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German Pages 328 [345] Year 2022
Martin Minarik Im Gleichschritt des Dao
Materialitäten | Band 31
Editorial Körper, Bewegung und Raum sind in den Sozialwissenschaften noch wenig etablierte Forschungsfelder. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Soziale wesentlich über Körper, Bewegung und Raum konstituiert wird und dass diese Dimensionen des Sozialen wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Dynamik gewinnt die Forschungsperspektive, wenn Körper, Bewegung und Raum nicht länger als ontologisch, physikalisch definiert oder materiell gegeben vorausgesetzt, sondern als sozial hergestellt angesehen werden. Da Körper, Bewegung und Raum als materialisierte Formen gelten, standen sie lange Zeit in der Soziologie als Forschungsgegenstand nicht zur Diskussion und galten gar als das Andere des Sozialen. Neue Forschungsfelder machen seit wenigen Jahren jedoch deutlich, dass Körper sozial produziert werden und auch über ihre Materialität unlösbar in gesellschaftliche Prozesse und soziale Strukturen eingelassen sind. Damit ist eine fruchtbare soziologische Kontextualisierung von Körper, Bewegung und den über Körper-Bewegungen konstruierten Raum in Gang gekommen. Die Reihe Materialitäten hat zum Ziel, die neu entstehende Soziologie von Körper, Bewegung und Raum zu dokumentieren und editorisch zu betreuen. Sie bietet eine profilierte und hochkarätige Plattform für sozialwissenschaftliche Texte, die dieses Themenfeld vermessen und vertiefen, Beiträge zur Theorie und zur Sozialgeschichte von Körper, Bewegung und Raum sowie empirische soziologische Analysen jener sozialen Felder, in denen Körper, Bewegung und Raum eine besondere Bedeutung gewinnen. Hierzu gehören Stadt und öffentlicher Raum, Sport und Spiel, Alltagskultur und populäre Kultur. Die Reihe will Anschlussstellen aufzeigen zu jenen Soziologien, die mit den Themenfeldern Körper, Bewegung und Raum eng verwandt sind – etwa Geschlechterforschung, Stadtsoziologie, Umweltsoziologie, Sportsoziologie, Medizinsoziologie. Und schließlich zielt die Reihe Materialitäten darauf ab, soziologische Forschung in diesen Themenfeldern zu bündeln und auf diese Weise Anknüpfungspunkte an interdisziplinäre und internationale Diskurse herzustellen. Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser.
Martin Minarik promovierte am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg am Arbeitsbereich Kultur, Medien und Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Performativität und Theatralität, Körper- und Bewegungssoziologie und Martial Arts als kulturelle Praktiken. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit befasst er sich auch praktisch mit Martial Arts und Performance. Er ist u.a. Träger des 4. Dan im Kukki-Taekwondo.
Martin Minarik
Im Gleichschritt des Dao Zur Performativität von Normen, Werten und Idealen in der Taekwondo-Praxis in Südkorea
Qualifikationsnachweis: Die vorliegende Arbeit stellt eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die 2020 der Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg vorgelegt und am 27. November 2020 verteidigt wurde.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Australian Paralympic Committee: Seoul Paralympic Games Opening Ceremony Taekwondo Demonstration (Wikimedia Commons) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5913-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5913-3 https://doi.org/10.14361/9783839459133 Buchreihen-ISSN: 2703-027X Buchreihen-eISSN: 2703-0288 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Abbildungen und Tabellen | 9 Vorwort | 11 1.
Einleitung | 13
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Martial Arts als Forschungsfeld | 15 Martial Arts und Embodiment | 17 Eingrenzung und Thema der Arbeit | 18 Forschungsleitende Fragestellungen | 20 Aufbau der Arbeit | 20 Hinweise zu Romanisierungen | 23
2.
Taekwondo: Institutionelle Struktur, Geschichte und Spirit | 25
2.1 Taekwondo und seine Institutionen | 27 2.2 Ein ideologiebehaftetes Terrain: Zur Geschichte des Taekwondo | 31 2.2.1 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Die Kwan-Ära | 34 2.2.2 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Beginn der Vereinigungsbestrebungen | 38 2.2.3 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Der Aufstieg des Kukki-Taekwondo | 42 2.2.4 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Die globale Sportpolitik der WT(F) | 44 2.2.5 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Die kulturellen Ansprüche des Kukkiwon in Korea und weltweit | 45 2.2.6 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Zusammenfassung und heutige Situation | 48 2.3 Der Taekwondo Spirit | 49
3.
Theoretische Grundlagen: Taekwondo(-Training) als Praxis und Performance | 63
3.1 Das Soziale als Praxis | 67 3.1.1 Grundelemente und theoretische Eckpfeiler der Praxistheorie | 70 3.1.2 Praxis und soziale Ordnungen: Zwischen Stabilität und Instabilität | 74 3.1.3 Normen, Werte und Ideale im Kontext praxistheoretischer Ansätze | 77 3.1.4 Sport und Populäre Bewegungskulturen im gesellschaftlichen Kontext: Eine praxeologische Perspektive | 80 3.1.5 Taekwondo als Praxis: Eine Zwischenbilanz | 85 3.2 Cultural Performance: Zwischen Performativität, Theatralität und Ritualität | 87 3.2.1 Performativität: Eine kurze Bestandsaufnahme | 90 3.2.2 Performativität im Kontext von Cultural Performances und Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen | 93 3.2.3 Theatralität im Kontext von Cultural Performances und Versuch einer Skizze einer Theorie theatraler Praxis | 106 3.2.4 Ritualität im Kontext von Cultural Performances | 116 3.2.4.1 Ritualität und Communitas | 117 3.2.4.2 Ritualität und Alltäglichkeit: Struktur und Anti-Struktur | 122 3.2.5 Taekwondo als Cultural Performance: Performativität, Theatralität und Ritualität | 126 3.3 Zwischenbilanz und Konkretisierung der Forschungsfragen | 128 4.
Einführung in die Empirie: Methodologische Vorüberlegungen und Orientierung im Feld | 131
4.1 Beobachtenden Teilnahme als Forschungsmethode in den Martial Arts Studies: methodische Grundlagen, Datenerhebung und -aufzeichnung | 132 4.2 Beobachtenden Teilnahme und ihre kritischen Aspekte | 138 4.3 Das Analyseverfahren: Die Aufführungsanalyse | 143 4.3.1 Die Aufführungsanalyse als Methode in der Theater- und Tanzwissenschaft | 143 4.3.2 Semiotische Analyse oder phänomenologische Analyse? Eine performativitäts-ästhetische Analyse | 145
4.4 Methodologische Zwischenbilanz | 151 4.5 Das Feld. Eine Einführung: Zugang, Orientierung und Auswahl des Forschungskontextes | 152 4.5.1 Planung und Vorarbeit | 153 4.5.2 Ankunft und erste Orientierung | 154 4.5.3 Der Forschungskontext: Ein Überblick | 155 4.5.4 Rollenwechsel, Strategiewechsel und Reflexionsprozess: Ein geeigneter Forschungskontext? | 157 4.5.5 Strategiewechsel und Forschungskontext: Diskussion | 159 5.
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis: Ein Fallbeispiel | 163
5.1 Der Dojang: Zwischen Funktionalität und Ästhetik | 164 5.2 Die Akteur*innen: Zwischen (Selbst-)Präsentation und Repräsentation | 172 5.2.1 Die Schüler*innen | 173 5.2.2 Die Trainer | 178 5.2.3 Der Schulleiter | 179 5.2.4 Zusammenfassung | 181 5.3 Das Training: Praktiken und Praxis im Spannungsverhältnis von Performativität, Theatralität und Ritualität | 182 5.3.1 Grundgerüst | 182 5.3.2 Fußtechniken | 192 5.3.3 Kibondongjak/Poomsae | 209 5.3.4 Kyŏrugi | 230 5.3.5 Undong | 241 5.3.6 Gehen, Drehen, Sitzen | 248 5.3.7 Performance(-vorbereitung) | 253 5.3.8 Freies Training | 263 5.4 Zwischenbilanz | 266 6.
Der Performative Taekwondo Spirit: Zwischen Selbstreferentialität und Emergenz | 273
6.1 Selbstreferentieller und institutioneller Taekwondo Spirit | 274 6.2 Taekwondo-Praxis, gesellschaftlicher Kontext und emergenter Taekwondo Spirit | 280 6.3 Verflechtungen: Selbstreferentieller Taekwondo Spirit und emergenter Taekwondo Spirit | 284 6.4 Taekwondo Spirit: Theatralität und Ritualität | 286
6.5 Zusammenfassung, Einordnung und Diskussion | 290 6.5.1 Einordnung | 291 6.5.2 Diskussion | 296 6.5.3 Abschließender Überblick | 298 7.
Schluss: Resümee, Grenzen, Anknüpfungspunkte und Wissenstransfer | 301
7.1 Zentrale Ergebnisse | 301 7.2 Begrenzungen und Anknüpfungspunkte | 303 7.3 Wissenschaftlicher Mehrwert und Wissenstransfer | 304 Quellenverzeichnis | 307
Abbildungen und Tabellen
Abbildungen
Abbildung 1: Schechners „Loop-Model“ (Schechner, Richard. 2013. Performance Studies: An Introduction, New York: Routledge, S. 77). | 124 Tabellen
Tabelle 1: Der institutionelle Taekwondo Spirit | 58 Tabelle 2: Grundgerüst. Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 190 Tabelle 3: Fußtechniken. Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 205 Tabelle 4: Kibondongjak/Poomsae. Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 224 Tabelle 5: Kyŏrugi. Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 237 Tabelle 6: Undong. Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 246 Tabelle 7: Gehen, Drehen, Sitzen. Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 251 Tabelle 8: Performance(-vorbereitung). Selbstreferentielle Bedeutungsebene | 260 Tabelle 9: Taekwondo Spirit in der Praxis (selbstreferentielle Bedeutungsebene) | 268
10 | Im Gleichschritt des Dao
Tabelle 10: Gegenüberstellung institutioneller und selbstreferentieller Taekwondo Spirit | 274 Tabelle 11: Forschungsüberblick und Argumentationsstruktur | 299
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die am Arbeitsbereich „Medien, Kultur und Gesellschaft“ des Instituts für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg verfasst wurde. Da dieses Buch ohne die Unterstützung vieler Menschen nicht vorliegen würde, möchte ich zumindest Einigen auf diesem Wege einen besonderen Dank aussprechen. Zunächst möchte ich meiner Betreuerin Prof. Dr. Gabriele Klein für ihre unermüdliche Hilfs- und Diskussionsbereitschaft danken. Sie war es auch, die mich auf praxeologische Konzeptionen des Sozialen aufmerksam machte und somit maßgeblich die theoretische Verankerung dieser Arbeit prägte. Ich danke auch meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Peter Kuhn für seine vielen Anregungen im Prozess des Schreibens dieser Dissertation. Vielen Dank auch an Prof. Udo Moenig, PhD für unsere interessanten Gespräche in Busan und seinen kostbaren Rat beim Verfassen des Kapitels zur Geschichte und institutionellen Einbettung des Taekwondo in Südkorea. Darüber hinaus möchte ich mich ebenfalls beim Qualifikationskolloquium des Arbeitsbereichs „Kultur, Medien und Gesellschaft“ des Instituts für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg bedanken. Ohne die vielen Diskussionen und produktiv-kritischen Anmerkungen wäre diese Arbeit kaum in dieser Form zustande gekommen. Insbesondere geht hier mein Dank an Sujin Kim, die mir bei zusätzlichen Fragen rund um Südkorea eine wichtige Ansprechpartnerin war. Weiters gilt mein Dank den Kolleg*innen der Kommission Kampfkunst und Kampfsport sowie des Martial Arts Studies Research Network für den produktiven Austausch im Rahmen mehrerer Konferenzen. Ich danke außerdem Safira Jürgens für ihre wertvolle Hilfe beim Lektorat der Dissertation. Unsere vielen Gespräche haben darüber hinaus wesentlich zur Formulierung der eigenen Gedanken beigetragen. Mein Dank gilt außerdem Pil-Jong Seo, 6. Dan, der mich in meiner Jugend für Taekwondo sowie das mir damals vollkommen unbekannte Land Korea begeistern konnte und ohne dessen
12 | Im Gleichschritt des Dao
Vermittlung die empirische Forschung dieser Studie in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Christopher Zysik danke ich für die gemeinsamen produktiven Arbeitsphasen und nicht zuletzt die gemeinsamen Gespräche, die mich auf zentrale Argumente post-kolonialer Theorie aufmerksam gemacht haben. Abschließend danke ich meinen Eltern Daša und Pavel Minarik, die mich immer in meinen Bestrebungen unterstützt haben. Wien im August 2021 Martin Minarik
1. Einleitung
Martial Arts, im deutschsprachigen Alltagsgebrauch meist mit den Begriffen Kampfkunst oder Kampfsport1 bezeichnet, haben heute einen festen Platz in der globalen Populärkultur eingenommen,sowohl als mediale Repräsentationen wie auch als populäre Bewegungspraktiken, die von Menschen weltweit, insbesondere Kindern und Jugendlichen, praktiziert werden. Doch was meint „Martial Arts“ eigentlich? Was ist unter dem Begriff „Martial Arts“ zu verstehen? Und ist es erforderlich, Martial Arts zu definieren, um sie und ihre gesellschaftliche Rolle zu untersuchen? In jedem Fall sind Martial Arts als ein heterogenes Feld anzuerkennen und können laut Sixt Wetzler unter unterschiedlichen Ausübungsparadigmen praktiziert werden: „Preparation for violent conflict“, „play“, „competition“, „performance“, „transcendent goals“ und „health care“. 2 Laut Paul Bowman kann Martial Arts prinzipiell alles umfassen, das als Martial Arts benannt wird.3 Diese Sichtweise berge jedoch zwangsläufig Schwierigkeiten, denn wie könne etwas untersucht werden, ohne es zuvor definiert zu haben. Bowman verweist hier auf Benjamin Judkins Argument, die relevante Frage sei nicht, was
1
Anm.: Die Verwendung dieser Begriffe in der Alltagssprache ist bei weitem nicht einheitlich. Manchmal werden beide Begriffe synonym verwendet, manchmal in scharfer Abgrenzung zueinander. „Kampfsport“ umfasst alle Formen, bei denen der sportliche Wettkampf im Mittelpunkt steht und das „Ziel“ des Trainings darstellt. „Kampfkunst“ meint hingegen all jene Formen, die in erster Linie einen selbstzwecklich-künstlerischen Anspruch besitzen, also besonders auf die ästhetische Ausübung Wert legen. „Traditionalität“ spielt hier ebenfalls eine Rolle wie auch mögliche spirituelle oder gesundheitliche Aspekte. Oftmals ist diesen beiden Begriffen noch die Bezeichnung „Selbstverteidigungssystem“ oder „Selbstverteidigung“ beigeordnet, welcher Formen mit einem Fokus auf effizienten (Selbst-)Schutz bezeichnen soll.
2
Wetzler 2015, S. 26.
3
Vgl. Bowman 2019, S. 2.
14 | Im Gleichschritt des Dao
Martial Arts seien, sondern warum man Phänomene, die sich selbst als Martial Arts verstehen, untersuchen solle.4 Eine Antwort könnte lauten, dass viele populäre Bewegungskulturen 5 sich selbst einen besonderen Wert hinsichtlich der Selbstkultivierung ihrer Praktizierenden und ihres genuinen pädagogischen Potentials attestieren. Insbesondere für Kinder seien Martial Arts diesem Narrativ nach ideal, um besondere Normen, Werte und Ideale zu erlernen. So heißt es etwa auf der Homepage des DKV (Deutscher Karate Verband): „Auch heute noch spiegelt sich im Karate-Do die fernöstliche Philosophie wider. […] Im Training und im Wettkampf wird dieser hohe ethische Anspruch konkret: Nicht Sieg oder Niederlage sind das eigentliche Ziel, sondern die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch Selbstbeherrschung und äußerste Konzentration. Die Achtung vor dem Gegner steht an oberster Stelle.“6
Dies eröffnet nun zwei Problematiken. Erstens sind die historischen Kontexte, in denen sich viele der gegenwärtig praktizierten Martial Arts auszuformen begannen, aus heutiger Sicht hinsichtlich ihrer sozialen, kulturellen und politischen Dispositive als problematisch zu erachten. Zweitens ist die Annahme, dass Martial Arts als populäre Bewegungskulturen genuine Normen, Werte und Ideale als kulturelle Essenzen kommunizieren, zumindest anzuzweifeln. Laut Gabriele Klein sei generell zu fragen, ob und in welcher Form „jede Bewegungs-Kultur ihre eigenen Werte, Normen, Muster, Ästhetiken, Symbole, Rituale und Sprache hat, die – zumindest in der Idee – gleichwertig nebeneinander stehen.“7 Martial Arts, ihr Zusammenhang mit Normen, Werten und Idealen und ihre damit verbundene Einbindung in gesellschaftliche Prozesse der individuellen wie auch kollektiven Identitätsbildung, bedürfen somit einer verstärkten Aufmerksamkeit und sind daher Thema dieser Arbeit.
4 5
Vgl. Bowman 2019, S. 2. Anm.: Der Begriff „Bewegungskultur“ wird in dieser Schreibweise im weiteren Verlauf dieser Arbeit verwendet. Er bezieht sich auf den von Gabriele Klein verwendeten Begriff „Bewegungs-Kultur“ (Klein 2015), der eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf den alltagsgebräuchlichen Begriff des „Sports“ favorisiert.
6
Homepage des DKV (Deutscher Karateverband), https://www.karate.de/de/karate/was -ist-karate.php, abgerufen 30.04.2020.
7
Klein 2015, S. 137.
Einleitung | 15
1.1
MARTIAL ARTS ALS FORSCHUNGSFELD
Die vorliegende Arbeit verortet sich selbst im Forschungsfeld der Martial Arts Studies, einem trotz früher Anfänge, jungen Forschungsfeld. Während Abhandlungen über kämpferische Techniken vermutlich ähnlich alt sind wie komplexere Schriftkulturen selbst, kann die dezidiert akademische Verhandlung solcher Praktiken als erstes dem englischen Offizier, Afrikaforscher und Orientalisten Richard Francis Burton (1821-1890) zugeschrieben werden. In Werken wie The Book of the Sword von 1883 beschreibt Burton den Kampf als anthropologische Konstante, als etwas, das allen menschlichen Kulturen gemeinsam sei. Sein Buch umfasst als eines der ersten eine geografisch und historisch kulturübergreifende, systematische Abhandlung über die Bedeutung des Schwertes und wird somit als eines der wegbereitenden Werke für die spätere Herausbildung der sogenannten Hoplologie8 genannt. Hoplologie stellt wiederum einen ersten Versuch dar, kämpferische Praktiken innerhalb eines breiteren akademischen Diskurses zu etablieren und zu institutionalisieren. Die zentrale Figur innerhalb dieser Bestrebungen war Donn F. Draeger (1922-1982), der bereits in seiner Jugend in den USA mit Jūjutsu und Jūdō in Berührung gekommen war und sich während seiner militärischen Stationierung in Ost- und Südostasien nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl praktisch als auch theoretisch mit den dortigen kämpferischen Bewegungskulturen auseinandersetzte. Ab den 1960er-Jahren und verstärkt in den 1970er-Jahren veröffentlichte Draeger mehrere Studien zum indonesischen Pentjak Silat 9 sowie zu japanischen und chinesischen Stilen.10 Zu dieser Zeit gründete er die International Hoplology Society 11 mit damaligem Sitz in Tokio, die jedoch nie eine weitreichende akademische Relevanz erreichen konnte und deren Aktivitäten in den weiteren Jahren ihres Bestehens deutlich abnahmen.12 Abgesehen von den Versuchen Draegers wurden Martial Arts bereits vielfach als Untersuchungsgegenstand in Studien unterschiedlicher akademischer Felder thematisiert, darunter in der Geschichtswissenschaft, Anthropologie und
8
Hoplologie: abgeleitet vom altgriechischen ὁπλίτης (hoplítēs, Hoplit), einem Lanzenkrieger des antiken Griechenlands.
9
Draeger 1978; 1980.
10 Draeger 1996a; b; c; 1976. 11 Patreon Site International Hoplology Society, https://www.patreon.com/hoplolo gy?fbclid=IwAR06eOl-1dXlrgWK-5JrRLyQ4HxNAiFsmo6Oc9ejKWlsmf6tzWqTKe qHOs, abgerufen 23.06.2020. 12 Vgl. Bowman 2019, S. 37ff.
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Ethnologie, Sportwissenschaft, Soziologie oder Religionswissenschaft. 13 Ab den 2000er-Jahren zeichneten sich an mehreren Orten jedoch verstärkt Bestrebungen ab, die akademische Verhandlung von Martial Arts zu bündeln, den gegenseitigen Austausch von Forscher*innen zu ermöglichen sowie den wissenschaftlichen Diskurs zu fördern und zu institutionalisieren. Heute existieren in diesem Zusammenhang drei internationale interdisziplinäre Vereinigungen, welche den deutsch- und englischsprachigen akademischen Diskurs dominieren: Die Kommission „Kampfkunst und Kampfsport“ der DVS (Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft), das Martial Arts Studies Research Network sowie die IMACSSS (International Martial Arts and Combat Sports Scientific Society). Zudem gibt das Department of Physical Education and Sport der Universität von León in Spanien das halbjährliche wissenschaftliche Journal Revista de Artes Marciales Asiáticas (RAMA) heraus, das Beiträge zu Martial Arts in spanischer, portugiesischer und englischer Sprache veröffentlicht. 14 Daneben existieren in ostasiatischen Ländern weitere Organisationen, welche die wissenschaftliche Erforschung von Martial Arts fördern. Sie besitzen im englischsprachigen Diskurs jedoch eine marginale Rolle, da die Veröffentlichungen überwiegend in der jeweiligen Landesprache verfasst sind. Der akademische Kontext, in dem sich diese Arbeit verortet, umfasst in erster Linie das Netzwerk der Kommission „Kampfkunst und Kampfsport“ der DVS, welche 2011 durch Peter Kuhn von der Universität Bayreuth und Harald Lange von der Universität Würzburg initiiert 15 und 2012 schließlich als jüngste Kommission der DVS gegründet wurde, sowie das Martial Arts Studies Research Network, welches 2015 durch Paul Bowman und Benjamin Judkins initiiert wurde.16 Beide Vereinigungen halten seither jährliche Konferenzen ab und pflegen ein eigenes wissenschaftliches Journal.17 Während die Kommission „Kampfkunst und Kampfsport“ in ihrer Anfangszeit einen starken Schwerpunkt auf sportwissenschaftliche bzw. sportpädagogische Forschung setzte, ist in beiden 13 Vgl. Bowman 2015, S. 3. 14 Website des RAMA, http://revpubli.unileon.es/ojs/index.php/artesmarciales, abgerufen 23.06.2020. 15 Dazu fand 2011 ein Auftaktsymposium unter dem Titel „Kampfkunst und Kampfsport in Lehre und Forschung“ an der Universität Bayreuth statt, im Rahmen dessen ein erstes gemeinsames Positionspapier erarbeitet wurde. 16 Die erste eigene Konferenz fand 2015 unter dem Titel „Martial Arts Studies Conference 2015“ in Cardiff/UK statt. 17 Martial Arts Studies Journal, https://mas.cardiffuniversitypress.org/, abgerufen 30.04.2020, und JOMAR Journal of Martial Arts Research: https://ojs.unibayreuth.de/index.php/jomar, abgerufen 30.04.2020.
Einleitung | 17
Netzwerken gegenwärtig ein hoher kulturwissenschaftlicher Forschungsanteil zu beobachten. Ein Themenkomplex ist in beiden institutionellen Kontexten in den letzten Jahren verstärkt diskutiert worden: das Thema Embodiment oder Verkörperung. In dem 2018 erschienenen Sammelband The Martial Arts Studies Reader 18 wurden in diesem Zusammenhang verstärkt die Verkörperung von Geschlechterrollen und -typen 19 sowie populärkultureller Diskurse 20 behandelt. Auch das Forschungsfeld der Verkörperung von individueller wie auch kollektiver Identität und Ideologie ist hierin bereits eröffnet worden. In diesem verortet sich auch die vorliegende Studie, indem sie Normen, Werte und Ideale als Aspekte der Verkörperung solcher Komplexe versteht. Um die Verortung der Arbeit in diesem Forschungsfeld zu verdeutlichen, wird zunächst eine kurze Bestandsaufnahme zum Forschungsstand von Martial Arts und Verkörperung/Embodiment geliefert.
1.2
MARTIAL ARTS UND EMBODIMENT
Die Thematik der Verkörperung bzw. des Embodiment in Martial Arts wurde zum ersten Mal in fokussierter Form in dem 2011 erschienenen Sammelband Martial Arts as Embodied Knowledge. Asian Traditions in a Transnational World 21 , herausgegeben von Douglas S. Farrer und John Whalen-Bridge, zusammengetragen.22 In drei Teilabschnitten werden darin Aufsätze zu den Themen Embodied Fantasy, How the Social Body Trains und Transnational SelfConstruction zusammengefasst. Sie liefern damit einen ersten umfassenden Überblick über die Verbindung von Martial Arts und populärkulturellen Narrativen, sozialen Strukturen und Identitätskonstruktionen. Mit ihrer Bestandsaufnahme Exploring Embodiment through Martial Arts and Combat Sports: A Review of Empirical Research23 versuchten Alex Channon und George Jennings einen Überblick über bisherige Arbeiten auf diesem Gebiet zu liefern und daran anknüpfend weitere mögliche Forschungsthemen aufzuzeigen. Laut ihnen sei die Verkörperung nationalstaatlicher Politik und die Verbindung politischer Pro-
18 Bowman 2018. 19 Channon 2018; Spencer 2018. 20 Trausch 2018. 21 Farrer/Whalen-Bridge 2011. 22 Einzelne Beiträge finden sich hingegen bereits in dem 2002 erschienenen Sammelband Combat, Ritual and Performance. Anthropology of the Martial Arts (Jones 2002). 23 Channon/Jennings 2014.
Einleitung | 17
Netzwerken gegenwärtig ein hoher kulturwissenschaftlicher Forschungsanteil zu beobachten. Ein Themenkomplex ist in beiden institutionellen Kontexten in den letzten Jahren verstärkt diskutiert worden: das Thema Embodiment oder Verkörperung. In dem 2018 erschienenen Sammelband The Martial Arts Studies Reader 18 wurden in diesem Zusammenhang verstärkt die Verkörperung von Geschlechterrollen und -typen 19 sowie populärkultureller Diskurse 20 behandelt. Auch das Forschungsfeld der Verkörperung von individueller wie auch kollektiver Identität und Ideologie ist hierin bereits eröffnet worden. In diesem verortet sich auch die vorliegende Studie, indem sie Normen, Werte und Ideale als Aspekte der Verkörperung solcher Komplexe versteht. Um die Verortung der Arbeit in diesem Forschungsfeld zu verdeutlichen, wird zunächst eine kurze Bestandsaufnahme zum Forschungsstand von Martial Arts und Verkörperung/Embodiment geliefert.
1.2
MARTIAL ARTS UND EMBODIMENT
Die Thematik der Verkörperung bzw. des Embodiment in Martial Arts wurde zum ersten Mal in fokussierter Form in dem 2011 erschienenen Sammelband Martial Arts as Embodied Knowledge. Asian Traditions in a Transnational World 21 , herausgegeben von Douglas S. Farrer und John Whalen-Bridge, zusammengetragen.22 In drei Teilabschnitten werden darin Aufsätze zu den Themen Embodied Fantasy, How the Social Body Trains und Transnational SelfConstruction zusammengefasst. Sie liefern damit einen ersten umfassenden Überblick über die Verbindung von Martial Arts und populärkulturellen Narrativen, sozialen Strukturen und Identitätskonstruktionen. Mit ihrer Bestandsaufnahme Exploring Embodiment through Martial Arts and Combat Sports: A Review of Empirical Research23 versuchten Alex Channon und George Jennings einen Überblick über bisherige Arbeiten auf diesem Gebiet zu liefern und daran anknüpfend weitere mögliche Forschungsthemen aufzuzeigen. Laut ihnen sei die Verkörperung nationalstaatlicher Politik und die Verbindung politischer Pro-
18 Bowman 2018. 19 Channon 2018; Spencer 2018. 20 Trausch 2018. 21 Farrer/Whalen-Bridge 2011. 22 Einzelne Beiträge finden sich hingegen bereits in dem 2002 erschienenen Sammelband Combat, Ritual and Performance. Anthropology of the Martial Arts (Jones 2002). 23 Channon/Jennings 2014.
18 | Im Gleichschritt des Dao
grammatik und Martial Arts ein Themenfeld, das weiterer Forschung bedürfe. Tatsächlich wurde die Verwobenheit von Martial Arts und politischen Programmatiken im Kontext der nation-building-Prozesse ostasiatischer Staaten inzwischen mehrfach bearbeitet.24 Die bisher erschienenen Studien fokussieren dabei hauptsächlich Beispiele aus China und Japan, während Beispiele aus anderen ostasiatischen Ländern noch unterrepräsentiert sind. Ein wichtiger Aspekt ihrer Analyse ist die Einbindung von Martial Arts in Prozessen der kollektiven Identitätsbildung und Pädagogisierung gemäß nationalistischer, militaristischer und chauvinistischer Ideologien in historischer Perspektive. Gerade im Zusammenhang mit dem gegenwärtig formulierten Anspruch der Wertevermittlung zeigt sich dieser Forschungsgegenstand daher als aktuell, stellt sich doch die Frage, wieweit solche ideologischen Konzepte in der gegenwärtigen Praxis von Martial Arts, bewusst oder unbewusst, explizit oder implizit, noch immer eine Rolle spielen.
1.3
EINGRENZUNG UND THEMA DER ARBEIT
In einem breiteren Forschungszusammenhang beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit Verkörperung/Embodiment von Normen, Werten und Idealen in Martial Arts. Konkret wird dies anhand des weltweit populären Taekwondo untersucht. Warum Taekwondo? Zunächst ist der Fokus auf Taekwondo durch die eigene langjährige Praxis begründet. Die eigene Praxis ist dabei nicht nur ein Grund für das forschungsleitende Interesse, sondern gleichzeitig auch zentrales Element der Forschungsmethode, auf die im weiteren Verlauf ausführlicher eingegangen wird. Mindestens genauso wichtig ist jedoch auch das aktuelle politische Interesse an Taekwondo in seinem „Ursprungsland“ Südkorea.25 Dabei sind zwei Umstände von besonderem Interesse. Taekwondo wurde am 30. März 2018vom südkoreanischen Parlament in einer Abstimmung de jure zum Nationalsport erhoben,26 nachdem Taekwondo diese Position bereits 1971 inoffiziell erhielt. Des Weiteren spielt Taekwondo aktuell für Südkorea eine wichtige
24 Benesch 2014; Kennedy/Guo 2010; Lorge 2012; Meyer 2014; Minarik 2017b; Moenig 2013; 2017a; b; Morris 2004; Wile 2020. 25 Anm.: „Ursprungsland“ ist hier in Anführungszeichen gesetzt, da dieser Begriff auf einem essentialistischen Kulturkonzept basiert, der nicht dem theoretischen Grundverständnis dieser Arbeit entspricht. 26 „Statement on the Designation of Taekwondo as a National Sport”, http: //kukkiwon.or.kr/front/eng/pr/news.action?cmd=View&seq=2063&catgory=2&pageN um=7&searchKey=&searchVal=, abgerufen 30.04.2020.
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grammatik und Martial Arts ein Themenfeld, das weiterer Forschung bedürfe. Tatsächlich wurde die Verwobenheit von Martial Arts und politischen Programmatiken im Kontext der nation-building-Prozesse ostasiatischer Staaten inzwischen mehrfach bearbeitet.24 Die bisher erschienenen Studien fokussieren dabei hauptsächlich Beispiele aus China und Japan, während Beispiele aus anderen ostasiatischen Ländern noch unterrepräsentiert sind. Ein wichtiger Aspekt ihrer Analyse ist die Einbindung von Martial Arts in Prozessen der kollektiven Identitätsbildung und Pädagogisierung gemäß nationalistischer, militaristischer und chauvinistischer Ideologien in historischer Perspektive. Gerade im Zusammenhang mit dem gegenwärtig formulierten Anspruch der Wertevermittlung zeigt sich dieser Forschungsgegenstand daher als aktuell, stellt sich doch die Frage, wieweit solche ideologischen Konzepte in der gegenwärtigen Praxis von Martial Arts, bewusst oder unbewusst, explizit oder implizit, noch immer eine Rolle spielen.
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EINGRENZUNG UND THEMA DER ARBEIT
In einem breiteren Forschungszusammenhang beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit Verkörperung/Embodiment von Normen, Werten und Idealen in Martial Arts. Konkret wird dies anhand des weltweit populären Taekwondo untersucht. Warum Taekwondo? Zunächst ist der Fokus auf Taekwondo durch die eigene langjährige Praxis begründet. Die eigene Praxis ist dabei nicht nur ein Grund für das forschungsleitende Interesse, sondern gleichzeitig auch zentrales Element der Forschungsmethode, auf die im weiteren Verlauf ausführlicher eingegangen wird. Mindestens genauso wichtig ist jedoch auch das aktuelle politische Interesse an Taekwondo in seinem „Ursprungsland“ Südkorea.25 Dabei sind zwei Umstände von besonderem Interesse. Taekwondo wurde am 30. März 2018vom südkoreanischen Parlament in einer Abstimmung de jure zum Nationalsport erhoben,26 nachdem Taekwondo diese Position bereits 1971 inoffiziell erhielt. Des Weiteren spielt Taekwondo aktuell für Südkorea eine wichtige
24 Benesch 2014; Kennedy/Guo 2010; Lorge 2012; Meyer 2014; Minarik 2017b; Moenig 2013; 2017a; b; Morris 2004; Wile 2020. 25 Anm.: „Ursprungsland“ ist hier in Anführungszeichen gesetzt, da dieser Begriff auf einem essentialistischen Kulturkonzept basiert, der nicht dem theoretischen Grundverständnis dieser Arbeit entspricht. 26 „Statement on the Designation of Taekwondo as a National Sport”, http: //kukkiwon.or.kr/front/eng/pr/news.action?cmd=View&seq=2063&catgory=2&pageN um=7&searchKey=&searchVal=, abgerufen 30.04.2020.
Einleitung | 19
Rolle als Methode der soft diplomacy im wiedererstarkten Annäherungsprozess zwischen Süd- und Nordkorea. Zwar kann Taekwondo hier bereits auf eine längere Tradition zurückblicken, 27 jedoch waren gerade die Jahre zwischen 2018 und 2020 in dieser Hinsicht besonders ereignisreich. So war etwa eine gemeinsame Aufführung von Taekwondo-Praktizierenden aus Süd- und Nordkorea Teil der Eröffnungszeremonie der olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang in Südkorea. Daraufhin unternahmen süd- und nordkoreanische Taekwondo Performance-Teams im Jahr 2019 gemeinsam eine Tournee durch Europa. Ihre Stationen waren am 5. April 2019 Wien, am 11. April das Olympische Museum in Lausanne und am 12. April 2019 die Niederlassung der Vereinten Nationen in Genf. 28 Nicht nur in den inter-koreanischen Bestrebungen ist Taekwondo eingebunden. Auch in der humanitären Zusammenarbeit mit Staaten aus dem Nahen Osten und Afrika ist Taekwondo durch die Aktivitäten des Taekwondo Peace Corps 29 und der Taekwondo Humanitarian Foundation 30 aktiv. Durch seine massenmediale Einbindung ist Taekwondo darüber hinaus Teil einer globalen Populärkultur und ein koreanisches Exportgut, das in mindestens 210 Ländern weltweit praktiziert wird. 31 Als „Ursprungsland des Taekwondo“ hat Korea global einen Status der besonderen Authentizität und Expertise und eine damit verbundene Machtposition innerhalb der globalen TaekwondoCommunity. Aufgrund dieser besonderen Stellung Koreas befasst sich die Arbeit daher speziell mit der Praxis des Taekwondo in Südkorea. Es geht also um die Verkörperung von Normen, Werten und Idealen in der Praxis des Taekwondo in Südkorea. Bisherige Arbeiten haben, etwa im Rahmen von deskriptiven Studien, versucht, Normen, Werte und Ideale des Taekwondo auf Basis ihrer Einbettung in „traditionelle“ ostasiatische Kosmologien und Denkschulen zu erklären und verwiesen dabei immer wieder auf den Zusammenhang mit daoistischen, buddhistischen und (neo-)konfuzianistischen Konzepten.32 Andere Studien wendeten sich diesen aus normativer Perspektive zu 27 Vgl. Johnson 2018. 28 „World Taekwondo and International Taekwon-Do Federation to host joint celebrations in Europe“, http://www.worldtaekwondo.org/wtnews/view.html?nid=126134&m cd=C10, abgerufen 30.04.2020. 29 Taekwondo Peace Corps Website, http://www.worldtaekwondo.org/development/tpc/, abgerufen 30.04.2020. 30 Taekwondo Humanitarian Foundation Homepage, http://thfaid.org/, abgerufen 30.04.2020. 31 Vgl. World Taekwondo Members, http://www.worldtaekwondo.org/about-wt/mem bers/, abgerufen 24.06.2020. 32 Kim 2012; Johnson 2017.
20 | Im Gleichschritt des Dao
und haben versucht, jeweils eigene Normen, Werten und Ideale für die Praxis des Taekwondo zu formulieren.33 Zu diesem wissenschaftlichen Diskurs möchte die vorliegende Studie eine alternative Perspektive beitragen. Um den Umfang dieser Arbeit überschaubar zu halten, konzentriert sich die Untersuchung speziell auf die Trainingspraxis des Taekwondo in Südkorea. Neben anderen Praxen, wie etwa Wettkampf oder Demo-Vorführung, nimmt die Trainingspraxis einen besonderen Stellenwert ein. Das Training macht rein zeitlich betrachtet einen signifikanten Teil der Gesamtpraxis aus und darüber hinaus ist die Trainingspraxis im Gegensatz zu Wettkämpfen oder Vorführungen der Teilbereich des Taekwondo, an dem alle Praktizierenden teilhaben. Daher befasst sich diese Studie im Besonderen mit der Trainingspraxis des Taekwondo, welche anhand eines Fallbeispiels exemplarisch untersucht wird.
1.4
FORSCHUNGSLEITENDE FRAGESTELLUNGEN
Aufbauend auf die bisherigen Vorüberlegungen werden folgende allgemeine forschungsleitende Fragen untersucht: 1. 2. 3.
Welche Normen, Werte und Ideale werden im Taekwondo(-Training) verkörpert? Wie gestalten sich die Verkörperungsprozesse von Normen, Werten und Idealen? Wie können diese Verkörperungsprozesse im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse verortet werden?
Diese grundlegenden Fragestellungen werden im Verlauf der Arbeit im Zuge einer umfangreichen theoretischen Vorüberlegung weiter spezifiziert. Anhand der kritischen Rezeption von Beiträgen aus der Taekwondo-Forschung, der Körper-, Bewegungs- und Praxissoziologie sowie den Theater- und Performance Studies werden die drei forschungsleitenden Fragestellungen jeweils am Ende des entsprechenden Kapitels spezifiziert und schließlich anhand eines Fallbeispiels untersucht.
1.5
AUFBAU DER ARBEIT
Im zweiten Kapitel folgt zunächst eine Einführung in den Untersuchungsgegenstand Taekwondo als Grundlage für die empirische Untersuchung. Ziel ist es,
33 Im/Lee 2015; Song et al. 2016; Jang et al. 2017.
20 | Im Gleichschritt des Dao
und haben versucht, jeweils eigene Normen, Werten und Ideale für die Praxis des Taekwondo zu formulieren.33 Zu diesem wissenschaftlichen Diskurs möchte die vorliegende Studie eine alternative Perspektive beitragen. Um den Umfang dieser Arbeit überschaubar zu halten, konzentriert sich die Untersuchung speziell auf die Trainingspraxis des Taekwondo in Südkorea. Neben anderen Praxen, wie etwa Wettkampf oder Demo-Vorführung, nimmt die Trainingspraxis einen besonderen Stellenwert ein. Das Training macht rein zeitlich betrachtet einen signifikanten Teil der Gesamtpraxis aus und darüber hinaus ist die Trainingspraxis im Gegensatz zu Wettkämpfen oder Vorführungen der Teilbereich des Taekwondo, an dem alle Praktizierenden teilhaben. Daher befasst sich diese Studie im Besonderen mit der Trainingspraxis des Taekwondo, welche anhand eines Fallbeispiels exemplarisch untersucht wird.
1.4
FORSCHUNGSLEITENDE FRAGESTELLUNGEN
Aufbauend auf die bisherigen Vorüberlegungen werden folgende allgemeine forschungsleitende Fragen untersucht: 1. 2. 3.
Welche Normen, Werte und Ideale werden im Taekwondo(-Training) verkörpert? Wie gestalten sich die Verkörperungsprozesse von Normen, Werten und Idealen? Wie können diese Verkörperungsprozesse im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse verortet werden?
Diese grundlegenden Fragestellungen werden im Verlauf der Arbeit im Zuge einer umfangreichen theoretischen Vorüberlegung weiter spezifiziert. Anhand der kritischen Rezeption von Beiträgen aus der Taekwondo-Forschung, der Körper-, Bewegungs- und Praxissoziologie sowie den Theater- und Performance Studies werden die drei forschungsleitenden Fragestellungen jeweils am Ende des entsprechenden Kapitels spezifiziert und schließlich anhand eines Fallbeispiels untersucht.
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AUFBAU DER ARBEIT
Im zweiten Kapitel folgt zunächst eine Einführung in den Untersuchungsgegenstand Taekwondo als Grundlage für die empirische Untersuchung. Ziel ist es,
33 Im/Lee 2015; Song et al. 2016; Jang et al. 2017.
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und haben versucht, jeweils eigene Normen, Werten und Ideale für die Praxis des Taekwondo zu formulieren.33 Zu diesem wissenschaftlichen Diskurs möchte die vorliegende Studie eine alternative Perspektive beitragen. Um den Umfang dieser Arbeit überschaubar zu halten, konzentriert sich die Untersuchung speziell auf die Trainingspraxis des Taekwondo in Südkorea. Neben anderen Praxen, wie etwa Wettkampf oder Demo-Vorführung, nimmt die Trainingspraxis einen besonderen Stellenwert ein. Das Training macht rein zeitlich betrachtet einen signifikanten Teil der Gesamtpraxis aus und darüber hinaus ist die Trainingspraxis im Gegensatz zu Wettkämpfen oder Vorführungen der Teilbereich des Taekwondo, an dem alle Praktizierenden teilhaben. Daher befasst sich diese Studie im Besonderen mit der Trainingspraxis des Taekwondo, welche anhand eines Fallbeispiels exemplarisch untersucht wird.
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FORSCHUNGSLEITENDE FRAGESTELLUNGEN
Aufbauend auf die bisherigen Vorüberlegungen werden folgende allgemeine forschungsleitende Fragen untersucht: 1. 2. 3.
Welche Normen, Werte und Ideale werden im Taekwondo(-Training) verkörpert? Wie gestalten sich die Verkörperungsprozesse von Normen, Werten und Idealen? Wie können diese Verkörperungsprozesse im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse verortet werden?
Diese grundlegenden Fragestellungen werden im Verlauf der Arbeit im Zuge einer umfangreichen theoretischen Vorüberlegung weiter spezifiziert. Anhand der kritischen Rezeption von Beiträgen aus der Taekwondo-Forschung, der Körper-, Bewegungs- und Praxissoziologie sowie den Theater- und Performance Studies werden die drei forschungsleitenden Fragestellungen jeweils am Ende des entsprechenden Kapitels spezifiziert und schließlich anhand eines Fallbeispiels untersucht.
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AUFBAU DER ARBEIT
Im zweiten Kapitel folgt zunächst eine Einführung in den Untersuchungsgegenstand Taekwondo als Grundlage für die empirische Untersuchung. Ziel ist es,
33 Im/Lee 2015; Song et al. 2016; Jang et al. 2017.
Einleitung | 21
einen einführenden Überblick über den Ausübungskontext des Taekwondo mit besonderem Fokus auf Südkorea zu liefern. Zentrales Thema ist dabei dessen dortige kultur- und bildungspolitische Einbindung. Dazu erfolgt eine Beschreibung des institutionellen Status Quo, seiner historischen Entwicklung sowie damit zusammenhängenden institutionellen Konzeptionen für Taekwondospezifische Normen, Werte und Ideale. Zur Entwicklungsgeschichte des Taekwondo im Verhältnis zu sport- und bildungspolitischen Entwicklungen in Südkorea wurde bereits umfangreiche wissenschaftliche Vorarbeit geleistet. Allen voran durch Udo Moenig, der mit seinem 2015 erschienenen Buch Taekwondo. From a Martial Art to a Martial Sport34 eine umfassende historisierende Analyse des Taekwondo und seiner Institutionen lieferte. Wesentlich ist in diesem Kapitel außerdem die Beschreibung der vermeintlich für Taekwondo spezifischen Normen, Werte und Ideale, die von institutionellen Akteuren35 unter der Sammelbezeichnung Taekwondo Spirit als kulturelle Essenz des Taekwondo aufgeführt werden. Die Darstellung erfolgt anhand von ausgewählten Schriften prominenter Taekwondo-Experten und -Institutionen. In einem letzten Schritt wird aufgezeigt, warum dieses institutionelle Ethos nicht problemlos auf die tatsächliche Praxis des Taekwondo übertragbar und eine empirische Untersuchung des Taekwondo Spirit anhand der konkreten Praxis notwendig ist. Im dritten Kapitel erfolgt die Erarbeitung einer theoretischen Grundlage für die empirische Untersuchung. Diese schöpft aus zwei Theorieansätzen, die vielfach Schnittmengen hinsichtlich ihrer jeweiligen Konzeption des Sozialen aufweisen: die soziologische Praxistheorie und die Performancetheorie. Ihr zentrales verbindendes Konzept ist das der Performativität, wie bereits detailliert von Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel aufgezeigt wurde.36 Im Rahmen des Teilkapitels zur Praxistheorie werden zunächst die Grundlagen einer praxeologischen Perspektive des Sozialen umrissen und prägnante Unterschiede zu anderen kultursoziologischen Theorien aufgezeigt. Zentral ist, wie soziale und politische Strukturen in und durch Körper, ihre Bewegungen und sozialen Choreografien verkörpert werden.37 Ebenfalls wird argumentiert, wie Normen, Werte und Ideale, anstatt in schriftlich oder verbal ausformulierter Form, als inhärente Logik der Praxis aufgefasst werden können. Schließlich wird auch die Frage nach einer tendenziellen Stabilität bzw. Instabilität verkörperter Struktur in der Praxis anhand der Theorien Pierre Bourdieus und Judith Butlers erörtert. Am Ende dieses 34 Moenig 2017. 35 Anm.: Aufgrund der an dieser Stelle rein männlichen Autoren wurde auf die genderneutrale Schreibweise verzichtet. 36 Vgl. Klein/Göbel 2017. 37 Vgl. Klein 2009; 2012.
22 | Im Gleichschritt des Dao
ersten Teilkapitels steht ein Fundament, welches soziale Wirklichkeit als Praxis theoretisiert, die in erster Linie nicht auf gesellschaftliche, kulturelle oder politische Normen, Werte und Ideale Bezug nimmt und diese repräsentiert, sondern diese in der Praxis erst performativ hervorbringt. Im darauffolgenden Teilkapitel wird das Konzept der Cultural Performance und damit das der Aufführung als eine besondere Ausformung von Praxis eingeführt. Anhand der Begriffe Performativität, Theatralität und Ritualität werden zentrale Analysekategorien von Cultural Performances behandelt und ihre Implikationen für die Performativität von Normen, Werten und Idealen in der Praxis des Taekwondo nachgezeichnet. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Frage nach der performativen Hervorbringung von Bedeutung, welcher im Kontext von praxeologischen Theorieansätzen keine wesentliche Relevanz zukommt. Hier erfolgt notwendigerweise auch eine Aktualisierung bestehender Theatralitäts- und Ritualitätsbegriffe in Abstimmung mit praxeologischen Grundannahmen. Das vierte Kapitel behandelt das methodische Vorgehen im Rahmen der Datenerhebung wie auch in der darauffolgenden Analyse und Auswertung. Dazu wird zunächst die Beobachtende Teilnahme als Methode der Datenerhebung vorgestellt und ihre Vorteile in Bezug auf die forschungsleitende Fragestellung diskutiert. Im Zusammenhang damit werden die unterschiedlichen Formen der Datenaufzeichnung erläutert und hinsichtlich ihrer Eignung erörtert. Im Anschluss werden schließlich die zentralen Probleme, die im Verlauf der Datenerhebung auftraten und ihr Einfluss auf die Verwertbarkeit der gewonnenen Daten thematisiert. In einem weiteren Schritt werden die Methoden der Analyse und Auswertung behandelt. Diese umfassen die Aufarbeitung und Strukturierung des zuvor erhobenen Datenpools sowie dessen theoriegestützte Analyse. Daraufhin folgt eine Einführung in das Feld, eine Beschreibung des Auswahlprozesses und eine Diskussion der ausschlaggebenden Kriterien für die Wahl der untersuchten Taekwondo-Schule. Gegenstand des fünften Kapitels ist die aufgearbeitete Darstellung und Analyse des Datenkorpus, der während des Forschungsaufenthaltes zusammengetragen wurde. Im Fokus dieses Kapitels steht die Trainingspraxis des Taekwondo am Beispiel einer untersuchten Taekwondo-Schule. Dazu erfolgt zunächst eine Beschreibung der Taekwondo-Schule selbst: Die Architektur der Schulräume und ihre dekorativen bzw. repräsentativen Elemente (Bilder, Banner, Urkunden etc.), die zur grundlegenden Ausstattung des Interieurs gehören und unabhängig von der situativen Trainingspraxis einen räumlichen Rahmen bilden. Darauffolgend werden die zentralen Akteur*innen vorgestellt: die Schüler*innen, die Trainer und der Schulleiter. Besonderes Augenmerk wird auf die spezielle Bekleidung gelegt, da dieser im Taekwondo dem institutionellen Selbstverständnis
Einleitung | 23
nach ein besonderer Stellenwert zugeschrieben wird. Im nächsten Abschnitt werden schließlich die zentralen Praktiken und Praktiken-Ensembles aufgearbeitet, die in der Trainingspraxis vorgefunden wurden. Diese werden gemäß ihrer jeweiligen körperlichen Ausdrucksformen und räumlichen Anordnungen in unterschiedliche Kategorien gegliedert und mit der zuvor erarbeiteten Heuristik hinsichtlich der performativen Hervorbringung von Taekwondo Spirit, als ein für Taekwondo spezifisches Konglomerat aus Normen, Werten und Idealen, analysiert. Im sechsten Kapitel werden die Zwischenergebnisse auf Basis der Analyse der Trainingspraxis aufgegriffen und ein möglicher Taekwondo Spirit auf Grundlage der beobachteten Praxis herausgearbeitet. Dieser wird dann mit dem institutionell propagierten Taekwondo Spirit, welcher in Kapitel 2.3 ausgearbeitet wurde, in Beziehung gesetzt. In einem zweiten Schritt richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungen von Praktiken, Akteur*innen und Diskursen. Dies erfolgt in Form einer performativitätstheoretisch geleiteten Argumentation unter Berücksichtigung der Praktiken und Diskurse, die im historischen wie auch gegenwärtigen Ausübungskontext des Taekwondo in Südkorea eine zentrale Rolle spielten und aktuell spielen. Theatralität und Ritualität werden abschließend miteinbezogen und ihre Rolle in der Praxis kritisch in Bezug zu historischen und gegenwärtigen Ausübungskontexten des Taekwondo diskutiert. Auf diese Weise wird argumentativ dargelegt, wie Theatralität und Ritualität in der Trainingspraxis des Taekwondo als performative Mechanismen der Macht zu individueller und kollektiver Identitätsbildung beitragen. Es ist davon auszugehen, dass der institutionell propagierte Taekwondo Spirit und der tatsächlich in der Praxis performativ hervorgebrachte Taekwondo Spirit nicht deckungsgleich sind und sich in wesentlichen Punkten unterscheiden. Historische Körperpraktiken sind in der aktuellen Praxis noch immer in gewandelter Form präsent und durch den globalen Austausch mit verschiedenen Praktiken und Diskursen hybridisiert. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass der Taekwondo Spirit, also die verkörperten Normen, Werte und Ideale, praxisabhängig, d. h. kontextabhängig und wandelbar, ist.
1.6
HINWEISE ZU ROMANISIERUNGEN
Für die Romanisierung koreanischer, japanischer und chinesischer Namen und Begriffe wurden standardisierte Systeme der Romanisierung verwendet. In Fällen, in denen allgemein etablierte Namen und Begriffe bestehen, wurden diese aus Gründen der Wiedererkennung beibehalten. Davon abgesehen wurde für die Romanisierung koreanischer Namen und Begriffe das McCune-Reischauer-
Einleitung | 23
nach ein besonderer Stellenwert zugeschrieben wird. Im nächsten Abschnitt werden schließlich die zentralen Praktiken und Praktiken-Ensembles aufgearbeitet, die in der Trainingspraxis vorgefunden wurden. Diese werden gemäß ihrer jeweiligen körperlichen Ausdrucksformen und räumlichen Anordnungen in unterschiedliche Kategorien gegliedert und mit der zuvor erarbeiteten Heuristik hinsichtlich der performativen Hervorbringung von Taekwondo Spirit, als ein für Taekwondo spezifisches Konglomerat aus Normen, Werten und Idealen, analysiert. Im sechsten Kapitel werden die Zwischenergebnisse auf Basis der Analyse der Trainingspraxis aufgegriffen und ein möglicher Taekwondo Spirit auf Grundlage der beobachteten Praxis herausgearbeitet. Dieser wird dann mit dem institutionell propagierten Taekwondo Spirit, welcher in Kapitel 2.3 ausgearbeitet wurde, in Beziehung gesetzt. In einem zweiten Schritt richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungen von Praktiken, Akteur*innen und Diskursen. Dies erfolgt in Form einer performativitätstheoretisch geleiteten Argumentation unter Berücksichtigung der Praktiken und Diskurse, die im historischen wie auch gegenwärtigen Ausübungskontext des Taekwondo in Südkorea eine zentrale Rolle spielten und aktuell spielen. Theatralität und Ritualität werden abschließend miteinbezogen und ihre Rolle in der Praxis kritisch in Bezug zu historischen und gegenwärtigen Ausübungskontexten des Taekwondo diskutiert. Auf diese Weise wird argumentativ dargelegt, wie Theatralität und Ritualität in der Trainingspraxis des Taekwondo als performative Mechanismen der Macht zu individueller und kollektiver Identitätsbildung beitragen. Es ist davon auszugehen, dass der institutionell propagierte Taekwondo Spirit und der tatsächlich in der Praxis performativ hervorgebrachte Taekwondo Spirit nicht deckungsgleich sind und sich in wesentlichen Punkten unterscheiden. Historische Körperpraktiken sind in der aktuellen Praxis noch immer in gewandelter Form präsent und durch den globalen Austausch mit verschiedenen Praktiken und Diskursen hybridisiert. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass der Taekwondo Spirit, also die verkörperten Normen, Werte und Ideale, praxisabhängig, d. h. kontextabhängig und wandelbar, ist.
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HINWEISE ZU ROMANISIERUNGEN
Für die Romanisierung koreanischer, japanischer und chinesischer Namen und Begriffe wurden standardisierte Systeme der Romanisierung verwendet. In Fällen, in denen allgemein etablierte Namen und Begriffe bestehen, wurden diese aus Gründen der Wiedererkennung beibehalten. Davon abgesehen wurde für die Romanisierung koreanischer Namen und Begriffe das McCune-Reischauer-
24 | Im Gleichschritt des Dao
System verwendet, für japanische Namen und Begriffe das Hepburn-System und für chinesische Namen und Begriffe das Pinyin-System.
2. Taekwondo: Institutionelle Struktur, Geschichte und Spirit
Das vorliegende Kapitel bietet eine Einführung in das Phänomen Taekwondo und dient im weiteren Verlauf der Arbeit als Grundlage für die spätere empirische Untersuchung. Gleichsam bietet es einen Überblick darüber, wie Taekwondo in der Taekwondo-Fachliteratur und der Taekwondo-Forschung bisher konzipiert wurde: als institutionelle Organisationsstruktur, als historischer Gegenstand und als Verkörperung kultureller Essenzen in Form des Taekwondo Spirit. Mit diesem Kapitel wird eine zweifache Strategie verfolgt. Ziel ist es, sowohl den gegenwärtigen Forschungsstand zum Bereich Taekwondo aufzuzeigen als auch einen Überblick über den institutionellen Kontext des Taekwondo mit besonderem Fokus auf Südkorea zu liefern. Zentrales Thema ist die dortige kultur- und bildungspolitische Einbindung des Taekwondo. Weiterführend erfolgt eine Beschreibung des institutionellen Status Quo, seiner historisch gewachsenen Form sowie damit zusammenhängender institutioneller Konzeptionen der für Taekwondo spezifischen Normen, Werte und Ideale. Praxis ist nicht unwesentlich durch Institutionen sowie ihre kultur- und bildungspolitische Einbindung und historische Entwicklung bestimmt. Eine institutionelle Einordung ist daher für diese Studie hilfreich. Zur Entwicklungsgeschichte des Taekwondo ist bereits in breitem Umfang wissenschaftliche Vorarbeit geleistet worden. Anhand dieser wurde die folgende Beschreibung erarbeitet. Im ersten Schritt geht es um die institutionellen Strukturen des Taekwondo, d. h. um seine unterschiedlichen politischen Organisationsformen und Institutionen sowie deren programmatische Schwerpunkte und konzeptionelle Aufgaben auf nationaler wie internationaler Ebene. In einem zweiten Schritt folgt ein Abriss der historischen Entwicklung jener Institutionen und der dafür relevanten politischen und kulturellen Einflüsse. Diese Darstellung konzentriert sich insbesondere auf die kultur- und bildungspolitischen Meilensteine im Kontext des Taekwondo innerhalb Südkoreas nach dem Zweiten Weltkrieg. Wichtige globale
26 | Im Gleichschritt des Dao
Entwicklungen und Ereignisse wurden dabei berücksichtigt. In einem dritten Schritt wird schließlich der Taekwondo Spirit1 als Konvolut spezifischer Normen, Werte und Ideale thematisiert. Die Darstellung erfolgt anhand von ausgewählten Schriften von Taekwondo-Experten und -Institutionen. Bei den Texten handelt es sich um überwiegend deskriptive Aufarbeitungen für Taekwondo vermeintlich spezifische Normen, Werte und Ideale, welche den Taekwondo Spirit als Essenz des Taekwondo bilden. Dem gegenüber stehen normative Ansätze, die insbesondere in neueren akademischen Publikationen präferiert werden. 2 Eine besonders hervorstechende Arbeit in diesem Sinne ist das Forschungsprojekt zur Entwicklung eines aktualisierten und zeitgemäßen Taekwondo Spirit im Auftrag des Kukkiwon, an dem Kim Young Sun (Yonsei University), Song Hyeong-Seok (Keimyung University) und Choi Jung-Gu (Chung-Ang University) beteiligt waren. Im Rahmen der International Academic Conference for Taekwondo 2019 (iACT 2019) wurden Ergebnisse dieser Studie in dem Konferenzbeitrag A Modern Conceptualization of Taekwondo Spirit: A Kukkiwon Research Project3 vorgestellt. Diese sehen die „Überwindung des Selbst“ und den „Einsatz für eine bessere Welt“ als die zwei zentralen Werte für Taekwondo-Praktizierende. 4 Solche primär normativen Konzeptionen des Taekwondo Spirit werden hier jedoch keine Rolle spielen. Dass es solche Ansätze gibt, sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben. In einem letzten Schritt wird schließlich aufgezeigt, warum die primär deskriptiven Ansätze eines Taekwondo Spirit nicht problemlos auf die tatsächliche Praxis des Taekwondo übertragbar sind und eine empirische Untersuchung daher notwendig erscheint. Die Argumentationsschritte dienen nicht zuletzt auch dazu, eine Referenz zu erarbeiten, auf deren Basis die beobachtete Praxis untersucht werden kann. Darauf aufbauend wird im Rahmen der Auswertung der praktische Taekwondo Spirit mit dem artikulierten Taekwondo Spirit der Institutionen in Relation gebracht. Ebenso dient die historische Einführung dazu, kulturelle und politische Einflüsse auf die Praxis des Taekwondo aufzuzeigen und so die beobachtete Praxis der späteren Fallstudie historisch wie gegenwärtig in einen gesellschaftlichen Kontext einordnen zu können. 1
Vgl. Kukkiwon 2011, S. 56.
2
Vgl. Im/Lee 2015; Song et al. 2016; Jang et al. 2017.
3
iACT 2019 Conference Book, S. 45.
4
Dazu heißt es im Abstract der Präsentation: „The proper method of Taekwondo training and the true spirit of all practitioners of Taekwondo is to achieve personal goals based on the perception of overcoming oneself and to become a person who benefits the world. To strive to live a positive and beneficial life exemplifies the major ideology of Taekwondo.” (iACT Conference Book, S. 46)
Taekwondo | 27
2.1
TAEKWONDO UND SEINE INSTITUTIONEN
Die Praxis des Taekwondo ist wesentlich von unterschiedlichen Institutionen und deren Beziehungen zueinander geprägt. Für eine einleitende Betrachtung ist eine Erörterung der Organisationsstrukturen des institutionellen Taekwondo hilfreich, da es sich bei Taekwondo auch auf dieser Ebene um ein immens heterogenes Phänomen handelt. Diese Diversifikation spielt wiederum eine Rolle, wenn es darum geht, von welcher Ausprägung des Taekwondo im Rahmen dieser Arbeit die Rede ist und welche Institutionen mit welchen politischen Zielsetzungen als Governing Bodies Gestaltungsmacht ausüben. Taekwondo, Tae Kwon Do, Taekwon Do oder Taekwon-Do sind unterschiedliche Schreibweisen des koreanischen 태권도 (跆拳道, t'aegwŏndo) 5 , deren jeweilige Verwendung von den unterschiedlichen Institutionen anhängig ist und keiner systematisch-akademischen Romanisierung folgt. Es handelt sich dabei um Überbegriffe für ähnliche, in vielen Punkten jedoch sehr unterschiedliche, Bewegungskulturen mit gemeinsamen Entwicklungsverläufen, die sich auf institutioneller Ebene gegenwärtig grob in drei Organisationsgruppen gliedern lassen. Diese Gliederung entspricht der Zugehörigkeit zu den global agierenden Verbänden World Taekwondo (WT), ehemals World Taekwondo Federation (세계태권도연맹, segye t'aegwŏndo yŏnmaeng, WTF)6, International TaekwonDo Federation (국제태권도연맹, kukche t'aegwŏndo yŏnmaeng, ITF) sowie unterschiedlichen Klein- und Kleinstverbänden als auch autonomen Schulen und Vereinen. WT ist dabei der einzige durch das International Olympic Committee (IOC) anerkannte Weltverband, womit einzig das Taekwondo der WT (und auch hier lediglich der wettkampforientierte Zweikampf) anerkannte olympische Wettkampfdisziplin ist. Gleichzeitig ist es derjenige Stil, der in Südkorea am weitesten verbreitet ist. Der Hauptsitz befindet sich in Seoul/Südkorea mit einer Zweigstelle in Lausanne/Schweiz. Der seit 2004 amtierende Präsident ist der Südkoreaner Choue Chungwon (조정원).7 Bei der ITF handelt es sich gegenwärtig um drei miteinander konkurrierende Verbände. Diese Spaltung erfolgte
5 6
Anm.: 태 (t'ae), 권 (gwŏn) 도 (do). Der Name World Taekwondo Federation wurde im Jahr 2017 zu World Taekwondo geändert, da das Akronym WTF ungewünschte Verwechselungen zugelassen habe. Die Verwechselungsgefahr bezieht sich auf die Bedeutung des Akronyms als Abkürzung für „What The Fuck“, die im Internetzeitalter weite Verbreitung fände (vgl. http://www.worldtaekwondo.org/wtf-rebrands-to-world-taekwondo/, abgerufen 02.06.2020).
7
Vgl. http://www.worldtaekwondo.org/about-wt/office/, abgerufen 02.06.2020.
28 | Im Gleichschritt des Dao
nach dem Tod des Gründers und langjährigem Präsidenten Choi Hong Hee (최홍희, 1918-2002, Präsident von 1966-2002) aufgrund von Uneinigkeiten bezüglich der Nachfolge des Verstorbenen. Einer dieser Verbände ist die ITF mit Hauptsitz in Wien/Österreich, gegenwärtiger Präsident ist der Nordkoreaner Ri Yong Son (리용선). 8 Ein anderer Verband ist die ITF mit Sitz in London/Vereinigtes Königreich. Präsident ist Choi Jung Hwa (최정화), Sohn des verstorbenen Gründers der ursprünglichen ITF. 9 Der dritte ITF-Verband hat seinen Sitz in Benidorm/Spanien, Präsident ist der Deutsche Paul Weiler. 10 In die Kategorie der Klein- und Kleinstverbände fallen unterschiedliche nationale und internationale Verbände wie auch autonome Schulen. Sie zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie nicht den zuvor genannten großen Verbänden angehören. 11 Das institutionalisierte Taekwondo dieser drei Typen, WT, ITF und Diverse, unterscheidet sich zentrale Aspekte betreffend teilweise enorm. Fundamentale Unterschiede bestehen etwa in der Terminologie, den praktizierten Bewegungsformen und den Regeln, nach denen auf Wettkampfebene Zweikampf betrieben wird. Da sich diese Studie ausschließlich mit dem Taekwondo der WT und seiner Praxis in Südkorea beschäftigt, sollen die Strukturen der übrigen Verbände im Folgenden nur am Rande und in ihrer Beziehung zum Taekwondo der WT thematisiert werden. Die differenzierte Organisationsstruktur des Taekwondo gemäß der WT ist nun das Thema des folgenden Teilkapitels. WT-Taekwondo und Kukki-Taekwondo World Taekwondo ist ein globaler Sportverband mit föderaler Struktur. Dem globalen Verband unterstehen jeweils fünf Kontinentalverbände: WT Pan America, European Taekwondo Union, WT Africa, WT Asia und WT Oceania. Unter diesen sind jeweils die nationalen Verbände organisiert, in Deutschland etwa die Deutsche Taekwondo Union (DTU) und in Südkorea die Korea Taekwondo Association (대한태권도협회, taehan t'aegwŏndo hyŏphoe, KTA). Aktuell sind 8
Vgl. https://www.itf-tkd.org/contact/, abgerufen 02.06.2020.
9
Vgl. https://www.itf-administration.com/contact.asp, abgerufen 02.06.2020.
10 Vgl. https://www.taekwondoitf.org/about-us/#president, abgerufen 02.06.2020. 11 Hierzu können etwa die Global Taekwondo Federation (GTF) mit Sitz in Missisaunga/Kanada (http://gtftaekwondo.com/, abgerufen 02.06.2020) oder der Verband Traditional Taekwondo-Centers mit Sitz in Bad Tölz/Deutschland (https://www.traditionaltaekwondo.online/) gezählt werden. Darüber hinaus gibt es zum Beispiel in Deutschland mehrere Taekwondo-Schulleiter aus Korea, die zwar dem Kukkiwon, jedoch nicht der DTU angehören und damit zwar Kukki-Taekwondo praktizieren, aber nicht mit den entsprechenden sport-politischen Institutionen verbunden sind.
Taekwondo | 29
210 solch nationaler Verbände Mitglieder der WT.12 WT wie auch ihre kontinentalen und nationalen Verbände sind insbesondere für das Wettkampfwesen innerhalb des Taekwondo zuständig. Nationale Verbände wie die DTU haben zudem ein eigenes nationales Prüfungswesen für Graduierungen, welches jedoch außerhalb Deutschlands nicht anerkannt ist. Für das globale Prüfungswesen, das Curriculum, die Terminologie sowie die Vergabe internationaler Instruktorentitel ist hingegen das Kukkiwon (국기원, 國 技 院 , kukkiwŏn) in Seoul/Südkorea zuständig. Der Name Kukkiwon kann mit „Ort/Halle der der nationalen Technik/Fertigkeit“ übersetzt werden.13 Während die WT für die sportlichen Aspekte des Taekwondo verantwortlich ist, so ist das Kukkiwon mit dessen „kulturellen“ Aspekten betraut. Neben curricular-konzeptuellen Aufgaben repräsentiert und formuliert das Kukkiwon seinem Selbstverständnis nach das Selbstbild des Taekwondo als kulturellem Gut Koreas.14 In diesem Sinne propagiert das Kukkiwon eine kulturelle Verwurzelung des Taekwondo innerhalb der koreanischen Nation, als Repräsentation „traditioneller“15 koreanischer Denksysteme, Werte und Normen sowie seiner kulturhistorisch gewachsenen Verbindung mit anderen „traditionellen“ Kulturgütern.16 Taekwondo wird diesem Narrativ entsprechend als Ausdruck von Koreaness17 verstanden, die als traditionsorientierte Koreaness konzeptualisiert wird. Um diesem Gesamtanspruch nachzukommen, betreibt das Kukkiwon unterschiedliche Aktivitäten:18
12 Vgl. http://www.worldtaekwondo.org/about-wt/members/, abgerufen 02.06.2020. 13 국 (kuk, 國) bedeutet in diesem Zusammenhang „national“, 기 (ki, 技) kann hier mit Technik oder Methode übersetzt werden, 원 (wŏn, 院) mit Kreis, Platz oder Ort. 기 wird zumeist mit Sport übersetzt (vgl. Korea Foundation 2013, S. 55), was in diesem Zusammenhang inhaltlich zutreffend, jedoch linguistisch ungenau ist. 14 Vgl. http://www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/introduce/introdu ce, abgerufen 02.06.20. 15 Anm.: Das Attribut „traditionell“ ist an dieser Stelle in Anführungszeichen gesetzt, da die Art und Weise seiner Verwendung im Kontext von Martial Arts zumeist einem essentialistischen Kulturverständnis entspricht. Ein solches Kulturverständnis wird im Rahmen dieser Studie nicht geteilt, was durch die Anführungszeichen zum Ausdruck gebracht wird. 16 Vgl. Kukkiwon 2011, S. 60. 17 Vgl. Han 2003. 18 http://www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/introduce/business, abgerufen 02.06.2020.
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Poom·Dan Promotion Test19 Das Kukkiwon ist zuständig für die Abnahme und Ausstellung von international anerkannten Taekwondo-Graduierungen. Master Education Im Rahmen der World Taekwondo Academy (gegr. 1983) führt das Kukkiwon Aus- und Fortbildungen für Taekwondo-Lehrer (사범, 師範, sabŏm)20 durch. Research 2006 wurde vom Kukkiwon ein eigenes Forschungsinstitut gegründet. Eine Selbstbeschreibung lautet: “The institute has been playing a major role in the academic research of the martial art, leading the study of Taekwondo history [sic!] and developing new Taekwondo techniques. Since its establishment, the institute has performed successful projects such as developing new Taekwondo techniques, establishing Taekwondo terms and history and conducting seminars.”
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Upbringing Business for Demonstration Team Die Bereitstellung Aussendung eines eigenen Performance-Teams, des Kukkiwon Taekwondo Demonstration Team. Seoul World Taekwondo Leaders Forum Ein internationales Forum für die Einbindung und den Austausch von hochrangigen Taekwondo-Praktizierenden. Kukkiwon Dispatch Taekwondo Master Die Aussendung koreanischer Taekwondo-Instruktoren ins Ausland. Taekwondo Demonstration Performance & Experience Program Gemeinsam mit der Stadt Seoul ausgerichtete Taekwondo-Performances für Touristen. Taekwondo Friendship Training Program Trainingsprogramme für ausländische Taekwondo-Praktizierende. World Taekwondo Hanmadang & Demonstration Contest Die Ausrichtung eines jährlich an wechselnden Orten in Korea stattfindenden internationalen Taekwondo-Festivals.
19 Bei Dan 단 und Poom 품 handelt es sich um die allgemeinen Bezeichnungen für Grade ab dem ersten schwarzen Gürtel. Dan-Grade werden dabei an Trainierende ab 16 Jahren verliehen. Poom-Grade werden, anstatt eines Dan, an Trainierende bis zum Alter von 15 Jahren verliehen. 20 Vgl. https://sooshimkwan.blogspot.com/2011/01/instructor-master-and-grandmaster.h tml, abgerufen 02.06.2020.
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Das Kukkiwon ist de jure dem koreanischen Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus unterstellt.21 Dieses wiederum propagiert Taekwondo als „Traditional Martial Art of Korea“22, als koreanische Marke mit globalem Wirkungsanspruch. Auf der Internetseite des Ministeriums heißt es in einem Angebot für Touristen: „Taekwondo, the most representative of Korean martial arts, is a sport that emphasizes a sense of morality, humility, and respect for one’s opponent. It has become a globallyrecognized [sic!] sport through which practitioners can improve both their physical ability and mental strength. This martial art requires no specific weapons and teaches practitioners techniques for both defense and offense without using weapons.“23
Es zeigt sich deutlich, dass Taekwondo auf institutioneller Ebene keine einheitliche Organisationsstruktur aufweist: Neben der südkoreanisch dominierten WT vertreten mehrere internationale Verbände ihre jeweils eigenen TaekwondoStile. Allein das Taekwondo der WT ist in sich auf institutioneller Ebene in eine (Wettkampf-)sportorientierte Organisation und eine „kulturell“ orientierte Organisation, vertreten durch das Kukkiwon, gegliedert. Dieses wiederum agiert nicht autonom, sondern untersteht einer koreanischen Regierungsbehörde, in deren Interesse es liegt, Taekwondo als weltweit anerkannte Marke zu popularisieren. Durch die weltweit anerkannte Funktion des Kukkiwon als höchster Instanz bezüglich des Curriculums und Prüfungswesens ist die weltweite Praxis des WTTaekwondo nicht unwesentlich durch koreanische Regierungsorgane geprägt. Im Anschluss folgt eine kurze geschichtliche Entwicklung des Taekwondo, welche insbesondere die kultur- und bildungspolitische Bedeutung innerhalb Koreas thematisiert und die Entstehung der gegenwärtigen institutionellen Strukturen nachzeichnet.
2.2
EIN IDEOLOGIEBEHAFTETES TERRAIN: ZUR GESCHICHTE DES TAEKWONDO
Laut Kukkiwon beginnt die Geschichte des Taekwondo zur Zeit der drei Reiche (1. Jh. v. Chr-7. Jh. n. Chr.). Taekwondo wird diesem Narrativ nach in einer Traditionslinie mit historischen Martial Arts gesehen, die sich auf der koreani-
21 Moenig/Kim 2017, S. 1335. 22 https://www.mcst.go.kr/english/entertainment/experience/taekwondo.jsp, abgerufen 02.06.2020. 23 Ebd.
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Das Kukkiwon ist de jure dem koreanischen Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus unterstellt.21 Dieses wiederum propagiert Taekwondo als „Traditional Martial Art of Korea“22, als koreanische Marke mit globalem Wirkungsanspruch. Auf der Internetseite des Ministeriums heißt es in einem Angebot für Touristen: „Taekwondo, the most representative of Korean martial arts, is a sport that emphasizes a sense of morality, humility, and respect for one’s opponent. It has become a globallyrecognized [sic!] sport through which practitioners can improve both their physical ability and mental strength. This martial art requires no specific weapons and teaches practitioners techniques for both defense and offense without using weapons.“23
Es zeigt sich deutlich, dass Taekwondo auf institutioneller Ebene keine einheitliche Organisationsstruktur aufweist: Neben der südkoreanisch dominierten WT vertreten mehrere internationale Verbände ihre jeweils eigenen TaekwondoStile. Allein das Taekwondo der WT ist in sich auf institutioneller Ebene in eine (Wettkampf-)sportorientierte Organisation und eine „kulturell“ orientierte Organisation, vertreten durch das Kukkiwon, gegliedert. Dieses wiederum agiert nicht autonom, sondern untersteht einer koreanischen Regierungsbehörde, in deren Interesse es liegt, Taekwondo als weltweit anerkannte Marke zu popularisieren. Durch die weltweit anerkannte Funktion des Kukkiwon als höchster Instanz bezüglich des Curriculums und Prüfungswesens ist die weltweite Praxis des WTTaekwondo nicht unwesentlich durch koreanische Regierungsorgane geprägt. Im Anschluss folgt eine kurze geschichtliche Entwicklung des Taekwondo, welche insbesondere die kultur- und bildungspolitische Bedeutung innerhalb Koreas thematisiert und die Entstehung der gegenwärtigen institutionellen Strukturen nachzeichnet.
2.2
EIN IDEOLOGIEBEHAFTETES TERRAIN: ZUR GESCHICHTE DES TAEKWONDO
Laut Kukkiwon beginnt die Geschichte des Taekwondo zur Zeit der drei Reiche (1. Jh. v. Chr-7. Jh. n. Chr.). Taekwondo wird diesem Narrativ nach in einer Traditionslinie mit historischen Martial Arts gesehen, die sich auf der koreani-
21 Moenig/Kim 2017, S. 1335. 22 https://www.mcst.go.kr/english/entertainment/experience/taekwondo.jsp, abgerufen 02.06.2020. 23 Ebd.
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schen Halbinsel entwickelten. 24 Die Beschreibung des Kukkiwon ist nicht eindeutig, jedoch suggeriert die verwendete Formulierung, der Name „Taekwondo“ sei lediglich eine moderne Bezeichnung bzw. ein moderner Sammelbegriff für die tradierten kämpferischen Bewegungskulturen Koreas, welcher nach Ende der japanischen Besatzungszeit (1910-1945) eingeführt worden sei: „Korean martial arts could not be practiced because of the regulations against that activity and the policies of repression of the Japanese government during the Japanese colonial period. After achieving independence, some leaders of Taekwondo tried to secure their own legitimacy and improve Taekwondo after August 15th, National Liberation Day.“25
WT propagiert auf seiner Homepage ein ähnliches Narrativ. Dort heißt es: „Taekwondo is a traditional Korean martial art dating back more than 2000 years. Meaning the ‘way of kicking and punching’, it was initially viewed as a form of military training which varied considerably in form. [...] For some 2000 years, a range of martial arts were practiced on the Korean peninsula. During the early 20th century, taekwondo became the dominant form of martial arts practiced in Korea. Subsequently taekwondo was designated as the Korean national martial art to be promoted internationally.“26
Entsprechend der weltweiten Autorität beider Institutionen wird dieses auf Korea zentrierte Narrativ, insbesondere in praktisch-technisch orientierten Lehrbüchern, vielfach weitergeführt. Unklar bleibt nach diesen Ausführungen jedoch, inwieweit die historischen kämpferischen Bewegungskulturen auf der koreanischen Halbinsel, die es in der einen oder anderen Form nachweislich gegeben hat, tatsächlich in direktem Zusammenhang zum heutigen Taekwondo stehen. 27 Bis Ende der 1980er waren Zweifel an einer direkten Verbindungslinie zwischen dem modernen Taekwondo und historischen Martial Arts der Region Koreas außer Frage. In den 1990er Jahren wurde dieses Narrativ durch Kim Yong Ok28 und Stephen Capener29 erstmalig offen infrage gestellt. In diversen Publikationen wurde seitdem bereits vielfach auf die Problematik dieser ver-
24 Vgl. http://www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/information/histor y_taekwondo, abgerufen 02.06.2020. 25 Ebd. 26 http://www.worldtaekwondo.org/about-wt/taekwondo/, abgerufen 02.06.2020. 27 Vgl. Henning 2017; Adrogué 2017. 28 Vgl. Kim 1990. 29 Vgl. Capener 1995.
