaffen hat, stammt aus ihm, genauer aus dem in seinem Geist befindlichen exemplum, und gelangt von dort ins Dasein: Tu cuncta superno ducis ab exemplo.“²⁴ Wenngleich er als „Denken“ aufgefasst wird, hat der Gott des Boethius allerdings im Unterschied zu dem beispielsweise von Plotin konzipierten νοῦς nichts anderes über sich.²⁵ Über Gott hinaus, so Boethius, gibt es nichts.²⁶ Vielmehr ist er – auch qua Denken – vollkommen Einer²⁷ und als solcher die „höchste Selbstgenügsamkeit“ (summa sufficientia)²⁸, die keiner anderen Sache bedarf, um sein zu können. Damit steht Gott boethianisch gedacht an der „Spitze“ (vertex) aller Dinge²⁹ und ist nicht in Abhängigkeit von einem noch jenseits des Denkens stehenden Einen zu begreifen. Wenn Boethius beispielsweise gegen Plotin annimmt, dass Gott, obwohl er als mens begriffen wird, dennoch völlig einheitlich sei, kann er sich dabei unter anderem auf die trinitätstheologischen Überlegungen des Augustinus stützen;³⁰ hatte dieser doch, wie bereits zuvor herausgearbeitet worden ist, vor allem in De Trinitate Gott ebenfalls schon in analoger Weise als eine im Verhältnis der Selbstreflexion bestehende mens begriffen und so die Dreieinheit Gottes als Denkmöglichkeit herauszustellen vermocht. An diese Konzeption des Augustinus, den er als die Autorität schlechthin in theologischen Fragen ansieht,³¹ kann Boethius anknüpfen, wenn er
19 Vgl. Boethius Cons. V, 3, 27. 20 Vgl. ebd. I, 6, 11. 21 Vgl. ebd. IV, 6, 15. 22 Vgl. ebd. V, c.3, 20. 23 Vgl. ebd. III, c.9, 6f. 24 Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, S. 316 mit einem Verweis auf Boethius Cons. III, c.9, 6f. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. Boethius Cons. IV, 2, 29. 27 Vgl. vor allem ebd. IV, 6, 8: „haec [i. e. divina mens] in suae simplicitatis arce composita (...)“; vgl. zudem die bei Claudio Moreschini: Varia Boethiana (= Storie e testi: Nuova serie 14), Neapel 2003, S. 21 und bei Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, S. 318 angegebenen Stellen zur Einheit und Einfachheit Gottes. 28 Vgl. Boethius Cons. III, 10, 30. 29 Vgl. ebd. III, 10, 31; 11, 39; IV, 2, 28. 30 Dass er sich in Bezug auf trinitätstheologische Fragen in die Tradition des Augustinus stellt, sagt Boethius explizit im Prolog zu De Sancta Trinitate 29–32; vgl. dazu John Marenbon: Boethius, S. 79; David Bradshaw: „The Opuscula Sacra: Boethius and Theology“, in: The Cambridge Companion to Boethius, hrsg. von John Marenbon, Cambridge 2009, S. 109. 31 Vgl. David Bradshaw: „The Opuscula Sacra: Boethius and Theology“, S. 109; 125.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Gott als die prima und als alta mens bestimmt und gleichzeitig an der Einheit Gottes festhält.³² Wie leicht zu sehen und bereits in entsprechender Weise in Bezug auf Augustinus’ Trinitätstheologie diskutiert worden ist, hat der Umstand, dass Boethius, Augustinus folgend, den Einen Gott gleichzeitig als dreiheitlich denkt, weitreichende Konsequenzen. Diese betreffen Fragen wie beispielsweise die nach der Vermittelbarkeit der göttlichen Einheit in die Vielheit und – damit aufs Engste verbunden – nach der Möglichkeit der menschenmöglichen Erkenntnis Gottes und des Sprechens über diesen.³³ Worin diese und andere sich in diesem Zusammenhang ergebenden Konsequenzen im Rahmen des boethianischen Denkens genauerhin bestehen und wie sie sich im Hinblick auf die in dieser Arbeit untersuchte Frage nach einem Prinzip praktischen Wissens auswirken, wird weiter unten noch gesondert thematisiert werden. Von zentraler Bedeutung für eben diese Frage nach einem Prinzip praktischen Wissens ist darüber hinaus auch die Annahme des Boethius, dass Gott nicht nur den Ursprung, sondern auch das „Ziel der Dinge“ (finis rerum)³⁴ darstelle. Bevor diese These des Boethius näher betrachtet und aufgezeigt wird, welche Rolle seine Annahme für die Suche nach einem prinzipiellen praktischen Wissen spielt, soll nun in einem nächsten Schritt allerdings zunächst in den Blick genommen werden, was den sein Schicksal zu Beginn der Consolatio beweinenden Boethius bedrückt, so dass er überhaupt eines philosophischen Trostes bedarf. Im Ausgang von dieser Betrachtung wird es in der Folge leichter zu verstehen sein, worin der durch die Philosophie gespendete Trost besteht und inwiefern der tröstende Charakter des philosophischen Wissens in einem Zusammenhang mit der Frage nach einem Prinzip praktischen Wissens steht.
11.3 Flebilis heu maestos cogor inire modos – die Klage eines Unwissenden Geht man bei aller dem Historiker gebotenen Skepsis davon aus, dass das von Boethius im ersten Buch der Consolatio Philosophiae bezüglich seiner Biographie Geschil-
32 Wie Boethius die Einheit und gleichzeitige Dreiheit Gottes im Anschluss an Augustinus genauerhin begründet, ist seinen Opuscula Theologica zu entnehmen, auf die hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann. Hilfreiche Kommentare zu Boethius’ Überlegungen, die jüngst erschienen sind und auch die entsprechende Literatur berücksichtigen, liegen in Gestalt der bereits zitierten Werke von John Marenbon: Boethius, S. 66–95 und von David Bradshaw: „The Opuscula Sacra: Boethius and Theology“ vor. Ebenfalls grundlegend zu den Opuscula ist der von Alain Galonnier herausgegebene Band: Boèce. Opuscula Sacra, Vol. 1: Capita dogmatica. Traités II, III, IV, (Reihe: Philosophes médiévaux, Bd. 47), Louvain-la-Neuve 2007. 33 Dies ist bereits bezüglich des augustinischen Denkens untersucht worden. 34 Vgl. Boethius Cons. III, 11, 41.
Flebilis heu maestos cogor inire modos – die Klage eines Unwissenden
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derte zumindest einen historischen Kern hat,³⁵ wird man festhalten können: Die Situation des Autors, in der er sich nach eigener Auskunft zur Zeit der Abfassung seines Werkes befindet, ist zumindest auf den ersten Blick betrachtet durchaus als höchst bedauerlich und mitleidserregend zu beurteilen. Weshalb man dabei versucht ist, der von Boethius zu Beginn der Consolatio vorgenommenen Einschätzung seiner Lage zuzustimmen, wird deutlicher, wenn man sich – wenn auch nur in aller Kürze – einige wichtige Stationen seiner Lebensgeschichte vor Augen führt. Um 474–477 wird Boethius – mit vollem Namen Anicius Manlius Severinus Boethius – in ein altes und höchst angesehenes römisches Adelsgeschlecht – die Anicii – hineingeboren und nach dem Tod seines Vaters durch Adoption und Eheschließung in eine andere ebenfalls altehrwürdige Familie, in die des Quintus Aurelius Memmius Symmachus, aufgenommen.³⁶ Die Verbindungen zu diesen beiden Familien bieten Boethius beste Voraussetzungen dafür, einen außerordentlich hohen Bildungsgrad und höchste politische Ämter und Ehren zu erlangen. Und tatsächlich tut Boethius sich schon in jungen Jahren nicht nur als ein begnadeter Denker, sondern auch als ein talentierter Politiker hervor, der 510 zum Konsul gewählt und 522 schließlich sogar zum magister officiorum am Hof des gotischen Herrschers Theoderich in Ravenna ernannt wird.³⁷ Mit der Übernahme dieses Amtes, das Boethius in unmittelbare Nähe zu Theoderich bringt und ihn zu einem der wichtigsten Verwaltungsbeamten in Theoderichs Reich macht, erreicht Boethius nicht nur den Zenit seiner politischen Laufbahn – sein Umzug nach Ravenna sollte auch den Anfang seines Endes markieren. Wohl zu unrecht beschuldigt, an einer Verschwörung gegen den König mitgewirkt zu
35 Zu dem, was man historisch über den Prozess gegen Boethius und seine Gefangenschaft weiß, vgl. Luca Obertello: Severino Boezio, Bd. I, Genua 1974, S. 103–138; Henry Chadwick: Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology, and Philosophy, Oxford 1981, S. 46–68; John Moorhead: Theoderic in Italy, Oxford 1992, S. 219–226; ders.: „Boethius’ Life and the World of Late Antique Philosophy“, in: The Cambridge Companion to Boethius, S. 18–22. Zu den historischen Umständen der Gefangenschaft des Boethius und zur Entstehungszeit der Consolatio, vgl. auch Reinhold F. Glei: „In Carcere et Vinculis? Fiktion und Realität in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft (N.F.) 22 (1998), hrsg. von Erika Simon/Ludwig Braun/Michael Erler, S. 199–213. Wichtig ist in diesem Kontext auch Reinhold Gleis Warnung vor einer allzu unkritischen Identifikation des Ich-Erzählers mit dem historischen Boethius (S. 204–206). Eine ganze Reihe erhellender Überlegungen zu Boethius’ Gefangenschaft, seinem Tod und zu seiner letzten Ruhestätte stellt Fabio Troncarelli an in „Forbidden Memory: The Death of Boethius and the Conspiracy of Silence“, in: Mediaeval Studies 73 (2011), S. 183–205. 36 Zu der hier nur oberflächlich gestreiften Biographie des Boethius ist noch immer Luca Obertello: Severino Boezio, Bd. I, prima parte, S. 3–153 maßgeblich; einen guten Überblick geben überdies Henry Chadwick: Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology, and Philosophy, S. 1–68 und John Moorheads jüngst erschienener Aufsatz: „Boethius’ Life and the World of Late Antique Philosophy“, S. 13–33; vgl. zudem John Matthews: „Anicius Manlius Severinus Boethius“, in: Margaret Gibson (Hrsg.): Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 15–43. 37 Zum Amt des magister officiorum, vgl. Manfred Clauss: Der magister officiorum in der Spätantike (4.–6. Jahrhundert), München 1980.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
haben, wird er festgesetzt, verurteilt und schließlich aller Wahrscheinlichkeit nach um 526 in der Nähe von Pavia hingerichtet.³⁸ Die Abfassung der Consolatio Philosophiae, in der Boethius zu Beginn seinen Aufstieg und seinen Fall Revue passieren lässt und die unter anderem auch eine Verteidigung gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe enthält,³⁹ fällt dabei, wie es zumindest die Komposition des Werkes suggeriert, in die Zeit seiner Gefangenschaft. Dementsprechend zeichnet das erste Buch des Werkes das Bild eines Mannes, der nach einer eindrucksvollen politischen und intellektuellen Karriere alles verloren hat. Er ist seines Amtes enthoben und seine Güter sind beschlagnahmt worden, von seiner Familie ist er getrennt und er sieht seiner Hinrichtung wegen Verrates entgegen – selbst zutiefst davon überzeugt, unschuldig im Sinne der Anklage zu sein.⁴⁰ In diese Situation größter Verzweiflung und „tränenreicher Klage“ (querimonia lacrimabilis)⁴¹ über die ihm widerfahrende ungerechte Behandlung hinein erscheint Boethius die Philosophia,⁴² um ihm, wie der Verlauf der Consolatio zeigt und oben bereits angesprochen worden ist, einen Trost zu bringen, der aus einer Einsicht erwächst.⁴³ Was aber weiß der inhaftierte Boethius nicht beziehungsweise nicht mehr, so dass er einer Unterweisung durch die Philosophie bedarf? Und: Inwiefern ist die Einsicht der Philosophie tröstend? Dass es ein Mangel an Einsicht sei, an dem Boethius leidet und der den eigentlichen Grund für dessen Klage darstelle, stellt die wie eine Ärztin auftretende Philosophia gleich zu Beginn ihrer Anamnese fest.⁴⁴ Nichts Gefährliches, erklärt sie, sei
38 Zur Hinrichtungs- und Begräbnisstätte des Boethius ist hier vor allem nochmals auf die jüngste Forschung Fabio Troncarellis zu diesem Thema zu verweisen. Vgl. Fabio Troncarelli: „Forbidden Memory: The Death of Boethius and the Conspiracy of Silence“, bes. S. 194–205. 39 Vgl. Boethius Cons. I, 4, 2–46. 40 Wenn Boethius sein Schicksal beweint, dann, so lässt sich mit Helga Scheible feststellen, „[umspielt] [d]ie Klage des Boethius (…) in drei Variationen ein einziges Thema: den Gegensatz zwischen seinem einstigen Glück und dem Elend seiner jetzigen Lage.“ Vgl. Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, Heidelberg 1972, S. 13. Zu Boethius’ Verständnis von fortuna und fatum, wie es sich in der Consolatio zugrunde gelegt findet, und zu den geistesgeschichtlichen Quellen dieses Verständnisses vgl. auch John Magee: „The Boethian Wheels of Fortune and Fate“, in: Mediaeval Studies 49 (1987), S. 524–533. Neben einer hilfreichen Einordnung der boethianischen fatum- und fortuna-Konzeptionen in den Kontext neuplatonischer und vorneuplatonischer Traditionen legt Magee zudem überzeugend dar, dass diese Konzeptionen in einem engen Zusammenhang mit Boethius’ Providenzverständnis stehen. 41 Vgl. Boethius Cons. I, 1, 1. 42 Vgl. ebd. 43 Darauf, dass es eine Einsicht ist, durch welche Boethius getröstet wird, hat vor allem Thomas Schumacher in „Heilung im Denken“, S. 21 hingewiesen; vgl. zudem Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 21f. 44 Vgl. Boethius Cons. I, c.2–p.2. Dazu, dass die Philosophia wie eine Ärztin auftrete, vgl. u. a. John Marenbon: Boethius, S. 153f.; Markus Enders: „Heilung im Denken“, S. 33; auf wesentliche Aspekte der literarischen Tradition, in der Boethius’ Darstellung der heilenden Philosophie steht, macht Jo-
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es, woran ihr Schützling leidet. Er sei bloß der Lethargie verfallen, der im Fall von verblendeten Geistern für gewöhnlich auftretenden Krankheit, und so habe er sich ein wenig selbst vergessen.⁴⁵ Schon hier, ganz am Anfang der Consolatio, wird deutlich: Anders als der Inhaftierte zunächst selbst annimmt, sind es nach Auffassung der Philosophia nicht die äußeren Umstände, die Anlass zur Sorge über den Zustand des Boethius geben. Vielmehr ist es seine geistige Verfassung, die vor allem durch eine Form des Unwissens gekennzeichnet ist. Um herauszufinden, worin die Unwissenheit des Boethius genauerhin besteht und wie dieser Abhilfe zu schaffen ist, stellt die Philosophia ihm vier diagnostische Fragen.⁴⁶ In der Formulierung von Matthias Baltes lauten diese: (1) Wird die Welt durch Zufall oder durch Vernunft regiert? (2) Durch welches Steuer (quibus gubernaculis) wird die Welt gelenkt? (3) Was ist das Ziel aller Dinge? (4) Was ist der Mensch?⁴⁷ Von diesen Fragen kann Boethius nur die erste klar beantworten.⁴⁸ Bezüglich der übrigen gilt: Er ist so verwirrt, dass er entweder kaum den Sinn der Frage versteht – so im Fall der zweiten Frage;⁴⁹ oder dass er die Antwort auf die Frage schlichtweg vergessen hat – dies ist mit Blick auf seine Antwort zur dritten Frage festzustellen;⁵⁰ oder aber – so zur vierten Frage –, dass er eine falsche Antwort gibt.⁵¹ Trotz des weitgehend ungenügenden Charakters der Antwortversuche des Boethius ist die Philosophia in der Folge dennoch guter Dinge hinsichtlich einer möglichen Heilung ihres Patienten; kann sie doch seinen Antworten, wie sie selbst sagt, die „größte Ursache“ (maxima causa) seiner Krankheit entnehmen und infolgedes-
achim Grubers Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 33–35 aufmerksam. Dazu, wie die Verwendung medizinischer Terminologie in der Consolatio zu interpretieren ist, vgl. Wolfgang Schmid: „Philosophisches und Medizinisches in der ‚Consolatio Philosophiae‘ des Boethius“, in: Gregor Maurach (Hrsg.): Römische Philosophie, (Reihe: Wege der Forschung, Bd. 193), Darmstadt 1975, S. 341–384; einige interessante psychotherapeutische Aspekte der Consolatio untersucht Donald F. Duclow in seinem Artikel „Perspective and Therapy in Boethius’s Consolation of Philosophy“, in: The Journal of Medicine & Philosophy Vol. 4, No. 3, 1979, S. 334–343. 45 Vgl. ebd. I, 2, 5; Zum Bild der Lethargie, vgl. auch Wolfgang Schmid: „Philosophisches und Medizinisches in der ‚Consolatio Philosophiae‘ des Boethius“, besonders ab S. 343. 46 Vgl. dazu Boethius Cons. I, 6, 1. 47 Vgl. ebd. I, 6, 3–16 in der Zusammenfassung und Interpretation von Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, S. 313. 48 Vgl. Boethius Cons. I, 6, 4; zu den Antworten des Boethius, vgl. auch John Magee: „The Good and Morality: Consolatio 2–4“, in: The Cambridge Companion to Boethius, S. 193f. 49 Vgl. Boethius Cons. I, 6, 8. 50 Vgl. ebd. I, 6, 10. 51 Vgl. ebd. I, 6, 16.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
sen einen Weg zur Therapie seines Leidens erkennen.⁵² Boethius, so ihre Diagnose, habe aufgehört zu wissen, was er selbst ist, und sei deswegen nicht imstande, die an ihn gerichteten Fragen bis auf die erste in angemessener Weise zu beantworten.⁵³ Dafür, dass er wenigstens noch wisse, dass Gott als Gründer seinem Werk, der Welt, vorsteht und dass diese durch die ratio und nicht durch den Zufall beherrscht wird, dafür möge er dem Geber der Heilung danken.⁵⁴ In seinem noch bestehenden Wissen um die göttliche Leitung der Welt nämlich, so die Philosophia, liege der Punkt, von dem aus die Heilung des Boethius ihren Anfang nehmen könne.⁵⁵ Wie der weitere Verlauf der Consolatio zeigt und in den angeführten Fragen der Philosophia bereits angedeutet ist, wird das Wissen um das Erste Prinzip in der Tat zum Ausgangs- und – so wird man sagen dürfen – auch zum Endpunkt der von der Philosophia durchgeführten Argumentation, aus der heraus Boethius die tröstende Einsicht erwächst. Wie aber verläuft diese Argumentation, und inwiefern ist das verbliebene Wissen des Boethius nutzbar für den Gewinn einer ihn tröstenden Einsicht zu machen?
11.4 Das Prinzip – Ausgangs- und Endpunkt philosophischen Trostes Sieht man sich die Antworten, die Boethius auf Fragen seiner Therapeutin gibt, ein wenig genauer an, fällt unter anderem Folgendes auf. Auch wenn er weiß, dass Gott der Schöpfer und Lenker der Welt ist, weiß er dennoch nicht (mehr), wie Gott die Welt lenkt.⁵⁶ Das hier aufscheinende Problem besteht, wie John Marenbon herausgearbeitet hat, nicht so sehr darin, dass Gott aus Boethius’ Sicht möglicherweise nicht in angemessener Weise in den Lauf der Welt eingreift und deswegen ungerechte Verhältnisse in der Welt herrschen. Vielmehr, so Marenbon, sei im Anhalt an das fünfte Metrum des ersten Buches festzustellen, dass es, wie Boethius’ Antwort auf die dritte Frage der Philosophia zeigt, seine Unkenntnis des Letztzieles der Dinge ist, die den Kern seiner Klage über die Ungerechtigkeit der Verhältnisse in der Welt ausmacht.⁵⁷
52 Vgl. ebd. I, 6, 17. 53 Vgl. ebd. I, 6, 17–21, besonders 17: „quid ipse sis nosse desisti.“ 54 Vgl. ebd. I, 6, 19. 55 Vgl. ebd. I, 6, 20. 56 Vgl. ebd. I, 6, 4–8; dazu John Marenbon: Boethius, S. 101. 57 Vgl. John Marenbon: Boethius, S. 101: „It then emerges that although Boethius knows that God rules the world, he does not know how he rules it. He knows that everything originates from God, but in his sadness he has forgotten ‚what the end (finis) of things or to what the purpose of all nature inclines‘ (CI.6.10 [24–25]). As this passage suggests, the key to solving Boethius’ second, more general complaint, about the apparent lack of a just order in human affairs, is for him to regain his knowledge of the final cause of all things. He knows that God is their efficient cause, but he needs to discover that to which all things incline as their ultimate goal.“
Das Prinzip – Ausgangs- und Endpunkt philosophischen Trostes
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So ist das, was Boethius verzweifeln lässt, nicht so sehr die Frage, warum es in der Welt so zugeht, wie es dies tut, welche causa efficiens dies also bewirkt, sondern, wozu es geschieht, was also die causa finalis allen Geschehens und Strebens ist.⁵⁸ Eng damit verbunden ist eine zweite, ebenfalls schon im ersten Buch aufkommende Frage, die, wie John Marenbon schreibt, als „underlying question“ der in der Consolatio verhandelten Trostproblematik als ganzer zugrunde liegt. Es ist dies die Frage nach dem, worin die „wahre Glückseligkeit“ (vera beatitudo)⁵⁹ besteht.⁶⁰ Thematisch wird hier in gewisser Weise eine Verengung der von der Philosophia aufgeworfenen Frage nach dem „Ziel“ (finis) der Dinge, die, sofern es um die beatitudo geht, mit Blick auf das Ziel des Menschen gestellt wird. Worin besteht das Letztziel des Menschen, wie ist die beatitudo zu bestimmen? Was muss der Mensch erlangen und in welchem Zustand muss er sich befinden, damit man ihn glücklich nennen kann? Dass diese Fragen gerade für den inhaftierten, sein Unglück beweinenden Boethius von entscheidender Bedeutung sind, liegt auf der Hand; gibt doch die Einsicht in das, was die wahre Glückseligkeit ist, einen Maßstab dafür ab, anhand dessen entschieden werden kann, ob Boethius tatsächlich unglücklich zu nennen und seine Klage berechtigt ist. „Is it [i. e. happiness, T. J.] [really] destroyed – is it even damaged – by a disastrous change of fortune such as that Boethius suffered?“⁶¹ Oder anders und allgemeiner gefragt: Hängt die wahre Glückseligkeit vom Besitz von Gütern wie Reichtum, Ansehen, Ehren, sozialen Bindungen und dem Leben ab, und wird die beatitudo infolgedessen zerstört, wenn diese und ähnliche Güter verloren gehen? Wie diese Fragen mit Blick auf die Situation des Boethius zu beantworten sind, hängt wesentlich davon ab, wie die beatitudo bestimmt und was für sie als konstitutiv angesehen wird. Ohne dabei allzu weit vorgreifen zu wollen, sei schon an dieser Stelle bemerkt, dass genau diese Überlegung zur Bestimmung der „wahren Glückseligkeit“ den Ausgangspunkt für den Gewinn einer Boethius in seiner Lage tröstenden Einsicht bieten wird. In welche Richtung die im dritten Buch der Consolatio entwickelte Argumentation gehen wird, zeigt sich schon im ersten Buch, in dem die Seelenärztin des Boethius erklärt, dass dieser streng genommen gar keinen wirklichen Verlust erlitten habe und daher eigentlich gar nicht als unglücklich anzusehen sei.⁶² Denn, so erklärt die Philosophia, in Zeiten der Bedrängnis hätten sich ihre Nachfolger schon immer in eine uneinnehmbare Burg zurückgezogen, so dass ihre Gegner ihnen nur unnützes Gepäck hätten entreißen können, während die Philosophen sie von oben herab
58 Zum Ausdruck kommt dies auch in Boethius Cons. I, 6, 19: „quoniam vero quis sit rerum finis ignoras, nequam homines atque nefarios potentes felicesque arbitraris.“ 59 Explizit wird die „wahre Glückseligkeit“ vor allem im dritten Buch der Consolatio zum Thema. Vgl. III, 1, 7. 60 Vgl. John Marenbon: Boethius, S. 100f. 61 Vgl. ebd. S. 101. 62 Vgl. ebd. S. 100.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
wegen ihrer Gier nach den wertlosesten Dingen verlacht hätten.⁶³ Da diese Einlassung seiner Seelenärztin Boethius zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht überzeugt und er stattdessen – gleichsam wie der Esel zu der Leier – beginnt, ihr seinen politischen Fall zu schildern,⁶⁴ ist es nötig, dass die Philosophia ihren Punkt mit Hilfe einer Argumentation genauer darlegt. Sie tut dies vor allem im dritten Buch der Consolatio, das auch den Höhepunkt des Werkes markiert.⁶⁵
11.5 Consolatio II: Die Güter der Fortuna in ihrer Begrenztheit Bevor die Philosophia allerdings dazu übergeht, „schärfere Heilmittel“ (remedia acriora)⁶⁶ anzuwenden und im dritten Buch die besagte Argumentation zur Bestimmung der wahren beatitudo zu entwickeln, lässt Boethius sie zunächst im zweiten Buch die Rolle der Fortuna, des „Glückes“ im Sinne des glücklichen Geschickes, einnehmen, um in ein Gespräch mit dieser zu treten.⁶⁷ In dem sich ab der zweiten Prosa des zweiten Buches findenden Dialog sind unter anderem zwei Themen prominent. Zum einen wird der Vorwurf der „Wandelbarkeit“ (mutabilitas)⁶⁸, der von Boethius gegen das Glück erhoben wird, diskutiert; zum anderen wird der Wert der Güter, die aufgrund eines glücklichen Geschickes erlangt werden, zum Gegenstand der Betrachtung. Bezüglich des von Boethius erhobenen Vorwurfes erklärt die Fortuna, dass er deswegen ungerechtfertigt sei, da es in ihrer Natur liege, wandelbar zu sein.⁶⁹ Gerade in seiner Wandelbarkeit nämlich bewahre das Glück die ihm eigene, eben in der Wandelbarkeit bestehende Beständigkeit.⁷⁰ Finge es an, beständig zu sein, würde es aufhören, das, was es seinem Wesen nach ist, zu sein, nämlich „Zufall“ (fors).⁷¹ So sei es das gute „Recht“ (ius) der Fortuna, sich das, was sie gegeben hat, auch wieder zu
63 Vgl. Boethius Cons. I, 3, 13f. 64 Vgl. ebd. I, 4, 2–46. 65 Dass die Philosophie Boethius mit ihrer Behauptung, er habe lediglich „unnützes Gepäck“ verloren, an dieser Stelle nicht überzeugen kann, ist völlig nachvollziehbar; zeigt es sich doch erst im Unterschied zur Bestimmung des vollkommenen Gutes und der wahren Glückseligkeit, weshalb die von Boethius verlorenen Güter in Relation zum wahren höchsten Gut als unwichtig einzuschätzen sind. Da die Bestimmung dieses höchsten Gutes an diesem Punkt der Argumentation allerdings noch nicht erfolgt ist, kann sie hier auch noch nicht zur Tröstung des Boethius verwendet werden. 66 Vgl. Boethius Cons. III, 1, 2. 67 Zu Boethius’ Verständnis der fortuna und zu dessen Ursprüngen, vgl. den bereits zitierten Aufsatz John Magees „The Boethian Wheels of Fortune and Fate“, hier bes. S. 529–533. 68 Vgl. ebd. II, 1, 10. 69 Vgl. ebd. II, 1, 9f. 70 Vgl. ebd. II, 1, 10. 71 Vgl. ebd. II, 1, 19.