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meintlich historisch begründeten Identität des Taekwondo hingewiesen 30, sodass sich zumindest in akademischen Kreisen die Ansicht durchgesetzt hat, dass das Narrativ von Kukkiwon und WT fraglich sei. Der akademische Diskurs um die Geschichte des Taekwondo ist in Korea auch gegenwärtig noch durch das Narrativ von Kukkiwon und WT mitbestimmt, doch zeichnen sich hier inzwischen auch konträre Argumentationen ab. Laut einer Arbeit von Park und Kim lassen sich vier unterschiedliche Kategorien von Narrativen innerhalb dieses Diskurses festhalten. Sie unterscheiden Traditionalismus und Neo-Traditionalismus sowie Revisionismus und Neo-Revisionismus. Traditionalistische Erklärungsansätze entsprechen etwa denen von Kukkiwon und WT, die Taekwondo als genuin koreanische Martial Arts beschreiben. Neotraditionalistische Ansätze bauen auf diesen Argumentationen auf, räumen jedoch einen Einfluss nicht-koreanischer Bewegungskulturen, insbesondere japanischer, ein. Im Zentrum dieser Argumentation stehe Taekkyeon (택견, vereinzelt auch 태껸, t'aekkyŏn), eine kämpferisch-spielerische Bewegungskultur, die zum Ende der Joseon-Dynastie (조선왕조, 朝鮮王朝, Chosŏnwangjo, 13921910) als populäres Kampf- und Volksspiel im Raum Seoul verbreitet war. Revisionistische Ansätze argumentieren hingegen einen Haupteinfluss des japanischen Karate, während neo-revisionistische Ansätze den Einfluss des Karate durch den zusätzlichen Einfluss chinesischer Stile relativieren. 31 Laut der beiden Autor*innen könne der Einfluss des japanischen Karate aufgrund der historischen Faktenlage nicht geleugnet werden. Sie argumentieren jedoch drüber hinaus weitere Einflüsse chinesischer kämpferischer Bewegungskulturen auf die frühe Entwicklung des Taekwondo und favorisieren somit einen neorevisionistischen Ansatz.32 Insgesamt wird deutlich, dass in all diesen Ansätzen das Thema der kulturellen Identität eine wichtige Rolle spielt, welche wiederum stark mit dem Konzept der nationalen Identität verbunden ist. Dies ist insofern wichtig, als dass die institutionellen Normen, Werte und Ideale stark mit dem Konzept einer genuinen kulturellen Identität Koreas verbunden sind. Im Folgenden wird ein Überblick der modernen Geschichte des Taekwondo33, deren Beginn zum Ende des Zweiten Weltkriegs, respektive mit dem Aufkommen des Namens „Taekwondo“ im Jahr 1955 34 , angesetzt werden kann, 30 Vgl. Pieter 2009; Burdick 2015; Capener 1995; 2016; Moenig/Cho/Kwak 2014. 31 Vgl. Park/Kim 2016. 32 Ebd. 33 Diese Bezeichnung ist gewählt in Anlehnung an die wegweisende Publikation „A Modern History of Taekwondo“ von Kang Won Shik und Lee Kyeong Myeong (Kang/Lee 1999). 34 Burdick 2015, S. 30ff.
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gegeben. Betrachtet werden zentrale Voraussetzungen, Einflüsse und Meilensteine der modernen Geschichte des Taekwondo mit Fokus auf Südkorea. 2.2.1 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Die Kwan-Ära Der Beginn der historiografisch gesicherten Geschichte des Taekwondo kann zum Ende des Zweiten Weltkriegs angesetzt werden. Zu dieser Zeit war Korea als Provinz Chosen in das japanische Kaiserreich inkludiert (1910-1945). Damit war auch das koreanische Bildungssystem in das japanische eingegliedert und Bildungsabschlüsse im Kernland Japans insbesondere für privilegierte Koreaner*innen ein anzustrebendes Bildungsziel. Zu dieser Zeit war das aus der heutigen japanischen Präfektur Okinawa, ehemals Königreich Ryūkyū, stammende Karate(-Dō) (空手道) neben Kendō (剣道), einer waffenbasierten Martial Art mit Verbindung zu den Schwerttechniken der Japanischen Kriegerkaste, und Jūdō (柔道), einer Neukonzeption waffenloser Stile des feudalen Japans, eine der verbreitetsten kämpferischen Bewegungskulturen in Japan und hatte sich bereits an den japanischen Universitäten als Form der körperlichen Ertüchtigung etabliert. Die meisten der späteren Gründerväter des modernen Taekwondo kamen auf diese Weise zunächst mit Karate in Kontakt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Karate wie auch siehe weiter oben zuvor nicht in Korea praktiziert wurden oder dort gar unbekannt waren. Udo Moenig schreibt, dass Karate in Korea spätestens seit den 1930er Jahren bekannt war, nachdem mehrere KarateExperten, unter ihnen der Begründer des Shōtōkan-Karate Funakoshi Gichin (船 越義珍, 1868-1957) , bereits Vorführungen auf der japanisch besetzten Halbinsel gegeben hatten.35 Kendō fand in den 1890er Jahren, also bereits vor der japanischen Besatzung, Eingang in das Training an Polizeischulen und Militärakademien. 36 Darüber hinaus wurden Kendō wie auch Jūdō an vielen privat geleiteten Schulen unterrichtet und waren ebenso Teil des Curriculums an öffentlichen Schulen.37 Für die Entwicklung des heutigen Taekwondo ist speziell Karate von zentraler Bedeutung.38 Zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Nachkriegszeit sowie verstärkt nach dem Koreakrieg (1950-1953) wurden besonders im Gebiet in und um Seoul sukzessive verschiedene Schulen bzw. Trainingszentren gegründet, welche, unter verschiedenen Einflüssen stehend, kämpferische Bewegungskulturen praktizierten. In einer ersten Phase vor dem Koreakrieg wurden zunächst 35 Vgl. Moenig 2017, S. 39. 36 Vgl. Moenig/Kim 2019a, S. 1543. 37 Ebd.; Ok 2007, S. 274f. 38 Vgl. Moenig 2017, S. 34ff.
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fünf dieser Schulen oder Kwan (관, 館, dt. Halle, im übertragenen Sinne „Schule“ oder „Stilrichtung“) gegründet. Auf diese folgte die Gründung weiterer solcher Kwan nach dem Koreakrieg, sodass die Ursprünge des modernen Taekwondo nach aktuellem Forschungsstand in diesen Kwan begründet liegen.39 Die fünf ersten (prä-Koreakrieg) Kwan waren: Ch'ŏngdo Kwan (청도관, 靑濤館): Das Ch'ŏngdo Kwan wurde im Jahr 1944 von Lee Won Kuk (이원국, 19072002) gegründet. Er hatte zuvor Karate von Funakoshi Gichin und dessen Sohn Yoshitaka, genannt Gigo (船越義豪, 1906-1945), gelernt. Lee nannte seinen Stil Tangsudo (당수도, 唐手道), die koreanische Aussprache der ursprünglichen Schriftzeichen für Karate-Dō.40 Songmu Kwan (송무관, 松武館): Das Songmu Kwan wurde ebenfalls im Jahr 1944 von No Pyŏng-jik (노병직, 1919-2016) in einer Schule für Bogenschießen eröffnet. Nach seiner vorläufigen Schließung wurde das Songmu Kwan schließlich im Jahr 1946 von No wiedereröffnet. Sowohl der Name der Schule als auch der Name seines Systems, Kongsudo (공수도, 空手道) 41 , deuten auf eine explizite Verbindung zum Karate Funakoshis hin, bei dem No zuvor in Japan gelernt hatte. Songmu Kwan ist dabei die koreanische Aussprache der japanischen Bezeichnung Shōtōkan (松濤館), dem Stil Funakoshis. Kongsudo wiederum ist die koreanische Aussprache der später eingeführten Schriftzeichen42 für Karate-Dō.43 Mudŏk Kwan (무덕관, 武德館): Das Mudŏk Kwan wurde 1945 von Hwang Kee (황기, 1914-2002) eröffnet, kurze Zeit später geschlossen und im Jahr 1947 wiedereröffnet. Nach eigenen 39 Vgl. Kang/Lee 1999. 40 Vgl. Moenig 2017, S. 39ff; Anm.: Nachdem auf Okinawa zuvor bereits andere Bezeichnungen für Karate verwendet wurden, hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere der Name Karate mit den Schriftzeichen 唐手 etabliert, was frei übersetzt „chinesische Hand“ bedeutet. Die Silbe „Kara“ (唐) bezieht sich auf die chinesische Tang-Dynastie und deutet somit auf einen chinesischen Einfluss hin. 41 Vgl. Moenig 2017, S. 45. 42 Anm.: Mitte der 1930er Jahre wurden, durch Funakoshi Gichin initiiert, die ursprünglichen Zeichen „唐手“aus nationalistischen Gründen durch „空手“ ersetzt. Die Bedeutung änderte sich damit von „chinesische Hand“ zu „leere Hand“ wobei die Aussprache „Karate“ gleichblieb (vgl. Moenig 2014/Cho/Kwak, S. 151). 43 Vgl. Moenig 2017, S. 40.
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Angaben habe er in seiner Jugend Taekkyeon und später einen chinesischen Stil in der Mandschurei erlernt. Zu dieser Zeit habe er ebenfalls Karate aus Büchern studiert. Laut Lee Won Kuk habe Hwang darüber hinaus für kurze Zeit in seinem Ch'ŏngdo Kwan Tangsudo trainiert.44 Hwang nannte seinen Stil ab 1945 zunächst Hwasudo (화수도, 花手道), ab 1947, wie auch Lee Won Kuk, Tangsudo und schließlich ab den späten 1950er Jahren Subakdo (수박도, 手搏道).45 Chosŏn Yŏnmu Kwan Kwŏnbŏp Pu (조선연무관권법부, 朝鮮硏武館拳法部)/ Jido Kwan (지도관, 智道館): Das Chosŏn Yŏnmu Kwan Kwŏnbŏp Pu wurde 1946 von Chŏn Sang-sŏp (전상섭, 1921-??) gegründet, nachdem dieser ebenfalls in Japan Karate sowie Judo trainiert und dieses bereits ab 1943 im Yŏnmu Kwan (연무관, 硏武館), einer Judo-Schule, unterrichtet hatte. Laut Moenig sei nicht ganz klar, ob Chŏn auch bei Funakoshi trainiert habe oder aber, wie andere Quellen behaupten, bei Mabuni Kenwa (摩文仁賢和, 1889-1952), dem Begründer des Shitō-Ryū (糸東 流). Entsprechend dem Namen der Schule wurde der Stil des Chosŏn Yŏnmu Kwan Kwŏnbŏp (권법, 拳法, dt. „Faustmethode“) genannt. Chŏn verschwand während des Koreakrieges und die Schule wurde zunächst geschlossen, 1951 jedoch von seinen Schülern Yun K'wae-pyŏng (윤쾌병, 1922-2000) und Lee Chong Woo (이정우, 1929-2015) als Jido Kwan wiedereröffnet. Hierbei war Yun federführend. Bevor dieser sein Training im Chosŏn Yŏnmu Kwan begann, trainierte auch er Karate in Japan. Zunächst unter Mabuni Kenwa und später unter Tōyama Kanken (遠山寬賢,1888-1966), dem Begründer des Shūdōkan (修道館). 1940 gründete Yun bereits eine Schule in Japan, bevor er 1948 nach Korea zurückkehrte.46 YMCA Kwŏnbŏp Pu (YMCA 권법부, YMCA 拳法部)/ Ch'angmu Kwan (창무관, 彰武館): Das YMCA Kwŏnbŏp Pu wurde 1946 von Yun Pyŏng-in (윤병인, 1920-1983) in einem YMCA-Zentrum47 in Seoul eröffnet.48 Er hatte zunächst in der Mandschu44 Vgl. Moenig 2017, S. 42. 45 Moenig 2017, S. 44. 46 Vgl. Moenig 2017, S. 40ff. Anm.: Moenig verweist darauf, dass die Schule in wenigen Quellen auch als Chosŏn Yŏnmu Kwan Kongsudo Bu (조선연무관공수도부, 朝 鮮硏武館空手道部) bezeichnet wird, in der, dem Namen entsprechend, Kongsudo praktiziert wurde. Mit Verweis auf ein Interview mit Lee Chong Woo favorisiert Moenig jedoch die Bezeichnung Kwŏnbŏp (vgl. Moenig 2017, S. 45). 47 Anm.: YMCA ist der englische Name für die im deutschen als CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen) bekannte Vereinigung.
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rei Quanfa (拳法) und später in Japan Karate bei Tōyama Kanken gelernt und nannte seinen Stil Kwŏnbŏp, die koreanische Aussprache des mandarinchinesischen Quanfa. Auch Yun verschwand während des Koreakriegs und so wurde seineSchule in den Kriegsjahren zunächst geschlossen. 1953 wurde die Schule unter dem Namen Ch'angmu Kwan von Yi Nam-sŏk (이남석, 19252000) wiedereröffnet. Nach dem Koreakrieg wurden als Ableger der ersten fünf Kwan etliche weitere gegründet. Die vier bedeutendsten waren:49 Odo Kwan (오도관, 吾道館): Das Odo Kwan wurde 1954 vomspäteren Präsidenten der ITF General Choi Hong Hee (최홍희, 1918-2002) unter Mithilfe von Nam Tae Hi (남태희, 19292013) als Schule innerhalb der koreanischen Armee gegründet. Eigenen Angaben nach habe Choi in seiner Jugend Taekkyeon und während seines Studiums in Japan Karate gelernt, wobei die Validität dieser Angaben nicht zweifelsfrei zu klären ist. Nam hingegen lernte zunächst Tangsudo im Ch'ŏngdo Kwan bevor er als Ausbilder im Militär tätig wurde und dort schließlich mit Choi in Kontakt kam.50 Choi und das Odo Kwan spielten im Prozess der Vereinigung der Kwan und der Namensfindung des Taekwondo, auf die im weiteren Verlauf dieses Kapitels eingegangen wird, eine zentrale Rolle. Choi war es auch, der Taekwondo als Pflichtübung für Soldaten der koreanischen Armee einführte. 51 Hanmu Kwan (한무관, 韓武館): Das Hanmu Kwan wurde 1956 von Yi Kyo-yun (이교윤,1930-2017) gegründet. Dieser war zuvor Schüler des Chosŏn Yŏnmu Kwan gewesen.52 Kangdŏk Wŏn (강덕원, 講德院): Das Kangdŏk Wŏn wurde 1956 von Hong Jong Pyo (홍종표, 1925-2011) und Park Chul Hee (박철희, 1933-2016) eröffnet. Hong war der erste und Park dar-
48 Vgl. Kang/Lee 1999, S. 7. 49 Anm.: Dass diese vier als die bedeutendsten angesehen werden, basiert auf einer Setzung des Kukkiwon, welches im Zuge von Vereinheitlichungen diese insgesamt neun Kwan als „Ursprungskwan“ festlegte. Dies wird im weiteren Verlauf des Kapitels genauer erklärt. 50 Kang/Lee 1999, S. 9. 51 Vgl. Burdick 2015, S. 30. 52 Kang/Lee 1999, S. 10.
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auffolgend der zweite Schulleiter. Beide trainierten zuvor im YMCA Kwŏnbŏp Pu von Yun Pyŏng-in bis zu dessen Verschwinden während des Koreakrieges. 53 Chŏngdo Kwan (정도관, 正道館): Das Chŏngdo Kwan wurde 1954 von Lee Yong Woo (이용우, 19??-2006) gegründet, der zuvor im Ch'ŏngdo Kwan trainiert hatte.54 Neben diesen neun Kwan wurden im Laufe der 1950er Jahre weitere Ableger gegründet, sodass sich die Zahl der unterschiedlichen Kwan bis Anfang der 1960er Jahre auf über 40 erhöht hatte.55 2.2.2 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Beginn der Vereinigungsbestrebungen Parallel zur steigenden Zahl von Kwan gab es bereits früh deutliche Versuche zur Kooperation.56 Einer dieser Versuche steht in direktem Zusammenhang mit der Etablierung der Bezeichnung „Taekwondo“. Als zentrales Datum gilt hier der 11. April 1955 57 , an dem auf Einladung von Choi Hong Hee führende Kampfkünstler und bildungspolitische Akteure zusammenkamen, um eine Vereinheitlichung der bisher von den einzelnen Kwan verwendeten Bezeichnungen, Tangsudo sowie Kongsudo und andere, unter einem einheitlichen Namen zu beschließen. Chois Vorschlag lautete Taekwondo58, einer Bezeichnung, die er gemeinsam mit Nam entwickelt hatte.59 Anders als etwa Tangsudo, Kongsudo oder Kwŏnbŏp sollte der neue Name einen genuin koreanischen Ursprung sugge-
53 Kang/Lee 1999, S. 10. 54 Kang/Lee 1999, S. 11. 55 Ebd. 56 Erste Versuche der Kooperation fanden bereits ab 1947 statt, um etwa Wettkämpfe zwischen den ersten fünf Kwan abzuhalten. Diese ersten Versuche waren jedoch wenig erfolgreich (vgl. Madis 2011a). Ein weiterer Versuch war die Gründung der „Korean Kong Soo Do Association“ im Jahr 1950, die jedoch keine wirkliche Gestaltungsmacht besaß (vgl. Moenig/Kim 2017, S. 1325). 57 Vgl. Burdick 2015, S. 30. 58 Eigenen Angaben nach stammt der Name „Taekwondo“ von Son Duk Sung (손덕성, 1922-2011), dem zweiten Oberhaupt des Ch'ŏngdo Kwan. Laut Burdick kann dieser Anspruch jedoch aus nachvollziehbaren Gründen bezweifelt werden (vgl. Burdick 2015, S. 31). 59 Kang/Lee 1999, S. 14.
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rieren, statt auf eine fremdländische Herkunft hinzuweisen. Der Name „Taekwondo“ stellte in diesem Sinne eine phonetische Reminiszenz an das, insbesondere unter älteren Koreaner*innen bekannte 60, Taekkyeon dar, ergänzt um die Silbe Do (도, 道)61, welche ähnlich den bisher verwendeten Bezeichnungen auf eine geistige Entwicklung der Trainierenden in und durch die Praxis der Kampfkunst verweisen sollte.62 Der Name wurde anschließend jedoch zunächst nur von Chois Odo Kwan und dem kooperierenden Ch'ŏngdo Kwan verwendet, während die übrigen Kwan bei ihren bisherigen Bezeichnungen blieben.63 Im Jahr 1959 wurde schließlich unter Führung von Choi Hong Hee der durch seine Funktion als Armee-General der südkoreanischen Streitkräfte eine gewisse Anerkennung innerhalb der südkoreanischen Politik genoss, die Korea Taekwondo Association (대한태권도협회, taehan t'aegwŏndo hyŏphoe, KTA) gegründet, obwohl er zunächst auf vehementen Widerstand bei den übrigen Kwan-Oberhäuptern stieß. Durch Chois politischen Einfluss und die Vergabe von Führungspositionen an viele der übrigen Kwan-Oberhäupter konnte er sein Projekt schließlich durchsetzen. 64 Hwang Kees Mudŏk Kwan verließ die KTA jedoch schon bald darauf wieder. 65 Ende der 1950er Jahre kam es in Südkorea zu politischen Unruhen, welche schließlich im Mai 1961 in einem Militärputsch durch General Park Chung Hee (박정희, 1917-1979) gipfelten.66 Choi hatte diesen Putsch zunächst unterstützt, zog seine Unterstützung jedoch aufgrund von Parks Regierungsambi60 Viele Quellen nennen eine bestimmte Anekdote, die wesentlich zur Verbindung zum Taekkyeon beigetragen haben soll. Demnach habe der damalige südkoreanische Präsident Rhee Syng Man (이승만, 1875-1965) im Jahr 1954 einer Vorführung des Odo Kwan beigewohnt, worauf er das Gesehene als Taekkyeon identifiziert zu haben glaubte. Choi, Oberhaupt des Odo Kwan, soll dies dann bei der Entwicklung eines geeigneten Namens berücksichtigt haben (vgl. Moenig 2017, S. 48; Gillis 2011, S. 49). 61 Das koreanische Do bezeichnet, wie das japanische Dō, eine praktische Interpretation des chinesische Dao (道). Während der Begriff in der chinesischen Bedeutung Dao ein metaphysisches Prinzip meint, welches allem Sein zugrunde liege, ist die japanische und koreanische Bedeutung wesentlich pragmatischer ausgelegt. In seiner Bedeutung „Weg“ bezieht er sich hier auf persönliche Prozesse der Reifung und Vervollkommnung (vgl. Pieter/Heijmans 1999, S. 11; Riegel 2013, S. 125). Vor der Einführung japanischer Martial Arts in Korea war dieses Konzept für Martial Arts dort jedoch nicht verbreitet. 62 Moenig 2017, S. 48; Kang/Lee 1999, S. 14. 63 Kang/Lee 1999, S. 14. 64 Vgl. Madis 2011a. 65 Vgl. Moenig 2017, S. 49. 66 Eckert 1990, S. 359.
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tionen wieder zurück.67 Nach Parks Regierungsübernahme wurde Choi gezwungen die Armee zu verlassen und als Botschafter nach Malaysia zu gehen. 68 Gleichzeitig wurde durch die neue Regierung das Dekret Nr. 6 erlassen, welches aufgrund des vermeintlichen nationalen Interesses an Taekwondo dessen weiterführende Vereinheitlichung vorgab.69 Im Zuge anhaltender Grabenkämpfe in und um die KTA bezüglich eines einheitlichen Namens für die vereinheitlichte Martial Art, wurde die KTA im selben Jahr in die Korea Taesudo Association (대한태수도협회, taehan t'aesudo hyŏphoe, KTA) umbenannt, was als Kompromiss zwischen den konkurrierenden Bezeichnungen eine Einigung erwirken sollte.70 Nachdem die KTA bereits seit Ende der 1950er Jahre um eine Anerkennung durch die Korean Amateur Sports Association (KASA)71 bemüht war, wurde Taesudo 1962 als Zweikampfdisziplin beim 43. Nationalen Sportfestival in Daegu aufgenommen.72 Im selben Jahr fand die erste kollektive Dan-Prüfung der KTA in Seoul trotz weiter bestehender Differenzen bezüglich des Curriculums statt.73 1965 kehrte Choi Hong Hee aus Malaysia zurück und wurde aufgrund seines noch immer vorhandenen Einflusses zum inzwischen dritten Präsidenten der KTA gewählt. In dieser Funktion änderte er den Namen erneut in Korea Taekwondo Association.74 Im Amt des Präsidenten der KTA konnte sich Choi jedoch nicht lange halten. Bereits ein Jahr später wurde ihm von hochrangigen Kwan-Vertretern ein Rücktritt nahegelegt und gleichzeitig die Führungsrolle einer neu zu gründenden internationalen Taekwondo-Vereinigung angeboten.75 Bereits 1959 wurden unter Chois Führung Vorführungsreisen von TaekwondoTeams des Odo Kwan nach Süd-Vietnam und Taiwan unternommen. 76 Bis Mitte der 1960er wurde Taekwondo durch Choi international verbreitet. 771966 wurde 67 Madis 2011b. 68 Madis 2011b. 69 Kang/Lee 1999, S. 25. 70 Kang/Lee 1999, S. 17. 71 Anm.: Zu diesem Zeitpunkt hieß der Verband noch Korea Sports Association (KSA) (vgl. Ok 2007, S.314). 72 Vgl. Moenig 2017, S. 92. 73 Kang/Lee 1999, S. 22. 74 Vgl. Moenig 2017, S. 49. 75 Vgl. Kang/Lee 1999, S. 25. 76 Vgl. Johnson 2018, S. 1647. 77 „[…] demonstration teams visited South Vietnam and Taiwan in 1959, and the art was the established in the United States (1959), South Vietnam (1962), Thailand (1962-3), Malaysia (1962), Hong Kong (1962-3), Canada (1964), Singapore (1964), West Germany (1964), Italy (1965), Turkey (1965), and the United Arab Emirates (1965). […]
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unter seiner Leitung auf dieser Basis schließlich die International Taekwon-Do Federation gegründet.78 National waren die 1960er durch die Bestrebungen der KTA geprägt, zunächst Taesudo und später Taekwondo im Rahmen der sportpolitischen Agenda des Park-Regimes zu etablieren, welche eine umfangreiche Förderung des Amateursports zur Erneuerung der südkoreanischen Nation unter dem Slogan „Physical Fitness is National Power“ vorsah.79 Im Februar 1962 wurde Taesudo als 28. offizielle Sportdisziplin der KSA aufgenommen und feierte im selben Jahr seine Premiere als Zweikampfdisziplin beim 43. Nationalen Sportfestival in Daegu.80 Taesudo war nun eine anerkannte Sportart, deren Regelwerk im Laufe der kommenden Jahre kontinuierlich modifiziert wurde. Das ab 1963 stetig weiterentwickelte Regelwerk für Zweikämpfe umfasste dabei im Kern einen fortlaufenden Vollkontaktkampf mit mehreren technischen Einschränkungen unter Verwendung spezifischer Schutzausrüstung. 81 Zentrale Punkte waren das Verbot, mit den Händen den Kopf des Gegners zu attackieren, das Verbot, den Gegner unterhalb der Taille zu attackieren, das Verbot, einander zu greifen oder zu werfen sowie die Einführung einer Schutzweste (호구, hogu).82 Diese grundlegenden Regeln bilden bis heute die Basis für die wettkampfsportliche Entwicklung des Taekwondo.
Under the ITF, taekwondo was spread to the Netherlands (1967), Taiwan (1967), the United Kingdom (1967), and elsewhere.” (Burdick 2015, S. 32 - 33) 78 Vgl. Burdick 2015, S. 33. 79 Vgl. Ok 2007, S. 312. 80 Vgl. Kang/Lee 1999, S. 28; Moenig 2015, S. 151. 81 „During the first, full-contact competitions in Korea in 1962 (conducted without body protector or hogu), and in 1963 (conducted for the first time with hogu), the core rules resembled those used today, and victory through knock-out was possible. Kicking to the face scored two points, and body kicks and punches scored one point each; however, intentional strikes with the hands to the face of the opponent were prohibited and led to point deductions. […] In addition, the competition rules no longer permit lowkicks, elbow and knee strikes, and grappling. […] Moreover, the scoring area was sharply reduced: only strikes to the front and side areas of the head and torso were allowed.” (Moenig 2017, S. 99) 82 Vgl. Capener 1995, S. 89.
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2.2.3 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Der Aufstieg des Kukki-Taekwondo Im darauffolgenden Jahrzehnt der 1970er Jahre wurde die sportpolitische Rolle des Taekwondo zunehmend gestärkt. 1971 wurde Kim Un Yong (김운용, 19312017) zum neuen Präsidenten der KTA ernannt. Kim, zuvor Vizedirektor der Leibwache des Präsidenten Park, sollte nun den Prozess der Vereinheitlichung der unterschiedlichen Kwan weiter voranbringen und die Grabenkämpfe, die noch immer zwischen deren Oberhäuptern herrschten, befrieden. 83 Zentrales Projekt war dabei die Schaffung eines nationalen Zentrums, dessen Planung bereits unter Kims Vorgänger begonnen hatte. In seiner Antrittsrede versprach er: „We are going to have to promise that Taekwondo must become our national sport, as well as become an international sport which represents Korea." 84 Zu dieser Zeit hatte die KTA etwa 1,3 Millionen Mitglieder in Korea.85 Zusätzlich hatte die ITF zu dieser Zeit bereits 30 nationale Verbände unter sich.86 Kurz nach Kims Ernennung zum KTA-Präsidenten wurde Taekwondo durch den südkoreanischen Präsidenten Park am 20. März 1971 feierlich durch Anfertigen einer handgeschriebenen Kalligrafie als Kukki (국기, 國技)87, als nationale Technik bzw. als nationaler Sport, proklamiert. Auf Basis dessen wurde Taekwondo im darauffolgenden Jahr in das Curriculum von Grund- und Mittelschulen aufgenommen.88 Im selben Jahr erklärte Präsident Park den nationalen Notstand und setzte die Yushin-Verfassung (유신, 維新) ein, die eine umfassende Einschränkung politischer Aktivitäten und individueller Freiheiten, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, bewirkte.89 Am 30. November 1972 wurde schließlich das Kukkiwon eröffnet. Zunächst als Zentrum der KTA konzipiert, wurde es 1973 in „World Taekwondo Headquarters“ (세계태권도본부, segye t'aegwŏndo bonbu) umbenannt.90 Im selben Jahr folgte der entscheidende Bruch zwischen der KTA und der ITF, nachdem Choi sich entschlossen hatte, aufgrund von anhaltenden Problemen mit dem
83 Vgl. Kang/Lee 1999, S. 30. 84 Ebd. 85 Vgl. Kang/Lee 1999, S. 31. 86 Vgl. Gillis 2011, S. 100. 87 Anm.: Vollständig heißt es auf dieser Kalligrafie 국기태권도 (kukki t'aegwŏndo, 國 技跆拳道, dt. Nationale-Technik-Taekwondo). 88 Vgl. Burdick 2015, S. 33. 89 Eckert 1990, S. 365. 90 Vgl. Kang/Lee 1999, S. 35.
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Regime Park nach Kanada auszuwandern und die ITF-Zentrale nach Kanada mitzunehmen.91 Choi und die KTA gingen seitdem getrennte Wege. Choi fiel in Südkorea in Ungnade und näherte sich ab 1980 auf Einladung durch das Staatsoberhaupt Kim Il Sung (김일성, 1912-1994) dem nordkoreanischen Regime an und führte sein Taekwon-Do dort als nationale Kampfkunst ein. 92 Im Zusammenhang mit den ersten Taekwondo-Weltmeisterschaften vom 25.-28. Mai 1973, ausgetragen im Kukkiwon, wurde die World Taekwondo Federation als KTA affiliierter Weltverband gegründet und Kim Un Yong zum ersten Präsidenten ernannt. Dieser hatte nun alle drei zentralen Ämter als Präsident der KTA, des Kukkiwon und der World Taekwondo Federation inne. Im weiteren Verlauf der 1970er Jahre wurden unter Rückhalt des Bildungsministeriums immer mehr Regularien erlassen, welche die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten von Taekwondo-Schulleitern nach und nach einschränkten sowie schließlich die Kwan-eigene Vergabe von Dan-Urkunden untersagten. 1978 wurde die KwanBindung offiziell aufgelöst, womit nun alle Schulen in erster Instanz der KTA und dem Kukkiwon unterstellt waren.93 1976 wurden die inzwischen 40 unterschiedlichen Kwan in neun Haupt-Kwan zusammengefasst und ihr Namen durch Nummern von 1-9 ersetzt. 94 Der finale Zusammenschluss aller Kwan erfolgte schließlich am 7. August 1978.95 1979 wurde das Recht Dan-Urkunden auszustellen von der KTA auf das Kukkiwon übertragen, womit nun die curriculare, repräsentative und politische Gestaltungsmacht zentral im Kukkiwon gebündelt war.96 Im selben Jahr wurde der südkoreanische Präsident Park Chung Hee von seinem Geheimdienstchef erschossen. Dies rief erneut politische Turbulenzen hervor, während derer General Chun Doo Hwan (전두환, 1931-1988) wiederum
91 Vgl. Gillis 2011, S. 110ff. 92 Vgl. Moenig 2017, S. 53. 93 Kang/Lee 1999, S. 41. 94 „Kwan #1: Song Moo Kwan Kwan #2: Han Moo Kwan Kwan #3: Chang Moo Kwan Kwan #4: MooDuk Kwan Kwan #5: Oh Do Kwan Kwan #6: Kang Duk Won Kwan #7: Jung Do Kwan Kwan #8: Jido Kwan Kwan #9: Chung Do Kwan“ (vgl. Kang/Lee 1999, S. 40). 95 Kang/Lee 1999, S. 41. 96 Kang/Lee 1999, S. 36.
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durch einen Militärputsch 1979 zur Macht kam und ab 1981 als Präsident regierte.97 2.2.4 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Die globale Sportpolitik der WT(F) Auf internationaler sportpolitischer Ebene konzentrierte sich die WTF, welche durch ihren Präsidenten Kim Un Yong ebenfalls unter direktem Einfluss der südkoreanischen Regierung stand, nun um internationale Anerkennung durch das IOC (International Olympic Comitee), welche sie schließlich 1980 erhielt. Im darauffolgenden Jahr konnte sich Südkorea um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 1988 gegen Japan durchsetzen. 98 Hier wurde Taekwondo zunächst als Demonstrationssportart aufgenommen, nachdem es bereits als solche im Rahmen der Asian Games 1986 in Seoul und der Pan American Games 1987 in Indianapolis inkludiert wurde. 99 Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 1988 wurde Taekwondo schließlich zum ersten Mal in einer Massenvorführung von hunderten Praktizierenden einer breiten Weltöffentlichkeit präsentiert. Bei den Olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona konnte Taekwondo ein weiteres Mal als Demonstrationssportart teilnehmen, was nur durch die massive Lobbyarbeit durch Kim Un Yong bewirkt werden konnte. In diesem Zusammenhang soll es auch zu umfangreichen Schmiergeldzahlungen durch Kim Un Yong gekommen sein. 100 Im Jahr 2000 bei den Olympischen Sommerspielen in Sydney feierte Taekwondo schließlich seine Premiere als reguläre Wettkampfdisziplin. Diesen Status konnte Taekwondo auch im Rahmen der folgenden Spiele in Athen 2004, Beijing 2008, London 2012, Rio de Janeiro 2016 und Tokio 2020/2021 halten. Als weitere Wettkampfdisziplin wurden auch „Bewegungsformen“ 2006 von der WTF auf globaler Ebene eingeführt. 2013 wurde die WTF vorläufig und 2015 schließlich vollwertig vom International Paralympic Committee (IPC) anerkannt und Para-Taekwondo somit als Disziplin der Special Olympics 2020/2021 in Tokio aufgenommen.101 Nachdem WTF und ihr Präsident Kim Un Yong bereits seit den frühen 2000er Jahren aufgrund von Korruptionsvorwürfen und intransparenter Punkte-
97 Eckert 1990, S. 372ff. 98 Ok 2007, S. 324. 99 Vgl. Gillis 2011, S. 156. 100 Vgl. Moenig/Kim 2017, S. 1334. 101 Vgl. http://www.worldtaekwondo.org/about-wt/about-wt/, abgerufen 02.06.2020.
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vergabe bei hochklassigen Turnieren massive Kritik erfuhren, 102 wurde in der Folgezeit in eine Verbesserung des Image des Wettkampfsports Taekwondo investiert. Kim Un Yong musste 2004 seinen Rücktritt bekannt geben und wurde im selben Jahr aufgrund von Bestechungsdelikten inhaftiert. 103 Es folgte eine Zeit der permanenten Weiterentwicklung von Wettkampfregeln, der Demokratisierung der Organisationsstrukturen und der schrittweisen Einführung elektronischer Zählsysteme bei Wettkämpfen, was den Sport Taekwondo transparenter und zuschauer*innenfreundlicher gestalten sollte.104 2009 wurde darüber hinaus das Taekwondo Peace Corps mit dem Ziel gegründet, Taekwondo mithilfe von Freiwilligendiensten niedrigschwellig in Entwicklungsländern zu verbreiten. 105 Bis 2015 wurden insgesamt 1.315 Freiwillige in über 100 Länder entsandt, um dort Projekte umzusetzen, die Taekwondo vermitteln sollten. 106 Diese Arbeit wurde 2015 mit Gründung der Taekwondo Humanitarian Foundation intensiviert und auf Projektarbeit in weltweiten Flüchtlingslagern ausgeweitet. 107 2.2.5 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Die kulturellen Ansprüche des Kukkiwon in Korea und weltweit Während sich die WTF seit ihrer Gründung auf die sportpolitische Vermarktung des Taekwondo mit dem Ziel der olympischen Integration und schließlich der Anerkennung als globalem Massensport koreanischer Herkunft konzentrierte, war das Ziel des Kukkiwon, die innerkoreanische wie auch die globale Etablierung des Taekwondo als genuin koreanischer Martial Art mit besonderem kulturellem und pädagogischem Wert. Das Kukkiwon führte damit konsequent die Agenda weiter, die Choi Hong Hee bereits ab Mitte der 1950er Jahre und verstärkt in den 1960er Jahren verfolgte, indem er versuchte, über neu entwickelte Terminologie, eigene Bewegungsformen 108 und eine korea-zentrierte Entstehungsgeschichte eine genuin koreanische Identität des Taekwondo zu propagie-
102 Vgl. Gillis 2011, S. 172ff. 103 Ebd. 104 Vgl. Gillis 2011, S. 198ff. 105 Vgl. http://www.worldtaekwondo.org/development/tpc/, abgerufen 02.06.2020. 106 Vgl. http://www.worldtaekwondo.org/development/thf/, abgerufen 02.06.2020. 107 Ebd. 108 Anm.: Hierbei handelt es sich um festgelegte Solo-Choreografien wie sie in vielen Martial Arts trainiert werden.
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ren.109 Choi war in dieser Hinsicht nicht der Einzige. Besonders Hwang Kee, Oberhaupt des Mudŏk Kwan, argumentierte seit dessen Gründung eine genuin koreanische Identität seines Stils, indem er sein Hwasudo, Tangsudo und schließlich Subakdo über die Namensgebung mit der historischen HwarangGemeinschaft (화랑, 花郞) des Reiches Silla (신라, 75 v. Chr.-935 n. Chr.) oder der historischen Martial Art Subak (수박, 手搏) 110 in Verbindung brachte. 111 Diese Ambitionen führte zunächst die KTA und ab 1972 stufenweise auch das Kukkiwon weiter. Die Mittel waren die gleichen. Zunächst wurde eine eigene Terminologie entwickelt bzw. weiterentwickelt, die sich auch von der Terminologie Chois abheben sollte. Des Weiteren wurden zusätzlich eigene einheitliche Bewegungsformen entwickelt und gelehrt, nachdem in den bestehenden Kwan Bewegungsformen aus dem Karate praktiziert worden waren. 112 Dazu wurden von einem Komitee der KTA bis Ende der 1960er Jahre verschiedene Bewegungsformen erarbeitet. Zunächst wurden die Palgwae-Bewegungsformen (팔괘, 八卦, p'algwae)113 sowie neun Schwarzgürtel-Bewegungsformen (유단) und schließlich bis Anfang der 1970er Jahre die Taegeuk-Bewegungsformen (태극, 太極, t'aegŭk) entwickelt, welche die Palgwae Bewegungsformen ersetzen sollten. 114 Auch der Begriff für Bewegungsform wurde geändert. Hießen diese in den einzelnen Kwan noch Hyeong (형, 形 oder 型, hyŏng), als koreanische Aussprache der japanischen Schriftzeichen für Kata, wurde auch dieser Begriff ab den frühen 1970er Jahren zunächst in Poomse (품세, 品勢, p'umse) und ab 1987 in Poomsae (품새, 品勢, p'umsae) geändert. 115 Auch die Trainingsbekleidung wurde teilweise erheblichen Änderungen unterzogen. Während in den Kwan hauptsächlich Trainingsbekleidung wie im Karate getragen wurde, war es Hwang Kee, der neue Trainingsbekleidung einführte, für die er sich von militärischen Roben historischer koreanischer Reiche inspirieren ließ. 116 Nachdem innerhalb der KTA weiterhin Karate-ähnliche Trainingsbekleidung getragen 109 Vgl. Gillis 2011, S. 49ff; S. 60ff. 110 Bei Subak handelt es sich um eine historische koreanische Kampfkunst, über deren Praxis jedoch wenig bekannt ist. Auch ist keine in die heutige Zeit gesichert überlieferte Traditionslinie bekannt (vgl. Choi 2016, S. 194). 111 Vgl. Moenig 2017, S. 44. 112 Vgl. Moenig /Kim 2019b, S. 2. 113 P'algwae bezeichnet ursprünglich die Grundlegenden acht kwae (괘, 卦) oder Trigramme aus dem chinesischen Buch der Wandlungen (易經, 역경, chin. I-Ching, kor. yŏkkyŏng) (vgl. Riegel 2013, S. 91f.). 114 Vgl. Moenig/Kim 2019b, S. 6. 115 Ebd. 116 Vgl. Kim et al. 2016, S. 965.
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wurde, wurde diese 1978 durch die noch heute gebräuchliche Schlupfjacke mit V-Ausschnitt ersetzt. Neben dem besseren Tragekomfort sollte dieser Schnitt insbesondere die äußere Abhebung vom Karate befördern.117 2011 wurde darüber hinaus neue Bekleidung für Poomsae-Wettkämpfe eingeführt, welche sich noch stärker an der traditionellen koreanischen Bekleidung, dem Hanbok (한복, 韓服), orientierte.118 Mit der kulturellen Etablierung des Taekwondo waren auch kulturpolitische Entwicklungen verbunden. Kurz nach der Eröffnung des Kukkiwon wurde dazu 1974 das Kukkiwon Taekwondo Demonstration Team gegründet, das seitdem Performances im In- und Ausland aufführt. 119 Als kultureller Gegenpol zum sportlichen Wettkampf der WT(F) wurde 1992 das Taekwondo Hanmadang (태권도한마당, t'aegwŏndo hanmadang) ins Leben gerufen, an dem laut Kukkiwon jährlich über 5.000 Menschen aus über 50 Nationen teilnehmen. 120 Zusätzlich zum Kukkiwon wurde im Jahr 2005 durch das Ministerium für Kultur und Tourismus die Taekwondo Promotion Foundation gegründet, die zur weiteren Popularisierung des Taekwondo im In- und Ausland beitragen sollte. 121 Eine zentrale Aufgabe war dabei die Schaffung eines TaekwondoTrainingskomplexes, einer Art Kultur-, Trainings- und Freizeitpark mit Taekwondo als zentralem Thema. Dieses Projekt wurde 2007 beschlossen, 2013 fertiggestellt und 2014 als Taekwondowon (태권도원, 跆拳道院, t'aegwŏndowŏn) in Muju/Südkorea eröffnet.122 2018 folgte schließlich ein zentrales Ereignis für die gesellschaftliche Stellung des Taekwondo in Südkorea. Nachdem Taekwondo seit 1971 lediglich inoffiziell der Nationalsport Südkoreas war, wurde am 30. März 2018 schließlich der „National Sport Designation Act for Taekwondo“ vom südkoreanischen Parlament beschlossen, der Taekwondo nun auch de jure zum koreanischen Nationalsport erhob.123
117 Vgl. Kim et al. 2016, S. 970. 118 Vgl. Kim et al. 2016, S. 972. 119 http://kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/promote/demon_intro, abgerufen 02.06.20. 120 Ebd. 121 Vgl. https://www.tpf.or.kr/tpf_eng/contents/tpfeng010101.do, abgerufen 02.06.2020. 122 Ebd. 123 Vgl. https://www.insidethegames.biz/articles/1063449/taekwondo-designated-as-sou th-koreas-flagbearing-national-sport, abgerufen 02.06.2020.
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2.2.6 Eine moderne Geschichte des Taekwondo: Zusammenfassung und heutige Situation Dass Taekwondo eine Bewegungskultur mit einer „rein koreanischen“ Identität darstellt, kann anhand seiner historischen Entwicklung begründet bezweifelt werden. Laut aktuellem Forschungsstand wurde die Basis für die Entwicklung des Taekwondo insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, als wenige Jahre vor und nach dem Koreakrieg erste moderne Martial-ArtsSchulen in und um Seoul gegründet wurden. Stile des Karate-Dō waren dabei zentrale Einflüsse. Doch bereits früh zeigten sich Bestrebungen, diesen Bewegungskulturen eine koreanische Identität zu geben, was auch für die weitere Entwicklung im Taekwondo ein essenzielles Motiv darstellte. Ebenso früh zeigten sich erste Bestrebungen zur Kooperation zwischen den einzelnen Schulen. Diese waren jedoch von Beginn an von persönlichen wie auch politischen Konflikten und Machtkämpfen geprägt, was wiederholt zu Trennungen und Abspaltungen führte und ein Grund für die heutige Zersplitterung des Taekwondo ist. Der Wunsch nach nationaler Identität und Vereinigung zeigt sich im Namen „Taekwondo“, dessen Geburtsstunde auf den 11. April 1955 gesetzt wird. Waren die Bündnisse der Vorläuferschulen in den 1950ern noch fragil, so setzte in den 1960er Jahren eine immer stärker werdende Zentralisierung und Vereinheitlichung mit dem Anspruch ein, Taekwondo als nationalen Sport zu etablieren. Dies geschah schließlich 1971 durch Park Chung Hee, unter dessen Regime Taekwondo zu einem einheitlichen nationalen Sport, einer nationalen Leibeserziehung sowie international zu einem Vorboten der Korean Wave (한류, hallyu)124 avancierte. Die 1980er Jahre standen im Zeichen der olympischen Integration, die schließlich 1988 im Rahmen der Olympischen Spiele in Seoul als Demonstrationssportart gelang. Seit dem Jahr 2000 ist Taekwondo-Zweikampf bis heute olympische Disziplin und zeigt neben wettkampfsportlichen auch humanitäre Ambitionen. Neben den sportpolitischen blieben auch kulturpolitische Bestrebungen Taekwondo als immaterielles kulturelles Gut Koreas und als Ausdruck traditionsbewusster koreanischer Identität zu popularisieren erhalten. Diese erleben seit den 2000er Jahren einen besonderen Aufschwung. In Südkorea wird Taekwondo gegenwärtig in öffentlichen Schulen, an Universitäten, beim Militär und in privaten Taekwondo-Schulen praktiziert, während Mannschaften von Middle und High Schools, Universitäten und dem Militär die technische Elite darstellen.125 Die Masse bilden jedoch private Taekwondo-Schulen
124 Vgl. Forrest/Forrest-Blincoe 2018; Porteux/Choi 2018. 125 Moenig 2017, S. 165.
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oder Gyms (체육관, ch'eyuk kwan). Laut einer Studie, die im Taekwondo Journal of Kukkiwon publiziert wurde, belief sich die Gesamtzahl der TaekwondoSchulen in Südkorea im Jahr 2014 auf 11.617 Schulen, wobei die Zahl seit 1990 stetig zunahm.126 Allein in Seoul belief sich die Zahl der Schulen im Jahr 2014 auf 1.896. Auch diese Zahlen verdeutlichen zusätzlich die hohe gesellschaftliche Relevanz des Taekwondo in Südkorea. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass die Zahlen aus einer Kukkiwon-Studie stammen und eine Befangenheit hier nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Es handelt sich jedoch um die einzigen Daten, die hierzu eruiert werden konnten.
2.3
DER TAEKWONDO SPIRIT
Wie bereits erwähnt, betont der Name „Taekwondo“ anhand der Silbe „Do“ eine charakterliche Schulung der Praktizierenden in und durch die Praxis des Taekwondo.127 Schon die Wahl des Namens spiegelt daher den selbstgesetzten Anspruch besonderer pädagogischer Qualitäten wider. Wie der Abschnitt zur historischen Entwicklung des Taekwondo und seiner Institutionen zeigen konnte, spielten diese pädagogischen Qualitäten seit der politischen und gesellschaftlichen Etablierung des Taekwondo in Südkorea immer schon eine wichtige Rolle. Obwohl das Konzept des Do zwar prinzipiell eine Interpretation als Entwicklungsprozess mit offenem Ausgang zulässt, umfassen selbstgesetzte pädagogische Ziele, welche im Kontext des Taekwondo formuliert werden, eine Pädagogisierung der Praktizierenden hinsichtlich konkreter sozialer Normen anhand bestimmter Werte und Ideale. So schreibt etwa Taekwondo-Lehrer und ehemaliger Kukkiwon-Präsident Lee Kyu Hyung (이규형): „[…] Taekwondo has a normative concept which refers to any form of act in a specific value orientation. In this respect, Taekwondo is an educational means for building specific values and attitudes.“128 Normen, Werte und Ideale werden in der fachspezifischen – akademischen wie auch nicht-akademischen – Literatur nicht durchgehend trennscharf verwendet. Sie finden jedoch in der überwiegenden Zahl der Taekwondo-Lehrbücher etwa als „Spirit“ oder „Philosophy“ Erwähnung. Dabei sind vielfach Texte zu finden, deren Fokus auf der Beschreibung von Werten und Idealen im Taekwondo liegt, anhand derer sich die Praxis orientiert. Weniger häufig finden sich Texte, die konkrete soziale Normen beschreiben, die in der Praxis des Taekwondo angeeignet werden oder werden sollen. Anhand promi-
126 Lee 2016, S. 151. 127 Vgl. Abschn. 2.2.1. 128 Lee 2011, S. 11.
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oder Gyms (체육관, ch'eyuk kwan). Laut einer Studie, die im Taekwondo Journal of Kukkiwon publiziert wurde, belief sich die Gesamtzahl der TaekwondoSchulen in Südkorea im Jahr 2014 auf 11.617 Schulen, wobei die Zahl seit 1990 stetig zunahm.126 Allein in Seoul belief sich die Zahl der Schulen im Jahr 2014 auf 1.896. Auch diese Zahlen verdeutlichen zusätzlich die hohe gesellschaftliche Relevanz des Taekwondo in Südkorea. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass die Zahlen aus einer Kukkiwon-Studie stammen und eine Befangenheit hier nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Es handelt sich jedoch um die einzigen Daten, die hierzu eruiert werden konnten.
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DER TAEKWONDO SPIRIT
Wie bereits erwähnt, betont der Name „Taekwondo“ anhand der Silbe „Do“ eine charakterliche Schulung der Praktizierenden in und durch die Praxis des Taekwondo.127 Schon die Wahl des Namens spiegelt daher den selbstgesetzten Anspruch besonderer pädagogischer Qualitäten wider. Wie der Abschnitt zur historischen Entwicklung des Taekwondo und seiner Institutionen zeigen konnte, spielten diese pädagogischen Qualitäten seit der politischen und gesellschaftlichen Etablierung des Taekwondo in Südkorea immer schon eine wichtige Rolle. Obwohl das Konzept des Do zwar prinzipiell eine Interpretation als Entwicklungsprozess mit offenem Ausgang zulässt, umfassen selbstgesetzte pädagogische Ziele, welche im Kontext des Taekwondo formuliert werden, eine Pädagogisierung der Praktizierenden hinsichtlich konkreter sozialer Normen anhand bestimmter Werte und Ideale. So schreibt etwa Taekwondo-Lehrer und ehemaliger Kukkiwon-Präsident Lee Kyu Hyung (이규형): „[…] Taekwondo has a normative concept which refers to any form of act in a specific value orientation. In this respect, Taekwondo is an educational means for building specific values and attitudes.“128 Normen, Werte und Ideale werden in der fachspezifischen – akademischen wie auch nicht-akademischen – Literatur nicht durchgehend trennscharf verwendet. Sie finden jedoch in der überwiegenden Zahl der Taekwondo-Lehrbücher etwa als „Spirit“ oder „Philosophy“ Erwähnung. Dabei sind vielfach Texte zu finden, deren Fokus auf der Beschreibung von Werten und Idealen im Taekwondo liegt, anhand derer sich die Praxis orientiert. Weniger häufig finden sich Texte, die konkrete soziale Normen beschreiben, die in der Praxis des Taekwondo angeeignet werden oder werden sollen. Anhand promi-
126 Lee 2016, S. 151. 127 Vgl. Abschn. 2.2.1. 128 Lee 2011, S. 11.
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nenter Beispiele werden im Folgenden einige solcher Entwürfe vorgestellt. Diese basieren zum einen auf Ausführungen prominenter und institutionell anerkannter Taekwondo-Lehrer und -Experten und zum anderen auf Publikationen des Kukkiwon als zentraler Bildungsinstitution. Ein prominentes Beispiel für die Beschreibung von Werten und Idealen sind die fünf Grundsätze des Taekwondo von Choi Hong Hee Obwohl er selbst aufgrund der zuvor beschriebenen politischen Zerwürfnisse lange Zeit ein Schattendasein im institutionellen Kontext des Kukki-Taekwondo spielte, werden seine fünf Grundsätze (태권도 5 대정신, t'aegwŏndo 5 taejŏngsin) auch hier rezipiert.129 Diese sind:130 • • • • •
Höflichkeit (예의, yeŭi) Integrität (염치, yŏmch'i) Durchhaltevermögen (인내, innae) Selbstdisziplin (국기, kukki) Unbezwinglichkeit (백절불굴, paekchŏlbulgul)
Ko Eui Min (고의민), Taekwondo-Lehrer, Diplom-Sportlehrer an koreanischen Grund- und Mittelschulen und ehemaliger koreanischer Nationaltrainer beschreibt in seinem Buch Tae-Kwon-Do (Gyorugi). Kompendium der Wettkampftechnik in Tae-Kwon-Do nach W.T.F.-System 131 den erzieherischen Wert des Taekwondo anhand bestimmter pädagogischer Ideale, die in der Praxis sukzessiv inkorporiert werden. Diese zehn sind:132 • • • • • • •
Stärkung der Willenskraft Förderung der körperlichen Vitalkraft und Harmonisierung des Lebens Vermittlung körperlicher Fertigkeiten Antrieb zu einer fleißigen Grundeinstellung und Förderung des moralischen Verhaltens Stärkung von Ausdauer, Selbstüberwindung und –beherrschung, Weiterentwicklung von Ehrgefühl und Gerechtigkeitssinn Befähigung zu selbständigem Handeln Förderung von Mut, Geduld und Aufrichtigkeit; eine bessere Bewältigung des Alltagslebens
129 Vgl. Park et al. 1989, S. 186. 130 Choi 1987, S. 6. 131 Ko 1990. 132 Ko 1990, S. 14.
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Erziehung zur Verantwortung, Ordnung und Hilfsbereitschaft, d.h. Weiterentwicklung jener Tugenden, die für das menschliche Zusammenleben unerläßlich [sic!] sind Stärkung von Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit Vertiefung der Liebe zum eigenen Volk und zum eigenen Staat
Lee Kyu Hyung wiederum spricht in seinem Buch What is Taekwondo Poomsae? im Kontext von pädagogischen Zielsetzungen zwar von „Educational Goals“, meint damit aber tatsächlich bestimmte Werte, anhand derer Taekwondo-Praktizierende erzogen werden sollen.133 Besonders hervorzuheben sind dabei im Kontext dieser Arbeit seine „Social Goals“. Zusammengefasst sind diese:134 • • • •
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„law-abiding spirit“ „moral personality“ mit den Qualitäten: „manner, concentration, patience, judgement, and behavior from an [sic!] right or wrong point of view.“ „Fairness“ „Cooperation und „belonging, sacrifice, spirit of service […] to keep an [sic!] order, respect personality of others […] unite into one for a common goal.“ „responsibility“ und „to perform exactly“ „autonomy“
Das Kukkiwon unterscheidet zwischen Normen auf der einen Seite sowie Werten und Idealen auf der anderen Seite. Erstere finden sich als Code of Etiquette in the Korea Taekwondo Association (대한태권도협회예의규범, taehan t'aegwŏndo hyŏphoe yeŭigyubŏm) 135 im Anhang des Taekwondo Textbook wieder. Diese ausformulierten sozialen Normen stammen aus dem Jahr 1971, demselben Jahr in dem Taekwondo zum Nationalsport ernannt wurde. In 16 Paragrafen wird das Verhalten im Rahmen des Trainings wie auch außerhalb geregelt. Diese sind: •
„Taekwondoist’s Bow and Upright Posture“ Dieser Absatz regelt die Art und Weise des Verbeugens im und außerhalb des Trainings. Der Körper muss dabei in einem Winkel von 45° geneigt werden.
133 Lee 2011, S. 26ff. 134 Lee 2011, S. 29. 135 Kukkiwon 2011, S. 773.
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„Bowing while sitting on the floor of dojang, in a room or living room“ Dieser Absatz regelt das Verhalten gegenüber Älteren. Das eigene Verhalten ist dabei immer dem der Älteren anzupassen. „Ceremony and assignment of seats“ Bei der Anordnung von Sitzplätzen während offizieller Veranstaltungen spielt die Hierarchie der Anwesenden das zentrale Kriterium bei der Sitzvergabe. „Drinking and smoking“ Auch das Verhalten im Rahmen von Kontexten, bei denen Alkohol und Tabak konsumiert werden, stellt das respektvolle Verhalten gegenüber Älteren in den Fokus. Es gilt auch bei Trunkenheit die Kontrolle über das eigene Verhalten zu bewahren. „Instructors attitude (head of dojang and instructors)“ In 14 Punkten werden allgemeine Handlungsanweisungen an Trainer und Schulleiter sowie generell für höherrangige Praktizierende gegeben. Diese heben ihre Vorbildfunktion hervor und die damit zusammenhängende Notwendigkeit von moralischer Integrität. Als Beispiele für handlungsleitende Werte werden „ethical manhood“, „justice“, „faith“, „modesty“ und „nonbetreyal“ genannt.136 „Norms of conduct at the dojang“ Dieser Paragraf regelt das Verhalten beim Betreten des Trainingsraums und gibt einen Grundtenor des Verhaltens in diesem Kontext vor. Das Verbeugen vor der Nationalfahne und höherrangigen Praktizierenden steht im Mittelpunkt. Das Verhalten im Trainingsraum sollte ruhig und bedächtig, die Sprache höflich sein. „Wear of the dobok“ Diesem Paragrafen nach sollte die Trainingskleidung stets gepflegt aussehen. Im Fall, dass die Trainingskleidung im Training verrutscht, sind Praktizierende angehalten sich abzuwenden und die Kleidung zu richten. „Dress and looks“ Die Bekleidung außerhalb des Trainings bzw. der Schule sollte stets ordentlich, sauber und bescheiden sein. Sie sollte keine Faulheit ausstrahlen und nicht der aktuellen Mode folgen.
136 Kukkiwon 2011, S. 776.
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„In society and at home“ „A taekwondoist must try to observe the code of etiquette not only at the dojang but also in school, social meeting and at home. A taekwondoist must know how to express the attitude of etiquette toward his teachers, seniors and colleagues and also his juniors.“137
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„During conversations“ Dieser Paragraf behandelt die Mimik, Sprache und Haltung gegenüber Mitanwesenden. Diese sollten freundlich und höflich-zurückhaltend sein. In Unterhaltungen sei auf eine zuvorkommende Gesprächsführung und Anrede gemäß der sozialen Hierarchie zu achten. „Telephone call“ Dieser Paragraf behandelt das Führen von Telefongesprächen. Dabei sei zunächst auf korrektes Vorstellen und korrekte Anrede zu achten. Telefonate sollten kurz und akkurat sein. „Paying a visit“ Hier werden Verhaltensweisen bei formellen Besuchen behandelt. Diese sollten nicht spontan sein und nicht an Sonn- und Feiertagen stattfinden. Sie seien außerdem kurz zu halten und dem Befinden der besuchten Person entsprechend durchgeführt werden. „At the table“ Dieser Paragraf umfasst das Verhalten am Essenstisch. Es sei hierbei auf eine aufrechte Köperhaltung zu achten. Gespräche seien auf ein Minimum zu reduzieren. Essensgeräusche seien zu meiden. Auf soziale Hierarchien und entsprechende Verhaltenscodes sei ebenfalls zu achten. „At social occasions“ Hier geht es um das Verhalten bei größeren sozialen Zusammenkünften. Es wird thematisiert, wie Personen einander vorzustellen seien und wie und unter welchen Umständen das Schütteln von Händen angebracht sei. Auf soziale Hierarchien und ein freundlich-zurückhaltendes Auftreten sei zu achten. „At the time of getting on a car“ In diesem Paragrafen werden Formalitäten des gemeinsamen Autofahrens beschrieben, etwa die Sitzanordnung der Fahrenden oder das Ein- und Aussteigen. Auf soziale Hierarchien sei auch hier zu achten. „During an attendance“ Dieser Paragraf behandelt die Assistenz/den Beistand/die Betreuung von Älteren und sozial Höherrangigen. Dies solle auf bescheidene und zuvorkommende Art und Weise geschehen.
137 Kukkiwon 2011, S. 777.
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Werte und Ideale werden in Publikationen des Kukkiwon unter dem sogenannten Taekwondo Spirit 138 zusammengefasst. Dieser wird wiederum als Amalgam unterschiedlicher „traditioneller“ kultureller Konzepte formuliert. So heißt es: „The Korean’s ethical tradition and the history of Taekwondo well reflect the picture of Korean society in the past. Taekwondo as a traditional martial art is not merely the fighting skills but a proper conduct of national traditions comprising a philosophical spiritual world of martial arts.“139
Der „traditionelle nationale Geist“, auf dem Taekwondo basiere, wird daher wie folgt beschrieben: „The Korean traditional thought is characterized by the priority on loyalty to the country and filial piety in people’s daily life, thus making people think about the responsibilities first before seeking power and voluntarily working for justice.“140
Als weitere zentrale Grundlage des Taekwondo Spirit wird die historische Hwarang-Gemeinschaft (화랑, 花郞) des Silla-Reiches (신라, 75 v. Chr.-935 n. Chr.) beschrieben. Dazu heißt es: „[T]he hwarangdo spirit inherited the Korean’s [sic!] traditional thought based on the seon philosophy and gave birth to the Tawkwondo [sic!] spirit consisting of the thought of loyalty and filial piety, courage of no retreat from fighting and practical ethic thought of consistency in learning and acting. This thought, shaped into a peace thought, has been handed down to the present Koreans.“141
An anderer Stelle heißt es dazu: „The hwarangdo spirit is characterized by the3 virtues of loyalty, filial piety and reliability, 5 disciplines and 3 virtuous conducts, such as modesty, frugality and restraint. And hwarang’s religious worship helped them cultivate patriotism. It must be noted that Taekwondo spirit was also inherited from the hwarangdo spirit in the course of their martial art training.“142
138 Vgl. Kukkiwon 2011, S. 56. 139 Kukkiwon 2011, S. 58. 140 Kukkiwon 2011, S. 55. 141 Kukkiwon 2011, S. 58. 142 Kukkiwon 2011, S. 59.
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Basierend auf dem Geist der Hwarang verkörpere Taekwondo demnach ein ethisch integres Handeln, welches Loyalität, Wertschätzung der Eltern und Älteren, Bescheidenheit und Zurückhaltung als zentrale Werte beinhalte. Als weiterer Einfluss wird das Konzept des Hongigin'gan (홍익인간, 弘益 人間) genannt, welches ein Handeln zum Wohle der Menschheit beschreibt.143 Zusammenfassend heißt es: „The Teakwondo [sic!] spirit, which has been influenced by traditional national thoughts, is infused with the national soul […]. Therefore, the Koreans’ traditional martial art Taekwondo aims not only to acquire power and skill for self-defense but to perfect oneself with the character of devoting one’s life to the safeguard of justice, of respecting the responsibilities and of embodying the thought of universal equality.“144
Laut dem Kukkiwon sei demnach ein fundamentales Ideal des Taekwondo ein Handeln, welches das Wohl der gesamten Menschheit als oberste Maxime habe. Eine umfassende Beschreibung der für Taekwondo spezifischen Normen, Werte und Ideale liefert schließlich Taekwondo-Experte, -Lehrer, -Historiker und ehemaliger Vize-Generalsekretär der WTF Lee Kyong Myong (이경명) in seinem Buch Taekwondo: Philosophy & Culture145. Ähnlich wie das Kukkiwon argumentiert auch er die vermeintlichen philosophischen Grundlagen des Taekwondo auf Basis „traditioneller“ koreanischer Denksysteme, die er unter dem Begriff „Han-Philosophy“ 146 zusammenfasst. Zentrales Symbol, welches das Wesen allen Seins widerspiegele, ist das Samjae (삼재, 三才) oder Samgŭk (삼극, 三極). 147 Dabei handelt es sich um ein Yin-Yang-Symbol (태극, 太極, t'aegŭk), das statt zwei Essenzen (음 und 양, 陰 und 陽, ŭm und yang), drei Essenzen besitze. Diese entsprechen Himmel, Erde und Mensch (천지인, 天地 人, ch'ŏnjiin), welche dem Ideal nach in Harmonie miteinander stehen müssen. Die Menschlichkeit und die Harmonie zwischen Gegensätzen seien demnach die essenziellen Ideale des Taekwondo. Der „Spirit of Taekwondo“ 148 setzte sich darauf aufbauend aus drei idealen Konzepten zusammen. So schreibt Lee: „The training of taekwondo itself means one is determined not only to attain the highest skill in taekwondo technique but ultimately try to reach the state of simsin-ilyeo (mind143 Vgl. Kukkiwon 2011, S. 58. 144 Kukkiwon 2011, S. 60. 145 Lee 2001. 146 Lee 2001, S. 36. 147 Vgl. Lee 2001, S. 36f. 148 Lee 2001, S. 39.
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body in unity), cheonin-habil (heaven-earth [sic!] in oneness), and then to become a hongik-ingan (humanitarian one).“149
Das erste dieser Konzepte, die er in anderer Reihenfolge als im vorherigen Zitat anordnet, ist cheonin-habil (천인합일, 天人合一, ch'ŏninhabil), was mit „Einheit von Himmel und Mensch(heit)“ 150 übersetzt werden kann. Das zweite Konzept ist hongik-ingan (홍익인간, 弘益人間, hongigin'gan), welches auch im Text des Kukkiwon genannt wird und ein altruistisches Leitbild beschreibt. Taekwondo erziehe in diesem Sinne zu Wohlwollen und Gutmütigkeit. 151 Hierzu schreibt Lee: „Unlike many other sports, the practice of taekwondo sports weights the spiritual aspect the most and its final object is to cultivate a person with a strong moral conscience. The virtue of taekwondo training, which aims at perfection of an all-around human being, can be well manifested in ones [sic!] achievement of the mind of hongik-ingan through the enhancement of harmony between mind and body, thereby believing in the merits of living in homologous cooperation between human beings and other human beings or between human beings and nature. “152
Das dritte Konzept, simsin-ilyeo (심신일여, 心 身 一 如 , shimshiniryŏ), beschreibt die Einheit von Körper und Geist, die bereits im Rahmen der vorherigen Konzepte thematisiert wurde. Diese Einheit werde im Taekwondo verkörpert, da potenziell tödliche Techniken einer ethisch-spirituellen Kontrolle unterliegen müssen. 153 Lee beschreibt die Einheit von Körper und Geist somit als permanentes moralisches Bewusstsein oder Bewusst-machen in der Handlung. Anhand dieser Ideale lehre Taekwondo die Werte der Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Ordnung und Selbstbeherrschung sowie äußerliche Sanftheit bei innerer Standhaftigkeit.154 Lee definiert das Konzept des Do als „moral doctrine“155, welche einerseits zum Kultivieren von Denken und Handelns und andererseits zum Helfen auffor149 Lee 2001, S. 40. 150 Ebd. 151 Lee spricht hier von „benevolence“ (Lee 2001, S. 42). 152 Lee 2001, S. 41. 153 Lee 2001, S. 43. 154 „[…] character building by arming the trainees with the senses of modesty, justice, and keeping order, as well as the power of inner control with the spirit of outer tenderness and inner rigidity.“ (Lee 2001, S. 44) 155 Lee 2001, S. 44.
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dere. Dies argumentiert er in erster Linie etymologisch, indem er zunächst das chinesische Schriftzeichen für Do 道 beschreibt. Hierzu stellt er fest: „The Chinese character do is a compound of the symbol meaning a man’s body in the form of walking swinging the arms back and forth and another meaning the head, thus inferring that one thinks while walking. Therefore, do comprises practical philosophy in that it involves both thinking and acting.“156
Zusätzlich bringt er die Silbe Do mit dem koreanischen Verb „dopneunda“ (helfen) in Verbindung.157 Somit sei auch aus dieser Perspektive heraus das oberste Ideal des Taekwondo, das Kultivieren von Körper und Geist sowie einer helfenden Geisteshaltung. Inwieweit dies jedoch linguistischen Tatsachen entspricht, bleibt zu klären. Als zentralen Wert des Taekwondo hebt Lee schließlich die Höflichkeit (예, 禮) hervor. Ye (kor. Höflichkeit) bezeichne in seiner allgemeinen Bedeutung die Ordnung des Kosmos, der Natur und schließlich auch der menschlichen Gesellschaft.158 Als essenzielles Prinzip des Konfuzianismus sei Ye demnach auch ein Aspekt „traditioneller koreanischer“ Weltanschauung und zeige sich im Taekwondo etwa durch das gegenseitige Verbeugen und das gepflegte Äußere im Training.159 Lee verweist an dieser Stelle außerdem auf den „Code of Etiquette“160 der KTA, der in diesem Teilkapitel bereits ausgiebig behandelt worden ist. Abschließend fasst er zusammen: „It is especially important that trainees must show their respect, loyalty, and trust toward their masters, not to mention about the mutual expressions of respect and confidence among fellow trainees.“161
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Taekwondo von institutioneller Seite in Form des Kukkiwon sowie von Seiten führender TaekwondoExperten als Praxis beschrieben wird, in der konkrete Werte, Normen und Ideale verkörpert und somit internalisiert werden. Insbesondere die Werte und Ideale basieren laut Kukkiwon und Lee Kyong Myong wiederum auf „traditionellen“ kulturellen Konzepten Koreas und können unter der Bezeichnung Taekwondo 156 Lee 2001, S. 45. 157 Ebd. 158 Lee 2001, S. 47. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Lee 2001, S. 48.
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Spirit subsumiert werden. Unter Bezugnahme auf die rezipierten Quellen und darin wiederkehrende Aspekte, können folgende Elemente als zentrale Werte und Ideale erachtet werden: Tabelle 1: Der institutionelle Taekwondo Spirit
Der institutionelle Taekwondo Spirit
Vereinheitlichter Aspekt Selbstvertrauen, Mut und Durchsetzungsfähigkeit
Höflichkeit und Respekt, insbesondere gegenüber Älteren
Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen
Regelkonformes Verhalten
Gerechtigkeitssinn
Auf Basis der Autoren und Punkte Choi: 5. Ko: 1., 7., 9. Kukkiwon: Hwarang Spirit Choi: 1. Ko: (8.) Lee K. H.: 2., 4. Kukkiwon: Hwarang Spirit, Code of Etiquette Lee K. M.: Ye Choi: 3., 4., (5.) Ko: 5., 9. Kukkiwon: Hwarang Spirit, „traditioneller nationaler Geist“ Lee K. M.: shimshiniryŏ Ko: 8. Lee K. H.: 1., 4. Kukkiwon: Code of Etiquette Lee K. M.: Ye, shimshiniryŏ Choi: 2. Ko: 5. Lee K. H.: 2., 3. Kukkiwon: „traditioneller nationaler Geist“, Hongigin'gan Lee K. M.: hongik-ingan, shimshiniryŏ
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Verantwortungsbewusstsein und Eigenverantwortung
Gemeinschaftlichkeit und das Handeln auf ein gemeinsames Wohl hin
Patriotismus
Hervorhebung traditioneller kultureller Identität
Choi: 2. Ko: 4., 6., 8. Lee K. H.: 4., 5., 6. Kukkiwon: Hwarang Spirit, Hongigin'gan Lee K. M.: Hongigin'gan Ko: 8. Lee K. H.: 4. Kukkiwon: Hongigin'gan, Code of Etiquette Lee K. M.: Hongigin'gan, Do (als helfen) Choi: Anderes162 Ko: 10. Kukkiwon: Hwarang Spirit, „traditioneller nationaler Geist“, Code of Etiquette Choi: Anderes163 Kukkiwon: Durch den Verweis auf die kulturelle Verwurzelung des Taekwondo Lee K. M.: Han-philosophy, ch'ŏninhabil, shimshiniryŏ, Hongigin'gan
Die institutionalisierte Argumentation birgt zwei Problematiken, welche zum einen die frühen Einflüsse auf das Taekwondo und zum anderen dessen historische Entwicklung und die daraus resultierende Ausdifferenzierung betreffen. Wie in der historischen Einführung dargelegt werden konnte, sind die zentralen Einflüsse, auf Basis derer sich Taekwondo herauszubilden begann, fast aus-
162 Anm.: Während Patriotismus oder Nationalismus von Choi nicht explizit im Rahmen seiner fünf Grundsätze genannt werden, so sind diese Aspekte jedoch insbesondere in den Benennungen der von ihm kreierten Bewegungsformen, den Teul (틀) (ehemals Hyeong 형, 形 oder 型). Diese sind nach berühmten historischen Persönlichkeiten, Patrioten und Freiheitskämpfern sowie wichtigen historischen Ereignissen benannt (vgl. Moenig 2017, S.157). 163 Auch dieser Punkt wird bei Choi insbesondere in der Bezeichnung seiner Bewegungsformen deutlich.
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schließlich im japanischen Karate der imperialen Zeit zu finden. Dass der Taekwondo Spirit also ausschließlich auf „traditionellen“ kulturellen Konzepten Koreas basiere, kann demnach zumindest angezweifelt werden. Moenig hat in diesem Zusammenhang bereits aufgezeigt, dass die Idee eines Taekwondo Spirit im Wesentlichen auf dem japanischen Bushido Spirit basiere. Aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Einflüsse ist daher anzunehmen, dass die Praxis des Taekwondo auch Normen, Werte und Ideale verkörpert, die nicht zwingend denen entsprechen, die etwa durch das Kukkiwon postuliert werden. Darauf wurde bereits etwa durch Capener und Moenig hingewiesen. 164 Wie die historische Einführung ebenfalls zeigen konnte, waren viele kulturelle, soziale und politische Einflüsse an der Formung des heutigen Taekwondo beteiligt. Dass sie alle zumindest Spuren in der gegenwärtigen Praxis und den darin verkörperten Normen, Werten und Idealen hinterlassen haben, ist daher naheliegend. Dieser Prozess kann zudem als fortlaufend angesehen werden. So stellt sich die Frage, wie vielleicht auch neuere kulturelle, soziale, politische und nicht zuletzt auch wirtschaftliche Tendenzen Einfluss auf die Praxis des Taekwondo und dessen Normen, Werte und Ideale ausübten. Des Weiteren ist Kukki-Taekwondo trotz seiner, insbesondere in Südkorea, vorherrschenden Einheitlichkeit 165 in keiner Weise als vollkommen homogene Praxis zu verstehen. Wie Moenig166 und darauf aufbauend Dziwenka und Johnson167 argumentieren, habe sich Kukki-Taekwondo inzwischen in zwei Substile aufgespalten, deren Praxis durch vollkommen unterschiedliche Zielsetzungen, Trainingsmethoden und damit zusammenhängend auch durch unterschiedliche Normen, Werte und Ideale geprägt sei: Taekwondo als Kampf-Kunst und Taekwondo als Kampf-Sport. Während bei ersterem vor allem das Praktizieren von Bewegungsformen, den Poomsae, im Mittelpunkt stehe, läge der Fokus bei letzterem ausschließlich auf dem Zweikampf und damit verbundenen Trainingsweisen. Moenig stellt in diesem Zusammenhang fest: „In reality, taekwondo’s training activities, from the introduction of sparring competitions during the 1960s onwards, has always consisted of two distinct main training components. One is the more recently introduced sparring/competition sport-based element, and the other is the conventional forms/self defense karate-based component. Both systems have been practiced as a blend in commercial taekwondo schools and recreational clubs. […] As a result, there seems to exist two parallel, yet essentially opposed systems present in 164 Capener 1995; 2016; Moenig/Kim 2019a. 165 Vgl. Moenig 2017, S. 156. 166 Vgl. Moenig 2017, S. 148 167 Vgl. Dziwenka/Johnson 2015.
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modern taekwondo under a common name, with essentially two conflicting training methodologies – forms versus sparring. In a philosophical level, the fundamental contradiction lies in taekwondo’s presentation, on the one hand, as a deadly martial art for self-defence with various supposedly ‘traditional’ and ‘ancient’ Korean cultural values attached to it while, on the other hand, taekwondo is portrayed as a modern, ‘scientific’ Olympic sport, contributing allegedly to world peace.“168
Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Fragen, bei denen es sich um Spezifizierungen der forschungsleitenden Fragestellungen handelt: 1. 2. 3.
Welche Normen, Werte und Ideale werden in der tatsächlichen Praxis des Taekwondo verkörpert? Wie kann Taekwondo Spirit auf Ebene der Praxis theoretisch gefasst werden? Wie zeigen sich gesellschaftliche Transformationsprozesse in der gegenwärtigen Praxis des Taekwondo?
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie dies empirisch untersucht werden kann. Zur Beantwortung dieser Fragen folgt nun die Schaffung einer theoretischen Grundlage auf Basis derer Taekwondo Spirit als Konglomerat von Normen, Werten und Idealen, als Verkörperung in der Praxis, untersucht werden kann. Darauf aufbauend erfolgt schließlich die Untersuchung anhand eines konkreten Fallbeispiels.
168 Moenig 2017, S. 148f.
3. Theoretische Grundlagen: Taekwondo(-Training) als Praxis und Performance
Wie im vorherigen Kapitel gezeigt werden konnte, spielt die vermeintliche Repräsentation und Vermittlung von Normen, Werten und Idealen im Taekwondo in Südkorea eine zentrale Rolle. Dies ist wiederum fundamental mit der Frage nach der Identität des Taekwondo verknüpft. Zum einen wird Taekwondo als Martial Art beschrieben, die bestimmte Normen, Werte und Ideale als spezifische Essenzen verkörpert. Zum anderen seien diese Normen, Werte und Ideale aus der „traditionellen koreanischen Kultur“ abgeleitet und Taekwondo somit eine repräsentative Verkörperung „traditioneller koreanischer Kultur“. Diese spezifischen Normen, Werte und Ideale werden unter dem Begriff Taekwondo Spirit zusammengefasst. Für die weitere Argumentation dieser Studie wurden mehrere, leicht unterschiedliche, institutionalisierte Versionen des Taekwondo Spirit miteinander verglichen und unter der Arbeitsbezeichnung institutioneller Taekwondo Spirit zusammengefasst. Mit Bezugnahme auf aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Geschichte des Taekwondo und seiner Verflechtung mit kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Tendenzen in Südkorea wurden erste Zweifel an einer derartigen kulturessentialistisch-deskriptiven und repräsentationszentrierten Konzeption des Taekwondo Spirit geäußert. Bisherige wissenschaftliche Veröffentlichungen reagierten auf diese offenkundige Problematik insbesondere mit dem normativen Anspruch, wie ein aktualisierter Taekwondo Spirit formuliert sein und welche Aspekte er beinhalten solle.1 Der Anspruch dieser Arbeit ist jedoch ein deskriptiv-analytischer: Welcher Taekwondo Spirit wird tatsächlich im Taekwondo verkörpert und wie geschieht dies? Wie
1
Vgl. Kap. 2.
64 | Im Gleichschritt des Dao
steht dieser in Bezug zu kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Tendenzen in Südkorea? Wie könnte all dies schließlich analysiert werden? Die Antwort auf die letztgenannte Frage wird im vorliegenden Kapitel, zunächst in Form einer theoretischen Grundlage, erarbeitet. Auf dieser Basis wird eine Forschungsmethode erarbeitet, mithilfe derer ein Taekwondo Spirit und seine Verflechtung mit kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten Südkoreas empirisch untersucht werden kann. Die grundlegende Annahme ist, das Taekwondo als Martial Art eine Bewegungskultur darstellt und sich daher in erster Linie in Bewegungen und Körpertechniken manifestiert. Taekwondo ist zuallererst etwas, das leiblich vollzogen wird und dies allem voran in der Trainingssituation. Eine solche Argumentation ist nicht neu. Im Kontext der Martial Arts Studies wurde in diesem Zusammenhang kürzlich Ben Spatz‘ Monografie What a Body Can Do. Technique as Knowledge, Practice as Research 2 rezipiert.3 Spatz bezieht sich zwar nicht vorrangig auf Martial Arts, jedoch wurde seine Bezugnahme auf implizites Körperwissen, Verkörperung und Embodied Research im Kontext der Martial Arts Studies vielfach rezipiert. Seine Arbeit umfasst in besonderem Maße die Verbindung körpersoziologischer mit tanz- und performancewissenschaftlicher Theorie, die sich in Kombination gut geeignet zeigten, Körperwissen, Verkörperung und Ästhetik miteinander in Beziehung zu bringen. Bezogen auf Taekwondo muss in diesem Sinne also auch der Taekwondo Spirit zuallererst auf Basis seiner körperlichen Aus-, Durch- und Aufführung sowie seiner Wahrnehmung und Rezeption verstanden und untersucht werden. Auch der Ansatz, Martial Arts und Performance miteinander in Beziehung zu setzen, ist nicht gänzlich neu. Bisherige Veröffentlichungen nähern sich diesem Themenkomplex aus unterschiedlichen Perspektiven. Ein frühes Beispiel ist Charles Holcombes Theater of Combat: A Critical Look at the Chinese Martial Arts4, welches die historische Verbindung von Martial Arts und Theater in China untersucht. Holcombe argumentiert, dass Martial Arts und kämpferische Praktiken im China der Kaiserzeit bis 1912 eine besondere Verflechtung mit Theaterund rituellen Traditionen aufgewiesen hätten. In seinen Monografien Possible Origins: A Cultural History of Chinese Martial Arts, Theater and Religion5 und Tai Chi, Baguazhang and The Golden Elixir. Internal Martial Arts Before the
2
Spatz 2015.
3
Anm.: Darüber hinaus existieren mehrere empirische Studien, die sich Martial Arts mithilfe Pierre Bourdieus Habitus-Konzept nähern. Auf diese wird bei der Erarbeitung der empirischen Forschungsmethode näher eingegangen.
4
Vgl. Holcombe 1992.
5
Vgl. Phillips 2016.
Theoretische Grundlagen | 65
Boxer Uprising 6 geht Scott P. Phillips einen Schritt weiter und argumentiert, dass Martial Arts, Theater und Religion – heute getrennte Entitäten – in der Kaiserzeit ein gänzlich zusammenhängendes Phänomen gewesen seien. Auch Daniel Mroz geht in seinem Essay Taolu: Credibility and Decipherability in the Pracitce of Chinese Martial Movement 7 auf die Gemeinsamkeiten von Performance und Martial Arts ein. Ein wichtiger Beitrag zur performancetheoretischen Analyse von Martial Arts stammt von D. S. Farrer, der seinen wissenschaftlichen Zugang zu Martial Arts als „Performance-Ethnografie“8 bezeichnet und auf diese Weise an mehreren Beispielen die Verflechtungen von Martial Arts und Performance untersucht hat.9 In seinem Beitrag Efficacy and Entertainment in Martial Arts Studies: Anthropological Perspectives 10 greift er auf Richard Schechners „infinity loop model“11 und die Begriffe „efficacy“ (Effizienz) und „entertainment“ (Unterhaltung) zurück, um Martial Arts-Praxis im Spannungsfeld von Ästhetik und kämpferischer Effizienz als zwei Idealtypen zu verorten. Darüber hinaus theoretisiert er den Prozess, in dem effiziente Kampftechniken über bestimmte Zeitspannen hinweg einem Ästhetisierungsprozess unterliegen. Probleme entstünden, wenn solch ästhetisierte Kampftechniken als effiziente Kampftechniken ausgegeben würden. Zusammenfassend stellt er fest, dass Martial Arts beide Aspekte in sich vereinen, dabei jedoch jeweils stärker zum einen oder zum anderen Idealtyp tendieren. Ein Beitrag, der speziell versucht, das Training als Performance zu analysieren, ist der Essay Toward a Theory of Martial Arts as Performance Art12 von Deborah Klens-Bigman. Sie stellt hier, unter Bezugnahme auf ihre eigenen Erfahrungen in der Schwertkunst Iaido (居合道), verschiedene Parallelen zwischen dem Training von Schauspieler*innen und MartialArts-Praktizierenden sowie der Biomechanik von Performance-Technik und Martial-Arts-Technik her. Besonders prägnant sieht sie die Gemeinsamkeiten im Bereich der Bewegungsformen. 13 Der Versuch, Taekwondo-Training als Performance zu analysieren, wurde vom Autor bereits im Rahmen seiner Arbeit Taekwondo als Cultural Performance. Kampfkunst im sozialpolitischen Kon-
6
Vgl. Phillips 2019.
7
Vgl. Mroz 2016.
8
Anm.: Im englischen Original verwendet Farrer die Bezeichnung „performance ethnographic“ (Farrer 2015, S. 35).
9
Vgl. Farrer 2009; 2013; 2015.
10 Farrer 2015. 11 Farrer 2015, S. 36. 12 Klens-Bigman 1999. 13 Klens-Bigman 1999, S. 13.
66 | Im Gleichschritt des Dao
text 14 unternommen. Aufbauend auf Andreas Kottes Konzept szenischer Vorgänge15 wurden verschiedene inszenatorische Aspekte der Trainingssituation im Taekwondo analysiert, welche das Training zu einem konsequenzverminderten und hervorgehobenen Vorgang machen. Vor diesem Hintergrund wurde argumentiert, dass sich diese Qualitäten in Beziehung zur kultur-politischen Instrumentalisierung des Taekwondo in Südkorea entwickelt hätten und Taekwondo gerade aufgrund seiner theatralen Qualitäten seine kultur- und gesellschaftspolitische Rolle in Südkorea ausfüllen konnte. Hier setzt die vorliegende Studie an und versucht, diese Vorüberlegungen theoriegeleitet zu hinterfragen und empirisch zu untersuchen. Die theoretische Grundlage schöpft somit aus zwei Theorieansätzen, die im Rahmen dieses Kapitels erarbeitet werden: der soziologischen Praxistheorie und der Theater- und Performancetheorie. Ihr zentrales verbindendes Konzept ist das der Performativität, wie bereits detailliert von Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel dargelegt werden konnte.16 Die Performativität der Praxis ist demnach der zentrale Funktionszusammenhang, der im weiteren Verlauf verfolgt werden soll. Im Rahmen des Teilkapitels zur Praxistheorie werden zunächst die Grundlagen einer praxeologischen Perspektive auf das Soziale umrissen und prägnante Unterschiede zu anderen kultursoziologischen Theorien aufgezeigt. Zentral ist dabei, wie die Verkörperung sozialer Struktur, bezogen auf Normen, Werte und Ideale, in und durch Körper, ihre Bewegungen und sozialen Choreografien 17 theoretisch gefasst werden kann. Dazu wird aufgezeigt, wie Normen, Werte und Ideale, anstatt in schriftlich oder verbal artikulierter Form, als inhärente Logik der Praxis aufgefasst werden können. Schließlich wird auch die Frage nach einer tendenziellen Stabilität bzw. Instabilität in der Praxis verkörperter Struktur, insbesondere anhand der Theorien Pierre Bourdieus und Judith Butlers, strategisch vereinfachend problematisiert. Dabei geht es um die Frage, wie Praktiken und deren inhärente Logik mit gesellschaftlichen Diskursen interagieren und in diesem Zusammenspiel Raum für individuelle, kulturelle und gesellschaftliche Transformation möglich ist. Am Ende dieses ersten Teilkapitels steht ein Fundament, das Taekwondo als eine Praxis theoretisiert, die in erster Linie nicht auf gesellschaftliche, kulturelle oder politische Normen, Werte und Ideale Bezug nimmt und sie repräsentiert, sondern diese erst in der Praxis performativ hervorbringt und somit für Transformationsprozesse zugänglich macht. 14 Minarik 2014. 15 Kotte 2005, S. 271. 16 Vgl. Klein/Göbel 2017. 17 Vgl. Klein 2009; 2012.
Theoretische Grundlagen | 67
Im nächsten Teilkapitel wird das Konzept der Cultural Performance und damit zusammenhängend das Konzept der Aufführung als besondere Ausformung von Praxis vorgestellt In diesem Zusammengang wird die bisherige Konzeption von Taekwondo-Training als Performance unter Bezugnahme auf die zuvor erarbeitete praxeologische Grundlage überarbeitet und aktualisiert. Anhand der drei Begriffe Performativität, Theatralität und Ritualität werden zentrale Analysekategorien von Cultural Performances behandelt und ihre Implikationen für die Performativität von Normen, Werten und Idealen in der Praxis des Taekwondo aufgezeigt. Die Lesarten von Theatralität und Ritualität werden dabei gemäß praxeologischer Axiome angepasst und zu Taekwondo-Training in Beziehung gesetzt. Abschließend wird argumentiert, wie „alltägliche“ Praxis und Performance ineinandergreifen und mithilfe welcher Mechanismen Theatralität und Ritualität als soziale Katalysatoren in der performativen Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen fungieren können, sowohl stabilisierend als auch transformierend. In einer Zwischenbilanz werden beide Teilkapitel miteinander in Verbindung gesetzt und somit eine umfassende heuristische Grundlage für die darauffolgende empirische Untersuchung ausformuliert.
3.1
DAS SOZIALE ALS PRAXIS
Bei der Praxistheorie handelt es sich um ein „heterogenes Feld familienähnlicher analytischer Ansätze, Erkenntnisstile und theoretischer Vokabulare, das durch unscharfe Grenzen gekennzeichnet ist.“ 18 Andere Bezeichnungen, die häufig synonym verwendet werden, sind „Praxeologie“ und „Praxissoziologie“. Dabei bilde, wie Robert Schmidt in einem Einführungstext zur Praxistheorie feststellt, die „Analyse der Körperlichkeit des Sozialen […] einen Schwerpunkt praxeologischer Zugänge“. 19 Insbesondere die Überwindung eines Körper-GeistDualismus, der seit Descartes prägend für geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen ist, spiele im praxeologischen Theoriediskurs eine wesentliche Rolle. Der menschliche Körper werde dort als zentrale Instanz und Bedingung für jegliche soziale Interaktion begriffen; mentale Aspekte müssten dennoch als „entscheidender Bestandteil von Praktiken konzeptualisiert“20 werden. Die Praxistheorie ist ein Theoriefeld, das als solches verstärkt seit den frühen 2000er Jahren Anklang in der deutschsprachigen Soziologie gefunden hat. Wegweisend für die heutige Verbreitung im deutschsprachigen Raum waren
18 Schmidt 2017, S. 335. 19 Ebd. 20 Schmidt 2017, S. 339.
68 | Im Gleichschritt des Dao
unter anderem die Arbeiten von Andreas Reckwitz21, der in seinen konzeptuellen Ausarbeitungen wiederum verstärkt auf Kanonisierungsansätze von Theodore R. Schatzki 22 aus dem englischsprachigen Theoriediskurs zurückgriff. Dieser subsumiert insbesondere in seinem Sammelband Practice Turn in Contemporary Theory23 gemeinsam mit Karin Korr-Cetina und Eike van Savigni theoretische wie auch methodologische Tendenzen zu einem practice turn, einer Bezeichnung die programmatisch in der Tradition vorheriger kulturwissenschaftlicher turns wie dem linguistic turn und dem cultural turn steht. Grundlegendes praxeologisches Vokabular und einzelne Kernannahmen haben jedoch bereits eine lange und teilweise wechselhafte Theoriegeschichte in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen hinter sich. So hat der Begriff der Praxis, zunächst in der Philosophie Aristoteles24 verortet, in seiner Begriffsgeschichte bereits mehrfache Reformulierungen erfahren. Während er bei Aristoteles noch eine auf eine „vernünftige Lebensgestaltung ausgerichtete Tätigkeit“ 25 beschreibt, bezeichnet er später in Karl Marx’ Thesen über Feuerbach die „sinnlich menschliche“ sowie „revolutionäre […] und praktisch-kritische […]“ Tätigkeit. 26 Über Marx‘ Auslegung gelangte der Begriff schließlich in die soziologische Theorie Pierre Bourdieus, der unter Praxis wiederum alles versteht, was nicht Theorie ist.27 Sein Praxisbegriff, der sich gegen das „scholastische Denken“, ein geistzentriertes, mentalistisches Denken, in der Wissenschaft richtet, bildet wiederum eine Grundlage für die gegenwärtige Praxistheorie. 28 Ein wichtiges theoretisches Grundkonzept ist die scharfe Differenzierung zwischen Praxis und Praktiken. Stefan Hirschauer definiert Praxis als den „körperlichen Vollzug sozialer Phänomene“ 29 , die letztlich in Form von Köperbewegungen vollzogen werden. Praktiken hingegen seien „bestimmbare Formen dieses Vollzugs: Typen von Aktivitäten, Weisen des Handelns, Verhaltensmuster, Interaktionsformen.“ 30 Während Praxis also ein umfassendes interkorporales Phänomen beschreibt, 21 Vgl. Reckwitz 2000; 2008. 22 Vgl. Schatzki 1996; Schatzki et al. 2001. 23 Schatzki 2001. 24 Anm.: Aristoteles stellt dem Begriff der Praxis dem der Poisis gegenüber. Im Gegensatz zu Praxis bezeichnet Poisis die zweckgerichteten Tätigkeiten eines Sklaven (vgl. Stepina 2007, S. 106ff.). 25 Schmidt 2017, S. 335. 26 Marx 1969, S. 5. 27 Hirschauer 2017, S. 91. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd.
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einen Komplex, der von ineinander verwobenen Praktiken gerahmt ist, sind diese Praktiken wiederum einzelne beschreibbare Funktionseinheiten, die in ihrer Gesamtheit den materiellen Rahmen einer Praxis ausmachen. Abgesehen vom Begriff der Praxis selbst, können mehrere sozial- und kulturphilosophische, soziologische und ethnologische Erklärungsansätze als Wegbereiter einer gemeinsamen Praxistheorie gesehen werden. Robert Schmidt nennt insbesondere die sozialwissenschaftlichen Ansätze von Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Harold Garfinkel als wesentliche Wegbereiter aktueller praxeologischer Theoriebildung. In Bourdieus „théorie de la pratique“ oder „praxéologie“ sind der Begriff des Habitus31, das Konzept des praktischen Sinns (sens pratique) 32 und der Inkorporiertheit von Wissen von besonderer Bedeutung. 33 Giddens Konzeption einer theory of structuration weist deutliche Überschneidungen mit Bourdieu hinsichtlich der Verkörperung und praktischer Einbettung sozialer Strukturen auf, argumentiert im Gegensatz zu Bourdieu jedoch wesentlich akteursbezogener mit der raum-zeitlichen Bindung und Brüchigkeit dieser sozialen Verkörperungen.34 Garfinkel schließlich beschreibt das Soziale in seinem theoretisch-methodologischen Programm der Ethnomethodologie als ein „fortdauerndes accompishment von kontextreflexiven skillful practices“35 . Bei ihm sind es, ähnlich wie bei Bourdieu, soziale Akteure, die im Modus eines inkorporierten und routinisierten impliziten Wissens in intersubjektiven Dialog treten. All diese beziehen sich dabei wiederum auf die späten Arbeiten Ludwig Wittgensteins zu „Sprachspielen“ und die damit einhergehende Auflösung der Dichotomien Handlung vs. Struktur, Mikro- vs. Makroebene, Subjekt vs. Objekt und Geist vs. Körper. 36 Andreas Reckwitz erweitert diese Liste um bestimmte Theoretiker*innen des Poststrukturalismus, wenn auch der allgemeine Fokus auf sprachlich-diskursiven Phänomenen liegt. Insbesondere Michel Foucaults späte Arbeiten zu den Technologien des Selbst wie auch den Techniken des Regierens und Gilles Deleuzes‘ Ansatz zur Theorie der Materialität hätten aber zum Theoriediskurs der Praxeologie beigetragen. Hinsichtlich spezifischerer Forschungsprogramme hätten, laut Reckwitz, zudem auch Vertreter*innen der Cultural Studies (Michel de Certeau), der Artefakt-Theorien (Bruno Latour) und genderspezifischer Theorien des Performativen (Judith Butler) zu einer praxistheoreti-
31 Vgl. Bourdieu 1974. 32 Vgl. Bourdieu 1987. 33 Reckwitz 2008, S. 98. 34 Vgl. Giddens 1984. 35 Reckwitz 2008. 36 Schmidt 2017, S. 336.
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schen Programmatik beigetragen. 37 Neben den bisher genannten Haupteinflüssen, wie sie bei Reckwitz, Hirschauer und Schmidt genannt werden, führt Hilmar Schäfer in seiner Einführung zur Praxistheorie zudem weitere Autoren auf, die einen Beitrag zum aktuellen Diskurs einer Theorie sozialer Praktiken beigetragen haben, jedoch im Bestreben der Kanonisierung einer Theorie sozialer Praxis weniger umfangreich rezipiert wurden.38 In der Rezeption der einzelnen theoretischen und methodologischen Einflüsse auf die Praxistheorie wird deutlich, dass nicht nur unterschiedliche Theorietraditionen einen wesentlichen Einfluss auf die praxeologische Theoriebildung hatten, sondern – und dies hängt unweigerlich mit der Vielfalt der einflussreichen Ansätze zusammen – dass mitunter vollkommen gegensätzliche Auffassungen zur Dynamik und Funktionsweise sozialer Praktiken vorherrschend waren. Schäfer verortet diese gegensätzlichen Auffassungen im Spannungsverhältnis von Stabilität und Instabilität der Praxis, also der Routiniertheit und Reproduktion auf der einen und der Dynamik und Transformation auf der anderen Seite.39 So stehe, nach Reckwitz, besonders bei Pierre Bourdieu die reproduktive Funktionsweise sozialer Praktiken im Kontext sozialer Ordnung im Mittelpunkt. Soziale Ordnungen und (Herrschafts-)Strukturen werden, laut Bourdieu, durch Praktiken verkörpert und fortlaufend reproduziert. Dem gegenüber stehe der paradigmatische Fokus auf die Instabilität der Praxis, also der permanenten Möglichkeit von Subversion, Innovation und Neuverhandlung von Struktur und Ordnung in der Praxis. Diese Auslegung finde sich wiederum vorherrschend im Spätwerk von Michel Foucault und bei Judith Butler. Das Spannungsverhältnis von Stabilität und Instabilität wird im Verlauf dieses Kapitels noch ausführlicher thematisiert werden. Im Folgenden werden zunächst konzeptionelle Grundannahmen der Praxistheorie zusammengefasst, die sich unabhängig vom Fokus auf Stabilität oder Instabilität festmachen lassen. 3.1.1 Grundelemente und theoretische Eckpfeiler der Praxistheorie Grundannahme der Praxistheorie ist, „dass sich die soziale Welt aus sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verflochtenen Praktiken [sic!] zusammensetzt: Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken
37 Reckwitz 2008, S. 100ff. 38 Vgl. Schäfer 2013. 39 Schäfer 2013, S. 38ff.
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der Partnerschaft, Praktiken der Verhandlung, Praktiken des Selbst etc.“ 40 Diese Praktiken setzen sich dabei aus einem „nexus of doings and sayings (Schatzki)“41 zusammen, in welchem menschliche Körper mit sich selbst sowie anderen Körpern 42 und spezifischen Artefakten in Beziehung treten. Praktiken sind also zunächst einmal nicht mehr als strukturierte Bewegung. Der Körper ist demnach zum einen Vorbedingung für Praktiken, er ist jedoch auch gleichermaßen ein Ergebnis der Praktiken, indem er durch Bezugnahme auf diese in der Praxis geformt wird.43 Mit dem Fokus auf den materiellen Vollzug von Praktiken wendet sich die Praxistheorie dabei explizit gegen Sozialtheorien, die das Soziale entweder mentalistisch auf der Ebene rationaler Handlungsweisen (homo oeconomicus) und normgeleiteter Handlungsweisen (homo sociologicus) oder symbolischer, textueller und diskursiver Kommunikation (Textualismus) zu erklären versuchen. Laut praxeologischer Ansätze lässt sich das Soziale also weder durch das Handeln auf Basis rationaler oder normgeleiteter Entscheidungen ausreichend erklären noch auf Basis der Kommunikation mittels sprachlichsymbolischer Ordnungen. In Anlehnung an Andreas Reckwitz lassen sich nun mehrere theoretische Eckpfeiler der Praxistheorie festmachen: Materialität der Praxis 44 bezeichnet die Gebundenheit von Praktiken an Körper und Artefakte. Sie bilden die Grundlage von Praktiken und sind ebenfalls ihre beobachtbaren und bestimmbaren Bestandteile. Ordnungen und Strukturen werden demnach in Körper eingeschrieben und lassen sich an diesen beobachten. In diesem Sinne besitzen auch Artefakte eine soziale Relevanz, indem sie in Praktiken eingebunden sind. Der symbolische Wert von Artefakten ist aus praxeologischer Perspektive eher zweitrangig. Dies lässt sich am Beispiel eines Fußballs verdeutlichen. Prinzipiell ist es möglich, seine äußere Beschaffenheit symbolisch zu deuten. Im Rahmen von großen Turnieren werden immer wieder neue Designs präsentiert, die in ihrer ästhetischen Konzeption beispielsweise auf 40 Reckwitz 2008, S. 113. 41 Reckwitz 2008, S. 113. 42 Anm.: Die Interaktion mit anderen Körpern ist dabei keine zwingende Voraussetzung, um von Praktiken zu sprechen. Auch im Gebrauch von Medien kann laut Reckwitz von Praktiken gesprochen werden. Er führt dazu als Beispiel die Praxis des Lesens an, wie sie sich im westlichen Bürgertum des 18. Jahrhunderts etabliert hat. Wenn diese zunächst auch keine soziale Dimension zu haben scheint, da Lesende nicht primär mit anderen Subjekten interagieren, so lässt es sich doch als „kollektiv geformte, im Hinblick auf das in ihr enthaltene know-how höchst voraussetzungsreiche Aktivität rekonstruieren“. (Reckwitz 2008, S. 106) 43 Hillebrand 2015, S. 18. 44 Reckwitz 2008, S. 113.
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die gastgebende Nation verweisen können. Wesentlich bleibt jedoch die praktische Einbindung des Fußballs in die Praktiken des Dribbelns, Passens oder Schießens. Symbolhafte Strukturen werden somit zwar nicht gänzlich geleugnet, werden allerdings in Form von kulturellen Codes umgedeutet, die in Praktiken zum Ausdruck kommen.45 Die Implizite Logik der Praxis46 bezieht sich auf die Gebundenheit von Wissen an Praktiken. Im Gegensatz zum knowing-that mentalistischer Wissenskonzepte theoretisiert die Praxistheorie demgegenüber das knowing-how als maßgebliche Wissensform von Praktiken und meint damit ein praktisches Wissen, das die „routinemäßige Zuschreibung von Bedeutungen zu Gegenständen, Personen, abstrakten Entitäten, dem Selbst“ 47 sowie das methodische Wissen um „script-förmige Prozeduren“48 einschließt. Es handelt sich hierbei also um implizite normative Kriterien, wie beispielsweise Praktiken des Begrüßens oder Essens zu vollziehen seien. Die Ausführung ist dabei nicht primär an expliziten Normen ausgerichtet, die im Vollzug befragt werden, sondern an impliziten Wissensformen, die in und durch Praktiken inkorporiert werden. Diese Wissensformen sind dabei nicht als universell zu erachten, sondern als historischspezifisch und wandelbar. Routinisiertheit und Unberechenbarkeit der Praktiken 49 sind wesentliche Merkmale, die gleichzeitig eine wesentliche Problematik der Praxistheorie benennen, indem sie eine grundlegende interpretative Unbestimmtheit thematisieren. Zwar sind Praktiken als routinierte Handlungsweisen zu verstehen, diese Reproduzierbarkeit ist jedoch keinesfalls rein statisch zu denken. Wenn auch strukturalistisch ausgerichtete Praxeolog*innen in der Tradition von Pierre Bourdieu dazu tendieren, die Stabilität der Praxis anzunehmen, dass sich also soziale Ordnungen und Strukturen in der Praxis immer wieder reproduzieren, so gehen poststrukturalistisch argumentierende Praxeolog*innen in der Tradition des späten Foucault und Butler von einer immanenten Brüchigkeit der Praxis aus. Dies geschieht mit Rekurs auf Jaques Derridas Konzept der Iterierbarkeit jedes Zeichens.50 Für diese gilt, so Derrida, dass sie in der Praxis des Zitierens aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und in einen neuen Kontext gestellt werden, weshalb Bedeutungsverschiebungen immer schon in der Praxis angelegt seien. Im Zusammenhang mit der damit verbundenen Unberechenbar45 Reckwitz 2005, S. 101. 46 Reckwitz 2008, S. 115. 47 Reckwitz 2008, S. 118. 48 Ebd. 49 Reckwitz 2008, S. 120. 50 Schäfer 2013, S. 47.
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keit der Praxis nennt Reckwitz vier Eigenschaften von Praktiken, die „kulturellen Wandel zum Normalfall werden lassen“51: Unter dem Stichwort accomplishment wird die permanente Möglichkeit gefasst, dass Praktiken immer auch ‚misslingen‘ können. Dies ist dann der Fall, wenn Überraschungen oder neue Kontexte oder Technologien auftreten, die dazu führen, dass Praktiken modifiziert werden müssen. Zeitlichkeit als weiteres Kriterium ist eng mit dem der Kontextualität verknüpft. Praktiken müssen in der Zeit immer wieder neu hervorgebracht werden und beinhalten daher das Potential einer Sinnverschiebung. Als weitere Ursache der Offenheit von Praktiken ist die Verknüpfung von verschiedenen Praktiken als lose gekoppelte Komplexe. Wie Reckwitz feststellt, sind diese aufeinander abgestimmt und voneinander abgegrenzt und selten widerspruchsfrei.52 In sozialen Feldern treten dabei unterschiedliche Praktiken auf, die sich ergänzen, aber auch einander zuwiderlaufen können. Zudem können Grenzen zwischen sozialen Feldern verschwimmen, sodass Praktiken diese transzendieren und in diesem Prozess eine Bedeutungsverschiebung erfahren können bzw. Raum für interpretative Mehrdeutigkeit lassen. Eine letzte Ursache verortet Reckwitz in der Struktur des Subjekts als eines lose gekoppelten Bündels von Wissensformen 53 . Indem sich im Subjekt verschieden Wissensformen und Praxiskomplexe überlagern, stellt es gleichzeitig eine Quelle für kulturelle Innovation dar. Indem die unterschiedlichen Eigenschaften des Subjekts als Antwort auf und als Produkt von sozialen Anforderungen gesehen werden, agiert es gleichermaßen als Vermittler unterschiedlicher Praxisformen, die sich in ihm überlagern. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es sich bei der Praxistheorie um ein heterogenes Feld mit ähnlichen methodischen Ansätzen handelt. Eine zentrale Gemeinsamkeit ist, dass das Soziale in erster Linie als Praxis zu fassen sei, welche wiederum durch routinisierte Praktiken gerahmt sei. Sie postulieren damit einen Paradigmenwechsel, der sich gegen vornehmlich mentalistische Handlungstheorien wendet, die das Handeln entweder unter dem Gesichtspunkt rationaler Entscheidungen, Normen und Werte oder symbolischer Kommunikation zu erklären versuchen. Auch Kultur sei demnach nicht vorrangig als System aus symbolischen Ordnungen zu verstehen, sondern als Komplex aus unterschiedlichen einander überlagernden, miteinander verwobenen oder nebeneinanderstehenden Praktiken; praxeologische Theorien machen damit ein doing culture stark. Konstitutives Element dieser Praktiken ist die Interkorporalität von Subjekten, und die darin einverleibten Strukturen in Form von implizitem Wissen 51 Reckwitz 2008, S. 122. 52 Reckwitz 2008, S. 123. 53 Reckwitz 2008, S. 124.
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mit Bezugnahme auf spezifische Artefakte. Symbolische Strukturen werden hier insofern miteinbezogen, als dass sie als Bestandteile von Praktiken verstanden werden. Sie werden verallgemeinernd unter dem Begriff der kulturellen Codes gefasst, deren Gebrauch im Kontext von Praktiken in den Vordergrund treten. Wesentlich für die Praxistheorie ist die Debatte zwischen Stabilität und Instabilität der Praxis, ob also eine generelle Tendenz bestehe, dass sich Ordnungen und Strukturen in der Praxis in und durch Praktiken reproduzieren oder aber in und durch Subjekte transformiert werden. Für die theoretischen Überlegungen dieser Studie sind folgende drei Fragestellungen wichtig: • • •
Wie lassen sich Ordnungen und Strukturen und deren Stabilität bzw. transformatorische Offenheit in Praktiken analysieren? Wie sind Normen, Werte und Ideale im Kontext der Praxistheorie zu denken? Wie können Sport und populäre Bewegungskulturen und ihre Bezugnahme auf gesellschaftliche Strukturen praxeologisch theoretisiert werden?
Zu diesem Zweck folgt zunächst eine Konkretisierung des Verhältnisses von Praxis und Ordnung im Kontext von Stabilität und Instabilität anhand von idealtypischen Darstellungen der Theorieansätze Pierre Bourdieus auf der einen und denen von Judith Butler auf der anderen Seite. Darauf folgt die Erarbeitung eines praxeologischen Blicks auf Normen, Werte und Ideale und deren Verkörperung in Praxis und Praktiken. Schließlich soll anhand der Arbeiten von Gunther Gebauer, Thomas Alkemeyer und Robert Schmidt gezeigt werden, wie ähnliche Fragestellungen bereits im Kontext des Sports problematisiert worden sind und wie Taekwondo in Anlehnung daran praxistheoretisch konzipiert werden kann. 3.1.2 Praxis und soziale Ordnungen: Zwischen Stabilität und Instabilität Die Verkörperung von Ordnungen und Strukturen, deren Einverleibung und Aufführung,54 und die Frage nach deren Offenheit für Wandlungsprozesse in der Praxis sind für diese Studie besonders wichtig. Auf der einen Seite ist Taekwondo Spirit ein ideologisches, „geistiges“ Konzept, welches im Kontext körperlicher Einverleibungsprozesse genauer theoretisiert werden muss. Auf der anderen Seite ist mit der Frage nach der pädagogischen Wirksamkeit des Taekwondo unweigerlich die Frage der Wandlung und Transformation verbunden, da päda-
54 Vgl. Alkemeyer 2004, S. 47.
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gogische Prozesse in erster Linie Transformationsprozesse sind. Darüber hinaus bedarf auch der kulturelle Transformationsprozess des Taekwondo einer praxeologischen Einordnung. Zu diesem Zweck werden nun zunächst die Ansätze Pierre Bourdieus und Judith Butlers als Idealtypen gegensätzlicher Konzeption sozialer Praxis als tendenziell reproduzierend bei Bourdieu und tendenziell transformierend bei Butler einander gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung basiert wesentlich auf Überlegungen von Andreas Reckwitz,55 die wiederum von Hilmar Schäfer in seiner Monografie Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie56 ausdifferenziert wurde. Während Schäfer zusätzlich Michel Foucault und Bruno Latour in seine vergleichende Analyse einbezieht, wird an dieser Stelle zum Zweck einer schematischen Übersicht eine vereinfachete Gegenüberstellung von Bourdieu und Butler genügen. Eine Vertiefung dieser Problematik folgt dann in den darauffolgenden Teilkapiteln bezüglich des Verhältnisses von Praxis und Norm sowie anhand von Subjektivierung in Sport und populärer Bewegungskulturen. Bourdieu steht hier für eine praxeologische Richtung, die Praxis tendenziell als fortlaufende Reproduktion durch Einverleibung versteht. Damit verbunden ist auch das Konzept des Habitus. Ähnlich wie der Begriff der Praxis, hat auch der Begriff des Habitus eine lange Theoriegeschichte, von Aristoteles57, über Thomas von Aquin, Edmund Husserl, Max Weber, Émile Durkheim und Marcel Mauss. 58 Habitus beschreibt hier eine individuelle oder kollektive Geisteshaltung, während die Rolle des Körpers bei den einzelnen Autoren eine unterschiedliche Prägnanz zugewiesen wird. Bourdieu konzipiert Habitus als inkorporierte Struktur, als Einschreibung von Erfahrungen in die Körper von Subjekten und macht damit die Funktion des Körpers besonders stark. Habitus nimmt in der Praxeologie Bourdieus eine zentrale Rolle ein und ist vermittelnde Instanz zwischen Innen- und Außenwelt, ist individuell angeeignet und kollektiv geteilt, wirkt als Orientierung in der sozialen Welt und als das Handeln bestimmender sozialer Sinn.59 All dies geschieht im Modus des Körperlichen. Im Konzept des Habitus nimmt also der Körper eine wesentliche Funktion im Prozess der Sozialisation ein. Bourdieu selbst skizziert die Funktionsweise seines Habituskonzepts, indem er schreibt:
55 Vgl. Reckwitz 2004. 56 Schäfer 2013. 57 Anm.: Habitus ist die latinisierte Form des gr. Hexis (vgl. Gebauer 2017, S. 27). 58 Schäfer 2013, S. 73. 59 Schäfer 2013, S. 74.
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„Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefaßt [sic!] werden können, erzeugen Habitusformen, d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein.“ 60
Bourdieu konstatiert hier zum einen, dass mit dem Habitus eine Regelung des Verhaltens einhergeht, die nicht mit expliziten Regeln konform geht, sondern implizit verinnerlichten Gesetzmäßigkeiten folgt. Schäfer verdeutlicht dies als Fähigkeit von Akteuren „auf unterschiedliche Situationen in sinnhafter Weise zu reagieren, ohne das einzelne Handlungsschritte im Vorhinein festgelegt wären.“ 61 Zum anderen stellt Bourdieu fest, dass Habitusformen Dispositionen erzeugen, die dauerhaft, also schwer veränderbar sind. Die explizit am Körper beobachtbare Manifestation des Habitus bezeichnet Bourdieu als Hexis. Diese ist, so Bourdieu, „die realisierte, einverleibte, zur dauerhaften Disposition, zur stabilen Art und Weise der Körperhaltung, des Redens, Gehens und damit des Fühlens und Denkens gewordene politische Mythologie.“ 62 Mit der körperlichen Einschreibung erklärt Bourdieu also auch die tendenzielle Unveränderbarkeit des Habitus. Hystersis beschreibt in diesem Zusammenhang die Trägheit von Körpern, sich nicht ohne weiteres neuen Gegebenheiten anzupassen. Dies müsse erst unter Kraft- und Zeitaufwand neu erlernt werden, weshalb Körper dazu neigen, einmal verfestigte Hexis nur schwer zu verändern. Anderes als Bourdieu, erklärt Judith Butler die Unberechenbarkeit und tendenzielle Transformation der Praxis als deren wesentliches Merkmal. 63 Soziale Normen würden dies lediglich verschleiern. 64 Die Sprechakttheorie John L. Austins modifizierend, versteht Butler soziale Wirklichkeit als etwas, das permanent in performativen Akten hervorgebracht wird. 65 Performativität als zentrales Konzept Butlers wird im Kapitel zu Theater- und Performancetheorie thematisiert und wird deshalb an dieser Stelle nicht weiter erläutert. Butlers Argumentation nimmt Bezug auf Jaques Derridas Konzept der Iterabilität oder Wie60 Bourdieu 1976, S. 164ff. 61 Schäfer 2013, S. 76. 62 Bourdieu 1980, S. 129. 63 Vgl. Butler 1991. 64 Reckwitz 2004, S. 47. 65 Klein/Göbel 2017, S. 11.
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derholbarkeit.66 Kern dessen ist der Zusammenhang bzw. vielmehr der nichtZusammenhang von Intention und der Hervorbringung von Bedeutung. Durch Zitation und damit der Herauslösung aus dem ursprünglichen Kontext geschehen zwangsläufig Bedeutungsverschiebungen, die zum einen Instabilität als grundlegendes Merkmal der Praxis hervorbringen und gleichzeitig in aktiver Form subversiv nutzbar gemacht werden können. Im Vergleich dieser beiden schematisch positionierten Positionen stellt Reckwitz fest, dass diese nicht zuletzt aufgrund ihrer gewählten Untersuchungskontexte zu ihren jeweiligen Positionen kommen. Trotz eines universalen Anspruchs entwerfen beide ihre Annahmen über allgemeine Funktionsweisen aus „sehr spezifischen, aus partikularen, lokal-temporal situierten sozialen Praktiken“67. Während Bourdieu sein Konzept der Praxis anhand von Beispielen traditionalistischer Gesellschaftsformen entwirft, so tut Butler dies anhand von Praxisformen, die in der Tradition der ästhetischen Avantgarde stehen und in denen transgressive Praktiken vermehrt zum Einsatz kommen. 68 Reckwitz stellt daher die Forderung, weder eine Routiniertheit,69 noch eine Unberechenbarkeit bzw., im Sinne Schäfers, eine Stabilität oder Instabilität der Praxis zu postulieren, sondern stattdessen zu rekonstruieren, „wie [sich] historisch-lokal spezifische Komplexe von Praktiken durch sehr spezifische Mittel […] auf ein hohes Maß an Routinisiertheit [sic!] oder auf ein hohes Maß an Unberechenbarkeit festlegen.“70 Ansätze, die genau dies anhand des organisierten Sports theoretisch und empirisch zu klären versuchen, werden im Folgenden thematisiert. Dem geht jedoch zunächst eine Konkretisierung des Verhältnisses von Praxis und Praktiken sowie der Verkörperung von Normen, Werten und Idealen in diesen voraus. 3.1.3 Normen, Werte und Ideale im Kontext praxistheoretischer Ansätze „Eine trotz z. T. beträchtlicher Divergenzen grundlegende Gemeinsamkeit praxeologischer Vokabulare besteht darin, dass sie zur Bearbeitung dieser sozialwissenschaftlichen Grundfrage nicht Bewusstseinsformen, Ideen, Werte, Normen, Kommunikation oder Zeichen und Symbolsysteme, sondern soziale Praktiken in ihrer prozessualen Vollzugs-
66 Schäfer 2013, S. 213ff. 67 Reckwitz 2004, S. 49. 68 Ebd. 69 Anm.: Reckwitz verwendet den Begriff „Routinisiertheit“ (vgl. Reckwitz 2008, S. 120). 70 Reckwitz 2004, S. 52.
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wirklichkeit, Situiertheit und Situativität, ihrer materiellen Verankerung in Artefakten und Körpern und in ihrer Abhängigkeit einem gemeinsam geteilten praktischen Können und impliziten kulturellen Wissen in den Mittelpunkt stellen.“ 71
In dieser Charakterisierung praxistheoretischer Zugänge zu sozialen Ordnungsbildungen bringt Robert Schmidt auf den Punkt, dass Normen, Werte und Ideale im Feld der Praxistheorie offensichtlich keine fundamentale Rolle spielen. Vielmehr werden diese Konzepte den mentalistischen oder textualistischen Erklärungsansätzen der soziologischen Theorien zugeordnet, von denen sich Praxistheoretiker*innen gerade abzugrenzen versuchen. Jedoch stellt Reckwitz in seinen Grundlagen der Praxistheorie bereits fest, dass eine gewisse Normativität sehr wohl auch im Kontext praxeologischer Theoriebildung berücksichtigt werden sollte. So schreibt er: „Nur innerhalb des weit über Normen hinausgehenden praktischen Wissens können auch implizite normative Kriterien bezüglich eines sozial angemessen erscheinenden Praktizierens wirksam werden. Diese impliziten normativen Kriterien des Angemessenen innerhalb eines Komplexes von Praktiken sind zu unterscheiden von etwaig vorhandenen expliziten, auch formalisierten Katalogen von Normen, die das gesamte Feld des Impliziten nicht zu repräsentieren vermögen und möglicherweise sogar im Widerspruch zu diesem stehen.“ 72
An anderer Stelle schreibt er: „Sie [die Praxistheorie] hebt hervor, dass die expliziten Regeln, die in einem Handlungsfeld als relevant angegeben werden, diesen impliziten Kriterien in keiner Weise entsprechen müssen.“73
Hiermit betont er zwei Funktionsweisen, die für die vorliegende Studie besondere Relevanz besitzen. Zum einen, dass Praxistheorien sehr wohl mit der Konzeption sozialer Normen bzw. Normativität arbeiten können, diese jedoch als implizit verkörpert verstehen. Ihre Relevanz sei demnach nicht in einer versprachlichten Form zu finden ist, sondern in subtiler Form in sozialen Praktiken. Ein weiterer Punkt ist, dass diese implizite Normativität von Praktiken explizit formulierten Normen und Werten durchaus zuwiderlaufen kann. Ein besonders plakatives Beispiel kann hier die Staats- und Regierungsform der Demokratischen Volksrepublik Korea darstellen. Zwar beschreibt die selbstgewählte Bezeichnung des 71 Schmidt 2017, S. 337. 72 Reckwitz 2008, S. 119. 73 Reckwitz 2008. S. 117.
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Staates eine demokratische Regierungsform, die Praktiken des Regierens und der politischen Teilhabe deuten aber ganz im Gegenteil auf ein autoritäres Herrschaftssystem hin. Hilmar Schäfer konkretisiert diesen Zusammenhang von Praxis und Norm, indem er schreibt, dass die praxeologische Perspektive den Normbegriff als nachgeordnete Kategorie versteht, dass Normen also nur ausgehend von Praktiken retrospektiv festgemacht werden können. Während also im mentalistischen Konzept des homo sociologicus Handlung im Vorhinein durch Normen vorgegeben wird, so sind Normen aus praxeologischer Perspektive höchstens im Nachhinein ausgehend von Praktiken zu verstehen.74 Dieses Konzept des praxeologischen Normverständnisses erläutert er anhand von Ludwig Wittgensteins Regelbegriff.75 Wittgenstein versteht unter dem Begriff „Regelfolgen“ die Regelmäßigkeit von Handlungen. Regelmäßigkeit schließe dabei drei Kriterien ein: Gleichheit (im Sinne von Ähnlichkeit, die Gemeinsamkeiten und graduelle Differenzen beinhaltet), Selbstverständlichkeit (die Regeln sind im Alltag selbstverständlich und müssen nicht expliziert werden) und Lernbarkeit (kann explizite Pädagogik oder implizites Nachahmen umfassen). Der letzte Aspekt, die Lernbarkeit, beinhalte dabei sowohl, dass Fehler passieren können, als auch, dass es zu Korrekturen durch andere kommen könne. Wittgensteins Konzept der Regelfolgen bedeutet für eine praxeologische Normtheorie, dass Normen nicht unabhängig von der Praxis zu denken sind und durch diese überhaupt erst bestimmt werden. Dass also der Eindruck, dass Handeln durch Normen geleitet sei, lediglich eine Illusion darstelle, die „auf der Selbstverständlichkeit der Regel im Handlungsablauf beruht und erst im Rückblick entsteht“ 76. Unter Rekurs auf Bourdieu und Butler lassen sich wiederum zwei lose miteinander in Verbindung stehende Zusammenhänge von Praxis, Praktiken und Normen festmachen. So verzichtet Bourdieu gänzlich auf den Normbegriff, sondern spricht stattdessen von sozialen Ordnungen, die in der Praxis anhand des praktischen Sinns der Akteur*innen hervorgebracht werden. Anders als Bourdieu verwendet Butler den Normbegriff, wenn auch bei ihr die Norm nicht etwas der Praxis Vorgelagertes ist, sondern sich stattdessen erst aus dieser ergebe. 77 Laut Butler, so Schäfer, bestünden Normen überhaupt erst in der Praxis, in der sie situativ immer wieder aufs Neue performativ hervorgebracht werden müssen. In beiden Fällen, sowohl bei Bourdieu als auch bei Butler, sind Normen damit etwas, das der Praxis bestenfalls nachgelagert ist. Im praxeologischen Verständnis sind Normen, Werte und Ideale also keine Grundlagen, sondern bestenfalls 74 Schmidt 2013, S. 32. 75 Schmidt 2013, S. 28ff. 76 Schmidt 2013, S. 30. 77 Vgl. Schäfer 2013, S. 365ff.
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strukturelle Beschreibungen von (Selbst-)Beobachter*innen, die im Nachhinein auf Basis einer reflexiven Betrachtung der Praxis artikuliert werden können. Während Normen, Werte und Ideale in und anhand von konkreten Praktiken und kulturellen Codes analysierbar sind, sind diese nicht fixiert, sondern, mit Verweis auf Butler, in der Praxis stets potenziell wandelbar. 78 Praktiken auf der einen Seite sind also durch eine gewisse Routine und Regelhaftigkeit geprägt, die mit ihrem praktischen Wissen und impliziten Normen strukturhaft und reproduzierbar sind. Die Praxis hingegen ist durch ihre Manifestation in Praktiken zwar von einer prinzipiellen Gleichförmigkeit, ebenso aber auch von einer situativen Unschärfe gekennzeichnet, die sich als performativer Raum für Misslingen, Subversion und Transgression zeigt. Das Spiel von Stabilität und Instabilität, von Reproduktion und Innovation, von Normalisierung und Selbstbildung ist in den letzten Jahren bereits eindrücklich am Beispiel des organisierten Sports und (populärer) Bewegungskulturen gezeigt worden. Im nächsten Schritt werden nun diese theoretischen und methodischen Perspektiven genauer aufgezeigt werden. 3.1.4 Sport und populäre Bewegungskulturen im gesellschaftlichen Kontext: Eine praxeologische Perspektive Laut Thomas Alkemeyer birgt der Sport im Hinblick auf die praxeologische Analyse des Sozialen ein besonderes Potential. So schreibt er: „Es [das sportliche Geschehen] kann geradezu als ein soziologisches Laboratorium betrachtet werden, in dem wie durch ein Brennglas hindurch Prozesse untersucht werden können, deren Tragweite weit über den Rahmen des Sports hinausweist. Die sportliche Praxis eignet sich in hervorragender Weise als Modell zur Beobachtung und Beschreibung der wechselseitigen Konstitution von verkörperten Strukturen und verkörpertem Handeln.“79
Grundlage für dieses Verständnis ist eine Charakterisierung des Sports als Medium der Aufführung gesellschaftlicher Strukturen und Ideale 80 oder als Mimesis
78 Vgl. Reckwitz 2015. Anm.: Reckwitz analysiert hier anhand der Praktiken des Subjekts der bürgerlichen- und der avantgardistischen Moderne unterschiedliche Werte und Ideale, die sich in und an konkreten Praktiken und den damit verbundenen kulturellen Codes beobachten lassen. 79 Alkemeyer 2006, S. 287. 80 Vgl. Alkemeyer 1996.
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der Gesellschaft, eine Argumentation, die von Gunter Gebauer in den sporttheoretischen Diskurs eingeführt wurde81 und später von Robert Schmidt und ebenfalls von Thomas Alkemeyer 82 aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Der Mimesis-Begriff verweist hier auf eine Nachahmung im aristotelischen Sinne und beschreibt also die Reproduktion gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten im Medium des Sports. Wie Schmidt zusammenfassend darstellt, finden sportliche Praxen ihr „Material“ in den Körpertechniken der sozialen Praxis und unterziehen diese gewissen Modellierungen, die wiederum gesellschaftliche Rückwirkungen ausüben.83 Grundlage dieser Argumentation bildet Marcel Mauss’ Konzept der Techniken des Körpers, die wiederum kulturell bedingte Weisen des Gehens, Techniken der Körperpflege, des Essens etc. umfassen.84 Im Sport werden diese verallgemeinerten Körpertechniken aufgegriffen und verarbeitet. Die Eigenweltlichkeit und relative Zweckfreiheit des Sports85 ermögliche nun, „dass er [der Sport] sich anderen Praxen ähnlich machen und ausliefern kann, ohne ihnen gegenüber seine Distanz aufzugeben. Diese Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeit und Eigenweltlichkeit des Sports bildet den Kern seiner mimetischen Qualitäten.“86 Am Beispiel des Basketballs zeigt Schmidt auf, wie im Sport umfassende Formalisierung und Kodifizierung alltagsweltlicher Praktiken stattfinden und aufgeführt werden. So schreibt er: „Basketball ist ein Mannschaftssport, der die Zusammenarbeit der einzelnen Spieler, denen je spezifische Funktionen zugewiesen sind, notwendig macht, um sowohl den Spielaufbau der gegnerischen Mannschaft zu zerstören, als auch die eigenen Kombinationen von Spielzügen zum erfolgreichen Abschluss, zum Korbwurf, zu führen. Auf diese Weise bezieht sich Basketball mimetisch auf solche gesellschaftlichen Praxen, die durch die interne Kooperation von miteinander konkurrierenden Kleingruppen gekennzeichnet sind.“87
81 Gebauer 1995, 1998; vgl. Gebauer/Wulf 1998. 82 Vgl. Schmidt 2002; Alkemeyer 2004. 83 Schmidt 2002, S. 71. 84 Mauss 2011. 85 Robert Schmidt verweist hier auf Johann Huizinga, der in seinen Arbeiten zum Homo Ludens das Freiwillige, Lustvolle und Selbstzweckhafte „sportlich-spielerischer Handlungen“ betont (Schmidt 2002, S.72). 86 Schmidt 2002, S. 73. 87 Schmidt 2002, S. 74.
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Darüber hinaus verweist er auf bestimmte kulturelle Milieus, die wiederum eigene distinktive Spielweisen im Basketball hervorgebracht haben. 88 Was Schmidt hier am Beispiel des Basketballs ausführt, lässt sich auch anhand anderer Sportarten aufzeigen, wie beispielsweise dem Speerwerfen, das wiederum kriegerischen oder der Jagd ähnlichen Praktiken entlehnt ist. Während konventionelle Sportarten in Form von Leistungs- und Vereinssport gesellschaftlich etablierten Habitus zur Aufführung bringen, so stehen neuere Sportformen mit neueren gesellschaftlichen Transformationen in Verbindung, indem sie diese zur Aufführung bringen bzw. diese überhaupt erst begünstigen.89 Während Schmidt den Aufführungscharakter hervorhebt, unterstreicht Alkemeyer in früheren Publikationen die habitusformende Kraft des Sports. Am Sport lassen sich, so Alkemeyer, besonders gut Prozesse der „sozialen Formung, Regelung Schematisierung und Konstruktion, die das Subjekt mit Raum-Zeit-Strukturen, Organisationsformen, Geräten, Regeln und Bewertungsmaßstäben an sich selbst vornimmt, wie durch ein Brennglas beobachten.“90 Unter diesem Aspekt und mit Verweis auf Gebauers Konzept des Sports als mimetischer Praxis weist Alkemeyer dem Sport eine doppeltes Wesen zu: zum einen als Strukturübung, in der es um die Einübung gesellschaftlich akzeptierter habitueller Qualitäten geht und zum anderen als Darstellung bzw. Aufführung „gesellschaftlicher Semantiken“, Werte und Ideale.91 Sport verkörpere, so Alkemeyer, „in einer besonders reinen, transparenten Weise gesellschaftliche Bewegungs- und Handlungsmuster, Prioritäten und Leitbilder“ 92 . Diese müssen jedoch keineswegs homogen sein. So zeigen Gebauer, Alkemeyer, Schmidt und weitere in der Studie Treue zu Stil. Die Aufgeführte Gesellschaft93 anhand der Sportarten Handball, Triathlon und Inline-Hockey, wie diese ganz unterschiedliche Existenzweisen des Sozialen darstellen, gleichsam in Körper einschreiben und über Gesten, Symbole und Rituale eigene Communities etablieren. Die bisher beschriebenen Ansätze verknüpfen das gesellschaftliche Phänomen Sport in besonderem Maße mit Bourdieus Konzept des Habitus und gehen dementsprechend von einer durch die Praxis des Sports angeeigneten Hexis aus, die wiederum im Sinne Bourdieus eher träge auf Veränderungen reagiert. Insbesondere der konventionelle Sport, der sich ab dem 19. Jahrhundert in Vereinsstrukturen in Deutschland ausgebildet habe, trage demnach maßgeblich zur 88 Schmidt 2002, S. 74. 89 Vgl. Schmidt 2002, S. 111ff.; Alkemeyer/Schmidt 2003. 90 Alkemeyer 2004, S. 58ff. 91 Alkemeyer 2004, S. 60. 92 Ebd. 93 Gebauer et al. 2004.
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Einübung wie auch zur Aufführung gesellschaftlicher Normen, Werte und Ideale bei. Bei allen genannten Autoren wird allerdings auch ein Veränderungspotential des Sports klar herausgestellt. Dieses wird zum einen mit dem Einfluss anderer (populär-)kultureller Praktiken 94 und zum anderen mit der Verlagerung gesellschaftlicher Existenzweisen95 begründet. Sie verweisen damit auf das von Reckwitz genannte Konzept kultureller Hybridität,96 also die Verflechtung verschiedener zeitlich und örtlich getrennter Praktiken. Vor allem in seinen neueren Arbeiten weist Thomas Alkemeyer darüber hinaus auf das transformative Potential hin, das Körper selbst und in der KoAktivität mit anderen Körpern in praxisgerahmten Subjektivierungsprozessen97 auf Sport und Praxis im Allgemeinen ausüben und plädiert somit für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung des praxistheoretischen Diskurses. 98 Damit lenkt er den Fokus von Praktiken als strukturgebenden Einheiten und verlagert ihn stattdessen auf die Praxis, die performativ von den beteiligten Akteur*innen im situativen Vollzug hervorgebracht wird. 99 Damit ist ein Perspektivwechsel verbunden, der das Subjekt mit seiner kritischen Rationalität, reflexiven Kompetenzen aber auch seinen situationsgebundenen Affekten in den Mittelpunkt rückt. Er stellt daher fest: „Statt eines routinierten Ablaufs treten so die von Konflikten, Brüchen, Machtrelationen, Bewertungen und Ausschließungen gekennzeichneten Prozesse der Abstimmung in den Blick. Die Teilnehmer etablieren in ihrem Tun ein normatives Geflecht hinweisender wie zurechtweisender Adressierungen und Re-Adressierungen. In diesem Geflecht lernt der Einzelne nach und nach, sich an verschiedene Erwartungen und Anforderungen einer Praktik zu orientieren, sich zu positionieren und die Ordnung des Spiels zu halten. Weil auf diese Weise aber kein unumstrittener und endgültiger, sondern ein immer nur vorläufiger Orientierungs- und Deutungsrahmen für das Handeln erzeugt wird, kann in diesem Prozess auch die Ordnung des Spiels einen Wandel durchlaufen, zur Disposition gestellt oder gänzlich verworfen werden.“ 100
Um diese Verflechtung von Praktiken und Praxis theoretisch und methodologisch fassen zu können, schlägt Alkemeyer gemeinsam mit Buschmann und 94 Vgl. Schmidt 2002; Alkemeyer 2006, S. 268. 95 Vgl. Schmidt 2002; Alkemeyer 2004. 96 Vgl. Reckwitz 2005. 97 Alkemeyer 2013; Saar 2013; vgl. Althusser 2010; Butler 1991; Foucault 2001. 98 Alkemeyer et al. 2015, S. 30. 99 Alkemeyer et al. 2015, S. 29. 100 Alkemeyer et al. 2015, S. 32ff.
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Michaeler eine Multiperspektivität vor, die Praktiken und Praxis separat voneinander in den Blick nimmt und ebenso zueinander in Relation stellt. Sie schlagen dazu das Einnehmen einer „Theaterperspektive“, die im Blickfeld einer „Kameraeinstellung der Totalen“ eine Draufsicht auf Praktiken liefern soll, vor. Diese Perspektive gewährt damit einen „Überblick“ auf Praktiken, die so in ihrer Strukturiertheit und Regelmäßigkeit sichtbar werden. 101 Demgegenüber stellen sie eine „Teilnehmerperspektive“, in der wiederum die Praxis als performatives Geschehen in den Mittelpunkt rückt. Sie erscheint damit als „unsicheres Geschehen, dessen Kontingenz von den Teilnehmern bewältigt werden muss“. 102 Weder die eine Perspektive, noch die andere dürfen dabei als alleinstehend betrachtet werden, da allein der Blick auf Praktiken die Möglichkeit von Veränderung nicht adäquat beschreiben könne, während eine alleinige Perspektive auf die Praxis die Idee eines autonomen Subjekts zu stark mache.103 In einer späteren Arbeit differenziert Alkemeyer diese beiden Perspektiven unter den Bezeichnungen „total view“ der Praktiken-Perspektive und „point-of-view-shots“ der PraxisPerspektive genauer. 104 Mittels dieses methodischen Perspektivwechsels, der immer wieder vollzogen werden muss, werden „die Strukturiertheit und die Kontingenz, die Stabilität und Instabilität […] der Ordnungsbildung beobachtbar und es lässt sich erschließen, wie die transsituativen Rahmen beziehungsweise Strukturen sozial etablierter Praktiken im lokalen Spiel heterogener Teilnehmer konkret hervorgebracht, gestaltet oder auch durchkreuzt [werden].“ 105 Für die „Teilnehmerperspektive“ könne außerdem, so Alkemeyer, das Einbeziehen leibesphänomenologischer Analysekategorien hilfreich sein, die affektive Kräfte wie „Lust und Unlust, Schmerz und Müdigkeit, Lachen und Weinen, Angst, Scham und Ekel, Leid, Empörung und Wut“106 mit in die Betrachtung aufnehmen würden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Blick auf den organisierten Sport und populäre Bewegungskulturen eine Bereicherung für die soziologische Praxistheorie sein kann, da er einen fokussierten Blick sowohl auf die Prozesse der (Re-)Präsentation und (Re-)Produktion sozialer Ordnungen als auch auf solche der Transformation zeigen kann. Durch seine zweiseitige Ontologie als Strukturübung und Aufführung gesellschaftlicher Semantiken sind eben diese am Beispiel des Sports besonders gut beobachtbar. Sport und Bewegungskulturen kön101 Alkemeyer et al. 2015, S. 30. 102 Alkemeyer et al. 2015, S. 30. 103 Alkemeyer 2017, S. 147. 104 Alkemeyer 2017, S. 145ff. 105 Alkemeyer 2017, S. 149. 106 Alkemeyer 2017, S. 155.
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nen in dieser Hinsicht als Meta-Kommentare sozialkultureller Milieus gelesen werden. Gleichermaßen lassen sich am Sport sowohl Prozesse gemeinschaftlicher Strukturbildung und gesellschaftlichen Wandels im Kontext von Stabilität und Instabilität sozialer Praxis analysieren. 3.1.5 Taekwondo als Praxis: Eine Zwischenbilanz Nach der detaillierten Rezeption praxeologischer Theorieliteratur wird noch stärker deutlich, dass die Propagierung eines Taekwondo Spirit, der Taekwondo als Essenz zugrunde liege, wenig haltbar ist. Statt Taekwondo als Repräsentation eines Taekwondo Spirit zu betrachten, scheint basierend auf praxeologischer Argumentation eher die Konzeption plausibel, dass dieser in der Praxis des Taekwondo immer wieder situativ neu hervorgebracht wird. Diese Hervorbringung geschieht innerhalb bestimmter Rahmungen – für Taekwondo spezifische Praktiken und Bündel aus miteinander verbundenen Praktiken, sogenannten Praktiken-Ensembles. Hier muss bereits die erste Differenzierung ansetzen. Von der Taekwondo-Praxis kann unter dieser Prämisse kaum gesprochen werden. So setzt sich Taekwondo selbst aus unterschiedlichen Praxen zusammen, wie etwa Trainingspraxis, Wettkampfpraxis sowie Demonstrations- oder Aufführungspraxis.107 Diese unterscheiden sich nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Praktiken, von denen sie gerahmt werden. Auf Ebene der Praktiken unterliegt die Praxis des Taekwondo einer gewissen Stabilität. Praktiken als routinierte ways of doing geben eine wiederkehrende Rahmung und Regelmäßigkeit vor, die in der Praxis fortlaufend einverleibt wird. Instabilität ergibt sich stärker auf Ebene der Praxis und hier in erster Linie in den einbezogenen Subjekten oder Akteur*innen. Wie Reckwitz schreibt, sind in Subjekten unterschiedliche Arten von Praktiken und Wissensformen übereinander gelagert, die, mit Bezug auf Judith Butler, auch diskursives Wissen über Körper miteinschließen. Mit Verweis auf Alkemeyer wirken demnach auch affektive Regungen des Leibes konstitutiv auf die Praxis und spielen eine wichtige Rolle im Hinblick auf ihre Instabilität. Im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Praktiken, Wissensformen, und leiblichen Regungen ist somit ein Wandel von Praktiken theoretisch mitgedacht. Während Praxis sich situativ immer wieder neu entfaltet, sind also auch Praktiken nicht als ahistorisch und a-lokal zu betrachten. Rückblickend auf die Geschichte des Taekwondo ist die Wandlung von Praxis als Wandel von Praktiken gut zu beobachten – sei es durch die Überlagerung von Praktiken in Subjekten (unterschiedliche bewegungskulturelle Einflüsse), die Einführung neuer Technologien (Kampfweste) oder die intendierte Gestaltung von Praktiken, die als Ge107 Vgl. Minarik 2014.
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staltungs-Praxis wiederum durch ineinandergreifende und einander überlagerte Praktiken gerahmt ist. Normen, Werte und Ideale des Taekwondo als Taekwondo Spirit können praxeologischer Argumentationsweise nach nur aus der Praxis heraus verstanden werden. Mit Verweis auf Reckwitz kann der Taekwondo Spirit der Praxis einem institutionalisierten Taekwondo Spirit dabei sogar zuwiderlaufen. Da die Praxis des Taekwondo nicht als ahistorisch und a-lokal zu betrachten ist, trifft dies also auch für den Taekwondo Spirit zu. Auch dieser müsste demnach einem historischen Wandlungsprozess unterliegen und sich an unterschiedlichen Orten auf unterschiedliche Weise entfalten. Dies kann, auf Butler und Derrida verweisend, mit dem Konzept der Iterabilität gefasst werden. Werden für Taekwondo typische Praktiken aus bestimmten kulturellen und sozialen Kontexten herausgelöst und wiederum in anderen rezipiert, so ist eine Verschiebung der Bedeutung, hier bezogen auf den Taekwondo Spirit, kaum zu vermeiden. Taekwondo-Praxis ist daher mit Verweis auf Butler und Alkemeyer als performatives Phänomen zu analysieren, in dessen Aus- und Aufführung auch der Taekwondo Spirit immer wieder aufs Neue hergestellt, verhandelt und beglaubigt werden muss und gleichsam einem performativen Wandel unterliegt. Als populäre Bewegungskultur kann Taekwondo-Praxis als Mimesis der Gesellschaft verstanden werden. In für Taekwondo spezifischen Praktiken werden, bezugnehmende auf Gebauer et al., alltagsweltliche Praktiken kodifiziert, stilisiert und erlernbar gemacht.108 In diesem Sinne ist die Taekwondo-Praxis sowohl als Strukturübung und Darstellung, bzw. Aufführung gesellschaftlicher Codes zu verstehen, also als Praxis der Subjektivierung von Individuen im Kontext gesellschaftlicher Logiken. Insbesondere in den sport-praxeologischen Argumentationen Gebauers, Schmidts und Alkemeyers ist ein wiederholter Gebrauch von Begriffen und Konzepten aus der Theaterwissenschaft und Performancetheorie auffällig, darunter das Konzept der Mimese und der Aufführung. Sie implizieren damit, dass es sich beim Sport um Praxen handelt, die in ihrer Eigenheit, aufgrund ihrer relativen Abgeschlossenheit sowie besonderen Stilisierung und Kodifizierung, als eine in besonderem Maße hervorgehobene Sphäre zu betrachten seien. Diese besondere Stilisierung und Kodifizierung sind in unterschiedlichen sportlichen Praxen unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Praxis des Taekwondo ist in dieser Hinsicht als eine in besonderem Maße stilisierte Praxis einzuordnen.109 Um diese Qualitäten des Taekwondo und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Implikationen theoretisch fassen zu können, folgt nun eine wei-
108 Vgl. Minarik 2016; 2017a; 2017b. 109 Vgl. Minarik 2014.
Theoretische Grundlagen | 87
tere Spezifizierung der Taekwondo-Praxis anhand von Konzepten aus der Theater- und Performancetheorie.
3.2
CULTURAL PERFORMANCE: ZWISCHEN PERFORMATIVITÄT, THEATRALITÄT UND RITUALITÄT
Als Cultural Performance110 werden im weitesten Sinne alle Arten von kulturellen Aufführungen verstanden, von Hochzeits-, Übergangs- und Beerdigungsritualen, über unterschiedliche Arten von Festen und Sportveranstaltungen, bis hin zu elaborierten Bühnenkünsten.111 In Cultural Performances werde, so Gabriele Klein und Hanna K. Göbel, „das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft, Ethnie, Klasse oder Nation dar- und ausgestellt und dieses in der Durchführung der Performance für die Anwesenden körperlich erfahrbar, aktualisiert und beglaubigt – und damit konventionalisiert“112. Cultural Performances üben demnach für die Herausbildung und Formung von Identitäten, sowohl von sozialen Gruppen als auch von Individuen, eine maßgebliche Funktion aus. Die Geschichte habe gezeigt, so konnte Joachim Fiebach bereits umfassend aufzeigen, dass Cultural Performances als Formen theatraler Praxen immer wieder in die Ausübung und Legitimation von Herrschaftsverhältnissen eingebunden waren.113 Matthias Warstat nennt dies mit Verweis auf Michel Foucault „situative Konstellationen eines Wahrnehmungsdispositivs, das Machausübung gewährleistet.“114 In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der invented tradition von Eric Hobsbawn und Terence Ranger interessant.115 Sie verweisen damit auf Traditionen, die hinsichtlich der kollektiven Identitätsstiftung und Legitimierung hierarchischer Institutionen intentional gestaltet wurden. Cultural Performances können als Verhandlungs- und Verkörperungsformen solcher invented traditions gesehen werden. Es stellt sich also, wie schon bei Joachim Fiebach und Antje Budde, die Frage:
110 Anm.: Der Begriff Cultural Performance wurde durch den Indologen Milton Singer (1912-1994) geprägt. Er wird erstmalig 1959 im Vorwort eines von ihm herausgegebenen Sammelbandes eingeführt und ist seitdem eine weit verwendete Bezeichnung für Performances abseits der institutionalisierten Kunst. 111 Vgl. Turner 1988, S. 81. 112 Klein/Göbel 2017, S. 13. 113 Vgl. Fiebach 2007. 114 Warstat 2012, S. 71. 115 Vgl. Hobsbawm/Ranger 2000.
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tere Spezifizierung der Taekwondo-Praxis anhand von Konzepten aus der Theater- und Performancetheorie.
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CULTURAL PERFORMANCE: ZWISCHEN PERFORMATIVITÄT, THEATRALITÄT UND RITUALITÄT
Als Cultural Performance110 werden im weitesten Sinne alle Arten von kulturellen Aufführungen verstanden, von Hochzeits-, Übergangs- und Beerdigungsritualen, über unterschiedliche Arten von Festen und Sportveranstaltungen, bis hin zu elaborierten Bühnenkünsten.111 In Cultural Performances werde, so Gabriele Klein und Hanna K. Göbel, „das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft, Ethnie, Klasse oder Nation dar- und ausgestellt und dieses in der Durchführung der Performance für die Anwesenden körperlich erfahrbar, aktualisiert und beglaubigt – und damit konventionalisiert“112. Cultural Performances üben demnach für die Herausbildung und Formung von Identitäten, sowohl von sozialen Gruppen als auch von Individuen, eine maßgebliche Funktion aus. Die Geschichte habe gezeigt, so konnte Joachim Fiebach bereits umfassend aufzeigen, dass Cultural Performances als Formen theatraler Praxen immer wieder in die Ausübung und Legitimation von Herrschaftsverhältnissen eingebunden waren.113 Matthias Warstat nennt dies mit Verweis auf Michel Foucault „situative Konstellationen eines Wahrnehmungsdispositivs, das Machausübung gewährleistet.“114 In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der invented tradition von Eric Hobsbawn und Terence Ranger interessant.115 Sie verweisen damit auf Traditionen, die hinsichtlich der kollektiven Identitätsstiftung und Legitimierung hierarchischer Institutionen intentional gestaltet wurden. Cultural Performances können als Verhandlungs- und Verkörperungsformen solcher invented traditions gesehen werden. Es stellt sich also, wie schon bei Joachim Fiebach und Antje Budde, die Frage:
110 Anm.: Der Begriff Cultural Performance wurde durch den Indologen Milton Singer (1912-1994) geprägt. Er wird erstmalig 1959 im Vorwort eines von ihm herausgegebenen Sammelbandes eingeführt und ist seitdem eine weit verwendete Bezeichnung für Performances abseits der institutionalisierten Kunst. 111 Vgl. Turner 1988, S. 81. 112 Klein/Göbel 2017, S. 13. 113 Vgl. Fiebach 2007. 114 Warstat 2012, S. 71. 115 Vgl. Hobsbawm/Ranger 2000.
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„Wie und warum realisieren und vermitteln sich die Machteroberung und besonders die Machtbehauptung, repressive und ausbeuterische Herrschaft von Individuen, sozialen Klassen, Schichten und Gruppen in erheblichem Maße als Performance? Wie und warum gestalten sich Versuche der Unterwanderung solcher Verhältnisse, des Wiederstandes und alternativer Entwürfe gegen bestehende Herrschaft als Suche nach individueller wie sozialer Emanzipation oft als betont performativ-darstellerische (theatrale) Tätigkeiten?“116
Ebenso oft wie die herrschafts-, macht-, und strukturstabilisierende Rolle von Cultural Performances wird also auch ihre aktualisierende, transformatorische und subversive Seite hervorgehoben. Bezogen auf das westliche Kunsttheater waren es die Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, die mithilfe einer radikalen Veränderung theatraler Ausdrucksformen, gleichermaßen eine radikale Veränderung, oder gar Reinigung117 gesellschaftlicher Verhältnisse zu erzielen versuchten. Brechts episches Theater wie auch jenes von Erwin Piscator oder Performances des Agitprops sind als Versuche zu verstehen, über das Medium Theater politische Veränderung in den Zuschauenden und somit in der Gesellschaft hervorzurufen.118 In den 1960er und 1970er Jahren wurden Theater und Performance von Gruppen wie The Living Theatre wiederum als Rahmen verwendet, um gesellschaftliche Utopien zu erproben und auf diese Weise gesellschaftliche Veränderung zu erzielen. Auch im Rahmen von aktuellen Jugendund Subkulturen stellen Performances Praxen dar, in denen durch individuelle und kollektive Subjektivierungsprozesse gesellschaftliche Aktualisierung vollzogen wird.119 Transformatives Potential kann jedoch nicht nur alternativen oder dezidiert subversiv konzipierten Aufführungspraxen zugerechnet werden, sondern auch solchen, die als Elemente traditioneller Kultur vorindustrialisierter Gesellschaften betrachtet werden.120 Es zeigt sich, dass Cultural Performances als Aufführungspraxen in besonderem Maße sowohl stabilisierend als auch transformativ auf gesellschaftliche Strukturen wirken können. Es deutet sich ein gesteigertes persuasives Potential in Cultural Performances an. Ähnlich wie in Theoriekonzepten, die der Praxeologie zugerechnet werden, stehen auch im wissenschaftlichen Diskurs um Cultural Performances der körperliche Vollzug von Kultur und die Interkorporalität von Akteur*innen im Mittelpunkt. Die Existenz von Normen und Werten wird, ähnlich wie in den bereits vorgestellten praxeologischen Konzeptionen des Sozialen, insbesondere 116 Budde/Fiebach 2002, S. 7ff. 117 Vgl. „Theater und die Pest“ in: Artaud 1996. 118 Vgl. Rühle 1963. 119 Vgl. Turner 2005. 120 Vgl. Rao/Köpping 2000.
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bei Judith Butler, im praktischen Vollzug kultureller Aufführungen verortet. Derartig motivierte Studien fragen folglich „nach der Tradierung und Transformation kultureller Regeln, Normen und Werte in der Praxis“121. Thema dieses Teilkapitels ist daher die Frage, mithilfe welcher konkreten Mittel und Mechanismen Normen, Werte und Ideale in Cultural Performances tradiert und transformiert werden. Die Praxis des Taekwondo wird in dieser Hinsicht als Cultural Performance argumentiert. In der Studie des Autors Taekwondo zwischen Spektakel und Ritual. Kampfkunst im sozialpolitischen Kontext 122 wurde ein erster theoretischer Versuch unternommen. Neben der Wettkampf-Praxis und der Demo-Praxis 123 wird hier das Training als Szenischer Vorgang 124 theoretisiert. Dabei handelte es sich um eine idealisierte Konzeption, die insbesondere anhand von Taekwondo-Lehrbüchern entwickelt wurde und sich nicht auf eigenes systematisch erhobenes empirisches Material stützte. Diese bestehende Konzeptualisierung wird im weiteren Verlauf aufgegriffen und anhand praxeologischer Axiome hinterfragt und aktualisiert. Zentrale Konzepte der Analyse von Cultural Performances werden jedoch zunächst in Anlehnung an die Studie Is this real? Die Kultur des HipHop125 von Gabriele Klein und Malte Friedrich anhand der Begriffe Performativität, Theatralität und Ritualität erarbeitet. Zunächst wird das bereits im vorherigen Kapitel tangierte Konzept der Performativität aufgegriffen und um Perspektiven der Performance Studies und deutschsprachigen Theaterwissenschaft erweitert und auf Aufführungspraxen angewendet. Diese Ausführung ist umfangreich, da sie den heuristischen Rahmen für das analytische Vorgehen der empirischen Untersuchung bildet. Anhand des Begriffs der Theatralität erfolgt der Versuch, diese als ästhetisch wirksamen Mechanismus zu konzipieren, der in der Tradierung und Transformation von Normen, Werten und Idealen eine machtvolle Rolle spielt. Dies geht einher mit dem Versuch einer Aktualisierung des Theatralitätskonzepts mithilfe der praxeologischen Vorüberlegungen aus dem vorherigen Teilkapitel. Unter dem Begriff der Ritualität werden schließlich die Mechanismen der materiellen Hervorbringung von Kollektivität behandelt, die für die Tradierung und Transformation von Normen, Werten und Idealen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. 121 Klein/Sting 2005, S. 9. 122 Vgl. Minarik 2014 123 Anm.: „Demo-Praxis“ bezieht sich auf die für Taekwondo spezifische Demonstrationen, also Vor- bzw. Aufführungen vor Publikum, die nicht primär einem sportlichen Vergleich dienen (vgl. Minarik 2014, S. 107ff.). 124 Vgl. Kotte 2005, S. 15ff. 125 Klein/Friedrich 2003.
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3.2.1 Performativität: Eine kurze Bestandsaufnahme Wie das Feld der Praxistheorie ist auch der wissenschaftliche Diskurs um Performativität als heterogenes Feld zu betrachten, das nicht nur durch separate Theorietraditionen gekennzeichnet ist, sondern auch, wie Jens Kertscher und Dieter Mersch schreiben, durch teilweise widersprüchliche Positionen. 126 Sie unterscheiden dabei vier theoretische Orientierungen127: • • • •
Performanz-Begriffe in Linguistik und Sprechakttheorie Performanz-Theorien in Anthropologie und Ethnographie Das Performanz-Konzept des französischen Poststrukturalismus bzw. der Dekonstruktion Performativität im Sinne des Ereignens
Die erste Theorietradition stütze sich dabei, so Kertscher und Mersch, auf Noam Chomsky, John L. Austin, John Searle sowie Jürgen Habermas und verwende den Performanzbegriff im Rahmen sprachlicher Semantik. Die Grundlage bilde dabei die „Chomskysche Trennung zwischen ‚Kompetenz‘ und ‚Performanz‘ bzw. zwischen ‚Struktur‘ und ‚Gebrauch‘“128. Die zweite Theorietradition stütze sich hauptsächlich auf die Ethnologie Victor Turners und gebrauche den Begriff des Performativen in Bezug auf Rituale und andere Cultural Performances. Im Mittelpunkt stehe hier das Konzept der Aufführung als kulturübergreifende anthropologische Konstante. Zentral sei darüber hinaus der Begriff der Inszenierung, der jedoch nicht allein auf kulturelle Semantiken beschränkt sei, sondern Aspekte der sinnlich-emotionalen Wahrnehmung miteinschließe. Der dritte Ansatz basiere vorrangig auf Derrida und Butler und konzeptualisiere Performativität im Kontext von Iterabilität, „Wiederholung“, „Dekontextuierung“ und „Rekontextuierung“. Performativität sei hier als „Manöver der Ver-setzung und Verschiebung der Zeichen“ zu verstehen. Die vierte Theorielinie beruhe hauptsächlich auf „Ereignisphilosophen“ wie Jean-François Lyotard und hebe im Konzept der Performativität schließlich die Ereignishaftigkeit und Unwiederholbarkeit von Akten und Äußerungen hervor. 129 In seinem Versuch, eine umfassende Theorie des Performativen zu unternehmen, schreibt Mersch, Performativität oder das Performative habe heute eine ähnliche Stellung in Kulturtheorien wie elementare Begriffe wie „Form“, „Mate126 Kertscher/Mersch 2003, S. 8. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Kertscher/Mersch 2003, S. 9.