Consolatio II: Die Güter der Fortuna in ihrer Begrenztheit
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nehmen;⁷² bleibt doch das von ihr Gegebene immer ihr Eigentum und geht niemals in das des Menschen über. Denn, so erklärt sie, hätten die Dinge wie Reichtümer und Ehren, deren Verlust Boethius beweint, tatsächlich ihm gehört, hätte er sie in keiner Weise verlieren können.⁷³ Überhaupt, so führt die Philosophia in II, 3 – nun wieder als sie selbst – die Rede der Fortuna fort, sei doch das Leben des Boethius, wenn man es bilanzierend unter dem Aspekt des Glückes betrachtet, als durchaus glücklich anzusehen.⁷⁴ Wenn er nämlich die Zahl der freudigen und der traurigen Ereignisse einander gegenüberstellte, könne er auch jetzt noch nicht leugnen, dass er „glücklich“ (felix) zu nennen sei.⁷⁵ Der Umstand, dass die Güter, die Fortuna verleiht, je nachdem, wie sich ihr Rad gerade dreht,⁷⁶ wieder verloren werden können, hat auch Konsequenzen für die Einschätzung ihres Wertes.⁷⁷ So kann der Erwerb derartiger Güter dem Menschen schon allein deswegen nur das „Glück“ (felicitas) und nicht die „Glückseligkeit“ (beatitudo) sichern, da, wie die Philosophia ausführt, der sie Besitzende immer befürchten muss, dass er sie verlieren könnte.⁷⁸ Neben ihrer Verlierbarkeit sind die Güter des Glückes, wie die Philosophia des Weiteren zu bedenken gibt, auch in anderen Hinsichten betrachtet begrenzt und mithin in ihrer Qualität eingeschränkt. Als Beispiel dafür führt sie den „guten Ruf“ (fama) und den „Ruhm“ (gloria) an, die beide sowohl örtlich als zeitlich begrenzt sind und sich überdies dadurch einer Beschränkung ausgesetzt sehen, dass das, was in einer Kultur ruhmreich sein mag, in einer anderen getadelt wird.⁷⁹ Auch wenn die Philosophia diesen und anderen mit Glück zu erlangenden Gütern einen gewissen Wert beimisst, lässt sich doch bezüglich ihrer mit John Marenbon gesprochen das folgende Fazit ziehen: (…) not that the goods of fortune are entirely without value but that their value is limited and incidental: they should be sought only to a moderate extent (so for
72 Vgl. ebd. II, 2, 1–10. 73 Vgl. ebd. II, 2, 6f. 74 Vgl. ebd. II, 3, 4–14. Der Term, den die Philosophia verwendet, um das durch Fortuna erreichte Glück zu benennen, ist felicitas. Damit unterscheidet sie das „Glück“ schon allein sprachlich von der durch „beatitudo“ bezeichneten „Glückseligkeit“. Vgl. dazu John Marenbon: Boethius, S. 103 mit Verweisen auf Boethius Cons. II, 3, 8 und II, 4, 3. 75 Vgl. Boethius Cons. II, 3, 10. 76 Vgl. ebd. II, 2, 9. 77 Vgl. dazu und zum Folgenden Alexander Pletsch: „Der Schein des Guten und das wahrhaft Gute bei Boethius“, in: Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen im Judentum, Christentum und Islam, hrsg. von Raif Georges Khoury/Jens Halfwassen, in Verbindung mit Frederek Musall, Heidelberg 2005, S. 64–67; zudem John Marenbon: Boethius, S. 103f. 78 Vgl. Boethius Cons. II, 22–26; vgl. auch Augustinus De beata vita II, 2, 11; IV, 26–28; zudem De moribus ecclesiae I, 3, 5. 79 Vgl. Boethius Cons. II, 7, 3–23.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
instance, in the case of riches, to lead to sufficiency, not superfluity (CII.5.16[44–46]; II.m.5), and they should not be anyone’s ultimate aim.⁸⁰
11.6 Consolatio III: Gott – das summum bonum und die wahre beatitudo Weshalb die mit Glück erlangten Güter nach Auffassung der Philosophia nicht glückselig machen und sie daher nicht als Letztziele zu erstreben sind, wird noch deutlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund des von der Philosophia entwickelten Begriffes der „wahren Glückseligkeit“ (vera beatitudo) und des „höchsten Gutes“ (summum bonum) betrachtet.⁸¹ Ihren Ausgang nimmt die sich im dritten Buch der Consolatio findende Bestimmung dieser Begriffe von einem an Aristoteles erinnernden Allsatz, den die Philosophia folgendermaßen formuliert:⁸² Alle Sorge der Sterblichen, welche die Mühe ihrer vielfältigen Bestrebungen in Bewegung setzt, mag zwar auf unterschiedlichem Pfad voranschreiten, dennoch aber strebt sie danach, ein [einziges] Ziel zu erreichen – die Glückseligkeit. Das aber ist das Gute, über welches hinaus, wenn es erlangt worden ist, jemand nichts Höheres mehr ersehnen kann.⁸³ Dieses ist gewiss das höchste aller Güter, das alle Güter in sich enthält, und bezüglich dessen gilt: Fehlte ihm etwas,⁸⁴ könnte es nicht das Höchste sein, da es ja dann etwas außer sich ließe, das gewünscht werden könnte. Daher ist es klar, dass die Glückseligkeit ein durch die Vereinigung aller Güter vollkommener Zustand ist.⁸⁵
80 John Marenbon: Boethius, S. 104. 81 Zu Boethius’ Begriff des summum bonum, vgl. auch Susan Ford Wiltshire: „Boethius and the summum bonum“, in: The Classical Journal 67 (1972), S. 216–220. 82 Vgl. Boethius Cons. III, 2, 2; vgl. dazu vor allem die Anfänge der Nikomachischen Ethik – hier fallen insbesondere auch inhaltliche Übereinstimmungen auf –, der Metaphysik, und der Politik des Aristoteles. 83 Wie die Untersuchung im Weiteren zeigen wird, nimmt die Formulierung „id autem est bonum quo quis adepto nihil ulterius desiderare queat“ wenn auch variiert und vor allem ihrer Form nach eine zentrale Rolle im Kontext der boethianischen Bestimmung der Glückseligkeit ein. 84 Wörtlich eigentlich: „Wäre etwas nicht bei ihm“ oder „wäre etwas abwesend von ihm“ (si quid aforet). 85 Boethius Cons. III, 2, 2f.: „Omnis mortalium cura quam multiplicium studiorum labor exercet diuerso quidem calle procedit, sed ad unum tamen beatitudinis finem nititur peruenire. Id autem est bonum quo quis adepto nihil ulterius desiderare queat. Quod quidem est omnium summum bonorum cunctaque intra se bona continens; cui si quid aforet summum esse non posset, quoniam relinqueretur extrinsecus quod posset optari. Liquet igitur esse beatitudinem statum bonorum omnium congregatione perfectum.“ Parallelen zeigen sich hier u. a. zu Platon Politeia 505e 1f.; Philebos 20d 7–10; Gorgias 499e 8–500a 1; ebd. 468b 1–4; siehe zudem Aristoteles Nikomachische Ethik 1094a 1–3.
Consolatio III: Gott – das summum bonum und die wahre beatitudo
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„Von Natur aus“ (naturaliter), so die Philosophia, sei den mentes der Menschen die Begierde nach diesem höchsten Gut eingesetzt, bei dessen Bestimmung Boethius deutlich erkennbar an die ihm überkommene Tradition anknüpft. So begreifen, wie gezeigt worden ist, schon Platon und die ihm nachfolgende Tradition – wenn auch in Variationen – die Glückseligkeit als das höchste Gut im Sinne eines Zustandes der völligen Mangellosigkeit, den der Mensch zu erreichen sucht.⁸⁶ Diesen Begriff nimmt Boethius auf, wenn er das „Gute“ (bonum), und in der Folge dann das „höchste Gute“ (summum bonum), als dasjenige bestimmt, dessen Besitz ein jedes weiteres „Sehnen“ (desiderare) unmöglich macht, da ihm nichts „fehlt“ (abesse) und so für den es Besitzenden nichts mehr zu „wünschen“ (optari) übrigbleibt. Um diesen „Zustand“ (status) zu erreichen, suchen die Menschen, ganz verschiedene Wege einschlagend, Güter wie Reichtümer (divitiae), Würden (dignitates), Herrschaft (regna), Ruhm (gloria) und Lüste (voluptates) zu erlangen,⁸⁷ und obwohl diese Wege höchst unterschiedlich sind, ist es doch, so die These der Philosophia, immer das Gute, das sie damit erstreben.⁸⁸ Dass es in der Tat das Gute ist, auf welches das Begehren in den besagten Fällen ausgerichtet ist, zeigt sich deutlich, wenn man, wie die Philosophia im Weiteren erklärt, in Betracht nimmt, was die nach den oben genannten Gütern Strebenden eigentlich zu erreichen suchen. Es handele sich dabei um „Selbstgenügsamkeit“ (sufficientia)⁸⁹, „Ansehen“ (reverentia), „Macht“ (potentia), „Berühmtheit“ (celebritas) und „Freude“ (laetitia), welche als die eigentlichen Güter im Hintergrund des Strebens nach Dingen wie Reichtum und Lust stehen und denen von der Philosophia ein hoher Wert zugesprochen wird.⁹⁰ Demnach richtet der auf Reichtümer Ausgehende sein Streben eigentlich – und meist ohne dies zu wissen – darauf, den Zustand der sufficientia zu erreichen, was ein durchaus gerechtfertigtes Ziel darstellt; verwirklicht sich doch mit dem Erlangen der sufficientia ein wesentliches Moment dessen, was die wahre Glückseligkeit ausmacht.⁹¹ Als problematisch erweist es sich mit Blick auf die Begierde nach Reichtümern dabei aus Sicht der Philosophia, dass die dieser Begierde Verfallenen nicht wissen, welches wahre Gut sie eigentlich erstreben
86 Eine große Zahl an sich in der Tradition findenden Verweisstellen dazu, dass der Mensch von Natur aus nach Glückseligkeit strebt, hat Joachim Gruber in seinem Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 239, zusammengestellt. 87 Vgl. Boethius Cons. III, 2, 4–20. 88 Vgl. ebd. III, 2, 20; vgl. auch Alexander Pletsch: „Der Schein des Guten und das wahrhaft Gute bei Boethius“, S. 65. 89 Wo die für Boethius relevanten Grundlagen des Begriffs der sufficientia in der philosophischen und theologischen Tradition zu finden sind, hat William J. Asbell, Jr. in „The Philosophical Background of Sufficientia in Boethius’s Consolation, Book 3“, in: New Directions in Boethian Studies (= Studies in Medieval Culture XLV), hrsg. von Noel Harold Kaylor, Jr. und Philip Edward Phillips, Kalamazoo, Michigan 2007, S. 3–16, herausgearbeitet. 90 Vgl. Boethius Cons. III, 2, 13–20; vgl. dazu auch John Magee: „The Good and Morality: Consolatio 2–4“, S. 188f. 91 Vgl. Boethius Cons. III, 2, 14.
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und dass sie aufgrund ihrer Unwissenheit nicht in der Lage sind, ihr eigentliches Ziel zu verwirklichen. Ist man nämlich, so das Argument der Philosophie, auch im Besitz der größten Reichtümer, ist damit doch noch nicht das Ziel der Selbstgenügsamkeit erreicht, da Reichtümer zu den Dingen gehören, die man verlieren kann und die, da sie demnach den „Mangel“ (indigentia)⁹² nicht völlig vertreiben, auch die sufficientia nicht gewährleisten können.⁹³ Einem Irrtum sitzen nach Ansicht der Philosophia nun allerdings nicht nur die Menschen auf, die nach falschen, da nicht zum eigentlichen Ziel führenden Gütern wie Reichtümern oder Lüsten streben. Gleiches gelte auch für diejenigen, welche die oben genannten wahren Güter wie „Selbstgenügsamkeit“ und „Ansehen“ als getrennte und nicht ihrem „Wesen“ (substantia) nach miteinander identische Güter verfolgen.⁹⁴ In diesem Fall zerteile die „menschliche Verkehrtheit“ (pravitas humana) das, was der Natur nach eines und einfach ist, und, während sie den Teil einer Sache zu erlangen sucht, die über keine Teile verfügt, würden sie weder den gar nicht bestehenden Teil noch die Sache selbst erreichen, da sie ihr Streben nicht auf das Erlangen der Sache, sondern nur auf das eines nicht existierenden Teiles ausrichten.⁹⁵ Diesem Fehler entsprechend kümmere sich beispielsweise jemand, der auf Reichtümer aus ist, oft nicht um Macht und verzichte auf Ansehen und Lüste, wenn diese seinen Reichtum gefährden könnten.⁹⁶ In dieser Weise jedoch, so die Philosophia, gelange der so handelnde Mensch nie in den Zustand der sufficientia, da ihm vieles fehlen würde, das für die Selbstgenügsamkeit von Nöten ist.⁹⁷ Der Sinn hinter den von der Philosophie vorgetragenen Argumenten zur wesenhaften Einheit der wahren Güter besteht kurz gesagt in Folgendem: Die wahren Güter stellen lediglich verschiedene Aspekte der als ein Zustand vollkommener Mangellosigkeit begriffenen beatitudo dar und machen weder als einzelne noch in der Summe das Ganze der Glückseligkeit aus. Bezüglich des Besitzes eines einzelnen Gutes ist demnach zu beachten, dass jemand, der ein solches Gut wie beispielsweise die sufficientia erreicht hat, auch über Macht verfügen müsste, wenn man ihn glückselig nennen wollte; bedürfte er doch im Fall
92 Vgl. ebd. III, 3, 19. 93 Vgl. ebd. III, 3, 2–19; vgl. dazu John Marenbon: Boethius, S. 104–106; in diesem Kontext ist zu beachten: Der durch Reichtümer erlangte Zustand der sufficientia ist streng genommen gar kein solcher. Dies ergibt sich daraus, dass man auch als ein reicher Mensch insofern noch über einen Mangel verfügt, als man seine Reichtümer verlieren kann. Man bedarf daher beispielsweise zudem der Macht, seine Reichtümer zu schützen, weshalb der Reichtum allein noch keinen Zustand der Selbstgenügsamkeit hervorbringen kann. Vgl. dazu Boethius Cons. III, 3, 15f. Überdies gibt die Philosophia zu bedenken, dass auch ein Reicher hungern und dürsten und diesen Mangel mit Hilfe der größten Reichtümer nie zur Gänze auffüllen könne, so dass auch aus dieser Perspektive betrachtet der Reichtum noch keinen Zustand der sufficientia herbeiführt. Vgl. Boethius Cons. III, 3, 17–19. 94 Vgl. ebd. III, 9, 1–23. 95 Vgl. ebd. III, 9, 16. 96 Vgl. ebd. III, 9, 17–20. 97 Vgl. ebd. III, 9, 18.
Consolatio III: Gott – das summum bonum und die wahre beatitudo
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eines Mangels an Macht eines fremden Schutzes, was zur Folge hätte, dass er nicht selbstgenügsam wäre.⁹⁸ Wie dieses von der Philosophia angeführte Beispiel zeigen soll, ist der Besitz eines einzelnen der genannten wahren Güter nutzlos für das Erreichen der Glückseligkeit. Wollte man den status der beatitudo nun hingegen dadurch erreichen, dass man, wie Boethius vorschlägt, alle wahren Güter insgesamt und zugleich zu besitzen suchte, würde man wie die Reaktion der Philosophia auf diesen Vorschlag zeigt, in dieser Weise gewiss die „Summe der Glückseligkeit“ (summa beatitudinis) erstreben.⁹⁹ Dass diese Summe allerdings nicht gleichzusetzen ist mit der wahren Glückseligkeit, zeigt die Reaktion der Philosophie auf diesen Vorschlag. So stellt sie Boethius ihrerseits die (rhetorische) Frage, ob die Glückseligkeit in den Dingen gefunden werden könne, die nicht das verschaffen können, was sie versprechen. Nachdem Boethius dies verneint hat, erklärt sie weiter, dass man daher in den Dingen, von denen geglaubt wird, dass sie je für sich etwas von dem bringen, das erstrebt wird, die beatitudo in keiner Weise auffinden könne.¹⁰⁰ Worauf das Argument der Philosophie an dieser Stelle abzielt, wird erst dann verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Glückseligkeit, wie oben erwähnt worden ist, einen Zustand vollkommener Mangellosigkeit darstellt. Als solcher ist er jedoch nicht im Sinn einer Summe verschiedener Einzelgüter aufzufassen, da diese qua Einzelgüter, und zwar auch in ihrer Summe, logischerweise immer noch etwas außer sich lassen und mithin niemals den Zustand einer vollkommenen Mangellosigkeit herbeiführen können.¹⁰¹ Wie also ist vorzugehen, um das Ziel des „vollkommenen Glückes“ (perfecta felicitas)¹⁰² zu erreichen, das den Menschen selbstgenügsam, mächtig, verehrungswürdig, berühmt und freudig macht?¹⁰³
98 Vgl. ebd. III, 9, 4–7. 99 Vgl. ebd. III, 9, 22. 100 Vgl. ebd. III, 9, 22; 29 und III, 9, 23. 101 Dass es laut Boethius unmöglich ist, den Mangel mit Hilfe endlicher Güter aufzufüllen, zeigt eine Bemerkung in Cons. III, 3, 17–19. Boethius erklärt dort, dass man den Hunger des Menschen niemals so weit bekämpfen könne, dass der „hungrige Schlund“ nicht noch weiter gefüllt werden könnte. Mit Blick auf die an dieser Stelle von der Philosophia angeführte Argumentation hat John Marenbon die Position vertreten, dass diese sehr befremdlich sei („very strange indeed“) und genauer betrachtet nicht den von ihr behaupteten Schluss zulasse. Vgl. dazu Marenbons Ausführungen in „Rationality and Happiness: Interpreting Boethius’s Consolation of Philosophy“, in: Jiyuan Yu/Jorge J. E. Garcia: Rationality and Happiness: From the Ancients to the Early Medievals, Rochester NY 2003, S. 183f. Es ist allerdings anzumerken, dass die Philosophia die beatitudo von der summa beatitudinis unterschieden wissen möchte und so darauf hinweist, dass sich die Glückseligkeit nicht aus einer Summierung von Einzelgütern ergibt. So verstanden erscheint mir das Argument überzeugend. 102 Wie der Kontext dieser Stelle zeigt, fällt das „perfekte Glück“ in diesem Fall mit der „Glückseligkeit“ in eines. 103 Vgl. Boethius Cons. III, 9, 26; gemeinsam mit dem zuvor Ausgeführten macht diese Formulierung deutlich, dass die beatitudo nicht nur als die Summe der wahren Güter anzusehen ist. Sie ist mehr als die bloße Summe dieser Teile und umgreift und umfasst diese. Vgl. dazu Alexander Pletsch: „Der Schein des Guten und das wahrhaft Gute bei Boethius“, S. 65: „Auch der Besitz all dieser Güter
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
11.7 Consolatio III, c.9: Ein gegebenes Wissen um das Prinzip Nachdem er sich mit den Irrwegen zur Erlangung der Glückseligkeit beschäftigt hat, geht Boethius im weiteren Verlauf des dritten Buches über zu einer Betrachtung dessen, „woher“ (unde) man in den Besitz der wahren Glückseligkeit gelangen kann.¹⁰⁴ Zu Beginn dieser Betrachtung kommt die Philosophia mit Boethius darin überein, dass es gemäß der Weisung des platonischen Timaios notwendig sei,¹⁰⁵ den „Vater aller Dinge“ (omnium rerum pater) um dessen Beistand anzuflehen, damit sie es verdienen, den „Wohnsitz des höchsten Gutes“ (sedes summi boni) aufzufinden, und „der Anfang in rechter Weise gegründet werde“ (rite fundatur exordium).¹⁰⁶ Der Hymnus III, c.9, den die Philosophia zur Anrufung des Vaters anstimmt, findet sich exakt in der Mitte des Werkes und fasst in poetischer Weise die sich in der in Prosa III, 10 findende Argumentation zur Bestimmung der wahren beatitudo zusammen.¹⁰⁷ Da an dieser Stelle keine ausführliche Interpretation dieses Gedichtes
[der oben genannten „wahren Güter“, T. J.] insgesamt bringt nicht das erhoffte Glück, denn jeder einzelne Teil ist mangelhaft und hinfällig, und so auch das Ganze. Nicht einmal die Vereinigung aller Güter bringt Vollkommenheit.“ 104 Vgl. Boethius Cons. III, 9, 31. 105 Vgl. Platon Timaios 27c; zu der mit Blick auf III, c.9 feststellbaren Aufnahme platonischen Gedankengutes aus dem Timaios, vgl. auch Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 163–167. 106 Vgl. Boethius Cons. III, 9, 32f.; anders als in Platons Timaios wird Gott in der Folge tatsächlich im Rahmen eines Gebetshymnus um Beistand gebeten, während im Timaios nur festgestellt wird, dass dies nötig sei. Darauf aufmerksam gemacht hat Susan C. Ford: Poetry in Boethius’ Consolation of Philosophy, Dissertation Columbia Univeristy, 1967, S. 72f. Nicht zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang der von Gruber (vgl. Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 274) vorgeschlagenen Interpretation der Notwendigkeit der Anrufung Gottes an dieser Stelle. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden, ist es gerade nicht so, dass sich, wie Gruber mit einem Verweis auf Christian Müller-Goldingen: „Die Stellung der Dichtung in Boethius’ Consolatio Philosophiae“, in: Rheinisches Museum für Philologie 132, S. 378, schreibt, „[i]n der Mitte des Werkes (…) die philosophische Argumentation der Dichtung unterzuordnen [hat]“, und „(…) die in 1, 1, 11 angekündigten philosophischen Musen (…) gerade im Zentrum des Werkes eine entscheidende Funktion [haben]“. Gerade hier, in der Mitte des Werkes, ist es die philosophische Argumentation, die Boethius den wahren Trost bringen wird und keine Form des musischen Wissens – auch nicht des philosophisch-musischen Wissens. 107 Inwiefern der Hymnus eine poetische Zusammenfassung der sich in Prosa III, 10 findenden Argumentation bietet, wird sich genauer im Rahmen der Betrachtung des besagten Prosaabschnittes zeigen. Äußerst hilfreiche Kommentare zu diesem Hymnus bieten Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff. Zu Boethius’ Hymnus ,O qui perpetua mundum ratione gubernas‘“, in: Ders.: Denken des Einen: Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, S. 319–336; Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 101–112; Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 177–184; Friedrich Klingner: De Boethii consolatione Philosophiae (= Philologische Untersuchungen 27), Berlin 1921, S. 38–67; weitere Literaturangaben finden sich bei Joachim Gruber in dessen Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 275–288.