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rie“, das „Symbolische“ oder „Strukturaliät“. Er stellt darüber hinaus fest, dass sich die Konzeption von Performativität nicht lediglich unter diese Begrifflichkeiten einreihe, sondern diese stattdessen versetze, durchkreuze und deren bisher postulierte Differenzen unterlaufe. Dies gelte hinsichtlich der üblichen Unterscheidungen zwischen „Form und Inhalt“ und „Sinn und Struktur“. 130 Eine Theorie des Performativen ziele darauf ab, so Mersch, eine Aufhebung der seit Aristoteles bestehenden Dichotomie von Poisis und Praxis zu bewirken und, statt nach der Intention oder einer möglichen Zweckgerichtetheit einer Handlung, vielmehr den Akt des Vollzugs in den Mittelpunkt zu rücken. Er schreibt dazu: „Wir haben es also mit einem zusätzlichen Aspekt zu tun, der einer Perspektivenverschiebung, weil nicht das Handeln selbst seinen poietischen oder praktischen Modi relevant erscheint, sondern das Ereignis seines Vollzugs, sein Setzungscharakter. Der Begriff des Performativen betont insonderheit das Moment seiner Realisation, das Faktum, dass eine Handlung instantiiert werden muss, dass sie als Akt in eine Welt eingreift.“131
Mersch hebt damit den wirklichkeitskonstituierenden Charakter des Performativen hervor, eine Qualität, die bereits in Austins Sprechakttheorien wesentlich für performative Äußerungen ist.132 Auf der Ebene von Zeichen bezieht sich dies auf die bloße Verwendung von Zeichen, die deren Semantik entgegengesetzt wird. Hierzu schreibt Mersch wiederum: „Zeichensetzung ist nicht das Zeichen und am Zeichen wiederum nicht die Bezeichnungs-, Unterscheidungs- oder auch Bedeutungsfunktion relevant, sondern die Faktizität der Setzung selbst und damit die Materialität des Zeichens, die Tatsache seiner Existenz.“133
Bedeutung ist im Kontext von Performativität als etwas Variables, etwas Situatives zu verstehen, das nicht nur zeitlich und räumlich gebunden, sondern darü130 Mersch 2003, S. 69. 131 Mersch 2003, S. 70. 132 Anm.: Wie Klein und Göbel erläutern, vollziehen performative Äußerungen „genau die Handlung, von der sie sprechen; sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun und sie sind wirklichkeitskonstitutiv, insofern sie das herstellen, wovon sie sprechen“ (Klein/Göbel 2017, S. 10). Ein Beispiel, das in diesem Kontext immer wieder verwendet wird, ist der Ausspruch „ich ernenne Sie hiermit zu Mann und Frau“ im Rahmen einer Hochzeitszeremonie. Der Sprechakt ist wirklichkeitskonstitutiv, indem das Hochzeitspaar durch den Ausspruch selbst in den Status des Ehepaars hinübertritt. 133 Mersch 2003, S. 73.
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ber hinaus als vollständig individualisierter Pool aus Lesarten zu begreifen ist. Mersch verweist hier auf Konzeptionen Wittgensteins hinsichtlich der „Gebrauchsmodi“ von Sprache, die wiederum der Semantik sprachlicher Zeichen entgegenstehe. Gleiche Äußerungen können diesem Verständnis nach Unterschiedliches meinen.134 Ähnliches beschreibt auch das bereits erwähnte Konzept der Iterabilität Derridas, welches eine potenzielle Bedeutungsverschiebung mit permanenter Wiederholung verbindet. Es bleiben als kurze Zwischenbilanz wesentliche Punkte festzuhalten, die für die Fragestellung dieser Arbeit relevant sind. Performativität ist demnach von vier Grundannahmen gekennzeichnet: • • • •
Performative Akte konstituieren Wirklichkeit. Der körperlich-materielle Vollzug steht im Mittelpunkt der Betrachtung, nicht die Intention oder Zweckgerichtetheit. Performativität hebt die Einmaligkeit von Vollzügen hervor, welche aber gleichzeitig durch Routine und Wiederholung bestimmt sind. Auf der Ebene von Bedeutung postuliert Performativität die Situationalität, Verschiebung und Iterabilität von Bedeutung.
In Bezugnahme auf Normen, Werte und Ideale lässt sich zusammenfassen, dass erst ihr körperlich-materieller Vollzug Wirklichkeit erzeugt (Butler). Normen, Werte und Ideale, die sich als Regelfolgen (Wittgenstein) performativ in der Praxis entfalten, können im Gegensatz zu institutionellen Intentionen oder Zweckmäßigkeiten stehen. Die Bedeutung von Codes und Zeichen – seien es sprachliche, körperlich oder andersartige materielle Grundlagen für Zeichen – ist in der Praxis wandelbar. Wie Mersch konstatiert, ist eine wesentliche theoretische Orientierung innerhalb des Performativitätsdiskurses in der Anthropologie und Ethnografie zu verorten. Bei den hier untersuchten Phänomenen handelt es sich um kulturelle Aufführungen, Cultural Performances, womit ein Bogen zu angrenzenden wissenschaftlichen Feldern wie den Performance Studies und der deutschsprachigen Theaterwissenschaft geschlagen werden kann. 135 Da diese Perspektive für die
134 Mersch 2003, S. 75. 135 Anm.: Während das Konzept der Performativität in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft als Ästhetik des Performativen (Vgl. Fischer-Lichte 2004) eine zentrale Position eingenommen hat, so ist im englischen Sprachraum eine striktere Unterscheidung zwischen Performance Studies und Drama and Theatre Studies festzustellen. Während sich erste mit Performance als anthropologischer und kultureller
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vorliegende Arbeit von vorrangiger Bedeutung ist, wird nun dezidiert auf die Implikationen von Performativität im Kontext von Cultural Performances eingegangen. 3.2.2 Performativität im Kontext von Cultural Performances und Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen Während einzelne Aspekte performativtätsorientierter Heuristik bereits in der Anfangszeit der Theaterwissenschaft bei Max Herrmann zu finden sind136, setzen aktuelle wissenschaftliche Debatten speziell bei den Arbeiten von Victor Turner an. 137 Aus der intensiven Zusammenarbeit von Victor Turner und Richard Schechner gingen in den USA wiederum die Performance Studies hervor, deren Interesse performativen Erscheinungen von Kultur gilt. Ausgehend von ethnologischen Studien zur sozialen Bedeutung von Ritualen der Ndembu entwickelte Turner gemeinsam mit Schechner eine allgemeine und umfassende Theorie des Performativen, die Rituale, Feste, Sportveranstaltungen, Theater und ähnliche Arten von Cultural Performances als konstitutive Eckpfeiler von Kultur entwirft. 138 Auf einzelne Kernthesen der Performance Studies wird im weiteren Verlauf unter den Punkten Theatralität und Ritualität näher eingegangen, da in der Konzeption von Performance, wie sie von Turner, Schechner und darauf aufbauend bei Marvin Carlson139, Alan Read140, Jon McKenzie141 und J. Lowell
Konstante befassen, orientieren sich letztere eher an einem textzentrieten Verständnis des institutionalisierten westlichen Theaters (Klein/Göbel 2017, S. 13). 136 Anm.: Max Herrmann hob in seinen Schriften die Sonderstellung des Theaters unter den unterschiedlichen Kunstformen hervor, indem er die Aufführung als ein eigenständiges Kunst-„Werk“, einen transitorischen Vorgang, postulierte, das nicht nur als Repräsentation eines dramatischen Textes zu verstehen sei (Vgl. Weiler/Roselt 2017, S. 31ff). Ähnliche Positionen sind auch bei Georg Simmel in seinem Aufsatz „Zur Philosophie des Schauspielers“ (Simmel 1987) zu finden. Er schreibt: „Die Bühnenfigur, wie sie im Buche steht, ist sozusagen kein ganzer Mensch im sinnlichen Sinne – sondern der Komplex des literarisch Erfaßbaren [sic!] an einem Menschen. Weder die Stimme, noch der Tonfall, weder das ritardando noch das accelerando des Sprechens, weder die Gesten noch die besondere Atmosphäre der lebenswarmen Gestalt kann der Dichter vorzeichnen oder auch nur wirklich eindeutige Prämissen dafür geben.“ (Simmel zitiert nach Warstat 2018, S. 44.) 137 Klein/Göbel 2017, S.13. 138 Vgl. Turner 1970; 2005; 2009; Schechner 1985; 1993. 139 Vgl. Carlson 2004.
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Lewis142 unternommen wurde, nicht immer trennscharf zwischen Performativität, Theatralität und Ritualität unterschieden wird bzw. der deutschsprachige Diskurs um diese Begriffe nicht pauschal mit dem englischsprachigen Performance-Diskurs gleichgesetzt werden kann. In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft hat sich Performativität am prominentesten im Rahmen des von Erika Fischer-Lichte entwickelten Konzepts einer Ästhetik des Performativen etabliert. Dieses Konzept wird nun ausführlich behandelt, da es die Grundlage für die Heuristik bildet, mithilfe derer die Trainingspraxis der Fallstudie analysiert wird. Zu Beginn ihres Buches Ästhetik des Performativen143 aus dem Jahr 2004 schildert Erika Fischer-Lichte detailliert eine Performance der Künstlerin Marina Abramovič in der Gallerie Krinzinger in Innsbruck aus dem Jahr 1975. Diese schuf mit ihrer Performance, so Fischer-Lichte, „eine Situation, in der zwei Relationen neu bestimmt wurden, die für eine hermeneutische ebenso wie für eine semiotische Ästhetik grundlegend sind: erstens die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Betrachter und Betrachtetem, Zuschauer und Darsteller, und zweitens die Beziehung zwischen Körper- bzw. Materialhaftigkeit und Zeichenhaftigkeit der Elemente, zwischen Signifikant und Signifikat.“ 144 Für FischerLichte ist diese Performance nur ein Beispiel für Kunstproduktionen seit den 1960er Jahren, welche die ästhetische Theorie vor neue Herausforderungen stellten. „Aktions- und Performance-Kunst, action painting, body art, land art, Laut-, Geräusch-, Video-, und andere Installationen sperren sich dem theoretischen Zugriff einer hermeneutischen oder auch einer semiotischen Ästhetik.“145 Somit ist ihr Anspruch eine Neupositionierung und Aktualisierung ihres eigenen theoretischen Konzepts einer Semiotik des Theaters, welches sie in den 1980er Jahren in einer dreibändigen Ausgabe erarbeitete.146 Aufbauend auf die strukturalistische Sprachwissenschaft und Semiotik Ferdinand de Saussures, legte Fischer-Lichte hier eine Theorie vor, die Theater, analog zum System sprachlicher 140 Vgl. Read 1993. 141 John McKenzies Veröffentlichung Perform or Else: From Discipline to Performance stellt den Versuch dar, den Prozess des Performens anhand unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche zu beleuchten. Dies unternimmt er anhand von drei kulturellen Feldern: Performance als künstlerischem Schaffen, als Anzeiger für Effizienz im Organisationsbereich und als Anzeiger für Effektivität im technologischen Bereich (vgl. McKenzie 2001; McKenzie et al. 2010). 142 Lewis 2013. 143 Fischer-Lichte 2017. 144 Fischer-Lichte 2017, S. 19. 145 Fischer-Lichte 2003, S. 92. 146 Fischer-Lichte 1983a; 1983b; 1983c.
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Zeichen, als System theatraler Zeichen konzipierte. Zentral war hier die Zeichentheorie Saussures, der zwischen dem Signifikant, dem Zeichenträger, und dem Signifikat, dem Bezeichneten, unterschied. Semiotische Vorgänge, im Sinne einer Wahrnehmung von Materialitäten als Zeichen, spielen zwar auch in der Ästhetik des Performativen eine Rolle, sind jedoch nicht länger auf den Prozess des Kommunizierens und Decodierens beschränkt. Dieser Punkt wird im späteren Verlauf genauer thematisiert. Es werden nun die Eckpfeiler Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen nachgezeichnet, welche für die Heuristik der Analyse des empirischen Materials von zentraler Bedeutung sein werden. Grundlage für Fischer-Lichtes theoretische Neuausrichtung ist ein Aufführungsbegriff, der sich grundlegend von früheren Konzeptionen unterscheidet. Der Aufführungsbegriff hat seit Beginn der Theaterwissenschaft einen wiederholten Wandel erfahren, was insbesondere mit der sich wandelnden Bedeutung des Publikums zusammenhängt.147 Zwar wurde dem Publikum auch im Kontext früherer Paradigmen eine wichtige Rolle im Prozess der Aufführung zugesprochen, jedoch beschränkte sich diese auf das Lesen und Decodieren theatraler Zeichen.148 Somit wurde dem Publikum zwar eine konstitutive und gewissermaßen aktive Rolle im Kontext der Aufführung zuerkannt, die Aktivität bestand aber lediglich im Verstehen und Entziffern der Intention der Inszenierung. Mit dem sogenannten performative turn149 ging jedoch eine Neukonzeption der Aufführung als performativem Akt der Erzeugung von Wirklichkeit einher, an dessen Hervorbringung das Publikum genauso beteiligt sei, wie die Performer*innen. An der Hervorbringung von Wirklichkeit im Kontext von Performances sind laut Fischer-Lichte unterschiedliche Aspekte beteiligt, die von ihr in unterschiedlichen Veröffentlichungen leicht abgewandelt benannt werden. In ihrer prägnantesten Form bezeichnet sie diese konstitutiven Aspekte als Materialität, Medialität und Semiotizität von Aufführungen.150 Auf diese wird nun unter Berücksichtigung von Abweichungen in unterschiedlichen Veröffentlichungen im Einzelnen eingegangen. Während Fischer-Lichte in ihrem Beitrag Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen die Materialität an den Beginn ihrer Argumentation stellt, wird an dieser Stelle stattdessen Medialität an den Anfang gesetzt. Dies geht mit der Anordnung in der Ästhetik des Performativen einher und erscheint auch vor dem Hintergrund sinnvoll, dass die besondere Medialität der Aufführung gleichzeitig ihre Grundvoraussetzung ist.
147 Vgl. Weiler/Roselt 2017. 148 Weiler/Roselt 2017, S. 37ff. 149 Vgl. Klein/Sting 2005, S. 11. 150 Fischer-Lichte 2003, S. 98.
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Medialität Mit Medialität meint Fischer-Lichte die grundlegende Qualität der Aufführung, welche sie von anderen Medien, wie etwa dem Film, unterscheidet. Dies definiert sie als die leibliche Ko-Präsenz von Schauspielenden und Zuschauenden. Dies bringt sie auf den Punkt, indem sie schreibt: „Eine Aufführung ereignet sich, wenn sich zwei Gruppen von Personen, Akteure und Zuschauer (wobei diese Funktion wechseln kann) für eine bestimmte Zeitspanne am selben Ort versammeln und dort gemeinsam etwas tun. Die Aufführung entsteht aus ihrem Zusammentreffen. D.h. in einer Aufführung laufen Produktion und Rezeption nicht nur gleichzeitig ab, sondern bedingen auch einander, wirken aufeinander ein“.151
Ausgehend von einer basalen Definition der Aufführung entwickelt FischerLichte das Konzept der Aufführung als autopoietische feedback-Schleife. Diesem Verständnis nach ist die Aufführung als performativer Prozess zu verstehen, der sich zwischen den Zuschauenden und den Schauspielenden, als Akteur*innen und als Ko-Subjekte, ereignet.152 Sie sei ein System „mit prinzipiell offenem, nicht vorhersagbarem Ausgang, das sich durch Inszenierungsstrategien weder tatsächlich unterbrechen, noch gezielt steuern lässt.“153 Mit leiblicher KoPräsenz gehe, so zeigt sie anhand von unterschiedlichen Inszenierungen auf, auch die Möglichkeit eines momentanen oder länger andauernden Rollenwechsels zwischen Zuschauenden und Schauspielenden einher. 154 Schließlich biete die besondere Medialität der Aufführung auch einen möglichen Ausgangspunkt für die Schaffung eines temporären Kollektivs. Sie schreibt hierzu: „Die nach bestimmten ästhetischen Prinzipien hervorgebrachte Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern wird von ihren Mitgliedern stets auch als eine soziale Realität erfahren – auch wenn nichtinvolvierte Zuschauer sie als fiktive, als eine rein ästhetische betrachten und begreifen mögen.“155
Dies impliziert die Schaffung eines unmittelbar erfahrbaren Kollektivgefühls, welches im ästhetischen Ereignis der Aufführung zwischen den Akteur*innen inszenatorisch begünstigt und interkorporal hervorgebracht wird. Auf diese 151 Fischer-Lichte 2003, S. 103ff. 152 Fischer-Lichte 2017, S. 61. 153 Ebd. 154 Fischer-Lichte 2017, S. 63ff. 155 Fischer-Lichte 2017, S. 91.
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potenzielle Qualität von Aufführungen wird im Teilkapitel zu Ritualität genauer eingegangen. Berührung und Liveness sind zwei weitere Punkte, die Fischer-Lichte im Zusammenhang mit der leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauenden und Schauspielenden nennt. Unter Berührung fasst sie die Möglichkeit des körperlichen Kontakts zwischen den einzelnen Akteur*innen als Alleinstellungsmerkmal des Mediums Aufführung. 156 Mit Liveness beschreibt sie, in Anlehnung an Philip Auslander, das Erleben von Lebendigkeit, ausgelöst durch die leibliche Anwesenheit von Schauspielenden.157 So sei es unwichtig wie elaboriert der Einsatz unterschiedlicher Medien innerhalb einer Aufführung sein mag, die „leibliche Präsenz der Schauspieler ist es, die auf sie einwirkt und den autopoietischen Prozeß [sic!] der feedback-Schleife in Gang setzt, welcher die Aufführung erzeugt.“158 Materialität Aufführungen sind flüchtig und transitorisch, stellt Fischer-Lichte fest. Dies unterscheide sie von anderen Kunstgattungen oder medialen Formen wie bildender Kunst oder Film. „Das schließt keineswegs aus“, so Fischer-Lichte, „daß [sic!] in ihnen materielle Objekte – wie Dekoration, Requisiten, Kostüme – Verwendung finden, die nach dem Ende der Aufführung aufbewahrt und ausgestellt werden können. […] Gleichwohl ist die Aufführung nach ihrem Ende unwiederbringlich verloren; sie lässt sich niemals als dieselbe wiederholen.“159 Auch Versuche, eine Aufführung aufzuzeichnen, müssten hiernach zwangsläufig in Leere laufen, da sie immer nur einen Aspekt der Aufführung, einen möglichen Blickwinkel, darstellen können, nicht aber die Aufführung als Ganzes. 160 Die Materialität der Aufführung werde hingegen performativ in ihrer spezifischen Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit hervorgebracht. Körperlichkeit sei im Rahmen der Aufführung, so Fischer-Lichte, anhand zweier Prozesse erfahrbar: durch Verkörperung, oder auch embodiment, und durch Präsenz. Diese Einteilung entwickelt sie anhand Helmuth Plessners anth156 Vgl. Fischer-Lichte 2017, S. 101ff. 157 Vgl. Auslander 1999. 158 Fischer-Lichte 2017, S. 126. 159 Fischer-Lichte 2017, S. 127. 160 Anm.: Bei der Videoaufzeichnung in einer Totalen scheint dies auf den ersten Blick möglich. Während die Totale einen Überblick über das gesamte Geschehen auf der Bühne bzw. sogar einschließlich der Zuschauer*innenränge bieten kann, so ermöglicht sie wiederum nicht einen detaillierten Blick bspw. auf subtile Mimiken.
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ropologischer conditio humana zwischen phänomenalem Leib und dem semiotischen Körper. 161 Anhand historischer Theaterdiskurse von Lessing, Engel und Schiller zu Meyerhold und Grotowski stellt Fischer-Lichte fest, dass Verkörperung in unterschiedlichen historischen Phasen unterschiedliche Bedeutung zugemessen wurde. Von einer völligen Unterdrückung des phänomenalen Leibes zugunsten eines vollständigen Aufgehens in der dramatis personae bei Engel und Schiller bis zu einer Rehabilitierung des phänomenalen Leibes bei Meyerhold und Grotowski. Eine Ästhetik des Performativen müsse also ein Konzept von Verkörperung/embodiment beinhalten, das auf der Grundannahme basiert, dass jegliche menschliche Kulturleistung bis hin zur Kognition den Leib als Grundlage habe, gleichwohl ob eine fiktive Figur hervorgebracht werde oder nicht. 162 Die Wahrnehmung der Zuschauenden oszilliere nicht nur permanent zwischen dem Leib des/der Schauspieler*in und einer dramatis personae, es sei vielmehr festzuhalten, dass „der phänomenale Leib des Schauspielers nicht als Medium und Zeichen für die sprachlich konstituierte Figur dient, sondern daß [sic!] die Figur, die auf der Bühne erscheint, als eine je ohne das spezifische ohne das je besondere In-der-Welt-Sein des Schauspielers/Performers nicht zu denken und zu haben ist, daß [sic!] sie jenseits seines individuellen phänomenalen Leibes, den sie nicht auszulöschen vermag, keine Existenz hat.“ 163 Damit gehe gleichzeitig eine performativitätstheoretische Refokussierung auf die Praxis des Performens einher, die das Phänomen der Präsenz stark macht. Den Begriff der „Präsenz“ beschreibt Fischer-Lichte ausschließlich in Bezug zum menschlichen Leib, den phänomenalen Leib des/der Schauspieler*in, während sie gleichzeitig eingesteht, dass bestimmte Präsenz-Effekte durchaus auch von Objekten und „Produkten der technischen und elektronischen Medien“ ausgehen können.164 Anhand einer Rezeption historischer Diskurse des schauspielerischen Präsenz-Begriffs stellt sie fest, dass dieser immer wieder mit einer „erotischen Anziehungskraft“ 165 der Schauspielenden in Verbindung gebracht wurde. Darauf aufbauend argumentiert sie das schwache Konzept von Präsenz, der bloßen körperlichen Anwesenheit, einer der drei Erscheinungsformen von Bühnen-Präsenz. Diesem Konzept stellt sie das starke Konzept von Präsenz gegenüber. Dieses gehe über die bloße leibliche Anwesenheit hinaus und meint eine besonders auratische Wirkung, „nicht nur den Bühnenraum zu beherrschen, sondern den gesamten Theaterraum. Er [der Schauspieler] beherrscht ihn, indem 161 Vgl. Plessner 1982, S. 399-418; S. 407, zitiert nach Fischer-Lichte 2017, S. 129. 162 Fischer-Lichte 2017, S. 154. 163 Fischer-Lichte 2017, S. 152. 164 Fischer-Lichte 2017, S. 160. 165 Fischer-Lichte 2017, S. 163.
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er – auf geheimnisvolle, ‚magische‘ Weise – auf den Zuschauer einwirkt und ihn dazu bringt, seine ganze Aufmerksamkeit ungeteilt auf ihn zu fokussieren.“ 166 Dies sei keine expressive Qualität, im repräsentatorischen Sinne, sondern eine rein performative Qualität.167 Im Zusammenhang damit geht Fischer-Lichte auf die Arbeit von Eugenio Barba ein, der sich neben seiner theaterpraktischen Tätigkeit intensiv mit der Erforschung wiederkehrender Prinzipien 168 befasste, welche in unterschiedlichen weltweiten Aufführungstraditionen Anwendung finden, um ebendiese Art von Präsenz zu erzeugen. 169 Zentral sei dabei das Erreichen eines höheren Energieniveaus durch sogenannte Ausnahmetechniken. Diese grenzen sich, so Barba, in einem wesentlichen Punkt von alltäglichen Körpertechniken ab: „Alltägliche Körpertechniken folgen im Allgemeinen dem Prinzip der minimalen Anstrengung, das heißt, mit einer minimalen Verausgabung von Energie ein maximales Ziel zu erreichen. Im Gegensatz dazu beruhen Ausnahmetechniken auf der Verschwendung von Energie. Manchmal scheint es sogar so, als funktionieren sie nach dem genau umgekehrten Prinzip wie Alltagstechniken: ein Maximum an Energieverausgabung, um ein minimales Ziel zu erreichen.“170
Die Präsenz, die auf diese Weise erzeugt wird, nennt Barba „bios“.171 Dabei handelt es sich, wie Fischer-Lichte es ausdrückt, um eine „prä-expressive Gegenwärtigkeit“, also eine Form von Ausdruck vor der Absicht, semantisch etwas auszudrücken. 172 Fischer-Lichtes drittes Konzept, das radikale Konzept von Präsenz, geht über die Wirkung des von Barba beschriebenen bios hinaus, 166 Fischer-Lichte 2017, S. 165. 167 Ebd. 168 Anm.: Als „wiederkehrende Prinzipen“ listet Barba: „Gleichgewicht in Aktion“/ „Balance in action“, „Tanz der Gegensätze“/ „Dance of oppositions“, „Folgerichtige Folgewidrigkeit“/ „Consistent inconsistency“ und „Äquivalenz“/ „Equivalence“. Die Essenz des bios, so Barba, ist: „Die Vergrößerung und Aktivierung von Kräften, die im Gleichgewicht wirken. In den Gegensätzen, die die Dynamik der Bewegungen leiten. In der Anwendung der folgerichtigen Folgewidrigkeit. Im Durchbrechen der Automatismen mittels Ausnahmeäquivalenten.“ (Barba 1996, S. 96; vgl. Barba 1995, S. 13ff.) 169 Vgl. Barba 1985, S. 123ff; 1995, S. 13ff; 1996, S. 77ff. 170 Barba 1996, S. 80. 171 Ebd. 172 Fischer-Lichte 2017, S. 168.
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wenn „der phänomenale Leib des Schauspielers als embodied mind erscheint.“173 Das Erleben dieser Art von Präsenz springe unmittelbar auf die Zuschauenden über und bewirke damit eine gefühlte Aufhebung der abendländischen KörperGeist Dichotomie. Dies könnte am ehesten mit dem Flow-Begriff von Csikszentmihalyi genauer fassbar gemacht werden.174 Er beschreibt damit einen Zustand der Einheit von Denken und Handeln, dem Gefühl des Im-Moment-Seins, einem Fließen ohne das Gefühl der körperlichen oder geistigen Anstrengung bis hin zu spirituellen Selbst- und Gemeinschaftserfahrungen. Die von FischerLichte beschriebene radikale Form von Präsenz springt dabei von den jeweiligen Performenden auf die Zuschauenden über und bewirkt bei diesen schließlich ein Erleben eines embodied mind. Auch auf diesen Punkt wird unter Ritualität noch einmal genauer eingegangen. Unter dem Phänomen der Körperlichkeit fasst Fischer-Lichte auch den Punkt Tier-Körper.175 Dieser soll an dieser Stelle aufgrund der mangelnden Relevanz für diese Studie übergangen werden. Räumlichkeit sei, so stellt Fischer-Lichte bereits zu Beginn des Kapitels klar, „nicht mit dem Raum gleichzusetzen, in/an dem diese [die Aufführung] sich ereignet.“176 Es müsse daher unterschieden werden zwischen dem geometrischen Raum und dem performativen Raum. Während der geometrische Raum durch seine architektonischen Gegebenheiten bestimmt ist, definiert sich der performative Raum durch das, was in ihm stattfindet. Der performative Raum ist nicht als materieller Ort zu verstehen, sondern stattdessen als Qualität oder Analysekategorie. Die Architektonik des Raumes spiele zwar eine inszenatorische Rolle, indem sie bestimmte Performanzen begünstigen kann, jedoch hält Fischer-Lichte fest:177 „Der performative Raum zeichnet sich gerade dadurch aus, daß [sic!] er auch eine andere als die vorgesehene Verwendung ermöglicht, auch wenn viele Beteiligte eine solche nicht vorhergesehene Nutzung als ungehörig, ja empörend empfinden mögen“.178
Der performative Raum ist also durch Interaktion bestimmt – und zwar zwischen den einzelnen Akteur*innengruppen. Anhand einer Rezeption historischer und gegenwärtiger architektonischer Raumformen im Zusammenhang mit Auffüh-
173 Fischer-Lichte 2017, S. 171. 174 Vgl. Csikszentmihalyi 2010. 175 Fischer-Lichte 2017, S. 176ff. 176 Fischer-Lichte 2017, S. 187. 177 Vgl. Klein/Funke-Wieneke 2008. 178 Fischer-Lichte 2017, S. 189.
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rungspraxen, stellt Fischer-Lichte drei Verfahren fest, mit denen die „Performativität des Raums intensiviert wird“:179 •
•
•
Verwendung eines (fast) leeren Raumes bzw. eines Raumes mit variablem Arrangement, der beliebige Bewegungen von Akteur*innen und Zuschauer*innen zulässt Schaffung spezifischer räumlicher Arrangements, welche bisher unbekannte oder nicht genutzte Möglichkeiten zur Aushandlung der Beziehung zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen, von Bewegung und Wahrnehmung öffnen Verwendung vorgegebener und sonst anderweitig genutzter Räume, deren spezifische Möglichkeiten erforscht und erprobt werden.180
Diese drei Verfahren ermöglichen in unterschiedlicher Weise die Entstehung von Räumlichkeit durch Bewegung und Wahrnehmung von Zuschauer*innen und Performer*innen. An diesem Konzept von Räumlichkeit ist die Materialität des Raumes zwar beteiligt, jedoch nur als Teilaspekt. Der performative Raum habe, so Fischer-Lichte, keinen Werk-, sondern Ereignischarakter. 181 Als weiteren Aspekt der Räumlichkeit nennt Fischer-Lichte Atmosphären. Laut Fischer-Lichte komme diesen für „die Hervorbringung von Räumlichkeit eine vergleichbare Bedeutung zu wie der Präsenz für die Erzeugung von Körperlichkeit.“ 182 Atmosphäre lasse sich dabei nicht an bestimmten Objekten oder Elementen des Raumes festmachen. Vielmehr liege die Wirkung im Dazwischen, also im gezielten Zusammenspiel aller und der spezifischen Wahrnehmung durch die Zuschauenden. Als mögliche Träger von Atmosphäre nennt FischerLichte Gerüche, 183 denen sie eine besondere Wirksamkeit zuschreibt, sowie Licht und Laute in Form von Geräuschen, Klängen und Musik. 184 In Anlehnung an Gernot Böhme stellt sie heraus, dass die Ästhetik der Atmosphäre eine Ästhetik der leiblichen Erfahrung sei, gewissermaßen eine „Antithese zu einer semiotischen Ästhetik“, relativiert dies jedoch mit dem Einwand, dass Klänge, Lichteffekte oder ähnliche Stilmittel durchaus eine Bedeutungsdimension für Zuschauende entfalten könnten.185 179 Fischer-Lichte 2017, S. 192. 180 Ebd. 181 Fischer-Lichte 2017, S. 199ff. 182 Fischer-Lichte 2017, S. 203. 183 Fischer-Lichte 2017, S. 201. 184 Fischer-Lichte 2017, S. 207. 185 Fischer-Lichte 2017, S. 209.
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Lautlichkeit umfasst nach Fischer-Lichte sogenannte Hör-Räume und Aspekte der Stimmlichkeit bzw. Stimmen. Unter Hör-Räumen fasst Fischer-Lichte zum einen alle lautlichen Stilmittel, die von Performenden genutzt werden wie bewusst hörbar gesetzte Schritte. Darüber hinaus zählt sie dazu aber auch alle lautlichen Äußerungen des Publikums wie Unterhaltungen, Husten oder Rascheln mit Verpackungspapier. Schließlich zählt sie auch Geräusche dazu, die ursprünglich bewusst von der Aufführung ausgeschlossen werden sollten, wie etwa Laute außerhalb des Aufführungssaals. 186 Stimmen räumt Fischer-Lichte eine besondere Bedeutung ein, da, wie sie schreibt, „[m]it und in der Stimme […] alle drei Arten von Materialität [entstehen]: Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit.“ 187 Dabei zeige sich diese enge Beziehung zwischen Körper und Stimme insbesondere im Schreien, Seufzen, Stöhnen, Schluchzen und im Lachen. 188 Stimmlichkeit bezieht durchaus die semiotische Dimension der gesprochenen Sprache mit ein, bedeutet also nicht zwangsläufig eine Desemantisierung der Sprache, beschränkt sich jedoch auch nicht auf deren semiotische Aspekte. Über die Intonation hinaus kann eine besondere Spannung zwischen Stimme und Sprache bestehen, wenn beispielsweise artikulierte Sprache in Schreie, Lachen, Stöhnen oder Verzerrung übergehen kann. 189 Ebenso kann Sprache, so zeigt Fischer-Lichte anhand Robert Wilsons Inszenierung „CIVIL warS“ als vorgefertigte ready mades desemantisiert werden, um ihre Lautlichkeit hervorzuheben. Als weitere Analysekategorie führt Fischer-Lichte Zeitlichkeit an, die jedoch, wie sie selbst vermerkt, nicht unter der Materialität der Aufführung subsumiert werden könne, „jedoch die Bedingung der Möglichkeit für deren Erscheinen im Raum“190 darstelle. Unter dem Aspekt der Zeitlichkeit subsumiert Fischer-Lichte zwei Strukturierungskategorien: Time Brackets (in Anlehnung an Inszenierungen von John Cage)191 und Rhythmus. Als Time Brackets bezeichnet Fischer-Lichte Inszenierungsstrategien, welche das Geschehen der Aufführung in bestimmbare Einheiten oder „Zeit-Inseln“ 192 einteilen. Die zeitliche Einteilung impliziere dabei nicht zwangsläufig eine zusammenhängende Handlung, bei der eine Szene, ein Bild oder ein Akt logisch konsequent auf vorhergehende aufbaue. Vielmehr handelt es sich stattdessen um Strukturvorgaben, innerhalb derer bestimmte oder 186 Fischer-Lichte 2017, S. 216. 187 Fischer-Lichte 2017, S. 219. 188 Ebd. 189 Fischer-Lichte 2017, S. 223. 190 Fischer-Lichte 2017, S. 227. 191 Fischer-Lichte 2017, S. 228. 192 Fischer-Lichte 2017, S. 231.
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auch willkürliche Prozesse ablaufen.193 Rhythmus definiert Fischer-Lichte hingegen als Prinzip, das „Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit zueinander in ein Verhältnis setzt und ihr Erscheinen im Raum ebenso wie ihr Verschwinden reguliert.“ 194 Rhythmus impliziere eine Regelmäßigkeit, ohne auf Gleichmäßigkeit zu zielen. Er entstehe durch Wiederholung und Abweichung vom Wiederholten. Rhythmus lasse sich als Ordnungsprinzip beschreiben, das seine permanente Transformation voraussetze und sich in seinem Wirken vorantreibe.195 In dieser Weise beschreibt Fischer-Lichte den Rhythmus einer Aufführung in Anlehnung an Hanno Helbing. Ähnlich dem Konzept der Präsenz stelle Rhythmus eine Verbindung zwischen den an der Aufführung beteiligten Akteur*innengruppen her, indem sie sich auf den Rhythmus der jeweils anderen einschwingen. Auch dieser Effekt wird unter dem Punkt Ritualität noch einmal präzisiert. Bezüglich der Funktion des Rhythmus fasst Fischer-Lichte zusammen: „Indem der Rhythmus die performative Hervorbringung von Materialität organisiert und strukturiert, läßt [sic!] er also zugleich die performativ hervorgebrachte Materialität als Wirkungsfaktor in der Autopoiesis der feedback-Schleife in Erscheinung treten. Im Rhythmus werden die performativen Hervorbringung von Materialität und die Autopoiesis der feedback-Schleife für den Zuschauer wahrnehmbar aufeinander bezogen und füreinander produktiv gemacht.“196
Semiotizität Den Begriff Semiotizität verwendet Fischer-Lichte in ihrem Aufsatz Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen als einen der drei Hauptaspekte von Aufführungen. In ihrem ausführlicheren Werk Ästhetik des Performativen nimmt dieser Begriff keine derart zentrale Position mehr ein, sondern wird gemeinsam mit weiteren Termini unter dem Titel Emergenz von Bedeutung subsumiert. Bereits zu Beginn wird klar, dass Fischer-Lichte unter diesem Phänomen nicht meint, dass es sich bei einer Aufführung also um einen rein kommunikativen Akt handeln könnte, wie ein klassisches Verständnis von Semiotik nahelegen könnte. Sie plädiert stattdessen für eine Theorie, welche der „spezifische[n] Semiotizität von Aufführungen“197 Rechnung trägt. Unter Bezugnahme auf Aufführungen seit 193 Fischer-Lichte 2017, S. 230. 194 Fischer-Lichte 2017, S. 232. 195 Fischer-Lichte 2017, S. 233. 196 Fischer-Lichte 2004, S. 239. 197 Fischer-Lichte 2004, S. 243.
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den 1960er Jahren erkennt Fischer-Lichte in der gegenwärtigen Inszenierungspraxis eine Tendenz hin zur intentionalen Desematisierung theatraler Elemente zugunsten ihrer Materialität.198 Dies werfe zwangsläufig die Frage nach Bedeutung im Kontext der Aufführung auf, ob also Aufführungen, insbesondere postdramatische Performances, demnach bedeutungs-los seien. Fischer-Lichte weist dies klar zurück. Entgegen der Behauptung einer Desemantisierung argumentiert sie, es handele sich dabei nicht um Desemantisierung im Sinne von Bedeutungsverlust, sondern stattdessen um einen Schwerpunktwechsel hin zur Selbstreferentialität von Gesten, Äußerungen und anderen theatralen Elementen. 199 Diese werden also als das wahrgenommen, was sie in ihrer Materialität darstellen oder, wie Fischer-Lichte schreibt: „Die Materialität des Dings nimmt, tautologisch gesprochen, in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität an, das heißt seines phänomenalen Seins. Das Objekt, das als etwas wahrgenommen wird, bedeutet das, als was es wahrgenommen wird.“ 200 Bewusste Wahrnehmung erzeuge immer Bedeutung, postuliert Fischer-Lichte, und sei es bloß die Bedeutung der Materialität des wahrgenommenen Objekts. Darüber hinaus stellt sie eine weitere Form der Bedeutungsgenerierung vor, den sie als Emergenz, im Sinne eines spontanen Erscheinens, bezeichnet. So werde, wenn sich die Aufmerksamkeit aus ihrer Fokussierung auf das Wahrgenommene löst, sozusagen abzuschweifen beginnt, als ein Signifikant [wahrgenommen], mit dem sich die unterschiedlichsten Assoziationen – Vorstellungen, Erinnerungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken – als seine Signifikate verbinden.“201 Diese beiden Vorgänge beschreibt Fischer-Lichte als zwei Arten der Wahrnehmungs- und Bedeutungserzeugung. In Anlehnung an Walter Benjamins Ästhetik konzipiert sie diese zum einen als Symbol – im Falle der selbstreferentiellen Bedeutung, in der Materialität, Signifikat und Signifikant zusammenfallen – und zum anderen als Allegorie – im Falle der plötzlichen und nichtintendierten assoziativen Emergenz von Bedeutung. In beiden Fällen werde Bedeutung nicht, im Sinne eines kommunikativen Aktes, auf Grundlage intersubjektiv gültiger Codes erzeugt. 202 Im Prozess der Aufführung oszilliere die Wahrnehmung der Akteur*innen, vornehmlich die der Zuschauenden, zwischen diesen beiden Formen der Bedeutungserzeugung. Ebenso oszilliere auch die Wahrnehmung zwischen Präsenz und Repräsentation in Form einer perzeptiven Multistabilität. Dies meint, dass Zuschauende in ihrer Wahrnehmung immer 198 Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 243. 199 Fischer-Lichte 2004, S. 246. 200 Fischer-Lichte 2004, S. 245. 201 Fischer-Lichte 2004, S. 247. 202 Fischer-Lichte 2004, S. 250ff.
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wieder zwischen dem phänomenalen Leid und dem semiotischen Körper der Schauspielenden wechseln und in diesem permanenten Wechsel die Erfahrung von Irritation machen, im Zuge derer immer wieder auch die innere Frage auftauchen mag, ob das aktuell wahrgenommene nun „gespielt“ ist oder nicht. Hier weist Fischer-Lichte darauf hin, dass diese Irritation eine epistemologische Implikation auslösen kann und den Zuschauenden den Wahrnehmungsprozess selbst bewusstmachen kann.203 Gefühle seien ebenfalls als Bedeutungen zu konzipieren, die in der Aufführung hervorgebracht werden und zur autopoietischen feedback-Schleife beitragen. Im Hinblick darauf zeige sich, stellt Fischer-Lichte zusammenfassend fest, „daß [sic!] die Semiotizität einer Aufführung nicht im Gegensatz und erst recht nicht im Widerspruch zu ihrer Performativität angemessen zu begreifen ist, sondern nur im Kontext einer Ästhetik des Performativen. Von besonderer Relevanz erweist sich in diesem Zusammenhang die Emergenz der Bedeutungen. Der Prozeß [sic!] der Erzeugung von Bedeutungen, der in der Aufführung abläuft, weist eine Reihe signifikanter Ähnlichkeiten mit der autopoietischen feedback-Schleife auf.“204 Als Antwort auf die Frage, ob sich Aufführungen verstehen lassen, liefert Fischer-Lichte die Erklärung, dass es sich bei den beschriebenen Bedeutungsprozessen nicht um hermeneutische Prozesse handele. Vielmehr handele es sich bei den beschriebenen Aufführungen um Prozesse, die keine Bedeutungsvermittlung anstreben, sondern darauf abzielen, Erfahrung zu ermöglichen. Zusammenfassung Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen ist der Versuch einer Theorie der Aufführung unter besonderer Berücksichtigung der performativen Wende in der westlichen Theaterpraxis ab den 1960er Jahren. Sie verfolgt damit einen ähnlichen Ansatz wie bereits Hans-Thies Lehmann mit seiner wegweisenden Publikation Postdramatisches Theater. 205 Während er bei seiner Argumentation eher von einer inszenierungstheoretischen Problemstellung ausgeht – die Abkehr vom dramatischen Text in der Inszenierungspraxis steht im Zentrum seiner These – handelt es sich bei Fischer-Lichte zuallererst um eine Argumentation, die das Phänomen der Aufführung als Ausgangspunkt hat.206 Ihre Theorie ist zwar an-
203 Fischer-Lichte 2004, S. 261. 204 Fischer-Lichte 2004, S. 269. 205 Lehmann 2011. 206 Anm.: Auch Lehmann wendet sich intensiv dem performativen Charakter der Aufführung zu. Dies folgt bei ihm jedoch aus der Abkehr vom dramatischen Text, wäh-
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hand post-dramatischer Aufführungspraxen entwickelt, hegt allerdings den Anspruch prinzipiell auf alle Aufführungskontexte anwendbar zu sein. Insbesondere durch den Fokus auf die Materialität der Aufführung und die Emergenz von Bedeutung ermöglicht ihre Ausarbeitung die Anwendung auf verschiedene Cultural Performances ohne das Vorhandensein eines Theatertextes voraussetzen zu müssen. Entsprechend der Grundannahmen einer Theorie des Performativen bei Mersch wird die Wirklichkeit der Aufführung nicht in erster Linie durch Absichten und andere mentale Konzeptionen, hier im Sinne von Inszenierung oder dramatischer Vorlage, hervorgebracht, sondern durch den intersubjektiven, körperlich-materiellen Vollzug. Diesen beschreibt Fischer-Lichte mit ihrem Konzept der autopoietischen feedback-Schleife, die sich in der Interaktion der anwesenden Akteur*innengruppen entfaltet. Jede Aufführung ist ein flüchtiges und transitives Ereignis und somit einmalig. Auf der Ebene von Bedeutung postuliert Fischer-Lichte in ihrem Konzept zwei oszillierende Formen der Entstehung von Bedeutung in Form von Selbstreferentialität und der freien, assoziativen Emergenz von Bedeutung aufgrund individueller Dispositionen. Medialität, Materialität und Semiotizität erscheinen auch in Hinblick auf die vorliegende Studie als geeignete Analysekategorien, die Performativität von Cultural Performances sinnvoll erfassen zu können.207 3.2.3 Theatralität im Kontext von Cultural Performances und Versuch einer Skizze einer Theorie theatraler Praxis Die Verortung von Performativität im Kontext von Aufführung kann wie folgt zusammengefasst werden: Performativität meint die situative Erzeugung und Entfaltung von Beziehungen und Bedeutungen zwischen Akteur*innen in materiellen Vorgängen als Modi der Wirklichkeitskonstitution. 208 Performativität beschreibt die situative Hervorbringung von sozialer Wirklichkeit im Spannungsverhältnis zwischen Wiederholung und Einmaligkeit. Anhand FischerLichtes Ästhetik des Performativen ist diese ereignishafte, transitorische Konstitution von Wirklichkeit ein zentrales Merkmal der Medialität von Aufführungen. Dieses Phänomen und die damit verbundenen machttheoretischen Implikationen
rend die Aufführung an sich bei Fischer-Lichte bereits den Ausgangspunkt der Argumentation darstellt. 207 Vgl. Fischer-Lichte 2017, S. 316. 208 Anm.: Laut der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours sind unter dem Begriff Akteur*innen sowohl menschliche als auch dingliche Entitäten zu fassen (vgl. Latour 2007).
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werden nun anhand des Begriffs der Theatralität erörtert. Dies geschieht, ausgehend von der Annahme, dass Theatralität in der performativen Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen eine wichtige Rolle spielen kann, insofern, als dass sie mit der Lenkung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung verbunden ist und in besonderem Maße emotionale Überzeugungskraft entfalten kann. Im wissenschaftlichen Diskurs um die Aufführung hat das Konzept der Theatralität seine Relevanz gegenüber dem Konzept der Performativität maßgeblich eingebüßt. Die Hochphase des Theatralitätsbegriffs kann in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft in den 1990ern verortet werden. Prägend waren hier das interdisziplinäre DFG-Forschungsprojekt Theatralität: Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften209 von 1996 bis 2002 und die sukzessive erschienene Buchreihe Theatralität.210 Im englischsprachigen Diskurs sind erste Ansätze zunächst auf dem Gebiet der Interaktionssoziologie, allen voran bei Erving Goffmann, zu finden211, ehe das Konzept mit Elizabeth Burns‘ Veröffentlichung Theatricality. A Study of Convention in Theatre and in Social Life 212 auch für die englischsprachigen Drama- and Theatre Studies interessant wurde. Als Teatralnost findet der Begriff jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als erstes bei dem russischen Theaterschaffenden Nokolai Evreinov Verwendung. Dieser definiert Theatralität, oder Teatralnost, als „eine ästhetische Zeigehandlung (monstracia) unverkennbar demonstrativen Charakters, welche sogar weit entfernt vom Theatergebäude, mittels einer reizvollen Geste, einem schön intonierten Wort, in unserer Imagination Bühnenbretter und Dekorationen erzeugt und uns von den Fesseln (okovy) der Wirklichkeit befreit“ 213. In seiner Ausführung ist die spätere Ausweitung theatraler Aspekte auf Phänomene außerhalb des institutionalisierten Theaters vorweggenommen; eine Sichtweise, die erst mit dem performative turn wieder Einzug in den theaterwissenschaftlichen Diskurs gehalten hat. Wie Gabriele Klein und Malte Friedrich feststellen, kann der wissenschaftliche Diskurs um Theatralität in zwei Zugänge gegliedert werden. Während die erste Lesart Theatralität als „die Gesamtheit aller Materialien, die in einer Aufführung Verwendung finden und deren Eigenart als eine Theateraufführung ausmachen“ versteht, definiert die zweite Lesart Theatralität hingegen außerhalb 209 SPP 1000: Theatraliät – Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften (Projektnummer: 5466641). Projektzeitraum 1996-2002, Sprecherin: Erika FischerLichte. 210 Vgl. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag; vgl. Fischer-Lichte et al. 2004. 211 Vgl. Goffman 2003. 212 Burns 1973. 213 Evreinov 1923, zitiert nach Kalisch 2002, S. 143.
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der Institution Theater als das „allgemein verbindliche Gesetz der schöpferischen Transformation der von uns wahrgenommenen Welt.“ 214 Der in dieser Studie verfolgte Zugang zu Theatralität entspricht dem von Klein und Friedrich letztgenanntem. Einzelne Aspekte der erstgenannten Lesart müssen in der Erarbeitung einer theaterwissenschaftlich orientierten Heuristik jedoch berücksichtigt werden. Die Erarbeitung einer solchen folgt im Verlauf dieses Teilkapitels. Während die Begriffe Performativität und Theatralität, laut Matthias Warstat, sogar im theaterwissenschaftlichen Kontext oftmals nicht trennscharf verwendet werden, plädiert er für ihre ergänzende Verwendung.215 Er setzt Performativität und Theatralität miteinander in Beziehung, indem er schreibt: „Während Performativität (als Begriff) den Blick auf Arten und Weisen der Wirklichkeitskonstruktion durch Wiederholung lenkt, fordert der Begriff Theatralität – nicht zuletzt durch seine Rückbindung an historische Theaterformen – dazu auf, über Strategien des Spielens mit hervorgebrachten Welten nachzudenken.“216
In seiner Veröffentlichung Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft217 beschreibt Warstat Theatralität als „ambivalente Denkfigur“, in der sich zwei Perspektiven auf gesellschaftliche Dynamiken vereinen: zum einen als „disziplinierendes Dispositiv“ und zum anderen als „Möglichkeiten [des Einzelnen] zur Formung und Gestaltung von Kollektiven“ 218. Theatralität müsse, so Warstat, anhand dreier Ebenen bestimmt werden: auf Ebene des Handelns, der Haltung und des Ereignisses.219 Auf Handlungsebene schlägt Warstat vor, Theatralität anhand sogenannter „Als-ob-Handlungen“ zu konzipieren. Eine solche sei als „inszenierte Handlung [zu begreifen], die im Unterschied zu performativen Handlungen nicht nur etwas hervorbringt – das tut sie auch –, sondern zugleich eine Ver-Stellung mit sich bringt, von der der oder die Handelnde annimmt, dass sie erkannt werden kann.“220 Er bezieht sich damit auf Theaterwissenschaftler Arno Paul, der dafür plädierte, theatrales Rollenhandeln und alltägliches Rollenhandeln im Sinne einer sozialen Rolle abzugrenzen. Das wesentliche Kriterium,
214 Klein/Friedrich 2003, S. 149. Anm.: Der Text in einfachen Anführungszeichen ist von den Autoren zitiert nach: Evreinov 1915, zitiert nach Fischer-Lichte 2000, S. 18. 215 Warstat 2012, S. 70. 216 Warstat 2012, S. 80. 217 Warstat 2018. 218 Warstat 2018, S. 228. 219 Warstat 2018, S. 230. 220 Warstat 2018, S. 236.
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so Paul, liege in der symbolischen Interaktion im Modus des „Als-ob“ 221. Darauf aufbauend beschreibt Warstat wiederum theatrale Haltung geprägt durch ein „erhebliches Maß an Dezisionismus. Letztlich ist es der Handelnde selbst der bewusst und intentional entscheidet, wann er in einen Als-ob-Modus des Handelns wechselt. […] Wer sich zu einem Handeln im Modus des Als-ob entscheidet, nimmt damit eine eigenmächtige Rahmung der Situation vor, die sich durch das eigene Handlung [sic!] entfaltet.“222 Auf Ebene des Ereignisses beschreibt Warstat Theatralität schließlich als „Wahrnehmungsereignisse, denen handlungstheoretisch nicht beizukommen ist. So wie eine Handlungstheorie des Theatralen benötigt wird, um das aktive Hervorbringen von Theatralität im Handeln zu konzeptualisieren, braucht es auch eine Ereignistheorie des Theatralen, die auf die Wahrnehmungsseite von Theatralität zielt und zu verstehen hilft, wie sich Eindrücke des Theatralen einstellen: Sie kommen als Ereignisse – unplanbar, absichtslos, ohne erkennbares Reglement.“223 Warstat entwirft Theatralität damit in erster Linie als Theorie theatralen Handelns, benötigt aber gleichzeitig die Konzeption theatraler Ereignisse, sozusagen als Hilfskonstruktion, um die Wahrnehmung von Theatralität zu erklären, die sich laut ihm „unplanbar, absichtslos“ und „ohne erkennbares Reglement“ einstellt. Die Konzeption von Theatralität als „theatrales Handeln“ ist nicht gänzlich neu. Wie bereits bei Paul, findet sich eine ähnliche Argumentation auch u. a. bei Manfred Wekwerth sowie Antje Budde und Joachim Fiebach.224 Eine ausführliche Herleitung theatralen Handelns als Bestandteil einer umfassenden Handlungstheorie findet sich bei Clemens Stepina, dessen Argumentation ebenfalls wesentliche Anleihen bei Pauls Theorie des theatralen Handelns macht. 225 Stepina beschreibt theatrales Handeln als Interaktionsform, die zwei Kommunikationsparteien benötigt (Schauspieler*in und Zuschauer*in) und sich in der Subjekt-Objekt-Beziehung klassischer Handlungs- und Kommunikationstheorien verwirklicht. Theatrales Handeln entfalte sich in Form von egoistischer und solidarischer Theatralität, „wobei erstere das Resultat theatraler Instrumentalisierung von – und letztere das Resultat theatraler Solidarisierung mit dem Alter (bzw. Publikum) ist.“ 226 Basierend auf der Zuschauer*in-Schauspieler*inBeziehung argumentiert Stepina, dass von Theatralität zu sprechen sei, wenn in 221 Warstat 2018, S. 11ff. 222 Warstat 2018, S. 243. 223 Warstat 2018, S. 252. 224 Vgl. Stepina 2004, S. 276ff. 225 Vgl. Stepina 2004. 226 Stepina 2007, S. 286.
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der Interaktion zweier Parteien eine Seite eine aktive, zeigende Position einnimmt, während die andere Partei als Zuschauer*in objektiviert wird. In ihrer Studie zur Kultur des Hip Hop227 definieren Gabriele Klein und Malte Friedrich Theatralität als „Bündelung von Wahrnehmung, Körperlichkeit, Inszenierung und kultureller Performance.“228 Ihre Beschreibung destillieren sie aus der Rezeption von vier vorherrschenden Perspektiven auf Theatralität, die sie unter Bezugnahme auf Fischer-Lichte aufteilen: • •
• •
Theatralität als rezeptionsästhetische Kategorie, wobei die Wahrnehmung einer Situation als theatral ausschlaggebend ist Theatralität als handlungstheoretische Kategorie im Sinne einer spezifischen, historisch und kulturell kontextualisierten Art der Körperverwendung in kommunikativen Prozessen Theatralität als semiotische Kategorie, als schöpferischen Akt der Zeichenverwendung Theatralität als alltagskulturelle Kategorie, also das Zusammenspiel Wahrnehmung, Bewegung und Sprache229
Inszenierung sei dabei „kein Mittel der Verstellung, sie dient der Selbstbeschreibung, und als solche nicht nur dem Selbst-Ausdruck, sondern auch der SelbstEntdeckung.“230 Die Autoren attestieren theatralen Vorgängen damit einen darstellerischen Charakter, ohne damit ein Als-ob zu implizieren. Es gehe nicht um Verstellung oder Vortäuschung, sondern um einen kreativen, transformativen Umgang mit sich und der Umwelt.231 Joachim Fiebach beschreibt Theatralität als „kommunikative Produktion (Konstruktion) manifester Bild-Ton-Bewegungen oder Vorgänge in bestimmten Raum-Zeiten“232. Theatralität und Performance sind für ihn Begriffe mit einem erheblichen Überschneidungspotential bis hin zur weitgehenden Bedeutungsgleichheit. Obwohl laut Fiebach Theatralität und Performance als materielle Vorgänge betrachtet werden müssen, erhält bei ihm das Symbolische einen konstitutiven Charakter für Performances und theatrale Vorgänge. Die konstitutive Rolle des Symbolischen in theatralen Vorgängen bzw. Performances beschreibt er wie folgt: 227 Klein/Friedrich 2003. 228 Klein/Friedrich 2003, S. 150. 229 Klein/Friedrich 2003, S. 150. 230 Klein/Friedrich 2003, S. 151. 231 Klein/Friedrich 2003, S. 151 232 Fiebach 2007, S. 12.
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„Akzentuiert man Verhalten, Tätigkeit, Handlung (Aktion), bietet sich zur Ergänzung dieses Kultur-Konzepts an, Performances als kommunikativ-gesellschaftliche symbolische Aktionen zu verstehen. Die Betonung des Symbolischen verweist auf Stiftungs(versuche) von Sinnhaftigkeit, auf (vor allem) konnotative Referenzen, die sich in den jeweiligen Aktivitäten entfalten, die in ihnen, durch sie produziert werden können.“233
An anderer Stelle heißt es darüber hinaus: „Indem Handlungen/Haltungen als solche ausgestellten Performativitäten wahrnehmbar und verstehbar sind (was nicht heißt, dass man sie auch unbedingt als eine ‚ausdifferenzierte‘, spezifische Tätigkeit ‚durchschaut‘) operieren sie (auch) als Symbolisches.“ 234
Auf materieller Ebene hingegen seien theatrale Techniken in besonderem Maße durch Hervorhebung gekennzeichnet. Er beschreibt diese wie folgt: „[Es handelt sich um] Techniken, die jeweilige Handlungen/Haltungen spezifisch ausstellen, markieren und so gesellschaftlich kommunikative Tätigkeiten, im Ansatz zumindest, auch zu Performances machen, wären Körperbewegungen bis zur tänzerischen Rhythmisierung, Sprechakte einschließlich besonderer Stimmintonationen, gestisch-mimische Äußerungen, der Umgang mit Objekten und mit Ton, natürlich einschließlich des Musikalischen, generell die bewegungsmäßig orientierte, audiovisuelle Konstruktion und Vermittlung
(Präsentation)
von
‚Bild-Ton-Vorgängen‘,
einschließlich
der
filmisch-
phonographisch-elektronisch-mediatisierten Produktionen und deren Rezeptionsereignissen.“235
Eine ähnliche Beschreibung konstitutiver Techniken des Theatralen ist bei Andreas Kotte zu finden.236 Seine Theorie szenischer Vorgänge beschreibt diese als
233 Budde/Fiebach 2002, S. 19. 234 Budde/Fiebach 2002, S. 21. 235 Ebd. 236 Anm.: Kotte verwendet bewusst nicht den Begriff theatrale Vorgänge, da die Verwendung des Attributs theatral für ihn einen wesentlichen Nachteil mit sich bringt. Sein Anspruch ist nämlich, szenische Vorgänge aus dem Lebensprozess heraus zu entwickeln und nicht anhand des institutionalisierten Theaters. Er schreibt hierzu: „Aber die Wortverwandtschaft mit Theater – theatrale, folglich theatermäßige Vorgänge – würde dem Missverständnis Vorschub leisten, es gäbe einen leuchtenden Mond Theater, um und durch den sich ein Hof theatraler Vorgänge erst bilde.“ (Kotte 2005, S. 57ff.)
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kleinste beobachtbare bzw. bestimmbare Einheiten des Theatralen. 237 Szenische Vorgänge seien von Konsequenzverminderung und Hervorhebung geprägt, wobei beide Charakteristika vorhanden sein müssen, um von szenischen Vorgängen zu sprechen.238 Gleichzeitig macht er anhand des unsichtbaren Theaters Augusto Boals deutlich, dass es sich bei bestimmten Phänomenen zwar nicht um szenische, aber dennoch um theatrale Vorgänge handele, da sie von einem ganz eigenen Theaterverständnis ausgingen, das nicht zwangsläufig im Modus des Ästhetischen operiere. 239 Unter Konsequenzverminderung versteht Kotte weniger drastische bzw. andere Konsequenzen in Vorgängen. In seiner Argumentation bezieht er sich zum einen auf Inszenierungspraxen des institutionalisierten Theaters, wo der Tod einer Figur eben nicht den tatsächlichen Tod des/der Schauspieler*in zur Folge hat. Zum anderen wählt er Beispiele aus sportlichen Kontexten, in denen Regeln eine Konsequenzverminderung bedingen. 240 Das Kriterium Hervorhebung definiert Kotte als Zusammenspiel von örtlicher, gestischer und akustischer Hervorhebung sowie Hervorhebung mittels dinglicher Attribute. Bei Hervorhebung, so argumentiert Kotte, handele es sich nicht um eine Ableitung aus dem Theater, sondern um eine Ableitung aus dem „Lebensprozess“.241 Er definiert Hervorhebung daher allgemein als eine Strategie der Aufmerksamkeitslenkung. So beschreibt er Hervorhebung auch als „universelles Verfahren, Aufmerksamkeit zu erregen, und Gruppen von Agierenden und Schauenden zu bilden. Interpretationen verbinden einen Handlungs- und einen Bedeutungssowie einen strukturellen und einen funktionalen Aspekt.“ 242 Zusammenfassend hält Kotte fest: „Wenn beide Merkmale zusammentreffen, hervorgehoben und spielerisch, handelt es sich um szenische Vorgänge im Lebensprozess. Hierbei fungiert das konsequenzverminderte Handeln als notwendige, das Wahrnehmen der Hervorhebung in der Situation oder im Vorgang als hinreichende Bedingung. Agieren bewirkt hinschauen sowie eine Bewertung: agieren – schauen – urteilen. In der Hervorhebung verbindet sich sinnliche Körperbewegung mit Sinnfälligmachung, d. h. eine Handlung kann in der Hervorhebung über sich selbst hinausweisen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wechselt dabei von den
237 Vgl. Kotte 2005, S. 271. 238 Kotte 2005, S. 54. 239 Kotte 2005, S. 60. 240 Kotte 2005, S. 45ff. 241 Kotte 2005, S. 30. 242 Kotte 2005, S. 31.
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Körperbewegungen der Agierenden zur Wahrnehmung des Spielerischen im Hervorgehobenen selbst.“243
Theatralität und Inszenierung, so macht es den Anschein, sind im entsprechenden theater- und kulturwissenschaftlichen Diskurs unweigerlich miteinander verbunden. Während zwei unterschiedliche, sich allerdings überschneidende Zugänge zur Theorie der Theatralität bestehen, ist es in beiden die Inszenierung, die als Gesamtheit aller theatralen Elemente eines Phänomens betrachtet wird. Der eine Ansatz verfolgt die Vorgehensweise, Theater entweder als Strukturierungsmuster oder als Beschreibungsmetapher auf kulturelle Phänomene oder Spielarten gesellschaftlichen Zusammenlebens anzuwenden. Der zweite Ansatz entwickelt Theatralität als sozial-anthropologische Grundkategorie, die sich in vielen sozialen und kulturellen Phänomenen erkennen lässt. Theater wird dabei als eine besondere Form der Verdichtung von Theatralität konzipiert. In beiden Fällen beschreibt Inszenierung die Gesamtheit intentional konzipierter ästhetisch-struktureller Vorgaben für performative Vorgänge. Einige Ansätze beschreiben Theatralität als Bündel von inszenatorischen Elementen (Evreinov), andere als performatives Zusammenspiel von Darstellung und Wahrnehmung (Fischer-Lichte, Klein und Friedrich, Fiebach, Kotte) und wieder andere als bestimmten Handlungstypus (Fiebach, Stepina, Warstat). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Theatralität entweder als beobachtbares Resultat einer Inszenierung oder als Interaktionsmodus im Spiel von Darstellung und Wahrnehmung verstanden wird. An dieser Stelle wird unter Bezugnahme auf die bisher vorgestellten Positionen eine aktualisierte Konzeption von Theatralität skizziert. Diese wird als Gegenentwurf zu Theorien theatralen Handelns, unter Berücksichtigung von Kernaspekten praxeologischer Theorie, wie sie im vorherigen Kapitel aufgearbeitet wurde, als Theorie theatraler Praxis erarbeitet. Eine solcher Skizze von Theatralität muss zwangsläufig mit einer Ästhetik des Performativen im Einklang stehen. Grundlage dieser Konzeptualisierung von Theatralität ist Praxis als grundlegender Funktionsmodus des Sozialen. Dies basiert auf der Annahme, dass Theatralität nicht als ontologische Kategorie im Sinne eines objektiven Seinszustands zu verstehen ist, sondern vielmehr als relationale Kategorie, die sich im Zusammenspiel von Darstellung und Wahrnehmung entfaltet. Wie auch der Praxisbegriff den Vollzug des Sozialen als Zusammenspiel und Netzwerk von Akteur*innen, Artefakten und Räumen in einer bestimmten Zeitlichkeit meint, so ist dies auch auf die hier vorgeschlagene Konzeption von Theatralität zu übertragen. Praxis manifestiert sich in der Performativität von Praktiken, also dem 243 Kotte 2005, S. 57.
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situativen Spiel von Stabilität und Instabilität als Modus der Herstellung von Wirklichkeit. In diesem Sinne ist theatrale Praxis als eine Form der Praxis zu verstehen, in der mittels Praktiken der Hervorhebung ein Akteur*inZuschauer*in-Verhältnis hervorgebracht wird. Ob eine konkrete Praxis als theatrale Praxis bezeichnet werden kann, ist daher nur situativ zu beurteilen. Wesentlich bei dieser Konzeption ist, dass die Herstellung eines Akteur*inZuschauer*in-Verhältnisses nicht primär durch eine Inszenierung, sondern unmittelbar mittels Praktiken der Hervorhebung erzeugt wird. Inszenierung kann daher nur als Versuch gesehen werden, die situative Erzeugung von Theatralität zu begünstigen. Das tatsächliche Sich-entfalten von Theatralität geschieht allerdings performativ in der situativen Praxis. Das auf diese Weise entstehende Akteur*in-Zuschauer*in-Verhältnis unterliegt im performativen Prozess der autopoietischen feedback-Schleife auch einem möglichen Rollenwechsel. Zentral sind dabei die Fokussierung und Lenkung von Aufmerksamkeit. Ansätze für einen solchen Entwurf theatraler Praktiken können bei Schechner, Kotte, Fischer-Lichte und in besonderem Maße bei Eugenio Barba festgestellt werden. In Richard Schechners Performancetheorie nimmt der Körper eine zentrale Rolle in der Konstitution von (Cultural) Performances ein. Zwar sind andere Faktoren wie Räumlichkeit und Zeitlichkeit wesentlich an der Hervorbringung von Performances beteiligt, doch entfalten sie sich stets in Verbindung mit Körpern in routinisierten Bewegungsanordnungen. In Performances, so Schechner, sind im Gebrauch des Körpers bestimmte Prinzipien zu beobachten. „[O]rdinary behaviours“ sind aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und oftmals vereinfacht, stilisiert, rhythmisch und repetitiv sowie in Posen erstarrt. 244 Bei Kotte ist es die gestische Hervorhebung, die in Verbindung mit räumlicher Hervorhebung, akustischer Hervorhebung und Hervorhebung mittels dinglicher Attribute szenische (theatrale) Vorgänge erzeugt. Bei Fischer-Lichte ist es Körperlichkeit, die gemeinsam mit Räumlichkeit und Lautlichkeit die Materialität der Aufführung konstituiert. Bei Barba, mit dessen Theorie der Präsenz sich auch Fischer-Lichte wesentlich befasst hat, wird Präsenz und deren Wirkung körperlich-materiell mittels außeralltäglicher Ausnahmetechniken hervorgebracht, die sich im Wesentlichen durch einen erhöhten Energieaufwand auszeichnen. Die Definition von Ausnahmetechniken entwickelt Barba ausgehend von Marcell Mauss’ Theorie der Kulturtechniken als Alltagstechniken. 245 Ausnahmetechniken beziehen sich auf diese und heben sie energetisch hervor. Dies werde materiell in der Verkörperung von vier Prinzipien hervorgebracht: Gleichgewicht in
244 Vgl. Schechner 2013, S. 56. 245 Vgl. Mauss 2011.
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Aktion, Tanz der Gegensätze, Folgerichtige Folgewidrigkeit und Äquivalenz.246 Bei Barbas bios handelt es sich um eine prä-expressive Präsenz, die nicht primär Verkörperung im Sinne einer Verkörperung von Bedeutung meint, sondern affektiv Ergriffenheit und damit Aufmerksamkeit erzeugt. Bedeutung ist jedoch untrennbar mit (Cultural) Performances verbunden. Symbolische, zeichenhafte oder semiotische Aspekte müssen ebenfalls Bestandteile einer Theorie theatraler Praxis sein. Diese dürfen allerdings im Hinblick auf Bedeutungsprozesse nicht primär semiotisch, also kommunikationstheoretisch, sondern performativitätstheoretisch gedacht werden. Theatralität als theatrale Praxis sei demnach definiert als Praxis, in der sich mittels Hervorhebung performativ ein Performer*in-Zuschauer*in-Verhältnis entfaltet. Hervorhebung geschieht dabei durch Praktiken der Hervorhebung, die sich entweder im Modus des Sich-hervorhebens oder des Hervorgehobenwerdens entfalten. Hervorhebung erfolgt im Falle des Sich-hervorhebens körperlich, örtlich, akustisch oder mittels dinglicher Attribute. Im Falle des Hervorgehoben-w erdens durch Zuteilung von Aufmerksamkeit etwa durch Praktiken des Schauens. Von theatraler Praxis kann also entweder gesprochen werden, wenn Akteur*innen es schaffen, mithilfe von Praktiken der Hervorhebung performativ Aufmerksamkeit zu erzeugen und somit zu Performenden werden oder Akteur*innen zu Zuschauer*innen werden, indem sie andere Akteur*innen durch ihre fokussierte Aufmerksamkeit zu Performer*innen machen. Eine Inszenierung ist in dem hier vorgeschlagenen Modell keine notwendige Bedingung für das Auftreten von Theatralität als theatraler Praxis. Theatralität kann stattdessen performativ hervorgebracht werden, ohne dass dies einer bewussten Inszenierung bedarf. Inszenierung muss zudem, wie bereits bei Fischer-Lichte und Klein dargelegt, als Inszenierungs-Praxis gedacht werden. Inszenierung ist dieser Sichtweise nach nicht Konzept, sondern Praxis, auf die wiederum in einer Aufführung Bezug genommen wird. Während Theatralität keiner Inszenierung bedarf, um aufzutreten, ist die Praxis der Inszenierung der Versuch, Theatralität zu lenken und zielgerichtet in Erscheinung treten zu lassen. Dies kann von machtpolitischen bzw. emanzipatorischen Bestrebungen geleitet sein, wie Fiebachs Geschichte des Verhältnisses von Theatralität und Macht in unterschiedlichen Publikationen zum Zusammenhang von Theatralität und Politik247 sowie Subversion und Empowerment248 zeigt. Eine Inszenierung kann also, im Sinne FischerLichtes Ästhetik des Performativen, zwar Theatralität begünstigen, das tatsächliche in Erscheinung-treten ist aber performativ bedingt. Bei Praxen, denen eine 246 Vgl. Barba 1996, S. 81ff. 247 Meyer/Kampmann 1998; Klein 2003; Delbrouck 2004; Münkler 2013. 248 Drewes 2010; Lichtenfels/Rouse 2013; Woodson/Underiner 2018.
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Inszenierung zugrunde liegt, tritt Theatralität in der Regel auch auf; sie muss es aber nicht notwendigerweise und sie kann auch ohne Inszenierung in Erscheinung treten. In welchem Verhältnis steht Theatralität nun zu Normen, Werten und Idealen in (Cultural) Performances? Normen, Werte und Ideale, so die These, müssen in Bezug auf die Ästhetik des Performativen zum einen in der Selbstreferentialität der Praktiken liegen oder als Bedeutungen emergent sein. Die Emergenz von Normen, Werten und Idealen als Bedeutungen ist dabei assoziativ und durch den Habitus der Akteur*innen als Zuschauer*innen mitbestimmt. Inszenierung und Theatralität können also mit Lenkung der Aufmerksamkeit auch die Lenkung der Emergenz von Bedeutung, die Hierarchie von möglichen Bedeutungen und die Überzeugungskraft institutionell favorisierter Bedeutungen beeinflussen. Dabei sind es die Inszenierung, der Habitus der Akteur*innen und ihre emotionalassoziative Wahrnehmung, welche situativ und individuell Normen, Werte und Ideale performativ in der (theatralen) Praxis hervorbringen. Dies kann in der Praxis beobachtet werden, während jedoch zu beachten ist, dass jede Beobachtung als Messung eine Bedeutung erst generiert, potenziell jedoch so viele Bedeutungen existieren können, wie Akteur*innen beteiligt sind. Abseits der Verhandlung von Bedeutung, können theatrale Praktiken insbesondere mithilfe präexpressiver intersubjektiver Mechanismen sozial wirksam werden. Diese Wirkungsweise wird im Folgenden unter dem Begriff der Ritualität genauer erläutert. 3.2.4 Ritualität im Kontext von Cultural Performances Der Titel dieses Teilkapitels mag zunächst tautologisch erscheinen. Schließlich werden Rituale meist als konkrete Beispiele für Cultural Performances, wenn nicht gar synonym, verwendet. Dies ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass der Begriff „Cultural Performance“ zuallererst auf Basis der Analyse von Ritualen indigener Gemeinschaften begründet wurde.249 In diesem Teilkapitel geht es nicht um Rituale und ihre unterschiedliche Ausformung oder um unterschiedliche Ritualtheorien. Vielmehr geht es um das Konzept der Ritualität als kollektivstiftendes und transformatorisches Prinzip. Im Zentrum steht daher eine Theorietradition, die mit Émile Durkheim250 beginnend, Ritual als „eine spezifische Interaktionsordnung [bestimmt] und […] ihm einen besonderen Status für den
249 Vgl. Singer 1959; Turner 1970. 250 Vgl. Durkeim 2010.
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Bestand des Sozialen zu[weist]“251. Demnach werden Rituale in Anlehnung an Turner und Geertz als „transfomative Performanzen“ 252 gedacht, die zum einen über die Performativität von Symbolen als „verdichteten und mehrdeutigen Bedeutungsträgern“ gesellschaftliche Transformation ermöglichen und zum anderen gleichzeitig über die ko-körperliche Performanz die „trennenden Grenzen zwischen Individuen“ aufheben. Die „transformative Wirkung von Ritualen [wird] durch die den rituellen Performanzen eigentümliche Fähigkeit [erklärt], gleichzeitig die Emotionen und den Intellekt anzusprechen und beides so aufeinander zu beziehen oder ineinander fließen zu lassen, daß [sic!] es zu einer Rekreation oder gar ‚Heilung‘ des sozialen Zusammenhangs kommt“. 253 Da die Performativität von Bedeutung in dieser Arbeit bereits im Rahmen von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen behandelt worden ist, wird der Fokus daher nun auf die Performativität von Kollektiven gelegt. Wenn also im Kontext dieser Arbeit von Ritualität die Rede ist, so wird diese als performative Hervorbringung von Kollektivität in und durch theatrale Praktiken definiert. Die Bedingungen dieser Hervorbringung werden nun anhand des CommunitasBegriffs bei Victor Turner herausgearbeitet. Die Relevanz für die Performativität von Normen, Werten und Idealen, so die These, liegt in zwei Zusammenhängen begründet. Zum einen wirken die normativen Setzungen der Inszenierung durch die leibliche Erfahrung von Communitas sehr überzeugend nicht auf intellektueller, sondern auf emotionaler Ebene. Zum anderen kann die leibliche Erfahrung von Communitas in ihrer interkorporalen Materialität die Emergenz von Kollektivität als Wert und Ideal hervorbringen. Schließlich wird unter dem Konzept der Ritualität auch der Zusammenhang alltäglicher und außeralltäglicher Praxis behandelt. 3.2.4.1 Ritualität und Communitas Die auf Victor Turners Ritualtheorie basierenden Arbeiten betrachten Rituale nicht zuletzt als Mechanismen, mithilfe derer sich soziale Gruppen etablieren und erneuern. Turners Modell, das wiederum auf Überlegungen Arnold van
251 Klein/Friedrich 2003, S. 164. Anm.: Dem gegenüber gibt es Ritualtheorien, welche die „Regelhaftigkeit und Gerichtetheit rituellen Handelns [in den Vordergrund stellen]. Rituale erscheinen hier als wiederholbare Handlungen, feststehende Regeln bzw. Handlungsmodi (Catherine Bell) und können in der Psychoanalyse bis zum Ritualismus bzw. der neurotischen Zwangshandlung reichen.“ (Audehm 2014, S. 259) 252 Köpping/Rao 2000, S. 7. 253 Köpping/Rao 2000, S. 7.
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Genneps zur Struktur von Übergangsritualen 254 beruht, gliedert den rituellen Prozess in die Trennungsphase, in der die Akteur*innen die Sphäre des Alltäglichen verlassen, die Schwellenphase, welche die Hauptphase eines Rituals ausmacht, und die Angliederungsphase, die Wiedereingliederung in alltägliche Strukturen. 255 Nach Turner ist die Schwellenphase durch Liminalität gekennzeichnet, einen Zustand, in dem die darin befindlichen Akteur*innen als „Schwellenwesen“ „weder hier noch da [sind]; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen“256. Dieser Zustand ist also maßgeblich durch die Ambiguität der im Ritual eingebundenen Akteur*innen hinsichtlich ihrer alltäglichen sozialen Rollen gekennzeichnet. Turner selbst differenziert Liminalität in seinen Publikationen noch weiter aus. So schreibt er das Attribut liminal ausschließlich rituellen Vorgängen in „tribalen und frühagrarischen Gesellschaften mit ‚mechanischer Solidarität‘ (Durkheim)“ 257 zu, in denen die Teilnahme am entsprechenden Ritual für alle Mitglieder der sozialen Gruppe verpflichtend gewesen sei. Liminale Phänomene seien darüber hinaus „kollektiv und beziehen sich auf kalendarische, biologische und sozialstrukturelle Rhythmen“258. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch eine geteilte Bedeutungswelt aus, d. h., dass mögliche Symbole eines Rituals für alle Mitglieder der sozialen Gruppe die gleiche intellektuelle wie emotionale Bedeutung haben. Für das Aufrechterhalten der umfassenden Sozialstruktur seien liminale Phänomene von grundlegender funktioneller Bedeutung. 259 Das Attribut liminoid schreibt Turner hingegen Phänomenen zu, die in Gesellschaften mit ‚organischer Solidarität‘ auftreten (auch hier bezieht er sich auf Durkheim).260 Liminoide Phänomene seien eher der Sphäre der Freizeit zuzuordnen, damit also freiwillig und individuell und nichtkollektiv vorgegeben. Liminoide Phänomen weisen zudem oftmals einen Warencharakter auf, da sie miteinander „um allgemeine Anerkennung konkurrieren [müssen], und man [...] sie zunächst für auf einem ‚freien‘ Markt zum Kauf angebotene spielerische Darbietungen [hält].“261 Im Gegensatz zu liminalen Phänomenen, seien liminoide Phänomene oft Teil sozialer Kritik. In westlichen Gesellschaften bestünden beide Formen, so Turner, in „einer Art 254 Van Gennep 2005. 255 Turner 2005, S. 94. 256 Ebd. 257 Turner 2009, S. 83. 258 Turner 2009, S. 85. 259 Turner 2009, S. 86. 260 Turner 2009, S. 83. 261 Turner 2009, S. 86.
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kulturellem Pluralismus gleichzeitig nebeneinander.“262 Zur Relevanz der Unterscheidung zwischen liminal und liminoid stellt Fischer-Lichte in ihrer Einleitung zur aktuellen deutschen Ausgabe von Turners Vom Ritual zum Theater fest, dass obwohl vereinzelt aufgegriffen, sich diese Unterscheidung in den Kulturwissenschaften nicht durchgesetzt habe und stattdessen der Begriff des „Liminalen“ als umfassender Terminus verwendet werde.263 Daher soll auch im Rahmen dieser Arbeit von einer Unterscheidung zwischen liminalen und liminoiden Phänomenen abgesehen werden. Laut Turner werde Liminalität durch eine „Vielzahl von Symbolen, die diese Ambiguität und Unbestimmtheit des Schwellenzustands zum Ausdruck bringen“264, mitkonstituiert. Turner bezieht sich zwar hauptsächlich auf Symbole als konstitutive Faktoren, jedoch ist anhand der bisherigen theoretischen Überlegungen naheliegend, dass diese innerhalb von Praktiken-Komplexen eingebunden sind. Hierauf verweist auch Schechner, wenn er schreibt, dass die innerhalb des rituellen Kontexts, also insbesondere in der Schwellenphase, vollzogenen Praktiken Bezug auf alltägliche Praktiken aufweisen, jedoch neu angeordnet, überhöht, mehrfach wiederholt, fragmentiert oder unvollständig ausgeführt werden.265 Im Kontext der Schwellenphase, so Turner, ist immer wieder das Entstehen von Communitas zu beobachten. Communitas, nach Turner das zentrale gemeinschaftsbildende Prinzip in Ritualen, besteht in der Verbindung von Individuen zu einem Kollektiv(-körper). Bei genauerer Ausdifferenzierung dieses Phänomens, unterscheidet Turner zwischen spontaner Communitas, ideologischer Communitas und normativer Communitas. 266 Diese drei Formen der Communitas können gesondert auftreten, können aber auch aufeinander folgen und sich gegenseitig bedingen, wenn Communitas selbst Struktur entwickelt, indem sich „freie Beziehungen zwischen Individuen in normgeleitete Beziehungen zwischen sozialen Personen verkehren“267. Als spontane oder existenzielle Communitas268 beschreibt Turner die situative Hervorbringung, das unmittelbare prä-intellektuelle Erleben eines umfassenden Kollektivgefühls. So ist es oftmals diese Form der turnerschen Communitas, wenn dieses Konzept ganz allgemein oder wenig differenziert aufgegriffen wird. Es handelt sich dabei um ein emotionales Erleben von Einheit im Moment, um 262 Turner 2009, S. 86. 263 Fischer-Lichte 2009, viii. 264 Turner 2005, S. 94. 265 Schechner 2008, S. 106. 266 Turner 2009, S. 74. 267 Turner 2005, S. 129. 268 Turner 2005, S. 129.
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ein Gefühl von zwischenmenschlicher Verbundenheit basierend auf körperliche Ko-Präsenz. 269 In seiner Konzeptualisierung der spontanen Communitas stellt Turner diese in unmittelbaren Zusammenhang zu Mihály Csíkszentmihályis Konzept des flow oder Fluss.270 In diesem Zusammenhang führt er sechs zentrale Qualitäten fest, die den Kern eines flow-Erlebnisses ausmachen. Diese sind: •
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Das Erleben des Verschmelzens von Handeln und Bewusstsein: Der Vollzug von Bewegungen, Praktiken, Choreografien verläuft weitgehend automatisiert, was jedoch nicht geistige Abwesenheit bedeutet, sondern vielmehr ein in-dem-Moment-sein, ein bewusstes, jedoch nicht konzeptuelles Agieren. Bündeln der Aufmerksamkeit: Der Fokus liegt auf dem Hier und Jetzt und umfasst ein begrenztes Reizfeld. Hierfür ist ein „Wille zur Teilnahme“ notwendig, während eine Verdichtung und Begrenzung der Aktionsräume durch Regeln (eine Inszenierung) zusätzlich befördert werden kann. Ich-Verlust: Das Ich als verhandelnder, bewertender Akteur wird reduziert; „Selbstvergessenheit“ tritt auf. „Realität wird tendenziell so stark vereinfacht, daß [sic!] sie verständlich, definierbar und handhabbar wir.“ Das kinästhetische Bewusstsein wird erweitert, jedoch „seine volle Wirksamkeit […] gebrochen.“ Kontrolle über seine Handlungen und die Umwelt: Es entsteht ein subjektives Gefühl der Kontrolle; Verschwinden von Sorgen und Angst, aufgrund einer optimalen Auslastung, die weder als zu anspruchsvoll noch als zu anspruchslos empfunden wird. Nicht widersprüchliche Handlungsanweisung/klare, eindeutige Rückmeldung: Dies „ergibt sich aus der Einschränkung des Bewusstseins auf ein begrenztes Feld von Möglichkeiten.“ Keine Äußeren Ziele oder Belohnungen werden benötigt: Der Moment der Fluss-Erfahrung ist ein Moment der tiefen Zufriedenheit. FlussErfahrungen sind selbstzwecklich.271
Laut Turner besitze (spontane) Communitas „etwas von einer ‚Fluß‘-Qualität [sic!]“, sie könne aber spontan und unterwartet entstehen, sie bedürfe „zur Auslösung keiner Regeln“ 272 . Spontane Communitas könne als körperlichkollektives Flow-Erlebnis verstanden werden. Dies entstehe durch einen Dialog, 269 Vgl. Turner 2009, S. 74ff. 270 Turner 2009, S. 88ff; vgl. Csikszentmihalyi 2010. 271 Vgl. Turner 2009, S. 89ff. 272 Turner 2009, S. 92.
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„der sich sowohl der Worte als auch nichtverbaler Kommunikationsmittel bedient“273. Im Kontext dieser Arbeit wird spontane Communitas so verstanden, dass sie durch kollektive Fluss-Erlebnisse performativ hervorgebracht wird. Dies wird wiederum durch theatrale Praktiken ermöglicht, insbesondere, wenn diese, wie Schechner schreibt, auf Vereinfachung, Stilisierung, Codifizierung und Rhythmisierung basieren. Dies kann sowohl spontan entstehen, aber auch durch eine Inszenierung explizit begünstigt werden. Symbole sind stets Teil solcher Prozesse. So schreibt Turner: „Gewiß [sic!] sind die Communitas- und ‚Fluß‘[sic!]Prozesse von den Bedeutungen der Symbole, die sie hervorbringen oder durch die sie kanalisiert werden, durchdrungen.“274 Ebenso fragt er allerdings: „Sind aber alle ‚Flüsse‘ eins oder weisen die Symbole auf verschiedene Arten und Tiefen des ‚Flusses‘ hin?“ 275 Einer praxeologischen Argumentation folgend, kann Turners Frage wie folgt beantwortet werden: Für das Hervorbringen von Fluss-Erlebnissen und Erfahrungen spontaner Communitas ist die Semantik der Symbole prinzipiell irrelevant. Einzig ihrer Materialität kann eine konstitutive Funktion zugeschrieben werden, wie auch ihrer Einbindung in theatrale Praktiken. Neben der spontanen Communitas nennt Turner als weitere Form die ideologische Communitas. Diese beschreibt Turner als Versuch, „die äußeren und sichtbaren Auswirkungen […] einer inneren Erfahrung der existenziellen [spontanen] Communitas zu beschreiben, als auch zugleich der Versuch, die optimalen Bedingungen, unter denen solche Erfahrungen entstehen und gedeihen, zu benennen. […] Es ist das Schicksal einer jeden, in der Geschichte auftretenden spontanen Communitas, sich in einem, von den meisten Menschen als ‚Niedergang und Verfall‘ aufgefaßten [sic!] Prozeß [sic!] in Struktur und Gesetz zu verwandeln.“276 Bei der ideologischen Communitas ist nicht „durch ‚Fluß‘ [sic!] geprägte Zusammenarbeit, sondern das Zusammen-‚sein‘ von wesentlicher Bedeutung, wobei ‚sein‘, nicht ‚tun‘ das Wort ist, auf das es ankommt.“277 Ideologische Communitas basiert in diesem Sinne oftmals auf kollektiven Erinnerungen an gemeinsam erlebte spontane Communitas. Diese Erinnerungen werden in kognitiv-reflexiven Prozessen verarbeitet und etwa in konkrete Utopie-Entwürfe modelliert und geteilt. Ideologische Communitas ist damit, und so versteht es auch Turner, im Gegensatz zur spontanen Communitas in erster Linie nicht auf 273 Turner 2009, S. 93. 274 Turner 2009, S. 94. 275 Ebd. 276 Turner 2005, S. 129. 277 Turner 2009, S. 76.
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der Ebene körperlicher Vollzüge, sondern auf der Ebene von Diskursen zu verorten. Die kollektive Erinnerung an die ästhetische bzw. rituelle Erfahrung der spontanen Communitas dient dabei als Bewertungsmaßstab für die reflexivdiskursive Entstehung von ideologischer Communitas. Es wäre daher festzuhalten, dass es sich bei der spontanen Communitas um eine unmittelbar ko-präsente Gemeinschaft handelt, während es sich bei einer ideologischen Communitas eher um eine Gemeinschaft im Geiste handelt. Normative Communitas beschreibt laut Turner schließlich ein verfestigtes soziales System. Die Anti-Struktur der spontanen Communitas ist hier vollends in Struktur aufgegangen. Er verweist hier etwa auf (populärkulturelle) Subkulturen, die sich auf Basis kollektiver Communitas-Erlebnisse (auf Konzerten oder Festivals) herausbilden und gleichsam versuchen, derartige Erlebnisse auf dauerhafter Basis zu ermöglichen und zu fördern.278 Da diese Form der Communitas dauerhaft im Zerfall begriffen ist, braucht es immer wieder das kollektive Erleben spontaner Communitas, um den Zusammenhalt der Gruppe fortzuführen. 3.2.4.2 Ritualität und Alltäglichkeit: Struktur und Anti-Struktur Der Begriff des Alltags oder der Alltäglichkeit ist im Kontext der PerformanceForschung nicht unproblematisch. Während diese Begriffe in der Alltagssprache geläufig verwendet werden, um Gleichmäßigkeit oder Routine gegenüber „besonderen“ Ereignissen abzugrenzen, so ist diese Unterscheidung im performancetheoretischen Diskurs weniger eindeutig auszumachen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass in der Performance-Forschung Tendenzen vorherrschen, das Konzept der Performance nicht nur auf künstlerische Praxis anzuwenden, sondern auch auf jene Sphäre, die alltagssprachlich als Alltag bezeichnet würde279. Daher wird auch an dieser Stelle vom Begriff des Alltäglichen abgesehen und stattdessen auf die Unterscheidung von Victor Turner zurückgegriffen, der den Kern des Rituals in einer Anti-Struktur ausmacht. Obwohl Turner schreibt, dass liminale Phänomene oftmals „Umkehrungen, Inversionen, Verkleidungen, Negationen, Antithesen der alltäglichen, ‚positiven‘ oder ‚profanen‘ kollektiven Repräsentationen“280 sind, liegt der wesentliche Punkt von AntiStruktur für Turner nicht in einer Umkehrung oder Negation von Struktur(en), sondern vielmehr in deren Aufhebung. Anti-Struktur meint nach Turner konkret die „Befreiung der kognitiven, affektiven, volitionalen, kreativen usw. Fähigkei278 Vgl. Turner 2009, S. 76. 279 Vgl. Klein/Sting 2005, S. 7. 280 Turner 2009, S. 86.
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ten des Menschen von den normativen Zwängen, die sich aus dem Innehaben einer Reihe aufeinanderfolgender Statuspositionen, dem Spielen einer Vielzahl sozialer Rollen und der bewußten [sic!] Zugehörigkeit zu korporierten Gruppen wie der Familie, der Lineage, dem Klan, dem Stamm, der Nation usw. oder zu sozialen Kategorien wie einer Klasse, einer Kaste, einem Geschlecht oder einer Altersgruppe ergeben.“281 Anti-Struktur schafft damit eine Alterität zur Struktur des Alltags und biete damit eine Möglichkeit der kritisch-reflexiven Distanziertheit. Die Anti-Struktur liminaler Phänomene bietet daher das Potential, strukturelle Probleme, Konflikte oder Krisen durch ein temporäres Heraustreten lösen zu können bzw. Lösungsansätze für diese zu finden. In diesem Zusammenhang ist Turners Konzept des Sozialen Dramas erwähnenswert. Mit dem Sozialen Drama282 beschreibt Turner die Dramaturgie sozialer Konflikte analog zur Dramaturgie Aristoteles’ in Bruch, Krise, Bewältigung und Reintegration oder Anerkennung der Spaltung.283 In diesem vierstufigen Modell führt der Bruch einer sozialen Norm zu einem sozialen Konflikt, in dem sich verschiedene Parteien und Gruppierungen bilden und somit das Fortbestehen der sozialen Gruppe gefährden. Liminale Phänomene, worunter etwa auch juristische Verhandlungen gezählt werden können, bieten hier die Möglichkeit der Klärung struktureller Konflikte und ggf. Neuverhandlung struktureller Elemente im Rahmen der Anti-Struktur. Je nach Verlauf und Wirksamkeit des liminalen oder rituellen Prozesses, der zur Lösung der Krise eingesetzt wurde, kommt es daraufhin entweder zu einer Reintegration der Konfliktparteien in die soziale Struktur oder einer, zumeist auch räumlichen, Spaltung der sozialen Gruppe. Zwischen dem „realen“ sozialen Drama oder sozialer Performance und dem rituellen Prozess oder ästhetischer (theatraler) Performance besteht eine wechselseitige Beziehung, die Richard Schechner in Form einer horizontal ausgerichteten Acht darstellt (Siehe Abb. 1).
281 Turner 2009, S. 68. 282 Vgl. Turner 2009, S. 95ff; Schechner 2013, S. 70. 283 Turner 2009, S. 108.
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Abbildung 1: Schechners „Loop-Model“
Schechner, Richard. 2013. Performance Studies: An Introduction, New York: Routledge, S. 77.
Schechners Konzept beschreibt, dass sich ästhetische Performances auf Praxen und Praktiken aus der sozialen Struktur beziehen, diese modulieren und neu verhandeln und wiederum gleichermaßen eine qualitative Wirkung auf existierende soziale Strukturen ausüben, indem sie, etwa auf der Ebene von Praktiken, diese beglaubigen oder transformieren. 284 Es kann also zusammengefasst werden, dass Ritualität – wie dieser Begriff im Kontext dieser Arbeit verstanden werden soll – die Qualität eines sozialen Phänomens beschreibt, die sich im Modus der Anti-Struktur auf existierende soziale Strukturen bezieht. Dabei lässt sich auch von ritueller Praxis sprechen, welche zugleich eine theatrale Praxis, die in theatralen Praktiken und durch selbige hervorgebracht wird, ist.285 Mit dieser Qualität gehen zwei Aspekte einher: Erstens, die performative Hervorbringung (spontaner) Communitas, und zweitens, die performative Bezugnahme auf soziale Struktur bzw. Praxis und deren Stabilisierung oder Transformation im Modus der strukturellen Offenheit und Distanz und gleichzeitig emotionaler und symbolischer Verdichtung. Wie bereits im bisherigen Verlauf dieses Teilkapitels angeklungen ist, ist Transformation ein zentraler Wirkungszusammenhang in rituellen Praxen. Turner selbst schreibt, dass Rituale als liminale Praxen in der Regel mit einer Transformation der beteiligten Akteur*innen verbunden sind. Dabei kann es sich zum einen um Transformationen gesellschaftlichen Status handeln (ein Junge wird zum
284 Vgl. Schechner 2013, S. 76. 285 Vgl. Wulf et al. 2004, S. 371.
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Mann/Krieger, Ledige werden Eheleuten, Kranke zu Gesunden) oder um Transformationen von Gemeinschaften im Sinne von Erneuerungen oder Aktualisierungen. Demnach kann also auch eine Stabilisierung von Gemeinschaften als Erneuerung, Aktualisierung oder gar Transformation verstanden werden, wenn brüchige, im Zerfall begriffene Gemeinschaften in rituellen Praxen transformiert und erneuert werden. Hier spielt nicht zuletzt das Wirken von Communitas eine essenzielle Rolle. Im Falle von ästhetischen Erfahrungen, wie etwa in künstlerischen Aufführungen oder ähnlich liminoiden Cultural Performances, so merkt Fischer-Lichte an, kann von einer Transformation gesellschaftlichen Status nicht die Rede sein.286 Die Transformationen, die hier stattfinden, seien lediglich temporär für die Dauer der Aufführung oder gar nur für eine bestimmte Zeit innerhalb der Aufführung.287 Doch auch wenn die unmittelbare Transformation der Akteur*innen nur für die Dauer der Aufführung besteht, so kann dennoch angenommen werden, dass die Transformationserfahrungen, besonders wenn die Aufführung wiederholt oder sogar in regelmäßigen Abständen erfolgt, als prägende und somit kontinuierlich transformierende Erfahrungen (pädagogisch) wirksam werden können. Unter Beachtung dieser umfassenden Konzeption stellt sich weiterführend die Frage, wie sich Wirkung und Wiederholung von rituellen Prozessen zueinander verhalten, was wiederum mit der Frage nach der Wirksamkeit theatraler Praktiken verbunden ist. Eine mögliche These könnte sein, dass je wirkungsunmächtiger theatrale Praxen und ihre rituelle Wirkung sind, diese umso häufiger vollzogen bzw. aufgeführt werden müssen, um soziale Wirkung zu entfalten. Wirkung ist hier im Sinne einer Wirkungsästhetik zu verstehen, wie etwa in Aristoteles’ Konzept der Katharsis288, des im altindischen Theater-/Tanzmanual Natyasastra thematisierten rasa 289 sowie dem bildungswirksamen Theater von Lessing, Schiller und Goethe290 bis hin zur neuen Wirkungsästhetik bei Georg Fuchs, Antonin Artaud291 und später Grotowski, Nitsch und Schechner292. Zum Verhältnis von Ritualität und der Performativität von Normen, Werten und Idealen ist festzuhalten, dass in der rituellen Praxis auf strukturell verkörperte Normen, Werte und Ideale Bezug genommen wird. Rituelle Praxis bietet dabei einen emotional, materiell und symbolisch verdichteten Rahmen, in dem strukturelle 286 Fischer-Lichte 2017, S. 307. 287 Fischer-Lichte 2017, S. 313. 288 Vgl. Fischer-Lichte 2017, S. 332ff. 289 Vgl. Fischer-Lichte 2017, S. 332ff. 290 Ebd. 291 Siehe: „Theater der Grausamkeit“, Artaud 1996. 292 Vgl. Fischer-Lichte 2017, S. 332ff.
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Normen, Werte und Ideale konzentriert verhandelt werden können. Die performative Hervorbringung von Communitas ermöglicht dabei die unmittelbare Erfahrung von Gemeinschaft, was gleichzeitig eine starke Überzeugungskraft bezüglich der im rituellen Prozess verhandelten Normen, Werte und Ideale ausüben kann. 3.2.5 Taekwondo als Cultural Performance: Performativität, Theatralität und Ritualität Nachdem eine Konzeptualisierung des Taekwondo als Praxis bereits unter Abschnitt 3.1.5 unternommen worden ist, liegt der Fokus an dieser Stelle auf der Erweiterung der vorherigen Konzeptualisierung des Taekwondo als Cultural Performance. Dies geschieht als Weiterführung der Studie Taekwondo zwischen Spektakel und Ritual. Kampfkunst im sozialpolitischen Kontext293, deren Entwurf hier unter Berücksichtigung praxistheoretischer Ansätze aktualisiert wird. Den Taekwondo-Wettkampf oder die für Taekwondo spezifischen Demonstrationen als Cultural Performances zu konzipieren ist naheliegend, handelt es sich doch offensichtlich um Aufführungskontexte mit klar definierten Performer*innen und Zuschauer*innen. In der soeben erwähnten Studie und den darauffolgenden Veröffentlichungen wurde darüber hinaus der Versuch unternommen, auch das Training selbst als Cultural Performance und somit als Aufführungskontext zu theoretisieren.294 Dies ist im Vergleich zum eindeutig gerahmten Aufführungskontext deutlich schwieriger, da es sich in der Trainingssituation eben nicht um einen Zusammenhang handelt, der ein formal vorgegebenes, klar gegliedertes Performer*in-Zuschauer*in-Verhältnis beinhaltet. Wie in Abschnitt 3.2.3.1 gezeigt, bedarf die performative Hervorbringung eines Performer*inZuschauer*in-Verhältnisses jedoch nicht zwangsläufig einer formellen Unterteilung. Dieses kann stattdessen performativ, etwa mittels theatraler Praktiken, hervorgebracht werden. Es gilt daher zu fragen, ob solch theatrale Praktiken tatsächlich einen wesentlichen Teil der Trainings-Praxis des Taekwondo ausmachen. Diese Frage wird im Rahmen des empirischen Teils dieser Arbeit unter anderem thematisiert. An dieser Stelle steht jedoch eine Vorüberlegung zu theatralen Praktiken in der Taekwondo-(Trainings-)Praxis. Schechners restored behaviour, Barbas Ausnahmetechniken und Gebauers Mimesis-Konzept basieren alle auf der Annahme, dass in Performances Bewegungen, Gesten oder Praktiken aus alltäglichen Zusammenhängen gelöst sind und weitestgehend stilisiert, codi-
293 Minarik 2014. 294 Minarik 2016; 2017a; 2017b.
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fiziert bzw. auf unterschiedliche Arten hervorgehoben werden. Auf diese Weise werden Emotionen hervorgerufen, Assoziationen geweckt und Aufmerksamkeit gelenkt. Gleichzeitig kann gerade auf diese Weise ein Performer*inZuschauer*in-Verhältnis performativ hervorgebracht werden. „Kampf strebt“, so Axel Binhack, „strukturell und tendenziell, in sich selbst und durch sich selbst zu seinem schnellstmöglichen Ende.“ 295 Analog zu Barbas Definition, Ausnahmetechniken bezögen sich auf zweckgerichtete Techniken des „Alltags“, bezieht sich Taekwondo als Martial Art hingegen auf Praktiken des Kämpfens, die entweder „natürlichen“, also instinktiven Bewegungen des Angreifens oder Verteidigens, oder bereits systematisierten, aber überwiegend funktionalen Kampfsystemen entlehnt sind.296 Praktiken, die in ihrem strukturellen Kontext dem Paradigma folgen, einen Kampf möglichst schnell zu beenden, werden in der Taekwondo-Praxis diesem funktionalen Paradigma enthoben und stattdessen stilisiert, codifiziert und rhythmisiert – kurz, ästhetisch hervorgehoben. Einen besonderen Stellenwert, auch im Vergleich zu anderen Martial Arts, wird im Taekwondo ästhetisierten Fußtechniken bzw. AusnahmeFußtechniken 297 beigemessen, die aufgrund ihrer Bedeutsamkeit kurz erwähnt werden sollen. Während im Allgemeinen Fußtechniken, die Bereiche über der Gürtelhöhe des/der Gegner*in zum Ziel haben, in einem (regellosen) Kampf als besonders ineffizient und gar selbstgefährdend gelten, sind es gerade diese Techniken, die einen zentralen Stellenwert im Taekwondo einnehmen. Dies umfasst nicht nur Fußtechniken zum Oberkörper oder Kopf des/der Gegner*in, sondern darüber hinaus sogar (mehrfach) gedrehte und gesprungene Fußtechniken. Deren Effizienz im Kampf ist, auch bei gegenteiliger Argumentation, sehr gering einzuschätzen.298 In den erwähnten Studien299 werden noch weitere Tech295 Binhack 1998, S. 30. 296 Vgl. Minarik 2017b. 297 Minarik 2014, S. 126. 298 In Gesprächen mit anderen Taekwondoin wurde von diesen wiederholt argumentiert, dass hohe, gedrehte und gesprungene Fußtechniken durchaus effektiv sein könnten, insbesondere da sie aufgrund der Größe der involvierten Muskelgruppen in der Regel eine weitaus höhere Durchschlagskraft besäßen, als vergleichbare Handtechniken. Diese potenzielle Effektivität ändert jedoch nichts an ihrer mangelnden Effizienz. Diese Besteht zum einen in dem höheren Energieaufwand, der für die Ausführung notwendig ist und zum anderen aus den potenziellen Gefahren, die mit solchen Techniken verbunden sind. Hohe, gedrehte und gesprungene Techniken sind in der Regel langsamer als vergleichbare Handtechniken, sind im Ansatz leichter zu erkennen und bieten bei Misslingen Öffnung für einen möglichen Gegenangriff. Darüber hinaus sind sie einerseits mit dem Verlust eines festen Standes verbunden und bieten
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niken und Praktiken genannt, die dem Prinzip der Ausnahmetechniken bzw. theatraler Praktiken entsprechen. Auf sie wird im empirischen Teil genauer eingegangen. Die Art und Weise der Hervorhebung, die ästhetischen Ideale, nach deren Maßgabe die Theatralisierung dieser Techniken und Praktiken im Taekwondo abläuft, geschieht wiederum unter Bezugnahme auf gesellschaftliche Strukturen, Trends und Geschmäcker und kann demnach, mit Bezug auf Gunter Gebauer, Robert Schmid und Thomas Alkemeyer, gleichsam als Mimesis der Gesellschaft verstanden werden.300 Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Aspekte der bisher im Kapitel 3 erarbeiteten theoretischen Vorüberlegungen zusammengefasst und evaluiert werden. Am Ende steht eine theoretische Arbeitsgrundlage für die anschließende empirische Untersuchung der Taekwondo-Praxis.
3.3. ZWISCHENBILANZ UND KONKRETISIERUNG DER FORSCHUNGSFRAGEN Die bislang erarbeitete theoretische Grundlage zielt darauf ab, soziale Wirklichkeit zu beschreiben und zu theoretisieren. Soziale Wirklichkeit ist demnach in seiner Gesamtheit unter dem Paradigma der Praxis zu denken. Wie in Abschnitt 3.1 ausgeführt, konstituiert sich soziale Wirklichkeit als Praxis, die wiederum maßgeblich durch Praktiken bestimmt ist – konventionalisierten ways of doing. Diese Praktiken besitzen zwar mentale Aspekte, sind jedoch in besonderem Maße durch Wiederholung und Routine geprägt. Sie sind die wesentlichen Einheiten, in denen und durch die Subjekte mit der Welt interagieren. So wie Subjekte mithilfe von Praktiken mit ihrer Umwelt in Beziehung treten, werden eben diese selbst gleichermaßen in der Praxis durch Praktiken geformt, sozialisiert oder subjektiviert. Normen, Werte und Ideale werden dieser Sichtweise nach nicht in der Praxis repräsentiert, sondern werden erst hier/durch diese hervorgebracht. Gleichzeitig werden Normen, Werte und Ideale in der sozialen Welt durch politische und/oder kulturelle Institutionen aber auch durch einzelne Individuen bewusst artikuliert. Die Normen, Werte und Ideale, welche implizit in der Praxis hervorgebracht werden, können Überschneidungspunkte mit den verbal
andererseits die Möglichkeit eines (simultanen) Gegenangriffs zum Genitalbereich. Sowohl der Verlust eines festen Standes als auch die Öffnung des eigenen Genitalbereichs sind zwei Konsequenzen, die in einem potenziell tödlichen Kampf fatale Folgen haben können. 299 Minarik 2014; 2016; 2017a; 2017b. 300 Vgl. Abschn. 3.1.4.
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niken und Praktiken genannt, die dem Prinzip der Ausnahmetechniken bzw. theatraler Praktiken entsprechen. Auf sie wird im empirischen Teil genauer eingegangen. Die Art und Weise der Hervorhebung, die ästhetischen Ideale, nach deren Maßgabe die Theatralisierung dieser Techniken und Praktiken im Taekwondo abläuft, geschieht wiederum unter Bezugnahme auf gesellschaftliche Strukturen, Trends und Geschmäcker und kann demnach, mit Bezug auf Gunter Gebauer, Robert Schmid und Thomas Alkemeyer, gleichsam als Mimesis der Gesellschaft verstanden werden.300 Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Aspekte der bisher im Kapitel 3 erarbeiteten theoretischen Vorüberlegungen zusammengefasst und evaluiert werden. Am Ende steht eine theoretische Arbeitsgrundlage für die anschließende empirische Untersuchung der Taekwondo-Praxis.
3.3. ZWISCHENBILANZ UND KONKRETISIERUNG DER FORSCHUNGSFRAGEN Die bislang erarbeitete theoretische Grundlage zielt darauf ab, soziale Wirklichkeit zu beschreiben und zu theoretisieren. Soziale Wirklichkeit ist demnach in seiner Gesamtheit unter dem Paradigma der Praxis zu denken. Wie in Abschnitt 3.1 ausgeführt, konstituiert sich soziale Wirklichkeit als Praxis, die wiederum maßgeblich durch Praktiken bestimmt ist – konventionalisierten ways of doing. Diese Praktiken besitzen zwar mentale Aspekte, sind jedoch in besonderem Maße durch Wiederholung und Routine geprägt. Sie sind die wesentlichen Einheiten, in denen und durch die Subjekte mit der Welt interagieren. So wie Subjekte mithilfe von Praktiken mit ihrer Umwelt in Beziehung treten, werden eben diese selbst gleichermaßen in der Praxis durch Praktiken geformt, sozialisiert oder subjektiviert. Normen, Werte und Ideale werden dieser Sichtweise nach nicht in der Praxis repräsentiert, sondern werden erst hier/durch diese hervorgebracht. Gleichzeitig werden Normen, Werte und Ideale in der sozialen Welt durch politische und/oder kulturelle Institutionen aber auch durch einzelne Individuen bewusst artikuliert. Die Normen, Werte und Ideale, welche implizit in der Praxis hervorgebracht werden, können Überschneidungspunkte mit den verbal
andererseits die Möglichkeit eines (simultanen) Gegenangriffs zum Genitalbereich. Sowohl der Verlust eines festen Standes als auch die Öffnung des eigenen Genitalbereichs sind zwei Konsequenzen, die in einem potenziell tödlichen Kampf fatale Folgen haben können. 299 Minarik 2014; 2016; 2017a; 2017b. 300 Vgl. Abschn. 3.1.4.
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oder schriftlich artikulierten Normen, Werten und Idealen aufweisen oder ihnen gar entgegenstehen. Die Logik der Praxis ist eine eigene Logik, die sich aus den performativ verhandelten Praktiken analytisch ableiten lässt. Praxis und Praktiken und damit auch die mit ihnen verbundenen impliziten Normen, Werte und Ideale sind sowohl durch Stabilität als auch gleichzeitig durch Instabilität geprägt. Dieses Verhältnis wird in der Praxis performativ ausgehandelt. Cultural Performance, zu denen auch populäre Bewegungskulturen zu zählen sind, können als besondere Manifestationen sozialer Praxis bezeichnet werden, da in ihnen durch Einbindung theatraler Praktiken Theatralität in fokussierter Form hervorgebracht werden kann. Theatralität ist dabei wiederum als performative Hervorbringung eines Performer*in-Zuschauer*in-Verhältnisses zu verstehen, das sich in einer autopoietischen feedback-Schleife entfaltet. Mit der Erzeugung eines Performer*in-Zuschauer*in-Verhältnisses ist die Lenkung von Aufmerksamkeit und potenziell eine Hierarchisierung von Bedeutungen verbunden. Es handelt sich um emotional und materiell fokussierte Praxen, die aufgrund ihrer unmittelbaren körperlich-emotionalen Wirkung eine besondere Rolle für die Performativität von Normen, Werten und Idealen spielen. Sie sind fokussierte Möglichkeiten der Tradition und Transformation sozialer Struktur, indem sie sich auf soziale Struktur beziehen und gleichzeitig von dieser entrückt sind. Dies wird durch theatrale Praktiken begünstigt, die sich mimetisch auf strukturelle Praktiken beziehen und diese in mehrerlei Hinsicht hervorheben. Cultural Performances sind in diesem Sinne als Rahmungen zu begreifen, welche die performative Hervorbringung theatraler Praxen begünstigen. Cultural Performances als theatrale Praxen können rituelle Wirkung entfalten. Zum einen in der performativen Hervorbringung von (spontaner) Communitas sowie transformatorisch in der performativen Bezugnahme auf strukturelle Praxis, etwa Habitus und soziale Rollen. In ihrer rituellen Funktion sind Cultural Performances soziale Katalysatoren, deren Wirkungsgrundlage Theatralität ist. Sie bieten besonderes Potential für Gemeinschaftsbildung, Gemeinschaftserhaltung und -verhandlung sowie die Bewältigung struktureller Krisen. Aufgrund der Beeinflussung performativer Prozesse und bei gleichzeitiger anti-struktureller Freiheit bieten sie ein Potential zur Implementierung von Normen, Werten und Idealen, wo nicht zuletzt Bildungs- und Subjektivierungsprozesse anknüpfen.301 In ihrer Anti-Struktur und Gemeinschaftlichkeit (Communitas) bieten Cultural Performances außerdem die Möglichkeit der Neuverhandlung von Normen, Werten und Idealen. Welche der beiden Tendenzen – Tradition oder Transformation – nun vorrangig auftritt, ist in der Performativität der Praxis zu finden, kann
301 Vgl. Alkemeyer 2004; 2013; Wulf et al. 2004; 2001.
130 | Im Gleichschritt des Dao
also nur in jedem einzelnen Fall gemessen werden. In der Praxis kann dies sogar auf unterschiedliche Akteur*innen individuell unterschiedlich zutreffen. Auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen ergeben sich nun folgenden Spezifizierungen der forschungsleitenden Fragestellungen, die im zweiten Teil der Arbeit empirisch untersucht werden sollen: • • • •
Welche Praktiken(-Ensembles) rahmen die Praxis des Taekwondo? Wie wird Taekwondo Spirit als Bedeutung in der Praxis hervorgebracht? Welche Rolle spielen theatrale Praktiken in der Trainingspraxis? Wie ist die Rolle des Taekwondo als theatrale Praxis im Kontext individueller und Kollektiver Transformationsprozesse einzuordnen?
4. Einführung in die Empirie: Methodologische Vorüberlegungen und Orientierung im Feld
Kapitel 4 dient als Einführung in den empirischen Teil dieser Arbeit. So umfasst es im ersten Teil (4.1-4.4) methodologische Vorüberlegungen zur empirischen Forschungsarbeit, worauf sich im zweiten Teil eine Einführung in das konkrete Feld der Fallstudie anschließt. Gegenstand des ersten Teils ist zunächst das methodische Vorgehen im Rahmen der Datenerhebung und -aufarbeitung sowie deren Analyse. Im weiteren Verlauf werden die Datenquellen wie auch die Methode der Datenerhebung vorgestellt und ihre Vorteile in Bezug auf die forschungsleitende Fragestellung diskutiert. Im Zusammenhang damit werden die unterschiedlichen Formen der Datenaufzeichnung erläutert und ebenfalls hinsichtlich ihrer Eignung erörtert. Im Anschluss werden die Probleme der Forschungsmethode, sowohl im Allgemeinen als auch im Speziellen, im Kontext dieser Studie thematisiert. Zentral sind dabei die Probleme des going native und der Validierung von Befunden. Anschließend wird das Vorgehen in der Strukturierung der Rohdaten und der theoriegeleiteten Analyse des aufgearbeiteten Datenkorpus behandelt. Im zweiten Teil (4.5) wird schließlich eine Einführung in das Feld der Fallstudie gegeben. In diesem Zusammenhang wird der Zugang zum Feld (Kontaktaufnahme und Orientierung vor Ort) vorgestellt. Es folgt eine kurze Einführung zur untersuchten Taekwondo-Schule und eine umfangreiche Erörterung zum Entscheidungsprozess, inwieweit es sich bei der Wahlschule um ein wissenschaftlich fundiertes Vorgehen handelte. Da bei der Schulwahl von der ursprünglich geplanten Vorgehensweise abgewichen werden musste, wird der Erörterung zum Auswahlprozess entsprechend viel Platz eingeräumt.
132 | Im Gleichschritt des Dao
4.1
BEOBACHTENDE TEILNAHME ALS FORSCHUNGSMETHODE IN DEN MARTIAL ARTS STUDIES: METHODISCHE GRUNDLAGEN, DATENERHEBUNG UND -AUFZEICHNUNG
Das forschungsleitende Erkenntnisinteresse bezüglich der performativen Hervorbringung des Taekwondo Spirit ist ein grundlegend qualitatives: Es geht um die Frage, was auf welche Art und Weise hervorgebracht wird und wie dies untersucht werden kann. Gleichsam geht es um eine lebensweltliche Untersuchung. Daher ist eine Erhebungsmethode gefragt, die sowohl für eine qualitative Fragestellung geeignet ist als auch für die Zielsetzung, im Sinne Erving Goff1 mans, „soziale Natur“ in ihrem „natürlichen Umfeld“ zu untersuchen. Hierfür ist die Methode der Teilnehmenden Beobachtung dienlich, da sie sich dadurch auszeichnet, dass Forscher*innen an den untersuchten sozialen Situationen teilnehmen sowie diese dokumentieren und analysieren. Im Kontext der Martial Arts Studies ist bereits eine Vielzahl von Studien erschienen, die sich im Kontext der Erforschung von Trainings- oder Wettkampfpraxen einer solchen Forschungsmethodik bedient haben und als methodologische Ansatzpunkte für die vorliegende Studie dienen. Während erste Arbeiten bereits bei Donn F. Draeger 2 verzeichnet werden können, ist seit den 2000er Jahren ein Anstieg von Arbeiten mit diesem methodischen Schwerpunkt zu beobachten. 3 Monografien dieses Zugangs wurden etwa von Philipp Zarilli zum Kalarippayattu4 in Indien, von Loïc Wacquant zum Boxen in Chicago5 und von D. S. Farrer zum indonesischen und malaysischen Silat6 vorgelegt. In seinem Beitrag Performance Ethnography legte Farrer darüber hinaus eine umfangreiche methodologische Beschreibung seiner eigenen Forschungsmethoden vor.7 Weitere Monografien sind etwa von Larissa Schindler zu Vermittlungspraxen im Ninjutsu8, von Dale C. Spencer9, Michael Staak10 und Janet O‘Shea11 zur Trainingspraxis im Mixed Martial Arts
1
Raab 2008, S. 35ff.
2
Vgl. Abschn. 1.1.
3
Vgl. Jennings 2019.
4
Zarrilli 2000.
5
Wacquant 2004.
6
Farrer 2009.
7
Farrer 2018.
8
Schindler 2011.
9
Spencer 2012.
10 Staak 2019a.
Einführung in die Empirie | 133
(MMA) sowie von Florian Hartnack zum Kämpfen im Sportunterricht12 vorgelegt worden. Der Sammelband Fighting Scholars: Habitus and Ethnographies of Martial Arts and Combat Sports13 von García und Spencer versammelte schließlich eine Vielzahl von Beiträgen, die Bourdieus Konzept des Habitus als theoretisches Fundament im Kontext von Martial Arts verhandeln. Im Vergleich zu anderen qualitativen Forschungsmethoden hat die Teilnehmende Beobachtung im Kontext dieser Studie den Vorteil, dass sie nicht primär im Vermittlungsmodus der Sprache operiert, sondern zunächst eine zielorientierte Beobachtungspraxis darstellt.14 Beobachtung ist als Methode vor allem dann notwendig, wenn es nicht nur um Ideen und gedankliche Konzepte geht, sondern primär um materielle, körperliche Vorgänge. Während beispielsweise Interviews mit Akteur*innen zwar geeignet sein könnten, subjektiv-individuelle Ideen eines Taekwondo Spirit offenzulegen, so wären diese doch bereits diskursiv-reflexiv geformte Narrative. Es bietet sich daher an, als Forschende*r in die Situation selbst einzutreten und diese zu untersuchen. Christian Lüders bringt das forschungsleitende Interesse einer Teilnehmenden Beobachtung auf den Punkt, wenn er schreibt: „Im Zentrum der ethnografischen Neugierde steht […] die Frage, wie die jeweiligen Wirklichkeiten praktisch ‚erzeugt‘ werden; es geht ihr also um die situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene aus der teilnehmenden Perspektive“.15
Die Teilnehmende Beobachtung ist eine Methode, die sich durch eine Vielzahl an Vorgehensweisen auszeichnet. Sie ist mit den Worten Lüdersʼ „als eine flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie zu verstehen“16. Eine standardisierte Vorgehensweise im Zugang zum Forschungsfeld gebe es daher genauso wenig wie eine einheitliche Form der Datengenerierung und Auswertung. Im Folgenden wird dies daher konkret anhand der hier angewandten Methodik beschrieben. Das methodische Vorgehen im Kontext der Datenerhebung kann in Anlehnung an Loïc Wacquant als „Beobachtende Teilnahme“ 17 bezeichnet werden, wobei diese Bezeichnung den bewusst gewählten hohen Grad an Immersion im 11 O’Shea 2019. 12 Hartnack 2017. 13 García und Spencer 2013. 14 Schöne 2003, S. 3. 15 Lüders 2015, S. 385. 16 Lüders 2015, S. 389. 17 Wacquant 2004, S. 6.
134 | Im Gleichschritt des Dao
Feld hervorhebt. Bei Wacquant bedeutete dies, sich über drei Jahre hinweg gemeinsam mit Amateur- wie auch Profiboxern in drei bis sechs Einheiten pro Woche einem rigiden Trainingsplan vom Schattenboxen bis hin zum Sparring zu unterziehen.18 Darüber hinaus nahm er als Zuschauer, Trainingskollege, cornerman und Fotograf an etwa dreißig Turnieren teil, wobei er durch seine unterschiedlichen Rollen Zutritt zu allen Bereichen der Veranstaltungen erhielt. Durch die Praxis des Boxens öffnete sich ihm als Soziologe ein ungeahnt tiefer Zugang zur lokalen Community. Dank der Initiation durch das Boxen wurde er im Laufe der Zeit auf freundschaftlicher Ebene zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen eingeladen, nahm an Gottesdiensten und Abendveranstaltungen der Community teil und begleitete die Mitglieder sogar zu einer politisch-religiösen Kundgebung des Nation of Islam, wo er sich als „the only European non-believer 19 among ten thousands entranced African-Americans“ wiederfand. In Anlehnung an das Vorgehen Wacquants war mit der Wahl der Methode zur Datenerhebung im Rahmen dieser Studie die Strategie verbunden, Taekwondo-Praxis in Südkorea möglichst unmittelbar zu erfahren und durch einen möglichst hohen Grad an Immersion einen möglichst tiefen und vielschichtigen Einblick in diese Praxis zu erhalten. Die zentrale Aktivität im Zuge der Datenerhebung der vorliegenden Studie war, analog zu der Studie Wacquants, das Training in einer Taekwondo-Schule in Seoul/Südkorea. Der Hauptteil des Forschungsaufenthaltes erfolgte in der Zeit vom 15. Dezember 2015 bis zum 22. Februar 2016 und beinhaltete insbesondere die Teilnahme an den einzelnen Trainingseinheiten, die in unterschiedlichen Gruppen werktags von 13:30 Uhr bis etwa 23:00 Uhr und samstags von 10:00 Uhr bis etwa 13:00 Uhr stattfanden.20 Zusätzlich wurden zwei weitere komplementäre einmonatige Forschungsaufenthalte im März 2018 und Juli 2019 durchgeführt. Die Beobachtungen im Rahmen der Hauptbeobachtung wurden dabei zwischen den einzelnen Trainingseinheiten verschriftlicht, sofern die notwendigen Rückzugsmöglichkeiten gegeben waren oder aber regelmäßig am Ende der Trainingstage nach dem Rückzug aus dem primären Beobachtungsfeld des Trainings. Es bestand zwischen den Trainingseinheiten zwar grundsätzlich die Möglichkeit des Rückzugs in das Büro des Schulleiters, jedoch fehlte hierzu oftmals die Zeit. Zum einen, weil besonders die jüngsten Schüler*innen permanent Kontakt suchten, und zum anderen, weil sich auch die Phasen zwischen den Trai18 Anm.: Hierbei handelt es sich um den freien Kampf zweier Trainingspartner nach festgelegten Regeln.
19 Wacquant 2004, S. 4ff. 20 Anm.: Der Aufbau der Gruppen und der einzelnen Trainingseinheiten wird im Abschnitt 4.6 beschrieben.
Einführung in die Empirie | 135
ningseinheiten als besonders forschungsrelevant erwiesen. Durch ihre Betrachtung zeigte sich die Differenz zwischen den Interaktionsmustern während und außerhalb der Trainingssituation. Notizen wurden zu Beginn unspezifisch gehalten, um wiederkehrende Anordnungen und Abläufe auszumachen und die Offenheit dem Feld gegenüber zu wahren. In dieser Erhebungsphase galt es zunächst, die allgemeine Struktur des Trainings zu erfassen, indem nach wiederkehrenden Anordnungen gesucht wurde. So stellte sich heraus, dass sowohl der Beginn als auch das Ende der einzelnen Trainingseinheiten stets in Form von dramaturgisch gleichen Ritualen erfolgte. Es zeigte sich außerdem, dass auch in der Hauptphase der Trainingseinheiten wiederkehrende Anordnungen beobachtet werden konnten, die sich in einem wöchentlichen Rhythmus wiederholten. Nach etwa drei Wochen wurde die Aufmerksamkeit auf diejenigen Trainingselemente und -abfolgen gerichtet, die bis dahin hinsichtlich ihrer Regelmäßigkeit als zentral für das Training ermittelt wurden. In dieser Phase wechselte der unspezifische Blick zu einem spezifischen Blick und wurde in Detailansicht auf diese wiederkehrenden Anordnungen gerichtet. Die Beobachtungsnotizen umfassen den routinierten Ablauf des Trainings, die spezifischen Praktiken und Praktiken-Ensembles 21 sowie die verkörperten Beziehungsgeflechte zwischen den Teilnehmenden. In Anlehnung an methodische Empfehlungen Thomas Alkemeyers wurde versucht, sowohl die PraktikenEbene als auch die Praxis-Ebene zu berücksichtigen, wobei der Fokus der Beobachtung jedoch auf der Ebene der Praktiken lag.22 Den forschenden Blick prägende Fragen waren: Wie war der Trainingsraum hinsichtlich seiner Materialität und Semiotizität beschaffen? In welchen Bewegungsordnungen und in welchen räumlichen Anordnungen traten die Teilnehmenden miteinander in Interaktion? Auf welche körperästhetischen Merkmale wurde bei Ausführung von Bewegungsabläufen besonders Wert gelegt? Welche Gestik, Mimik und Sprache waren bei Schüler*innen, Trainern23 und dem Schulleiter zu beobachten? Dem Wechsel von Praktiken-Ebene und Praxis-Ebene 24 wurde Rechnung getragen, indem neben Beschreibungen von routinierten Praktiken und PraktikenEnsembles auch einmalige Situationen aufgezeichnet wurden, sofern diese als besonders beachtenswert eingestuft wurden. Dies lag entweder vor, wenn Situationen deutliche Brüche mit strukturellen Regelmäßigkeiten aufwiesen oder aber durch subjektiv empfundene emotionale Intensität als beachtenswert wahrgenommen wurden. Hier dienten die eigenen leiblichen Regungen als „Messinst21 Vgl. Abschn. 3.1.5. 22 Vgl. Abschn. 3.1.4. 23 Anm.: Die Training-leitenden Personen der Schule waren ausschließlich Männer. 24 Vgl. Abschn. 3.1.4.
136 | Im Gleichschritt des Dao
rumente“. Eine genauere Erläuterung hierzu folgt in Abschnitt 4.3.2 im Zusammenhang mit phänomenologischen Forschungsstrategien im Kontext von Aufführungsanalysen nach Weiler und Roselt. Bei der Aufzeichnung der körperlichen Ausdrucksformen konnte auf bereits bestehende Wissensformen und -kontingente aus der eigenen langjährigen Taekwondo-Praxis zurückgegriffen werden. 25 Das eigene Wissen um die Ausführung und Bezeichnung einzelner Bewegungsabfolgen war insofern nützlich, als dass auf bekannte Systematisierungen von Bewegungen zurückgegriffen werden konnte. Dies war beispielsweise in Bezug auf die für Taekwondo spezifischen Bewegungsformen26, die Poomsae (품새, 品勢), von Vorteil, da deren systematischer Aufbau und die einzelnen Bewegungen als solche bereits bekannt waren. Bei den Beobachtungsnotizen genügte es daher, mit sehr verkürzten Aufzeigungen hinsichtlich der Ausführungen und Bewegungsprinzipien zu arbeiten. Dies erleichterte die Dokumentation des systematisierten Bewegungsrepertoires erheblich. Ergänzend zu den Beschreibungen wurden Skizzen von Raumkonzepten sowie der Anordnung der Aktuer*innen(-Gruppen) im Raum angefertigt. Dies war von Bedeutung, wenn es bspw. darum ging, die Positionen der Schüler*innen zu den Positionen der Trainer in Beziehung zu bringen. Dabei waren die horizontale ebenso wie die vertikale Positionierung der Akteur*innen zueinander von Bedeutung. Neben Notizen und Skizzen wurde das Smartphone für Fotografie und in geringerem Ausmaß für Videoaufzeichnung genutzt. Fotografien wurden insbesondere als Datenkorpus über den Trainingsraum und seine materiell-ästhetische Beschaffenheit genutzt. Diese wurden durch Notizen hinsichtlich der Einbindung der unterschiedlichen Artefakte in den Praktiken ergänzt. Videoaufzeichnung wurde lediglich im Rahmen einer öffentlichen Gürtelprüfung genutzt, da sich das Filmen während der regulären Trainingseinheiten als nicht realisierbar und auch als nicht sinnvoll herausstellte. Während der Trainingseinheiten war die primäre Zielsetzung die eigene Teilnahme am Geschehen. Somit war es nicht möglich, selbst die Kameraführung zu übernehmen. Die Verwendung eines Stativs wäre zwar denkbar gewesen, jedoch wurde bewusst darauf verzichtet, da die Vorteile von Videoaufzeichnungen im Vergleich zu ihren Nachteilen als nicht verhältnismäßig erachtet wurden, da bereits ein diskursives Wissen wie auch ein Kör-
25 Anm.: Zum Zeitpunkt der Durchführung umfasste die bisherige eigene TaekwondoPraxis eine Dauer von 14 Jahren. Die eigene Graduierung war zu diesem Zeitpunkt der dritte Dan ausgestellt durch das Kukkiwon. 26 Anm.: Hierbei handelt es sich um institutionalisierte Choreografien, bestehend aus Angriffs- und Abwehrbewegungen.
Einführung in die Empirie | 137
perwissen über die Körpertechniken bestand. 27 Der ausschlaggebende Faktor, sich gegen eine umfangreiche Videoaufzeichnung zu entscheiden, war eine befürchtete beeinflussenden Wirkung eines Fremdkörpers auf das Verhalten der Akteur*innen, insbesondere jedoch der Trainer. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Datenquellen wurden schriftliche Dokumente gesammelt. Darunter fielen Werbematerialien des Kukkiwon sowie des Taekwondowon wie auch ein Lehrheft für die Schüler*innen der untersuchten Taekwondo-Schule. Das Lehrheft wurde als Ergänzung der Feldnotizen bezüglich des Curriculums der Schule hinzugezogen. Zusätzlich wurden qualitative Interviews mit zwei Taekwondo-Schulleitern durchgeführt, von denen einer der Schulleiter der untersuchten Schule war. Diese waren als Leitfadeninterviews konzipiert und beschäftigten sich mit der aktuellen gesellschaftlichen Stellung, Popularität, Teilnehmer*innenzahlen und potenziell unterschiedlichen Ausformungen des Taekwondo-Trainings in Südkorea.28 Ergänzend zu der Hauptbeobachtung wurden Trainingseinheiten einer anderen Taekwondo-Schule, des Taekwondo-Demoteams einer der drei in diesem Bereich führenden Universitäten und einer Taekkyeon-Schule 29 teilnehmend absolviert und ebenfalls im Forschungstagebuch anhand von Gedächtnisprotokollen erfasst. Darüber hinaus wurden eine Taekwondo-Performance des Kukkiwon-Demo-Teams mit dem Titel Great Taekwondo besucht, die im Hauptsaal des Kukkiwon für Touristen und für einheimische Zuschauer*innen aufgeführt wurde. Diese weiterführenden Erhebungen (Trainingseinheiten, Interviews und Besuch der Performances) dienten dazu, die Trainingspraxis der Kernerhebung in einen gesellschaftlich-kulturellen Kontext setzen zu können, wurden aber keiner so detaillierten Analyse unterzogen wie die Trainingspraxis. Die analytische Heuristik folgt einem Aufführungsbegriff. Demnach wird das Training als Aufführung begriffen, welche mittels Aufführungsanalyse erschlossen werden kann. Das genaue Analyseverfahren wird unter Abschnitt 4.3 erläutert.
27 Anm.: Zu den Spezifika von „diskursivem Wissen über Körpertechniken“ und „Körperwissen von Körpertechniken“ (vgl. Schindler 2011, S. 3ff.). 28 Vgl. Interviewleitfaden. 29 Anm.: Taekkyeon ist eine koreanische Kampfkunst, die in konservativen TaekwondoKreisen als Vorläufer des modernen Taekwondo gesehen wird. Vgl. dazu Abschnitt 2.2.
138 | Im Gleichschritt des Dao
4.2
BEOBACHTENDE TEILNAHME UND IHRE KRITISCHEN ASPEKTE
Das grundlegende Problem qualitativer Forschungsmethoden, das von Kritiker*innen und von Befürworter*innen gleichermaßen als solches anerkannt wird, ist die für den Prozess der Datenerhebung maßgebliche Subjektivität bei geringerer Reliabilität. Während Kritiker*innen dies als gravierenden Makel betrachten und qualitativer Forschung deshalb die Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnis absprechen, sehen Verfechter*innen zumindest in der Subjektivität ein eigenes epistemisches Potential. 30 In jedem Fall müsse aber die kritische Reflexion der eigenen Stellung innerhalb des Untersuchungskontextes sowie des eigenen Handelns und Wahrnehmens stets Teil qualitativer Forschungsarbeit sein.31 Dies könne im besten Fall beinhalten, den Reflexionsprozess methodisch ausdifferenziert im Rahmen geleiteter Gruppendiskussionen durchzuführen, um somit die Validität der jeweiligen Studie zu verbessern. 32 Im Rahmen dieser Studien wurden zum Zweck der Validierung der Befunde, Methoden der argumentativen, der konsensuellen und der kommunikativen Validierung verwendet. Die wichtigste Strategie umfasste die argumentative Validierung auf zweierlei Weise. Zum einen wurde in der Verschriftlichung der Auswertung des Datenkorpus versucht, die jeweiligen Argumentationsschritte transparent und nachvollziehbar darzulegen, indem die allgemeine Beschreibung und die detaillierte Analyse der Praktiken-Ensembles nacheinander erfolgten. Darüber hinaus fand die Auswertung theoriegeleitet statt, sodass Befunde in Abstimmung mit bestehender Forschung aus dem Bereich der Martial Arts Studies und Taekwondo Studies reflektiert wurden. Konsensuelle Validierung der Befunde fand im Austausch mit einer Kollegin aus dem Qualifikationskolloquium statt, die in Südkorea geboren und aufgewachsen war und in ihrer Kindheit selbst für einige Zeit Taekwondo praktizierte. In einem Gespräch, welches eine Rohfassung der Analyse als Gesprächsgrundlage hatte, wurden kritische Stellen bezüglich des sprachlichen und kulturellen Verständnisses thematisiert und gemeinschaftlich reflektiert. Dazu wurden gemeinsam die herausgearbeiteten ästhetischen Merkmale rekapituliert und ihre möglichen Interpretationen hinsichtlich ihrer kontextbezogenen Bedeutung diskutiert. Zudem wurden einzelne Analyseschritte in regelmäßigen Abständen im Rahmen des regelmäßig stattfindenden Dokto-
30 Von Unger et al. 2014, S. 22ff; Sieferle 2017. 31 Flick et al. 2015, S. 23. 32 Vgl. Bonz et al. 2017.
Einführung in die Empirie | 139
rand*innenkolloquiums 33 zur Diskussion gestellt, wobei eine der Sitzungen explizit als Data-Session angelegt war, in welcher Teile des Datenkorpus und der analytische Zugang dazu diskutiert wurden. Präsentation und Diskussion von einzelnen Analyseschritten fand außerdem im Rahmen von mehreren Fachtagungen34 der Martial Arts Studies, der Körpersoziologie und der Performance Studies statt. Eine kommunikative Validierung im Dialog mit den Beforschten konnte aufgrund von sprachlichen Hürden, doch insbesondere aufgrund des impliziten Charakters des untersuchten Phänomens, nur in Ansätzen erfolgen. Neben kleineren Nachfragen bei den Trainern während den nicht-teilnehmenden Phasen der Beobachtung, wurden während der komplementären Forschungsaufenthalte weitere informelle Gespräche zur kommunikativen Validierung genutzt. Kontakt zu dem Schulleiter der untersuchten Schule und seinen Trainern besteht bis heute und so wurden Befunde zu emergenten Aspekten des Taekwondo Spirit35 im Rahmen der anschließenden Forschungsaufenthalte 2018 und 2019 in informellem Rahmen diskutiert. Auch die Leitfadeninterviews waren einer kommunikativen Validierung dienlich, da sie eine ergänzende Perspektive auf die beobachteten Praxen ermöglichten. Komplementär zur permanenten Reflexion während der Verschriftlichung der Feldbeobachtungen werden nun einzelne kritische Aspekte des Forschungsprozesses expliziert, was gleichsam einen Teil des eigenen Reflexionsprozesses darstellt. Ein essenzieller Bestandteil der Beobachtenden Teilnahme wie auch einer der epistemologisch problematischeren Aspekte ist die leibliche Kopräsenz im Feld. Anders als in einer experimentellen Anordnung geht es um das Beobachten von „natürlichen Kontext[en]“36, die jedoch wesentlich von der eigenen Anwesenheit im Feld konstitutiv mitbestimmt sind. Das Bewusstsein um den eigenen „Reiz-Wert“ 37 , so schreibt Robert Gugutzer, müsse als konstitutiver Faktor für das Erlebte stets berücksichtigt werden. Es gilt daher anzuerkennen, dass „Natürlichkeit“ im Sinne von Authentizität unweigerlich an Grenzen stößt und gleichzeitig zu versuchen, das eigene forschende Handeln im Feld so zu gestalten, dass eine möglichst hohe „Natürlichkeit“ beobachtbar bleibt. Im kon33 Anm.: Es handelte sich um das Doktorand*innenkolloquium des Arbeitsbereichs Medien, Kultur und Gesellschaft am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Dieses fand regelmäßig im Abstand von etwa drei Monaten statt. 34 Anm.: Hervorzuheben sind hier insbesondere die Jahrestagungen der Kommission „Kampfkunst und Kampfsport“ der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft sowie die Tagungen des Martial Arts Studies Reserach Network. 35 Vgl. Abschn. 6.2 und 6.3. 36 Flick et al. 2015, S. 23. 37 Gugutzer, 2017, S. 389.
140 | Im Gleichschritt des Dao
kreten Fall wurden unterschiedliche Strategien zu dieser Zielsetzung implementiert. Zunächst wurde das Anfertigen von Feldnotizen sowie das Sammeln von weiterem Datenmaterial möglichst auf die Zeit außerhalb der eigentlichen Trainingsstunden gelegt. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um die Aufmerksamkeit auf den Moment zu richten und um nicht permanent als Beobachtender wahrgenommen zu werden. Aus diesem Grund wurde auch auf umfangreiche Videoaufzeichnungen verzichtet, wie bereits im letzten Absatz zur Methode der Datenerhebung erläutert. Statt den Fokus kompromisslos auf eine permanente und umfangreiche Aufzeichnung zu legen, wurde vielmehr versucht, nach außen als Taekwondo-Praktizierender in der Gruppe aufzugehen. Dies war je nach Trainingseinheit mit unterschiedlichen Strategien verbunden. In den Gruppen höherrangiger Schüler*innen (die Aufteilung der unterschiedlichen Trainingsgruppen wird im folgenden Abschnitt genauer erläutert) bestand die eigene Rolle zumeist darin, als weiterer Schüler am Training teilzunehmen. In den Gruppen niederrangiger Schüler*innen hingegen konnte der Fokus verstärkt auf die Beobachtung gelegt werden, da das eigene Mittrainieren vom Schulleiter und den Trainern nicht erwartet wurde. Um aber nicht vornehmlich als Beobachtender wahrgenommen zu werden, wurde der freie Platz im Trainingsraum genutzt, um während der Beobachtung Dehn- und Kräftigungsübungen durchzuführen, ähnlich wie es auch einige der fortgeschrittenen Schüler*innen taten, die sich für universitäre Aufnahmeprüfungen vorbereiten mussten und deshalb auch außerhalb ihrer eigenen Gruppentrainingszeiten in der Schule anwesend waren. Diese beobachtenden Phasen wurden jedoch regelmäßig von den Trainern unterbrochen, wenn es darum ging, ihnen beim Training zu assistieren oder Schüler*innen mit dem schuleigenen Kleinbus von der Schule oder von zuhause abzuholen. Das eigene, auf Taekwondo bezogene Körperwissen trug hier maßgeblich zum Eintauchen in die Gruppe bei. Mit der Doppelrolle als Taekwondo-Praktizierender und Forschender war jedoch zweifellos auch ein potenzieller Konflikt verbunden, wenngleich in praktischer Hinsicht gerade durch diese Doppelrolle „im Idealfall ein Arbeitszusammenhang entstehen [kann], in dem Praxiswissen und Theoriewissen in ein produktives Austauschverhältnis zueinander geraten […].“38 In jedem Fall bot die Perspektive des Taekwondo-Praktizierenden einen schnelleren und tieferen Zugang zum Feld. Doch gerade deshalb bestand auch permanent die Gefahr, dass bestimmte Aspekte des Trainings aus Praktizierenden-Perspektive nicht erwähnenswert schienen oder zumindest die Auffassung bestand, dass diese nicht genauer erläutert werden müssten. Außerdem bestand die Gefahr, dass scheinbare Vorteile, die ein bestimmtes Vorwissen bot, sich auch negativ aus38 Bergold/Thomas 2010, S. 336.
Einführung in die Empirie | 141
wirken könnten. Vorwissen hätte zu vorschnellen Urteilen und allgemein wenig offenen Beobachtungsstrategien führen können. In der konkreten Durchführung wurde deshalb bewusst darauf geachtet, den Einfluss der jeweiligen Perspektive auf die Beobachtungen zu reflektieren. Eine solche Problematik beschreibt der Begriff des „going native“39, welcher den Verlust von wissenschaftlicher Distanzierung bei übermäßiger Immersion in das Forschungsfeld bezeichnet. Gerade eine Priorisierung der eigenen Teilnahme als Teil der Forschungsstrategie der Beobachtenden Teilnahme begünstigte diese Problematik zusätzlich. In Anlehnung an Wacquants sowie Staacks weiterführende Problematisierung40 wurde ein going native jedoch nicht ausschließlich als Gefahr, sondern in besonderem Maße als Chance betrachtet. Auch Florian Hartnack hebt in seinen methodologischen Überlegungen zu Ethnografie in den Martial Arts Studies den besonderen Erkenntnisgewinn durch ein bewusstes going native hervor, wobei er die Vorteile aus phänomenologischer Perspektive argumentiert.41 In dieser Studie ermöglichte die starke Immersion einen besonders tiefen Zugang zum Feld sowie einen geringen „Reiz-Wert“42 durch die eigene Anwesenheit. Als Strategie der wissenschaftlichen Distanzierung diente die wiederkehrende Bezugnahme auf die theoretischen Vorüberlegungen. Sowohl die Praxis- und Performance-Theorie als auch für Martial Arts und Taekwondo spezifisches akademisches Wissen dienten während der Beobachtungsdauer immer wieder als forschungsbegleitende Werkzeuge im Feld. Ähnlich wie Staack es mit Verweis auf Wacquant vorschlägt, wurden diese wissenschaftlichen Ansätze nicht nur als Topic, als „Anschlussoption für Forschungsergebnisse“ 43, verwendet, sondern darüber hinaus auch als Tool, als Werkzeug der wissenschaftlichen Distanzierung im Feld.44 Der Faktor Sprache ist ebenfalls als Problemfaktor zu benennen. Zwar lag der Fokus bei der Beobachtung auf den körperlichen Vorgängen außerhalb von Sprachlichkeit, jedoch hätte ein besseres sprachliches Verständnis des Forschenden vieles erleichtert. Kenntnisse bezüglich Taekwondo-Terminologie waren jedoch in einem Ausmaß vorhanden, wodurch sogar das Leiten einzelner Trainingseinheiten möglich war. Die Kenntnisse der koreanischen Alltagssprache waren jedoch auf einem einfachen Niveau, sodass längere und komplexere Gespräche nur mithilfe einer Übersetzungssoftware und/oder auf Englisch möglich waren. Die qualitativen Leitfadeninterviews wurden in englischer Sprache und in 39 Gugutzer 2017, S. 388. 40 Vgl. Staack 2019b. 41 Vgl. Hartnack 2018. 42 Gugutzer, 2017, S. 389. 43 Staack 2019b, S. 5. 44 Vgl. Ebd.
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schriftlicher Form durchgeführt, sodass die Sprachbarriere herabgesetzt werden konnte. Umfangreichere Sprachkenntnisse hätten aber weitreichendere Datenerhebungen in sprachlicher Hinsicht ermöglicht. Bezogen auf die eigene leibliche Subjektivität im Forschungsprozess kann festgehalten werden, dass eine große Schwierigkeit nicht zuletzt in der permanenten Selbstaufgabe und in der Überwindung der persönlichen Wünsche und Bedürfnisse lag. Die Tage waren meistens lang und zuweilen sehr routiniert, sodass es nicht immer leicht war, einen wachen Blick für Details zu bewahren. Gewöhnlich konnte mit diesem Problem umgegangen werden, indem eigene kurze Trainingseinheiten eingelegt wurden. Durch die Konzentration auf den eigenen Körper konnte kurzzeitig eine Distanz zur direkten Umgebung hergestellt werden, woraufhin das aufmerksame Beobachten daraufhin wieder leichter fiel. Zu diesem Zweck wurden auch immer wieder kurze Spaziergänge durch das umliegende Stadtviertel unternommen, um sich kurzzeitig aus dem Beobachtungskontext zurückzuziehen und danach wieder die Aufmerksamkeit auf die Vorgänge innerhalb der Taekwondo-Schule richten zu können. Schwieriger als der Umgang mit der eigenen Widerständigkeit war auf Dauer jedoch die Kommunikation innerhalb der hierarchisch geprägten sozialen Konventionen. Die eigene Forschungsstrategie gebot das Einlassen auf alle Interaktionsangebote, die insbesondere von Seiten des Schulleiters offeriert wurden. Auf der einen Seite ermöglichte dies die Teilnahme an gänzlich unvorhergesehenen Aktivitäten, die zu einer differenzierten Beobachtung beitrugen. Darunter fielen Ausflüge mit der Familie des Schulleiters, eine familieninterne Zeremonie zum Todestag seines Großvaters, Familienfestivitäten zu Sŏllal (설날)45 und Arbeitseinsätze 46 gemeinsam mit anderen Schüler*innen. Auf der anderen Seite erforderte diese Offenheit auch ein hohes Maß an Flexibilität. Üblicherweise waren solche Angebote des Schulleiters sehr kurzfristig. Nicht selten hieß es an einem Freitagnachmittag, wenn bereits ein eigener Plan für das Wochenende fixiert worden war, dass am kommenden Morgen ein Wochenendausflug starten würde. Auch 45 Anm.: Sŏllal (설날) bezeichnet das koreanische (chinesische) Neujahrsfest. Es richtet sich nach dem Mondkalender und wird variierend im Januar bzw. Februar des gregorianischen Kalenders gefeiert. Sŏllal ist gewöhnlich das wichtigste Familienfest des Jahres und umfasst Besuche an den Familiengräbern, gemeinsames Spielen und ritualisierte Respektsbezeugungen jüngerer Familienmitglieder gegenüber den Älteren. 46 Anm.: Die Arbeitseinsätze umfassten Werbeaktionen an Grundschulen im Umkreis der Taekwondo-Schule sowie ein Arbeitseinsatz im Rahmen eines Volksfestes. Hier bestand die Tätigkeit darin, gemeinsam mit ausgewählten Schüler*innen auf einem provisorisch eingerichteten Parkplatz, die an- und abfahrenden Fahrzeuge einzuweisen.
Einführung in die Empirie | 143
Aufforderungen, nach dem Training gemeinsam Essen und Trinken zu gehen, kamen meist spontan. Nicht selten bestand ein starkes Bedürfnis, nach einem langen Trainingstag lediglich die Beobachtungen zu verschriftlichen und anschließend unmittelbar zu schlafen. Den Aufforderungen des Schulleiters zu folgen, stellte daher oft eine persönliche Überwindung dar, die sich allerdings in den meisten Fällen für den Forschungsprozess als ertragreich herausstellte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Feldforschung sowohl von Höhen als auch von Tiefen geprägt war. Ausschlaggebend hierfür waren Irritationen durch das soziale Umfeld, die eigene körperliche und emotionale Widerständigkeit und eigene Rollenkonflikte. Daher mussten immer wieder individuelle Strategien entwickelt werden, um Aufmerksamkeit und Neutralität zu bewahren. Selbstreflexivität war dabei ein unabdingbarer Faktor.
4.3
DAS ANALYSEVERFAHREN: DIE AUFFÜHRUNGS-ANALYSE
Die Wahl eines theater- und performancewissenschaftlichen Analyseverfahrens liegt darin begründet, dass Taekwondo-Training bereits in vorhergegangener Forschung als Cultural Performance argumentiert und aufgrund seiner umfangreichen inszenatorischen Merkmale auf Ebene der Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit und unter Einbeziehung bestimmter dinglicher Attribute als Performance begriffen worden ist.47 Die theoretische Grundlage hierfür wurde in Abschnitt 3.3 ausgeführt. 4.3.1 Die Aufführungsanalyse als Methode in der Theater- und Tanzwissenschaft Ihrem Untersuchungsgegenstand entsprechend, findet die Aufführungsanalyse überwiegend in der Theater- und Tanzwissenschaft Verwendung. 48 Aufgrund ihrer teilweise unterschiedlichen Bedürfnisse und Entwicklungswege unterscheiden sich theaterwissenschaftliche und tanzwissenschaftliche Analysen mehr oder minder stark voneinander. Noch dazu sind unterschiedliche Ausformungen und Schwerpunktsetzungen von Aufführungsanalysen auch innerhalb dieser wissenschaftlichen Disziplinen zu beobachten. Die Aufführungsanalyse ist daher als eine durchgehend heterogene Methode zu bezeichnen, was „nicht nur der Vielfalt des zeitgenössischen Theaters, sondern auch der Komplexität des For-
47 Vgl. Minarik 2014. 48 Vgl. Hiß 1993; Fischer-Lichte 2010; Brandstetter/Klein 2015; Weiler/Roselt 2017.
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Aufforderungen, nach dem Training gemeinsam Essen und Trinken zu gehen, kamen meist spontan. Nicht selten bestand ein starkes Bedürfnis, nach einem langen Trainingstag lediglich die Beobachtungen zu verschriftlichen und anschließend unmittelbar zu schlafen. Den Aufforderungen des Schulleiters zu folgen, stellte daher oft eine persönliche Überwindung dar, die sich allerdings in den meisten Fällen für den Forschungsprozess als ertragreich herausstellte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Feldforschung sowohl von Höhen als auch von Tiefen geprägt war. Ausschlaggebend hierfür waren Irritationen durch das soziale Umfeld, die eigene körperliche und emotionale Widerständigkeit und eigene Rollenkonflikte. Daher mussten immer wieder individuelle Strategien entwickelt werden, um Aufmerksamkeit und Neutralität zu bewahren. Selbstreflexivität war dabei ein unabdingbarer Faktor.
4.3
DAS ANALYSEVERFAHREN: DIE AUFFÜHRUNGS-ANALYSE
Die Wahl eines theater- und performancewissenschaftlichen Analyseverfahrens liegt darin begründet, dass Taekwondo-Training bereits in vorhergegangener Forschung als Cultural Performance argumentiert und aufgrund seiner umfangreichen inszenatorischen Merkmale auf Ebene der Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit und unter Einbeziehung bestimmter dinglicher Attribute als Performance begriffen worden ist.47 Die theoretische Grundlage hierfür wurde in Abschnitt 3.3 ausgeführt. 4.3.1 Die Aufführungsanalyse als Methode in der Theater- und Tanzwissenschaft Ihrem Untersuchungsgegenstand entsprechend, findet die Aufführungsanalyse überwiegend in der Theater- und Tanzwissenschaft Verwendung. 48 Aufgrund ihrer teilweise unterschiedlichen Bedürfnisse und Entwicklungswege unterscheiden sich theaterwissenschaftliche und tanzwissenschaftliche Analysen mehr oder minder stark voneinander. Noch dazu sind unterschiedliche Ausformungen und Schwerpunktsetzungen von Aufführungsanalysen auch innerhalb dieser wissenschaftlichen Disziplinen zu beobachten. Die Aufführungsanalyse ist daher als eine durchgehend heterogene Methode zu bezeichnen, was „nicht nur der Vielfalt des zeitgenössischen Theaters, sondern auch der Komplexität des For-
47 Vgl. Minarik 2014. 48 Vgl. Hiß 1993; Fischer-Lichte 2010; Brandstetter/Klein 2015; Weiler/Roselt 2017.
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schungsobjekts geschuldet [ist]“ 49 . Zentral für die Aufführungsanalyse ist der Aufführungsbegriff, der über die Zeit variierende Auslegungen erfahren hat. Christel Weiler und Jens Roselt beschreiben die Entwicklung der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse in Bezug zum Aufführungsbegriff in vier historische Phasen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.50 Während in der ersten Phase in den 1920er Jahren die Aufführung durch Max Herrmann erstmalig als beachtenswertes Phänomen benannt wurde, das abseits des dramatischen Textes eine eigene künstlerische Berechtigung innehabe, sind für die heutige wissenschaftliche Praxis der Aufführungsanalyse die Entwicklungen ab den 1980er Jahren von Bedeutung. Das Erscheinen von Erika Fischer-Lichtes dreibändigem Werk Semiotik des Theaters 51 markierte im deutschsprachigen Raum eine Zäsur in der Auffassung von Theater und Aufführung, indem hier die Theateraufführung erstmalig im strukturalistischen Sinne als Text begriffen wurde, also als Zusammenhang verschiedener Zeichensysteme, die systematisierbar, lesbar und interpretierbar seien. Theater und Aufführung seien diesem Ansatz nach vorrangig als Prozesse der Kommunikation von Bedeutung zu verstehen. 52 Den Zuschauenden komme in dieser Betrachtungsweise die aktive Rolle zu, die Zeichen auf der Bühne zu decodieren und zu interpretieren. Die Funktion der Aufführungsanalyse sei in diesem Zusammenhang, „die entsprechenden Zeichen zu ermitteln, zu beschreiben, zu ordnen und zu interpretieren.“53 In den 2000er Jahren setzte verstärkt eine Paradigmenverschiebung in der Betrachtung von Theater und Aufführung ein, die zum einen durch die Einsicht begründet war, dass mithilfe eines semiotischen Ansatzes ausschließlich Aspekte einer Aufführung analysiert werden könnten, die als Zeichen lesbar und verstehbar seien. Andere, für eine Aufführung konstitutive Aspekte wie beispielsweise die leibliche Präsenz der Schauspieler*innen, könnten dieses analytische Paradigma jedoch nicht beschreiben. Zum anderen spielte das verstärkte Aufkommen von post-dramatischen Theaterformen54 seit den 1990er Jahren55 in diesem Methodendiskurs eine wesentliche Rolle, da spätestens hier nicht mehr davon ge49 Weiler/Roselt 2017, S. 30. 50 Weiler/Roselt 2017, S. 30ff. 51 Fischer-Lichte 1983a; b; c. 52 Weiler/Roselt 2017, S. 41. 53 Ebd. 54 Vgl. Lehmann 2011. 55 Anm.: Die Abwendung vom Literaturtheater konnte allerdings schon bei den Vertretern der historischen Avantgarde beobachtet werden. Darunter „allen voran Craig, die Futuristen, Dadaisten, Surrealisten, Meyerhold, das Bauhaus-Theater, Artaud“ (Fischer-Lichte 2017, S. 240).
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sprochen werden konnte, dass Aufführungen in erster Linie als Repräsentation eines dramatischen Textes verstanden werden müssten. Der Ansatz, der Aufführung weniger als Text, sondern als „Erfahrungsgeschehen“56 auffasst, setze daher nicht primär auf die Strukturierung und Beschreibung von Zeichen, sondern auf die Beschreibung der Aufführung als sozialem Ereignis, in dessen Kontext Bedeutung nicht nur entschlüsselt, sondern situativ erzeugt wird. 57 Zentral sei das Konzept der Performativität, das bereits in Abschnitt 3.2 behandelt worden ist. Hierbei handelt es sich um das aktuell dominierende Verständnis von Aufführung im theater- und tanzwissenschaftlichen Diskurs. Es versteht die Aufgabe der Aufführungsanalyse im Kern darin, den Prozess zu beschreiben, in dem durch das Zusammenspiel der einzelnen theatralen Entitäten situativ, unmittelbar und einmalig soziale Wirklichkeit hergestellt wird. Dieses Paradigma liegt auch der hier unternommenen Analysemethode zugrunde. 4.3.2 Semiotische Analyse oder phänomenologische Analyse? Eine performativitäts-ästhetische Analyse Der Argumentation von Weiler und Roselt entsprechend, lassen sich zwei idealtypische Sichtweisen auf die Aufführung und somit auch zwei methodologische Paradigmen für die Aufführungsanalyse unterscheiden, in deren Spannungsfeld sich gegenwärtige Analysen bewegen: ein semiotischer und ein phänomenologischer Zugang.58 Aktuelle Debatten in der Theaterwissenschaft positionieren sich im Zuge der performativen Wende59 stärker zu einer phänomenologischen Analyse der Aufführung als zu einem performativen Vorgang. Peter M. Boenisch bemerkt dazu: „Wer da mit semiotischen Ideen antritt, wird verlacht wie einer, der mit Marx unter’m Arm darüber sinniert, dass die DDR zuweilen doch auch Vorzüge aufweisen mochte.“60 Die gegenwärtige Favorisierung phänomenologischer Analyseansätze ist sowohl performancetheoretisch als auch -praktisch nachvollziehbar. Nicht nur, weil die zeitgenössische Inszenierungspraxis selten hohe Werktreue zu einer literarischen Vorlage, sofern denn überhaupt eine existiert, als oberste Zielsetzung erachtet, sondern auch deshalb, weil semiotische
56 Weiler/Roselt 2017, S. 43. 57 Ebd. 58 Fischer-Lichte 2010, S. 81. 59 Anm.: Dies meint den Paradigmenwechsel in der Theaterwissenschaft von einem semiotischen Verständnis von Theater zu einem performativen Verständnis von Theater. 60 Boenisch 2002, S. 384.