Consolatio III, c.9: Ein gegebenes Wissen um das Prinzip
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vorgelegt werden kann,¹⁰⁸ soll lediglich in aller Kürze auf einige für den hier zu entwickelnden Gedankengang wichtige Aspekte desselben eingegangen werden. So fällt vor allem der für das Gedicht zentrale Rückbezug zu Gott als dem Ersten Prinzip auf, der von Boethius sowohl auf der formalen als auch auf der inhaltlichen Ebene des Hymnus stark hervorgehoben wird. Bezüglich des Formalen sei dabei vor allem daran erinnert, dass die Philosophia den Hymnus als ein Gebet anstimmt,¹⁰⁹ in dessen Rahmen sie Gott um dessen Beistand für den im Folgenden zu unternehmenden Versuch einer Bestimmung der wahren beatitudo bittet.¹¹⁰ Wie hier deutlich wird, liegt die Quelle der tröstenden Einsicht, welche die Philosophie ihrem Schüler vermitteln will, nicht in ihr selbst, sondern in Gott. Indem die Philosophie Boethius auf den Ursprung ihres Wissens und damit ihrer selbst aufmerksam macht, stellt sie den Gegebenheitscharakter des philosophischen Wissens heraus, das daher auch in dem Sinne ein prinzipielles ist, dass es vom Prinzip ausgeht. Dass das Wissen der Philosophie, und zwar vor allem das, welches sie bezüglich des Ersten Prinzips hat, ein gegebenes Wissen darstellt, verdeutlicht nicht zuletzt der Umstand, dass die Philosophia als eine Frauengestalt konzipiert ist. Markus Enders bemerkt dazu mit Blick auf das philosophische Wissen: Als dieses verlangende Streben nach dem Wissen des Höchsten aber und sogar als dieses Wissen selbst – und nicht etwa bloß wegen des grammatikalischen Geschlechts dieses Wortes – muß die Philosophie einen prädikativ weiblichen Charakter besitzen: Denn sowohl das Streben nach dem höchsten Wissen als auch dieses selbst hat seinen es bewegenden Grund nicht in sich selbst, sondern in dem einen Prinzip, auf das es suchend und erkennend gerichtet ist. Es ist aber nach gemeinantiker, insbesondere bei Aristoteles belegter Auffassung die Prädikation des Weiblichen, den Grund seiner Bewegung nicht in sich selbst zu haben, sondern ihn von außen zu empfangen.¹¹¹
Dazu, weshalb in der Consolatio die Dichtung überhaupt einen Ort hat vgl. auch John Magee: „Boethius’ Anapestic Dimeters (Actalectic) with Regard to the Structure and Argument of the Consolatio“, in: Alain Galonnier (Hrsg.): Boèce ou la chaîne des saviors. Actes du colloque international de la Fondation Singer-Polignac, Paris, 8–12 Juin 1999, Paris 2003, S. 146–169. Gilt, dass – wie eben behauptet – der Hymnus III, c.9 die Argumentation der Prosa III, 10 zusammenfasst, wird man im Ausgang von dieser Beobachtung den von John Magee in „Anapestic Dimeters“ angegebenen Gründen für das Vorkommen der Dichtung in der Consolatio noch einen weiteren Grund hinzufügen dürfen. Dies wird allerdings in einer gesonderten Betrachtung zu unternehmen sein. 108 Für eine solche Interpretation sei hier vor allem auf die bereits zitierten Werke Klingners, Scheibles und Beierwaltes’ verwiesen. 109 Zum Gebetscharakter des Gedichtes, vgl. Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 101. 110 Vgl. Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff“, S. 325: „Der Hymnus nun ruft den ‚rerum omnium pater‘ an um „Schutz“ bei dieser Erörterung, d. h. um die Ermöglichung von Einsicht in das Wesen des Glücks wie in seinen Grund.“ 111 Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 12; wenn Boethius hier in Cons. III, c.9 den Gegebenheitscharakter des von ihm verhandelten Wissens herauszustellen sucht, bedeutet dies allerdings nicht, dass dieses Wissen der philosophischen Argumentation enthoben wäre. Wie die
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Der Rückbezug auf das Prinzip (principium)¹¹² ist auch auf der inhaltlichen Ebene des Gedichtes deutlich zu erkennen; steht doch gleich an dessen Anfang das Motiv des die Welt durch eine perpetua ratio beherrschenden „Urhebers“ (sator)¹¹³, der, während er selbst beständig bleibt, von Ewigkeit an den Gang der Zeit befiehlt und alles bewegt.¹¹⁴ Dass gleich zu Beginn des Hymnus gerade die durch ratio gekennzeichnete Herrschaft Gottes als Schöpfer und Lenker der Dinge angeführt wird, ist dabei insofern von Bedeutung, als dadurch das von der Philosophia durch ihre erste diagnostische Frage erhobene Wissen des Boethius um die Herrschaft des Prinzips aufgenommen wird. So hatte Boethius wie gesehen nur auf die Frage, ob die Welt durch Zufall oder durch Vernunft regiert werde, eine klare Antwort geben können und erklärt, dass er „wisse“ (scire), dass Gott als Gründer seinem Werk vorsitze. Niemals habe es einen Tag gegeben, an welchem er dies vergessen hätte.¹¹⁵ Wie sie es schon im ersten Buch angekündigt hatte, nimmt die Philosophie nun eben dieses Wissen des Boethius bezüglich der Lenkung der Welt auf, um von jenem ausgehend Boethius zu der ihn tröstenden Einsicht zu führen. Während der Hymnus III, 9 dies dadurch zum Ausdruck bringt, dass die gubernatio Gottes thematisch an den Anfang gestellt wird,¹¹⁶ zeigt die sich in Consolatio III, pr. 10 findende Argumentation deutlich, weshalb der von Boethius vorausgesetzte Gedanke der Prinzipienhaftigkeit Gottes am Anfang stehen muss. Bevor dies näher erörtert werden wird, sei hier noch auf zwei weitere Aspekte des Gebetes der Philosophia hingewiesen, die ebenfalls den Rückbezug auf das Prinzip hervorheben. So spricht die Philosophie Gott am Ende des Gedichtes als „Vater“ (pater) an, der als die „Helle“ (serenum) „den Frommen die stille Ruhe“ ist (requies tranquilla piis)¹¹⁷
Prosa III, 10 zeigt, wird das, was hier als ein gegebenes Wissen vorgestellt wird, philosophisch eingeholt. Die Art und Weise, wie Boethius dies tut, wird unten genauer erörtert werden. 112 Vgl. Boethius Cons. III, 9, 28; dazu Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff“, S. 326. 113 Wörtlich ist sator eigentlich mit „Säer“ zu übersetzen. 114 Vgl. Boethius Cons. III, c.9, 1–3; auf die hier erkennbare Parallele zu Aristoteles’ Begriff des Bewegenden unbewegten und auf eine Aufnahme neuplatonischen Gedankengutes, wie sie hier zu erkennen ist, hat Helga Scheible aufmerksam gemacht in Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 102; hinsichtlich ihres Verweises auf neuplatonisches Gedankengut bezieht sie sich vor allem auf Friedrich Klingner: De Boethii consolatione Philosophiae, S. 42; eine Kritik an der von Scheible vorgenommenen Rückführung auf aristotelisches Gedankengut an dieser Stelle findet sich bei Werner Beierwaltes in „Trost im Begriff“, S. 330, Anm. 33, der hier vielmehr neuplatonisch-christliches Gedankengut als vorherrschend betrachtet. 115 Vgl. Boethius Cons. I, 6, 4. 116 In diesem Zusammenhang ist auf die stilistisch sehr schöne, dem Gebet vorausgehende Formulierung „Invocandum, inquam, rerum omnium patrem, quo praetermisso nullum rite fundatur exordium“ (Cons. III, 9, 33) hinzuweisen, welche die an dieser Stelle gegebene enge Verbindung von Formalem und Inhaltlichem hervorhebt. 117 Auf die Parallele zu Augustinus Confessiones I, 1, die sich an dieser Stelle ausmachen lässt, weist auch Werner Beierwaltes in „Trost im Begriff“, S. 334, Anm. 43, hin.
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und welchen zu sehen, das Ziel darstellt (te cernere finis).¹¹⁸ Der Vater, so heißt es des Weiteren in der letzten Zeile des Hymnus, sei „Prinzip“ (principium), „Träger“ (vector), „Führer“ (dux), „Weg“ (semita) und „Ende“ (terminus), und zwar so, dass alles in ihm dasselbe ist (idem).¹¹⁹ Wie hier deutlich wird, ist Gott boethianisch gedacht nicht nur insofern Prinzip, als alles von wie von einem Vater im Sinne einer höchsten causa efficiens ausgeht.¹²⁰ Gleichzeitig stellt er auch das Ziel und Ende der Dinge und damit deren causa finalis dar.¹²¹ Alles geht von Gott aus, alles kehrt wieder zu ihm zurück. Die hier erkennbare Kreisbewegung vollzieht sich nach einem Muster, nämlich dem des Hervorgangs und der Rückkehr,¹²² das verallgemeinernd gesagt als ein „neuplatonisches Philosophem“ begriffen werden kann.¹²³ Gott ist laut Boethius jedoch nicht nur Anfang und Ende der Dinge, er selbst ist es auch, der die Möglichkeit eröffnet, dass das Geschaffene zu ihm als dem Ziel und Ende zurückkehren kann. Darauf weist ebenfalls die letzte Zeile des Gedichtes hin, in welcher die Philosophia den pater nicht nur als principium und terminus, sondern auch als vector, dux und semita anspricht. Wie diese wohl „(…) auf den christlichen Gott als wahren Mittler und Geleiter in Christus (…)“¹²⁴ hinweisenden Termini andeuten, ist der Vater dementsprechend auch insofern Prinzip, als die Vermittlung hin zu ihm selbst durch ihn selbst geschieht. Er trägt das von ihm Geschaffene und führt es auf dem mit ihm selbst identischen Weg zu sich. Alle drei der genannten Aspekte der Prinzipienhaftigkeit Gottes – das Schaffen, das Tragen oder Erhalten und das Vollenden der Dinge – werden in dem auf den Hymnus folgenden Prosaabschnitt III, 10 aufgenommen. Sie spielen dort eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Beweisführung, die den Kern der Boethius tröstenden Einsicht bildet.
118 Vgl. Boethius Cons. III, c.9, 22 und 27. 119 Vgl. ebd. III, c.9, 28. 120 Vgl. zum Hervorgang von allem aus Gott, wie er im vorliegenden Hymnus gedacht wird, vor allem Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff“, S. 325–328. 121 Diese Gleichzeitigkeit zeigt vor allem die letzte Zeile des Gedichtes, da diese das principium-Sein an die erste und das terminus-Sein des Vaters an die letzte Stelle der hier aufgeführten Gottesprädikate stellt. Zur Rückkehr zum Prinzip und den philosophiegeschichtlichen Wurzeln dieses Begriffes, vgl. Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff“, S. 328–330. 122 Vgl. Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, S. 319. 123 Vgl. Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff“, S. 326; eine Reihe interessanter Aspekte des in der Consolatio mehrfach vorkommenden Motivs der Kreisbewegung hat John Magee herausgearbeitet in „The Good and Morality“, S. 181f.; vgl. zudem Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, S. 319; explizit angesprochen wird der Kreis bei Boethius in Cons. III, c.2, 34ff.; dazu, dass Boethius bei der Abfassung des Gedichtes III, c.9 zwar neuplatonisches Gedankengut aufgenommen, dabei aber nicht auf den prokleischen Timaios-Kommentar zurückgegriffen hat, ist überzeugend von Helga Scheible dargelegt worden. Vgl. Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 111f. 124 Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff“, S. 334.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
11.8 Consolatio III, 10: Das Prinzip aller Dinge ist auch das summum bonum Wie im Fall der von der Philosophie im zweiten Buch der Consolatio vorgetragenen Argumentation fällt auch mit Blick auf die des dritten auf, dass diese als solche in der Forschung relativ wenig beachtet worden ist.¹²⁵ Daher mag es nicht verwundern, dass bislang ein nicht nur für das dritte Buch, sondern für die Consolatio als ganze wesentlicher Schritt im Argumentationsgang der Philosophia nicht in seiner Bedeutsamkeit gewürdigt worden ist. Seinen Anfang nimmt diese Beweisführung, der sich in der zehnten Prosa des dritten Buches findet, von folgender Überlegung. Nachdem geklärt worden war, welche Form das vollkommene Gute im Unterschied zum unvollkommenen Guten aufweist, ist es nun der Philosophia zufolge an der Reihe aufzuzeigen, worin die Vollkommenheit des Glückes (perfectio felicitatis) ihrem Inhalt nach besteht.¹²⁶ Dabei, fährt die Philosophie fort, sei zunächst zu untersuchen, ob ein Gut von solcher Art, wie es zuvor bestimmt worden war, überhaupt „in der Wirklichkeit“ (in natura rerum)¹²⁷ bestehen könne, damit man nicht von einem „leeren Bild des (Aus-)Denkens“ (cassa cogitationis imago) getäuscht werde.¹²⁸ Dass eine solche „Quelle aller Güter“ (fons omnium bonorum) „bestehe und sei“ (exsistat sitque), könne angesichts des folgenden Argumentes nicht bestritten (negari) werden. Alles nämlich, so die Philosophia, von dem gesagt wird, dass es „unvollkommen“ (imperfectum) sei, werde durch eine „Verringerung des Vollkommenen“ (imminutione perfecti) als unvollkommen seiend dargeboten (perhibetur). Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, dass, wenn in irgendeiner Gattung ein Unvollkommenes zu sein scheine, in dieser auch ein Vollkommenes sein müsse. Denn, so das Argument weiter, wird die Vollkommenheit aufgehoben, kann man sich gewiss nicht mehr „vorstellen“ (fingi), woher dasjenige, welches als unvollkommen benannt worden war, seinen Bestand als Unvollkommenes genommen haben mag; nimmt doch „das Seiende“ (natura rerum)¹²⁹, wie die Philosophia
125 Vgl. John Marenbon: „Rationality and Happiness: Interpreting Boethius’s Consolation of Philosophy“, in: Jiyuan Yu/Jorge J. E. Garcia: Rationality and Happiness: From the Ancients to the Early Medievals, Anm. 2, S. 192f. Wie Marenbon feststellt, liegt der Schwerpunkt bezüglich der Betrachtung der Argumentationen in Buch II und III nicht so sehr auf einer logischen Analyse derselben, sondern vielmehr auf Untersuchungen zu den von Boethius verwendeten Quellen. 126 Vgl. Boethius Cons. III, 10, 1. 127 Zu der hier vorgeschlagenen Übersetzung von „in rerum natura“, vgl. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 289. 128 Zu dem im Nachfolgenden zu erörternden Argument, vgl. Boethius Cons. III, 10, 2–6. 129 Dazu, dass der Begriff der natura rerum hier mit „das Seiende“ und nicht wie in Cons. III, 10, 2 mit „Wirklichkeit“ zu übersetzen ist, vgl. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 290; vgl. zudem die von Gruber zitierte Rezension von Gregor Maurach zu „Volker Schmidt-Kohl: Die neuplatonische Seelenlehre in der Consolation philosophiae des Boethius“, in: Gnomon 39 (1967), S. 414f.
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erklärt, seinen Ausgang nicht vom Verminderten und Unvollständigen, sondern vom Vollständigen und Vollendeten, ausgehend von welchem es bis ins Äußerste und Erschöpfte zerfällt. Wenn es daher, so der Schluss des Argumentes, ein unvollkommenes Glück eines zerbrechlichen Gutes gibt – dies, so die Philosophie, war vorher gezeigt worden –, so muss es unbezweifelbarerweise auch ein feststehendes und vollkommenes Glück geben. Bei der Bewertung und Interpretation dieses Argumentes zum Bestehen und Sein des näherhin als Glückseligkeit bestimmten Gutes ist unter anderem auf Folgendes hinzuweisen. Zum einen ist zu beachten, dass das Argument nicht nur aristotelische, sondern auch und vor allem platonische und neuplatonische Vorformen aufweist.¹³⁰ Hier ist vor allem an eine in dieser Arbeit bereits zitierte Passage aus Platons Phaidon zu denken, die in der Literatur bisher nicht in Verbindung mit der oben angeführten Beweisführung der Philosophie gebracht worden ist. In dieser Passage lässt Platon Sokrates erklären, dass die Feststellung, etwas sei in irgendeiner Form mangelhaft, zur Voraussetzung habe, dass der so etwas Bemerkende über eine Kenntnis einer nicht mangelhaften Form des betrachteten Gegenstandes verfüge. Im Phaidon findet sich dies folgendermaßen formuliert: Stimmen wir nicht also darin überein, dass, wenn jemand, indem er etwas sieht, bemerkt: ‚Das, was ich jetzt sehe, will zwar sein, wie ein anderes Seiendes, es ermangelt ihm jedoch etwas, und es kann nicht so sein wie jenes andere, sondern es ist schlechter‘, dass es dann notwendig ist, dass der, welcher dieses bemerkt, jenes irgendwie vorher kennen muss, von dem er sagt, dass es ihm einerseits ähnlich sei, es ihm andererseits aber auch nachstehe?¹³¹
Parallel dazu führt die Philosophie in ihrer Argumentation zum Bestehen des vollkommenen Guten aus, dass alles, wovon gesagt wird, dass es „unvollkommen“ (imperfectum) sei, durch eine „Verringerung des Vollkommenen“ (imminutione perfecti) als unvollkommen seiend dargeboten (perhibetur) werde. Denn: Wird die Vollkommenheit aufgehoben, kann man sich gewiss nicht mehr „vorstellen“ (fingi), woher dasjenige, welches als unvollkommen benannt worden war, seinen Bestand als Unvollkommenes genommen haben mag. Auch wenn dies in der Consolatio weniger explizit als im Phaidon zum Ausdruck gebracht wird, liegt doch auch hier ein wichtiger Akzent auf der Frage nach der Erkennbarkeit der Unvollkommenheit eines Unvollkommenen. So ist zu beachten, dass Boethius davon spricht, dass das als „unvollkommen“ Bezeichnete (quod imperfectum esse dicitur) durch eine „Verringerung des Vollkommenen“ (imminutione perfecti) als
130 Bemerkt hat dies bereits Gregor Anton Müller: Die Trostschrift des Boethius. Beitrag zu einer literarhistorischen Quellenuntersuchung, (Dissertation), Gießen 1912; geteilt wird Müllers Meinung von Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 170; vgl. auch Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 289. 131 Platon Phaidon 74d 7–e 4.
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unvollkommen dargeboten werde (imperfectum esse perhibetur). In dieselbe Richtung deutet auch die These, dass man sich bei einer Aufhebung der Vollkommenheit nicht mehr „vorstellen könne“ (fingi potest), woher das Unvollkommene seinen Bestand hat. Wenn die Philosophia in der Folge den Schluss zieht, dass – vereinfacht gesagt – das Vollkommene die Voraussetzung des Unvollkommenen darstellt und man daher unter der Annahme des Bestehens von etwas Unvollkommenen nicht leugnen kann, dass auch das Vollkommene ist, so ist dies in folgender Weise zu verstehen. Nur unter der Voraussetzung, dass man in Kenntnis des Begriffes von etwas Vollkommenem ist, kann man überhaupt etwas anderes als unvollkommen bestimmen. Die Notwendigkeit des Seins des Vollkommenen erweist sich damit als eine begriffliche. Denn nichts ist seinem Sein nach als unvollkommen zu bestimmen, wenn man nicht schon vorab über ein Wissen bezüglich des Begriffes des Vollkommenseins verfügt. Angewandt auf die Frage nach dem Sein des vollkommenen Glückes bedeutet dies: Kann man etwas als ein unvollkommenes Glück bestimmen, so ist dieses der angeführten Logik zufolge nur dann möglich, wenn man zuvor über den Begriff eines vollkommenen Glückes verfügt, das infolgedessen auch sein muss. Neben dem Aufweis der besagten begrifflichen Denknotwendigkeit zeigt das Argument der Philosophie darüber hinaus: Auch Boethius verwendet die Termini „esse“ und „exsistere“ im Sinne eines veridikalen und mithin bestimmten Seins. „Sein“, das heißt auch in diesem Zusammenhang stets „Etwas-Sein“ und nicht bloß „Existieren“ – verstanden im Unterschied zu einem „Bestimmtsein“.¹³² Nach dem Aufweis der Notwendigkeit des Seins des vollkommenen Glückes fährt die Philosophia mit einer Betrachtung dessen fort, „worin“ (quo) das vollkommene Glück „wohnt“ (habitet).¹³³ Ziel dieser Darlegung ist es dabei, nun, da gezeigt worden ist, dass das vollkommene Glück ist, auch aufzuzeigen, worin es inhaltlich gesehen besteht. Damit nimmt die Philosophie Bezug auf ihre am Ende von III, 9 geäußerte Absicht, gemeinsam mit Boethius den „Wohnsitz des höchsten Gutes“ (sedes summi boni) aufzufinden und die inhaltliche Bestimmung der beatitudo zu einem Abschluss zu führen.¹³⁴ Die Absicht der Philosophia, nun in den Blick zu nehmen, worin das vollkommene Glück inhaltlich besteht,¹³⁵ hat ihren Grund dabei vor allem in Fol-
132 Dieser Aspekt des boethianischen Seinsverständnisses, wie er hier klar zu Tage tritt, ist in der Forschungsliteratur bis jetzt nicht untersucht worden. Unbeachtet bleibt die an dieser Stelle deutlich werdende Untrennbarkeit von Existieren und Bestimmtsein in den Betrachtungen Susan Ford Wiltshires („Boethius and the summum bonum“, S. 217) und Pierre Courcelles (La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 163). 133 Vgl. Boethius Cons. III, 10, 7. 134 Vgl. ebd. III, 9, 32. Dass eine solche inhaltliche Bestimmung der beatitudo notwendig ist, ergibt sich vor allem daraus, dass sie bislang lediglich rein formal als summum bonum oder als ein vollkommener Zustand der absoluten Mangellosigkeit bestimmt worden war. 135 Wie der Kontext zeigt, ist es dies, worauf die Rede davon, „worin das vollkommene Glück wohnt“, abzielt.