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Analysen nur einen Teil dessen, was das Phänomen der Aufführung ausmacht, beschreiben können. So postulieren analytische Versuche, die vornehmlich postdramatische Performances zum Gegenstand haben, die Irrelevanz eines semiotischen Zugangs, da in diesen nicht das repräsentative Element der Aufführung als zentral zu erachten sei, sondern stattdessen die Momente der „sinnlichen Erfahrung […] des Nicht-verstehens, des Stockens und der Unsicherheit“61. Daneben existieren jedoch auch weiterhin Positionen aus der Theater- und Tanzwissenschaft, die eine Rehabilitierung bzw. Aktualisierung der Theatersemiotik anstreben. Einer dieser Akteur*innen ist der eingangs zitierte Peter M. Boenisch, der auch nach der performativen Wende weiterhin die Notwendigkeit eines aktualisierten semiotischen Ansatzes für die systematische Analyse sich bewegender Körper auf der Bühne vertritt.62 Notwendig sei jedoch eine teilweise Reformulierung dieses Ansatzes bzw. die Besinnung auf die Sonderstellung von theatralen Zeichen in Bezug auf alltagsweltliche Zeichen. Letztere unterlägen einer funktional ausgerichteten Zeichenökonomie, sollen also möglichst gleichförmig und einfach decodierbar sein. Theatrale Zeichensysteme hingegen seien nicht konventionalisiert und würden somit multiple Lesarten oder Bedeutungszuweisungen erlauben. 63 Da der Begriff „Bedeutung“ eine fixierte Einheit impliziere, plädiert Boenisch stattdessen für den Begriff „Signifikation“, der seiner Ansicht nach besser geeignet sei, die prozesshafte und kontextuelle Semantik theatraler Zeichen zu beschreiben. Im Prozess der „Signifikation“ sieht er Sender*in und Empfänger*in, Schauspieler*in und Zuschauer*in als gleichwertig beteiligte Akteur*innen an.64 Als mögliches Analyseverfahren stellt Boenisch eine „semiotische Navigationsanalyse“65 vor, die dem „Betrachter eine systematische verbale Deskription, Analyse und Argumentation jenseits bloß impressionistischer Allerwelts-Metaphorik“66 ermögliche. Doch, so stellt auch Boenisch selbst fest, adressiert sein aktualisierter semiotischer Ansatz weniger die konkrete Aufführung, sondern vielmehr die ihr zugrundeliegende Inszenierung, die er als Resultat von Setzungen, Entscheidungen und Konstruktionen begreift. „Signifikation“ ergebe sich im Prozess der Aufführung aus einer Vielzahl situativer Bezugnahmen. Er stellt in diesem Zusammenhang fest:
61 Leitfeld 2014, S. 179. 62 Boenisch 2002, S. 384. 63 Boenisch 2002, S. 386. 64 Ebd. 65 Boenisch 2015, S. 35. 66 Ebd.
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„[Signifikation ergibt sich] aus den komplexen Relationen, die jedes einzelne Zeichen […] in seinem unmittelbaren Kontext, dem Inszenierungskontext, der Choreografie oder miseen-scène, mit den anderen darin intendierten Zeichen eingeht: Statt um ‚die‘ Bedeutung geht es um einen semiotischen Informations- und semantischen Bedeutungswert, um das Schalten von unerschöpflichen Links, nicht nur innerhalb der Inszenierungstextur, sondern auch in den weiteren individuellen sozio-kulturellen Erfahrungskontexten der Rezipienten.“67
Erika Fischer-Lichte vertritt in Hinsicht auf die Analyse von Aufführungen einen versöhnlichen Standpunkt, in dem sich phänomenologische und semiotische Analyse verschränken, um das Phänomen umfassend beschreiben zu können.68 Dies liegt sicherlich in ihren früheren Bestrebungen um die Etablierung eines semiotischen Ansatzes begründet. Sie argumentiert diese Position allerdings mit dem oszillierenden Wesen der Aufführung. Ausgehend von der Wahrnehmung der Zuschauenden stellt sie fest, diese gleite bezogen auf die Schauspieler*innen hin und her zwischen dem „phänomenalen Leib und [dem] semiotischen Körper, zwischen dem Leib des Schauspielers und der Figur.“ 69 Demnach müssen auch wissenschaftliche Analysen diesem Zustand Rechnung tragen, indem sie sowohl die „eigene Leiblichkeit des Analysierenden sowie die der Schauspieler und das phänomenale Sein der Dinge berücksichtigen als auch die mögliche Zeichenhaftigkeit des Wahrgenommenen.“70 Auch Jens Roselt und Christel Weiler plädieren für einen analytischen Ansatz, der sowohl der semiotischen als auch der performativen Ebene der Aufführung Rechnung trägt. 71 Die sinnvolle Anwendung einer semiotischen Herangehensweise sei nicht zuletzt auch durch die zu untersuchende Aufführung mitbestimmt. So schreiben sie im Hinblick auf die vorherrschende Inszenierungspraxis im Europa der 1970er Jahre, dass das „semiotische Modell […] durchaus tragfähig [war], weil die Aufführungen, welche der Theorie zum Vorbild dienten, weitgehend selbst primär nach semiotischen Vorgaben verfasst waren bzw. die Kommunikation von Botschaften intendierten.“72 Wenn man sich jedoch mit postdramatischen Performances und Theateraufführungen als Cultural Performances befasse, so könne das semiotische Modell „zentrale performative Aspekte von Aufführungen […] nur einge-
67 Boenisch 2015, S. 38. 68 Fischer-Lichte 2010, S. 81. 69 Fischer-Lichte 2010, S. 81. 70 Ebd. 71 Weiler/Roselt 2017, S. 73. 72 Ebd.
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schränkt oder unzureichend“ 73 erfassen. All jene Aspekte der sinnlichemotionalen Wahrnehmung, die nicht zuallererst Bedeutung generieren, sondern Affekte auslösen, könnten nur von einem „phänomenologischen Ansatz“ 74 betrachtet werden, so Weiler und Roselt. Dies gelte ebenso für Akte selektiver Wahrnehmung durch unterschiedliche Zuschauer*innen, die von unterschiedlichen Plätzen im Zuschauerraum aus, unterschiedliche Vorgänge auf der Bühne aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus individuell wahrnehmen und interpretieren. Doch auch die semiotische Analyse habe weiterhin eine Legitimation, wenn es um die zeichenhaften Aspekte einer Aufführung gehe und Strategien der Bedeutungsvermittlung. Sie stellen daher abschließend fest, „Semiotik und Phänomenologie dürfen deshalb nicht als gegensätzliche, sich ausschließende Methoden begriffen werden, sondern sollten als komplementäre Verfahren zum Einsatz kommen.“75 Zentral ist bei allen vorgestellten Positionen, dass der zu untersuchende Gegenstand, also die Form der Aufführung, das konkrete Analyseverfahren bestimmen muss. Eine Aufführung, die ihren Fokus auf die Vermittlung von Informationen lege, bedürfe demnach einer semiotisch ausgerichteten Analyse. Eine Aufführung hingegen, die auf die emotionale Wahrnehmung und freie, assoziative, subjektive Bedeutungskonstruktionen durch die Zuschauenden ausgerichtet sei, bedürfe einer phänomenologischen Analyse. Auch sei eine semiotische Analyse mehr auf die maßgebende Inszenierung gerichtet, während eine phänomenologische Analyse sich stärker auf die transitorische, einmalige und unwiederholbare einzelne Aufführung richte. Was bedeutet dies für die vorliegende Studie? Welcher konkrete, fallspezifische Zugang ist im Rahmen dieser Arbeit daher sinnvoll? Aus der primären Fragestellung nach der performativen Hervorbringung des Taekwondo Spirit als Struktur ergibt sich, dass nicht nur ein einzelnes Training als Aufführung, sondern viele Einheiten Grundlage der Analyse sein müssen, da für die Offenlegung von Routinen der analytische Blick auf wiederkehrende Merkmale in wiederkehrenden Situationen notwendig erscheint. Es ist also nicht nur die eine Aufführung relevant und ebenso wenig allein ihr transitorischer, unwiederholbarer Charakter. Die Fragestellung erfordert vielmehr einen Blick auf ein Verhältnis dieser vielen Aufführungen zueinander, was die Relevanz der inszenatorischen Ebene hervorhebt. Im Kern geht es um das Verhältnis von Inszenierung und Aufführung, von Struktur und Ereignishaftigkeit. Ganz im 73 Weiler/Roselt 2017, S. 84. 74 Anm.: Die Bezeichnung „phänomenologischer Ansatz“ verweist auf eine Bezugnahme auf Edmund Husserls „Phänomenologie“ (Vgl. Weiler/Roselt 2017, S. 84). 75 Weiler/Roselt 2017, S. 101ff.
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Sinne einer praxeologischen Analyse geht es um die Sichtbarmachung von Ordnung und ihrer situativen Instabilität sowie um das transformatorische Potential76, das der Praxis innewohnt – sowohl im Hinblick auf die beteiligten Akteur*innen als Subjektivierungsprozess wie auch im Hinblick auf die beteiligten Praktiken. Demzufolge umfasst das analytische Vorgehen in diesem Fall sowohl eine „semiotische Ebene“ mit Blick auf Ordnung wie auch eine „phänomenologische Ebene“ mit Blick auf Situationalität. Nur unter Berücksichtigung des Verhältnisses beider Ebenen zueinander kann schließlich der Performativität des Taekwondo Spirit zwischen Regelmäßigkeit und Einmaligkeit Rechnung getragen werden. Während der semiotische Blick im Kontext dieser Studie das Ordnen von Zeichen und Zeichenkomplexen zur Aufgabe hat, gebietet ein phänomenologischer Blick die Rücksichtnahme auf leibliche Regungen und Affekte wie auch für Irritationen und Brüche. Hinsichtlich der Frage nach Bedeutung ist schließlich ein performativitätstheoretischer Blick gefragt, der Bedeutung auf der Ebene der Situationalität, Kontextualität und Individualität verortet. Es wird daher ein Analyseverfahren angewendet, das strukturierend, beschreibend und analytisch ist, in hermeneutischer Hinsicht jedoch der Performativität von Bedeutung Rechnung trägt. Die hier verwendete Analysemethode wird daher als performativitäts-ästhetische Analyse bezeichnet. Im Folgenden wird das Vorgehen in der Aufarbeitung des Datenkorpus und dessen Analyse skizziert. Zum Zweck der Analyse wurden die Rohdaten der Beobachtenden Teilnahme zunächst codiert. Dies erfolgte in einem induktiv-deduktiven Mischverfahren. Auf Basis der praxeologisch fundierten Konzeption von Praxis und Praktiken wurden anhand der Beobachtungsprotokolle Praktiken-Ensembles, Komplexe aus miteinander verschränkten Praktiken, ermittelt, welche wiederkehrenden routinierten Trainingsanordnungen in der Praxis entsprachen. Für deren Signifikanz war die Häufigkeit ihres Auftretens relevant. Diese Praktiken-Ensembles wurden wiederum zu acht größeren Praktiken-Gruppen zusammengefasst. Die Kriterien für die jeweilige Bündelung waren zunächst körperästhetischer Art. Ihre wesentlichen Körpertechniken waren dabei ausschlaggebend für die Zuweisung zu einer bestimmten Praktiken-Gruppe, z. B. der Fokus auf Fußtechniken, Grundtechniken oder Kräftigungs- und Ausdauerübungen. Darüber hinaus waren wiederkehrende interkorporale Anordnungen wie Kampf oder freie Trainingsphasen Kriterien der Zuordnung. Bei der Benennung der Praktiken-Gruppen, Praktiken-Ensembles, Praktiken und einzelnen Techniken77 wurde, soweit Ent-
76 Vgl. Abschn. 3.2.4. 77 Anm.: „Techniken“ meint standardisierte Einzelbewegungen, die wiederum Bewegungsbausteine für Kombinationen, Sequenzen und Bewegungsformen bilden.
150 | Im Gleichschritt des Dao
sprechungen bestanden, die offizielle Kukkiwon-Terminologie 78 verwendet. Sofern keine solchen Entsprechungen bestanden, wurden induktiv Benennungen aus dem Feld verwendet oder eigene Benennungen konzipiert. Im Abschnitt 5.3 ist dies an den jeweiligen Stellen vermerkt. Die Analyse des codierten Datenkorpus erfolgt auf Grundlage der performance-theoretischen Analysekategorien von Fischer-Lichte, die in Abschnitt 3.2.1 bereits im Detail ausgearbeitet wurden. Zunächst werden der Trainingsraum und die Akteur*innen mit einem ästhetischen Fokus als vorwiegend konstante Materialitäten beschrieben, wobei deren situative Einbindung in performative Zusammenhänge mitreflektiert wird. In einem weiteren Schritt erfolgt die Analyse der beobachteten Trainingspraxis mit einem Fokus auf die rahmenden Praktiken-Ensembles. Deren performativitäts-ästhetische Analyse erfolgt zunächst anhand der Kategorien Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit. Auf räumlicher Ebene werden etwa die räumlichen Anordnungen der Akteur*innen zueinander analysiert, sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Ausrichtung. Auf körperliche Ebene werden Mimik und Gestik der Akteur*innen(gruppen) sowie die Körperästhetik der einzelnen Praktiken in den Blick genommen. Auf lautlicher Ebene wird die Sprache der Akteur*innen hinsichtlich ihrer Intonation, Syntax sowie routinierter Wortwahl und Wortform innerhalb der jeweiligen Praktiken-Ensembles untersucht. Auch außersprachliche Ausdrücke und lautliche Aspekte wie Geräusche und Musik werden dabei mitberücksichtigt. Auf zeitlicher Ebene werden schließlich Häufigkeit, Dauer und Rhythmus der Praktiken-Ensembles und ihrer Bestandteile untersucht. Das Wechseln von Praktiken-Ebene und Praxis-Ebene ermöglicht, auch Aspekte außerhalb der Praktiken-Ensembles einzubeziehen und so offen für einmaliges und neues zu bleiben. In der entsprechenden Analyse in Abschnitt 5.3 wird dies durch Wechsel des Tempus in der Verschriftlichung angezeigt. Während Passagen, die sich auf die Praktiken-Ebene beziehen, im Präsens formuliert sind, sind Abschnitte, die sich auf die Praxis-Ebene beziehen, im Präteritum gehalten, um so auf deren situationsgebundene Einmaligkeit hinzuweisen. Auf Basis der ästhetischen Analyse wird schließlich die Semiotizität79 als Ebene der Bedeutung hinsichtlich der performativen Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen als Aspekte eines Taekwondo Spirit80 in den Blick genommen. Diese drei Aspekte werden als Formen von Bedeutung operationalisiert, die im Vollzug zwischen Auf- und Ausführung auf der einen Seite und Wahrnehmung auf der anderen Seite hervorgebracht werden. Dabei wird, Fischer-Lichtes performativem Ver78 Vgl. Kukkiwon 2019. 79 Vgl. Abschn. 3.2.2.1. 80 Vgl. Abschn. 2.3.
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ständnis von Bedeutung entsprechend, zwischen selbstreferentieller Bedeutung und Emergenz von Bedeutung unterschieden. Zur Analyse der selbstreferentiellen Bedeutungsebene wird der Blickwinkel auf die materielle Durchführung von Relationen, Bewegungen und lautlichen Äußerungen gerichtet und die Interpretation hinsichtlich der verkörperten Normen, Werte und Ideale dabei so basal wie möglich gehalten. Dabei gilt es, die selbstreferentielle Bedeutung als präreflexive Form der Bedeutung zu analysieren. Die Analyse der Emergenz von Bedeutung in der Trainingspraxis wird dann unter Bezugnahme auf kulturelle, soziale und politische Diskurse im historischen wie auch im gegenwärtigen Ausübungskotext des Taekwondo als habitueller Möglichkeitsraum entwickelt, innerhalb dessen sich Emergenz von Bedeutung kontextuell, situativ und individuell entfaltet. Dabei werden die in Kapitel 2 beschriebenen kulturpolitischen Entwicklungen sowie aktuelle gesellschaftliche werteorientierte und auf Taekwondo bezogene Diskurse unter Berücksichtigung von Positionen der aktuellen Korea-Forschung einbezogen. Theatralität und Ritualität werden in diesem Zusammenhang als Mittel der Macht analysiert, die ebenfalls performativ hervorgebracht werden. Dies geschieht anhand der Konzeptionen von Theatralität und Ritualität, die in den Abschnitten 3.2 und 3.3 erarbeitet worden sind. Die rahmenden Praktiken und Praktiken-Ensembles der untersuchten Trainingspraxis werden im Sinne einer Ästhetik der Hervorhebung als theatrale Praktiken analysiert, welche die Emergenz von Theatralität und Ritualität begünstigen. In einem letzten Schritt wird der Taekwondo Spirit der Praxis mit dem institutionellen Taekwondo Spirit81 verglichen. Des Weiteren werden Praktiken und Praxis des Taekwondo wie auch ihre theatralen und rituellen Qualitäten mit historischen und aktuellen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Südkorea kontextualisiert und ihre gemeinsame Verknüpfung als dynamischer, wechselseitiger Prozess dargestellt.
4.4
METHODOLOGISCHE ZWISCHENBILANZ
Für die vorliegende Studie wurde die Beobachtende Teilnahme, eine immersive Form der Teilnehmenden Beobachtung, als Methode der Datenerhebung gewählt. Die Datenaufzeichnung erfolgte methodenplural in Form von Feldprotokollen, Fotografien und Videoaufzeichnungen sowie dem Sammeln von Lehrund Werbematerialien in Form von Flugblättern und Broschüren. Typische Problematiken der Beobachtenden Teilnahme wie auch spezielle Probleme im Rah-
81 Vgl. Abschn. 2.3.
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ständnis von Bedeutung entsprechend, zwischen selbstreferentieller Bedeutung und Emergenz von Bedeutung unterschieden. Zur Analyse der selbstreferentiellen Bedeutungsebene wird der Blickwinkel auf die materielle Durchführung von Relationen, Bewegungen und lautlichen Äußerungen gerichtet und die Interpretation hinsichtlich der verkörperten Normen, Werte und Ideale dabei so basal wie möglich gehalten. Dabei gilt es, die selbstreferentielle Bedeutung als präreflexive Form der Bedeutung zu analysieren. Die Analyse der Emergenz von Bedeutung in der Trainingspraxis wird dann unter Bezugnahme auf kulturelle, soziale und politische Diskurse im historischen wie auch im gegenwärtigen Ausübungskotext des Taekwondo als habitueller Möglichkeitsraum entwickelt, innerhalb dessen sich Emergenz von Bedeutung kontextuell, situativ und individuell entfaltet. Dabei werden die in Kapitel 2 beschriebenen kulturpolitischen Entwicklungen sowie aktuelle gesellschaftliche werteorientierte und auf Taekwondo bezogene Diskurse unter Berücksichtigung von Positionen der aktuellen Korea-Forschung einbezogen. Theatralität und Ritualität werden in diesem Zusammenhang als Mittel der Macht analysiert, die ebenfalls performativ hervorgebracht werden. Dies geschieht anhand der Konzeptionen von Theatralität und Ritualität, die in den Abschnitten 3.2 und 3.3 erarbeitet worden sind. Die rahmenden Praktiken und Praktiken-Ensembles der untersuchten Trainingspraxis werden im Sinne einer Ästhetik der Hervorhebung als theatrale Praktiken analysiert, welche die Emergenz von Theatralität und Ritualität begünstigen. In einem letzten Schritt wird der Taekwondo Spirit der Praxis mit dem institutionellen Taekwondo Spirit81 verglichen. Des Weiteren werden Praktiken und Praxis des Taekwondo wie auch ihre theatralen und rituellen Qualitäten mit historischen und aktuellen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Südkorea kontextualisiert und ihre gemeinsame Verknüpfung als dynamischer, wechselseitiger Prozess dargestellt.
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METHODOLOGISCHE ZWISCHENBILANZ
Für die vorliegende Studie wurde die Beobachtende Teilnahme, eine immersive Form der Teilnehmenden Beobachtung, als Methode der Datenerhebung gewählt. Die Datenaufzeichnung erfolgte methodenplural in Form von Feldprotokollen, Fotografien und Videoaufzeichnungen sowie dem Sammeln von Lehrund Werbematerialien in Form von Flugblättern und Broschüren. Typische Problematiken der Beobachtenden Teilnahme wie auch spezielle Probleme im Rah-
81 Vgl. Abschn. 2.3.
152 | Im Gleichschritt des Dao
men der vorliegenden Forschungsarbeit wurden thematisiert und die Strategien hinsichtlich der Herstellung von Validität vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit lag auf dem Problem des going native, der ausgeprägten Immersion im beforschten Feld. Strategien, welche zum einen die Vorteile eines going native erhalten, zum anderen jedoch wissenschaftliche Distanz ermöglichen sollten, folgten insgesamt einer Strategie der reflexiven Distanzierung: Frei nach Wacquants Maxime „go native, but go native armed“. Als Analyseverfahren wurde die theater- und tanzwissenschaftliche Methode der Aufführungsanalyse ausgewählt, was wiederum mit einer vorherigen Argumentation des TaekwondoTrainings als Cultural Performance begründet wurde. Diese wurde unter dem Begriff performativitäts-ästhetische Analyse als Verschränkung semiotischer und phänomenologischer Analysestrategien auf Basis einer praxeologischen Grundlage beschrieben. Normen, Werte und Ideale werden als performativ hervorgebrachte Bedeutungen analysiert und theoriegestützt reflektiert. Abschließend wird die Praxis des Taekwondo im Kontext von Stabilität und Instabilität in historische und gegenwärtige kulturelle, gesellschaftliche und politische Dynamiken der kollektiven und individuellen Identitätsbildung eingeordnet. Es wird argumentiert, wie Taekwondo gerade als theatrale Praxis eine wichtige Rolle innerhalb dieser Prozesse einnehmen konnte und kann.
4.5
DAS FELD. EINE EINFÜHRUNG: ZUGANG, ORIENTIERUNG UND AUSWAHL DES FORSCHUNGSKONTEXTES
Der Beschreibung und Analyse des empirischen Materials geht an dieser Stelle zunächst eine Einführung in das Feld voran. Es sei erwähnt, dass die Durchführung der Fallstudie in ihrer letztlichen Form nicht unwesentlich einer gewissen Fügung zuzuschreiben ist. „Fügung“ als wissenschaftliches Auswahlkriterium anzuführen, bedarf zweifellos einer kritischen Diskussion. Daher werden nun sowohl der Auswahlprozess als auch die ausschlaggebenden Kriterien für die Wahl der untersuchten Taekwondo-Schule vorgestellt. Das geplante Vorgehen zur Auswahl des konkreten Forschungsfeldes sollte ursprünglich eine zielgerichtete Recherche und Evaluation potenzieller Taekwondo-Schulen beinhalten, auf deren Basis dann eine Auswahl getroffen werden sollte. Zu diesem Zweck sollte dem eigentlichen Forschungsaufenthalt eine Recherche- und Networking-Reise im Großraum Seoul vorangehen. Ziel war es, vorab verschiedene potenzielle Schulen zu besichtigen und Bekanntschaften in der Seouler Taekwondo-Szene zu schließen, die für die spätere Feldforschung hilfreich sein sollten. Tatsächlich stellte sich der Erstaufenthalt in Seoul als
152 | Im Gleichschritt des Dao
men der vorliegenden Forschungsarbeit wurden thematisiert und die Strategien hinsichtlich der Herstellung von Validität vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit lag auf dem Problem des going native, der ausgeprägten Immersion im beforschten Feld. Strategien, welche zum einen die Vorteile eines going native erhalten, zum anderen jedoch wissenschaftliche Distanz ermöglichen sollten, folgten insgesamt einer Strategie der reflexiven Distanzierung: Frei nach Wacquants Maxime „go native, but go native armed“. Als Analyseverfahren wurde die theater- und tanzwissenschaftliche Methode der Aufführungsanalyse ausgewählt, was wiederum mit einer vorherigen Argumentation des TaekwondoTrainings als Cultural Performance begründet wurde. Diese wurde unter dem Begriff performativitäts-ästhetische Analyse als Verschränkung semiotischer und phänomenologischer Analysestrategien auf Basis einer praxeologischen Grundlage beschrieben. Normen, Werte und Ideale werden als performativ hervorgebrachte Bedeutungen analysiert und theoriegestützt reflektiert. Abschließend wird die Praxis des Taekwondo im Kontext von Stabilität und Instabilität in historische und gegenwärtige kulturelle, gesellschaftliche und politische Dynamiken der kollektiven und individuellen Identitätsbildung eingeordnet. Es wird argumentiert, wie Taekwondo gerade als theatrale Praxis eine wichtige Rolle innerhalb dieser Prozesse einnehmen konnte und kann.
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DAS FELD. EINE EINFÜHRUNG: ZUGANG, ORIENTIERUNG UND AUSWAHL DES FORSCHUNGSKONTEXTES
Der Beschreibung und Analyse des empirischen Materials geht an dieser Stelle zunächst eine Einführung in das Feld voran. Es sei erwähnt, dass die Durchführung der Fallstudie in ihrer letztlichen Form nicht unwesentlich einer gewissen Fügung zuzuschreiben ist. „Fügung“ als wissenschaftliches Auswahlkriterium anzuführen, bedarf zweifellos einer kritischen Diskussion. Daher werden nun sowohl der Auswahlprozess als auch die ausschlaggebenden Kriterien für die Wahl der untersuchten Taekwondo-Schule vorgestellt. Das geplante Vorgehen zur Auswahl des konkreten Forschungsfeldes sollte ursprünglich eine zielgerichtete Recherche und Evaluation potenzieller Taekwondo-Schulen beinhalten, auf deren Basis dann eine Auswahl getroffen werden sollte. Zu diesem Zweck sollte dem eigentlichen Forschungsaufenthalt eine Recherche- und Networking-Reise im Großraum Seoul vorangehen. Ziel war es, vorab verschiedene potenzielle Schulen zu besichtigen und Bekanntschaften in der Seouler Taekwondo-Szene zu schließen, die für die spätere Feldforschung hilfreich sein sollten. Tatsächlich stellte sich der Erstaufenthalt in Seoul als
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geeignete Möglichkeit heraus, die Beobachtende Teilnahme unmittelbar in einer Taekwondo-Schule durchzuführen. Dies entsprach zwar nicht der ursprünglich geplanten Vorgehensweise, brachte jedoch erhebliche Vorteile mit sich. Diese werden im weiteren Verlauf des Abschnitts genauer erläutert. Um die Doppelrolle als Wissenschaftler und Praktiker auch in der Verschriftlichung Rechnung zu tragen, wurde für die Beschreibung des Zugangs und der ersten Orientierung im Feld ab Abschnitt 4.5.2 eine narrative Diktion in der Ich-Perspektive gewählt, von der ab Abschnitt 4.4.5 wieder in eine wissenschaftliche Diktion gewechselt wird. Dies spiegelt gleichzeitig den eigenen Prozess der Rollenverschiebung im Feld wider. 4.5.1 Planung und Vorarbeit Begannen die Planung und die konkrete Vorarbeit der Feldstudie im Frühjahr 2015, so muss doch auch die eigene langjährige Taekwondo-Praxis als Form der Vorarbeit gesehen werden, die, wie im Abschnitt 4.1 umfassend erläutert, ein zentrales Prinzip des Forschungszugangs darstellt. Über das eigene implizite Körperwissen hinaus wurde sich über die Jahre hinweg außerdem ein entsprechendes diskursives Wissen angeeignet, das neben spezifischer Terminologie auch die wissenspolitische Organisation des Taekwondo auf institutioneller Ebene umfasst. Dies verkürzte die Einarbeitung in die verschiedenen Organisationsformen und Institutionen des Taekwondo in Südkorea und der damit einhergehenden Lokalisation von potenziellen Forschungskontexten erheblich. Die Beobachtung musste neben der Trainingspraxis einer privaten TaekwondoSchule auch die Trainingspraxis an einer Hochschule umfassen, da, wie Udo Moenig feststellt, Universitäten einen der Leistungsstandorte der südkoreanischen Taekwondo-Szene darstellen.82 Als potenzielle Hochschulen wurden aufgrund ihrer Omnipräsenz im Taekwondo-Diskurs 83 die Yong In University (용인대학교), die Kyung Hee University (경희대학교) und die Korea National Sports University (한국체육대학교) eingegrenzt. Das Kukkiwon war aufgrund seiner hegemonialen Autorität in Bezug auf technische Standards, die Erstellung 82 Vgl. Moenig 2017, S. 165. 83 Anm.: Dies bezieht sich auf den Diskurs im Kontext des Taekwondo, der neben dem verbalen Diskurs im Kontext des Taekwondo-Trainings auch den Diskurs in den neuen Medien beinhaltet. Dazu zählt neben der Kommunikation in diversen Gruppen in sozialen Netzwerken auch die Kommunikation innerhalb klassischer Internet-Foren. Im deutschsprachigen Raum ist hier das „Kampfkunst-Board“ zu nennen und dort insbesondere das Unterforum zu koreanischen Kampfkünsten (http://www.kampfkunstboard.info/forum/f13/, abgerufen 01.07.2020).
154 | Im Gleichschritt des Dao
von Dan-Urkunden und seine symbolische Autorität als „World Taekwondo Headquarter“ als Forschungskontext obligatorisch.84 4.5.2 Ankunft und erste Orientierung Der erste Kontakt mit der Taekwondo-Szene von Seoul wurde durch den eigenen Taekwondo-Lehrer in Deutschland hergestellt. Aufgrund der langjährigen Lehrer-Schüler-Beziehung wie auch der eigenen Lehrtätigkeit in seiner Akademie bot er an, einen Kontakt herzustellen. Ein Onkel seinerseits, der zu der Zeit eine Schule in Seoul betrieb, sich jedoch von der aktiven Lehrtätigkeit zurückgezogen hatte, wurde schließlich die erste Kontaktperson mit der Taekwondo-Szene von Seoul. Er und seine Familie, insbesondere seine zwei Söhne, halfen vor Ort sowohl bei der ersten Orientierung als auch bei der Suche nach einer Sprachschule. Er sprach kein Englisch und auch die Englischkenntnisse seiner Söhne, beide Anfang Zwanzig, reichten für eine flüssigen Kommunikation nicht aus. Die Kommunikation erfolge daher in einfachem Englisch unter Verwendung einiger weniger koreanischer Vokabeln und Google Translate. Das geplante Vorgehen in Seoul beinhaltete ursprünglich den Besuch mehrerer Taekwondo-Schulen. Tatsächlich erfuhr ich vor Ort jedoch, dass der Onkel meines Lehrers mich für die nächsten Monate in der Schule eines Bekannten untergebracht hatte. Direkt nach meiner Ankunft in Seoul an einem Sonntagnachmittag und einem gemeinsamen Mittagessen mit meinem koreanischen Kontakt und seiner Familie wurde ich von ihnen zu meiner künftigen Gastschule gebracht, wo der Schulleiter bereits auf uns wartete. Zu meinem Erstaunen wurde ich direkt von ihm dazu aufgefordert meine Trainingskleidung anzulegen und ihm meine Fähigkeiten zu demonstrieren. Unmittelbar nach der Reise und dem reichhaltigen Mittagessen war die eigene körperliche Verfassung angeschlagen, mir wurde jedoch anschließend zu verstehen gegeben, dass meine Fähigkeiten ausreichend seien, um mit seinen fortgeschrittenen Schüler*innen zu trainieren. Am selben Tag noch begleitete ich den Schulleiter zu einem Treffen der Ortsvereinigung der Taekwondo-Alumni seiner ehemaligen Universität, die eine der besten drei Taekwondo-Universitäten des Landes war. Die ersten drei Nächte verbrachte ich jeweils in der Wohnung einer der beiden Trainer seiner Schule, beide im Alter von Mitte bis Ende Zwanzig. Beide lebten noch bei ihren Eltern, was in Südkorea zu diesem Zeitpunkt bis zur Heirat üblich war. In den folgenden Tagen besichtigte ich gemeinsam mit dem Schulleiter diverse Wohnmöglichkeiten. Schließlich entschied ich mich für ein Zimmer in
84 Vgl. Abschn. 2.2.
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einem sogenannten Koshiwŏn oder Koshit'el (고시원/고시텔)85, für das er einen günstigen Preis verhandeln konnte. Gemeinsam besuchten wir außerdem eine nahegelegene Sprachschule, bei der er mir kostenlosen Sprachunterricht für die nächsten Monate organisierte. Dabei handelte es sich um das örtliche Global Village Center (금천굴로벌비리지센터), einer staatlichen Einrichtung mit vielen Standorten mit der Aufgabe, Gastarbeiter*innen und Migrant*innen die koreanische Sprache und Kultur näherzubringen. Dort lernte ich gemeinsam mit einem Niederländer, der aufgrund einer Beziehung nach Korea gezogen war, und mehreren chinesischen und vietnamesischen Frauen die weiterführenden Grundlagen der koreanischen Sprache, nachdem ich bereits im Vorfeld der Forschung eigenständig mit dem Sprachtraining begonnen hatte. 4.5.3 Der Forschungskontext: Ein Überblick Die Schule befand sich im Bezirk (구, Ku) Kŭmch'ŏn (금천), einem südwestlichen Außenbezirk der Stadt Seoul. Der Bezirk beheimatete mehrere Technologieunternehmen, hatte jedoch ein durchschnittlich geringeres Einkommensniveau im Vergleich zu anderen Bezirken. 86 Kŭmch'ŏn hat im Jahr 2020 eine Bevölkerungszahl von 251.820 Einwohnern, die seit 1997 tendenziell rückläufig war. In dieser Zeit hat sich die Bevölkerung um etwa 20.000 reduziert. 87 Zur Zeit
85 Anm.: Bei einem Koshiwŏn handelt es sich um eine Kombination aus Hostel und Wohnheim. Zimmer sind bereits ab einer Nacht zu haben, die meisten Bewohner*innen bleiben in der Regel jedoch länger, von mehreren Monaten bis zu mehreren Jahren. Bei vielen Bewohner*innen handelt es sich um Gastarbeiter*innen aus anderen Provinzen, um Studenten oder Auszubildende oder schlichtweg ledige Männer, die sich keine eigene Wohnung leisten können oder wollen. Die Zimmergröße liegt oftmals um 6 m². Der Preis variiert und ist abhängig vom Vorhandensein einer Nasszelle oder einem Fenster. Eine Grundverpflegung ist häufig im Preis inbegriffen und umfasst Reis, Kimch'i (김치, fermentierter und mit Chili, Knoblauch und Ingwer gewürzter Chinakohl) sowie häufig auch Instant-Nudeln, Eier, Tee und Kaffee. Eigene Nahrungsmittel können in einer Gemeinschaftsküche zubereitet werden. Waschmaschinen sind ebenfalls häufig vorhanden. 86 Kŭmch'ŏn Ku, englischer Wikipedia-Eintrag, https://en.wikipedia.org/wiki/Geumch eon_District, abgerufen 01.07.2020. 87 Kŭmch'ŏn Ku, citypopulation.de, https://www.citypopulation.de/php/southkorea-adm in.php?adm2id=11180, abgerufen 01.07.2020.
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der Beobachtung betrug die Bevölkerungszahl etwa 253,491 Einwohner*innen.88 Der Bezirk beheimatet die Seoul University of Buddhism sowie sechs HighSchools.89 Die Hauptstraßen sind gesäumt von Einkaufszentren und Entertainment-Komplexen. In den Seitenstraßen reihen sich 24-Stunden-Läden großer Ketten (CU, 7Eleven), günstige Restaurants, kleinere Geschäfte sowie Kneipen und Karaoke-Bars (노래방, Noraebang) aneinander. Die Taekwondo-Schule befand sich im Bezirksteil Toksan 3-Tong (독산제 3 동) in näherer Umgebung von mehreren Grund- und Mittelschulen sowie dem Nammun-Markt (남문시장). In der Umgebung befanden sich im Untersuchungszeitraum noch weitere Taekwondo-Schulen sowie eine KŏmdoSchule (검도, 剣道)90. Die Schule lag im Untergeschoss eines Mehrzweckhauses, das es sich mit einem Handwerksbetrieb und mehreren Wohnungen im oberen Bereich des Gebäudes teilte. Der Schulleiter, 8. Dan Kukki-Taekwondo, war Absolvent einer der drei topTaekwondo-Universitäten in Südkorea und hatte einen Master-Studiengang in Physical Education mit einer Arbeit zum Effekt von Taekwondo-Training auf das Selbstbewusstsein von Grundschüler*innen abgeschlossen. Das Training selbst wurde im Untersuchungszeitraum abwechselnd von zwei Trainern durchgeführt, ihrerseits Bachelor-Absolventen einer der drei Top-TaekwondoUniversitäten in Südkorea. Beide waren darüber hinaus im Zeitraum der Untersuchung Träger des 4. Dan Kukki-Taekwondo. Der Unterricht war aufgeteilt in mehrere Kinder- und eine Profigruppe.91 Die Kindergruppen waren in vier Gruppen organisiert, die von 14:00 Uhr bis 19:30 Uhr im Umfang von einer Zeitstunde, täglich von montags bis freitags stattfanden. Zwischen den Trainingseinheiten lag jeweils eine halbe Stunde Pause, die 88 Ebd. Anm.: Für die exakte Periode der Untersuchung waren keine Informationen bezüglich der Einwohner*innenzahl angegeben. Die Zahl bezieht sich auf das Jahr 2017, also ca. ein Jahr nach der Untersuchung. 89 Kŭmch'ŏn Ku, englischer Wikipedia-Eintrag, https://en.wikipedia.org/wiki/Geumch eon_District, abgerufen 01.07.2020. Anm.: Über die Anzahl an Elementary Schools und Middle Schools waren keine Informationen einsehbar. Anm.: Das koreanische Schulsystem teilt sich, angelehnt an das amerikanische, in Elementary School (초등학교, Ch'odŭnghakkyo), Middle School (중학교, Chunghakkyo) und High School (고등학교, Kodŭnghakkyo) ein. 90 Anm.: Bei Kŏmdo handelt es sich um die adaptierte Version des japanischen Kendo, welches während der japanischen Besatzungszeit nach Korea gebracht worden war (vgl. Abschn. 2.2). 91 Anm.: Diese Bezeichnungen stammen von den Trainern.
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zum Ankommen und Umziehen gedacht war. Diese Zeit stand den Kindern auch als freie Spielzeit zur Verfügung. Die Wahl der Gruppe lag bei den Eltern und Kindern. Es gab keine leistungsbedingte Unterscheidung der Gruppen. Kinder wurden entweder von ihren Eltern gebracht, kamen allein, wenn sie in der nahen Umgebung wohnten, oder wurden jeweils von einem der Trainer mit einem Kleinbus von der Schule oder dem Kindergarten abgeholt. Die Profigruppe war nicht alters- oder leistungsdefiniert. Potenziell stand die Gruppe allen ab etwa zehn Jahren offen. Entscheidendes Kriterium war vielmehr die Orientierung des Trainings anhand spezifischer Leistungsziele: Demonstration und in geringerem Ausmaß Poomsae-Wettkämpfe. In dieser Gruppe trainierten etwa zehn Personen im Alter von etwa 12 bis 18 Jahren montags bis freitags regulär von 20:00 Uhr bis 22:00 Uhr, während die älteren mindestens bis 23:00 Uhr zum freien Training blieben. Samstags fand das Training von 10:00 Uhr bis 12:00 Uhr statt, sodass an sechs Tagen der Woche für mindestens jeweils zwei Stunden trainiert wurde. Alle Profi-Schüler*innen waren, bis auf Ausnahmefälle, zu jedem Training anwesend. 4.5.4 Rollenwechsel, Strategiewechsel und Reflexionsprozess: Ein geeigneter Forschungskontext? Die Aussicht, die nächsten Monate in dieser Taekwondo-Schule zu verbringen, war zunächst nicht vereinbar mit der ursprünglich geplanten Vorgehensweise. Um die noch sehr frische Beziehung zu meinen Gastgebern nicht schon zu Beginn durch ein Aufbegehren meinerseits negativ zu beeinflussen, entschied ich mich zunächst, ihren Plänen Folge leisten. Aufgrund der strengen hierarchisch geprägten sozialen Konventionen, die ich dort vermutete, wollte ich vermeiden, mich diesen bereits zu Beginn meines Aufenthalts zu widersetzen. Trotz der regelmäßigen Trainingseinheiten wäre sicherlich genug Zeit vorhanden, auch andere Taekwondo-Schulen und Universitäten zu besuchen, die ich während eines späteren Aufenthalts im Rahmen meiner Studie hätte untersuchen können – so der ursprüngliche Gedanke. Bereits von Anfang an schloss ich jedoch auch diese Taekwondo-Schule als potenziellen Beobachtungskontext nicht aus. Mein Status war hier anfänglich der eines ausländischen Taekwondo-Trainers, der sich in Südkorea weiterbilden wollte. Dazu wurde ich vom Schulleiter angehalten, montags bis freitags um 12:00 Uhr in der Schule zu erscheinen, um den Trainern beim Training der Kindergruppen zu assistieren. Am Training der Profigruppe sollte ich selbst teilnehmen. Ich willigte vor dem Gedanken ein, dass ich dort nicht die gesamte Zeit bleiben müsste und für Networking auch später genug Zeit bleiben würde. Nach etwa zwei Wochen in der Schule, in denen ich bereits
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vereinzelt begonnen hatte Feldnotizen anzufertigen, entschloss ich mich schließlich, die Trainingspraxis in dieser Schule zu untersuchen. Ich begann also die Feldnotizen auszuweiten, Fotografien und Videos als Dokumentationsmedien anzufertigen und einen qualitativen Fragenkatalog zu entwickeln. Dieser beinhaltete sowohl Fragen zur allgemeinen Taekwondo-Praxis in Südkorea als auch Fragen zur persönlichen Sicht auf Taekwondo. Der Schulleiter fungierte während der Feldforschung als „Türsteher“ 92 und „Schlüsselinformant“ 93 zugleich. Darüber hinaus können auch mein Taekwondo-Lehrer in Deutschland wie auch sein Onkel als Türsteher bezeichnet werden, da beide in der Eingangsphase von maßgeblicher Bedeutung waren. Andere Schlüsselinformanten waren die beiden Trainer sowie zwei weit fortgeschrittene Schüler*innen der Profigruppe. Mehrere Faktoren waren für die Wahl der Schule entscheidend. Der universitäre Hintergrund des Schulleiters und seiner Trainer spielte eine entscheidende Rolle. Trainingsaufbau und Trainingsinhalt müssten durch seine Vorbildung gewissen technischen und didaktischen Standards entsprechen, was eine Übertragbarkeit auf die allgemeine Taekwondo-Praxis in Korea mit Einschränkungen ermöglichen könnte – so mein Gedanke. Dass seine beiden Trainer ebenfalls Bachelor-Absolventen der Physical Education an renommierten Universitäten waren, verstärkte diese Position noch weiter. Darüber hinaus konnte der Kontakt des Schulleiters zur einer der drei Top-Taekwondo-Universitäten in Südkorea besonders hilfreich sein. Schließlich wurde ein mehrtägiger Besuch des Trainings eines hochklassigen Taekwondo-Demo-Teams durch den Schulleiter ermöglicht. Auch der Zugang zu einer Gürtelprüfung im Kukkiwon und ebenso der Besuch der Performances „Rival“ und „Great Taekwondo“ wurde durch ihn ermöglicht. Nachdem meine Entscheidung, in der Schule zu bleiben, getroffen war, befragte ich den Schulleiter in einem Gespräch nach der Möglichkeit, mein Vorhaben an seiner Schule durchzuführen. Ich sagte, dass ich derzeit ein Forschungsprojekt verfolge, im Rahmen dessen ich gerne eine Arbeit über das Training in seiner Schule verfassen würde. Er willigte ein und informierte auch seine beiden Trainer über mein Vorhaben. Während ich für die Kinder im Training die Rolle des Martin Sabŏmnim, Trainer Martin, und in der Profigruppe die des ausländischen Trainingspartners innehatte, war mein Status bei dem Schulleiter und den Trainern nun zusätzlich der eines Forschenden. Retrospektiv sind weitere Vorteile dieser Entscheidung zu konstatieren. Der Faktor „Fügung“ oder auch „unvorhergesehene Prädisposition“ spielte hier eine konstitutive Rolle und bedarf weiterer Diskussion, die im nächsten 92 Anm.: Auch „gatekeeper“ (Wolf 2015, S. 337). 93 Wolf 2015, S. 342.
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Teilkapitel folgt. Dadurch, dass die untersuchte Taekwondo-Schule nicht intentional ausgewählt wurde, verringerte sich die Gefahr, eine Schule deshalb zu auszuwählen, weil die dort vollzogene Praxis den zuvor aufgestellten Hypothesen entsprochen hätte. Der Faktor „Fügung“ kann hier deshalb auch als Mittel der wissenschaftlichen Distanzierung betrachtet werden. Des Weiteren ist der anfängliche Zugang als „Nicht-Forschender“, als Taekwondo-Praktizierender, ein weiterer positiver Faktor. Gerade dadurch konnte schnell ein besonderes Maß an Vertrauen gewonnen werden, welches einen tiefen Zugang zum Forschungsfeld ermöglichte. Zusammenfassend waren die entscheidenden Faktoren für die Wahl der Schule: • •
•
Überregional anerkannte Qualifikation des Schulleiters und der Trainer im universitären und im Taekwondo-Kontext Training, das sowohl ein Kindertraining umfasst als auch ein leistungsorientiertes Training im Bereich Demonstration und Poomsae, was wiederum aktuelle Tendenzen im Bereich des Taekwondo in Korea wie auch weltweit widerspiegelt94 Die Kontaktmöglichkeit zu einem der führenden universitären Taekwondo-Institute in Korea
Darüber hinaus sind folgende Faktoren ebenfalls als relevant einzustufen: • •
Distanzierung durch den Faktor „Fügung“ Tiefer Zugang ins Feld aufgrund einer zunächst nicht-akademischen Rolle
4.5.5 Strategiewechsel und Forschungskontext: Diskussion In dieser abschließenden Diskussion werden folgende Fragen beantwortet: 1. Ist die Abweichung vom geplanten Vorgehen wissenschaftlich legitim? 2. Welche potenziellen Erkenntnisse sind dieser Entscheidung möglicherweise zum Opfer gefallen? Hans Merkens schreibt bezüglich möglicher Richtlinien für die Auswahl einer Fallstudie, dass solche Richtlinien in der Ethnologie nie eine wichtige Rolle gespielt hätten, da klassische ethnologische Fallstudien stets das Besondere zum Gegenstand hätten und dabei das „Besondere des Falls bereits über die Wahl des Gegenstandes gegeben“ sei.95 Er weist darauf hin, dass die Auswahl 94 Vgl. Kap. 2. 95 Merkens 2015, S. 287.
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einzelner Fälle in der Theorietradition Strauss’ und Corbins 96 durchaus auch „nach dem Zufallsprinzip möglich wäre, aber keinen Sinn mache“ 97. Mit Verweis auf Glaser und Strauss führt Merkens weiter aus, dass die Entscheidung für einen Fall stattdessen in Form eines bewussten Auswählens geschehen solle. Ein Vorwissen sei dabei von essentieller Bedeutung. 98 Die Auswahl selbst müsse dabei unter Beachtung der Dimensionen Zeit, Ort, Personen, Ereignisse und Aktivitäten getroffen werden.99 Ist die in dieser Studie getroffene Auswahl nach dieser Argumentation daher als illegitim zu betrachten, da ein gewisser Zufall eine konstitutive Rolle spielte? Auch in der bereits erwähnten Studie Wacquants zum Boxen in Chicago kann im weitesten Sinne etwas wie Zufall als ausschlaggebend für die Wahl der Fallstudie gesehen werden. 100 Hier war es ein Jūdōpraktizierender Freund, der Wacquant zu einer Boxschule brachte, die zufällig in der Nachbarschaft seiner Wohnung lag. 101 Diese Boxschule sollte schließlich Gegenstand seiner langjährigen Untersuchungen werden. Wenn der Zufall in der vorliegenden Studie auch eine Rolle gespielt haben mag, so war die schließlich getroffene Auswahl keineswegs willkürlich. Wie bereits erläutert, spielten die Hauptakteure, der Schulleiter und die Trainer, ihre institutionelle Bildung und Anbindung, die Art und der Umfang des Trainings wie auch der Trainingsort bei der Evaluation der Fallstudie eine entscheidende Rolle. Inspektion und Exploration102 geschahen hier direkt aufeinander folgend, während ihr nahtloser Übergang möglicherweise tatsächlich so etwas wie Fügung oder Zufall sein mochte. Da trotz allem die Entscheidung bewusst und unter Berücksichtigung ähnlicher Dimensionen, wie es Merkens mit Verweis auf Strauss und Glaser ausführt, und mit Bezug auf vorhandenem theoretisches Wissen um die Organisationsstruktur und Praxis des Taekwondo in Südkorea getroffen wurde, kann eine wissenschaftliche Legitimität als gegeben gesehen werden. Die Recherche weiterer Taekwondo-Schulen hätte sicherlich Vorteile bringen können. Die Feldforschung in Schulen weltweit bekannter TaekwondoExperten durchzuführen, hätte Vorteile wie etwa die Beobachtung noch höheren 96 Anm.: Merkens bezieht sich dabei hauptsächlich auf die von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss geprägte Grounded Theory und deren heutige Hauptvertreter, insbesondere Juliet Corbin (vgl. Glaser/Strauss 1967; Corbin/Strauss 1996). 97 Merkens 2015, S. 196. 98 Merkens 2015, S. 295. 99 Merkens 2015, S. 296. 100 Wacquant 2004. 101 Wacquant 2004, ix. 102 Vgl. Merkens 2015, S. 295.
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technischen Könnens mit sich bringen mögen. Zwei Gründe sprachen jedoch ganz besonders gegen ein solches Vorgehen. Der erste Punkt umfasst die finanzielle und logistische Umsetzbarkeit. Der zeitliche und finanzielle Aufwand wäre um ein Vielfaches höher gewesen, während der Nutzen für die Studie nicht im Vergleich dazu gestanden hätte. Der zweite Punkt umfasst eine höhere Validität. Durch die weniger gezielte Auswahl des Forschungskontextes bestand eine geringere Gefahr, vorgefertigte Theorien und Meinungen (unbewusst) zu reproduzieren. Darüber hinaus beinhaltete das gewählte Vorgehen auch eine potenziell höhere Übertragbarkeit auf die Allgemeinheit der Trainingspraxis in Südkorea, da nicht explizit darauf geachtet wurde, einen besonders hervorstechenden Fall zu wählen. Es zeigt sich, dass das gewählte Vorgehen als methodologisch begründbar bezeichnet werden kann. Ob es epistemologisch als das bessere Vorgehen bezeichnet werden kann, bleibt aufgrund fehlender Vergleichsstudien unbeantwortet. In jedem Fall jedoch hat das gewählte Vorgehen einen tiefen und differenzierten Einblick in die Praxis des Taekwondo in Südkorea ermöglichen können. Nachdem in diesem Kapitel die empirische Forschungsmethode erarbeitet wurde, folgt im nächsten Kapitel die Analyse des empirischen Datenmaterials. Die forschungsleitenden Fragestellungen dazu wurden bereits in Kapitel 3 erarbeitet. Für das folgende Kapitel sind folgende Fragen von zentraler Bedeutung: 1. 2. 3.
Welche Praktiken(-Ensembles) rahmen die Praxis des Taekwondo? Wie wird Taekwondo Spirit als Bedeutung in der Praxis hervorgebracht? Welche Rolle spielen theatrale Praktiken in der Trainingspraxis?
5. Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis: Ein Fallbeispiel
Gegenstand des nun folgenden Kapitels ist die Analyse des Datenkorpus, der während des Forschungsaufenthaltes 2015/16 zusammengetragen wurde. Im Fokus dieses Kapitels steht die Trainingspraxis des Taekwondo als Fallbeispiel, welches einer performativitäts-ästhetischen Analyse1 unterzogen wird. Der Blick richtet sich dabei auf die performative Ästhetik des Trainings als Aufführung. Dazu erfolgt zunächst eine Beschreibung des Trainingsraumes und der angrenzenden Räumlichkeiten, also dessen, was Fischer-Lichte als „geometrischen Raum“ bezeichnet. 2 Wichtig sind hierbei die Architektur der Schulräume im Sinne ihrer räumlichen Aufteilung und die dekorativen bzw. repräsentativen Elemente (Bilder, Banner, Urkunden etc.), die zur grundlegenden Ausstattung des Interieurs gehören und unabhängig von der situativen Trainingspraxis eine räumliche Rahmung bilden. Darauffolgend wird auf die zentralen Akteur*innen(-Gruppen) eingegangen, die ebenfalls als Konstanten bei wechselnden Praktiken betrachtet werden: Die Schüler*innen, die Trainer und der Schulleiter. Dazu wird insbesondere ihre äußere Erscheinung hinsichtlich einer wiederkehrenden Art der Bekleidung analysiert. Obwohl Raum und Akteur*innen als nicht-variable Aspekte der Praxis betrachtet werden, wird ihre performative Einbindung theoretisch mitreflektiert. Im nächsten Abschnitt werden schließlich die zentralen Praktiken aufgearbeitet, die in der Trainingspraxis vorgefunden wurden. Diese sind gemäß ihren körperlichen Ausdrucksformen und ihrer räumlichen Anordnungen in unterschiedliche Kategorien gegliedert. Es handelt es sich um acht Praktiken-Gruppen, also Gruppierungen von mehreren PraktikenEnsembles. Diese gliedern sich wie folgt: Grundgerüst – Praktiken-Ensembles, die in jeder Trainingseinheit vorkommen und die eigentliche Trainingspraxis 1
Vgl. Abschn. 4.3.1.
2
Vgl. Abschn. 3.2.2.1.
164 | Im Gleichschritt des Dao
rahmen (etwa Begrüßungs- und Verabschie-dungspraktiken etc.), Fußtechniken – alle Praktiken-Ensembles, in denen Tritte in jeglicher Form im Mittelpunkt stehen, Kibondongjak/Poomsae – Praktiken-Ensembles, in denen Bewegungsformen und deren Teilsequenzen und konstituierende Einzeltechniken im Mittelpunkt stehen, Kyŏrugi – Freikampf und kampfartige Partnerübungen, Undong – allgemeines Konditions-, Beweglichkeits- und Krafttraining, Gehen, Drehen, Sitzen – Praktiken-Ensembles, die den Fokus auf richtiges Gehen, Drehen und Sitzen legen sowie allgemeine Praktiken der fokussierten Belehrung durch die Trainer oder den Schulleiter, Performance(-vorbereitung) – Vorbereitung auf konkrete Performances sowie hybride Praktiken zwischen Taekwondo und KPop und Freies Training. Die übergeordneten Praktiken-Gruppen werden nacheinander zunächst im Detail anhand ihrer konstitutiven Praktiken und PraktikenEnsembles beschrieben. Darauf folgt eine Analyse ihrer zentralen performativitäts-ästhetischen Aspekte anhand von Fischer-Lichtes Konzeptualisierung der Materialität von Aufführungen in den Kategorien: Räumlichkeit (geometrischer und performativer Raum), Körperlichkeit (Verkörperung/Embodiment und Präsenz), Lautlichkeit (Hör-Räume und Stimmlichkeit), Zeitlichkeit (Time Brackets und Rhythmus) sowie Semiotizität (Selbst- referentialität und Emergenz von Bedeutung). In den Beschreibungen wurde bewusst der Tempuswechsel zwischen Präsens und Präteritum verwendet, um die Beschreibung der PraktikenEbene, im Präsens, von der Praxis-Ebene, im Präteritum, zu unterscheiden. In einem letzten Schritt werden anhand jeder Praktiken-Gruppe ihre theatralen Aspekte und möglichen rituellen Funktionsweisen aufgezeigt. Dazu wird ebenfalls die in Abschnitt 3.3 erarbeitete Heuristik mit einem aktualisierten Theatralitätskonzept und einem Schwerpunkt auf theatrale Praktiken angewendet.
5.1
DER DOJANG: ZWISCHEN FUNKTIONALITÄT UND ÄSTHETIK
Dojang (도장, 道場) bezeichnet im Taekwondo und anderen koreanischen Martial Arts den Übungsraum, in dem das Training stattfindet. Übersetzt bedeutet der Begriff etwa „Raum in dem Do praktiziert wird“. Wie schon im Namen „Taekwondo“ bezeichnet Do auch hier den Weg der Charakterentwicklung. Bereits beim ersten Betreten des Dojang der untersuchten Taekwondo-Schule entsteht der Eindruck, dass es sich hierbei nicht um einen rein funktionalen Trainingsraum handelt, dessen konstitutive Elemente der rein pragmatischen Durchführung des Trainings untergeordnet sind. Vielmehr erscheint er als Raum mit zahlreichen dekorativen Elementen. Funktionalität und Ästhetik wirken hier in besonderer Art und Weise miteinander verbunden.
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis | 165
Der Boden des Dojang ist durchgängig mit einer dünnen Mattenfläche ausgelegt, die wiederum mit einer bedruckten Plane bedeckt ist. Das Muster der Plane stellt einen Holz- oder Parkettfußboden dar. Kleine Aufkleber auf dem Boden, angeordnet in einem Rechteck aus drei mal vier Punkten, markieren die Positionen, auf denen sich die Schüler*innen für viele der Trainings-Praktiken einzufinden haben. Sie zeigen eine comicartig stilisierte Figur, die einen TaekwondoAnzug tragend in sitzender Haltung abgebildet ist. Der Text um die Figur herum ist eine Erklärung, wie Taekwondo-Praktizierende sitzen sollten. In der oberen Zeile steht die Anweisung „Fäuste auf den Knien, Rücken gerade, die Augen auf den Schulleiter gerichtet“. In der unteren Zeile steht frei übersetzt: „Das Herz des Menschen spiegelt sich in der Haltung und dem Gesichtsausdruck wider.“ Die Aufkleber erfüllen in der Trainings-Praxis die Funktion von Positionsmarkierungen für die Schüler*innen. Ihre genaue Verwendung in der Praxis wird im Zuge der Trainings-Praktiken näher erläutert. Die Frontseite des Dojang ist mit Kunststoff in Holzoptik verkleidet. In der Wandmitte ist die koreanische Nationalflagge (태극기, 太極旗, t'aegŭkki) angebracht. Rechts von ihr ist auf einem Poster ein kniender Taekwondoin3 abgebildet, der mit geballten Fäusten die Enden seines Gürtels greift. Auf der linken Seite ist auf einem zweiten Poster ein Tiger mit blitzendem Auge zu sehen. Der Tiger ist ein wiederkehrendes Motiv, sowohl im Rahmen des Taekwondo als auch in der „traditionellen“ koreanischen Symbolik. 4 Im selben Bild befindet sich unterhalb des Tigers ein Taekwondoin in Wettkampfausrüstung, der einen gedrehten Tritt ausführt. Seine Ausrüstung ist in Rot gehalten. Darüber befindet sich in goldenen abgesetzten Buchstaben der Schriftzug „용인대학교 태권도 시범단 동문도장” (yong-indaehakkyo t'aegwŏndo shibŏmdan tongmundojang), was so viel bedeutet wie „Yong In Universität Taekwondo DemonstrationsTeam-Absolventen-Dojang“. An den linken und rechten Enden der Wandverkleidung der Frontseite befinden sich etwa auf Kopfhöhe zwei Lautsprecher. In der linken Ecke befinden sich die Trainingsgegenstände, die im Training am häufigsten zur Anwendung kommen: Pratzen zum Üben von Fußtechniken, 3
Anm.: Taekwondoin (태권도인, 跆拳道人, T'aegwŏndoin) bezeichnet eine/n Taekwondo-Praktizierende/n.
4
„The tiger is seen as a protective and benevolent spirit in Korea, where it plays a dominant role in their creation myth, features in ancient shamanistic petroglyphs [...], and is deeply woven into many facets of life and culture. Although regarded with awe, the tiger is believed to possess great nobility of spirit and be able to banish evil spirits and guard the fortunes of her people. In short, a virtual deity whose image adorns wondrous screens, garden walls and doors in almost every household, thus ensuring its protection.“ (Green 2006, S. 96)
166 | Im Gleichschritt des Dao
„Bretter“ aus elastischem Schaumstoff zum Üben von Bruchtests oder Breaking5 sowie Scheiben aus Schaumstoff (Durchmesser ca. 10 cm, ca. 5 cm Höhe), um auf dem Boden im Rahmen unterschiedlicher Übungen Punkte auf dem Boden zu markieren. Diese Gegenstände sind auf blauen mattenartigen Quadern platziert, die ebenfalls für unterschiedliche Übungen verwendet werden. In der rechten Ecke der Stirnseite befindet sich die Tür, die zum Umkleidebereich nach rechts und zur Küche nach links führt. Weiter hinter der Tür befindet sich ein alternativer Eingang, der jedoch nicht genutzt wurde. Besonders erwähnt werden sollte die eingerahmte Tafel an der Wand neben der Tür zum Umkleidebereich. Sie ist überschrieben mit „승품 현황” (sŭngp'um hyŏnhwang), was frei übersetzt etwa „aktueller Status der Poom-Träger*innen“ bedeutet. Es handelt sich hierbei um die Auflistung der Gürtelgrade der Taekwondoin der Schule. Hierzu sind die Dan/Poom-Ausweise 6 der Schulangehörigen in flache durchsichtige Fächer in nach unten absteigender Reihenfolge angeordnet. Anzumerken ist, dass auf der Tafel lediglich die Schülerinnen und Schüler aufgezählt sind, die mindestens den ersten Poom erreicht haben und aktiv am Training teilnehmen. In der linken oberen Ecke befindet sich die Karte des Schulleiters, die sich optisch von denen der anderen abhebt. Danach folgen die beiden Trainer und schließlich alle Schülerinnen und Schüler. Es ist zu erkennen, dass die ersten Schüler*innen neben den Trainern anders gestaltete Karten besitzen, was jedoch lediglich auf ein älteres Design hinweist. Die Wände des Dojang sind bis zu einer Höhe von etwa 1,5 m mit blauweißen Mattenflächen bedeckt. Säulen im Bereich des Dojang sind ebenfalls in dieser Weise verkleidet. Auf Nachfrage wurde von den Trainern bestätigt, dass diese Art der Wandverkleidung in wechselnden Farbvarianten in vielen Dojang genutzt werde, um eine höhere Sicherheit für Kinder zu gewährleisten, wenn diese spielen und herumrennen. Aus Perspektive des Eingangs befindet sich am Ende der rechten Wandseite die Tür zum Büro des Schulleiters. Über der Tür befindet sich eine gerahmte Kopie der Kalligrafie, die Präsident Park Chung Hee zum Anlass der Ernennung des Taekwondo zum Nationalsport Koreas eigenhän5
Anm.: Breaking ist eine der Praktiken-Ensembles, die im weiteren Verlauf des Kapitels analysiert werden.
6
Anm.: Bei Abschluss eines Poom- oder Dan-Grades erhält jede/r Taekwondoin eine Urkunde und einen speziellen Ausweis. Er hat die Form und Größe einer Kreditkarte und zeigt eine Fotografie der Person, das Geburtsdatum, den aktuellen Grad und die Dan/Poom-Nummer. Diese Nummer bekommt jede/r Taekwondoin bei Ausstellung der Urkunde zugewiesen. Der Ausweis zeigt darüber hinaus weitere Symbole der (Kukkiwon-)Legitimation wie die Unterschrift des Präsidenten und einen offiziellen Stempel.
amtierenden Kukkiwon-
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis | 167
dig anfertigte. Die Bezeichnung „Kukki“ (국기, 國技) wird gemeinhin als „Nationalsport“ übersetzt. Diese Übersetzung ist allerdings ungenau. Während Kuk (국, 國) durchaus mit „Nation“ oder „national“ übersetzt werden kann, kann Ki (기, 技) lediglich in diesem Zusammenhang und auch nur sehr frei mit „Sport“ übersetzt werden. Genauer wäre die Übersetzung mit „Technik“ im Sinne von „Körpertechnik“. Eine treffendere Übersetzung wäre demnach „nationale Technik“ oder „nationale Fertigkeit“. In einer Ecke neben der Bürotür befindet sich ein Regal mit verkäuflicher Taekwondo-Kleidung, daneben ein Gerät zum Messen der Körpergröße. Außerdem befindet sich in der Ecke ein Wasserspender mit abwaschbaren Trinkbechern, der von den Schüler*innen benutzt werden kann. Alle teilen sich gemeinsam die wenigen Becher, die zur Verfügung stehen. An der rechten Wandseite befindet sich neben zwei Türen und zwei Fenstern zu weiteren Räumlichkeiten auch eine Tafel, auf der Ankündigungen und aktuelle Termine öffentlich gemacht werden. Die linke Tür führt zu einem Raum mit Trampolin. Dieser nimmt eine besondere Bedeutung innerhalb der Schule ein, obwohl er für das eigentliche Training keine Rolle spielt. Die Schüler*innen dürfen den Bereich vor und nach dem Training zum Spielen nutzen, was in dem Zeitraum der Beobachtung rege angenommen wurde. Auf den Werbetafeln außerhalb der Schule wie auch auf Werbeflyern wird außerdem mit dem Trampolinbereich als Sonderleistung der Schule geworben. Die Tür rechts neben dem Trampolinraum führt zu einem Abstellraum, in dem weitere Trainingsutensilien wie elastische Bänder, weitere Schlagpolster, Springseile und Pylonen aufbewahrt werden. Die rechte wie auch die hintere Wandseite des Dojang sind über dem gepolsterten Bereich mit gerahmten Bildern, herausgegeben von der Korea Taekwondo Assocciation, dekoriert. Auf insgesamt neun Bildern sind Kinder in unterschiedlichen (Trainings-)Situationen dargestellt, die jeweils auf positive Effekte des Taekwondo-Trainings und auf Taekwondo-Werte verweisen. Auf fünf von ihnen sind Schlagwörter in koreanischer und englischer Sprache geschrieben: „Focus“, „Endurance“, „Sociability“, „Leadership“ und „Confidence“. Auf den anderen vier Bildern sind Trainingssituationen zu sehen, die jeweils mit kurzen prägnanten Sätzen unterschrieben sind, die wiederum grundlegende Verhaltensnormen in und um das Taekwondo-Training thematisieren. Gegenüber der Frontseite des Trainingsraums befindet sich der Eingangsbereich zum Dojang. Der Boden in diesem Bereich ist etwas niedriger und andersfarbig als der Boden im Trainingsbereich. Er bildet eine Übergangszone zwischen dem Bereich, der mit Schuhen betreten werden kann und dem Bereich, der nur barfuß oder in Socken zu betreten ist. Hier findet sich ebenfalls eine Wanduhr. Neben dem Eingangsbereich hängt ein weiteres Bild, das in lateinischen
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Buchstaben mit „Korea Taekwon Mask“ betitelt ist. Wie in der rechten unteren Ecke zu erkennen ist, wurde diese Grafik zu den Olympischen Sommerspielen 2000 in Sydney erstellt, bei denen Taekwondo zum ersten Mal als reguläre Wettkampfdisziplin ausgetragen wurde.7 Auf dem Bild sind Figuren abgebildet, die entweder alleine oder paarweise Taekwondo-Techniken ausüben. Sie tragen dabei für Taekwondo spezifische Kleidung und unterschiedliche Masken, die „traditionellen“ koreanischen Performance-Genres entlehnt sind. Untertitelt sind die einzelnen Figuren jeweils mit der Bezeichnung für die Figur, welche die jeweilige Maske im Kontext der entsprechenden Performance-Tradition repräsentiert. An der linken Wand befinden sich zwei große Spiegel, welche fast die gesamte Wandfläche einnehmen und durch eine gepolsterte Säule voneinander getrennt sind. Über den Spiegeln hängen jeweils Banner mit Zitaten. Beide thematisieren Leistungswillen und wie ein Individuum zu diesem gelangen kann. Das Zitat auf der linken Seite wird dem Dichter Dante Alighieri (1265-1321) zugeschrieben. Es lautet: „나는 할 수 있다. 나는 해낸다. 나에게는 오직 전진뿐이다. 이런 신념을 지니는 습관이 당신의 목표를 달성시킨다. 너의 길을 걸어가라. 사람들이 무어라 떠들든 내버려 두어라.“ „Ich kann es tun. Ich schaffe es. Ich habe das Potential. Ich muss nur weitermachen. Mit dieser Routine kommt man zum Ziel. Gehe deinen Weg. Zögere nicht, darauf Wert zu legen.“
Das Zitat auf der rechten Seite wird dem Maler und Bildhauer Michelangelo Buonarroti (1475-1564) zugeschrieben. Dieses lautet: „대부분의 사람들에게 가장 위험한 일은, 목표를 너무 높게 잡고 거기에 이르지 못하는 것이 아니라, 목표를 너무 낮게 잡고 거기에 도달하는 것이다.“ „Die größte Gefahr für die meisten Menschen ist es, sich sein Ziel nicht hoch genug zu setzen und dieses zu erreichen. Es geht darum, das Ziel zu erreichen, ohne das Ziel zu niedrig zu setzen.“
7
Anm.: Im Rahmen der Olympischen Sommerspiele 1988 und 1992 wurden Taekwondo-Wettkämpfe lediglich als Demonstrationssportart ausgetragen.
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Die Decke ist mit weißen Platten abgehangen, in die Belüftungslöcher und Lichtleisten eingelassen sind. Außerdem ist mittig ein Projektor angebracht, der zur Stirnseite des Dojang hin ausgerichtet ist. Hinter dem Dojang befindet sich der Umkleide- und Küchenbereich. Beide Bereiche sind funktional eingerichtet. Anders als der Dojang, der mit Artefakten unterschiedlicher Art gefüllt ist, sind diese Bereiche frei von dieser Art der ästhetisierten Ausstattung. Im Küchenbereich, der etwa 6 qm misst, finden sich ein Kühlschrank, Herdplatten, ein Reiskocher, Tisch und Hocker sowie mehrere Schränke und Regale. Hier ist der Bereich, in dem die Trainer und ggf. der Schulleiter Mittag- und Abendessen zubereiten und zu sich nehmen. Die Schüler*innen haben üblicherweise keinen Zutritt zu diesem Bereich. Ausgenommen waren wiederholt einige wenige ranghohe Schüler*innen, wenn sie über den Tag hinweg beim Training assistierten oder aus anderen Gründen den Tag in der Schule verbrachten. An den Küchenraum ist ein Badezimmer angeschlossen, welches durch eine dünne Schiebetür vom Küchenbereich abgetrennt ist. Der Umkleidebereich ist ähnlich funktional eingerichtet wie der Küchenbereich und wird von männlichen als auch weiblichen Schüler*innen genutzt. Hier finden sich abschließbare Schränke für die Profi-Taekwondoin sowie offene Regale, in welchen die Kinder-Taekwondoin vorübergehend ihre Straßenkleidung ablegen können. Darüber hinaus befindet sich in der Mitte des Raumes eine zweiseitige Sitzbank. In einer Ecke sind Kampfwesten für gelegentliches Sparring und Luftdruckgewehre für „Präzisions- und Konzentrationstraining“ gelagert.8 An den Umkleideraum schließt sich eine Toilette an, die von allen Schüler*innen genutzt wird. Der Bereich zwischen Küche und Umkleidebereich wurde zuvor als Eingangsbereich genutzt. Von hier führt eine Treppe nach oben aus der Schule hinaus, diese war zum Zeitpunkt der Studie jedoch nicht zugänglich. Auf die Nutzung als Eingangsbereich deuten darüber hinaus mehrere Regale für Schuhe hin, wie sie im aktuellen Eingangsbereich zu finden sind. Darüber hinaus hängen hier diverse alte Fotografien an den Wänden, die den Schulleiter sowohl bei Aufführungen zu Studienzeiten wie auch zu verschiedenen offiziellen Anlässen 8
Anm.: Anders als viele andere Trainingsgeräte in der Schule weisen die Kampfwesten einen hohen Abnutzungsgrad auf. Dies könnte darauf hindeuten, dass sie etwa besonders oft benutzt wurden. Beobachtungen während des Untersuchungszeitraums sprechen jedoch gegen diese These. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass die Westen gerade aufgrund ihrer geringen Rolle im laufenden Training bereits seit längerem nicht ausgetauscht worden sind. Auch die Luftdruckgewehre werden nach Aussage des Schulleiters ebenfalls eher selten verwendet. Manchmal jedoch würden sie für Schießübungen verwendet, um Präzision und Konzentration zu trainieren.
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als Schulleiter und Verbandsfunktionär zeigen. Zur Zeit der Studie diente dieser Bereich jedoch keineswegs repräsentativen Zwecken, worauf vor allem seine Nutzung als Abstellbereich hinweist. In der rechten hinteren Ecke des Dojang befindet sich das Büro des Schulleiters, in dem dieser administrative Arbeiten erledigt sowie (potenzielle) Schüler*innen und/oder ihre Eltern empfängt. Die Tür ist zumeist geschlossen. Hinter der Tür eröffnet sich ein Raum, der die Symbolik des Dojang weiterführt und überdies verdichtet. Beim Betreten des Raumes fällt der Blick zunächst auf den Schreibtisch des Schulleiters, der der Tür gegenüberliegend in der hinteren linken Ecke des Raumes positioniert ist. In der Wand hinter dem Tisch befindet sind mehrere kleine Fenster eingelassen. Neben einem Computer, einem Kalender und Büroartikeln fällt das Namensschild des Schulleiters ins Blickfeld. Dieses ist aus dunklem lackiertem Holz gefertigt, in dem ein Schriftzug mit seitlichen Drachendarstellungen aus Perlmutt eingelassen sind. Das Schild zeigt den Namen und die Position des Schulleiters in koreanischen und chinesischen Schriftzeichen. Der etwa 10 qm große Raum ist mit Artefakten gefüllt, sodass von den eigentlichen Wänden lediglich kleine Bereiche zu sehen sind. Auf der linken Seite des Raumes befindet sich ein Fernseher, auf dem der Schulleiter per Überwachungskamera die laufende Stunde mitverfolgen kann. An der Wand darüber finden sich Fotos des Schulleiters und seiner wichtigen Schüler*innen. Ein großes, zentral angebrachtes Bild zeigt eine Collage, bestehend aus einem Gruppenbild des Schulleiters und seiner Schüler*innen wie auch Einzelbildern der Schüler*innen in Taekwondo-Posen. Zwei weitere Fotos zeigen Gruppenbilder des Schulleiters mit wichtigen Schüler*innen, jeweils in TaekwondoKleidung und gehobener Freizeitkleidung. An den übrigen Wänden stehen Regale, in denen sich wiederum diverse Pokale, Medaillen, Zierteller, Souvenirs aus dem Ausland sowie diverse Bücher zum Thema Taekwondo und Sportmedizin finden. Die Wandbereiche, die nicht mit Regalen gefüllt sind, zeigen gerahmte Urkunden: die Dan-Urkunden des Schulleiters, seine universitären Abschlussurkunden wie auch Urkunden über verschiedenen Zusatzqualifikationen. Darunter findet sich eine Urkunde über eine sportmedizinische Zusatzausbildung wie auch Urkunden der Trainer-Akademie der Korea Taekwondo Association und Danksagungen des Kukkiwon an den Schulleiter für die Verbreitung des Taekwondo. Schließlich steht in der rechten vorderen Ecke des Büros ein kleiner Tisch mit Stühlen, an dem Gäste empfangen werden können. Unter dem Glas, das die Tischplatte bedeckt, sind hierfür die verschiedenen Trainingsangebote der Schule wie auch die Qualifikationen des Schulleiters aufgelistet.
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Zusammenfassung Der Dojang ist ein funktioneller Trainingsraum, der gleichzeitig einen hohen ästhetischen Gestaltungsgrad aufweist. Der Fußboden ist eine für das Training funktionale Mattenfläche, die gleichzeitig in Holzoptik gewählt ist. Aufkleber auf dem Boden dienen der Anordnung der Schüler*innen in der Trainingspraxis und erinnern gleichzeitig an eine korrekte Körperhaltung. Der Raum besitzt einen repräsentativen Teil im vorderen Bereich mit stilisierten Tiger- und Taekwondoin-Darstellungen an den Wänden. In deren Mitte befindet sich die koreanische Nationalflagge in beträchtlicher Größe. Diese ist in wesentliche dramaturgische Abschnitte des Trainings eingegliedert. 9 Des Weiteren ist der Trainingsraum mit diversen Postern, Bildern, Tafeln und Bannern dekoriert, die entweder Normen, Werte und Ideale vermitteln oder eine Einbettung des Taekwondo in die „traditionelle“ koreanische Kultur kommunizieren. Auf ersteres verweisen die Poster der KTA, die Aufkleber auf dem Boden und die zwei Banner. Auf letzteres etwa die Kalligrafie über der Bürotür, das Bild „Korea Taekwon Masks“ wie auch die unterschiedlichen Verweise auf die universitäre Anbindung des Schulleiters. Im Büro des Schulleiters werden diese spezifischen Symboliken weitergeführt und verdichtet zum Ausdruck gebracht. Im Büro ist damit die fachliche Legitimation des Schulleiters verbunden, die etwa durch diverse Urkunden anerkannter Institutionen begründet wird. Andere Formen der Legitimation sind über erhaltene Geschenke und professionell hergestellte „Familienfotos“ des Schulleiters mit seinen wichtigen Schüler*innen. Neben dem Trainingsraum mit Eingang und Büro ist das Vorhandensein eines Trampolinbereichs interessant, da er räumlich wie auch finanziell einen hohen Aufwand bedeutet. Mit Praxis als basalem Konzept dieser Arbeit soll bezüglich des Raums eine semiotische Analyse nicht zu weit geführt werden. Die unterschiedlichen medialen Darstellungsformen erhalten ihre Bedeutung situativ durch Akteur*innen in der Praxis. In diesem performativen Prozess oszilliert ihre Bedeutung Fischer-Lichtes Konzept nach zwischen Selbstreferentialtät und emergenter Hervorbringung von Bedeutung. Bemerkenswert ist jedoch die reine Fülle an Artefakten, Symbolen und dekorativen Elementen aller Art, welche, über den pragmatischen Nutzen für das Training hinaus, auf Strategien der gezielten Bedeutungsvermittlung hinweisen. Welche Akteur*innen hier in Bedeutungsprozesse eingebunden sind und im Rahmen welcher Praktiken dies geschieht, wird in den kommenden Teilkapiteln behandelt.
9
Vgl. Abschn. 5.1.3.