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gendem. Die bis zu diesem Punkt vorgenommenen Bestimmungen der Glückseligkeit sind rein formal geblieben. Dementsprechend war bislang lediglich festgestellt worden, dass die beatitudo das höchste Gut darstelle und dass von einem Begriff des vollkommenen Glückes auszugehen sei, wenn man überhaupt von einem unvollkommenen Glück sprechen will. Was die Glückseligkeit jedoch ihrem Inhalt nach ist, ist damit noch nicht zur Sprache gebracht worden.¹³⁶ Den Ausgangspunkt der zur Bestimmung der Glückseligkeit entwickelten Argumentation bildet die folgende Überlegung. Dass Gott als das „Prinzip aller Dinge“ (rerum omnium princeps) „gut“ (bonus) ist, dies, so die Philosophia, erweise (probat) der „den Geistern der Menschen gemeinsame (gegebene) Begriff“¹³⁷ (communis humanorum conceptio animorum).¹³⁸ Wenn nämlich, so das dazu gehörige Argument, nichts Besseres als Gott gedacht werden kann, stellt sich die Frage, wer bezweifeln würde, dass das, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, auch „gut ist“ (bonum esse).¹³⁹ Neben dem Umstand, dass die Philosophia die Prinzipienhaftigkeit Gottes hier wie angekündigt an den Anfang ihrer Beweisführung stellt,¹⁴⁰ fallen an dieser Stelle vor allem die Parallelen zu Überlegungen auf, wie sie bei Augustinus zu finden sind.¹⁴¹ Besonders ins Auge fällt dabei, dass die Philosophie von Gott sagt, dass „über ihn hinaus nichts Besseres gedacht werden kann“ (quo nihil melius excogitari queat). Diese Formulierung, die Boethius in abgewandelter Form bereits bei seiner Definition des bonum in Consolatio III, 2, 2f. verwendet,¹⁴² kommt an verschiedenen Stellen – wenn auch jeweils mit leichten Varianten – in Augustinus’ Werk vor.¹⁴³ An diesen bringt sie zum Ausdruck, dass Gott insofern als das höchste Gut anzusehen ist, als über ihn hinaus nichts Besseres gedacht werden kann.¹⁴⁴
136 Vor allem die zuvor bereits diskutierte aristotelische Kritik an Platons Begriff der εὐδαιμονία hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des höchsten Gutes von fundamentaler Bedeutung dafür ist, dieses Gut als ein für den Menschen tatsächlich erstrebbares auszuweisen. 137 Aus welchem Grund conceptio hier mit „gegebener Begriff“ übersetzt wird, wird weiter unten eigens erläutert werden. 138 Vgl. Boethius Cons. III, 10, 7. 139 Vgl. ebd.: „nam cum nihil deo melius excogitari queat, id quo melius nihil est bonum esse quis dubitet?“ 140 Weshalb sie dies tut, wird sogleich einige Zeilen weiter unten deutlich werden. 141 Dass Boethius die Werke des Augustinus genau studiert hat und ein Kenner dieser Werke war, ist in der Forschungsliteratur schon früh bemerkt worden. Vgl. z. B. Raoul Carton: „Le christianisme et l’augustinisme de Boèce“, S. 243–329; Edmund T. Silk: „Boethius’s Consolatio Philosophiae as a Sequel to Augustine’s Dialogues and Soliloquia“, in: Harvard Theological Review 32,1 (1939), S. 19–39, hier S. 21 und die dort angegebenen Stellen bei Boethius und in der bis dahin erschienenen Literatur. 142 Vgl. Boethius Cons. III, 2, 2: „Id autem est bonum, quo quis adepto nihil ulterius desiderare queat.“ 143 Vgl. z. B. Augustinus Confessiones VII, 4, 6; De moribus ecclesiae II, XI, 24; De libero arbitrio II, 6, 14; De doctrina christiana I, 7, 7; De natura boni liber 1 (CSEL 25/2, 855). 144 Dies ist bereits im Rahmen der Betrachtung der augustinischen Konzeption genauer erarbeitet worden. Den Zusammenhang zwischen der genannten Formulierung und der Charakterisierung Got-
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Schaut man sich nun genauer an, wie Augustinus die These, dass Gott das höchste Gut sei, begründet, zeigt sich noch eine weitere Parallele zu der eben angeführten ersten boethianischen Überlegung zur Güte Gottes. Augustinus zufolge stellt sich das Wissen darüber, dass Gott das summum bonum ist, als ein gegebenes dar; ist es doch Gott selbst in der trinitarischen Person des Sohnes, der für und vor uns den Begriff seiner vollkommenen Einheit dahin gehend entfaltet, dass er uns sich selbst als das höchste Gut vorstellt.¹⁴⁵ Ebendieser Gegebenheitscharakter des Wissens um die Güte Gottes wird in der hier behandelten Passage Consolatio III, 10, 7 aufgenommen. Boethius bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass er die Philosophie von einer den Geistern der Menschen gemeinsamen conceptio sprechen lässt, welche die göttliche Güte „erweist“ oder „offenlegt“ (probare). Demnach stellt es sich auch laut Boethius – zumindest zunächst – als das Ergebnis eines concipere, eines Aufnehmens oder Empfangens, dar, dass der Mensch gleichsam in einem Akt der, um mit Heribert Boeder zu sprechen, „conceptualen Vernunft“ eine Einsicht in die Güte Gottes gewinnt.¹⁴⁶ In der Übernahme des augustinischen Begriffes Gottes als „dasjenige, über welches hinaus nichts Besseres gedacht werden kann“ und mit der Rede von einer die Güte Gottes erweisenden conceptio stellt Boethius sich an dieser Stelle deutlich in die augustinische Tradition. Er geht jedoch, wie der weitere Verlauf des Textes zeigt, auch weit über diese Tradition hinaus. Inwiefern? „Denn, wer mag bezweifeln, dass, wenn nichts Besseres als Gott gedacht werden kann, das, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, gut ist?“ (III, 10, 24f.) Wie ein genauerer Blick auf diese Frage der Philosophia zeigt, ist bei aller Parallelität zu augustinischem Gedankengut, welche Boethius’ Aufnahme der besagten Wendung aufscheinen lässt, dennoch ein wichtiger Unterschied bezüglich der Verwendung der Gottesprädikation zu erkennen. Während Augustinus nämlich – wenn
tes als summum bonum zeigt vor allem die Stelle Confessiones VII, 4, 6. In dieser heißt es: „neque enim ulla anima umquam potuit poteritve cogitare aliquid, quod sit te melius, qui summum et optimum bonum es.“ 145 In aller Ausführlichkeit ist dies bereits dargelegt worden. Hier sei daher lediglich nochmals eine der für diese Thematik zentralen Textstellen aus Augustinus’ De moribus ecclesiae I, 8, 13 zitiert. Augustinus schreibt dort: „uideamus quemadmodum ipse dominus in euangelio nobis praeceperit esse uiuendum; quomodo etiam Paulus apostolus: has enim scripturas illi condemnare non audent. audiamus ergo quem finem bonorum nobis, Christe, praescribas; nec dubium est quin is erit finis, quo nos summo amore tendere iubes: diliges, inquit, dominum deum tuum (...) audiuimus quid diligere, et quantum diligere debeamus: eo est omnino tendendum, ad id omnia consilia nostra referenda. bonorum summa, deus nobis est.“ 146 Vgl. dazu Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, S. 48. Hier merkt Boeder bezüglich des metaphysischen Wissens, in dessen Tradition man sowohl Augustinus als auch Boethius wird stellen können, an, dass dieses „(…) dem Denken einer Vernunft entspringt, die stets in dem Sinne „conceptual“ gewesen ist, daß sie sich der Vorgabe eines Wissens annahm, das sie nicht selber erbracht hatte.“
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auch nicht immer¹⁴⁷ – die Bestimmung Gottes als „id quo nihil melius cogitari possit“¹⁴⁸ in eine enge Verbindung dazu setzt, dass Gott das summum bonum ist,¹⁴⁹ schließt Boethius an der angegebenen Stelle nur den Zweifel daran aus, dass Gott bonus ist. Dass dies nicht einer Nachlässigkeit des Boethius oder gar dem Zufall geschuldet ist, zeigt der weitere Verlauf der von der Philosophia vorgetragenen Beweisführung zur vollkommenen Güte Gottes. Auf solche Weise aber zeigt die Vernunft auf (ratio demonstrat), dass Gott gut ist, dass sie unwiderleglich dartut (convincat), dass auch das vollkommene Gute in ihm ist. Denn, wenn es sich nicht in dieser Weise verhielte, könnte er nicht das Prinzip aller Dinge sein.¹⁵⁰
Boethius’ Begründung dafür, weshalb das vollkommene Gute in Gott zu finden ist, stellt das Zentrum und den Höhepunkt der Überlegungen der gesamten Consolatio Philosophiae dar. Zudem zeigt sie in komprimierter Form, was den Gedankengang des Boethius von der augustinischen Konzeption Gottes als summum bonum unterscheidet. Einen ersten Anhaltspunkt für diese Einschätzung gibt dabei die herausragende Stellung, die Boethius hier der mit „Vernunft“ übersetzten ratio einräumt.¹⁵¹ Sie ist es, die, wie die Philosophia erklärt, nicht nur aufzeigt, dass Gott gut ist, sondern darüber hinaus auch unwiderleglich dartut, dass sogar das vollkommene Gut in ihm ist. Auf den ersten Blick scheint eine solche Aussage gut augustinisch zu sein; verleiht doch Augustinus selbst der ratio ebenfalls einen außerordentlich hohen Rang, wie
147 Nicht explizit damit in Verbindung gebracht, dass Gott das summum bonum ist, wird die Formulierung beispielsweise in De doctrina christiana I, 7, 7: „omnes tamen certatim pro excellentia dei dimicant nec quisquam invernie potest, qui hoc deum credat esse, quo est aliquid melius.“ 148 Diese Formulierung der Gottesprädikation soll hier als eine die genannten Varianten zusammenfassende betrachtet werden. 149 Vgl. u. a. Augustinus De natura boni liber 1 (CSEL 25/2, 855): „summum bonum, quo superius non est, deus est; ac per hoc incommutabile bonum est; ideo vere aeternum et vere immortale“; De moribus ecclesiae II, XI, 24: „summum bonum omnino et quo esse aut cogitari melius nihil possit, aut intelligendus aut credendus est deus, si blasphemiis carere cogitamus“; Confessiones VII, 4, 6: „neque enim ulla anima umquam potuit poteritve cogitare aliquid, quod sit te melius, qui summum et optimum bonum es“. Wie hier deutlich wird, besteht die von Augustinus aufgebaute Verbindung zwischen der Gottesprädikation und der Güte Gottes nicht im Sinne einer Begründung. Augustinus argumentiert hier nicht, dass Gott das summum bonum sei, weil er das ist, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann. Die Prädikation ist eher als eine Explikation des Gedankens aufzufassen, dass Gott das summum bonum ist. 150 Boethius Cons. III, 10, 8f.: „Ita vero bonum esse deum ratio demonstrat, ut perfectum quoque in eo bonum esse convincat. Nam ni tale sit, rerum omnium princeps esse non poterit.“ 151 Zur Problematik einer solchen Übersetzung, vgl. Thomas Jürgasch/Ahmad Milad Karimi: „‚Nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.‘ Überlegungen zum Begriff einer vernünftigen Religion“, in: Thomas Jürgasch/Ahmad Milad Karimi/Georg Koridze/Karlheinz Ruhstorfer (Hrsg.): Gegenwart der Einheit. Zum Begriff der Religion (Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages Bernhard Uhdes), Freiburg/Berlin/Wien 2008, S. 167–185.
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beispielsweise seine Unterredung mit ihr in den Soliloquia zeigt.¹⁵² Überdies findet sich beispielsweise in Augustinus’ De moribus ecclesiae eine Formulierung, die der eben zitierten boethianischen sowohl der Form als auch dem Inhalt nach frappierend ähnelt und die ebenfalls die ratio als diejenige benennt, die den Menschen über die Güte Gottes belehrt.¹⁵³ Mögen Augustinus und Boethius nun auch darin übereinstimmen, dass die ratio es vermag, die Güte Gottes aufzuzeigen, so ist doch die Art und Weise, wie die Vernunft dies tut, bei beiden unterschiedlich gedacht. Dies zeigt vor allem die eben angeführte Begründung, welche die Philosophia dafür gibt, weshalb das vollkommene Gut in Gott zu finden ist. Wäre dem nämlich nicht so, erklärt sie, und läge das perfectum bonum außerhalb Gottes, könnte er nicht das Prinzip aller Dinge sein. Diese Begründung mag zwar zunächst recht unverdächtig erscheinen – dies erklärt vielleicht, weshalb sie in der Kommentarliteratur bisher nicht weiter beachtet worden ist – doch ist ihre Verwendung von immenser Tragweite, wie sich bei genauerem Hinsehen deutlich zeigt. Zum einen nämlich setzt sie einen wesentlichen Unterschied hinsichtlich der augustinischen (rationalen) Überlegung dazu, dass Gott das summum bonum darstellt. Dieser, so war dargelegt worden, hatte das Wissen darum, dass Gott das höchste Gut ist, gleichsam aus einer Entfaltung des Begriffes der göttlichen absoluten Einheit gewonnen. So ist Gott augustinisch gedacht insofern als das höchste Gut anzusehen, als er vollkommen einfach und mithin auch vollkommen mangellos ist. Das Wissen um dieses ist in zweifacher Hinsicht ein gegebenes; erstens insofern, als das Wissen um das Eine göttlichen Ursprungs und somit gegeben ist; zweitens insofern, als auch die Entfaltung dieses Wissens eine von Gott gegebene ist; schreibt doch Christus, wie Augustinus in De moribus ecclesiae schreibt, und damit Gott selbst dem Menschen vor, Gott als dem höchsten Gut unter allen Umständen anzuhängen.¹⁵⁴ Über diese Ent-
152 Eine Reihe wichtiger Bemerkungen zu den Parallelen zwischen der Consolatio Philosophiae und den Soliloquia des Augustinus finden sich in Edmund T. Silks Aufsatz „Boethius’s Consolatio Philosophiae as a Sequel to Augustine’s Dialogues and Soliloquia“, S. 19–39; vgl. dazu auch Peter L. Schmidt: „Zur Typologie und Literarisierung des frühchristlichen lateinischen Dialogs“, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Christianisme et formes littéraires de l’antiquité tardive en occident, (Reihe: Entretiens sur l’antiquité classique, Bd. 23), Genf 1963, S. 101–190, hier S. 125. 153 So heißt es in Augustinus De moribus ecclesiae II, 11, 20: „docet enim ratio, nec sane recondita, sed in promptu sita et exposita omnium intellectui, sed invicta et eo invictior quod eam nemo ignorare permittitur, deum esse incorruptibilem, incommutabilem, inviolabilem, in quem nulla indigentia, nulla imbecillitas, nulla miseria cadere possit.“ 154 Vgl. Augustinus De moribus ecclesiae I, 8, 13: „uideamus quemadmodum ipse dominus in euangelio nobis praeceperit esse uiuendum; quomodo etiam paulus apostolus: has enim scripturas illi condemnare non audent. audiamus ergo quem finem bonorum nobis, Christe, praescribas; nec dubium est quin is erit finis, quo nos summo amore tendere iubes: diliges, inquit, dominum deum tuum (...) audiuimus quid diligere, et quantum diligere debeamus: eo est omnino tendendum, ad id omnia consilia nostra referenda. bonorum summa, deus nobis est.“
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faltung des gegebenen Begriffes der göttlichen Einheit hinaus findet sich in Augustinus’ Werk kein explizites Argument dafür, weshalb Gott als das summum bonum aufgefasst werden sollte.¹⁵⁵ Vereinfacht gesagt bedeutet dies: Nach Augustinus ist Gott nicht deswegen zuhöchst gut, weil er in einer bestimmten Weise verfasst ist oder über eine bestimmte Eigenschaft verfügt. Vielmehr ist er das höchste Gut, indem er vollkommen einheitlich ist.¹⁵⁶ Im Unterschied dazu geht die Argumentation, die Boethius entwickelt, um zu zeigen, weshalb Gott das summum bonum ist, über eine bloße Entfaltung des Einheitsbegriffes Gottes hinaus.¹⁵⁷ So nimmt er zwar, wie der erste Teil des oben genannten Argumentes zeigt, die augustinische conceptio Gottes als „id quo nihil melius excogitari possit/queat“ auf, doch verwendet er diesen Gottesbegriff anders als Augustinus nicht zu einer Explikation dessen, dass Gott das höchste Gut ist. Da Gott dasjenige ist, worüber hinaus nichts Besseres gedacht werden kann, ist er Boethius zufolge zwar sicherlich gut – Grund genug dafür anzunehmen, dass deswegen auch das vollkommene Gut in Gott zu finden sei, ergibt sich im Ausgang von dem besagten Gottesbegriff für Boethius allerdings nicht. Den Schluss, dass dieses Gut in Gott zu finden und er, wie die Philosophia ein wenig später zeigt, mithin das höchste Gut ist, zieht er vielmehr daraus, dass Gott, wenn nicht das vollkommene Gut in ihm wäre, nicht der rerum omnium princeps sein könnte. Wie hier deutlich wird, nimmt Boethius das von Augustinus eingesehene gegebene Wissen um die Güte Gottes lediglich als Ausgangspunkt, um in der Folge einen eigenen Begründungszusammenhang zu entwickeln, der nach Art eines aristotelischen Syllogismus aufzeigt,¹⁵⁸ weshalb Gott nicht nur gut,
155 Freilich erklärt auch Augustinus beispielsweise in De Trinitate VIII, 3, 4, dass Gott als „das Gute selbst“ (ipsum bonum) nicht durch ein anderes Gut gut sei (non alio bono bonum), sondern das „Gut jedes Gutes“ (bonum omnis boni). Allerdings handelt es sich hier ebenfalls um die Entfaltung eines Begriffes, nämlich desjenigen des „Guten selbst“ und nicht um ein Argument dafür, dass Gott mit dem summum bonum gleichzusetzen ist. 156 Die These, dass Gott einheitlich sei, steht dabei deswegen nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass er nicht aufgrund einer Eigenschaft gut sei, da sein Eines-Sein nicht im Sinne einer eine Zweiheit implizierenden Prädikation aufzufassen ist, sondern gerade alle Vielheitlichkeit ausschließt. Wollte man dabei anführen, dass Augustinus die Güte Gottes aus dessen Mangellosigkeit schließe, so wäre dazu zu bedenken, dass die These, „Gott habe keinen Mangel“ oder er sei „mangellos“, streng genommen nur eine Negation beinhaltet, indem gesagt wird, welche Bestimmung Gott nicht zukommt. 157 Dies zeigt bereits das „nam“ an, das die Philosophia an den Anfang dieser Begründung stellt. Vgl. dazu Boethius Cons. III, 10, 9. Dass Gott aufgrund seiner Prinzipienhaftigkeit das summum bonum ist, sagt die Philosophie explizit in Cons. III, 10, 16. Eine Gegenthese vertritt in diesem Zusammenhang Claudio Moreschini in Varia Boethiana, S. 19. Moreschini zufolge gilt: „Innanzitutto, la stessa identificatione di Dio col summum bonum in Boezio, è preponderante rispetto alla identificazione di Dio con l’unum.“ 158 Der Begriff des „Aristotelischen“ ist hier so zu verstehen, dass er auch die in seiner Tradition stehenden und ihm nachfolgenden Denker wie vor allem Theophrast und Eudemus umfasst. Zur boethianischen Rezeption dieser Tradition bezüglich des hypothetischen Syllogismus, vgl. Anthony Speca: Hypothetical Syllogistic and Stoic Logic, (Reihe: Philosophia Antiqua. A Series of Studies on Ancient
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sondern vollkommen gut ist.¹⁵⁹ Dieser Syllogismus, der genauer als ein „hypothetischer Syllogismus“ zu charakterisieren ist,¹⁶⁰ wird gebildet durch eine Implikation im modus tollens. Das heißt, aus der Verneinung des Consequens folgt notwendig die Verneinung des Antecedens. Im Text findet sich dies in folgender Weise umgesetzt: „Wenn nicht das vollkommene Gut in Gott wäre,¹⁶¹ könnte er nicht das Prinzip aller Dinge sein.“ – „Gott ist das Prinzip aller Dinge.“ – Folglich gilt: „Das vollkommene Gut ist in Gott.“¹⁶²
Das aus diesem Schluss gewonnene Wissen ist dabei zwar zum Teil gegründet in einem gegebenen Wissen – welche Aspekte dieses Wissen umfasst, wird sogleich erörtert werden –, gleichzeitig stellt es aber auch ein eigenständiges, seinen Ursprung in der menschlichen ratio habendes Wissen dar, da es das Ergebnis eines logischen Schlusses ist. Laut Boethius ist es nämlich die Vernunft, die zeigt (ratio demonstrat), dass Gott das vollkommene Gut in sich hat, indem sie dies aus dessen Prinzipienhaftigkeit schließt.¹⁶³ Vereinfacht gesagt geht Boethius hier demnach wie folgt vor: Er zieht aus Prämissen, die teilweise ein gegebenes Wissen beinhalten, einen Schluss, der selbst nicht mehr gegeben ist, sondern sich der eigenständigen Tätigkeit der menschlichen Vernunft verdankt.¹⁶⁴
Philosophy, Bd. 87), Leiden 2001, S. 67–70. Ein weiteres Beispiel für die boethianische Auseinandersetzung mit der aristotelischen Logik untersucht u.a. Monika Murdoch-Asztalos: „Boethius on the Categories“, in: Alain Galonnier (Hrsg.): Boèce ou la chaîne des saviors. Actes du colloque international de la Fondation Singer-Polignac, Paris, 8–12 Juin 1999, Paris 2003, S. 195–205. 159 Dazu, dass Boethius im Allgemeinen augustinisches Gedankengut nach Art von semina rationum zugrunde legt, welches er dann mit Hilfe der Logik neu bedenkt und begründet, vgl. Robert D. Crouse: Semina Rationum. St. Augustine and Boethius“, S. 84. Für seine Rede von den semina rationum verweist Crouse selbst auf den Prolog zu Boethius’ Schrift De Trinitate. 160 Der hypothetische Syllogismus wird bei Aristoteles beispielsweise in der Ersten Analytik 45b 17–19 behandelt. Vgl. dazu u. a. Paul Slomkowski: Aristotle’s Topics, Leiden 1997, S. 95f. 161 Wörtlich schreibt Boethius nur: „wenn es sich nicht so verhielte“ (ni tale sit), doch zeigt der vorhergehende Satz, dass damit gemeint ist: „Wenn das vollkommene Gut nicht in Gott wäre.“ 162 Boethius Cons. III, 10, 9: „Nam ni tale sit, rerum omnium princeps esse non poterit.“ Zur Form des hypothetischen Syllogismus, vgl. Luca Obertello: Anicius M. Boethius De hypotheticis syllogismis. Testo, Traduzione, Introduzione e Commentario (Logicalia 1), Brescia 1969; die für das hier Ausgeführte relevante Stelle ist De hypotheticis syllogismis 1, 5; hilfreiche Kommentare zu Boethius’ Begriff des hypothetischen Syllogismus finden sich u. a. auch bei Anthony Speca: Hypothetical Syllogistic and Stoic Logic, S. 67–100; vgl. zudem John Marenbon: Boethius, S. 50–56. 163 Indem die Philosophie den Prinzipiencharakter Gottes als die entscheidende Prämisse für ihren Schluss auf die vollkommene Güte Gottes verwendet, löst sie ihr im ersten Buch (vgl. Cons. I, 6, 20) gegebenes Versprechen ein, dass das Boethius noch gebliebene Wissen darum, dass nicht der Zufall, sondern Gott der Lenker des Geschickes der Welt ist, den Ausgangspunkt für seine Heilung darstellen werde. 164 In dieser Weise interpretiert auch Thomas von Aquin Boethius’ Vorgehen, wenngleich er dies mit Blick auf dessen Methode im Allgemeinen feststellt. Vgl. dazu den Prolog zu Thomas’ Expositio super librum Boethii de Trinitate (Kapitel 5): „Boethius vero elegit prosequi per alium modum, scilicet per
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Was das Gegebensein des von Boethius für seinen Schluss vorausgesetzten Wissens betrifft, so umfasst dies die folgenden Elemente. Zum einen gehört dazu das Wissen um den Begriff einer vollkommenen Einheit, die Boethius mit Gott gleichsetzt, und um die der Mensch nur deswegen wissen kann, weil sie sich ihm selbst bekannt gemacht hat. Vorauszusetzen für das oben angeführte Argument ist das Wissen um die Einheit dabei insofern, als sich aus der Einheit Gottes auf dessen Prinzipienhaftigkeit schließen lässt. Als gegeben ist zudem das Wissen um die für Boethius’ Argument ebenfalls vorauszusetzende Güte Gottes, die sich dem Begriff nach aus dem gegebenen Wissen um die göttliche Einheit entfalten lässt.¹⁶⁵ Nicht gegeben ist hingegen das Wissen darum, dass Gott als die vollkommene Einheit das Erste Prinzip ist; ist dies doch boethianisch gedacht qua ratione einsehbar, sofern man in Kenntnis des Begriffes der vollkommenen Einheit ist.¹⁶⁶ Nicht gegeben ist des Weiteren der Begriff dessen, was formal gesehen ein Prinzip ausmacht. Auch dies kann der Mensch selbst einsehen, wie das Beispiel des Aristoteles zeigt, dessen Prinzipienbegriff der Form nach auch von Boethius vorausgesetzt wird. Die boethianische Argumentation zur vollkommenen Güte Gottes zeigt nicht nur auf, weshalb anzunehmen ist, dass Gott das vollkommene Gut in sich trägt. Darüber hinaus eröffnet sie auch den Blick auf eine Möglichkeit, wie der Mensch kraft seiner ratio über Gott nachzudenken vermag. Wollte man dies ein wenig plakativ formulieren, könnte man sagen: Das Urteil, dass Gott das perfectum bonum in sich hat und das summum bonum ist, kann, wie die Consolatio Philosophiae zeigt, nicht nur die Theologie, sondern auch die Philosophie fällen; lässt sich doch wie gesehen allein mit Hilfe der menschlichen ratio der logische Schluss ziehen, dass Gott das höchste Gut ist.¹⁶⁷ Dies bedeutet freilich nicht, dass nicht auch die boethianische Philosophie von Prämissen ausgehen kann und bisweilen sogar muss, die dem Bereich des gegebenen Wissens entstammen. Wesentlich ist an dieser Stelle allerdings, dass in Fällen wie dem hier erörterten die Möglichkeit besteht, dass die Philosophie unter der Anwendung der menschlichen ratio Begründungszusammenhänge aufzeigen und zu Schlüssen kommen kann, die sich ansonsten nur als Entfaltungen eines gegebenen theologischen Wissens des „Logos Gottes“ im genitivus subiectivus et obiectivus ergeben.¹⁶⁸
rationes, praesupponens hoc quod ab aliis per auctoritates fuerat prosectum.“ 165 Hier tritt vor allem das augustinische Erbe des Boethius deutlich zu Tage. 166 Dies haben bereits die Ausführungen zu Plotins Denken gezeigt. 167 Vgl. Claudio Moreschini: Varia Boethiana, S. 15: „Ma tale identificazione di Dio con il summum bonum, che risale in ultima analisi a Porfirio, non è una novità di Boezio, anche se totalmente originale è, senza dubbio, lo svolgimento dialettico per mezzo del quale Boezio giunge a tale conclusione.“ 168 Vgl. dazu Robert D. Crouse: „Semina Rationum. St. Augustine and Boethius“, S. 81: „For him [i. e. Boethius], as for Eriugena, and for early scholaticism generally, faith is the preliminary form of a knowledge which the philosopher attempts to establish by necessary reasons, by logical explication (…) In method, the Consolation and the Tractates are similar; in either case it is a matter of the logical explication of received (i. e. „universal“) beliefs, and the explication is itself the demonstration,
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Indem die Philosophie als eine bestimmte Form des menschenmöglichen „rationalen“ Wissens ein der Notwendigkeit nach begründetes sicheres Wissen bezüglich der Güte Gottes einsieht, setzt sie das praktisch um, was im ersten Buch der Consolatio mit dem Bild¹⁶⁹ der in den Himmel ragenden und sich dem Anblick der Menschen entziehenden Philosophia zum Ausdruck gebracht worden war: das Sichaufrichten zum höchsten Gipfel der Einsicht, welches Boethius im fünften Buch explizit als eine Möglichkeit des menschlichen Denkens benennt.¹⁷⁰ Wie hier bereits zuvor angemerkt worden ist, hat der diesen Gipfel Erreichende laut Boethius an nichts Geringerem Anteil als am „Urteil des göttlichen Denkens“ (divinae iudicium mentis), das Markus Enders zufolge auch als die „eigentümliche Erkenntnisweise des göttlichen Geistes“ angesehen werden kann.¹⁷¹ Einen Hinweis darauf, dass die Frage nach der Bestimmung des summum bonum einen ebensolchen mit Hilfe der ratio erörterbaren Fall eines Eindringens in die Sphäre des Himmlischen darstellt, gibt übrigens bereits der Umstand, dass Boethius das besagte Problem im Dialog mit der Philosophia und nicht im Zwiegespräch mit einer Personifikation der Theologie erörtert. Sieht man es als einen wesentlichen Zug der mittelalterlichen Scholastik an, dass sie die Theologie zu einer scientia divina nach dem Vorbild der aristotelischen Wissenschaftslehre zu entwickeln sucht,¹⁷² ist Boethius in gewisser Weise nicht nur als „der letzte Römer“, sondern auch als „der erste Scholastiker“ anzusehen;¹⁷³ zeichnet
conjoining faith and reason.“ Inwiefern Boethius von der Möglichkeit ausging, eine gänzlich auf im eben beschriebenen Sinn rationalen Schlüssen basierende Theologie zu entwickeln, muss fraglich bleiben. In die Richtung einer solchen Möglichkeit argumentiert beispielsweise Pierre Courcelle in La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 337–344 und in Late Latin Writers and their Greek Sources, übersetzt von Harry E. Weddeck, Cambridge (Mass.), 1969, S. 318–322. Gegen Courcelles Auffassung spricht beispielsweise der Umstand, dass Boethius’ oben beschriebene Schlussfolgerung zumindest teilweise ein gegebenes Wissen voraussetzt. 169 Zu diesem Bild, vgl. Boethius Cons. I, 1, 1f. 170 Vgl. ebd. V, 5, 12. 171 Vgl. Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 15, mit einem Verweis auf Boethius Cons. V, 5, 11f. 172 Die Frage, wie die scholastische Methode zu bestimmen ist und ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer einheitlichen scholastischen Methode zu sprechen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Einen guten Überblick dazu bietet der von Ludger Honnefelder, Hannes Möhle und Joachim R. Söder verfasste Artikel „Scholastik“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg 2006, Sp. 199–202. In der vorliegenden Untersuchung soll das oben genannte Kennzeichen der Scholastik arbeitshypothetisch zugrunde gelegt werden. 173 Als locus classicus für die These, dass Boethius der letzte Römer und der erste Scholastiker gewesen sei, ist das mit diesen Worten überschriebene Kapitel in Martin Grabmanns: Die Geschichte der scholastischen Methode. Erster Band: Die scholastische Methode von ihren ersten Anfängen in der Väterliteratur bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, Freiburg 1909, S. 148–177 anzugeben; Grabmann ist allerdings nicht der Erste, der Boethius als den ersten Scholastiker bezeichnet. Er selbst verweist in diesem Kontext auf Cornelius Krieg: „Über die theologischen Schriften des Boethius“, in: Jahresbericht der Görres-Gesellschaft für 1884,24; bisweilen wird das Diktum „Boethius – der erste Scholasti-
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es doch eine Wissenschaft Aristoteles zufolge aus, dass sie im Ausgang von Prinzipien logisch kohärente Schlüsse zieht und sich dabei an den Richtlinien des korrekten logischen Schließens orientiert, wie Aristoteles sie selbst in seinem Organon entwickelt.¹⁷⁴ Für ein ebensolches, die aristotelische Wissenschaftslehre rezipierendes Vorgehen im Bereich des menschenmöglichen Bedenkens und Sprechens über Gott geben Boethius’ Überlegungen zur vollkommenen Güte Gottes in der Consolatio Philosophiae ein frühes und herausragendes Beispiel.¹⁷⁵ Dass in der Consolatio auf aristotelische Denkformen zurückgegriffen wird, zeigt auch der weitere Verlauf der angeführten Argumentation zur Entwicklung einer Einsicht, die den inhaftierten Boethius zu trösten sucht. Auch wenn nämlich jetzt erwiesen sein mag, dass das vollkommene Gute in Gott ist, hat die Philosophie damit noch nicht gezeigt, inwiefern sich aus diesem Wissen ein Trost für Boethius ergibt. In einem ersten Schritt geht die Philosophie in diesem Zusammenhang auf die Konsequenzen ein, die sich aus dem Gedanken ergeben, dass das vollkommene Gut nicht in Gott sei.¹⁷⁶ Dabei wird schnell klar, dass eine solche Annahme ihrer Auffassung nach in einen Selbstwiderspruch führt, da es in besagtem Falle etwas Vorzüglicheres als Gott gäbe, das durch den Besitz des vollkommenen Guten im Rang vortrefflicher (prius) und altehrwürdiger (antiquius) als Gott zu sein schiene. Was die Philosophie hier in Anwendung bringt, ist der von Aristoteles in seinem Prinzipiencharakter eingesehene „Satz vom zu vermeidenden Widerspruch“. Da die These, dass das vollkommene Gut nicht in Gott sei, laut Boethius gegen das Kontradiktionsprinzip verstößt, indem sie behauptet, das Erste Prinzip sei seinem Rang nach nicht das Erste, kann sie nicht gehalten werden. Als Schluss ist daraus zu ziehen, dass die Antithese, gemäß derer sich das vollkommene Gut in Gott, dem Prinzip von allem, findet, notwendig wahr ist.
ker“ auch Lorenzo Valla in den Mund gelegt. Von Bedeutung für den vorliegenden Kontext sind vor allem Grabmanns Überlegungen dazu, wie Boethius’ eigenes Vorgehen die scholastische Methode geprägt hat, vgl. dazu besonders Die Geschichte der scholastischen Methode, S. 175–177; vgl. zudem Raoul Carton: „Le Christianisme et l’Augustinisme de Boèce“, S. 246. 174 Mit Blick auf Boethius’ Schrift Contra Eutychen et Nestorium bemerkt John Marenbon in Boethius, S. 67: „Boethius shows how Aristotelian logic and physics, carefully applied, can show up heretical Christology as incoherent and how, so long as they are taken to apply to God only up to a certain point, they can help to describe orthodox doctrine.“ Dieses Urteil wird man aus den erläuterten Gründen auch auf die Consolatio anwenden dürfen. 175 Die u. a. von Martin Grabmann und Raoul Carton vorgetragene These, dass Boethius der erste Scholastiker gewesen sei, ist insofern differenziert zu betrachten, als die sogenannte „scholastische Methode“ (Martin Grabmann) eine Entwicklung unterlaufen hat. Daher wird man den Einfluss des Boethius je nachdem, welche Phase der Scholastik man in Betracht zieht, als größer oder als kleiner bewerten müssen. Was beispielsweise die Frühscholastik betrifft, wird man Boethius’ Einfluss als weitaus größer als zur Zeit der sogenannten Spätscholastik einschätzen können. Vgl. dazu Robert D. Crouse: „Semina Rationum. St. Augustine and Boethius“, S. 80f. 176 Vgl. Boethius Cons. III, 10, 9f.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Ein weiteres, in der Folge von der Philosophie zur Besicherung der These der vollkommenen Güte Gottes ins Feld geführte Denkprinzip, das als solches ebenfalls von Aristoteles eingesehen worden ist, ist das logische Verbot des regressus in infinitum.¹⁷⁷ Den Ausgangspunkt der hier von der Philosophie vorgetragenen Argumentation bildet die bereits zuvor erörterte Überlegung, dass das Unvollkommene vom Vollkommenen ausgeht und das Letztere seinem Rang nach somit höher steht als das Unvollkommene. Um dabei zu verhindern, dass die ratio hinsichtlich der Frage nach dem vollkommenen Gut, das den Grund der unvollkommenen Güter bildet, ins Unendliche fortschreitet „müsse man bekennen“ (confitendum est), dass der „höchste Gott“ (summus deus) auch erfüllt vom „vollkommenen Gut“ (perfectum bonum) sei. Neben der Anwendung der beiden genannten Denkprinzipien ist es in diesem Zusammenhang vor allem der von Boethius an dieser Stelle zugrunde gelegte Prinzipien-Begriff, der zumindest der Form nach an Aristoteles denken lässt.¹⁷⁸ So nimmt Boethius das aristotelische Verständnis der ἀρχή insofern auf, als der von ihm angesetzte princeps omnium rerum vereinfacht gesagt einen ersten Grund darstellt, der, während er seinerseits vollkommen voraussetzungslos ist, gleichzeitig die Voraussetzung für alles nach ihm Folgende bildet und das Erste in der Kette der Gründe darstellt. Infolgedessen kann nichts gedacht werden, das im Rang höher stünde als das Prinzip und das das Prinzip als solches in seinem Gut- beziehungsweise Vollkommensein übertreffen würde. Wie gezeigt worden ist, erlaubt es Boethius gerade dieser Prinzipien-Begriff, ein Argument dafür zu bilden, dass das vollkommene Gut in Gott ist; schließt er doch aus der Prinzipienhaftigkeit Gottes darauf, dass es nichts geben kann, das vollkommener ist als das seinem Begriff nach vollkommene Erste Prinzip. Indem die Philosophie den Prinzipiencharakter Gottes als die entscheidende Prämisse für ihren Schluss auf dessen vollkommene Güte verwendet, setzt sie in die Tat um, was sie im ersten Buch angekündigt hatte: dass sie die Heilung des Boethius im Ausgang von dem ihm noch gebliebenen Wissen darum, dass nicht der Zufall, sondern Gott der Lenker des Geschickes der Welt ist, bewerkstelligen würde.¹⁷⁹
11.9 Gott ist die Glückseligkeit Wie die Philosophie im Ausgang vom Begriff Gottes als dem Ersten Prinzip und unter Anwendung des aristotelischen Kontradiktionsprinzips des Weiteren zeigt, ist es ebenfalls notwendig anzunehmen, dass Gott seinem „Wesen“ (substantia) nach
177 Vgl. ebd. III, 10, 10. 178 Inhaltlich gesehen ist der boethianische Prinzipienbegriff zudem sehr stark durch neuplatonisches Gedankengut geprägt, wie oben bereits erläutert worden ist. 179 Vgl. Boethius Cons. I, 6, 20.
Gott ist die Glückseligkeit
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das „höchste Gut“ (summum bonum) ist.¹⁸⁰ Da der Philosophie zufolge bezüglich des höchsten Gutes jedoch bereits festgestellt worden war, dass es mit der „Glückseligkeit“ (beatitudo) gleichzusetzen sei, müsse nun auch notwendigerweise (necesse) zugegeben werden, dass Gott die Glückseligkeit ist.¹⁸¹ Nach einer Reihe von weiteren Argumenten, die zeigen sollen, dass die Gleichsetzung der beatitudo mit Gott notwendigerweise anzunehmen ist, erklärt die Philosophie zudem, dass diejenigen, die die Glückseligkeit erreicht haben, zu Gott werden.¹⁸² Diesen auf den ersten Blick merkwürdigen Schluss begründet sie dabei wie folgt.¹⁸³ Wenn man durch das „Erlangen der Glückseligkeit“ (beatitudinis adeptione) zu einem glückseligen Menschen wird, die Glückseligkeit aber die „Göttlichkeit“ (divinitas) selbst ist, so die Philosophia, dann ist daraus zu folgern, dass man durch das „Erlangen der Göttlichkeit“ (divinitatis adeptione) glückselig wird. Ein jeder Glückselige, so ihr Schluss, sei folglich Gott. Da es von Natur aus jedoch nur einen Gott gibt, ist dies mit der Philosophie gedacht so zu verstehen, dass man durch „Teilhabe“ (participatione) an der Göttlichkeit göttlich und somit glückselig wird.¹⁸⁴
180 Vgl. ebd. III, 10, 11–16. 181 Vgl. ebd. III, 10, 17–21; John Marenbons Einschätzung, dass die hier angeführte Bestimmung der beatitudo als summum bonum nicht mit der in Cons. III, 2, 3 angegebenen übereinstimme, ist entgegenzuhalten, dass die Glückseligkeit hier nach einer Reihe von Diskussionen zum Thema der vollkommenen und der unvollkommenen Form des Glückes neu definiert wird. Diese Diskussionen hatten sich u. a. auf die Frage bezogen, inwiefern die Glückseligkeit einheitlich ist und als solche die Summe verschiedener Güter darstellt oder nicht. Das dabei erzielte Ergebnis geht von einer nicht durch eine Summierung von Gütern konstituierten beatitudo aus, deren Vollkommenheit nach der Weise des höchsten Gutes besteht. Zur Kritik John Marenbons, vgl. dessen Aufsatz: „Rationality and Happiness: Interpreting Boethius’s Consolation of Philosophy“, S. 184. Hinsichtlich des hier u. a. zu erkennenden neuplatonischen Bezuges verweist Joachim Gruber in seinem Kommentar (S. 291) auf Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 179–182 und Claudio Moreschini: Varia Boethiana, S. 15f. 182 Vgl. Boethius Cons. III, 10, 25: „Omnis igitur beatus deus.“ 183 Vgl. ebd. III, 10, 23f. 184 Auf die Nähe dieser Konzeption zu Augustinus’ Begriff der Glückseligkeit als ein deum habere hat Werner Beierwaltes in „Trost im Begriff“, S. 324f. hingewiesen. Dass Boethius’ Rede von der adeptio divinitatis keinen Beleg dafür gibt, dass Boethius als ein paganer Philosoph anzusehen ist, sondern damit ganz auf der Linie des Augustinus bleibt, hat Henry Chadwick mit Verweisen auf diverse Parallelstellen in Augustinus’ Werk hervorgehoben. Vgl. dazu Henry Chadwick: Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology, and Philosophy, S. 211; in Varia Boethiana, S. 34, hat Claudio Moreschini zudem mit Blick auf die vorliegende Passage darauf hingewiesen, dass Boethius nicht von einer „Angleichung der menschlichen Natur an Gott“, sondern von einem, wie er den Terminus „adeptio“ übersetzt, „acquisto“ der göttlichen Natur spricht. Zum Verständnis der participatio bei Boethius und zu den augustinischen Wurzeln dieses Verständnisses vgl. auch Claudio Moreschini: „Neoplatonismo e Cristianesimo: ‚partecipare a Dio‘ secondo Boezio e Agostino“, in: Salvatore Pricoco/Francesca Rizzo Nervo/Teresa Sardella: Sicilia e Italia suburbicaria tra IV e VIII secolo: atti del convegno di studi, Catania, 24–27 ottobre 1989, Catania 1991, S. 283–295.
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Mit der Feststellung, dass die Glückseligkeit mit Gott gleichzusetzen und die Glückseligen infolgedessen selbst Anteil an der Göttlichkeit gewinnen, kommt die Philosophie ihrem Ziel, Boethius zu einer tröstenden Einsicht zu führen, einen entscheidenden Schritt näher. Was hier nämlich thematisch relevant wird, ist die bereits im ersten Buch der Consolatio angesprochene Frage nach dem Letztziel der Dinge, die Boethius zunächst nicht beantworten kann.¹⁸⁵ Dass Boethius am Anfang gerade auf diese Frage keine Antwort parat hat, ist dabei, wie John Marenbon gezeigt hat, insofern von Bedeutung, als sein Unwissen in dieser Sache den eigentlichen Grund für seine Klage darstellt.¹⁸⁶ So gilt: Weil Boethius nicht (mehr) weiß, worin die causa finalis des Weltgeschehens und damit auch des menschlichen Strebens besteht, wozu also alles geschieht und unternommen wird, ist er traurig und verzweifelt. Um Boethius zu helfen, seine Verzweiflung zu überwinden, geht die Philosophie in diesem Zusammenhang so vor, dass sie ihrem Patienten in einem ersten Schritt aufzeigt, worin die höchste Zielursache allen menschlichen Strebens besteht.¹⁸⁷ Dabei hält sie fest, dass „alle Sorge der Sterblichen, welche die Mühe ihrer vielfältigen Bestrebungen in Bewegung setzt, (…)“ darauf abziele, die Glückseligkeit als das summum bonum zu erlangen.¹⁸⁸ Was auch immer Menschen tun, wie unterschiedlich sie auch vorgehen mögen, das, worauf ihr Streben ausgreift, ist der Philosophia zufolge letztlich immer die beatitudo. Wie jedoch ist diese ihrem Inhalt nach zu bestimmen? Welches Gut muss man erlangen, um glückselig zu werden? Eine Antwort auf diese bereits im ersten Buch thematisierte und für das gesamte Werk zentrale Frage gibt erst die von der Philosophia in Consolatio III, 10 entwickelte Argumentation, indem diese aufzeigt, dass das vollkommene Gut in Gott, dem Ersten Prinzip, liegt und daher auch die beatitudo mit Gott gleichzusetzen ist. Gott ist vollkommen gut, infolgedessen ist er das höchste Gut und mithin notwendigerweise auch die Glückseligkeit.¹⁸⁹ War eben die Rede davon, dass die philosophische Argumentation zur Gleichsetzung der Glückseligkeit mit Gott einen entscheidenden Schritt in Richtung des Gewinns einer tröstenden Einsicht darstellt, liegt dies in folgender Überlegung begründet. Aus dem nach Boethius’ Verständnis notwendig sicheren Wissen darum, dass Gott die wahre Glückseligkeit ist, ergibt sich nicht nur eine Erkenntnis des höchsten Zieles menschlichen Strebens. Darüber hinaus ist mit dieser Bestimmung der beatitudo auch ein Maßstab gegeben, anhand dessen entschieden werden kann, ob der inhaftierte Boethius tatsächlich als unglücklich zu bezeichnen ist. So stellt
185 Vgl. dazu Boethius Cons. I, 6, 19. 186 Vgl. John Marenbon: Boethius, S. 101. 187 Wie bereits erklärt worden ist, wird damit die Frage nach der höchsten causa finalis auf den Aspekt des Letztziels menschlichen Strebens hin fokussiert. Nichtsdestotrotz ist zu berücksichtigen, dass laut Boethius ein jedes Streben auf Gott als die höchste causa finalis ausgerichtet ist. Dies zeigt der in Cons. III, 11–12 vorgestellte Gedankengang, auf den im Folgenden noch eingegangen wird. 188 Vgl. Boethius Cons. III, 2, 2. 189 Vgl. ebd. III, 10, 17.
Consolatio III, 11–12: Gott als höchste Zielursache
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sich die Situation, in welcher sich Boethius befindet, unter der Voraussetzung, dass Gott die Glückseligkeit ist und diese durch das Erreichen der Teilhabe an der Göttlichkeit erlangt wird, in einem gänzlich anderen Licht dar als zu Beginn der Unterredung zwischen ihm und der Philosophie. Dies verhält sich deswegen so, weil aus der Erkenntnis, dass die menschliche beatitudo im Erreichen der Teilhabe an der Göttlichkeit besteht, zu folgern ist, dass die Lage des Boethius eigentlich keinen Grund dazu gibt, ihn als unglücklich anzusehen; ist doch der Besitz der wahren, in Gott bestehenden Glückseligkeit unabhängig davon, in welchen äußeren Umständen man sich befindet.¹⁹⁰ Solange man Anteil an der göttlichen beatitudo hat, ist der Besitz oder Verlust von äußeren Gütern wie von Reichtümern, Ehren oder Macht gänzlich unerheblich, was das Erlangen und Bewahren der Glückseligkeit angeht.¹⁹¹ Daher ist es der Philosophia zufolge nicht so sehr das „Angesicht“ (facies) des Gefängnisses des Boethius, sondern sein eigenes, das sie bewegt.¹⁹² Niemand anderes nämlich als er selbst habe ihn aus seiner „Heimat“ (patria)¹⁹³ vertrieben, aus welcher man sich ohnehin nur selbst exilieren könne.¹⁹⁴ Ebendieses Vergehens hatte Boethius sich schuldig gemacht, indem er den Verlust von Gütern, deren Besitz für das Erreichen der wahren Glückseligkeit unerheblich ist, beklagt hatte. Mit der Einsicht nun, dass das höchste Gut in Gott liegt und dieser somit die höchste causa finalis auch des menschlichen Tuns darstellt, eröffnet sich Boethius eine Perspektive auf eine Rückkehr in seine Heimat.
11.10 Consolatio III, 11–12: Gott als höchste Zielursache Zur Gänze erreicht ist das Ziel der Philosophie, Boethius in die Heimat zurückzukehren, mit der Vermittlung der besagten Einsicht allerdings noch nicht. Um den Prozess zur Heilung des „verblendeten Geistes“¹⁹⁵ des Boethius zu einem Ende zu führen und die geistige Gesundheit ihres Patienten wieder völlig herzustellen, muss die Philosophie noch weitere Fragen erörtern – vor allem diejenige, wie Gott die Welt beherrscht.¹⁹⁶
190 Vgl. John Marenbon: Boethius, S. 112: „By the end of III.10, then, Philosophy has completed her first task of consolation, by showing Boethius what happiness is and how it is not at all affected by the change of fortune he was bewailing at the start of the work.“ 191 Wie die Philosophie bereits im ersten Buch der Consolatio erklärt, ist der Verlust derartiger Güter mit dem Verlust „unnützen Gepäcks“ zu vergleichen. Vgl. dazu Boethius Cons. I, 3, 13. 192 Vgl. Boethius Cons. I, 5, 6. 193 Zum Motiv der „patria“ siehe auch die Schlussbemerkungen zu Augustinus’ Konzeption eines sicheren Wissens im Bereich der Praxis. 194 Vgl. Boethius Cons. I, 5, 5. 195 Vgl. ebd. I, 2, 5. 196 Dies entspricht der zweiten Frage, welche die Philosophia Boethius in Buch I gestellt hatte.
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Boethius und das Prinzip praktischen Wissens
Im Zentrum dieser vor allem in Consolatio Philosophiae III, 11 und 12 diskutierten Problematik steht die These, dass alles Geschaffene – und nicht nur der Mensch – nach Gott als der höchsten Zielursache strebe.¹⁹⁷ Den Ausgangspunkt der zur Stützung dieser These vorgebrachten Argumentation stellt der Gedanke dar, dass das Gute mit dem Einen gleichzusetzen ist.¹⁹⁸ Begründet wird dies von der Philosophie damit, dass die „von den Vielen“ (pluribus) erstrebten Güter nur dann gut sind, wenn sie alle „eines und dasselbe“ (unum atque idem omnia) sind.¹⁹⁹ Nur dann nämlich, wenn diese Güter wie Macht, Reichtümer, Ehren etc. sich zu einer „Form und Wirksamkeit“ (forma atque efficientia) sammeln, seien sie zu den erstrebenswerten Dingen zu zählen, da ansonsten immer etwas fehle, wofür eines der übrigen Güter steht. Sofern diese Güter durch das Erlangen der Einheit (adeptione unitatis) gut werden, gleichzeitig aber auch gilt, dass alles durch die „Teilhabe am Guten“ (participatione boni) gut wird, wird man, wie die Philosophie schließt, zugeben müssen, dass das Eine und das Gute dasselbe (idem) sind. Denn, so die Begründung, was von Natur aus keine unterschiedliche Wirkung hat, verfügt auch über „dieselbe Substanz“ (eadem substantia).²⁰⁰ Auf dieser – wenn man so will „neuplatonischen“ – Überlegung zur Selbigkeit des Guten und des Einen basiert die weitere Argumentation der Philosophie, in deren Rahmen sie zu zeigen sucht, dass man bezüglich der Gesamtheit des Geschaffenen sagen könne, dass es nach Einheit strebt. Zu entnehmen ist dies laut der Philosophie der leicht auch empirisch nachprüfbaren Tatsache, dass das, was ist, solange im Sein bleibt, wie es eines ist. Hört es allerdings auf, eines zu sein, gehe es sofort zugrunde und löse sich auf.²⁰¹ Verliert nämlich beispielsweise ein Lebewesen die Einheit aus Leib und Seele, so gehe es unter, sei kein Lebewesen mehr.²⁰² Ebenso gelte für den
197 Vgl. dazu und zum Folgenden John Marenbon: Boethius, S. 112–114; zudem John Magee: „The Good and Morality: Consolatio 2–4“, S. 197. Mit der Einsicht, dass Gott die höchste Zielursache von allem ist, wird eine Antwort auf die dritte der Boethius von der Philosophia gestellten Fragen gegeben. 198 Vgl. Boethius Cons. III, 11, 5–9. 199 Zu dieser Argumentation, vgl. ebd. III, 11, 5f. 200 Boethius’ Gleichsetzung des Guten mit dem Einen ist sicherlich vor dem Hintergrund der platonischen und neuplatonischen Tradition zu sehen, wie u. a. Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 179 behauptet. Gleichzeitig ist bezüglich dieser These insofern zu differenzieren, als die sogenannte „platonische Tradition“ in sich recht disparat ist. So ist beispielsweise zu beachten, dass der auch von Scheible angeführte Ansatz Plotins zur Konzeption der genannten Gleichsetzung sich doch sehr stark von dem Platons oder Augustins unterscheidet, die beide sicherlich auch der platonischen Tradition zuzuordnen sind. Auf den an diesem Punkt erkennbaren Unterschied zwischen Plotins Identifikation des Guten mit dem Einen und der bei Boethius feststellbaren wird weiter unten noch im Kontext einer Betrachtung zur Christlichkeit der Consolatio Philosophiae eingegangen werden. 201 Vgl. Boethius Cons. III, 11, 10; vgl. dazu auch Plotin Enneade VI 9, 4–6. 202 Die hier in Boethius Cons. III, 11, 11 verwendete Formulierung „nec iam esse animal liquet“ zeigt deutlich, dass auch für Boethius ein veridikales Seinsverständnis anzunehmen ist.
Consolatio III, 11–12: Gott als höchste Zielursache
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Körper, dass nur dann eine menschliche Gestalt sichtbar werde, wenn dessen Glieder in der Verbindung einer Form zusammenhängen.²⁰³ In dem Moment, in dem die Teile des Körpers getrennt werden, da die sie zusammenhaltende Einheit verloren geht, höre er auf, das zu sein, was er war.²⁰⁴ Da nun, wie die Philosophie im Weiteren ausführt, ein jedes Seiende²⁰⁵ danach strebt zu sein und nicht zu vergehen, das Sein jedoch, wie gezeigt worden ist, ein Eines-Sein ist,²⁰⁶ ist der Schluss zu ziehen, dass alles Seiende nach der Einheit strebt.²⁰⁷ Nimmt man darüber hinaus an, dass das Eine mit dem Guten gleichzusetzen ist, so das Argument weiter, wird man dementsprechend folgern können, dass alles nach dem Guten strebt beziehungsweise das Gute dasjenige ist, welches von allem erstrebt wird.²⁰⁸ Mit dem Aufweis, dass das Gute das Ziel allen Strebens darstellt und mithin als die höchste causa finalis zu begreifen ist, hat die Philosophie, wie der weitere Verlauf des Gedankenganges zeigt, die Grundlage dafür geschaffen aufzuzeigen, wie Gott die Welt beherrscht. Vereinfacht und zusammenfassend gesagt vollzieht sich die Herrschaft Gottes durch das Gute und damit durch ihn selbst.²⁰⁹ Wie in Consolatio Philosophiae III, 12 deutlich wird, ist dies dabei so zu verstehen, dass Gott die Welt insofern durch seine Zielhaftigkeit lenkt, als er in seiner Eigenschaft als die höchste causa finalis die Richtung allen Strebens vorgibt. Indem Gott die Welt in dieser Weise durch das „Steuerruder der Güte“ (clavo bonitatis) lenkt, ist seine Herrschaft keine Unterdrückungsherrschaft; wohnt doch den Geschöpfen eine von Natur aus bestehende Absicht inne, das höchste Ziel zu erlangen.²¹⁰ Daher, schließt die Philosophie, wird man feststellen können, dass das summum bonum nicht nur alles mit Kraft beherrscht, sondern es auch sanft ordnet (regit cuncta fortiter suaviterque disponit)²¹¹. Mit der Erkenntnis der Art und Weise der Herrschaft Gottes erhält Boethius nicht nur eine Antwort auf die noch im ersten Buch der Consolatio von ihm nicht
203 Vgl. ebd. III, 11, 12. 204 Vgl. ebd. Die hier gebrauchte Wendung „desinit esse quod fuerat“ erinnert sehr an Plotin Enneade VI 9, 10–14. 205 In diesem Zusammenhang bemüht sich die Philosophie in Boethius Cons. III, 11, 14–34 aufzuzeigen, dass „alles, was ist“ (cuncta quae sunt), und nicht nur die beseelten Dinge danach streben, zu sein und nicht unterzugehen. 206 Vgl. ebd. III, 11, 36. 207 Vgl. ebd. III, 11, 37. 208 Vgl. ebd. III, 11, 37f. 209 Vgl. ebd. III, 12, 13f. Dass Gott die Welt durch sich selbst beherrscht, entspricht der Bestimmung der mit Gott gleichgesetzten Glückseligkeit als sufficiens. Vgl. dazu ebd. III, 12, 9–12. 210 Vgl. ebd. III, 12, 17. 211 Ebd. III, 12, 22; vgl. dazu auch John Magee: „The Good and Morality: Consolatio 2–4“, S. 197; zu der Frage, ob es sich bei der Formulierung „quod regit cuncta fortiter suaviterque disponit“ um ein Bibelzitat (Weish 8,1) handelt oder hier eine andere Quelle angesetzt werden muss, vgl. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 308.