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5.2
DIE AKTEUR*INNEN: ZWISCHEN (SELBST-)PRÄSENTATION UND REPRÄSENTATION
Gegenstand dieses Teilkapitels sind die im Rahmen des Taekwondo-Trainings involvierten Akteur*innen, genauer die Schüler*innen der jeweiligen Gruppenformen (Kinder und Profis), die Trainer und der Schulleiter. Im Zentrum steht dabei ihre Subjektivität als agierende und wahrnehmende Instanzen in der Trainings-praxis im Spannungsverhältnis ihrer spezifischen Rolle im Rahmen des Taekwon-do, ihres eigenen sozialen Milieus und ihrer situativen agency. Ihre Aus- und Aufführung von Taekwondo-Praktiken auf der einen Seite und ihre Wahrnehmung auf der anderen Seite schwingt zwischen (Selbst-)Präsentation und Repräsentation, Präsenz und Zeichenhaftigkeit, Individualität und struktureller Einbindung.10 Als Ausdruck dieser Aspekte können unter anderem die äußerlichen ästhetischen Merkmale der Akteur*innen und ihre performative Entfaltung in der Praxis verstanden werden. Körperlich-gestischen Aspekten wird im Rahmen einer praxeologischen Studie die primäre Aufmerksamkeit gewidmet. Sie werden daher detailliert im Kontext der Trainings-Praxis und der damit zusammenhängenden Praktiken beschrieben. Zusätzlich erfolgt an dieser Stelle ein Überblick über die sozialen bzw. demografischen Ausgangslagen der Akteur*innen wie Alter und Bildungsstand. Gegenstand der ästhetischen Analyse ist in besonderem Maße die Bekleidung, da diese im Kontext der TaekwondoPraxis eine konstitutive Rolle einnimmt. Der Dobok (도복, 道服) 11 als Taekwondo-Bekleidung und der Tti (띠)12 , der Gürtel, bilden gemeinsam die standardisierte Bekleidung des Taekwondo 13 und besitzen neben einer semiotischrepräsentativen eine performative Wirkungsweise hinsichtlich der Hervorbringung von Gemeinschaft. Der Dobok ist in der Regel ein Anzug, bestehend aus einer weit geschnittenen weißen Hose und einer weißen Schlupfjacke mit VAusschnitt, der entweder weiß, schwarz oder rot/schwarz ist. Die Farbe des
10 Vgl. Abschn. 3.2.2 und 3.2.2.1. 11 Anm.: Die Silbe 도 (To) meint, wie in den Bezeichnungen Taekwondo und Dojang, den Weg der charakterlichen Vervollkommnung, während 복 (Pok) schlicht Kleidung bedeutet. Gemeinsam bezeichnet der Begriff demnach die Kleidung, in welcher die charakterliche Vervollkommnung geübt wird. 12 Anm.: Hierbei handelt es sich um ein rein koreanisches Wort ohne entsprechende chinesische Schriftzeichen. 13 Vgl. http://www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/information/histor y_uniform, abgerufen 03.06.2020.
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Revers ist der institutionellen Konzeption nach abhängig von der Graduierung des/der Träger*in: weiß für Kŭp-Träger*innen, rot/schwarz für PoomTräger*innen und schwarz für Dan-Träger*innen. Der Dobok kann seiner standardisierten Form entsprechend auch als Uniform des Taekwondo bezeichnet werden. Auf repräsentatorischer Ebene besitzt die Taekwondo-Bekleidung eine ausgearbeitete Symbolik. Auf der Homepage des Kukkiwon heißt es: „The reason why the color of Taekwondo uniform is white is to symbolize the purity of the martial art. […] The jacket of the Taekwondo uniform has two sides, the left side represents Yanggi and the right side represents Umgi. Yanggi represents the mind and Umgi represents strength. […] The Tti (belt) represents the purpose of the training and the degree of technique according to its color.“14
Darüber hinaus habe der Gürtel auch eine praktische Bedeutung, indem er durch Stimulation von Akkupunkturpunkten die Kraftübertragung verbessere. 15 In der Praxis offenbarten sich die repräsentativen Aspekte und Zeremonielle jedoch nicht als statisch gesetzt, sondern als Elemente, die in der Praxis hinsichtlich ihrer Materialität, Variabilität und praxisspezifischen Eingebundenheit eine gewisse performative „Unschärfe“ besitzen. Dies wird im Folgenden thematisiert. 5.2.1 Die Schüler*innen Die Schüler*innen der Kindergruppen waren überwiegend Jungen und Mädchen im Grundschulalter, was in Südkorea der Altersspanne von etwa sechs bis zwölf Jahren entspricht. Deutlich weniger Schüler*innen waren im Mittelschulalter, was wiederum der Alterspanne zwischen zwölf und fünfzehn Jahren entspricht. Allein ein Schüler war achtzehn Jahre alt und somit im Highschool-Alter. Die Schüler*innen der Profigruppe hingegen waren überwiegend im Mittelschulund Highschool-Alter. Die geschlechtsspezifische Aufteilung war klar zugunsten der männlichen Schüler*innen ausgerichtet, weibliche Schüler*innen waren jedoch in beiden Gruppentypen signifikant vertreten. Aufgrund der geografischen Lage der Schule16 und der Preise des Trainings17 kann davon ausgegangen 14 www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/information/history_uniform, abgerufen 03.06.2020. 15 „To wear the belt can help to deliver the power to the muscle that connect Meongmunhyul (acupunture point) [sic!] of waist and body center of lower abdomen.“ (ebd.) 16 Vgl. Abschn. 4.2. 17 Anm.: Der monatliche Preis für das Training lag bei rund 100.000 ₩ (≈ 70 €).
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werden, dass sich die Familien der Schüler*innen überwiegend im Bereich der sozialen und ökonomischen Mitte bewegten. Erwachsene trainierten nicht in dieser Schule; es handelte sich ausschließlich um Kinder und Jugendliche. Insbesondere im Januar18 nahmen darüber hinaus vereinzelt ehemalige Schüler*innen am Training teil, die Taekwondo bzw. Physical Education mit dem Schwerpunkt Taekwondo an einer Universität studierten und im Januar üblicherweise vorlesungsfrei hatten. Die jeweilige Motivation der Schüler*innen wurde nicht im Detail erforscht. Laut dem Schulleiter ist in den Kindergruppen generell jedoch die Motivation der Eltern entscheidend.19 Sie sind es in der Regel, die ihre Kinder ins Training schicken, um deren körperliche und vor allem charakterliche Entwicklung positiv zu fördern. In der Profigruppe war die Motivation zusätzlich durch die berufsorientierte Weiterqualifikation mitbestimmt. Im Beobachtungszeitraum trainierten konkret drei Schüler*innen der Profigruppe für die praktische Aufnahmeprüfung an einer Universität, um dort Physical Education mit dem Schwerpunkt Taekwondo zu studieren. Diese drei trainierten zusätzlich zu ihren eigenen Einheiten der Profigruppe regelmäßig nachmittags zur Zeit der Kindergruppen. Für gewöhnlich trainierten sie selbständig je nach Raumauslastung im hinteren Teil des Trainingsraumes. Trainierten sie nicht selbst, so assistierten sie den Trainern als Assistenztrainer*innen. Bekleidung Entgegen der Annahme 20 , dass die für Taekwondo typische Bekleidung, der Dobok, ein essenzieller Bestandteil der Taekwondo-Praxis sei, konnte in der Praxis der Kindergruppen beobachtet werden, dass viele Schüler*innen statt einem Dobok unspezifische Sportbekleidung in den Trainingseinheiten trugen. Diese bestanden zumeist aus einer Jogginghose und einer Jacke und waren nicht für alle Schüler*innen einheitlich. Laut informeller Aussage des Schulleiters hing dies in erster Linie mit der Jahreszeit zusammen. Da in der Schule generell wenig geheizt wurde und die Temperaturen in den Wintermonaten im Raum Seoul weit unter den Gefrierpunkt fallen können, trugen viele Schüler*innen der 18 Anm.: Januar 2016. 19 Vgl. Interview mit dem Schulleiter. 20 Anm.: Die Annahme basierte auf den eigenen Erfahrungen aus der Trainingspraxis in Taekwondo-Schulen in Deutschland und Österreich. Darüber hinaus wird die integrale Bedeutung des Dobok auch vom Kukkiwon hervorgehoben (vgl. http://www.kuk kiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/information/history_uniform, abgerufen 03.06.2020).
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Kindergruppen in den Wintermonaten wärmere Trainingskleidung. Trainiert wurde jedoch auch im Winter stets barfuß. Während einige Schüler*innen der Kindergruppen auch in regulären Trainingsstunden einen Dobok trugen, konnte nur im Rahmen einer öffentlichen Prüfung, bei der die Eltern anwesend waren, beobachtet werden, dass alle Schüler*innen einen solchen trugen. Zwar war der Schnitt und die Grundfarbe des Dobok hier bei allen Schüler*innen gleich, jedoch unterschieden sich die Anzüge in Details wie Aufnähern und grafischer Bedruckungen. Wiederkehrende Motive waren jedoch das Logo der Schule oder Aufnäher, welche die Schule mit der Yong In University in Verbindung brachten. Anzumerken ist darüber hinaus, dass alle Schüler*innen, gleich welche Graduierung, ein rot-schwarzes bzw. teilweise sogar rein schwarzes Revers trugen. Der institutionelle Standard sieht ein rot-schwarzes Revers jedoch ausschließlich für Poom-Träger*innen und ein rein schwarzes Revers lediglich für DanTräger*innen vor. Der Tti, der gemeinhin als eines der stärksten Symbole im Rahmen des Taekwondo gilt, war, wie auch der Dobok, keineswegs ein selbstverständliches Element der Praxis. Trugen Schüler*innen zum Training einen unspezifischen Trainingsanzug, so trugen sie in der Regel auch keinen Gürtel, der ihre Graduierung anzeigte. Wie beim Dobok galt auch hier, dass lediglich im Rahmen der öffentlichen Prüfung alle Schüler*innen ihren Gürtel trugen. Die Farben umfassten je nach Graduierung weiß (10. und 9. Kŭp), gelb (8. und 7. Kŭp), grün (6. und 5. Kŭp), blau (4. und 3. Kŭp), rot (2. und 1. Kŭp) und rot-schwarz bzw. schwarz für die Poom-Grade. Ähnlich der Farbe des Revers, war auch die Farbe des Gürtels nicht immer dem institutionellen Standard entsprechend. So konnten mehrfach Poom-Träger*innen mit einem schwarzen statt einem rot/schwarzen Gürtel beobachtete werden. In der Profigruppe gehörte das Tragen des Dobok mitsamt Gürtel, anders als in den Kindergruppen, zu jeder Trainingseinheit. Bis auf eine Ausnahme, bei der ein ehemaliger Schüler das Training besuchte und zu der spezifischen Hose lediglich ein T-Shirt trug, waren stets alle Schüler*innen zu jeder Einheit mit Dobok und Gürtel bekleidet. Das Training fand auch hier immer barfuß statt. Wie in den Kindergruppen waren die Dobok auch hier zwar ähnlich im Design, unterschieden sich jedoch in Details. Auch hier stellten unterschiedliche Drucke und Aufnäher eine Verbindung zu der Yong In University und der TaekwondoSchule her. Ein wesentlicher Unterschied war die Farbe des Revers. Manche Schüler*innen trugen ein rot-schwarzes Revers, andere ein rein schwarzes. Obwohl dies dem institutionellen Standard nach von der Graduierung abhängig wäre, konnte hier in der Praxis keine zwingende Stringenz beobachtet werden. So trugen manche Poom-Träger*innen ein rein schwarze Revers, ohne dass dies
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von den Trainern oder dem Schulleiter als problematisch aufgefasst wurde. Ähnliches traf auch auf die Gürtel zu. Ein weiterer Unterschied war, dass bei manchen Schüler*innen eingestickte Balken auf den Gürteln ihren Poom- bzw. Dan-Grad anzeigten, die bei anderen gänzlich fehlten. Den Schüler*innen war es möglich, Dobok beim Schulleiter zu erwerben. Interessant war hierbei die Tatsache, dass bei den Dobok zwei Varianten zum Verkauf standen – eine günstige und eine teurere Variante. Die günstige Variante wurde von den meisten Schüler*innen getragen und war mit den erwähnten Aufnähern und Drucken verziert. Die teurere Variante hingegen war nicht in größerem Umfang bedruckt oder bestickt. Es handelte sich hierbei um Dobok der Marke Adidas, auf denen lediglich an mehreren Stellen das Firmenlogo aufgestickt war. Nach Aussage des Schulleiters war Adidas zum Zeitpunkt der Feldforschung eine der beliebtesten und teuersten Marken für Taekwondo-Equipment in Südkorea. Bei der öffentlichen Prüfung wie auch bei anderen öffentlichen Performances trugen die Schüler*innen der Profigruppe als Mitglieder des schuleigenen DemoTeams spezielle Dobok. Anders als die gewöhnlichen Dobok, die ausschließlich weiß mit farbigem Revers waren, bestanden die Demo-Dobok aus einer weißen Hose mit einem roten Oberteil. Auf der weißen Hose war lediglich ein Aufnäher der Taekwondo-Schule angebracht. Das Oberteil hingegen war mit mehreren unterschiedlichen Aufnähern dekoriert. Auf der linken Brustseite war die koreanische Flagge aufgenäht, auf der rechten Brustseite das Logo der Yong In University. Am linken Oberarm war ein großer Aufnäher angebracht, der eine hierarchisch gegliederte Folge verschiedener Leistungs- oder Graduierungsebenen darstellte. Zu der Einteilung der hierarchischen Stufen konnte in der TrainingsPraxis jedoch keine Entsprechung gefunden werden. Hervorzuheben ist, dass auf beiden Schultern jeweils drei goldene Streifen aufgedruckt waren, bei denen es sich eindeutig um eine Nachbildung der typischen drei Streifen von Adidas handelte, ohne dass die Dobok von der Marke Adidas hergestellt worden waren. Der Rücken war mit dem Namen der Schule und stilisierten Figuren in Taekwondo-Posen in goldener Farbe bedruckt. Neben diesen beiden Anzug-Typen besaßen die drei ältesten Schüler*innen der Profigruppe (hierbei handelte es sich um jene drei, die sich bereits auf die praktischen Aufnahmeprüfungen an Universitäten vorbereiteten) einen dritten Anzug-Typ, der nur von ehemaligen Schüler*innen, den Trainern und dem Schulleiter getragen wurde. Dieser Anzug, hier als Alumni-Dobok bezeichnet, wurde ebenfalls nur zu besonderen Anlässen getragen. Einer dieser Anlässe war ein gemeinsames Fotoshooting mit ehemaligen Schüler*innen, den Trainern und dem Schulleiter. Ein anderer Anlass war die öffentliche Prüfung, bei der die Trainer, der Schulleiter sowie die ältesten und ehemalige Schüler*innen diesen
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Anzug trugen. Es handelte sich hierbei um einen Anzug der Marke Adidas, der neben dem deutlich sichtbaren Firmenlogo auf der rechten Brustseite mit mehreren Aufnähern bestickt war. Auf der linken Brust war ein Logo der Schule aufgenäht, in dem zentral der Familiennamen des Schulleiters in chinesischer Schrift positioniert war. Auf dem linken Oberarm war eine Beflockung angebracht, welche die chinesischen Schriftzeichen 明星家 (명성집, Myŏngsŏngjip) zeigte. Auf dem Rücken schließlich, war der Schriftzug „MS TKD Entertainment“ eingestickt, während die Buchstaben „M“ und „S“ jeweils rot und blau eingefärbt waren. Dieser Anzug stellte die teuerste, aufwändigste und exklusivste Bekleidung im Kontext der Schule dar. Während die typische Taekwondo-Bekleidung, Dobok und Tti, im Training der Kindergruppe nur vereinzelt beobachtet werden konnten, so waren sie in der Profigruppe fester Teil der Trainingspraxis. In beiden Kontexten jedoch können sie als Mittel betrachtet werden, über (überwiegend) einheitliche Kleidung Kollektivität herzustellen. Im Detail betrachtet ist diese Kollektivität jedoch ausdifferenziert. Zum einen zeigt sich dies durch die hierarchische Untergliederung durch die Gürtelfarben. Dies trifft stärker auf die Kindergruppen als auf die Profigruppe zu. In der Profigruppe trainierten ausschließlich Poom- und DanTräger*innen, sodass alle Gürtel entweder rot-schwarz oder rein schwarz waren. Zum anderen zeigte sich die Heterogenität in den Details der Dobok. Schon in den Kindergruppen waren unterschiedliche Designs mit unterschiedlichen Drucken oder Aufnähern vertreten. In der Profigruppe wurde in der regulären Trainingspraxis diese Tendenz durch die qualitativ hochwertigeren und teureren Adidas-Dobok verstärkt. In beiden Gruppentypen korrelierten die Bekleidung und die spezielle Rahmung der Praxis. Während der regulären Trainingspraxis war auch die Bekleidung „regulär“. In den Kindergruppen zeigte sich dies anhand des Tragens unspezifischer Sportbekleidung, in der Profigruppe anhand des Tragens „regulärer“ Dobok. Zu besonderen Anlässen gehörte auch besondere Kleidung; so der Dobok für die Kindergruppen während der öffentlichen Prüfung sowie der Demo-Dobok für die Profigruppe und der Alumni-Dobok für ehemalige Schüler*innen. Die Rolle der Bekleidung kann demnach, neben ihrer funktionellen Bedeutung, etwa für die Bewegungsfreiheit im Training, auch in der performativen Hervorbringung von Kollektivität, der hierarchischen Untergliederung der Akteur*innen und der Rahmung besonderer Praxen verortet werden.
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5.2.2 Die Trainer In der Taekwondo-Schule waren zwei Trainer (사범, 師範, Sabŏm)21 in Vollzeit beschäftigt. Sie leiteten überwiegend einzeln, in seltenen Fällen gemeinsam die Trainingseinheiten. Kim Sabŏmnim 22, der ältere von beiden, leitete oft die Trainingseinheiten der Kindergruppen und meistens die der Profigruppe. Lee Sabŏmnim, der jüngere von beiden, übernahm in diesen Fällen das Fahren der Schüler*innen der Kindergruppen im schuleigenen Kleinbus.23 Die Trainer waren im Alter von Mitte bis Ende zwanzig mit zwei Jahren Abstand voneinander. Beide hatten im Zeitraum der Beobachtung den 4. Dan24 inne und ein Bachelorstudium der Physical Education absolviert. Lee Sabŏmnim an der Yong In University25, wo er in der Studienzeit Teil des Demo-Teams war und Kim Sabŏmnim an der Staatlichen Sport Universität26, wo er ebenfalls Mitglied und später Kapitän des Demo-Teams war. Beide hatten also eine akademische Ausbildung im pädagogischen Bereich genossen, für die Taekwondo der maßgebliche Türöffner war. Zudem hatten siecvor ihrer Tätigkeit als Trainer bereits seit ihrer Kindheit in derselben Schule Taekwondo trainiert. Bekleidung Wie auch die Schüler*innen der Profigruppe und einige Schüler*inne der Kindergruppen trugen auch die Trainer zu jeder Trainingseinheit einen Dobok mitsamt Tti. Anders als die Schüler*innen trugen die Trainer jedoch nicht die SchulDobok mit Aufnähern und Drucken, sondern jeweils eigene Dobok, insbesonde21 Anm.: Die Bezeichnung 사범, bestehend aus den Silben „사“ (sa) und „범“ (pŏm), bedeutet wörtlich übersetzt etwa „Lehrer-Vorbild“. „사“ bezieht sich dabei auf „교사“ (kyosa), was „Lehrer“ bedeutet. „범“ heißt in diesem Kontext etwa Model oder Vorbild (vgl. http://sooshimkwan.blogspot.com/2011/01/instructor-master-and-grandmast er.html, abgerufen 03.06.2020). 22 Anm.: Das Suffix „님” (nim) wird im Koreanischen als höfliche Anredeform etwa an Titel und Berufsbezeichnungen angehängt. 23 Anm.: Derartige Kleinbusse, zumeist gelb und mit Werbung für die jeweilige Einrichtung beklebt, sind in Korea nicht nur unter Taekwondo-Schulen und anderen MartialArts-Schulen verbreitet, sondern unter allen Einrichtungen, die Bildungsangebote jedweder Art für Kinder anbieten. Dazu gehören Musik- und Tanzschulen ebenso wie Nachhilfecenter. 24 Anm.: Ausgestellt durch das Kukkiwon/World Taekwondo Headquarter. 25 용인대학교, Yong In Taehakkyo. 26 한국체육대학교, Han'guk Ch'eyuk Taehakkyo.
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re der Marken Adidas oder Nike. Darüber trugen beide Trainingsjacken, die sie aus ihrer Studienzeit besaßen und dementsprechend Aufnäher oder Drucke ihrer jeweiligen Alma Mater aufwiesen. Assistierten ihnen die älteren Schüler*innen, so trugen auch sie Trainingsjacken, welche jedoch ohne Taekwondo-Bezug waren. Beide Trainer unterrichteten in der Regel barfuß, Kim Sabŏmnim trug jedoch mehrfach Taekwondo-Schuhe im Unterricht. Ähnlich der Bekleidung der Schüler*innen kann der Bekleidung der Trainer ebenfalls eine kollektivierende Wirkung zugeschrieben werden. Durch das Tragen des Dobok werden Trainer und Schüler*innen zu einer (temporären) Gemeinschaft, welche durch die spezifische Bekleidung nicht nur repräsentiert, sondern performativ hervorgebracht wird. Gleichzeitig ist die Bekleidung der Trainer in Prozesse der Untergliederung eingebunden, welche in erster Linie eine hierarchische Dimension besitzen. Auch wenn die Trainer Dobok tragen, so unterscheiden sich diese in ihren Details von denen der Schüler*innen. Bekannte Sportbekleidungsmarken, insbesondere Adidas, sind hier ebenfalls als ästhetische Merkmale hervorzuheben. Trainingsjacken wurden nur von den Trainern getragen.27 Ebenso auch die Schuhe, wenn auch selten und lediglich von dem älteren Kim Sabŏmnim. Eine interessante Rolle nehmen die Alumni-Dobok ein, die zu bestimmten Anlässen wie der öffentlichen Prüfung, auch von den Trainern getragen wurden und eine homogene Gemeinschaftlichkeit zwischen den Trainern und den Alumni herstellten. 5.2.3 Der Schulleiter An der Spitze der Schule stand der Schulleiter (관장, 寬長, Kwanjang)28. Dieser kümmerte sich weniger um das eigentliche Training, sondern vielmehr um organisatorische und administrative Aufgaben. Vereinzelt leitete er auch das Training der Profigruppe.29 An den meisten Trainingstagen war er jedoch entweder am Schreibtisch seines Büros anzutreffen oder außerhalb der Schule tätig. Der 27 Anm.: Von den Trainingsanzügen in den Kindergruppen ist hier abzusehen, da es um die besondere Kombination von Dobok und Trainingsjacke geht. Neben den Trainern trugen auch die ältesten Schüler*innen Trainingsjacken, sofern sie als Assistenztrainer*innen agierten. 28 Anm.: „관장“ kann wörtlich etwa mit „Hallenoberhaupt“ übersetzt werden, wobei „관“,寬 „Halle“ bedeutet und „장, 長“ etwa „Leiter“, „Oberhaupt“ oder „Chef“. „Halle“ bezieht sich in diesem Kontext sowohl auf den architektonischen Raum der Schule als auch auf die Schule als Vereinigung oder Gemeinschaft. 29 Vgl. TE vom 29.12.2015; TE vom 08.01.2016; TE vom 16.01.2016; TE vom 13.02.2016.
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Schulleiter, Mitte vierzig, zur Zeit der Beobachtung 8. Dan30, absolvierte sein Bachelor-Studium in Physical Education an der Yong In University und war dort Teil des Demo-Teams und zeitweilig dessen Kapitän. Sein Master-Studium absolvierte er an der Kyeonggi University 31 mit einer empirisch-quantitativen Arbeit zum Effekt des Taekwondo-Trainings auf Grundschüler*innen bezüglich ihres Selbstvertrauens. Bekleidung Anders als die Trainer konnte der Schulleiter in den Räumen der Schule hauptsächlich in seiner Alltagskleidung angetroffen werden. Leitete er das Training der Profigruppe, so trug er einen Dobok, ähnlich denen der Trainer. In einer Trainings-einheit trug er darüber hinaus einen Meister-Dobok32 mit dunkelblauer Hose und einer ockerfarbenen Faltjacke. 33 Zu einzelnen Anlässen, etwa der offenen Prüfung, trug auch er den Alumni-Dobok. Ob im Training oder im Büro, der Schulleiter trug stets Taekwondo-Schuhe. Seiner Bekleidung nach nahm der Schulleiter in vielen Fällen eine Sonderrolle ein, indem er hauptsächlich Alltagskleidung und Schuhwerk trug. Während es Schüler*innen nicht erlaubt war Schuhe zu tragen und auch die Trainer überwiegend barfuß gekleidet waren, trug der Schulleiter als einziger stets (Indoor)Schuhe. Trug er Dobok, so war dieser in den meisten Fällen ähnlich denen der Trainer, womit oberflächlich Kollektivität mit der gesamten TrainierendenGruppe und, unter Berücksichtigung der Detailebene, mit den Trainern hervorgebracht wurde. Das Tragen des Alumni-Dobok stellte in ähnlicher Weise Kollektivität her, wenn auch in noch stärkerem Maße, da diese Dobok alle ein identisches Design besaßen. Hier unterschieden sich allein die individualisierten Gürtel. Ein textiles Mittel der Abgrenzung hingegen war in besonderem Maße der Meister-Dobok, der nicht nur vollkommen anders geschnitten war als die übrigen Dobok, sondern auch in vollkommen anderen Farben gestaltet war. Obwohl dieser Anzug eine aktuelle Neuerung darstellt 34, suggeriert er auf reprä30 Anm.: Ausgestellt durch das Kukkiwon/World Taekwondo Headquater. 31 Anm.: 경기대학교, Kyŏnggi Taehakkyo. 32 Anm.: Dieser Dobok muss bei offiziellen Poomsae-Wettkämpfen der WT von Teilnehmer*innen der Master-Division (7. – 9. Dan) getragen werden (vgl. Kim et al. 2016, S. 972). 33 Vgl. TE vom 16.01.2016. 34 Anm.: Die neuen Dobok-Designs wurden im Rahmen der 6. World Taekwondo Poomsae Championships in Vladivostok/Russland eingeführt (vgl. Kim et al. 2016, S. 972).
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sentatorischer Ebene, den Schnitt und die Farbwahl betreffend, eine gewisse Traditionalität durch die Bezugnahme auf alte Dobok-Modelle, die etwa bis in die 1980er Jahre35 getragen wurden. Die Farbe des Oberteils bezieht sich wiederum auf das philosophische Konzept des Samjae (삼재, 三才) oder Samgŭk (삼극, 三極), welches neben den Farben Blau und Rot auch die Farbe Gelb enthält.36 5.2.4 Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle Akteur*innen tendenziell der gesellschaftlichen Mitte entstammten. Bei den Schüler*innen handelte es sich um Kinder und Jugendliche, während der Schwerpunkt der gesamten Schüler*innenschaft, rein quantitativ, bei den Grundschüler*innen lag. Unter den Schüler*innen waren keine Erwachsenen vertreten. Die Trainer und der Schulleiter besaßen allesamt akademische Abschlüsse mit pädagogischer Schwerpunktsetzung, zu denen das eigene Taekwondo-Training neben dem HighschoolAbschluss die wesentliche Zugangsvoraussetzung darstellte. Entgegen den institutionellen Standards war der Dobok kein zwingendes Element der Trainingspraxis, sondern konnte, bedingt durch die Jahreszeit, durch konventionelle Sportbekleidung ersetzt werden. Auch wenn sich die regulären Dobok oberflächlich betrachtet glichen, unterschieden sie sich auf Detailebene teilweise stark. Aufnäher und Drucke, welche eine Verbindung zur eigenen Schule und der Yong In University herstellten, waren häufig vertreten. Bekannte Sportmarken stellten ein besonderes Statusmerkmal dar. Der reguläre Dobok war nur ein Modell unter mehreren. Darüber hinaus konnten in der Praxis, abhängig von der jeweiligen Rahmung, der Demo-Dobok, der Alumni-Dobok und der Meister-Dobok festgestellt werden. Die spezifischen Dobok waren darüber hinaus nicht nur von der Rahmung abhängig, sondern an ihrer performativen Hervorbringung beteiligt. Trainingsjacken und Schuhe waren Kleidungsstücke, über die, neben ihrem Gebrauchswert, in der Praxis hierarchische Differenzierung hervorgebracht wurde. Hierarchische Differenzierung auf der einen Seite und Kollektivierung auf der anderen Seite können als zentrale Aspekte herausgestellt werden, an deren performativer Entwicklung die Kleidung maßgeblich Anteil hat.
35 Anm.: Der aktuell verbreitete Dobok mit V-Ausschnitt wurde 1976 von der damaligen WTF (World Taekwondo Federation) eingeführt (vgl. Kim et al. 2016, S. 970). 36 Vgl. Abschn. 2.3.
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5.3
DAS TRAINING: PRAKTIKEN UND PRAXIS IM SPANNUNGSVERHÄLTNIS VON PERFORMATIVITÄT, THEATRALITÄT UND RITUALITÄT
Als Praxis ist das Taekwondo-Training im Wesentlichen durch seine routinierten Praktiken definiert. Nachdem in den vorherigen Teilkapiteln der geometrische Raum im Spannungsfeld von Funktionalität und Ästhetik sowie die unterschiedlichen Akteur*innengruppen mit Fokus auf ihr äußerliches Erscheinungsbild behandelt worden sind, geht es nun um den eigentlichen Kern der Beobachtung: die spezifischen Praktiken als konstitutive Bestandteile der Trainingspraxis. Im Folgenden werden daher zunächst die wiederkehrenden Trainingspraktiken vorgestellt, um später auf einmalige Ereignisse in der Trainingspraxis einzugehen. 5.3.1 Grundgerüst Die Trainingspraxis der Taekwondo-Schule folgte in seiner Grundstruktur der Kindergruppen einer klaren Einteilung in Beginn, Hauptteil und Schluss, wobei die jeweilige Phase durch den Vollzug spezifischer Praktiken definiert war. Gerade hier folgten Beginn und Schluss einer strikten Dramaturgie und waren feste Bestandteile jeder Trainingseinheit. In der Profigruppe waren diese Phasen deutlich weniger umfangreich und wurden in einzelnen Einheiten sogar gänzlich weggelassen. Sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe gehörte eine kurze Aufwärmroutine zum Grundgerüst jeder Einheit. Bei der Profigruppe war außerdem das Putzen des Trainingsraumes am Ende jeder Trainingseinheit eine der wiederkehrenden Praktiken. Alle soeben erwähnten Praktiken werden nun im Einzelnen genauer vorgestellt. Begrüßung In der Trainingspraxis der Kindergruppen stellte die Begrüßung einen essenziellen Bestandteil jeden Trainings dar und war in vier Schritte unterteilt. In der Trainingspraxis der Profigruppe war die Begrüßung deutlich weniger ausdifferenziert, stand aber prinzipiell, wie in den Kindergruppen auch, am Anfang jeder Trainingseinheit. Auf das lautstarke und stoßartige Kommando des Trainers „Chip'ap!“ („집합!“, dt. „Versammeln!“) treten alle ihrer Graduierung nach vor der Frontseite des Dojang. Die geometrische Ordnung im Block, welche die Schü-
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ler*innen dabei einnehmen, ist durch die bereits erwähnten Aufkleber auf dem Boden vorgegeben. Der Trainer steht demnach an der Stirnseite des Dojang mit Blick zu den Schuler*innen, die wiederum, im Block angeordnet, zur Stirnseite blicken. Dabei steht der/die ranghöchste Schüler*in auf der Position vorne rechts im Block, während der/die Rangniedrigste hinten links steht. Auf das Kommando „Ch'aryŏ!t“ („차렷!“, dt. „Achtung!“) nehmen alle Schüler*innen eine aufrechte Haltung ein. Dabei ist der Rücken gerade, die Brust herausgestreckt und die Arme seitlich am Körper anliegend, während die Hände zu Fäusten geballt mit den Handballen seitlich der Oberschenkel ruhen. Der Trainer dreht sich dabei in Richtung derWand, auf der mittig die koreanische Flagge angebracht ist. Ab diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die jeweiligen Praktiken der Kindergruppen und der Profigruppe. In der Profigruppe erfolgt nun das Kommando „Kukkie kyŏngnye!“ („국기에 경례!“, dt. „Vor der Flagge verbeugen!“), woraufhin die Schüler*innen und der Trainer gemeinsam die rechte Hand auf ihr Herz legen und kurz innehalten. Auf das Kommando „Paro!“ („바로!“,dt. „Zurück!“) verbeugen sich alle gemeinsam vor der koreanischen Flagge, während die rechte Hand wieder zurück zur Körperseite geführt wird. Die Verbeugung erfolgt dabei mit dem gesamten Oberkörper aus dem unteren Rücken heraus, während der Blick zum Boden gesenkt ist. In den Kindergruppen ist dieser Vorgang deutlich komplexer. Nach dem Kommando zum Grüßen der Flagge legen alle Schüler*innen ihre rechte Hand auf ihr Herz und sagen unisono mit lauter Stimmeund in monotoner rhythmischer Sprache einen Treueeid auf.37 Der Trainer steht dabei stumm mit Blickrichtung zur Flagge. Auf das Kommando „Kyŏngnye!“ („경례!“, dt. „Verbeugen!“) verbeugen sich alle gemeinsam vor der Flagge. Daraufhin wendet sich der Trainer zu den Schüler*innen. Es folgt das Kommando „Kwanhun!“ („관훈!“, dt. „Schul-Grundsätze!“) woraufhin alle Schülerinnen in ähnlich monotoner und rhythmischer Form die drei Grundsätze der Schule „Yeŭi“ („예의“, dt. „Höflichkeit“), „Chŏngjing“ („정직“, dt. „Ehrlichkeit“) und „Noryŏng“ („노력“, dt. „Anstrengung“ oder „Bemühung“) aufsagen. Es folgt das Kommando „Kyŏlshimhamnida!“ („결심합니다!“, dt. etwa „einen Vorsatz fassen“) woraufhin alle Schüler*innen ein vierteiliges Gelöbnis zur persönlichen Weiterentwicklung rezitieren. 38 Im letzten Schritt übernimmt der/die ranghöchste Schüler*in. Es folgt noch einmal das Kommando „Ch'aryŏt!“ („차렷!“, dt. „Achtung!“) gefolgt von dem Kommando „Sabŏmnimkke kyŏng-nye!“ („사범님께 경례!“, dt. „Vor dem Trainer verbeugen!“), woraufhin 37 „나는 자랑스러운 태극기 앞에 조국과 민족의 무궁한 영광을 위하여 몸과 마음을 바쳐 충성을 다할 것을 굳게 다짐합니다.“ Vgl. Trainingshandbuch der Taekwondo-Schule, S. 3. 38 Vgl. Trainingshandbuch der Taekwondo-Schule, S. 8.
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sich alle Schüler*innen vor dem Trainer verbeugen. Dabei sind nun die Hände nicht mehr zu Fäusten geballt an der Körperseite, sondern ruhen übereinandergelegt auf dem Unterbauch. Die linke Hand liegt dabei auf der rechten. Die Verbeugung vor dem Trainer erfolgt genauso auch in der Profigruppe. Damit ist die Begrüßung abgeschlossen und es folgt ein kurzes Aufwärmtraining. Aufwärmroutine Wie die Begrüßung stand auch die Aufwärmroutine am Beginn jeder Trainingseinheit, sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe. In den Kindergruppen wurde das Aufwärmen stets vom Trainer angeleitet. In der Profigruppe war dies nicht immer der Fall. Mehrere Male wurde hier das Aufwärmtraining vom ranghöchsten Schüler übernommen. Einmal hatte ich selbst die Gelegenheit ein eigenes Aufwärmtraining anzuleiten. Für die Aufwärmroutine stehen aller Schüler*innen im Block mit Blickrichtung zur Stirnseite des Dojang, während der Trainer (der/die Anleitende des Aufwärmens) vor dem Block mit Blick in Richtung der Schüler*innen positioniert ist. Die Aufwärmroutine beginnt mit einer Übung zum Aufwärmen der Knie. Dazu stützen sich alle leicht auf ihre Knie und beugen und strecken die Knie jeweils in einem Zweierrhythmus (2x Wippen beim Beugen, 2x Wippen beim Strecken) für zwei mal acht Zähleinheiten. Die ersten acht Zähleinheiten werden dabei vom Trainer (Übungsleiter*in) in klarem, kräftigem Ton zügig gezählt. Die zweiten acht Zähleinheiten werden von allen Schüler*innen chorisch gezählt. Statt dem Zählmuster 1-2-3-4-5-6-7-8 zählen sie jedoch nach dem Muster 2-2-3-4-5-6-7-8. Ebenso wie beim Trainer ist auch hier der Ton klar und kräftig, das Tempo zügig. Auf diese Weise werden auch die folgenden Übungen begleitet. Nach der Übung zum Beugen und Strecken der Knie folgt eine Übung zum Kreisen der Knie. Für die Dauer der ersten acht Zähleinheiten werden die Knie im Uhrzeigersinn gedreht, danach entgegen dem Uhrzeigersinn. Nach dem Erwärmen der Knie erfolgt das Erwärmen der Hals- und Nackenmuskulatur durch das Drehen des Kopfes, ebenfalls zunächst für acht Zähleinheiten mit dem Uhrzeigersinn und für weitere acht entgegen dem Uhrzeigersinn. Es folgt eine Übung zum Erwärmen der hinteren Oberschenkel- sowie Wadenmuskulatur. Dazu werden die Füße parallel zueinander gestellt, sodass sie mit doppelter Schulterbreite auseinanderstehen. Die Knie werden durchgedrückt und der Köper nach vorne gebeugt, sodass die Hände in Richtung des Bodens zeigen. Nun werden die Hände abwechselnd diagonal zu den Füßen geführt. Dabei berührt die linke Hand den rechten Fuß und die rechte Hand den linken Fuß. Die wechselnden Bewegungen werden ähnlich den anderen Übungen für zwei mal acht
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Zähleinheiten von den rhythmischen chorischen Zählmustern begleitet. Aus dieser Position heraus wird ein Knie gebeugt, sodass sich der Oberkörper zu dieser Seite bewegt und das Gesäß fast den Boden berührt. Das andere Bein bleibt dabei ausgestreckt, während die Fußspitze nach oben zeigt. Die Hände liegen dabei, je nach Fähigkeiten, entweder auf den Knien oder sind zum Balancieren nach vorne gestreckt. Auch diese Übung wird von dem gleichen Zählmuster begleitet. Dabei wird jede Position wippend für zwei Zähleinheiten eingenommen, um daraufhin die Seite zu wechseln. Während das beschriebene Zählmuster für alle bisherigen Übungen gleich war, wird für die letzten zwei Übungen ein anderes Zählmuster verwendet. Die erste dieser Übungen ist der klassische Hampelmann. Dieser wird in einem Viererrhythmus gesprungen und ebenfalls durch ein rhythmisches Zählmuster begleitet. Hier sind es allein die Schüler*innen die zählen. Das dialogische Element ist hier jedoch noch deutlich ausgeprägter. Es beginnt der/die ranghöchste Schüler*in zu zählen. Die erste Position wird mit geöffneten Armen und Beinen auf „hana“ („하나“, dt. „eins“) gezählt. Die zweite Position ist mit geschlossenen Armen und Beinen auf „dul“ („둘“, dt. „zwei“) und die dritte Position ist wieder mit geöffneten Armen und Beinen auf „set“ („셋“, dt. „drei“). Die vierte Position entspricht der zweiten, wieder mit geschlossenen Armen und Beinen, wobei hier nicht die ursprünglich zählende Person „net“ („넷”, dt. „vier“) zählt, sondern alle Schüler*innen unisono mit „hana“ antworten. Nun wird das gleiche Zählmuster von der Person links von der zuvor zählenden weitergeführt. Auf der vierten Position antworten nun jedoch alle mit „dul“. Dies wird zehn Mal wiederholt, wobei beim zehnten Mal der Chor stumm bleibt. Sollte doch jemand aus der Gruppe versehentlich „yŏl“ („열”, dt. “zehn”) zählen, muss die gesamte Gruppe die Übungen von Beginn an wiederholen. Die letzte Übung folgt dem gleichen Zählmuster. Die Bewegung beginnt in aufrechtstehender Haltung. Daraufhin werden die Hände mit einer Vorbeuge des Oberkörpers neben die Füße auf dem Boden abgelegt und die Füße zu einer Liegestützposition nach hinten gebracht. Dies ist die erste Position und wird auf „hana“ gezählt. Für die zweite Position werden die Füße wieder zurück zu den Händen gebracht. Dies wird mit „dul“ gezählt. Die dritte Position ist schließlich die aufrechte Ausgangsposition und wird mit „set“ gezählt. Die vierte Position entspricht der dritten. Während die Gruppe unisono antwortet, verbleiben also alle in der Ausgangsposition. Auch diese Übung wird zehn Mal ausgeführt, während „yŏl ” stumm bleibt. Auch hier wird bei einem Fehler die Übung wiederholt.
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Verabschiedung Die Verabschiedung war ebenso Teil jeder Einheit wie auch die Begrüßung und das Aufwärmen. Die Verabschiedung der Profigruppe war dabei von den grundlegenden Praktiken her identisch mit jener der Kindergruppen. Für die Verabschiedung versammeln sich wie bei der Begrüßung alle Schüler*innen auf Kommando des Trainers in den vorgegebenen Bereichen in einer Block-Formation. Wie auch für die Begrüßung sind die Schüler*innen ihrer Graduierung nach aufgestellt. Der Trainer steht dabei vor dem Block mit Blickrichtung zu den Schüler*innen. Sobald alle ihre Position eingenommen haben, erfolgt durch den/die ranghöchste Schüler*in das Kommando „Ch'aryŏt!“ („차렷!“, dt. „Achtung!“), woraufhin alle Schüler*innen wie bei der Begrüßung eine aufrechte Körperhaltung einnehmen und die Hände zu Fäusten geballt seitlich an den Oberschenkeln halten. Es folgt wieder das Kommando „Sabŏmnimkke kyŏngnye!“ („사범님께 경례!“, dt. „Vor dem Trainer verbeugen!“), woraufhin sich alle Schüler*innen mit gefalteten Händen vor dem Trainer verbeugen. Daraufhin drehen sich die Schüler*innen der jeweils benachbarten Linien des Blocks zueinander, sodass sich immer zwei Schüler*innen anschauen. Nun erfolgt ebenfalls durch den Trainer das Kommando „Kyŏngnye!“ („경례!“, dt. „Verbeugen!“), woraufhin sich alle mit den Worten „Kamsahamnida!“ („감사합니다!”, dt. etwa “Vielen Dank!“) voreinander verbeugen. Auch hierbei sind die Hände wieder vor dem Unterbauch gefaltet. Putzen des Dojang Das Putzen des Dojang stand am Ende jeder Profi-Einheit. Dazu erfolgte keine gesonderte Aufforderung. Jedes Mal, wenn sich das freie Training langsam dem Ende zuneigte, fanden sich zwei oder drei Schüler*innen zusammen, um den Dojang zu fegen. 39 Dabei handelte es sich nicht immer um dieselben Schüler*innen, doch waren es stets Schüler*innen, die entweder aufgrund ihres Alters oder ihrer Graduierung nicht am oberen Ende des hierarchischen Spektrums standen. Ausgenommen von dieser Praxis waren die kleinsten in der Profigruppe, die noch nicht die Mittelschule besuchten, sowie der ranghöchste Schüler. 39 Anm.: Wie dies genau ausgehandelt wurde, ist aus den Aufzeichnungen nicht zu entnehmen. Verhandlungen unter den Schüler*innen wären denkbar, genauso wie Aufforderungen durch ranghöhere Schüler*innen. Kürzere Gespräche wurden im Vorhinein beobachtet, jedoch konnte der genaue Inhalt aufgrund der Sprachbarriere nicht erfasst werden. Aufforderungen durch die Trainer wurden in diesem Zusammenhang nicht beobachtet.
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Grundgerüst: Performativitäts-ästhetische Spezifikationen Zunächst kann festgestellt werden, dass eine immer wiederkehrende Begrüßungspraxis, eine feste Aufwärmpraxis und eine immer wiederkehrende Verabschiedungspraxis der gesamten Trainingspraxis in beiden Gruppen eine klare Dramaturgie mit Beginn, Hauptteil und Schluss auferlegen. Bei der Begrüßung fällt auf räumlicher Ebene zunächst auf, dass der performative Raum klaren Gliederungen unterliegt – anders als der geometrische Raum.40 Die erste Form der Gliederung ist die klare Trennung von Trainer und Schüler*innen. Während der Trainer innerhalb eines bestimmten Bereichs, üblicherweise im rechten Bereich der Stirnseite (aus Blickperspektive auf die Stirnseite), seinen Platz frei wählen kann, sind die Schüler*innen ihm gegenüber in einem festen Block angeordnet. Dies ist gleichzeitig auch die zweite Form der Gliederung, nach der alle Schüler*innen in einem gleichmäßigen Block angeordnet sind. Exakte und gleichmäßige Abstände, welche durch die Aufkleber auf dem Boden41 vorgegeben sind, prägen das Bild. Die Aufstellung ist besonders durch klare Linien und Winkel gekennzeichnet. Die dritte Form der Gliederung findet sich schließlich innerhalb der Blocks, in dem die Schüler*innen gemäß ihrem Rang absteigend von vorne rechts nach hinten links aufgestellt sind. Hier ist jedoch anzumerken, dass die Aufstellung nach Rang nicht ganz konsequent unternommen wurde. Waren beispielsweise mehrere Schüler*innen mit der gleichen Gürtelfarbe anwesend, so mussten diese ihre jeweilige Position im Block untereinander ausmachen. Konflikte brachen hierbei mitunter aus, wurden dann aber zügig vom Trainer oder den Assistenztrainer*innen ohne umfangreiche Diskussionen aufgelöst, indem Plätze zugewiesen wurden. Auf körperlicher Ebene ist zunächst die Körperhaltung der Schüler*innen zu erwähnen, die diese auf Kommando einnehmen. Hier wird das Ordnungsprinzip des performativen Raums weitergeführt, indem auch hier klare Linien und Winkel sowie vorgegebene Positionen bestimmend sind. Die Verbeugung ist eine zentrale Bewegung. Interessant ist dabei die Art der Verbeugung, die bei der Begrüßung und Verabschiedung besonders tief ist und von klaren Linien und Winkeln geprägt ist. Bei der Aufwärmroutine ist auf körperlicher Ebene die rhythmisch-synchrone Bewegungsweise hervorzuheben, die in der Praxis stets beobachtet werden konnte. Lediglich die jüngsten und unerfahrensten konnten bei Bewegungen abseits des kollektiven Gruppenrhythmus beobachtet werden, wenn sie etwa mit dem kollektiven Tempo nicht mithalten konnten. Allgemein 40 Anm.: Der geometrische Raum ist hier lediglich ein zusammenhängender Raum, in dem alle Teilnehmenden gleichermaßen integriert sind. 41 Vgl. Abschn. 5.1.1.
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sind Begrüßung und Verabschiedung auf körperlicher Ebene sehr statisch. Zentral ist das gerade, regungslose Stehen, welches erst durch die Kommandos des Trainers unterbrochen wird. Abschließend sei die Tatsache erwähnt, dass sich die einzelnen Aufwärmpraktiken ihrer konditionellen Intensität nach immer weiter erhöhen. Die Praxis des Dojang-Putzens wiederum kann als Bezugnahme auf die Hierarchien innerhalb des Dojang gesehen werden. Die lautliche Ebene ist bei allen genannten Praktiken von besonderer Bedeutung. Lautliche Äußerungen sind die ordnenden Impulse, welche die einzelnen Aktionen unterteilen, einleiten und überleiten. So werden alle Aktionen durch ein Kommando eingeleitet; sei es das Einnehmen einzelner Positionen, das Verbeugen oder die Geste des „Hand-auf’s-Herz-legens“. Alle Positionen werden auf ein Kommando hin eingenommen und im Falle der letztgenannten Geste auch auf ein Kommando beendet. Die Kommandos des Trainers sind stets kraftvoll und akzentuiert. Syntax und Flexion der Kommandos sind kurz, prägnant und apellartig.42 Auf Seiten der Schüler*innen sind lautliche Äußerungen lediglich als Antworten auf die Kommandos des Trainers zu hören. Eine Ausnahme macht hier das Kommando zum Verbeugen vor dem Trainer; dieses wird von dem/der ranghöchsten Schüler*in gegeben. Besonders in den Kindergruppen macht das rhythmische, gleichförmig-monotone Rezitieren von Idealen und Gelöbnissen einen wichtigen Teil aus. Abgesehen von der semantischen Ebene der rezitierten Verse muss insbesondere der kollektive Aspekt des gemeinsamen lauten und gleichartigen Rezitierens beachtet werden, der performativ Gemeinschaft herstellt. Während derartige rezitative Praktiken in der Begrüßung vornehmlich in den Kindergruppen anzutreffen sind, finden sich ähnliche Bestandteile auch in den Aufwärmpraktiken beider Gruppenformen wieder. Hier ist es das kollektive rhythmische Zählen, welches diese Rolle einnimmt. Gleichzeitig wird auf diese Weise eine Interaktionsbeziehung zwischen Trainer und Schüler*innen hergestellt. Zum einen werden Trainer und Schüler*innen getrennt, indem sich beide Parteien unterschiedlicher lautlicher Äußerungen bedienen. Zum anderen wird aber gerade dadurch auch eine Beziehung zwischen ihnen hergestellt, die sich in einer Art Dialog manifestiert. Etwa, wenn der Trainer die ersten acht Zähleinheiten vorgibt und die Schüler*innen mit den zweiten acht Zähleinheiten antworten bzw. den Zählrhythmus vervollständigen. Interessant ist dabei nicht nur die lautliche Unterscheidung zweier Parteien, sondern auch das Motiv des dialogischen Wechsels von Individuum und Chor bzw. Gruppe. Dies 42 Anm.: Die koreanische Sprache verwendet oft Suffixe, welche etwa das Tempus und die Höflichkeitsform anzeigen. Die im Rahmen der Begrüßung und Verabschiedung verwendeten Formen verzichten auf diese Suffixe und wirken somit sehr hart und direkt und erinnern stark an militärische Kommandos.
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zeigt sich einerseits zwischen Trainer und Schüler*innen, aber auch zwischen Schüler*in und Gruppe. Letzteres zeigt sich in den beiden letzten Übungen der Aufwärmroutine, wenn jeweils einzelne Schüler*innen nacheinander drei Schläge zählen, worauf die übrige Gruppe unisono mit einer Zähleinheit antwortet. Auf zeitlicher Ebene sind zwei Aspekte interessant. Zum einen der gleichförmige kollektive Rhythmus als prägendes Element in allen genannten Praktiken, zum anderen der zeitliche Umfang des Grundgerüsts als Teil der Trainingseinheit. Ein gemeinsamer gleichmäßiger Rhythmus ist bei den körperlichen und den lautlichen Aspekten zu beobachten: sowohl bei der Begrüßung und der Verabschiedung als auch in der Praxis des Aufwärmens. Bei ersteren ist dies weniger deutlich, da hier einzelne Gesten im Vordergrund stehen, die nicht zu einer fortlaufend-fließenden, dynamischen Abfolge verbunden sind. Nichtsdestotrotz handelt es sich auch hier um kollektive Choreografien, bei denen ein gemeinsamer Rhythmus die Akteur*innen untereinander harmonisiert. In der Praxis des Aufwärmens ist der Rhythmus als Ordnungselement noch deutlicher sichtbar, da er lautliche und körperliche Äußerungen miteinander und zwischen den Akteur*innen zu einem Kollektivkörper harmonisiert. Der zeitliche Umfang (oder das, was Fischer-Lichte unter Time Brackets versteht) ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, wenn es um die Dauer der jeweiligen Elemente des Grundgerüsts geht; vor allem im Verhältnis zu den übrigen Abschnitten der Trainingspraxis. Hier ist im Vergleich zwischen Kindergruppen und Profigruppe ein deutlicher Unterschied zu erkennen. In den Kindergruppen ist gerade die Begrüßung mit den umfangreichen Rezitationen deutlich länger als in der Profigruppe. So haben die Phasen des Grundgerüsts in den Kindergruppen insgesamt eine Länge von etwa 15 bis 20 Minuten und machen somit über ein Viertel der gesamten Trainingszeit aus. Gemessen an der Tatsache, dass in den Kindergruppen pro Trainingseinheit in der Hauptphase durchschnittlich etwa drei TrainingsPraktiken inkludiert sind, machen die Ein- und Ausgangsphasen einen wesentlichen Anteil jeder Trainingseinheit aus. Darüber hinaus ist sind die PraktikenEnsemble der Praktiken-Gruppe Grundgerüst Teil jeder Trainingseinheit, was seinen konstitutiven Anteil an der gesamten Trainingspraxis noch erhöht. In den Profigruppen hingegen nehmen diese Elemente anteilsmäßig und in ihrer rahmenden Funktion eine deutlich schwächere Rolle ein. Erstens, weil die Begrüßung ohne die verschiedenen Rezitative deutliche kürzer ist und sich lediglich auf das Grüßen der Flagge und des Trainers beschränkt. Zweitens, weil der zeitliche Umfang dieser Praktiken im Vergleich zum zeitlichen Umfang der übrigen Praktiken deutlich geringer ist (ein Profitraining dauert mindestens zwei Stunden). Drittens, weil die Verabschiedung zwar das Ende der formellen Trainingseinheit markiert, die meisten Schüler*innen jedoch noch weiter frei trainieren
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und das Training somit de facto andauert. Viertens, weil der Aufbau der Trainingseinheit weniger starr als in den Kindergruppen ist. So wurden in den Profigruppen vereinzelt Begrüßung und Verabschiedung ausgelassen und die Aufwärmroutine teilweise variiert. Was die Ebene der Bedeutung anbelangt, muss zwischen der Selbstreferentialität der Praktiken und der Emergenz von Bedeutung in der Praxis bei den jeweiligen Akteur*innen unterschieden werden. Bedeutungsaspekte auf Ebene der Selbstreferentialität beschränken sich zunächst auf das rein Beobachtbare. Als wichtige Punkte können folgende identifiziert werden: Tabelle 2: Grundgerüst. Selbstreferentielle Bedeutungsebene Grundgerüst: Selbstreferentielle Bedeutungsebene Das Grundgerüst der Kindergruppen unterscheidet sich von dem der Profigruppe. Die Schüler*innen werden durch den Trainer zusammengerufen. Es besteht eine klare räumliche, körperliche und lautliche Trennung von Trainer und Schüler*innen. In der räumlichen Anordnung, aber auch auf lautlicher und körperlicher Ebene wird eine hierarchische Ordnung hergestellt und fixiert. Sowohl zwischen Trainer und Schüler*innen, aber auch unter den Schüler*innen. Die hierarchisch niedrig gestellten putzen den Dojang, während die höhergestellten von dieser Praxis befreit sind. Auf räumlicher und körperlicher Ebene herrscht das ästhetische Ideal von klaren Linien und Winkeln vor. Auf lautlicher Ebene dominiert ebenfalls klare, kraftvolle und akzentuierte Intonation. Die koreanische Flagge steht im Zentrum des Blickfeldes und wird performativ in ihrer Wichtigkeit hervorgehoben bzw. beglaubigt. Kollektivität zieht sich durch alle beschriebenen Praktiken und wird durch einen gemeinsamen Rhythmus auf körperlicher und lautlicher Ebene und chorische Rezitationen hervorgebracht. Auf Ebene der Selbstreferentialität können demnach Ordnung, Folgsamkeit, Hierarchie, Kollektivität/Kollektivismus und Nationalismus als Motive destilliert werden. Was die situative und subjektive Emergenz von Bedeutung anbelangt, so kann diese natürlich weniger klar formuliert werden, da es sich hier um innere, subjektive Vorgänge handelt. Wie im Abschnitt zu Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen aufgeführt, ist die Emergenz von Bedeutung einerseits durch
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emotionale Ergriffenheit und individuelle Affekte bestimmt, andererseits aber auch, je nach Aufführungskonzept, durch die allgemeine Inszenierung, welche intendierte Bedeutungsvermittlung miteinschließt, gelenkt. Ebenso ist die Emergenz von Bedeutung durch den subjektiven Habitus beeinflusst, der wiederum wesentlich durch geteilte, kollektive Erfahrungsräume bestimmt ist. Daher lassen sich an dieser Stelle zumindest mögliche bzw. wahrscheinliche Motive aufwerfen, die als Bedeutung in der Praxis emergieren können. Ein mögliches Motiv wäre das des Militärischen, die Bedeutung des Taekwondo als militaristischer Praxis. Ein anderes potenzielles Motiv wäre die Bedeutung des Taekwondo als Teil dessen, was gemeinhin als „traditionelle“ koreanische Kultur verstanden wird. Zu dieser möglichen Bedeutung können neben den Praktiken des Verbeugens und der besonderen Position hierarchisch Höhergestellter (als Ausdruck (Neo-)Konfuzianistischer Werteordnung) auch die dekorativen Attribute im Dojang beitragen. Hierzu sind etwa der Bodenbelag in Holzoptik, die Tigerdarstellung an der Frontseite sowie das Plakat mit dem Titel „Korean Tae Kwon Mask“ zu zählen. Grundgerüst: Theatralität und Ritualität Bei genauerer Betrachtung des Grundgerüsts und dessen konstitutiver Praktiken lassen sich mehrere Anordnungen lokalisieren, die anhand der theoretischen Vorüberlegungen aus Kapitel 3.2.3.1 als theatrale Praktiken beschrieben werden können. Hervorzuheben sind dabei die Begrüßung und die Verabschiedung. So kann bereits das einleitende Kommando des Zusammenrufens durch den Trainer als theatrale Praktik beschrieben werden. Die Art der Hervorhebung ist hier vornehmlich akustischer bzw. lautlicher Art. Durch die Art und Weise des Anrufens, kräftig und akzentuiert, wird die Aufmerksamkeit der Schüler*innen auf den Trainer gelenkt und seiner Anweisung des Zusammenkommens Folge geleistet. Die Aufstellung erfolgt daraufhin sowohl als körperliche wie auch als örtliche Hervorhebung, indem die Schüler*innen eine stilisierte Haltung einnehmen und eine räumliche Trennung zwischen ihnen und dem Trainer erzeugt wird. Die Aufmerksamkeit wird somit auf den Moment gerichtet und auf den Trainer fokussiert. Über die gesamte Begrüßung und Verabschiedung hinweg kann beobachtet werden, wie alltägliche Praktiken des Stehens, Verbeugens und Sprechens stilisiert und kollektiv rhythmisiert werden. Die theatralen Praktiken der Begrüßung und Verabschiedung nehmen also Bezug auf alltägliche Praktiken des Stehens, Verbeugens und Sprechens, heben diese hervor und fokussieren somit die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Akt und auf den Trainer. Der/die einzelne Schüler*in kann in dieser Praxis als Zuschauer*in verstanden
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werden, dessen/deren Aufmerksamkeit auf den Trainer und die Gruppe, zu der er/sie gleichzeitig gehört, gelenkt wird. Besonders deutlich wird die Fokussierung von Aufmerksamkeit und die damit einhergehende Unterscheidung von Alltäglichkeit und theatraler Hervorhebung unter Betrachtung der Kindergruppen. Vor Beginn des Trainings können die meisten Schüler*innen tobend im Dojang beobachtet werden. Sie befinden sich zwar bereits im geometrischen Raum des Dojang, ihre Praktiken sind jedoch „alltäglich“. Sie laufen umher, spielen, ärgern sich gegenseitig und teilweise die Trainer und Assistenztrainer. Die Atmosphäre ändert sich schlagartig mit der theatralen Praktik des Zusammenrufens. Es wird durch theatrale Praktiken unmittelbar ein performativer Raum der Ordnung, Folgsamkeit, Hierarchie und Kollektivität geschaffen, der sich von dem Vorherigen grundlegend unterschiedet. Wie bereits in den theoretischen Vorüberlegungen ausgeführt, müssen theatrale Praktiken nicht zwangsläufig theatrale Praxis bzw. Theatralität hervorbringen. Dies zeigt sich stets situativ und mitunter individuell. In den Beobachtungen zeigte sich, dass die Praxis des Begrüßens, des Aufwärmens und des Verabschiedens von besonderem Fokus geprägt war, wenngleich es auch hier vereinzelt Schüler*innen gab, bei denen anhand der Körperhaltung, der Mimik und Artikulation keine besondere Aufmerksamkeit angenommen werden konnte, obwohl sie sich rein formell in die kollektiven Praktiken einfügten. Geht es nun um Ritualität in der Praxis des Begrüßens, Aufwärmens und Verabschiedens, so könnte zur Diskussion gestellt werden, ob in solchen Fällen individuell eine rituelle Wirkung erfahren werden konnte. Bei anderen Schüler*innen, deren Aufmerksamkeit hingegen hergestellt war, kann durchaus eine rituelle Wirkung in Betracht gezogen werden. Es kann daher angenommen werden, dass in der Begrüßung, beim Aufwärmen und bei der Verabschiedung, insbesondere durch die gemeinsamen rhythmischen Rezitationen und Bewegungsfolgen, vielfach eine unmittelbar einwirkende Kollektivität im Sinne von Turners Communitas hervorgebracht werden konnte. Demnach kann ebenfalls angenommen werden, dass die jeweiligen Bedeutungen, seien sie nun selbstreferentiell oder emergent, in diesen spezifischen Praxen auch eine besonders prägnante Wirkung entfaltet haben könnten. 5.3.2 Fußtechniken Taekwondo wird gemeinhin sowohl von Praktizierenden als auch von Außenstehenden mit ausgefeilten Fußtechniken (발차기, Palch'agi) in diversen Variationen assoziiert. Auch in der Trainingspraxis der untersuchten Taekwondo-Schule besaßen Fußtechniken einen hohen Stellenwert – zumindest in der Trainingspra-
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xis der Profigruppe.43 In der Trainingspraxis der Kindergruppen hingegen nahmen Fußtechniken einen deutlich geringeren Stellenwert ein. 44, 45 Die Klassifizierung der Fußtechniken und ihre Zuweisung in verschiedene Unterkategorien erfolgte im Rahmen dieser Studie anhand ihrer Organisationsform, d. h. ob es sich um Einzel-, Partner- oder Gruppenübungen handelte und welche räumliche Anordnung der Akteur*innen diese Praktiken umfassten. So konnten insgesamt neun Typen von Praktiken-Ensembles mit Fokus auf Fußtechniken festgestellt werden. Palch'agi-Block Diese Art der Trainingsanordnung konnte sowohl in den Kindergruppen 46 als auch in der Profigruppe47 beobachtet werden.48 Zentral für diese Praktik ist die Aufstellung der Akteur*innen im Block, ähnlich der Aufstellung während der Begrüßung und Verabschiedung. Die Techniken werden hier nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, sondern frei in die Luft ausgeführt. Der Fokus liegt somit verstärkt auf der exakten Ausführung der Technik. Auf ein Kommando führen die Schüler*innen gleichzeitig die jeweilige Fußtechnik aus, während im Moment des Fokuspunktes der Techniken ein Kihap (기합, dt. sinngemäß Kampfschrei) ausgestoßen wird. Die speziellen Fußtechniken, die innerhalb dieser Anordnung trainiert werden, sind zumeist Apch'agi (앞차기, dt. Vorwärtstritt), Tollyŏch'agi (돌려차기, dt. Halbkreistritt), Yŏpch'agi (옆차기, dt. Seitwärtstritt), Twich'agi (뒤차기, dt. Rückwärtstritt), Twihurigi 49 (뒤후리기, 43 Anm.: Im Rahmen von 29 protokollierten Trainingseinheiten konnten 35 Praktiken mit Fokus auf Fußtechniken beobachtet werden. 44 Anm.: Im Rahmen von 96 beobachteten Einheiten war dies 20-mal der Fall. 45 Anm.: Die vier Kindergruppen waren je Trainingstag stets identisch aufgebaut. An 24 protokollierten Trainingstagen konnten 5 Trainingspraktiken mit Fußtechniken im Zentrum verzeichnet werden. Multipliziert mit dem Faktor 4, für 4 Kindergruppen pro Trainingstag ergibt dies eine Gesamtzahl von 20 Trainingspraktiken mit Fußtechniken im Zentrum. 46 Anm.: In 2x4 Mal von 24x4 TE. 47 Anm.: In 4-mal von 29 TE. 48 Anm.: Die vier Male, in denen diese Praktik Teil des Profitrainings war, umfassten ein und dieselbe Trainingseinheit (13.01.2015) und wurden hier nacheinander im Wechsel mit Kräftigungsübungen ausgeübt. Es wäre daher auch möglich, die vier Male als einmal zu zählen. 49 Anm.: Laut offizieller Kukkiwon-Terminologie auch Twihuryŏch'agi (뒤후려차기) (Kukkiwon 2019, S. 157).
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dt. Fersendrehschlag), Tolgaech'agi (돌개차기, dt. Tornadotritt) und Podoolligi (보도올리기, dt. Beinschwung vorwärts), die gemeinsam als grundlegende Fußtechniken bezeichnet werden können.50 In der Praxis konnten gravierende Unterschiede zwischen der Profigruppe und den Kindergruppen beobachtet werden. In den Kindergruppen gab stets der Trainer die Kommandos für das gemeinsame Treten. Auf das laute, kräftige Kommando des Trainers antworteten alle Schüler*innen mit der jeweiligen Technik und einem ebenfalls lauten Kampfschrei. In der Profigruppe hingegen wurde das Kommandogeben unter den Schüler*innen aufgeteilt.51 Dazu wurde vom Trainer jede Fußtechnik einer/m Schüler*in zugeteilt für die er/sie die Kommandos geben sollte. Diese Trainingspraktik konnte sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe nur marginal beobachtet werden und kann deshalb in der Gesamtbetrachtung eher vernachlässigt werden. Der Vollständigkeit halber sollte sie dennoch nicht unerwähnt bleiben. Palch'agi-Kombinationen Diese Praktik konnte im Rahmen der Profigruppe nicht beobachtet werden. Im Rahmen der Kindergruppen zumindest zweimal.52 Bei dieser Praktik handelt es sich um eine Anordnung im Block, ähnlich der Praktik Palch'agi Block. Im Gegensatz dazu werden hier jedoch statt Einzeltechniken acht vorgegebene Kombinationen trainiert, die sich wiederum aus drei aneinandergereihten Fußtechniken zusammensetzen.53 Auch in dieser Trainingsanordnung steht die gemeinsame Ausführung im Mittelpunkt. Auf das Kommando des Trainers werden die Kombinationen gemeinsam gestartet und unisono mit einem Kampfschrei beendet. Nach Beendigung der Kombination kehren alles Schüler*innen zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
50 Anm.: Dieser Umfang konnte in den Einheiten der Kindergruppen am 28.12.2015 beobachtet werden. 51 Vgl. TE vom 13.01.2015. 52 Anm.: In 2x4 Mal von 24x4 TE. 53 In den Datenaufzeichnungen sind nicht alle acht Kombinationen aufgezeichnet. Hier werden als Beispiele lediglich zwei Kombinationen genannt. Die erste besteht aus zwei Halbkreisfußtritten mit dem rechten und dem linken Fuß auf Körperhöhe und einem dritten Halbkreisfußtritt mit dem rechten Fuß auf Kopfhöhe. Die zweite Kombination besteht aus ebenfalls zwei Halbkreisfußtritten mit rechts und links zum Körper mit einem abschließenden Rückwärtstritt mit rechts auf Körperhöhe (Kindertraining vom 06.01.2016).
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Palch'agi-Bahnen/Aufwärm-Palch'agi-Bahnen Hierbei handelt es sich um Praktiken, die nur in der Profigruppe, jedoch nicht in den Kindergruppen beobachtet wurden. Beide Praktiken sind im Folgenden zusammengefasst, da beide das Trainieren von Fußtechniken in Bahnen beinhalten. Ein Unterschied besteht jedoch in den jeweiligen Fußtechniken. Die Variante zum Aufwärmen beinhaltet die Fußtechniken Apch'aolligi (앞차올리기, dt. Vorwärts-Beinschwung), Pakkatch'agi (바깥차기, dt. Außentritt) und Anch'agi (안차기, dt. Innentritt). Die andere Variante wiederum umfasst wechselnde Fußtechniken, insbesondere die grundlegenden Fußtechniken. Variationen sind etwa die Kombination der grundlegenden Fußtechniken mit Sŏgi (서기, dt. Stellungen) aus den Poomsae (품새, dt. Bewegungsformen) 54 , die Variation von Tritten als Kŏdŭpch'agi (거듭차기, dt. Doppeltritte)55 oder kurze Trittkombinationen56. Anders als bei den vorher genannten Praktiken geht es hier nicht darum, im Kollektiv auf Kommando Techniken auszuführen. Stattdessen treten alle Schüler*innen aufeinander folgend an, um die Fußtechniken in sich schlängelnden Linien zu laufen. Die Technik der als skillful geltenden Schüler*innen zeichneten sich in der Beobachtung durch die Höhe der Endposition der Fußtechniken aus. Darüber hinaus konnten in den Endpositionen gestreckte Beine, ein gerader Rücken und ein vollständig auf dem Boden platziertes Standbein als Körperideale beobachtet werden. Die Hände und Arme waren mit locker geschlossenen Fäusten angewinkelt und nah am Körper gehalten, den Blick geradeaus gerichtet. Waren die Fußtechniken mit Stellungen kombiniert, so konnten, auch in diesen, gestreckte Beine und klare Formen als Körperideale beobachtet werden, ebenso wie ein kurzes Halten im Fokuspunkt der Technik. Ein lauter Kampfschrei ist nicht Teil dieser Übungsform. Die Trainer konnten im Kontext dieser Praktiken oft mit verschränkten Armen an der Seite stehend beobachtet werden. 57 Sie korrigierten wenig haptisch oder durch demonstrieren, warfen jedoch zuweilen Kommentare ein. 58 Korrigierten sie Schüler*innen haptisch oder aus unmittelbarer Nähe verbal, so versperrten sie den anderen Schüler*innen dabei zumeist den Weg und zwangen diese um sie herum zu laufen.59 54 Vgl. TE vom 30.12.2015. 55 Anm.: Etwa als Kŏdŭp Yŏpch'agi (거듭 옆차기) in der TE vom 04.01.2016, 06.01.2016. 56 Anm.: Etwa als Apch'ago momdollyŏyŏpch'agi (앞차고 몸돌려옆차기) aus der P'umsae P'yŏngwŏn (품새 평원) in der TE vom 08.01.2016. 57 Vgl. TE vom 30.12.2015; TE vom 09.01.2016. 58 Vgl. TE vom 09.01.2016. 59 Vgl. TE vom 16.01.2016.
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Palch'agi-Kreis Diese Praktik umfasst alle Anordnungen, in denen Fußtechniken im Kreis ausgeführt werden. Sie konnten deutlich seltener beobachtet werden als die Anordnungen in Bahnen. 60 Die Fußtechniken umfassten ebenfalls AufwärmFußtechniken und grundlegende Fußtechniken mit den entsprechenden ästhetischen Idealen. Anders als in den Praktiken in Bahnen steht hier wieder das kollektive Ausüben von Techniken im Mittelpunkt. Während die Schüler*innen in einer Kreisformation angeordnet sind, steht der Trainer entweder innerhalb des Kreises und kommandiert die Techniken 61 oder er steht außerhalb des Kreises und beobachtet mit kleineren verbalen Korrekturen von der Seite die Schüler*innen, die in dieser Anordnung selbst zählen.62 Die anderen Schüler*innen antworten mit dem Ausführen der Technik und einem Kampfschrei. Dieser soll kraftvoll und unisono ausgestoßen werden. In den protokollierten Einheiten zählte entweder der höchstrangige Schüler oder aber alle Schüler*innen zählten jeweils nacheinander zehn Mal, wobei jede Technik 20-mal wiederholt wurde.63 Palch'agi-Partner Diese Art von Praktiken konnte einmal in den Kindergruppen und zweimal in der Profigruppe beobachtet werden.64 Dies ist insofern hervorzuheben, als dass es sich hierbei, neben der Praktiken-Gruppe Kyŏrugi (겨루기, dt. etwa Wetteifer, meint den freien Taekwondo-Zweikampf) und Mit-Ch'agi-Partner, um die einzig weitere Partner-Anordnung handelt, die in der gesamten Trainingspraxis beobachtet werden konnte. Sie unterschied sich zwischen Kindergruppen und der Profigruppe der Intensität nach enorm. In den Kindergruppen wurde ohne Schutzausrüstung und dementsprechend ohne Kontakt trainiert. Die Schüler*innen versuchten, die ersten zwei Kombinationen aus der Praktik Palch'agiKombinationen paarweise anzuwenden. In dieser Übungsform greift ein/e Schüler*in mit der jeweiligen Kombination an, während der/die andere Schüler*in nach hinten zurückweicht und lediglich als Distanz- und Höhenmaßstab dient. Bei jeder Technik wird ein Kampfschrei ausgestoßen. Die Praxis der Profigruppe zeichnete sich im Gegensatz zu den Kindergruppen durch körperlichen Kontakt aus. Ohne Schutzausrüstung bestand nur leichter 60 Anm.: Dies konnte im Rahmen von drei TE beobachtet werden. 61 Vgl. TE vom 27.01.2016. 62 Vgl. TE vom 18.01.2016; TE vom 23.01.2016. 63 Vgl. TE vom 18.01.2016. 64 Anm.: In den Kindergruppen in 4x1 TE und in der Profigruppe in 2 TE.
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Körperkontakt, mit Schutzausrüstung konnte dieser stärker sein. In der beobachteten Einheit vom 06.01.2016 65 begann die Übung, nachdem eine Hälfte der Schüler*innen Helm und Kopfschutz angelegt hatte. Es handelte sich hierbei um Schüler*innen, die in einem vorherigen Spiel als Verlierer*innen hervorgegangen waren. In der paarweisen Aufteilung durften sie mit stärkerer Intensität getroffen werden. Alle anderen ohne Schutzausrüstung wurden nur mit leichtem Kontakt getroffen. Innerhalb eines Sets führten beide Partner*innen abwechselnd jeweils zwanzigmal im Wechsel mit dem linken und rechten Fuß einen Halbkreisfußtritt aus. Die gesamte Übung setzte sich aus jeweils drei Sets (zwei Sets auf Körperhöhe und eines auf Kopfhöhe) zusammen. Sie blieben dabei die gesamte Zeit an einer Stelle. Palch'agi-Kraftausdauer Dieses Praktiken-Ensemble konnte in der Profigruppe insgesamt vier Mal beobachtet werden, in den Kindergruppen hingegen gar nicht. Zentrales Merkmal ist das mehrfach wiederholte Ausführen einer bestimmten Fußtechnik, entweder Apch'agi oder Yŏpch'agi, während eine Hand als Gleichgewichtshilfe an der Wand abgestützt ist. Zur Erhöhung der Trainingsintensität wird ein Terraband verwendet, das beim Ausstrecken des tretenden Beins einen Widerstand erzeugt. Verbunden mit ihrem Ausdauercharakter zeichnete sich diese Praktik durch Drill aus. In einer Einheit konnte eine Situation beobachtet werden, in der alle Schüler*innen an die Wände gestützt unter deutlich sichtbarer Erschöpfung die Wiederholungen ausführten, während der Schulleiter etwas abseits auf einem Stuhl saß und lautstark die Übung kommandierte. 66 In einer anderen Einheit konnte beobachtet werden, wie der Trainer sich bei bestimmten Schüler*innen aufhielt und diese in bestimmtem und ernstem Ton korrigierte. Dabei erschwerte er Einzelnen durch das Ausüben von Widerstand die Ausführung. Nach mehreren Wiederholungen zeigten alle Schüler*innen deutliche Erschöpfungszeichen und wurden daraufhin in intensiverem Ton vom Trainer zum Weitermachen aufgefordert.67
65 Anm.: In den Aufzeichnungen findet sich hier mit „06.01.2015“ ein fehlerhaftes Datum. 66 Vgl. TE vom 29.12.2015. 67 Vgl. TE vom 30.12.2015.
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Mit-Ch'agi Mit-Ch'agi-Praktiken zeichnen sich durch das Verwenden sog. Mit (밑, bezeichnet paddelartige Trittpolster, die als Ziel für Fuß- und in geringerem Maße Handtechniken verwendet werden) aus. Eine Variation ist die paarweise Anordnung der Schüler*innen, während eine andere die Anordnung in Reihen ist. In dieser Form hält ein/e Schüler*in das Ziel, während die anderen im dynamischen Wechsel nacheinander das Ziel angreifen, um sich daraufhin wieder am Ende der Reihe anzustellen. Erstere konnte in den Kindergruppen kein Mal und in der Profigruppe einmal beobachtet werden. Letztere Variation wurde in der Kindergruppe ebenfalls kein Mal, in der Profigruppe hingegen zehnmal beobachtet, was diese Praktik als besonders wichtig herausstellt. Auch im Rahmen dieser Praktiken sind es hauptsächlich die grundlegenden Fußtechniken, die eingesetzt werden. Daneben werden auch fortgeschrittenen Fußtechniken, trainiert, die ganz besonders im Rahmen dieser Praktiken beobachtet werden konnten. 68 Die fortgeschrittenen Fußtechniken bauen auf den grundlegenden auf und umfassen etwa Ttwiŏapch'agi (뛰어앞차기, dt. gesprungener Vorwärtstritt), Yangbal Apch'agi (양발앞차기, dt. beidfüßiger Vorwärtstritt, sinngemäß: Spagat-Tritt), Ttwiŏyŏpch'agi (뛰어옆차기, dt. gesprungener Seitwärtstritt), Modumbal Aapch'agi (모둠발앞차기, dt. gemeinsamer Vorwärtstritt) 69 und 540 to Twihurigi 70 (540 도 뒤후리기, dt. 540-GradFersendrehschlag). 71 Darüber hinaus auch Ttwiŏdwihurigi (뛰어뒤후리기, dt. gesprungener Fersendrehschlag) und 720 to Twihurigi (720 도 뒤후리기, dt. 720-Grad-Fersendrehschlag). In der Praxis wurden die Techniken meist von einem Kampfschrei begleitet. Handelte es sich um Anordnungen in Reihen, so waren die Schüler*innen in der Regel in zwei Reihen aufgeteilt, wobei sich in einer die schwächeren Schüler*innen einreihten und in der zweiten die stärkeren.72 Das Ziel wurde jeweils von eine/r Schüler*in gehalten, der/die wechselte, 68 Anm.: Etwa in den TE vom 16.01.2016 und TE vom 01.02.2016. Anders als die grundlegenden Fußtechniken, die im Rahmen aller Fußtechnik-Praktiken beobachtet wurden, konnten die fortgeschrittenen Fußtechniken lediglich im Rahmen der MitCh'agi-Praktiken beobachtet werden, außerhalb der Fußtechnik-Praktiken jedoch noch im Rahmen des freien Trainings und in den Demo-Rehearsals. 69 Anm.: Bei dieser Technik treffen beide Füße im Sprung gleichzeitig ein Ziel, das sich frontal vor der ausführenden Person befindet 70 Laut offizieller Kukkiwon-Terminologie: „540 to Twihuryŏch'agi (540 도 뒤후려차기)“ (Kukkiwon 2019, S. 157). 71 Vgl. TE vom 01.02.2016. 72 Vgl. TE vom 16.01.2016.