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beantwortbare Frage danach, wie Gott die Welt beherrscht. Darüber hinaus rundet diese Erkenntnis die von der Philosophie entwickelte Argumentation zum Gewinn der Boethius tröstenden Einsicht ab.²¹² So ergibt sich angesichts der qua ratione besicherten Erkenntnis, dass die wahre Glückseligkeit in Gott, der höchsten Zielursache allen Strebens und Seins, liegt, dass die von Boethius zu Beginn der Consolatio vorgenommene Einschätzung seiner Lage völlig neu bewertet werden muss; erweist sich doch die Annahme, dass der Verlust von Gütern wie Ehren, Ämtern, Reichtümern und sogar des physischen Lebens die Glückseligkeit gefährde, als gänzlich falsch. Der Philosophia zufolge sind Glück und Unglück des Menschen unabhängig davon, in welchen äußeren Umständen er oder sie sich befindet. Solange man sein Streben auf Gott ausrichtet und diesen in seiner Eigenschaft als summum bonum erlangt, ist man glückselig. Daraus ergibt sich des Weiteren, dass, wie vor allem das vierte Buch der Consolatio Philosophiae zeigt, dem oberflächlich zu gewinnenden Eindruck entgegen nicht die schlechten Menschen die Mächtigen und die guten Menschen die Ohnmächtigen sind.²¹³ Dies ist daraus zu folgern, dass die Schlechten aufgrund der verkehrten Ausrichtung ihres Strebevermögens nicht das Gute zu erlangen vermögen und in diesem Sinne ohnmächtig sind. Demnach ist es nicht das Schicksal des unschuldig im Gefängnis sitzenden Boethius, das beklagenswert ist, sondern das derjenigen, die ihn verleumdet und in diese Lage gebracht haben.²¹⁴ Die letze Frage, welche die Philosophie Boethius im ersten Buch gestellt hatte und die bislang noch nicht beantwortet worden ist, bezieht sich darauf, was der Mensch ist.²¹⁵ Als ihm diese Frage zu Beginn der Consolatio gestellt wird, weiß der sich noch im Zustand großer Verwirrung befindliche Boethius sie nur dahin gehend zu beantworten, dass der Mensch ein „vernunftbegabtes und sterbliches Sinnenwesen“ (rationale animal atque mortale) sei.²¹⁶ Auch wenn diese Frage nun nirgends in der Consolatio nochmals eigens thematisiert und erörtert wird, ergibt sich doch indirekt eine Antwort auf sie aus dem, was die Philosophia in den ersten drei Büchern erklärt. Worin diese Antwort besteht, zeigt sich deutlich in den Abschnitten III, c.11,
212 Auch wenn die Philosophie in Cons. IV, 1, 8 erklärt, dass sie Boethius nun noch den Weg zeigen wolle, auf dem er in seine Heimat zurückkehren kann und diese Rückkehr damit am Ende des dritten Buches logischerweise noch nicht ganz verwirklicht ist, kann man dennoch festhalten, dass das Grundlegende zur Tröstung des Boethius an diesem Punkt bereits erörtert worden ist. 213 Vgl. Boethius Cons. IV, 2. 214 Dazu, dass hier mit dem vierten Buch der Consolatio ein Übergang von der teleologischen Sichtweise auf das Gute hin zu einer moralischen Sichtweise zu beobachten ist, vgl. John Magee: „The Good and Morality: Consolatio 2–4“, S. 198–200; John Marenbon: Boethius, S. 114–117. An den hier angegebenen Stellen weisen Magee und Marenbon auch auf die erkennbare Parallele zu Platons Gorgias hin. Inwiefern der eben genannte Übergang zu einer moralischen Sichtweise zu rechtfertigen ist, wird im Rahmen der Erörterung des für die Praxis prinzipiellen Charakters der Einsicht des Boethius diskutiert werden. 215 Vgl. Boethius Cons. I, 6, 15. 216 Vgl. ebd.
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1f. und dann im vierten Buch der Consolatio, dort genauer in IV, 3, 10. Mit Blick auf diese Passagen erklärt Joachim Gruber: Dazu [i. e. zu der wahren Selbsterkenntnis, über die Boethius nicht mehr verfügt hatte, T. J.] ist aber die Wendung nach Innen nötig (3 m. 11, 1 ff.), wo der Mensch die Wahrheit und das Gute und damit Gott findet und zugleich Gott wird (4, 3, 10) (…). Damit ist implizit die Antwort gegeben: Der Mensch ist ein vernunftbegabtes, zur Selbsterkenntnis fähiges und dank seiner unsterblichen Seele ein nach Herkunft und Bestimmung göttliches Wesen.²¹⁷
Wie hier deutlich wird, besteht der Fehler des anfänglich seine Situation beweinenden Boethius, der sich, wie die Philosophie erklärt, ein wenig selbst vergessen hatte,²¹⁸ darin, die Unsterblichkeit seiner Seele außer Acht zu lassen. Weil er vergessen hat, dass er mehr ist als ein sterbliches vernunftbegabtes Sinnenwesen, kommt er nicht auf den Gedanken, dass es ein größeres Ziel, ein höheres Gut geben könnte als das, was man in der Welt erreichen kann. Da sein Blick in dieser Weise verstellt ist, ist er überhaupt nicht in der Lage, die „schönste und größte aller Belohnungen“ (omnium pulcherrimi maximique)²¹⁹ zu erkennen. „Dies ist die Belohnung der Guten, die keine Zeit zerbricht, die niemandes Macht vermindert und keine Bosheit verdunkelt – nämlich Götter zu werden.“²²⁰
11.11 Die trostbringende Einsicht des Boethius in ein Prinzip praktischen Wissens Die Einsicht der Philosophie vermag zu trösten – so das Fazit der Lektüre der Consolatio Philosophiae. Inwiefern jedoch ergibt sich aus dieser Einsicht auch ein prinzipielles Wissen im Bereich der Praxis? Und: Wie unterscheidet sich die boethianische Konzeption dieses Wissens von derjenigen der ihm überkommenen Tradition? Einen Hinweis darauf, dass das Wissen der boethianischen Philosophie auch in einem Bezug zur Praxis steht, gibt bereits der Umstand, dass auf ihrem Gewand ein griechisches Θ und ein Π zu sehen sind. Verbunden sind diese beiden Buchstaben durch Stufen, die nach Art einer Leiter von unten nach oben, das heißt von dem auf dem Gewand unten angebrachten Π zu dem oben angebrachten Θ, führen.²²¹ Dem entspricht, dass Boethius, wie Markus Enders im Ausgang von dessen Kommentar zur Isagoge herausgearbeitet hat, „eine grundsätzliche Zweiteilung der Philosophie
217 Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 161; vgl. zudem Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 26f. 218 Vgl. Boethius Cons. I, 2, 5. 219 Ebd. IV, 3, 8. 220 Ebd. IV, 3, 10. 221 Vgl. ebd. I, 1, 4.
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in die beiden großen Bereiche der theoretischen und der praktischen Philosophie [vornimmt] (…)“²²². Was die auf dem Gewand durch Stufen versinnbildlichte Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen betrifft, so ist dabei, wie Markus Enders im Weiteren erklärt, einerseits an „(…) den Weg von der praktischen zur theoretischen Philosophie nach Art eines Aufstiegs zur Erkenntnis des göttlichen Prinzips und umgekehrt [an] den Weg von der theoretischen zur praktischen Philosophie als einen Abstieg in die Erkenntnis der Welt der intellektuell und dann auch sinnlich erscheinenden Vielheit (…)“ zu denken.²²³ Von grundlegender Bedeutung für die Consolatio Philosophiae als ganze ist in diesem Kontext, dass der Weg über die Stufen in beide Richtungen beschritten werden kann – und nicht nur von der Praxis hin zur Theorie.²²⁴ So umfasst die Philosophie, wie Boethius womöglich im Anschluss an die Position seines zeitweiligen Lehrers Ammonios annimmt,²²⁵ das Wissen um die göttlichen wie auch um die menschlichen Dinge.²²⁶ Dass Boethius zufolge auch die Praxis und nicht – wie noch von Aristoteles angenommen – nur die Theorie zum Gegenstandsbereich eines philosophischen und somit sicheren Wissens zu rechnen ist, zeigt die Consolatio Philosophiae in aller Deutlichkeit; ergibt sich doch aus dem Wissen, das, wie die Consolatio veranschaulicht, rational – und zwar „theoretisch“ – bezüglich des Ersten Prinzips erworben wird,²²⁷ auch ein prinzipielles Wissen für den Bereich der menschlichen Praxis. In der Consolatio wird diese Praxisrelevanz des Prinzipienwissens primär durch den Trostcharakter der besagten Einsicht aufgezeigt. Da Boethius mit Hilfe der ratio einsieht, dass Gott das summum bonum ist, kann er seine Lage anders einordnen, seinen Verlust ins Verhältnis zu dem höchsten Gut setzen und insofern seine Haltung zu diesem „Verlust“ relativieren – was auch immer ihm in der Welt begegnet ist und noch begegnen wird, welche Güter er auch immer erlangt haben mag und noch verlieren wird. Belehrt durch die Philosophia steht für ihn fest, dass er sein Streben und Handeln auf Gott ausrichten muss, um die mit diesem gleichzusetzende beatitudo zu errei-
222 Vgl. Markus Enders: „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 17. 223 Vgl. ebd. S. 17f. 224 Ein ähnliches Auf- und Abstiegsmodell findet sich auch in Platons Politeia, was dort vor allem durch das Proömium des Werkes und das sich in der Mitte findende Höhlengleichnis verdeutlicht wird. Vgl. dazu Thomas Jürgasch: „Ein Abstieg als Aufstieg“, S. 57–67. 225 Die Vermutung, dass Boethius hier Ammonios folgt, äußert Markus Enders in „Die heilende Kraft der Philosophie“, S. 17. 226 Vgl. ebd.; zudem Boethius Cons. I, 4, 3. In dem von Boethius gezeichneten Bild der personifizierten Philosophie wird dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Philosophia beide Buchstaben auf ihrem Gewand hat. 227 Dass das hinsichtlich des Prinzips gewonnene Wissen als „theoretisch“ zu bezeichnen ist, stellt Agnieszka Kijewska: „Boethius’ Conception of the Supreme Good“, in: Dies. (Hrsg.): Being of Good? Metamorphoses or Neoplatonism, Lublin 2004, S. 312, mit einem Verweis auf das zweite Buch von Boethius’ De Trinitate heraus. Zudem ist zu bemerken, dass hier eine Parallele zu Aristoteles’ Begriff der Theorie zu erkennen ist, die bei diesem ebenfalls auf das Prinzip gerichtet ist.
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chen. Abgesehen davon, dass die boethianische Einsicht in die Zielhaftigkeit Gottes ihn selbst zu trösten vermag und infolgedessen auch seine Praxis bestimmt, hat sie wie eben angedeutet auch immense Konsequenzen für die Frage nach einem prinzipiellen Wissen, das auf die Praxis im Allgemeinen anzuwenden ist. Vereinfacht gesagt und auf ihre Hauptaussage reduziert, ist diese Einsicht dabei so zu formulieren: Man kann mit Hilfe der ratio erkennen und zeigen, dass Gott das Prinzip der Praxis ist. Wie dies genauerhin zu verstehen ist, soll im Folgenden kurz und das Wesentliche des hier bereits Erörterten zusammenfassend dargelegt werden. Dass man qua ratione einsehen kann, dass Gott – begriffen als vollkommene Einheit – das Prinzip von Allem ist, dies hat Boethius von Plotin und der diesem nachfolgenden sogenannten „neuplatonischen Tradition“ lernen können.²²⁸ Als die im Sinne einer prima causa efficiens aufzufassende „Quelle aller Dinge“ (fons omnium rerum)²²⁹ ist Gott dabei bereits in dem Sinne auch das Prinzip der menschlichen Praxis, als er den Grund des menschlichen Seins darstellt; muss man doch notwendig annehmen: Nur weil der Mensch ist, kann er auch handeln. Darüber hinaus ist es boethianisch gedacht ebenfalls qua ratione möglich einzusehen, dass Gott nicht nur die erste causa efficiens, sondern auch die letzte causa finalis allen Strebens und als solche auch das summum bonum des menschlichen Handelns darstellt. Aus dieser Einsicht, die hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden Argumentation hier bereits detailliert erörtert worden ist, ergibt es sich, dass Gott auch insofern als das Prinzip der Praxis zu begreifen ist, als er in seiner Eigenschaft als die höchste Zielursache alles Handeln erst in Bewegung setzt und auch zu einem Ende führt.²³⁰ Unter der Voraussetzung, dass Gott das summum bonum ist, lässt sich zudem ein Kriterium entwickeln, anhand dessen gutes von schlechtem Handeln zu unterscheiden ist.²³¹ Dabei gilt: Jede Handlung, die den Menschen näher zu seinem wahren Ziel, nämlich Gott, führt, ist gut; jede, die ihn nicht zu Gott führt, ist schlecht.²³² Obwohl nämlich das höchste Gut das Ziel der Schlechten wie auch der Guten ist,²³³ erreichen doch mit Boethius gedacht nur die Guten die Glückseligkeit. Denn während diese auf dem Weg der Tugendenden nach dem summum bonum streben, suchen die schlechten, durch verschiedene Begierden getriebenen Menschen vergebens ihr Ziel zu erreichen.²³⁴ So erklärt die Philosophie, dass den „menschlichen Handlungen“ (actibus
228 Auf die in der Consolatio erkennbaren Bezüge zu Plotins Denken hat vor allem Helga Scheible in: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, S. 217–229 hingewiesen. 229 Vgl. Boethius Cons. V, 3, 27. 230 Vgl. dazu auch die aristotelische Konzeption des ersten Bewegenden unbewegten, das alles wie ein „Geliebtes“ (ἐρώμενον) bewegt. 231 Dies wird vor allem im vierten Buch der Consolatio thematisiert. 232 Vgl. dazu Boethius Cons. IV, 2. 233 Vgl. ebd. IV, 2, 10. 234 Vgl. ebd. IV, 2, 23.
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humanis) das Gute selbst quasi als „Belohnung“ (praemium) winke, die als solche jedoch nur von den Guten erlangt werden könne.²³⁵ Auf den ersten Blick nun scheint sich Boethius mit der Angabe eines solchen Kriteriums angreifbar für einen Vorwurf zu machen, wie ihn Aristoteles mutatis mutandis gegen Platons praktische Philosophie erhoben hatte. So könnte man an dieser Stelle zu bedenken geben, dass die Maßgabe, man solle zu Gott streben, eine Norm darstelle, von der man nicht wisse, wie sie in konkreten Handlungssituationen umzusetzen ist. Formuliert wird dieser Einwand der Sache nach beispielsweise von John Marenbon. Dieser schreibt in seiner Einführung zu Boethius’ Denken: The consolation does, indeed, have an odd and large gap: there is no indication of how the individual man, Boethius, is supposed to relate to true happiness, which is God.²³⁶
In eine ähnliche Richtung geht auch eine Einlassung Susan Wiltshires, die in ihrem Aufsatz zu Boethius and the summum bonum erklärt: Boethius offers just such a preethical vision, a concept of the ideal good. True, it is one that leaves the hard questions of justice, morality, and mercy unsolved.²³⁷
Ist es jedoch tatsächlich so, dass man Boethius’ Ausführungen nicht entnehmen kann, wie der einzelne Mensch sich in ein Verhältnis zur wahren Glückseligkeit zu bringen vermag? Entwickelt Boethius wirklich nur eine „vorethische Vision“, welche Fragen wie die nach Gerechtigkeit und Moral unberücksichtigt lässt? Auch wenn es auf den ersten Blick so zu sein scheint, dass Boethius lediglich eine Norm angibt, nämlich Gott als das höchste Ziel anzusehen, und bis auf einen Hinweis auf die für das Erreichen dieses Zieles nötige Tugendhaftigkeit nicht erklärt, wie man dieses Ziel konkret verfolgen soll, kommt man doch bei genauerem Hinsehen zu einem anderen Ergebnis. Einen Hinweis darauf, wie die Vermittlung der von Boethius angegebenen Norm in die konkrete Lebenswelt gedacht werden kann, gibt der bereits mit Blick auf die
235 Vgl. ebd. IV, 3, 3. John Marenbon und John Magee haben Boethius in diesem Kontext dahin gehend kritisiert, dass dieser im vierten Buch der Consolatio unvermittelt dazu übergehe, von moralischer Güte und Schlechtigkeit zu sprechen, während er in den Büchern zuvor das Gute und das Schlechte nur teleologisch gefasst hätte. Vgl. John Magee: „The Good and Morality: Consolatio 2–4“, S. 198–200; John Marenbon: Boethius, S. 114–117. Dazu ist zu bemerken, dass ebenso wenig wie bei Platon auch bei Boethius das moralisch gute Handeln von einem teleologisch gesehen guten Handeln zu trennen ist; sprechen doch beide demjenigen Menschen Tüchtigkeit (virtus) zu, der insofern gut handelt, als er sein Handeln auf das wahrhaft höchste Gut ausrichtet; zu Boethius, vgl. Cons. IV, 2, 23. Geht Boethius im vierten Buch der Consolatio dazu über, das Gute als ein „moralisch Gutes“ im Unterschied zu einem teleologischen Guten zu fassen, so ist dies deswegen gerechtfertigt, weil das gute Handeln, boethianisch gedacht, beide der genannten Aspekte umfasst. 236 John Marenbon: Boethius, S. 112. 237 Susan F. Wiltshire: „Boethius and the summum bonum“, S. 220.
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Stoa und auf Augustinus’ ethische Konzeption untersuchte Begriff des Exemplums. Dieser, so sei erinnernd gesagt, wird sowohl von den Stoikern als auch von Augustinus dazu verwendet, zu zeigen, wie die ebenfalls als normativ aufgefassten „Regeln zur Lebensführung“ in die konkrete Lebenssituation und -praxis umgesetzt werden können. Das Beispiel, das der Kirchenvater dabei anführt und das ihm als das Beispiel schlechthin vor Augen steht, ist Jesus Christus. Dessen Beispiel gilt es augustinisch gedacht nachzueifern und den göttlichen Willen, der sich in den eben genannten Regeln ausgefaltet findet, so wie es von Christus vorgelebt wird, zu tun. Formal gesehen in genau dieser Weise findet sich der Begriff des Exemplums auch in der Consolatio verwendet.²³⁸ So berichtet die Philosophie beispielsweise im vierten Buch von Menschen, die, da sie der Folter standhielten, ein „Beispiel“ (exemplum) dafür gegeben haben, dass die Tüchtigkeit nicht durch Übel zu besiegen ist.²³⁹ In derselben Verwendung findet sich der Begriff an einer anderen Stelle im selben Buch, an der die Philosophia ausführt, dass die Hinrichtung einiger Übeltäter anderen Menschen ein Beispiel dafür geben könne, dass es zu vermeiden sei, Böses zu tun. Beide der hier zitierten Stellen verdeutlichen, dass auch Boethius exempla anführt, um den allgemein und gleichsam als Gesetz bestehenden Sachverhalt, dass das gute Tun zur Glückseligkeit hin-, das schlechte Tun jedoch von ihr wegführt, in die Konkretion zu überführen. Während in diesem Zusammenhang diejenigen, die nicht unter der Folter zusammenbrechen, als „gute“ Beispiele zeigen, was es bedeutet, dem Guten unter allen Umständen anzuhängen, verdeutlicht das „schlechte“ Beispiel der aufgrund ihrer Übeltaten Hingerichteten, dass es sich nicht auszahlt, Böses zu tun. Setzt man diesen exemplum-Begriff bei der Interpretation der Consolatio voraus, wird deutlich, dass diese als ganze ein Beispiel im eben erläuterten Sinne beschreibt – nämlich das des Ich-Erzählers.²⁴⁰ So gibt dieser Ich-Erzähler ein Beispiel für einen Menschen, der durch die Belehrung der Philosophie einsieht, dass die wahre Glückseligkeit in Gott allein besteht. Ebendiesem Beispiel sollen auch wir als Leser in dem Sinne nachfolgen, dass wir das in der Consolatio Beschriebene nachvollziehen und nach-denken, dabei gleichsam selbst die Rolle des Ich-Erzählers einnehmen und Folgendes daraus lernen: In welchen äußeren Umständen man sich auch befinden mag,
238 Boethius konnte sich dabei nicht nur auf Augustinus, sondern auch auf Seneca beziehen, der maßgeblich an der Ausarbeitung der Exemplum-Konzeption mitgewirkt hat, und zwar nicht zuletzt beispielsweise mit der ebenfalls der Consolationsliteratur zuzurechnenden Schrift Ad Helviam matrem de consolatione. 239 Vgl. Boethius Cons. IV, 6, 33. 240 Zur Frage nach der Identität des Ich-Erzählers der Consolatio und dem „historischen“ Boethius, vgl. den in Kapitel 11.3 bereits zitierten Aufsatz Reinhold F. Gleis: „In Carcere et Vinculis? Fiktion und Realität in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, hier besonders S. 204-206. Abermals ist auf Reinhold Gleis Warnung vor einer unkritischen Identifikation des Ich-Erzählers mit dem historischen Boethius hinzuweisen, die vor allem für die nachfolgende Interpretation des exemplum-Aspektes der Consolatio zu beachten ist.
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welche weltlichen Güter man gewonnen oder verloren hat; ob man wie der Ich-Erzähler von höchsten Gnaden in tiefste Ungnade gefallen ist – es gilt, sein Streben auf Gott auszurichten und den Geschicken dieser Welt gegenüber gelassen zu bleiben.²⁴¹ Erreicht man diesen Zustand, da man die Tüchtigkeit der Weisheit erlangt hat,²⁴² so ist man, wie Boethius, Platons Gorgias zitierend, schreibt, in der Lage, das zu tun, was man will, und somit frei.²⁴³ Auch wenn Boethius mit seiner Trostschrift kein moralisches Pamphlet verfasst und einige Themen, die man sich womöglich im Kontext einer die Ethik zum Gegenstand nehmenden Schrift behandelt wünscht, außer Acht lässt, wird man ihm wohl kaum den Vorwurf machen können, dass er nicht aufzeige, wie der einzelne Mensch sich in ein Verhältnis zu der nach seiner Auffassung in Gott bestehenden wahren beatitudo setzen kann. Als Einzelne sollen wir dem Beispiel des sich in seiner konkreten Lebenssituation beschreibenden Boethius folgen und seine mit Hilfe der Philosophie gewonnene Einsicht in unserer eigenen Situation zur Anwendung bringen. Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass wir den Wert der von uns als Güter betrachteten Dinge angesichts des Maßstabes des höchsten Gutes bemessen sollen, das, wie man Boethius zufolge qua ratione zeigen kann, in Gott besteht.²⁴⁴
241 Die Notwendigkeit dessen zeigt, wie hier dargelegt worden ist, nichts und niemand anderes als die ratio des Menschen auf – sofern sie philosophisch gebildet ist. 242 Mit dem Erlangen dieser Tüchtigkeit ist dasjenige Streben, das als die „Liebe zur Weisheit“ zu benennen ist, an sein Ziel gekommen und mithin, um im Bild des Boethius zu bleiben, die Aufgabe der Philosophia erfüllt. 243 Dazu, dass die sapientes tun können, was sie wollen, die improbi jedoch nicht, vgl. Boethius Cons. IV, 2, 45, und die dort zitierte Stelle aus Platon Gorgias 466 d–e. Hier liegt der Grund dafür beschlossen, weshalb Boethius, nachdem mit dem vierten Buch der Consolatio die Freiheit von allem Weltlichen erreicht worden ist, im fünften Buch die Frage nach der menschlichen Freiheit angesichts der Allmacht und Allwissenheit Gottes erörtern muss. Zur boethianischen Argumentation bezüglich der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und göttlichem Vorauswissen, vgl. John Marenbon: „Le temps, la prescience et le déterminisme dans la Consolation de Philosophie de Boèce“, in: Alain Galonnier (Hrsg.): Boèce ou la chaîne des saviors. Actes du colloque international de la Fondation SingerPolignac, Paris, 8–12 Juin 1999, Paris 2003, S. 531–546. Auf eine interessante Spannung im boethianischen Freiheitsverständnis in der Consolatio hat John Magee hingewiesen. Diese Spannung lässt sich vor allem mit Blick auf die Bücher I und V feststellen, in welchen das Thema der Freiheit vor ganz unterschiedlichen Hintergründen betrachtet wird. Während es im ersten Buch vor allem um Fragen politischer und physischer Freiheit geht, wird Freiheit im fünften Buch zu einem „logical and metaphysical problem“. Vgl. John Magee: „Boethius’ Consolatio and the Theme of Roman Liberty“, in: Phoenix 59 (2005), S. 348–366, hier S. 348. 244 Wie die Consolatio zeigt, erweist sich eine derartige Bemessung als besonders wichtig in Situationen des Verlustes weltlicher Güter.
Abschließende Bemerkungen zu Boethius
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11.12 Abschließende Bemerkungen zu Boethius Das bislang Ausgeführte zusammenfassend kann man feststellen, dass sich aus der qua ratione erlangten Einsicht, die Boethius mit Blick auf das Erste Prinzip gewinnt, auch ein für die Praxis relevantes prinzipielles Wissen ergibt. Ihrem Inhalt nach besteht diese Einsicht darin, dass Gott nicht nur das Erste Prinzip des Seins und des Denkens darstellt, sondern auch mit dem Prinzip der menschlichen Praxis gleichzusetzen ist. So schafft Gott als der Grund des Seins aller Dinge nicht nur die Bedingung dafür, dass diese überhaupt streben und, was den Menschen betrifft, handeln können. Zugleich setzt er als die höchste causa finalis auch den Zielpunkt dieses Strebens, so dass er Ausgangs- und Endpunkt der Bewegung ist.²⁴⁵ Da sich zudem aus der Gleichsetzung Gottes mit dem summum bonum auch ein Maßstab gewinnen lässt, anhand dessen gutes von schlechtem Handeln zu unterscheiden ist, stellt die Einsicht in die vollkommene Güte Gottes auch insofern eine prinzipielle praktische Einsicht dar, als auch die Frage, was man konkret tun solle, damit beantwortet werden kann; zeigt doch nach Boethius’ Verständnis sein eigenes exemplum, wie er es in der Consolatio schildert, welche Konsequenzen für die Praxis aus der oben genannten Einsicht zu ziehen sind. Der Umstand, dass es laut Boethius möglich ist, qua ratione zu begründen, dass und weshalb Gott das summum bonum und somit auch das Prinzip menschlicher Praxis ist, ist nicht nur von fundamentaler Bedeutung für die Frage nach einer menschenmöglichen Einsicht in ein solches Prinzip. Darüber hinaus zeigt die sich in Consolatio Philosophiae III, 10 findende Argumentation auch, worin das Spezifische des boethianischen Ansatzes zur Beantwortung dieser Frage liegt. Bevor dieses Spezifikum herausgestellt wird, soll noch zuvor kurz auf den formalen Prinzipiencharakter des boethianischen Wissens eingegangen werden. Inwiefern Boethius’ Einsicht in die praktische Prinzipienhaftigkeit Gottes tatsächlich eine prinzipielle Einsicht darstellt, zeigt sich deutlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der von Aristoteles angesetzten und wohl auch von Boethius zugrunde gelegten formalen Kennzeichen eines Prinzips betrachtet. So ist es laut Boethius vollkommen sicher, dass Gott als das Erste Prinzip notwendig ist²⁴⁶ und zudem notwendigerweise auch das summum bonum darstellt. Überdies ist die vollkommene Güte Gottes gerade aufgrund seiner Bestimmung als Prinzip voraussetzungslos; würde doch der Gedanke, dass das Erste Prinzip hinsichtlich seiner Güte in irgendeiner Weise von einer weiteren, im Rang daher höher stehenden Voraussetzung abhinge, in Selbstwidersprüche führen. Sofern des Weiteren gilt, dass jede Handlung auf ein Gut ausgerichtet ist, das letzte Gut in der Kette der Güter jedoch, wie Boethius erklärt,
245 Vgl. dazu auch die letzte Zeile des carmen III, 9. 246 Ein auf seinen Wirkungen basierender Aufweis des Seins Gottes findet sich in Boethius Cons. III, 12.
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notwendigerweise Gott ist, ergibt sich daraus: Auch der Versuch, die These, dass Gott das höchste Gut sei, zu widerlegen, setzt das Bestehen dieses Gutes notwendigerweise voraus. Dies ergibt sich zumindest unter der Voraussetzung, dass auch ein solcher Widerlegungsversuch eine Handlung darstellt, die im Letzten selbst auch auf das höchste Gut abzielt und die somit in ihrem Widerlegungsversuch das Bestehen des höchsten Gutes voraussetzt. Was die Unmöglichkeit der Täuschung bezüglich des Prinzips und die Erkennbarkeit desselben betrifft, so offenbaren vor allem diese beiden von Aristoteles angegebenen Kennzeichen das Besondere der boethianischen Bestimmung Gottes als des Prinzips praktischen Wissens. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die von Boethius aufgezeigte Möglichkeit, mit Hilfe der ratio zu der vollkommen sicheren und daher auch täuschungsfreien Erkenntnis zu gelangen, dass Gott das summum bonum ist. Auch wenn Boethius nämlich, wie gezeigt worden ist, unter anderem augustinisches und auch aristotelisches Gedankengut zugrunde legt, setzt er sich doch gleichzeitig auch von den mit diesen Denkern verbundenen Traditionslinien ab; hatte doch Aristoteles angenommen, dass es kein Prinzip praktischen Wissens gebe, und Augustinus das Wissen um die vollkommene Güte und die daraus folgende praktische Prinzipienhaftigkeit Gottes durch eine von Gott selbst gegebene Entfaltung des göttlichen Einheitsbegriffes gewonnen. Indem Boethius das Wissen darum, dass Gott das summum bonum ist, als das Ergebnis eines mit Hilfe der menschlichen ratio gezogenen logischen Schlusses darstellt, zeigt er unter anderem zweierlei auf: zum einen – gegen Aristoteles –, dass wir doch etwas sicher wissen können im Bereich der Praxis; zum anderen – gegen Augustinus –, dass das Wissen um die vollkommene Güte Gottes nicht nur durch die Entfaltung eines gegebenen Wissens einzusehen ist. Für die in der vorliegenden Untersuchung behandelte Frage nach einem prinzipiellen praktischen Wissen hat die boethianische Einsicht vor allem deswegen weitreichende Konsequenzen, weil sie mit Hilfe der menschlichen ratio gewonnen werden kann.²⁴⁷ So sind tatsächlich wir es, die, wie Boethius zeigt, aufgrund unseres rationalen Vermögens sicher wissen können, dass die wahre beatitudo mit Gott, dem summum bonum, gleichzusetzen ist. Anders als Augustinus’ Wissen darum, dass Gott das höchste Gut darstellt, ist das von Boethius eingesehene Wissen daher nicht nur ein gegebenes, das es zu entfalten und nachzuvollziehen gilt. Boethius zufolge können wir vielmehr kraft der ratio selbst den Schluss ziehen, dass das Erste Prinzip nicht nur gut, sondern auch vollkommen gut sein muss. Freilich bedeutet dies nicht, dass die Einsicht des Boethius nicht auch auf Voraussetzungen basiert, die dem
247 Dass das Besondere der boethianischen Gleichsetzung Gottes mit dem summum bonum darin besteht, dass sie „dialektisch“ begründet wird, hat auch der in diesem Zusammenhang bereits zitierte Claudio Moreschini angemerkt. Vgl. dessen Varia Boethiana, S. 15. Auf die Konsequenzen, die sich aus dieser Erkenntnis ergeben, geht Claudio Moreschini nicht weiter ein.
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Bereich des gegebenen Wissens zuzurechnen sind. Dennoch ist auffällig, dass er zu einer zentralen Bestimmung Gottes, und zwar zu der seiner vollkommenen Güte, mit Hilfe eines Schlusses gelangt, der von jedem, der über ratio verfügt, selbst auch gezogen werden kann. Demnach gilt: Auch wenn die Prämissen für den von Boethius gezogenen Schluss teilweise ein gegebenes Wissen beinhalten, ist doch der Schluss selbst allein mit der ratio zu vollziehen. Die von Boethius gewonnene Einsicht erweist sich dementsprechend insofern als eine, die wir erlangen können. Sie stellt somit eine menschenmögliche Einsicht dar, die allen Vernünftigen offensteht und in diesem Sinne kommunikabel ist. Infolgedessen ist das prinzipielle praktische Wissen des Boethius, was seine menschenmögliche Kommunikabilität betrifft, höher einzuschätzen als die Kommunikabilität des von Augustinus eingesehenen Wissens. Während nämlich die Einsicht des Augustinus ihren Grund in Gott hat, der vor und für uns den Begriff seiner eigenen vollkommenen Einheit so entfaltet, dass wir verstehen können, dass er das höchste Gut ist, stellt die Einsicht des Boethius eine genuin menschliche dar. Konsequenzen hat dies unter anderem auch für die Einschätzung des Prinzipiencharakters des von Augustinus gewonnenen Wissens um das Prinzip praktischen Wissens. Obwohl nämlich dessen Sicherheit und Allgemeinheit nicht zu bestreiten sein werden, erscheint es doch bezüglich seiner Kommunikabilität aus den oben genannten Gründen defizitär; ist doch das augustinische Wissen um das Prinzip der Praxis streng genommen kein menschliches, sondern nur ein menschlich nachvollziehbares.²⁴⁸ Eine letzte Thematik, die in diesem Zusammenhang erörtert werden soll, bezieht sich auf die in der Forschungsliteratur stark umstrittene Frage nach der Christlichkeit der Consolatio Philosophiae. Dies ist hier – wenn auch nur kurz und oberflächlich – vor allem mit Blick darauf anzusprechen, dass es, so die These der vorliegenden Arbeit, der dreieine Gott ist, den Boethius als das Prinzip praktischen Wissens angibt. Unterstellt wird damit, dass den boethianischen Betrachtungen des Prinzips ein trinitarisches Gottesverständnis zugrunde liege,²⁴⁹ das zudem näherhin als ein durch augustinisches Gedankengut geprägtes zu begreifen ist. Inwiefern ist eine solche Annahme allerdings gerechtfertigt? Während wohl nicht mehr zu bestreiten ist, dass Boethius selbst ein getaufter Christ war,²⁵⁰ ist – wie bereits angedeutet – die Frage, ob die Consolatio Philosophiae
248 Auf diese Problematik wird unten nochmals eingegangen werden. 249 Dazu, dass für Boethius ein trinitarisches Gottesverständnis zugrunde zu legen ist, vgl. u. a. Cornelia J. de Vogel: „On the Neoplatonic Character of Platonism and the Platonic Character of Neoplatonism“, in: Mind, Vol. 62, No. 245 (1953), S. 43–64, hier S. 44 mit einem Verweis auf Cons. III, c.9, 13, wo Boethius von der triplex natura Gottes spricht. Aufgenommen wird de Vogels Gedankengang von Robert D. Crouse: „Semina Rationum. St. Augustine and Boethius“, S. 82. 250 Vgl. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 39.
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ein christliches Werk sei, zum Gegenstand vielfältiger Diskussionen geworden.²⁵¹ Der Vielzahl an Argumenten, die pro und contra bezüglich der Annahme der Christlichkeit der Trostschrift vorgetragen worden sind, soll hier lediglich ein systematischer Hinweis hinzugefügt werden, der für die Christlichkeitsthese spricht. Als Ausgangspunkt dafür dient die vorhin schon angeführte These, dass Boethius’ Betrachtungen in der Consolatio auf einem trinitarischen Gottesverständnis fußen. Für diese Annahme spricht neben der von Cornelia J. de Vogel angeführten Stelle aus Consolatio Philosophiae III, c.9, 13, in der die Philosophia den Vater als triplex natura anspricht, auch und vor allem der Umstand, dass in der Consolatio überhaupt Aussagen in Bezug auf das Erste Prinzip gemacht werden. So zeigt die Consolatio: Man kann über Gott sprechen
251 Zur Frage nach der Christlichkeit der Consolatio, vgl. u. a. Luca Obertello: Severino Boezio, Bd. I, S. 746–781; vgl. überdies Henry Chadwick: The Consolations of Music, Logic, Theology, and Philosophy, S. 224: „(...) in this profoundly religious book there is an evidently conscious refusal to say anything distinctively Christian. The book is a work of natural, not of revealed, theology, and strives after a universal appeal to every man.“ Zu dieser Frage, vgl. auch Cornelia J. de Vogel, die allerdings von der Christlichkeit des Werkes ausgeht: „The Problem of Philosophy and Christian Faith in Boethius’ Consolatio“, in: Willem den Boer (Hrsg.): Romanitas et christianitas: Studia Iano Henrico Waszink oblata, Amsterdam 1973, S. 357–370; vgl. ebenfalls Gerard Watson: Greek Philosophy and the Christian Notion of God, Dublin 1994, S. 107f.: „He [Boethius] was obviously a professed Christian, but the Consolatio is so studiously philosophical in the traditional sense that it has caused doubts as to whether or not Boethius was a believing Christian in the last year of his life when he wrote the book. I think that doubts about Boethius’ Christianity are unjustified: Boethius is writing as a philosopher in the Consolation, as Augustine had been, very largely, in his early writings, but in neither case have we a rejection of, or aversion from, Christian theology.“ Die These, dass die Consolatio viele Spuren christlichen Denkens aufweise, wird auch von Friedrich Klingner: De Boethii Consolatione Philosophiae, (Reihe: Philologische Untersuchungen, Bd. 27), vertreten. Eine Gegenposition zu den genannten nimmt beispielsweise Pierre Courcelle ein. Während Courcelle zwar nicht bestreitet, dass Boethius Christ war, bemüht er sich allerdings zu zeigen, dass Boethius unter dem Einfluss des Alexandrinischen Neuplatonismus versucht habe, eine rein rationale, dem Christentum komplementäre Theologie zu entwickeln. Vgl. Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire, S. 337–344. Zu dieser Thematik siehe auch Matthias Baltes: „Gott, Welt, Mensch in der Consolatio Philosophiae des Boethius. Die Consolatio Philosophiae als ein Dokument platonischer und neuplatonischer Philosophie“; zudem Ernst Hoffmann: „Griechische Philosophie und christliches Dogma bei Boethius“, in: Pädagogischer Humanismus, Zürich 1955, S. 185–194; zum Neuplatonismus des Boethius vgl. auch Claudio Moreschini: „Boezio e la tradizione del Neoplatonismo latino“, in: Atti del Convegno Internazionale di Studi Boeziani, Rom 1981, S. 297–310; überdies ders.: „Filosofia pagana e teologia cristiana negli Opuscula Theologica di Boezio“, in: Theo Kobusch/Michael Erler (Hrsg.): Metaphysik und Religion, S. 213–238; die These, dass Boethius dem Zeugnis des Cassiodor gemäß zwar „nominell Christ war“, dem Christentum allerdings „innerlich skeptisch gegenüber gestanden haben dürfte“ und dass „spezifisch christliche, insbesondere soteriologische Inhalte in der Consolatio keine Rolle spielen“, vertreten in jüngerer Zeit Reinhold F. Glei, Nicola Kaminski und Franz Lebsanft in ihrer „Einleitung: Boethius Christianus?“, in: Dies. (Hrsg.): Boethius Christianus? Transformationen der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin/New York 2010, S. 1–3. Einen detaillierten Überblick über die zu dieser Thematik erschienene Forschungsliteratur gibt auch Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae, S. 39f.
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und es ist darüber hinaus sogar möglich, mit Hilfe logischer Schlussverfahren zu einer Erkenntnis der Vollkommenheit der Güte Gottes zu gelangen. Vollzieht der Mensch eine solche Erkenntnis wie die der vollkommenen Güte des Ersten Prinzips, richtet er sich, wie Boethius schreibt, zum höchsten Gipfel der Einsicht auf und gewinnt so Anteil am „Urteil des göttlichen Denkens“ (divinae iudicium mentis).²⁵² Indem Boethius davon ausgeht, dass Gott – zumindest teilweise – zum Gegenstand eines qua ratione vorgehenden menschlichen Denkens werden kann, unterscheidet sich seine diesbezügliche Konzeption von der einiger anderer neuplatonischer Denker, und zwar vor allem von der Plotins; hatte dieser doch die absolute Jenseitigkeit des Prinzips gelehrt, die alles Denken und Sprechen über das Eine letztlich unmöglich erscheinen ließ. Wenn nun Boethius im Unterschied zu Plotin die Auffassung vertritt, dass der Mensch am Urteil des göttlichen Denkens Anteil erlangen und Gott als das summum bonum erkennen könne,²⁵³ so weist dies auf Folgendes hin: Boethius stellt sich in eine bestimmte, von Plotin unterschiedene Tradition des Neuplatonismus, die eine triadische Struktur des Prinzips annimmt. Eine solche Struktur zugrunde legend kann diese Form des Neuplatonismus – anders als Plotin – ein Schema entwickeln, das die Vermittlung des Wissens um die Einheit in die Vielheit in einer befriedigenden Weise darzustellen vermag und damit die Basis dafür schafft, dass man überhaupt Aussagen über das Erste Prinzip treffen kann.²⁵⁴ Als für Boethius anzunehmende Quellen solchen Gedankengutes kommen dabei vor allem entweder das pagan-neuplatonische Modell des Porphyrius oder aber die christlich gefärbte Version des Neuplatonismus, wie sie hauptsächlich von Augustinus entwickelt worden ist, in Frage. Während es in diesem Zusammenhang sicherlich möglich ist, bei Boethius auch Anleihen porphyrianischen Denkens festzustellen,²⁵⁵ deutet doch einiges darauf hin, dass er wohl eher von Augustinus’ Neuplatonismus beeinflusst worden ist.²⁵⁶ Geht man von dieser
252 Vgl. Boethius Cons. V, 5, 11f. 253 Darauf, dass sich Boethius, auch wenn er wie Plotin von der vollkommenen Einheit Gottes ausgeht, gerade darin von Plotin unterscheidet, dass er annimmt, man könne trotz der Einheit des Ersten Prinzips Aussagen über dieses machen, hat Claudio Moreschini in Varia Boethiana, S. 19, aufmerksam gemacht. Bei Moreschini heißt es dazu: „Si è visto che l’identificazione di Dio col bene era già in Plotino; ma mentre in Plotino e nei neoplatonici greci questa identificazione, che definisce (e quindi limita e circoscrive) l’Uno, si accompagna alla tendenza concomitante a negare in maniera apofatica all’Uno ogni attributo, in Boezio avviene esattamente il contrario: il Dio del de consolatone philosophiae, se non è il Dio personale della tradizione cristiana, è però il Dio supremanente buono.“ 254 Vgl. dazu Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, S. 237. Dass Boethius Gott als einen wenn auch niemals vollständig erfassbaren Gegenstand menschlichen Denkens und Sprechens ansieht, zeigt auch die Tatsache, dass er Gott als ousia und essentia begreift. Siehe dazu Wolfgang L. Gombocz: Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, (Reihe: Geschichte der Philosophie, Bd. 4), München 1997, S. 349. 255 Vgl. beispielsweise Claudio Moreschini in Varia Boethiana, S. 15. 256 Dafür spricht beispielsweise der Umstand, dass Boethius ein stark durch augustinisches Gedankengut beeinflusstes Werk De Trinitate verfasst hat, in dessen Proömium er sich explizit in die augus-
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Variante aus, so wird man die Consolatio insofern als ein christliches Werk betrachten können, als sie die trinitätstheologisch begründete Möglichkeit des Denkens und Sprechens über Gott in ihren Argumentationen zugrunde legt. Selbstverständlich lässt sich anhand dieser Gedankenführung keine Notwendigkeit feststellen, die Consolatio Philosophiae als ein christliches Werk zu betrachten. Einige Hinweise darauf, dass dies zumindest möglich ist, gibt sie allerdings doch. Es ist nicht zuletzt die Frage nach der Christlichkeit der Consolatio Philosophiae, die ein gutes Beispiel dafür gibt, wie wichtig es bei der Interpretation dieses Werkes ist, die vorboethianische Tradition zu berücksichtigen; erkennt man doch erst im Ausgang von einer Betrachtung des plotinischen Prinzipienverständnisses und der Modifikation, die sich durch die christliche Rezeption desselben ergibt, vor welchem Hintergrund Boethius seine Bestimmung Gottes als summum bonum vornimmt. Gleiches gilt nun auch für die Interpretation der Consolatio Philosophiae als ganzer. Wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, ist nämlich auch die Fragestellung, die Boethius mit der Abfassung seines Werkes zu beantworten sucht, erst erkennbar, wenn man zuvor einige zentrale Elemente der ihm überkommenen Tradition in Augenschein genommen hat.²⁵⁷ So versteht man beispielsweise erst dann, weshalb Boethius betont, dass es qua ratione und der Notwendigkeit nach einsehbar ist, dass die wahre beatitudo in Gott, dem summum bonum, besteht, wenn man weiß, dass es überhaupt fraglich ist, ob man ein sicheres und für die Praxis relevantes Wissen einsehen kann. Inwiefern dies fraglich ist, zeigt dabei der von Seiten der Sophistik gegen die eleatische und die physiologische Philosophie vorgetragene Einwand der Nutzlosigkeit des von diesen Philosophenschulen behaupteten sicheren Wissens und die sokratisch-platonische Auseinandersetzung mit diesem Einwand.²⁵⁸ Wenn Boethius des Weiteren untersucht, wie die beatitudo ihrem Inhalt nach zu bestimmen ist, so kann dies als ein Reflex auf die von Aristoteles aufgeworfene Frage nach einem dem
tinische Tradition stellt. Als Argument ist dies dabei selbstverständlich nur dann anzuführen, wenn man davon ausgeht, dass der Verfasser der Consolatio Philosophiae gleichzusetzen ist mit dem des Traktates De Trinitate. Zur Frage nach der Autorenschaft der Opuscula sacra, vgl. David Bradshaw: „The Opuscula sacra: Boethius and Theology“, S. 105. 257 Auf wesentliche Aspekte der für Boethius wichtigen geistesgeschichtlichen Traditionen weist auch John Magee: „Boethius, Last of the Romans“, in: Carmina Philosophiae 16, special issue part 1 (2007), S. 1–22, hin. Ein weiteres Beispiel für eine solche Aufnahme der Tradition bei Boethius untersucht Fabio Troncarelli: „Le Radici del Cielo. Boezio, la Filosofia, la Sapienza“, in: Alain Galonnier (Hrsg.): Boèce ou la chaîne des saviors. Actes du colloque international de la Fondation Singer-Polignac, Paris, 8–12 Juin 1999, Paris 2003, S. 421–434. 258 Ein Indiz dafür, dass Boethius selbst bei der Abfassung der Consolatio tatsächlich an ebendiese Auseinandersetzung denkt, gibt sein sich an prominenter Stelle (Cons. IV, 2, 45) in der Consolatio findendes Zitat aus Platons Gorgias 466d–e. Um zu verstehen, worin der von der Sophistik gegen das sichere Wissen der Eleaten vorgetragene Einwand besteht, ist es logischerweise zunächst erforderlich, eine Betrachtung dessen vorzunehmen, wie das sichere Wissen der Eleaten zu bestimmen ist.
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Menschen verwirklichbaren Gut interpretiert werden.²⁵⁹ Einen solchen Widerhall auf eine andere, ebenfalls von Aristoteles aufgeworfene Frage zeigt auch der sich in der Consolatio findende Gedanke, dass Boethius selbst als ein exemplum dafür begriffen werden könne, wie die als Norm begriffene Grundregel, gemäß der man nach Gott als dem höchsten Gut streben soll, in die konkrete Situation umzusetzen ist.²⁶⁰ In der Zusammenschau auf all diese Fragen- und Themenkreise wird deutlich, dass sie einige grundsätzliche Aspekte der Frage nach einem prinzipiellen Wissen im Bereich der Praxis benennen, die als die Grundfrage der Consolatio Philosophiae insgesamt angesehen werden kann. Dass Boethius bei seinen Überlegungen dabei tatsächlich ebendiese Grundfrage im Blick hat, wird erst deutlich, wenn man sich, wie in der vorliegenden Arbeit versucht worden ist, vergegenwärtigt, dass sich Boethius’ Vorgänger mit Problemstellungen wie den oben genannten beschäftigt haben. Erst nämlich vor dem Hintergrund der Kenntnis dessen, welche Schwierigkeiten im Rahmen der Boethius vorausgehenden Tradition diskutiert worden sind, welche davon gelöst werden konnten und welche nicht, wird man verstehen, vor welcher Herausforderung Boethius selbst steht. Wendet man diesen methodischen Grundsatz auf die boethianische Trostschrift an, zeigt sich Folgendes: Die Beantwortung der Frage nach einem prinzipiellen praktischen Wissen stellt sich Boethius insofern als Aufgabe dar, als diese in der ihm überkommenen Tradition entweder gar nicht oder aber nur in einer unbefriedigenden Weise beantwortet worden ist. Dies zeigen die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung, die im Folgenden nochmals kurz zusammengefasst und mit Blick auf das hier betrachtete Thema der Entwicklung eines Prinzipienwissens im Bereich der Praxis dargestellt werden sollen.
259 Wie bereits angemerkt worden ist, kann man eine Parallele zwischen der von Boethius in Cons. III, 2, 2 gegebenen Bestimmung des Guten und der sich am Anfang der Nikomachischen Ethik findenden Definition erkennen. 260 Es ist in diesem Zusammenhang bereits erörtert worden, dass Boethius die Lösung des Problems der Vermittlung einer Norm in die konkrete Situation womöglich entweder im Anhalt an seine Studien augustinischer oder aber stoischer Werke entwickelt haben könnte.
12 Schlussbemerkungen Können wir etwas sicher wissen, das von Relevanz für die menschliche Praxis ist? Oder anders gefragt: Lässt sich eine Einsicht in ein Prinzip praktischen Wissens gewinnen? Wie die vorliegende Untersuchung zu zeigen versucht hat, haben einige Denker der antiken und spätantiken Tradition diese Frage bejaht und unterschiedliche Ansätze zu ihrer Beantwortung entwickelt. Dabei sind Aspekte einer Traditionslinie erkennbar geworden, die hier mit Blick auf verschiedene Stationen der Entfaltung eines solchen praktischen Prinzipienwissens nachgezeichnet worden sind. Einen ersten wichtigen Abschluss, so die hier vertretene These, findet diese Traditionslinie mit Boethius, der wesentliche Elemente dieser Linie aufgenommen und in sein eigenes Konzept eines Prinzipienwissens im Bereich der Praxis integriert hat. Abschließend soll nun nochmals auf einige wichtige Punkte der skizzierten Entwicklung eingegangen werden, zusammen mit einigen Bemerkungen zu dem hier durchgeführten Projekt als ganzem. Ihren Anfang genommen hat die vorliegende Betrachtung mit der klassischerweise an den Beginn der abendländischen Philosophiegeschichte gestellten Tradition der περὶ φύσεως ἱστορία. Sowohl diese als auch die ihr nachfolgende eleatische Philosophie, so war gezeigt worden, haben ihrem Selbstverständnis gemäß zwar ein sicheres Wissen angegeben, von Relevanz für die menschliche Praxis war dieses Wissen jedoch nicht. Dies zeigt vor allem die von Seiten der Sophistik gegen die Wissensformen der beiden genannten philosophischen Richtungen entwickelte Kritik. In Frage stellt diese Kritik dabei nicht nur, ob es überhaupt möglich ist, etwas sicher zu wissen. Darüber hinaus fragt sie auch, ob das von den Eleaten und den φύσιςForschern gewonnene Wissen – selbst wenn man es als sicher anerkannte – eine Rolle für die menschliche Praxis spielen kann. Die auf diese Einrede reagierende Tradition ist vor allem mit den Namen Sokrates und Platon verbunden. Sie bemüht sich nun ihrerseits gegen die Sophisten aufzuzeigen, dass es doch ein sicheres – da auf die Ideen bezogenes – prinzipielles Wissen gibt, das sich auch und vor allem dadurch auszeichnet, dass es praxisrelevant ist. Während Platons Schüler Aristoteles diesem Ansatz insofern zustimmt, als auch er es für möglich hält, ein sicheres Wissen und somit ein Prinzip für einen bestimmten Bereich menschlicher Wissensentfaltung – die Theorie – einzusehen, kritisiert er seinen Lehrer gleichzeitig auch; hält er es doch gegen Platon für unmöglich, ein solches sicheres Wissen für den Bereich der Praxis anzugeben. Neben verschiedenen Kritikpunkten, die sich auf die Struktur und Kohärenz der platonischen Ideenlehre richten, wirft Aristoteles vor allem die folgenreiche Frage auf, wie es möglich sei, als absolut geltend bestimmte Handlungsnormen wie die Ideen im Rahmen konkreter, durch das situative Element geprägter Handlungen umzusetzen. Da er eine solche Anwendung für undurchführbar hält, entwickelt Aristoteles eine situative Ethik, die darauf abzielt, dass der Handelnde sich so disponieren solle, dass er in den konkreten Handlungssituationen richtig und angemessen handelt. Für die Frage nach einem sicheren Wissen im Bereich der Praxis hat die aristotelische Kritik weitreichende Folgen. Fortan nämlich muss jede prinzipienthe-
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oretisch und somit normativ begründete Ethik sich immer auch mit der Frage konfrontieren, wie sich die von ihr angenommenen Normen beziehungsweise Prinzipien im Kontext konkreter Handlungssituationen umsetzten lassen. Eine Aufnahme und Verarbeitung dieser Kritik des Aristoteles findet sich unter anderem in den Konzeptionen praktischer Philosophie, wie sie von den sogenannten hellenistischen Philosophenschulen ausgearbeitet werden. Diese Schulen, allen voran die Stoa und der Epikureismus, nehmen die besagte Kritik insofern auf, als sie darauf verzichten, nach einem Prinzip praktischen Wissens zu suchen. Vielmehr tragen sie dem von Aristoteles betonten situativen Element menschlicher Praxis Rechnung, indem sie Formen der Lebenskunst entwickeln, die Wege zur Glückseligkeit weisen, ohne auf Prinzipien praktischen Wissens zu rekurrieren. So stehen im Mittelpunkt hellenistischen Denkens nicht Prinzipien der Praxis, sondern praktische Lebensregeln – und die Frage, wie diese in konkreten Handlungssituationen anzuwenden sind. Eine tragende Rolle für die Beantwortung dieser Frage spielt die im Rahmen dieses Denkens erarbeitete exemplum-Konzeption, die eine weitreichende Wirkungsgeschichte auch über die genannten Schulen hinaus entfalten sollte, und zwar auch mit Blick auf die nach einem Prinzip praktischen Wissens suchenden philosophischen Richtungen. Ein für die Suche nach einem prinzipiellen praktischen Wissen maßgeblicher Fortschritt wird im weiteren Verlauf der Entwicklung philosophischen Wissens mit Plotins Einsicht erreicht, gemäß der das Eine als das Prinzip von allem anzugeben ist. Obwohl die plotinische Einsicht in die Prinzipienhaftigkeit des Einen dabei selbst nicht dazu hinreicht, eine befriedigende Antwort auf die besagte Frage zu geben, bereitet sie doch einige in diesem Zusammenhang zentrale Gedankenführungen vor. Ein Beispiel dafür, wie man sich diese Vorbereitung vorzustellen hat, gibt die von Augustinus entwickelte Konzeption eines prinzipiellen praktischen Wissens, da sie die genannte plotinische Einsicht in einer – wohl vor allem durch Plotins Schüler Porphyrius geprägten – modifizierten Form aufnimmt. Ausgehend von dem sich eben wohl auch schon bei Porphyrius findenden Gedanken der Einheit und gleichzeitig bestehenden Dreiheit des Ersten Prinzips, das Augustinus mit dem Gott der christlichen Verkündigung gleichsetzt, nimmt Augustinus an, dass Gott nicht nur das Prinzip allen Seins und Denkens ist, sondern auch das der menschlichen Praxis. Wenngleich das von Augustinus eingesehene Wissen dabei die für ein prinzipielles Wissen charakteristischen Merkmale der Sicherheit und der Allgemeinheit aufweist, ist es allerdings in einer in diesem Zusammenhang zentralen Hinsicht defizitär – nämlich in Bezug auf seine Kommunikabilität; ist das Wissen des Augustinus doch streng genommen kein menschliches, sondern nur ein göttliches Wissen, das der Mensch höchstens nachvollziehen kann. Denn, so Augustinus, der Mensch weiß nur deswegen, dass Gott das summum bonum ist, weil Gott selbst den Begriff seiner eigenen vollkommenen Einheit für und vor uns so entfaltet, dass wir eine Einsicht in die vollkommene Güte Gottes gewinnen können. Damit ist das Wissen des Augustinus als ein „gegebenes“ zu charakterisieren, das als solches seinen Ursprung in Gott hat und für den Menschen lediglich nachzuvollziehen ist. Vor dem Hintergrund dieser Über-
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legungen ist zu erkennen, was Boethius in der Consolatio Philosophiae zu erreichen sucht: ein Wissen bezüglich eines Prinzips der Praxis, das vermöge der menschlichen ratio eingesehen und allen, die über ratio verfügen, vermittelt werden kann.¹ Seinem Selbstverständnis gemäß gelingt Boethius eine ebensolche Einsicht, da er, wie vor allem das dritte Buch seiner Trostschrift zeigt, ein Argument angeben kann, das nach Art eines Syllogismus aufzeigt, wie es qua ratione, und zwar der Notwendigkeit nach, möglich ist zu erkennen, dass Gott das höchste Gut ist. Insofern diese Einsicht in das Prinzip mit Hilfe der ratio gewonnen werden kann und allen offensteht, die über ratio verfügen, ist sie – anders als die Einsicht des Augustinus – in dem Sinne kommunikabel, dass sie allen Menschen möglich und vermittelbar ist. Zumindest vorerst führt sie damit die Suche nach einem Prinzip menschlicher Praxis an ein Ende, da sie zeigt, dass das Erste Prinzip allen Seins und Denkens auch das Erste Prinzip der Praxis ist. Wie des Weiteren ersichtlich geworden ist, geben die Problemstellungen, die in der dem Boethius überkommenen Tradition diskutiert werden, nun nicht nur Anhaltspunkte dafür ab, welche Fragestellung Boethius selbst verfolgt. Darüber hinaus bieten die Lösungsvorschläge, die Boethius’ Vorgänger hinsichtlich der genannten und vieler anderer Problemstellungen entwickeln, ihm auch das Material, um seine eigene Konzeption zu entwickeln. Als ein prominentes und für den vorliegenden Kontext zentrales Beispiel mag hier unter anderem die boethianische Gleichsetzung Gottes mit dem summum bonum dienen. Wie die Betrachtung der sich im dritten Buch der Consolatio findenden Argumentation gezeigt hat, setzt Boethius für die von ihm erarbeitete Antwort auf die Frage, wie das höchste Gut bestimmt werden könne, verschiedene Elemente ein, die er den Überlegungen seiner Vorgänger entnehmen kann. So legt sein Argument zum Beispiel das plotinische Verständnis des Prinzips als einer vollkommenen Einheit zugrunde, und zwar in der durch die augustinische Theologie geprägten Variation dieses Prinzipienverständnisses. Eine weitere Voraussetzung, die von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung des besagten Argumentes ist, besteht in den von Boethius angenommenen formalen Bestimmungen des Prinzips. Diese ursprünglich von Aristoteles eingesehenen Definitionsmerkmale spielen dabei insofern eine zentrale Rolle für die boethianische Argumentation, als sie die Grundlage dafür schaffen, dass man von der Prinzipienhaftigkeit Gottes darauf schließen kann, dass er auch das vollkommene Gute in sich haben muss. Ein aristotelisches Erbe tritt Boethius in diesem Kontext zudem insofern an, als er auch den von Aristoteles in seinem prinzipiellen Charakter eingesehenen Satz des zu vermeidenden Widerspruchs und das logische Verbot des regressus in infinitum verwendet, um seine These der vollkommenen Güte Gottes zu befestigen.
1 Der tröstende Charakter dieses Wissens steht dabei für Boethius nicht im Vordergrund seines Unternehmens. Es ist mehr als eine Folge der von ihm gewonnenen Einsicht in die vollkommene Güte Gottes zu betrachten.
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Allein das Beispiel dieses Kernargumentes der Consolatio zeigt deutlich, dass eine Beschäftigung mit den Traditionslinien, in die sich Boethius mit seiner Trostschrift stellt, nicht nur wichtig ist, um zu verstehen, welche Fragestellung er verfolgt; darüber hinaus zeigt eine solche Betrachtung auch, worin die Besonderheit seines Ansatzes besteht und wie sich sein Denken von dem seiner Vorläufer unterscheidet. Mögen die Unterschiede dabei – beispielsweise im Vergleich zu Augustinus – auch minimal sein, so zeigen sie doch gerade in ihrer Feinheit, von welch hoher intellektueller Qualität Boethius’ Überlegungen bezüglich des Prinzips praktischen Wissens sind. Einen weiteren Hinweis auf die hohe Qualität der boethianischen Überlegungen gibt dabei nicht zuletzt der Umstand, dass sie die nachfolgende Tradition sowohl formal als auch inhaltlich gesehen nachhaltig geprägt haben.² Während dies mit Blick auf die von Boethius angewandte Methode in der vorliegenden Arbeit bereits bemerkt worden ist,³ sei hier, was die inhaltliche Ebene betrifft, nur auf Folgendes hingewiesen. Wenn Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie die Frage erörtert, worin die wahre beatitudo besteht, zitiert er nicht etwa Augustinus, sondern die Consolatio Philosophiae des Boethius.⁴ So zeigt sich: Die Einsicht dieses letzten Römers und ersten Scholastikers sollte über die Zeit hinweg und weit jenseits der ihn umschließenden Kerkermauern Trost spenden und ein Licht entzünden, das auch das Dunkel des Gefängnisses zu erhellen vermag. Die Frage, ob es ein Prinzip praktischen – und nicht nur theoretischen – Wissens gebe, ob folglich – wie so oft m. E. fälschlich behauptet wird – auch in diesem Sinne die Theoria im Gegensatz zur Praxis stehe, ist mit Boethius freilich nicht für alle Zeiten abschließend beantwortet worden. Wenngleich nämlich sein Ansatz die
2 Zur Rezeptionsgeschichte des Boethius und der Consolatio Philosophiae, vgl. vor allem Maarten J. F. M. Hoenen/Lodi Nauta: Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, Leiden 1997; vgl. auch Noel H. Kaylor/Philip E. Phillips (Hrsg.): A Companion to Boethius in the Middle Ages, Leiden 2012; Reinhold F. Glei/Nicola Kaminski/Franz Lebsanft (Hrsg.): Boethius Christianus? Transformationen der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin/ New York 2010; für die Rezeptionsgeschichte der Consolatio ebenfalls wichtig ist Adrian Papahagi: Boethiana mediaevalia. A Collection of Studies on the Early Medieval Fortune of Boethius’ Consolation of Philosophy, Bukarest 2010; Fabio Troncarelli: Tradizioni perdute. La ‚Consolatio philosophiae‘ nell’Alto Medioevo, Padova 1981; ders.: „Philosophia. Vitam monasticam agere. L’interpretazione cristiana della Consolatio philosophiae di Boezio dal IX al XII secolo“, in: Quaderni medievali 15 (1983), S. 6–25; ders.: „La più antica interpretazione della Consolatio Philosophiae“, in: Nuova rivista storica 72 (1988), S. 501–550. Außerdem Margherita Belli: Il Centro e la Circonferenza. Fortuna del De consolatione philosophiae di Boezio tra Valla e Leibniz, (Reihe: Le corrispondenze letterarie, scientifiche ed erudite dal rinascimento all'età moderna, subsidie, Bd. 14), Florenz 2011. 3 Hier ist nochmals auf die von Martin Grabmann verfasste Studie zum Einfluss des Boethius auf die scholastische Methode zu verweisen. Vgl. Martin Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode. Erster Band: Die scholastische Methode von ihren ersten Anfängen in der Väterliteratur bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, Freiburg 1909. 4 Vgl. Thomas von Aquin Summa Theologiae Ia IIae, q.3, a.1.
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Schlussbemerkungen
nachfolgende abendländische Tradition stark geprägt hat und er damit einen wichtigen geistesgeschichtlichen Beitrag geleistet hat, sind doch die Überlegungen des Boethius in vielerlei Hinsicht an seine Zeit gebunden. So mag sich uns Heutigen, die wir wie damals Boethius selbst auch in einer Zeit vielfältiger Umbrüche und Veränderungen leben, „seine“ Frage erneut stellen – sie tut dies allerdings unter gänzlich anderen Voraussetzungen. Dies gilt es unbedingt zu berücksichtigen, wenn man versucht, Boethius’ Ansatz zur Entwicklung eines prinzipiellen Wissens im Bereich der Praxis für heutige Diskussionen fruchtbar zu machen; tappt man doch ansonsten allzu leicht in die Falle eines Anachronismus, der die Zeitgebundenheit und die damit verbundene Beschränktheit eines jeden Lösungsansatzes im Gebiet ethischer Reflexion außer Acht lässt. Dass man Boethius’ ethische Konzeption nicht eins zu eins in unsere Zeit übertragen sollte, zeigt diese Konzeption übrigens auch selbst auf. Dies deswegen, weil sie von einem Denker entwickelt worden ist, der sich auf der intellektuellen Höhe seiner Zeit bewegte, der sich mit den zu seiner Zeit aktuellen Entwürfen beschäftigte und der sich konstruktiv kritisch mit der ihm überkommenen Tradition beschäftigte – ohne einfach für eine Lösung der damals dringlichen Probleme auf diese Tradition zu verweisen. Unter den vielen Dingen, die man auch heute noch von einem Denker wie Boethius lernen kann, ragt diese Einsicht heraus. Sie gilt es wachzuhalten und in jeder Diskussion ethischer Probleme zu berücksichtigen, um so das Erbe eines Philosophen und Theologen anzutreten, der nicht nur den Römern und den Scholastikern, sondern auch uns Heutigen noch etwas zu sagen vermag.
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Namens- und Sachregister ἀλήθεια 20, 23, 42, 47, 50, 52, 53, 67, 80, 84, 85, 119, 126, 184 ἀναγκαῖον 14, 98, 106, 113, 121, 151, 154, 223 ἀνάγκη 33, 35, 50, 62, 69, 97, 102, 137, 146, 148, 176, 204, 229, 232 ἀπάθεια 259 ἀρετή s. Tüchtigkeit ἀρχή 1, 4, 13, 14, 18, 113, 144, 150, 153, 167, s. Prinzip ἀταραξία 221–222 αὐτὸ τὸ ἀγαθόν 111, 124, 323 βούλησις s. Wille Δίκη 22–25, 35 δόξα s. Auffassung εἰδέναι 14, 76, 77, 78, 84, 115, 124 εἶναι 13, 17, 18, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 35, 36, 37, 39, 40, 42, 47, 50, 51, 53, 58, 59, 61, 63, 65, 66, 69, 77, 85, 86, 88, 92, 98, 102, 104, 112, 119, 121, 128, 146, 174, 175, 176, 190, 228, 229, 230, 232, 233, 235, 242, 267 ἕν 66, 105–106, 128–129, 146–147, 228–275, 318 ἐντελέχεια 155–156, 190 ἕνωσις 263, 264 — ἑνωθῆναι 264 ἕξις 168–177, 180–182, 190, 203 ἐόν 27–44, 50, 53–54, 57, 63–68, 74–75, 103–108 ἐπαγογή 186 ἐπιθυμία s. Begierde ἐπιστήμη 13–16, 102, 112–113, 115, 119, 125–126, 144, 147, 153, 161, 166, 174, 190 ἔργον 71, 116–118, 137, 167–168, 176, 181, 186–187, 194–195 εὐδαιμονία s. Glückseligkeit ἡδονή s. Lust θεωρία s. Theorie ἰδέα 14, 79, 86, 111, 125, 127, 130, 135, 146, 148, 159, 160, 231 κανών 183 κατανόησις 240–250 κόσμος 13–14, 18, 131–138, 140, 202–204, 212, 349 κριτήριον 50, 53, 67
λόγος 14–18, 36, 60, 112, 143, 182–185, 204, 290 — λόγον διδόναι 14, 18, 82, 84, 87, 112–113, 147 λύπη 169, 171, 209 μέθεξις 101, 108–110 μέτρον 47, 49, 50, 67, 69, 99, 183, 256, 257 νοεῖν 25, 28, 32, 36, 60–62, 151–155, 190–191, 232, 241–243, 260, 273 νόησις 153–155, 190–192, 232, 241–243 — νόησις νοήσεως 153–155, 190–192, 232 νοῦς 153–157, 160, 190–195, 228, 231–234, 240–250, 260, 262–270, 272, 274, 277, 321–322, 348–349 ὁμοίωσις 111, 252, 253, 257 ὁρμή s. Trieb οὐσία 12, 50, 66, 102–103, 105, 112, 119, 124, 126–127, 130–131, 155, 191, 229, 235, 265, 285 πάθος s. Affekt πρόνοια 204 σοφία 16, 45, 118, 168, 187, 189 σοφός 14, 45, 76–77, 88–89, 219, 253 σπουδαῖος 170, 177, 183, 184, 185, 186, 187, 272, 273 συμβεβηκός 230, 236 τέλος 167, 178, 187, 196, 200 — τέλος τελειότατον 187, 196 τέχνη 16, 71, 74, 85–86, 89, 91, 125, 161, 163–165, 171, 177, 202–204 φόβος 171, 209 φρόνησις 68, 111, 130, 136, 165, 167–168, 174–183, 185, 187, 198, 256, 261 φύσις 12–14, 18–19, 68–69, 73, 137, 142, 154–155, 156, 171, 201–204, 211, 244, 398 — περὶ φύσεως ἱστορία 4, 12–19, 21, 43, 45, 47, 68, 398 — φυσικοί 12 — φυσιόλογοι 12, 18 χρῆμα 47, 48, 49, 50, 52 ψυχή 54, 81, 117, 121, 156, 174, 187, 188, 194, 231, 267 Affekt 168–175, 179–183, 208–211, 214, 255–261, 263, 270–274 Akzidenz/akzidentell 230, 236, 277, 291 amor 278, 281, 282, 283, 285, 286, 287, 292, 294, 296, 317, 328, 330, 370, 372 anima 300, 311, 370, 371
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Namens- und Sachregister
animus 219 Auffassung 27–28, 41–43, 52–57, 65, 67–75, 80–87, 89–91, 93, 103–104, 110–116, 135, 142, 144, 148–153, 177, 256–257 beatitudo s. Glückseligkeit Begierde 69, 138, 169, 180–183, 208–209, 223–225, 256–258, 260–263, 271–274, 359–360, 387 Bild 278–279, 283–288, 297, 333–334, 366 — Abbild 249, 252, 263, 284, 286, 288, 292, 297 causa s. Ursache Chairephon 76, 85 Chrysipp 201, 204, 205, 206, 207, 214 contemplatio s. Theorie Demokrit 28, 38, 422, 423 Determinismus 172, 179, 203–206, 212–215 Dialektik 112, 114, 115, 143, 147, 150, 392 Diogenes Laertios 20, 45, 47, 114, 202, 207, 221, 222 Empirie 84, 94, 99, 161, 163–164, 382 Epikur 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226 Erlösung 338, 340 essentia 29–30, 283–286, 290–291, 293, 297, 308, 395 Ethischer Intellektualismus 88, 116–119 Ewigkeit/ewig 15–16, 52, 62, 118, 155–156, 185, 189, 191, 193, 242, 248, 266, 277, 300–302, 310, 313–315, 324–325, 327, 337–340, 364 exemplum 133, 218–220, 226–227, 254, 332–338, 340–343, 349, 389–391, 397, 399 fatum 206, 215 finis 316–317, 339, 350, 355, 365, 370, 372 Freiheit 9, 139–140, 205–210, 212–214, 259, 274, 390 fruitio/frui 281, 313–314, 317, 328–331, 337, 340, 343 Gegensatz 21–25, 27, 103 Gerechtigkeit 78, 86, 117–118, 132, 134, 137–139, 143, 168, 256, 340, 388 Glückseligkeit 7, 68, 120–121, 129–134, 140, 142, 144, 159–160, 176, 186–199, 207–218,
221–226, 250–254, 259–260, 273–275, 312–315, 327–329, 334–340, 342, 355–364, 366–369, 378–384, 386–390, 392, 396–397, 399, 401 Gnade 300, 309, 329, 338, 342 gratia s. Gnade Grenze 22, 25, 35, 174, 238 Hannibal 219 Heiliger Geist 286, 289, 309, 317–318, 331, 334 Heliadische Jungfrauen 20–22, 24–25 Helios 21–22, 24–25 Heraklit 21 Herodot 14, 51 Hervorgang 245–246, 286, 290, 365–366 Hippokrates 14, 72 homo mensura 47–50, 52, 54–56 Hypostase 320–321 Ideenkritik 146–150, 158, 199 Ideenlehre 5, 79, 91, 92, 95, 96, 106, 108, 113, 146, 147, 148, 149, 157, 158, 159, 255, 398 imago s. Bild Inkarnation 300–303, 305–306, 309, 316–317, 330 Jesus Christus 218, 293, 294, 300, 301, 303, 309, 316, 317, 326, 332–344, 365, 372, 389 Kallias 161 Kallikles 69, 73, 90, 149 Kambyses 51 Kleanthes 201 Kommunikabilität 1–2, 5, 6–7, 60–62, 107, 266–268, 271, 274, 304, 321–322, 345, 393, 399–400 Kontradiktionsprinzip 37, 150, 151, 152, 153, 154, 228, 234, 269, 377 Kriterium s. κριτήριον Lust 111, 130, 169, 171–172, 193, 197, 209, 220–225, 273, 359 memoria 278, 279, 280, 281, 283, 286, 292, 295, 330 mens 278–292, 295–298, 304, 342, 349 Metaphysik 1–3, 17, 190 modus 292, 340 Mystik 264, 266, 321
Namens- und Sachregister
natura 201, 338, 366, 393, 394 Nilschwemme 14 Norm 5–6, 10, 96, 122, 136, 145, 166, 185, 217–221, 226–227, 251, 254, 262, 332–333, 335–336, 342–343, 388, 397–399 Panaitios 201 participatio 379, 382 Person 90, 288–289, 293, 301, 308, 317, 326–327, 330, 342, 370, 395 petitio principii 38 Pneuma 202–204, 210, 214 Polos 85, 90 Poseidonios 218 Praxis 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 11, 18, 19, 44, 45, 69, 74, 86, 87, 89, 95, 110, 113, 115, 116, 143, 145, 146, 157, 158, 160, 162, 163, 164, 165, 166, 174, 176, 191, 195, 196, 198, 199, 200, 211, 214, 215, 217, 218, 220, 226, 227, 250, 256, 257, 258, 262, 268, 270, 274, 275, 295, 310, 336, 341, 343, 344, 346, 381, 384, 385, 386, 387, 391, 392, 393, 396, 397, 398, 399, 400, 401, 402 principium 301, 364, 365, s. Prinzip Prinzip 1–11, 14–20, 44, 68–70, 82, 95, 112–114, 119, 131, 133–138, 144–146, 149–157, 167, 183, 186, 190–193, 196–200, 202–205, 209–212, 214–218, 220, 224–238, 243–244, 247–256, 258, 262–277, 296–299, 308, 315–322, 341–350, 354–355, 362–366, 369–381, 385–387, 391–402, s. principium, ἀρχή Pythagoras v. Samos 20, 21, 22 ratio 211, 290, 300, 325, 327, 354, 364, 371, 372, 374, 375, 376, 378, 384, 386, 387, 390, 391, 392, 393, 395, 396, 400 redemptio s. Erlösung Relativismus 47, 54, 55, 56, 57, 71, 72, 82 Rückkehr 365, 381, 384 sapiens 314, 330, 335, 338, 390 sapientia 290–291, 293–296, 314, 315–316, 330–331, 333–335, 340 Scipio 219 secundum naturam vivere 201, 215 Seneca 201, 207, 210, 215, 218, 219, 312, 389 Sextus Empiricus 20, 47, 49, 50, 52, 53, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 67, 202, 284, 285 Simplikios 20, 23, 42, 43
429
substantia 229, 279, 282–283, 285–287, 289, 297, 308, 324, 360, 378, 382 summum bonum 294, 310–317, 322–326, 330, 337, 342, 358–359, 366, 368–373, 375–376, 379, 380, 383, 386–388, 391–393, 395–396, 399–400 Tautologie 38, 64, 66, 83, 126 Theologie 7, 9, 145, 225, 276, 297–298, 305–308, 320, 344, 350, 375–376, 394, 400 — negative Th. 306–307 Theorie 1–2, 11, 110–145, 158, 165, 189–199, 225, 250–252, 270, 294–296, 303, 331, 338–340, 345, 385–386, 398, 401 Torquatus 220 Trieb 181, 209, 211, 255 Trinität 288–290, 304–305, 308, 317, 339, 349–350, 396 Trost 345, 346, 350, 352, 362, 377, 401 Tüchtigkeit 71, 77–78, 80–81, 85–87, 95, 115–119, 131, 138, 166–189, 195, 198, 210–212, 219, 226–227, 256–262, 270–274, 330, 336, 340–341, 388–390 Unveränderlichkeit/unveränderlich 13, 15–16, 35, 41–42, 54, 102–104, 154, 156, 185, 292, 308, 310, 314–315, 325 Ursache 13–17, 119–120, 123, 126, 155–156, 164, 191, 236–238, 243, 258, 262, 353, 380–383, 387 uti 313, 317, 328 verbum 280, 283–287, 303, 327 — verbum dei 290–293, 302, 305–306 veritas 291, 292, 293, 296, 338, 339 visio dei 322, 331, 338–341 voluntas s. Wille voluptas s. Lust Wille 88, 121, 140, 154, 159, 204–207, 210–218, 278–282, 286, 288, 292, 295–296, 298–299, 310, 327–338, 342–344, 389 Xenophanes v. Kolophon 20 Zenon v. Elea 35, 62, 64, 92, 151 Zenon v. Kition 201, 206, 209