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nachdem jede/r die Fußtechnik mit jedem Fuß jeweils vier- bis fünfmal getreten hatte. 73 Der Zeitpunkt zum Wechseln war dabei weder genau festgelegt noch folgte das Wechseln einer bestimmten Reihenfolge. Vielmehr wurde es geregelt, indem sich spontan jemand bereitstellte und aus eigenem Impuls den/die Haltende*n abwechselte. Besonders interessant war dabei die Praxis der Übergabe, die wiederum durch formelle Praktiken gekennzeichnet war. Es konnte beobachtet werden, dass der/die Halter*in das Mit stets mit beiden Händen und einer leichten Verbeugung an den/die Nachfolger*in übergab, welche/r das Mit ebenfalls mit beiden Händen und einer leichten Verbeugung entgegennahm. 74 In der Praxis konnte, insbesondere im Rahmen dieser Praktik, beobachtet werden, wie die Schüler*innen besonders viel lachten, herumalberten und Spaß hatten.75 Mitunter ärgerten sich die Schüler*innen gegenseitig, indem sie den/die Schüler*in an der Reihe sabotierten.76 Während die Trainer in den Trainingseinheiten durchgehend eher eine streng anmutende Mimik, Gestik und Artikulation zeigten, konnten sie im Rahmen dieser Praktiken beobachtet werden, wie sie sich unter die Schüler*innen einreihten, um ebenfalls gegen die Ziele zu treten. 77 In einer Einheit konnte sogar beobachtet werden, wie im Rahmen dieser Praktiken auch Musik gespielt wurde und so eine noch ausgelassenere, lockere Atmosphäre herrschte.78 Fußtechniken: Performativitätsästhetische Spezifikationen Die Praktiken-Gruppe der Fußtechniken umfasst die Praktiken Palch'agi-Block, Palch'agi-Kombinationen, Palch'agi-Bahnen/AufwärmPalch'agi-Bahnen, Palch'agi-Kreis, Palch'agi-Partner, Palch'agi-Kraftausdauer und Mit-Ch'agi, die sich in ihrer performativen Ästhetik teilweise gravierend unterscheiden. Auf räumlicher Ebene – hier ist der performative Raum gemeint – lassen sich die beschriebenen Praktiken in sechs Gruppen unterteilen: die räumliche Anordnung im Block, in Bahnen, im Kreis, die paarweise Anordnung, die individuelle freie Verteilung im Raum und die Anordnung in Reihen. Während sich die räumlichen Anordnungen in den einzelnen Praktiken erheblich unterscheiden, so haben sie doch gemein, dass, ähnlich den Begrüßungs- und Verabschiedungs73 Vgl. TE vom 27.01.2016. 74 Vgl. TE vom 27.01.2016. 75 Vgl. TE vom 16.01.2016. 76 Vgl. TE vom 01.02.2016; TE vom 03.02.2016. 77 Vgl. TE vom 16.01.2016; TE vom 01.02.2016. 78 Vgl. TE vom 16.01.2016.
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praktiken, eine räumliche Differenzierung zwischen Trainer und Schüler*innen hergestellt wird. Diese Differenzierung besteht nicht nur auf horizontaler Ebene, sondern darüber hinaus auch vereinzelt auf vertikaler Ebene. Dies bezieht sich auf Situationen, in denen die Schüler*innen die Techniken stehend ausführen, während etwa der Schulleiter etwas abseits auf einem Stuhl sitzend die Übungen anleitet. Dies wurde jedoch lediglich einmal protokolliert, deutet aber auch auf eine weitere hierarchische Differenzierung zwischen Schulleiter und Trainern hin.79 Interessant ist, dass auch in dieser Praktiken-Gruppe wesentliche Unterschiede zwischen den Kindergruppen und der Profigruppe deutlich werden. Während in den Kindergruppen ausschließlich die Anordnungen im Block und paarweise vorhanden sind, sind sie es in der Profigruppe kaum. Hier dominieren die Anordnungen in Bahnen und in Reihen (Mit-Ch'agi), während auch kreisförmige Anordnungen in geringerem Ausmaß beobachtet werden konnten. In den Kindergruppen dominiert demnach eine statische Raumverteilung, die deutliche Gemeinsamkeiten zu den Anordnungen der Begrüßung und Verabschiedung aufweist. Durch den körperästhetisch dynamischeren Charakter der Fußtechnik-Praktiken ist die klare und gleichmäßige Gliederung des performativen Raums hier jedoch deutlich geringer ausgeprägt. Doch steht auch hier wieder die räumliche Anordnung als Gruppe im Mittelpunkt. Dies trifft ebenfalls auf die paarweise Anordnung zu, da auch die Paare wiederum in einer Block-Formation angeordnet sind. In der Profigruppe hingegen spielt diese Raumanordnung nur eine marginale Rolle. Hier dominiert die Anordnung in Bahnen und Reihen.80 Anders als die Anordnung im Block oder im Kreis geht mit einer solchen Anordnung eine Separierung der einzelnen Schüler*innen einher. Auf räumlicher Ebene wird also weniger ein Kollektiv als vielmehr ein Nebeneinander von Individuen hervorgebracht. Dies bezieht sich ebenfalls auf die Praktik Palch'agiKraftausdauer, im Rahmen derer die Schüler*innen frei im Raum, jedoch überwiegend an den Wänden, verteilt sind, an denen sie sich abstützen. Auf körperlicher Ebene dominieren Fußtechniken. Eine dezidierte Unterscheidung zwischen Kindergruppen und Profigruppe ist hier weniger sinnvoll, da die Logik der Praktiken sich, ausgehend von einer skillful practice, in beiden Fällen nicht unterscheidet. Stattdessen ist eine Unterscheidung zwischen MitCh'agi-Praktiken, in denen auf ein Ziel getreten wird, und den übrigen Praktiken, im Rahmen derer Fußtechniken ohne ein materielles Ziel ausgeführt werden, besser geeignet. Eine weitere sinnvolle Unterscheidung ist die zwischen 79 Vgl. TE vom 29.12.2015. 80 Palch'agi-Bahnen konnte neunmal beobachtet werden und Mit-Ch'agi (Reihe) zehnmal, was einen deutlichen Unterschied zu anderen räumlichen Anordnungen darstellt, die jeweils ein- bis maximal viermal beobachtet werden konnten.
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Schüler*innen und Trainern, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird. Betrachtet man die körperliche Ästhetik im Rahmen von Praktiken wie Palch'agi-Kreis, Palch'agi-Bahnen und anderer Praktiken ohne haptisches Ziel, so dominiert ein ästhetisches Ideal, dessen zentrale Aspekte Ähnlichkeit zu der körperlichen Ästhetik der Begrüßung und Verabschiedung aufweisen. Klare Linien und Winkel können auch hier beobachtet werden, etwa in der geraden Haltung des Rückens, der Streckung des Stand- wie auch des Trittbeins, der locker geschlossenen Fäuste und des zielgerichteten Blicks geradeaus. In der Endposition verharrt der Körper einen kurzen Moment posenartig, was die Klarheit des körperlichen Ausdrucks zusätzlich unterstreicht. Im Rahmen der Praktiken Palch'agi-Kreis, Palch'agi-Block, Palch'agi-Kombination, aber auch Palch'agi-Kraftausdauer zeigt sich zudem Kollektivität auf körperlicher Ebene, da die einzelnen Techniken gemeinsam auf Kommando des Trainers in einem gemeinsamen Rhythmus ausgeführt werden. Ein solcher kollektiver Rhythmus ist hingegen im Rahmen von Praktiken wie Palch'agi-Bahnen und Mit-Ch'agi nicht zu beobachten. Hier dominiert der individuelle Rhythmus der einzelnen Schüler*innen, wenn dieser auch nicht vollständig losgelöst vom Rhythmus der anderen Schüler*innen existiert. In beiden Fällen haben die Schüler*innen andere Schüler*innen vor und hinter sich und müssen den eigenen Rhythmus daher, zumindest bis zu einem gewissen Grad, an diese anpassen. Ein flüssiger Ablauf wäre ansonsten nicht möglich. In der Praxis zeigte sich, dass im Rahmen von Palch'agi-Bahnen häufiger ein flüssiger Ablauf durch die Trainer erschwert wurde, die bei Korrekturen einzelner Schüler*innen den anderen im Weg standen. 81 Der körperliche Ausdruck der Trainer wie auch des Schulleiters, ihre Gestik und Mimik, wies in den beobachteten Einheiten starke Parallelen auf. Die übliche Pose zeigte vor der Brust verschränkte Arme, minimalistische Mimik und einen ernsten Blick.82 In Einzelfällen wurden Techniken durch die Trainer demonstriert (in den Kindergruppen wesentlich öfter als in der Profigruppe) in den meisten Fällen jedoch beschränkte sich die körperliche Aktivität der Trainer auf das Einnehmen der beschriebenen Pose, wobei Korrekturen über Zurufe (häufiger in der Profigruppe) oder über taktile Korrekturen (häufiger in der Kindergruppe) vorgenommen wurden. Eine wirkliche Ausnahme konnte vermehrt in den Mit-Ch'agi-Praktiken beobachtet werden, im Rahmen derer sich die Trainer wiederholt unter die Schüler*innen einreihten, um als Übende aktiv zu werden.83 Die Mit-Chagi-Praktiken betrachtend, zeigt sich unter Berücksichtigung von skillful pracitces ein deutlich anderes ästhetisches Ideal als in den übrigen Praktiken. Während dort klare 81 Vgl. TE vom 16.01.2016. 82 Vgl. TE vom 30.12.2015. 83 Vgl. TE vom 16.01.2016; TE vom 01.02.2016.
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Linien und posenartiges Halten dominieren, so sind die Mit-Ch'agi-Praktiken hingegen durch eine agile, beschleunigte Dynamik geprägt. Klare Linien sind nicht unwesentlich, treten aber zugunsten einer agilen Dynamik in den Hintergrund. Ebenso spielen, vor allem bei den fortgeschrittenen Fußtechniken, das Springen und Drehen eine wichtige Rolle. Bei der Technik Ttwiŏapch'agi beispielsweise ist eines der Körperideale eine möglichst hohe Sprunghöhe zu erreichen und somit Ziele in maximaler Höhe zu treffen. Bei fortgeschrittenen Schüler*innen konnten Tritte auf Ziele in deutlich über zwei Metern Höhe beobachtet werden. Neben der Höhe ist eine möglichst lange Flugphase ein weiteres Ideal. Dabei wird der eigentliche Tritt zugunsten der vorhergehenden Flugphase möglichst lange herausgezögert, um dann mit umso größerer Beschleunigung das Ziel zu treffen. In besonders gelungenen Beispielen konnte neben der maximalen Höhe und der Beschleunigung auch beobachtet werden, wie die Schüler*innen die Flugphase so verlängern und den eigentlichen Tritt herauszögern konnten, dass sie für eine kurze Zeit wie in der Luft zu stehen schienen. Damit ist das Ideal des posenartigen Verharrens in gewisser Weise auch auf die gesprungenen Mit-Palch'agi-Techniken übertragbar. All diese Körperideale lassen sich ebenfalls für die Techniken Ttwiŏyŏpch'agi und Yangbal Apch'agi und Modumbal Apch'agi identifizieren. Anhand der Techniken Tolgaech'agi, Ttwiŏdwihurigi, 540 to Twihurigi und 720 to Twihurigi wiederum wird das ästhetische Ideal der maximalen Drehung deutlich. Hier geht es darum den Körper möglichst oft um die senkrechte Körperachse zu drehen, bevor der eigentliche Tritt entweder mit dem Fußspann oder mit der Fußsohle platziert wird. Während in den Mit-Ch'agi-Praktiken mit fortgeschrittenen Fußtechniken Leichtigkeit im Sinne von Schwerelosigkeit wahrnehmbar war, was auch am eigenen Leib erfahren wurde, so war im Rahmen der Praktik Palch'agiKraftausdauer besonders das Gefühl der übermäßigen Anstrengung über die eigenen Grenzen hinaus präsent. Das Gefühl der körperlichen Überforderung wurde dabei durch die Anweisungen des Trainers explizit hervorgerufen und bei einzelnen Schüler*innen verstärkt.84 Auch die lautliche Ebene spielt im Rahmen des Praktiken-Ensembles der Fußtechniken eine konstitutive Rolle. So etwa Kommandos, die ähnlich wie im Rahmen der Begrüßung und Verabschiedung als ordnende Impulse fungieren und einzelne Aktionen ein- und überleiten. Während die Intonation der Kommandos sehr ähnlich derer im Grundgerüst ist, so dienen sie hier dem Zählen und damit verbunden dem Vorgeben eines kollektiven Rhythmus. Während Kommandos insbesondere im Kontext der Praktiken Palch'agi-Block, Palch'agiKobinationen, Palch'agi-Kreis und Palch'agi-Kraftausdauer Verwendung fin84 Vgl. TE vom 30.12.2015.
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den, spielen sie hingegen im Rahmen der Praktiken Palch'agi-Bahnen, Palch'agi-Partner und Mit-Ch'agi keine wesentliche Rolle. Interessant dabei ist, dass auch hier wieder eine klare Unterscheidung zwischen Kindergruppen und Profigruppe deutlich wird. Während in der Profigruppe mit dem Schwerpunkt auf Palch'agi-Bahnen und Mit-Ch'agi Kommandos eine geringe Rolle spielen, so sind sie in den Kindergruppen mit dem Schwerpunkt auf Palch'agi-Block und Palch'agi-Kombinationen ein wesentliches Merkmal. Auffällig ist außerdem, dass in den Kindergruppen ausschließlich die Trainer und Assistenztrainer*innen die Kommandos geben, während in der Profigruppe, sowohl im Rahmen von Palch'agi-Block als auch Palch'agi-Kreis, diese Rolle weniger klar zugewiesen ist. Im Rahmen von Palch'agi-Kreis konnte in einer Einheit beobachtet werden, wie jede/r Schüler*in abwechselnd zählte85, in einer anderen Einheit hingegen, wie nur der höchstrangige Schüler zählte86 und in einer weiteren Einheit wiederum, wie der Trainer in der Mitte des Kreises stehend zählte. Die Variante des abwechselnden Zählens konnte auch im Rahmen der Praktik Palch'agi-Block beobachtet werden. 87 Auch wenn die Rolle des/der Zählenden weniger fixiert war, so oblag die situative Zuteilung der Rolle dennoch dem Trainer. Ein wichtiges lautliches Phänomen, welches im Kontext vieler Praktiken innerhalb des Taekwondo-Trainings eine Rolle spielt und deshalb im weiteren Verlauf wiederholt aufgegriffen werden wird, ist der Kampfschrei. Dieser ist ein ein heterogenes Phänomen, insofern als dass keine einheitliche Intonation oder gar ein durchgehend einheitlicher Laut identifiziert werden kann. Dennoch war die hohe Lautstärke ein übergreifendes Merkmal. Eine Variante ist die komplementäre Verwendung zum Kommando des Trainers in den Praktiken Palch'agiBlock, Palch'agi-Kombinationen und Palch'agi-Kreis. So wie das Zählkommando des Trainers oder der Schüler*innen die kollektive Ausführung einer Technik initiiert, so unterstreicht der kollektive Kampfschrei am Endpunkt der Technik die Kollektivität der Trainierenden und bringt diese gleichsam performativ hervor. Wie im Rahmen des Grundgerüsts, so zeigt sich auch hier das Motiv der chorischen Gegenrede als Antwort auf das Kommando des Trainers. In diesen Situationen ist der Kampfschrei kurz und markant. Im Rahmen der Praktik MitCh'agi (Reihe) konnte hingegen eine andere Variante des Kampfschreis beobachtet werden. Vereinzelt wurde hier ein Kampfschrei als individuelles Ausdrucksmerkmal verwendet, um die eigene Technik zu unterstreichen. Im Rahmen der Mit-Ch'agi-Praktiken konnte darüber hinaus ein weiteres lautliches Phänomen beobachtet werden: das Erzeugen eines lauten Knalls beim Treffen 85 Vgl. TE vom 18.01.2016. 86 Vgl. TE vom 23.01.2016. 87 Vgl. TE vom 13.01.2016.
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des Mit. Je besser die Ausführung der Technik, desto lauter auch der Knall. Entscheidend hierbei ist in erster Linie nicht die Durchschlagskraft der Technik, sondern vielmehr ihre Beschleunigung, eine schnappende Bewegung sowie ein optimaler Aufprallwinkel. Ein besonders lauter Knall ist somit die akustische Bestätigung einer gelungenen Ausführung.88 Auf zeitlicher Ebene ist zum einen der Anteil der Fußtechnik-Praktiken an der gesamten Trainingszeit relevant und zum anderen der Rhythmus. In den Kindergruppen machen Fußtechniken insgesamt einen sehr geringen Anteil der Trainingszeit aus. Beobachtet werden konnten lediglich Palch'agi-Block und Palch'agi-Kombinationen in jeweils 2x4 Trainingseinheiten sowie Palch'agiPartner in 1x4 Trainingseinheiten. Für eine Einheit konnte protokolliert werden, dass hier Fußtechniken das Hauptthema der Einheit ausmachten. 89 In der Profigruppe hingegen nehmen Fußtechniken einen deutlich höheren Stellenwert ein. So konnten im Rahmen von 29 protokollierten Einheiten 35 Trainings-Praxen mit Fokus auf Fußtechniken beobachtet werden. Dies zeigt wiederum, dass Fußtechniken als zentraler Bestandteil der Trainings-Praxis gesehen werden können. Hinzu kommen ebenfalls Freies Training und Demo-Rehearsal, in denen Fußtechniken ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Darauf wird unter den entsprechenden Teilkapiteln genauer eingegangen. Mit deutlichem Abstand als wichtigste Praktiken konnten Palch'agi-Bahnen und Mit-Ch'agi (-Reihe) identifiziert werden. Ein gleichmäßiger Rhythmus als ordnendes Element konnte vorrangig im Zusammenhang mit jenen Praktiken beobachtet werden, die Teil der Trainings-Praxis der Kindergruppen waren, also insbesondere Palch'agi-Block und Palch'agi-Kombinationen. Hier bezieht sich Rhythmus wieder auf einen kollektiven Rhythmus, der akustisch durch die Kommandos des Trainers geordnet und durch die gleichförmigen Bewegungen wie auch den chorischen Kampfschrei der Schüler*innen fortgeführt wurde. In der Profigruppe findet sich diese Form des Rhythmus ebenfalls, wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß. Hier sind es Palch'agi-Block und Palch'agi-Kreis, in denen eine solche Form des kollektiven Rhythmus beobachtet werden konnte. Insbesondere im Rahmen der Praktiken Palch'agi-Bahnen konnte selbst erfahren werden, wie sich nach einiger Zeit auch hier ein individueller Rhythmus einstellt, sodass die Verknüpfung der einzelnen Techniken rhythmisch-gleichförmig erfolgt. Unterbrochen wurde dieser individuelle Rhythmus durch das Stocken anderer Schüler*innen und durch die Trainer, die, wie bereits in der allgemeinen Beschreibung erörtert, immer wieder die Wege blockierten, wenn sie andere Schüler*innen aus unmittelbarer Nähe korrigierten. Zuweilen konnte jedoch auch beobachtet werden, wie sich die individu88 Anm.: Eine ähnliche Feststellung findet sich auch bei Bowman (2017, S. 80). 89 Vgl. TE vom 06.01.2015.
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ellen Rhythmen der einzelnen Schüler*innen einander anpassten und wieder stellenweise kollektive Rhythmen hervorbrachten. Auf der Ebene der Bedeutung muss auch hier erneut zwischen der selbstreferentiellen Ebene und jener der Emergenz von Bedeutung unterschieden werden. Auf selbstreferentieller Ebene können folgende Aspekte zusammengefasst werden, wobei sich auch im Rahmen der Praktiken-Gruppe Fußtechniken die Praxis der Kindergruppen und die der Profigruppe enorm unterscheidet. Tabelle 3: Fußtechniken. Selbstreferentielle Bedeutungsebene Fußtechniken: Selbstreferentielle Bedeutungsebene Kindergruppen Profigruppe In den Kindergruppen spielen Fuß- Fußtechniken spielen eine große Rolle. techniken eine geringe Rolle. Sie sind gekennzeichnet durch Kollek- Kollektivität spielt im Vergleich zu tivität auf körperlicher sowie auf laut- den Kindergruppen eine deutlich kleilicher Ebene, was sich in einem kol- nere Rolle. lektiven Rhythmus zeigt. Dieser zeigt sich bei den Schüler*innen in gleichförmigen Bewegungen auf Kommando des Trainers sowie in einem chorischen Kampfschrei. Kollektives Ausführen der Techniken Die individuelle Praxis steht stärker im hat einen deutlich höheren Stellenwert Vordergrund, gegenseitige Abstimals deren korrekte bzw. „gute“ Aus- mung ist dennoch vorhanden. führung. Die klare Trennung von Schüler*innen Die Rolle des Trainers als Leiter der und Trainer ist auch hier sichtbar. Übungen ist deutlich geringer ausgeDiese wird im performativen Raum prägt. Teilweise leiten Schüler*innen hervorgebracht und durch die körperli- abwechselnd Übungen oder Übungschen und akustischen Äußerungen. teile an. Oftmals gibt es während einer Übung keine unmittelbare Anleitung (Mit-Ch'agi, Palch'agi Reihe), stattdessen stimmen sich die Schüler*innen in der Praxis spontan gegenseitig ab. Die Rollen sind klar verteilt. Der Trai- Das Bild des Trainers weist wiederner gibt Kommandos, auf die die kehrende körperliche und lautliche Schüler*innen reagieren. Es wird nicht Merkmale auf. Dazu zählen eine mi-
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selbständig an den Techniken gearbeitet. Stattdessen werden alle Aktionen von den Kommandos des Trainers angeleitet.
nimale Mimik mit strengem Blick, vor dem Körper verschränkte Arme und laute, kraftvolle Kommandos. Die Körperideale der Praktiken umfassen klare Linien und Winkel, besonders hohe Endpositionen, das Halten im Endpunkt einer Technik (Palch'agi-Bahnen) und dynamische Agilität, hohe Sprünge und eine maximale Anzahl an Drehungen (MitCh'agi) auf der anderen Seite. Dabei konnte Schwerelosigkeit als wichtiges Ideal (Mit-Ch'agi mit fortgeschrittenen Fußtechniken) beobachtet werden. Repetition (Balchagi-Bahnen) und Durchhaltevermögen (Balchagi-Kraftausdauer) als weitere Aspekte. Die stilisierte Übergabe der Mit erfolgt auf besonders höfliche Weise Vereinzelt wird die Struktur durch Alberei gebrochen.
Auf Ebene der Selbstreferentialität der Praktiken müssen demnach für die Kindergruppen und die Profigruppe separate Pools an Bedeutungen zusammengefasst werden. Für die Kindergruppen können als solche etwa Kollektivität, Folgsamkeit gegenüber Autoritäten und klare Ordnung genannt werden. Für die Profigruppe hingegen können die Bedeutungen individuelle Höchstleistung und Athletik, klare Ordnung, aber auch Freude, Spaß und Ungezwungenheit gelesen werden. Interessant ist ebenfalls das Bild des Trainers zwischen der Verkörperung seiner Trainer-Rolle als kraftvoll, stabil und streng und dem zeitweiligen Herausfallen aus dieser Rolle in einzelnen Praxen, die sich in der Teilnahme an den Übungen und dem Herumalbern mit den Schüler*innen zeigt. Mögliche Bedeutungen, die in den beschriebenen Praxen emergieren, können in den Kindergruppen ähnlich dem Grundgerüst etwa wieder der Bezug zum Militär sowie der „traditionellen“ koreanischen Kultur sein. Fußtechniken spielen in diesem Zusammenhang aus zweierlei Gründen eine wichtige Rolle. Zum einen ist es ein geläufiges Narrativ über Taekwondo, dass der vermeintliche Schwerpunkt auf Fußtechniken in der koreanischen Kultur begründet liege. So
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habe beispielsweise das „traditionelle Leben“ in Korea dazu geführt, dass Koreaner*innen aufgrund ihrer Sitzgewohnheiten auf dem Boden, im Gegensatz zur Sitzgewohnheit auf Stühlen, eine besondere Hüftbeweglichkeit einverleibt hätten, weshalb koreanische Martial Arts vermehrt hohe Fußtechniken einsetzen. 90 Über den Fokus auf Fußtechniken wird darüber hinaus unter konservativen Taekwondo-Forschern und -Praktizierenden sowohl in Korea als auch weltweit eine genealogische Verbindung zwischen Taekwondo und Taekkyeon91 argumentiert. Demnach hänge der Schwerpunkt auf Fußtechniken mit der direkten Abstammung von dem deutlich älteren Taekkyeon zusammen. Darüber hinaus wird in einigen Texten das Praktizieren gesprungener Fußtechniken mit der historischen Organisation der Hwarang in Verbindung gebracht. 92 Diesem Narrativ nach trainierten diese gesprungene Fußtechniken, um Gegner von ihren Pferden zu treten. Über das Trainieren gesprungener Fußtechniken wird demnach eine genealogische Verbindung zur historischen Organisation der Hwarang argumentiert. Fußtechniken: Theatralität und Ritualität Grundsätzlich können alle in den beschriebenen Praktiken aufgefundenen Fußtechniken als Ausnahme-Fußtechniken bezeichnet werden. 93 AusnahmeFußtechniken deshalb, weil sie Techniken des Kämpfens über die praktische Effizienz für eine kämpferische Situation hinaus ästhetisch hervorheben. In einem potenziell regellosen Kampf können Fußtechniken oberhalb der Gürtellinie auf unterschiedliche Arten ineffizient und sogar gefährlich sein, da sie die Aufgabe eines festen Standes erfordern. Ausnahme-Fußtechniken hingegen spielen genau mit dieser Ineffizienz und Überhöhung, um Aufmerksamkeit zu erregen und zu lenken. Nicht ihre Funktionalität für eine physische Konfrontation ist das Ziel ihrer Ausübung, sondern ihre wirkungsmächtige Präsenz durch ästhetische Stilisierung anhand bestimmter ästhetischer Ideale. In der konkreten Praxis unterscheiden sich diese in den Kindergruppen von denen in der Profigruppe. In den Kindergruppen sind ästhetische Ideale nicht in erster Linie Präzision, Tritthöhe oder klare Linien/Winkel, sondern Synchronizität und damit ein Bild der kollektiven Einheit.94 Die Anwendung der Techniken mit einem Partner 90 Rubbeling 2014, S. 215. 91 Vgl. Abschn. 2.2; Abschn. 6.2. 92 Vgl. Abschn. 2.2.1; Abschn. 6.2. 93 Minarik 2014, S. 126. 94 Anm.: Natürlich umfasst das ästhetische Ideal auch in den Kindergruppen Aspekte wie Präzision, Tritthöhe sowie klare Linien und Winkel, da grundsätzlich davon aus-
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wird zwar trainiert, tritt aber zugunsten der kollektiv-synchronen Ausübung von Einzeltechniken und Kombinationen in den Hintergrund. In den Fällen, in denen Fußtechniken paarweise trainiert werden handelt es sich um AusnahmeFußtechniken, die zwar im konsequenzverminderten Kontext des Trainings bzw. im theatral inszenierten Kontext des wettkampforientierten Zweikampfs 95 funktionieren, in einem realen Kampfgeschehen jedoch schwere Folgen haben könnten. In der Profigruppe sind bei der Betrachtung von Palch'agi-Bahnen jene zuvor genannten ästhetischen Ideale, also Präzision, Tritthöhe sowie klare Linien/Winkel zu beobachten. Durch die fortlaufende, repetitive Praxis hervorgehobener Techniken wird die Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf die Selbsterfahrung und Selbstbetrachtung gelenkt. Die Schüler*innen sind damit Performer*innen und Zuschauer*innen in einer Person. Sie agieren und zugleich spüren, betrachten und erfahren sie sich selbst und reagieren darauf, was zu einer ähnlichen Art der autopoietischen Feedback-Schleife führen kann, wie es Fischer-Licht in ihrer Ästhetik des Performativen beschreibt. In den Mit-Ch'agiPraktiken sind dynamische Agilität, hohe Sprünge, Schwerelosigkeit und eine maximale Anzahl an Drehungen die ästhetischen Ideale der Stilisierung. Insbesondere im Rahmen der fortgeschrittenen Fußtechniken kann zudem eine zweite Ebene der theatralen Hervorhebung festgestellt werden. Denn konzipiert man Ausnahme-Fußtechniken als ein Grundelement der Taekwondo-Praxis, so handelt es sich bei den gesprungenen und mehrfach gedrehten Fußtechniken um Hervorhebungen zweiter Ordnung. Dieser Konzeption nach haben AusnahmeTechniken in der Praxis des Taekwondo bereits den Status von alltäglichen Techniken angenommen, wie dies beim wettkampforientierten Zweikampf und bei wettkampforientierten Bewegungsformen der Fall ist. Jene Fußtechniken, die als fortgeschrittene Fußtechniken etwa im Rahmen der Mit-Ch'agi-Praktiken trainiert werden, unterliegen dann mit dem Fokus auf maximale Flugdauer und Drehbewegung einer weiteren Ebene der Hervorhebung, womit sie zu Ausnahme-Fußtechniken zweiter Ordnung werden. Die Art und Weise der ästhetischen Stilisierung und der damit verbundenen Bewegungsideale unterscheidet sich fundamental zwischen den Kindergruppen und der Profigruppe. Die theatralen Praktiken der Kindergruppen folgen der ästhetischen Logik der Kollektivität, während die theatralen Praktiken der Profigruppe hingegen einer ästhetischen Logik der individuellen Exzellenz folgen. gegangen werden muss, dass die ästhetischen Kriterien der Profigruppe auch für die Kindergruppen gelten. Jedoch werden diese von den Trainern in einem deutlich geringeren Umfang gefordert als z. B. das Einhalten von Synchronizität. Diese steht in den Kindergruppen als Ideal über allen anderen. 95 Vgl. Minarik 2014, S. 114ff.
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Hier ist es weniger das unmittelbar körperliche Erfahren von Gemeinschaft, sondern das eigene Streben nach ästhetischer Exzellenz, nach einem Ideal, das starke Ähnlichkeit zu dem olympischen Ideal citius, altius, fortius oder höher, schneller, weiter aufweist. Natürlich findet dies alles in einer Gruppe statt, doch ist diese Gruppe gerade in den Mit-Ch'agi-Praktiken mit fortgeschrittenen Fußtechniken dem performativen Raum nach besonders stark in eine Zuschauer*inPerformer*in-Konstellation gegliedert. Ist ein/e Schüler*in an der Reihe, müssen die anderen in der Reihe warten, was eine entsprechende Zuschauer*inPerformer*in-Konstellation begünstigt. Während also die Schüler*innen auf ihren eigenen Einsatz warten, sind sie gleichsam Zuschauer*innen der jeweiligen Person, die gerade an der Reihe ist. Sicherlich ist dabei die Aufmerksamkeit bei unterschiedlichen Schüler*innen unterschiedlich stark ausgeprägt. Doch gerade, wenn der beste Schüler an der Reihe war, konnte ein allgemeiner Anstieg der Aufmerksamkeit und der Fokus auf diesen Schüler festgemacht werden. Auch bezüglich ritueller Mechanismen in den Kindergruppen und der Profigruppe wird separat berichtet. In den Kindergruppen verhält es sich im Falle der Fußtechnik-Praktiken ähnlich wie im Rahmen des Grundgerüsts. Es wird auf körperlicher Ebene Kollektivität hergestellt, die durch einen gemeinsamen Rhythmus geprägt ist. Dieser wird ebenfalls durch chorische Kampfschreie unterstrichen. Dies wiederum birgt bei längerer Dauer die Möglichkeit für das Auftreten spontaner Communitas nach Turner als leibliche Erfahrung von Gemeinschaft. In der Profigruppe hingegen verhält sich dies subtiler. Das Hervorbringen unmittelbarer körperlicher Kollektivität, ähnlich der Praxis der Kindergruppen, ist hier am ehesten noch im Rahmen der Praktik Palch'agi-Kreis wahrscheinlich. In diesem Zusammenhang könnte jedoch auch die Praxis der MitCh'agi-Praktiken interessant sein, wenn in den beschriebenen Momenten die strukturellen Barrieren zwischen Trainern und Schüler*innen fallen und sich eine Atmosphäre der Lockerheit, Ungezwungenheit und Gemeinschaftlichkeit einstellt. Die Gemeinschaftlichkeit, welche hier performativ hervorgebracht wird, ist weniger eine konformistische Gemeinschaftlichkeit, sondern vielmehr eine Gemeinschaftlichkeit individuell agierender Subjekte. Auch dies kann sicherlich als eine Form der spontanen Communitas bezeichnet werden. 5.3.3 Kibondongjak/Poomsae Die Praktiken-Gruppe Kibondongjak/Poomsae (기본동작/품새) umfasst Praktiken, deren technischer Schwerpunkt auf formalisierten Konggyŏkkisul und Pangŏgisul (공격기술과 방어기술, dt. Angriffs- und Abwehrtechniken) mit den
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oberen Extremitäten Son'gisul (손기술, dt. Handtechniken)96 liegt. Diese, insgesamt als Kibon'gisul (기본기술, dt. Grundtechniken) bezeichnet, bilden in Kombination mit Sŏgi (서기, dt. etwa Stellungen) Kibondongjak (dt. Grundbewegungen), einfache Bewegungssequenzen. Bei Poomsae97 handelt es sich um festgelegte Choreografien, die wiederum aus mehreren Sequenzen kombinierter Angriffs- und Abwehrbewegungen zusammengesetzt sind. Die Grundbewegungen (Kibondongjak) können demnach als Grundbausteine der Poomsae bezeichnet werden. Dementsprechend schien eine Zusammenfassung der beiden Praktiken-Gruppen im Kontext dieser Studie sinnvoll. Insgesamt sind im Kontext des Taekwondo siebzehn standardisierte Poomsae festgelegt, von denen laut Kukkiwon acht für die Kŭp-Grade (유급) und neun für die Dan-Grade (유단) bestimmt sind. In der Trainingspraxis der untersuchten Taekwondo-Schule hatten Grundbewegungen und Poomsae als selbständige Praktiken einen mittleren bis hohen Stellenwert, während sie in den Kindergruppen eine deutlich größere Rolle spielten als in der Profigruppe. Dies gilt insbesondere für die Grundbewegungen, die in der Profigruppe nur marginal trainiert wurden. Die in der Praxis beobachteten Anordnungen wurden in die Praktiken-Gruppen Kibondongjak, Kibon Makki/Chirŭgi und Poomsae-Sequenzen/Laufen aufgeteilt. Die erste Praktiken-Gruppe konnte in den Kindergruppen 9x4 Mal beobachtet werden, in der Profigruppe hingegen gar nicht. Die zweite Praktiken-Gruppe konnte in den Kindergruppen keinmal beobachtet werden, in der Profigruppe zweimal. Die dritte Praktiken-Gruppe konnte in den Kindergruppen 8x4 Mal beobachtet werden, in der Profigruppe fünfmal. An der Quantität allein wird deutlich, dass Kibondongjak und Poomsae als selbständige Praktiken für die Praxis der Profigruppe keine wesentliche Rolle gespielt haben. Abgesehen von den selbständigen Praktiken spielten die Bewegungen und Choreografien jedoch eine wesentliche Rolle im Rahmen der übergeordneten Praktiken-Gruppe 6: Performance(vorbereitung), weshalb ihre allgemeine Rele-vanz deutlich höher eingestuft werden muss, als es im Rahmen von Kibondongjak/Poomsae zunächst den Anschein macht. Kibondongjak Kibondongjak konnte neunmal in den vier Kindergruppen beobachtet werden und damit in fast einem Drittel der Trainingseinheiten. In der Profigruppe hin96 Anm.: Obwohl der Begriff „Son'gisul” eigentlich Techniken mit der Hand meint, können im weiteren Sinne auch Techniken mit dem Ellenbogen oder dem Handgelenk unter diese Kategorie subsumiert werden (vgl. Eom, Ahn & Jeong 2017). 97 Vgl. Abschn. 2.2.1.
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gegen wurde diese Praktiken-Gruppe keinmal beobachtet. Alle folgenden Beschreibungen beziehen sich daher ausschließlich auf die Kindergruppen. Die Benennung der Praktiken-Gruppe ist der eigenen Bezeichnung der Trainer entsprechend übernommen worden. Kibon (기본) ist eine verkürzte Form der Bezeichnung Kibon'gisul (기본기술, dt. Grundtechnik), während Tongjak (동작) etwa als Bewegung(en) übersetzt werden kann. Kibondongjak bezeichnet demnach vier grundlegende Bewegungssequenzen, welche die Schüler*innen entsprechend ihrer Graduierung dem Ablauf nach beherrschen müssen. Dementsprechend kann diese Praktiken-Gruppe als Zusammenfassung einfacher sequenzieller Verkettungen von einzelnen Grundtechniken beschrieben werden. Diese werden auf der Stelle stehend bzw. mit sehr kleinen Bewegungsradien in alle Richtungen ausgeführt. Die räumliche Anordnung ist in beiden Varianten stets die Block-Formation. Zum Praktiken-Ensemble Kibondongjak zählen: • • • •
•
Yŏnsusŏk Chirŭgi (연수석 지르기): Eine Kombination, als 10. Kŭp. Kibon Makki (기본 막기): Vier Kombinationen, jeweils eine Kombination als 10., 9., 8., und 7. Kŭp. Sabang Chirŭgi (사방 지르기): Vier Kombinationen, jeweils eine Kombination als 4., 3., 2., und 1. Kŭp. Sŭt'ep Palch'agi (스텝 발차기)98: Zehn Techniken in Zweierkombinationen mit dem rechten und linken Fuß, jeweils fünf Kombinationen als 2. und 1. Kŭp. [Nakpŏp (낙법): Vier Techniken, als 3. Kŭp].
Alle Praktiken dieser Gruppe folgen in ihrer Ausführung dem gleichen formalen Ablauf. Entweder stehen die Schüler*innen zu Beginn bereits in der BlockFormation oder sie werden durch den Trainer per Kommando dazu aufgefordert ebendiese Aufstellung einzunehmen. Anfang und Ende der jeweiligen Übung werden per Kommando vom Trainer angegeben. Dies erfolgt in ähnlicher Form wie bei der Begrüßung und Verabschiedung. Die Übungen beginnen jeweils mit einer lauten, kräftigen und akzentuierten Ansage des Trainers mit der Bezeichnung der jeweiligen Übung. Es folgt das Kommando „Ch'aryŏt!“ („차렷!“, dt. „Achtung!“), auf das alle Schüler*innen eine aufrechte Körperhaltung annehmen. Eine detaillierte Erklärung der Körperhaltung ist unter dem Abschnitt 5.1.3.1 zu finden. Es folgt das Kommando „Chunbi!“ („준비!“, dt. etwa „Vorbereiten!“) auf das alle Schüler*innen ihre Hände langsam zu Fäusten ballen und diese vor dem Körper entlang bis auf Brusthöhe führen, während sie mit dem 98 Anm.: Bei dem Begriff handelt es sich um die koreanisierte Aussprache des englischen „Step“.
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linken Fuß einen Schritt über eine Fußlänge zur linken Seite in die Stellung Naranhisŏgi (나란히서기, dt. parallele Stellung)99 setzen. Sobald die Fäuste auf Brusthöhe angelangt sind, führen die Schüler*innen die Fäuste langsam wieder nach unten bis sie etwa auf der Höhe des Gürtels vor dem Unterbauch ihre Endposition erreichen. Hier besteht zwischen den Fäusten etwa eine Faustbreite Abstand wie auch zwischen den Fäusten und dem Unterbauch. Hierbei handelt es sich um eine Vorbereitungsstellung, die im Vorfeld zu unterschiedlichen Übungen eingenommen wird. Mit dem Kommando „Shijak!“ („시작!“, dt. „Beginnen!“) beginnt die eigentliche Übung. Ist die Sequenz beendet, erfolgt das Kommando „Paro!“ („바로!“, dt. „Zurück!“) auf das die Schüler*innen in die Vorbereitungsstellung zurückkehren. Am Ende der gesamten Übung gibt der Trainer schließlich das Kommando „Shwiŏ!“ („쉬어!“, dt. „Pausieren!“), woraufhin sich die Schüler*innen verbeugen und eine nicht-formelle Position einnehmen. Bezüglich ihrer schrittweisen Durchführung ähneln sich die Übungen Yŏnsusŏk Chirŭgi (연수석 지르기) und Kibon Makki (기본 막기). Zwar unterscheiden sich die Techniken selbst (im Rahmen der ersten Übung handelt es sich um Fauststöße, im Rahmen der zweiten um mehrere Abwehrtechniken 100), jedoch ähneln sich die Praktiken-Ensembles sehr in ihrem Aufbau und den verwendeten Stilmitteln. Die Übungen werden nun am Beispiel Yŏnsusŏk Chirŭgi (연수석 지르기) beschrieben, während an den entsprechenden Stellen die Unterschiede zueinander erwähnt werden. Beide Übungen werden jeweils in der gleichen Stellung statisch am Platz ausgeführt. Dazu folgt auf das Einnehmen der Vorbereitungsstellung zunächst das Kommando „주춤서!“ („Chuch'umsŏ!“, Kommando zum Einnehmen der Chuch'umsŏgi-Stellung), auf das alle Schüler*innen zunächst die Arme nach vorne ausstrecken und auf Höhe der Handgelenke überkreuzen, um unmittelbar beide Fäuste schnell und kraftvoll zu den jeweiligen Seiten der Hüfte zurückzuziehen. Dabei drehen sie die Fäuste, sodass am Ende der Bewegung die geballten Fäuste mit der Handfläche nach oben an beiden Seiten der Hüfte einrasten. Simultan zum Zurückziehen der Fäuste setzen die Schüler*innen den linken Fuß weiter zur linken Seite, sodass beide Füße schließlich einen Abstand von einer Schulterbreite haben. Die Knie sind in dieser Posi99 Anm.: Diese Stellung wird aufgrund ihrer Funktion als Vorbereitungsstellung auch als Chunbisŏgi (준비서기, dt. Vorbereitungsstellung) bezeichnet. 100 Anm.: Dass es sich bei diesen Techniken um reine Abwehrtechniken handelt, wird von Autoren wie Simon John O’Neill und Matthew Sylvester zurückgewiesen (vgl. O’Neill 2008; Sylvester [2009] 2012). In der beobachteten Trainingspraxis wurden diese Techniken jedoch immer als Abwehrtechniken bezeichnet, was auch der gängigen Definition des Kukkiwon entspricht (vgl. Kukkiwon 2019).
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tion tief gebeugt und der Rücken aufrecht, sodass eine leicht sitzende Haltung eingenommen wird. Die eigentliche Übung beginnt auch hier mit dem Kommando „Shijak!“. Im Falle der Yŏnsusŏk Chirŭgi handelt es sich um Fauststöße, die beginnend mit der linken Faust abwechselnd mit links und rechts gemeinsam von allen Schüler*innen in einem gleichmäßigen Rhythmus mit moderatem Tempo ausgeführt werden. Im selben Rhythmus rezitieren sie mit lauter Stimme: „Ah! Ah!“ („아! 아!“) „T'ae! Kwŏn!“ („태! 권!“) „T‘ae! Kwŏn! To!“ („태! 권! 도!“) „Chŏng! Shin! T'ong! Il!“ („정! 신! 통! 일!“) „Myŏng! Sŏng! Ch'e! Yuk! Kwan!“ („명! 성! 체! 육! 관!“) „Kuk! Ki! T‘ae! Kwŏn! To!“ („국! 기! 태! 권! 도!“)101
Dabei ist jeder Stoß mit einer Silbe verbunden. Alle Stöße sind auf Brusthöhe platziert, bis auf die letzten drei. Diese sind zunächst auf Kopfhöhe, dann auf Brusthöhe und schließlich auf Unterbauchhöhe. Nach Beendigung der eigentlichen Übung erfolgen, wie zuvor beschrieben, die Kommandos zum gemeinsamen Abschließen der Übung. Bei der Übung Kibon Makki erfolgt die Ausführung sehr ähnlich. Auch hier werden die einzelnen Techniken in gleichförmigen Sequenzen aneinandergereiht, während die Techniken stets abwechselnd mit der linken und der rechten Hand ausgeführt werden. Rezitiert werden die Bezeichnungen der einzelnen Techniken. Im Falle der Technik Araemakki (아래막기, dt. etwa unterer Block) wird diese zunächst mit der linken Seite ausgeführt. Dies ist verbunden mit den ersten beiden Silben Arae (아래, dt.: tief oder unterhalb). Daraufhin wird die Technik auf der rechten Seite wiederholt. Auf verbaler Ebene ist diese mit den beiden Silben Makki (막기, dt.: verteidigen) verbunden. Auf diese Weise werden die verschiedenen Techniken aneinandergereiht. Nach Ende der jeweiligen Sequenz erfolgen auch hier die entsprechenden Kommandos zum Abschluss der Übung durch den Trainer. Die Praktiken Sabang Chirŭgi und Sŭt'ep Palch'agi werden im Gegensatz zu den beiden zuvor beschriebenen Praktiken nicht auf der Stelle ausgeübt, sondern haben einen, wenn auch geringen, Bewegungsradius im Raum. Sabang Chirŭgi umfasst dabei vier Sequenzen 101
„Ah! Ah!“ „T'ae! Kwŏn!“ „T‘ae! Kwŏn! To!“ „Gei-! –st! Ein-! –heit!“ „Myŏng! Sŏng! Sport! Schu-! -le!“ „Kuk! Ki! T‘ae! Kwŏn! To!“.
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bestehend aus Kombinationen von Angriffs- und Defensivbewegungen sowie grundlegende Fußstellungen. Diese kurzen Sequenzen von zwei bis vier Techniken werden dabei jeweils einmal nach vorne, hinten, links und rechts gelaufen. Bei Sŭt'ep Palch'agi handelt es sich um Kombinationen grundlegender Fußtechniken, welche aus einer Step-Bewegung heraus gestartet werden. Von diesen lernen die Schüler*innen insgesamt zehn. Als Vorbereitung der Übung erfolgt hier statt dem Kommando „Chunbi!“, das Kommando „Kyŏrugi Chunbi!“ („겨루기준비!“, dt. sinngemäß „Freikampfstellung einnehmen!“), welches statt der üblichen Vorbereitungsstellung eine Aufforderung zum Einnehmen der Freikampfstellung ist. Diese nehmen die Schüler*innen kollektiv unter Ausstoßen eines Kampfschreis ein. In dieser Stellung befinden Sie sich in einer kontinuierlichen Auf-und-Ab-Bewegung, die durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Wippbewegung in den Sprunggelenken entsteht. Aus dieser kontinuierlichen Bewegung heraus starten die Schüler*innen auf das Kommando „Shijak!“ die jeweilige Sequenz, die zuvor vom Trainer angesagt wurde. Am Ende der Sequenz steht der kollektive Kampfschrei und die Rückkehr zum Ausgangspunkt auf das Kommando „Paro!“. Zusätzlich zu den bereits beschriebenen Praktiken kann darüber hinaus Nakpŏp unter Vorbehalt als weitere Praktik genannt werden. Unter Vorbehalt deshalb, weil diese lediglich einmal beobachtet wurde102 und sich darüber hinaus nicht dezidiert aus dem Pool der Grundtechniken zusammensetzt. Bei Nakpŏp handelt es sich stattdessen um die Fallschule, also das Üben vorgegebener Techniken des Fallens nach vorne, hinten, links und rechts. Ähnlich wie bei der Übung Sabang Chirŭgi werden diese Techniken auf ein gemeinsames hin Kommando ausgeführt. Auch die Rückkehr in die Ausgangsposition erfolgt auf ein Kommando des Trainers. Kibon Makki/Chirŭgi Die Praktiken-Ensembles Kibon Makki/Chirŭgi bedienen sich aus demselben Technikpool wie die zuvor beschriebenen Kibondongjak. Anders als dieses Praktiken-Ensemble handelt es sich bei Kibon Makki/Chirŭgi jedoch nicht um das Üben festgelegter Sequenzen, sondern um das isolierte Üben von Einzeltechniken mit dem Fokus auf die Biomechanik der jeweiligen Techniken. Dies wurde in der Profigruppe einmal beobachtet,103 in den Kindergruppen keinmal. Beim zweiten Mal wurde die gesamte Trainingsgruppe in Juniors und Seniors geteilt, wobei lediglich die Juniors sich mit Kibon Makki/Chirŭgi beschäftigten.
102 Vgl. TE vom 29.01.2016. 103 In der TE vom 08.01.2016.
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Die Beobachtung in diesem Abschnitt bezieht sich daher auf eine Trainingseinheit. Im Rahmen der beobachteten Praxis wurden die Einzeltechniken Momt'ongjirŭgi (몸통지르기, dt. Körperstoß: d. h. Fauststoß zum Solarplexus), Mom-t'ongdubŏnjirŭgi (몸통두번지르기, dt. doppelter Körperstoß: d. h. zwei Fauststöße mit links und rechts hintereinander), Araemakki 104 (아래막기, dt. untere Abwehr), Momt'ongmakki 105 (몸통막기, dt. Körperabwehr), Ŏlgulmakki 106 (얼굴막기, dt. Gesichtsabwehr) und Pakkat Ŏlgulmakki (바깥얼굴막기, dt. äußere Gesichtsabwehr) geübt. Diese wurden statisch am Platz in der Stellung Naranhisŏgi (나란히서기, dt. parallele Stellung) ausgeführt. Die Schüler*innen standen dabei in der Block-Formation. Das Einnehmen der Ausgangsposition war nicht formell geregelt, wie dies etwa beim Praktiken-Ensemble Kibondongjak in den Kindergruppen der Fall war. Die Techniken wurden gemeinsam in der Gruppe auf Kommando ausgeführt, wobei auf einen Kampfschrei am Ende jeder Technik, wie in den Kindergruppen, verzichtet wurde. Die beobachtete Praxis wurde von dem Schulleiter persönlich geleitet. Korrekturen durch den Schulleiter wurden zumeist verbal durch Zurufe von der Seite gegeben, seltener taktil durch Führen der Arme der Schüler*innen. Darüber hinaus wurden vom Schulleiter die zentralen Punkte, die bei der Ausführung der Techniken zu beachten seien, für alle genannt. In der Praxis wurde der Fokus wurde dementsprechend auf die detailgenaue Ausführung der einzelnen Techniken gelegt. Poomsae-Sequenzen/Laufen Die Praktiken-Gruppe Poomsae-Sequenzen/Laufen umfasst diejenigen Trainingsanordnungen, bei denen die für Taekwondo typischen Bewegungsformen, die Poomsae, im Zentrum stehen. Unterschieden werden dabei zum einen Praktiken, die das wiederholte Laufen 107 bestimmter Sequenzen aus den Poomsae thematisieren und zum anderen Praktiken, welche das Laufen ganzer Poomsae beinhalten. Die maßgebliche Unterscheidung ist die räumliche Anordnung der Schüler*innen, weshalb die Entscheidung getroffen wurde, hier noch einmal zu 104 Anm.: Laut offizieller Kukkiwon-Terminologie heißt die Technik nun Naeryŏmakki (내려막기, dt. abwärts gerichtete Abwehr) (Kukkiwon 2019, S. 46). 105 Anm.: Laut offizieller Kukkiwon-Terminologie heißt die Technik nun Anmakki (안막기, dt. nach innen gerichtete Abwehr) (Kukkiwon 2019, S. 52). 106 Anm.: Laut offizieller Kukkiwon-Terminologie heißt die Technik nun Ollyŏmakki (올려막기, dt. aufwärts gerichtete Abwehr) (Kukkiwon 2019, S. 54). 107 Anm.: „Laufen“ meint hier das vollständige Ausführen der Poomsae von Beginn bis Ende.
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separieren. Der Anteil dieser Praktiken an der gesamten beobachteten Trainingspraxis liegt im Bereich der mittleren Häufigkeit. So konnte dieses PraktikenEnsemble in der Profigruppe fünfmal beobachtete werden, in den Kindergruppen mit 8x4 Mal noch etwas häufiger. An dieser Stelle kann jedoch angemerkt werden, dass Bewegungsformen auch im Kontext der Praktiken Demo-Rehearsal sowie Prüfungsvorbereitung eine wichtige Rolle spielten, sodass ihre allgemeine Relevanz für die Trainingspraxis als hoch eingestuft werden könnte. Dass bestimmte Sequenzen der Poomsae gelaufen wurden, konnte ausschließlich in der Profigruppe beobachtet werden und hier genau zweimal. 108 In Bahnen gelaufen wurden hier zentrale Sequenzen aus der Poomsae Koryŏ (고려), ähnlich der Anordnung Palch'agi-Bahnen. Die Schüler*innen reihten sich auch hier nacheinander auf, wobei die Bewegungssequenzen in Endlosschleifen aneinandergehängt wurden. Dies geschah ohne Kommando, korrigiert wurde bis auf Ausnahmen gar nicht.109 Ganze Bewegungsformen wurden sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe gelaufen, wobei sich die Praxis jedoch stark unterschied. In der Profigruppe war es immer Koryŏ, die gelaufen wurde. In einer Trainingseinheit 110 wurden zusätzlich auch die Poomsae Kŭmgang (금강), T'aebaek (태백) und P'yŏngwŏn (평원) gelaufen. Dies geschah stehts in der gesamten Gruppe bzw. in der gesamten Teilgruppe, während die andere Teilgruppe etwas anderes übte. 111 Ähnlich wie bei Kibondongjak wurde der Beginn der Übung stehts durch den Trainer eingeleitet. Die Übung beginnt auch hier mit dem Kommando „Ch'aryŏt!“, auf das alle Schüler*innen eine aufrechte Körperhaltung annehmen. Es folgt das Kommando „Chunbi!“, auf das alle Schüler*innen die Vorbereitungsstellung einnehmen. Ist die Poomsae beendet, verharren alle in der Endposition bis das Kommando „Paro!“ erfolgt, auf das die Schüler*innen wiederum in die Vorbereitungsstellung zurückkehren. Die Bewegungsformen wurden sowohl mit Kommando des Trainers, aber auch selbständig ohne Kommando gelaufen. Wurden die Bewegungsformen mit Kommando gelaufen, so erfolgte nach jeder Teilsequenz ein Kommando des Trainers für die nächste Teilsequenz.112 Das Kommando war in diesen Fällen ein Zählen mit „Hana!“ und „Tul!“ im Wechsel. Wurde die Bewegungsform ohne 108 Vgl. TE vom 29.12.2015 und TE vom 04.01.2016. 109 Ebd. 110 Vgl. TE vom 16.01.2016. 111 Vgl. TE vom 16.01.2016. 112 Anm.: Die Poomsae sind durchgehend in zusammenhängende Teilsequenzen aufgeteilt, die eine oder mehrere Einzeltechniken beinhalten können. Die einzelnen Teilsequenzen und der Übergang zwischen diesen ist für den Rhythmus der Bewegungsformen bedeutsam.
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Kommando gelaufen, erfolgte das Kommando „Shijak!“, woraufhin alle Schüler*inne gemeinsam die Bewegungsform starteten. Üblicherweise wurden die Bewegungsformen mehrere Male hintereinander gelaufen, so etwa dreimal mit Kommando und anschließend fünfmal ohne Kommando in der Trainingseinheit vom 06.01.2016. Nachdem die Bewegungsform(en) mehrfach gelaufen wurde(n), gibt der Trainer schließlich das Kommando „Shwiŏ!“ woraufhin sich die Schüler*innen verbeugen und eine nicht-formelle Position einnehmen. In den Kindergruppen war die Praxis der Poomsae insgesamt deutlich stärker durch die Graduierung der einzelnen Schüler*innen bestimmt. Wurden Bewegungsformen trainiert, so wurden die Schüler*innen jedes Mal anhand ihrer Graduierungen in kleine Gruppen eingeteilt, sodass jede der Kleingruppen nur die Poomsae übte, die für ihre nächste Prüfung notwendig war. Die Kleingruppen wurden dabei jeweils von beiden Trainern und den Assistenztrainer*innen betreut. 113 Schüler*innen ab dem 1. Poom trainierten teilweise selbständig in Kleingruppen und wurden lediglich von Trainer oder Assistenztrainer*in überprüft. Auch hier erfolgte das Laufen der Poomsae entweder mit Kommando durch den Trainer/Assistenztrainer*in oder aber ohne Kommando, wobei lediglich das Kommando zum Beginn und Ende der Poomsae gegeben wurde. Korrekturen durch Trainer und Assistenztrainer*in beschränkten sich auf Aspekte des groben Ablaufs, wenn etwa falsche Techniken ausgeführt wurden oder Schüler*innen im Ablauf nicht weiterkamen.114 Kibondongjak/Poomsae: Performativitäts-ästhetische Spezifizierung Wie auch in den zuvor beschriebenen Praktiken-Gruppen unterscheiden sich auch in hier die Praktiken der Kindergruppen massiv von den Praktiken der Profigruppe hinsichtlich ihrer performativen Ästhetik. Auf räumlicher Ebene dominiert sowohl bei den Kindergruppen als auch bei der Profigruppe die Anordnung der Schüler*innen in der Block-Formation, während der Trainer und ggf. der Schulleiter und die Assistenztrainer*innen abseits davon positioniert sind. In den Kindergruppen wird die überwiegende Anordnung im Block durch die Aufteilung in mehrere Kleingruppen ergänzt, wobei auch in diesen Fällen eine klare und regelmäßige Positionierung der Schüler*innen, je nach Gruppengröße in Reihen oder in kleineren Block-Formationen erfolgt. Auch hier dienen die Aufkleber auf dem Boden als Referenzpunkte.115 In der Profigruppe werden die Block-Formationen ebenfalls durch reihen- oder 113 Vgl. TE vom 02.02.2016 oder 03.02.2016. 114 Vgl. TE vom 03.02.2019. 115 Vgl. TE vom 05.01.2016.
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kleingruppenartige Anordnung sowie durch die dynamische Bewegung in Bahnen, wie es bereits im Rahmen der Fußtechnik-Praktiken beobachtet werden konnte, ergänzt. Besonders in dieser Anordnung wird im Gegensatz zur Anordnung im Block der Fokus auf die individuelle Praxis gelegt. In den Kindergruppen ist die individuelle Praxis marginal in Form von Einzelanordnungen vorhanden, ist jedoch als Randerscheinung einzuordnen, die auftritt, wenn bloß ein/e Schüler*in einer bestimmten Graduierungsstufe anwesend ist. Interessant war darüber hinaus das Phänomen, dass die Schüler*innen der Kindergruppen signifikant wenig Rücksicht auf die Bewegungsräume der anderen Schüler*innen zeigten. Gerade wenn Schüler*innen einzeln trainierten, was insbesondere bei den Poom-Träger*innen vermehrt der Fall war, konnte beobachtet werden, dass keine klare Aufteilung der jeweiligen Bewegungsräume bestand und Schüler*innen sich so wiederholt in den Weg gerieten. 116 Dieses geringe Empfinden für eigene und fremde Bewegungsräume konnte auch außerhalb der Stunden beim freien Spielen bei der überwiegenden Zahl der Schüler*innen beobachtet werden.117 Auf körperlicher Ebene ist in den Kindergruppen wieder das Motiv der Gleichförmigkeit überwiegend. Die kurzen Sequenzen und umfangreicheren Bewegungsformen Poomsae werden stets einheitlich in einem kollektiven Rhythmus gelaufen. In der Praxis konnte beobachtet werden, dass ein kollektives Bewegen nicht nur von den Trainern verbal gefordert, sondern auch von den Schüler*innen körperlich umgesetzt wurde. Besonders im Rahmen von Kibondongjak konnte durchgehend ein hohes Maß an Synchronizität beobachtet werden.118 Sowohl bei den Grundtechniken als auch in der Praxis der Poomsae wurde von Seiten der Trainer wenig Wert auf detailgenaue Korrekturen oder gar Erklärungen zur kämpferischen Anwendung der praktizierten Sequenzen gelegt. Einzig grobe Fehler im Ablauf wurden korrigiert. 119 In Einzelfällen wurde jedoch beobachtet, dass zumindest im Rahmen des Poomsae-Trainings in den Kleingruppen erklärend ins Detail gegangen wurde, sofern der grobe Ablauf der Formen stimmte. 120 In der Profigruppe hingegen spielte die Ausführung der Techniken über den reinen Ablauf hinaus eine wichtigere Rolle. Dies konnte im Rahmen der Praktiken Kibon Makki/Chirŭgi beobachtet werden.121 Das Ideal, an das sich die Schüler*innen annähern sollten, wurde vom Schulleiter in der Trai116 Vgl. TE vom 03.02.2016. 117 Ebd. 118 Vgl. TE vom 18.01.2016. 119 Vgl. TE vom 03.02.2016. 120 Vgl. TE vom 03.02.2016. 121 Vgl. TE vom 08.02.2016.
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nings-Praxis als natürlich, locker, flüssig, und entspannt mit weit ausholenden Bewegungen beschrieben.122 Darüber hinaus konnte bei den erfahreneren Schüler*innen beobachtet werden, dass ein abruptes Stoppen der Techniken in ihrem Endpunkt angestrebt wurde. Techniken sollten demnach mit weit ausholenden, locker fließenden Bewegungen eingeleitet werden, um aus der Entspanntheit heraus zu beschleunigen und im Fokuspunkt der Technik abrupt zu stoppen. Ein weiteres Prinzip ist das der Gegenbewegung in zweierlei Hinsicht. Zunächst beginnt jede Technik stets mit einer weiten Ausholbewegung in die entgegengesetzte Richtung, weiters sind immer beide Seiten, z. B. jeweils die linke und die rechte Hand, aktiv, wobei sich beide Seiten oftmals in entgegengesetzte Richtung bewegen. Ein kurzes Beispiel soll an dieser Stelle anhand des geraden Stoßes auf Körperhöhe Momt'ongjirŭgi mit der linken Faust geboten werden: In der Anfangsposition wird der rechte Arm mit locker geschlossener Faust nach vorne ausgestreckt, während die linke Faust bei angewinkeltem Arm auf Gürtelhöhe an der linken Seite der Hüfte verbleibt. Über Druck des linken Fußes zum Boden wird eine Spannung aufgebaut, die als Bewegungsimpuls über die Hüfte in den Arm weitergeleitet wird. Durch den Impuls der Hüfte wird die linke Faust gerade nach vorne beschleunigt, während gleichzeitig die rechte Faust in einer Gegenbewegung zur Hüfte zurückgezogen wird. Durch die abrupte Kontraktion der Muskulatur, ausgehend vom Unterbauch, wird die Bewegung gestoppt und die Faust gelangt in ihrer Endposition zum Stehen. Unmittelbar nach einem kurzen Moment der Anspannung werden alle an der Bewegung beteiligten Körperpartien wieder entspannt.123 Diese Bewegungsprinzipien können grundsätzlich in den meisten Techniken und damit auch in darauf aufbauenden Sequenzen und schließlich in den Poomsae festgestellt werden. 124 Ähnlich wie bereits im Teilabschnitt zu Palch'agiBahnen beschrieben, sind auch hier die Techniken von exakten Winkeln und Linien geprägt. Dies bezieht sich auf Positionen genau wie auf Angriffs- und Abwehrbewegungen. Es wurde sehr genau darauf geachtet, wie weit die Füße voneinander weg platziert sind, dass Beine gerade gestreckt oder im exakten Winkel stehen, dass die Hände in der Endposition auf der richtigen Höhe sind 122 Vgl. TE vom 08.02.2016. 123 Anm.: Die Beschreibung basiert auf dem eigenen Körperwissen, welches auch im Kontext der Studie angesammelt worden ist. 124 Anm.: Strenggenommen trifft das Prinzip der gleichzeitigen Gegenbewegung nicht auf alle Techniken zu. Anders als bei dem beschriebenen Fauststoß, bei dem der Bewegungsvektor der einen Faust in entgegengesetzte Richtung zu dem der anderen Faust verläuft, gibt es mehrere Techniken, bei denen die Bewegungsvektoren beider oberer Extremitäten in die gleiche Richtung verlaufen.
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und dass die Fäuste, ausgenommen bei Techniken mit der offenen Hand, immer geschlossen sind. Die Poomsae sind Choreografien, in denen Techniken als komplexe Sequenzen in symmetrischer Form miteinander verknüpft sind. Jede Poomsae hat ein bestimmtes Bewegungsdiagramm hinsichtlich der körperlichen Bewegung im Raum, also bestimmte Bewegungsvektoren im Raum, die ein bestimmtes Bild ergeben. Einzelne Sequenzen werden üblicherweise zunächst zur linken Seite gelaufen und anschließend zur rechten Seite. Das Prinzip der Gegenbewegung findet sich demnach nicht nur in den Bewegungen selbst, sondern darüber hinaus auch im Aufbau der Bewegungsformen. Der Schwerpunkt der Poomsae liegt auf der Kombination von Angriffs- und Abwehrbewegungen mit den oberen Extremitäten, während vereinzelt auch Fußtechniken eingebunden sind. Diese beschränken sich jedoch überwiegend auf Apch'agi und Yŏpch'agi und deren Abwandlungen wie Ttwiŏapch'agi oder Kŏdŭp Yŏpch'agi. Grundsätzlich spielen Fußtechniken in den Poomsae eine untergeordnete Rolle, in der beobachteten Trainingspraxis wurden jedoch beim Training einzelner Poomsae-Sequenzen ausschließlich solche trainiert, die besonders schwierige Fußtechniken enthalten.125 Vom Fokus auf technische Exzellenz abgesehen, ist das Motiv der körperlichen Kollektivität auch in der Profigruppe präsent, wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als in den Kindergruppen. In der Profigruppe konnte dieses Motiv im Rahmen der Poomsae-Praxis beobachtet werden. Ähnlich wie in den Kindergruppen wurden die Poomsae auch hier zum Teil mit Kommando gelaufen, sodass sich alle Schüler*innen als Einheit auf die Ansagen des Trainers bewegten. Ob diese Art der synchronen Bewegung auch in der Praxis der Poomsae ohne Kommando erreicht werden konnte, ist aus den Aufzeichnungen nicht zu entnehmen. Die Körperhaltung wie auch die Gestik und Mimik der Trainer wies auch im Rahmen dieser Praktiken die bereits erwähnten Merkmale auf. Dazu gehörten die vor der Brust verschränkten Arme und ein breitbeiniger fester Stand. Die Mimik war minimalistisch. 126 Sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe führten die Trainer tendenziell wenig selbst vor. Die Assistenztrainer*innen konnten in den Kindergruppen hingegen öfter bei Vorführungen von Techniken und kurzen Sequenzen beobachtet werden.127 Konnten oder wollten Einzelne nicht den Sequenzen und Bewegungsformen folgen, so wurde diesen 125 Anm.: In den TE vom 28.12.2015 sowie vom 04.01.2016 wurden Sequenzen aus der fortgeschrittenen Poomsae Koryŏ (ab dem 1. Dan) gelaufen, die einen Kŏdŭp Yŏpch'agi (28.12.2015), zuerst auf Kniehöhe und anschließend über Kopfhöhe, und einen einfachen Yŏpch'agi (04.01.2016) enthalten. 126 Vgl. TE vom 06.01.2016; TE vom 03.02.2016. 127 Vgl. TE vom 03.02.2016.
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Schüler*innen von den Trainern wenig Beachtung geschenkt. Dies kam zwar sehr selten vor, konnte aber wiederholt bei einem sehr jungen Schüler (ca. vier Jahre alt) 128 beobachtet werden. Dieser wurde dann weitestgehend ignoriert, musste sich jedoch wie alle Schüler*innen zu Beginn und Ende der jeweiligen Bewegungsform oder Sequenz auf seiner Position in der Gesamtanordnung, welche durch die Aufkleber am Boden angegeben war, einfinden.129 In Fällen, in denen sich dieser Schüler nicht eingliedern konnte oder wollte, wurde er von einem/einer der Assistenztrainer*innen zu Seite genommen und anderweitig spielerisch beschäftigt. Auch auf lautlicher Ebene konnte im Rahmen der Kindergruppen Kollektivismus als umfassendes Motiv herausgestellt werden. Dies zeigte sich in Kibondongjak, in dem die körperlichen Aktionen stets durch kollektive rhythmische Rezitationen begleitet wurden.130 Kräftige Stimme und hohe Laustärke konnten nicht nur in der Praxis unter den Schüler*innen beobachtet werden, sondern wurden auch explizit von den Trainern eingefordert. 131 Darüber hinaus wurde von den Trainern hervorgehoben, dass beim Rezitieren der Verse die korrekte Betonung wichtig sei, also die Unterscheidung von betonten und unbetonten Silben. Die Rezitationen müssten laut den Trainern mit den Techniken harmonieren und mit einem gewissen Druck in der Stimme aufgesagt werden. 132 Bezüglich ihrer semantischen Ebene sind die rezitierten Verse im Rahmen der Praktik Yŏnsusŏk Chirŭgi interessant. Sie nennen die Einheit von Körper und Geist als erklärtes Ziel des Trainings und verweisen verbal auf die Zugehörigkeit zur Taekwondo-Schule und zum Stil des Kukki-Taekwondo, also dem Taekwondo als nationaler Technik. In den Poomsae konnten derartige verbale Ausdrucksmittel nicht beobachtet werden. Hier beschränkte sich die artikulierte Lautlichkeit auf einen kollektiven Kampfschrei am Ende jeder Poomsae.133 Jenseits von Rezitationen und Kampfschreien konnten vor allem in der Praxis der Profigruppe interessante lautliche Merkmale im Zusammenhang mit körperlichen Aktionen beobachtet werden. So beinhalteten bestimmte Bewegungen 128 Anm.: Auf Nachfrage wurde von einem der Trainer sein Alter mit fünf Jahren in koreanischer Zählweise angegeben, was vier Jahren in westlicher Zählweise entspricht, da in Korea Kinder mit der Geburt bereits ein Jahr alt sind. 129 Vgl. TE vom 05.01.2016; TE vom 01.02.2016. 130 Vgl. TE vom 29.12.2016. 131 Vgl. TE vom 05.01.2016; TE vom 01.02.2016. 132 Vgl. TE vom 05.01.2016. 133 Anm.: Tatsächlich steht nicht am Ende jeder Poomsae ein Kampfschrei, jedoch bei den meisten. In Ausnahmefällen ist ein Kampfschrei in der Mitte der Bewegungsform vorgesehen oder aber es gibt mehrere Kampfschreie.
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einzelner Poomsae spezifische körperlich-lautliche Akzentsetzungen. Eine Sequenz aus der am häufigsten praktizierten Poomsae Koryŏ beinhaltet das Abwehren mit der Handkante, woraufhin diese zu einem Ziel geformt wird, auf welches schließlich ein Fauststoß mit der anderen Hand klatschend auftrifft.134 Die Poomsae Kŭmgang, die weniger oft, aber dennoch praktiziert wurde, enthält zwei Passagen, in denen mit einem Kampfschrei laut aufgestampft wird.135 Unter den T'aegŭk-Poomsae, die ausschließlich in den Kindergruppen praktiziert wurden, gibt es wiederum in T'aegŭk 5-Chang zwei Passagen, in denen zunächst ein Yŏpch'agi simultan mit einem Mejumok Tollyŏch'igi ausgeführt und sich die schlagende Hand darauffolgend zu einem Ziel formt, auf das der Ellenbogen des anderen Arms klatschend auftrifft. Neben diesen klatschenden Akzenten spielt darüber hinaus auch der Taekwondo-Anzug eine wichtige Rolle für den lautlichen Ausdruck im Kontext der Grundtechniken und Poomsae. Schnitt und Material sorgen dafür, dass die Ärmel des Anzugs bei korrekter Ausführung der jeweiligen Bewegung ein kräftig schnappendes Geräusch hervorbringen. Sowohl die klatschenden Akzente als auch das schnappende Geräusch der Anzugärmel unterstreichen also die körperliche Ausführung der Techniken und vermitteln den Eindruck schneller, kraftvoller und vermeintlich zerstörerischer Techniken. Im Rahmen der Kindergruppen und in geringerem Maße auch in der Profigruppe spielten Kommandos eine entscheidende Rolle. Sowohl bei den Kibondongjak-Praktiken, bei Kibon Makki/Chirŭgi als auch bei den Poomsae sind die Kommandos des Trainers wieder ordnende Impulse, welche die Übungen vorgeben, beginnen und enden lassen. Auch hier sind die Kommandos kraftvoll und akzentuiert. In der Profigruppe konnte bei Kibon Makki/Chirŭgi auch beobachtet werden, wie der Schulleiter seine Kommandos weniger kraftvoll und akzentuiert, sondern vielmehr rhythmisch, Mantra-artig und melodisch phrasierte. 136 Dies unterstrich wiederum, so könnte man sagen, die Art und Weise wie die einzelnen Techniken ausgeführt werden sollten: locker, in flüssigen Bewegungen. Zurufe waren hier, wie auch in anderen Trainingssituationen unter Leitung der Trainer, die häufigste Korrekturweise.137 Auf zeitlicher Ebene ist zunächst wieder der zeitliche Umfang der beschriebenen Praktiken zu nennen. Hier wird deutlich, dass das Praktiken-Ensemble Kibondongjak in den Kindergruppen mit 9x4 Praxen einen verhältnismäßig hohen Anteil am Gesamttraining ausmacht. Gemessen an der Tatsache, dass dieses Praktiken-Ensemble fünf einzelne Praktiken umfasst, muss ihr zeitlicher 134 Vgl. TE vom 04.01.2016. 135 Vgl. TE vom 16.01.2016. 136 Vgl. TE vom 08.01.2016. 137 Vgl. TE vom 06.01.2016; TE vom 08.01.2016.
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Umfang entsprechend hoch gewertet werden. In den konkreten Trainingspraxen wurden mindestens die ersten drei der einzelnen Praktiken, also Yŏnsusŏk Chirŭgi, Kibon Makki und Sabang Chirŭgi trainiert138 oder sogar die ersten vier, also zusätzlich auch Sŭt'ep Palch'agi139, was mehrfach dazu führte, dass Kibondongjak nahezu die gesamten Trainingseinheiten umfasste.140 Am bloßen Umfang von Kibondongjak und den Poomsae fällt auf, dass die Schüler*innen eine sehr große Zahl an Techniken, Kombinationen und Sequenzen auswendig lernen mussten. Bis zum 1. Poom, was bei einer Prüfung jeden Monat ca. ein Jahr dauert, müssen die Schüler*innen insgesamt 23 Kombinationen aus mehreren Techniken im Bereich Kibondongjak lernen sowie acht Poomsae mit jeweils 20-30 Bewegungen. Hier zeigt sich sehr gut, welchen Stellenwert das Lernen einer hohen Anzahl von Kombinationen hat und wie wenig Zeit tatsächlich darauf angewendet werden kann, Techniken und Sequenzen im Detail zu studieren und zu trainieren. In der Profigruppe nehmen die Grundtechniken nur einen sehr geringen Anteil der gesamten Trainingspraxis ein. In den wenigen Fällen, in denen diese Praktiken beobachtet werden konnten, konzentrierte sich das Training nicht wie in den Kindergruppen auf die Wiederholung teilweise umfangreicher Sequenzen, sondern auf die detailgenaue Ausübung von Einzeltechniken. Die Poomsae hingegen wurden mit fünfmal deutlich öfter praktiziert, jedoch trotzdem seltener als in den Kindergruppen. Hier muss allerdings bedacht werden, dass die Poomsae und daraus abgeleitete Kombinationen wichtiger Teil der Demo-Rehearsals waren und somit dennoch als zentrale Aspekte des Trainings zu erachten sind. Der Rhythmus der Poomsae und der etwas kürzeren Sequenzen war im Allgemeinen sehr gleichförmig und ohne wesentliche Tempowechsel. Dies gilt besonders für die Taegeuk-Poomsae, die hauptsächlich in den Kindergruppen gelaufen wurden. In den höheren Poomsae der Profigruppe, wie die Poomsae Koryŏ und Kŭmgang konnten neben schnellen Passagen immer wieder auch langsamere Passagen beobachtet werden, jedoch waren auch die Poomsae der Profigruppe im Allgemeinen von einem gleichförmigen Rhythmus geprägt. Gleichförmig bezeichnet in diesem Zusammenhang die Bewegungsdynamik der Techniken, die einem immer gleichen Rhythmus folgte. Techniken begannen in der Regel langsam und beschleunigten zum Ende hin, um dann abrupt zu stoppen. Der Rhythmus, in dem die einzelnen Techniken aufeinanderfolgten, war ebenfalls überwiegend gleichförmig. 138 Vgl. TE vom 18.01.2016; TE vom 25.01.2016. 139 Vgl. TE vom 29.12.2015; TE vom 05.01.2016; TE vom 18.01.2016; TE vom 01.02.2016. 140 Vgl. TE vom 29.12.2015; TE vom 29.01.2016; TE vom 01.02.2016.
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Auf der Ebene der Bedeutung muss auch hier erneut zwischen der selbstreferentiellen Ebene und jener der Emergenz von Bedeutung unterschieden werden. Auf selbstreferentieller Ebene können folgende Aspekte zusammengefasst werden, wobei sich auch im Rahmen der übergeordneten Praktiken-Gruppe Kibondongjak/Poomsae die Praxis der Kindergruppen und die der Profigruppe signifikant unterscheidet. Tabelle 4: Kibondongjak/Poomsae. Selbstreferentielle Bedeutungsebene Kibondongjak/Poomsae: Selbstreferentielle Bedeutungsebene Kindergruppen Profigruppe Die Schüler*innen müssen eine große Bei der Ausführung von EinzelAnzahl an Techniken, Kombination techniken, Sequenzen und Beweund Sequenzen auswendig lernen. gungsformen sind Entspannung und Lockerheit wichtig, um eine hohe Beschleunigung der Techniken zu ermöglichen. Die Block-Formation ist auch hier die Im Endpunkt der Techniken stoppt dominierende Anordnung. diese durch eine punktuelle Kontraktion der Muskeln abrupt, um eine körperlich sichtbare Kraftentladung hervorzubringen. Dieses Phänomen kann anhand lautlicher Merkmale wie dem Schnalzen der Ärmel oder visueller Merkmale wie in einem kleinen Vibrieren oder Schütteln des Körpers festgemacht werden. Die exakte Ausführung der Techniken Exakte Linien, Winkel und Positioist zweitrangig. nen sind bei den Techniken sehr wichtig. Jede Bewegung geht mit einer Gegen- Jede Bewegung geht mit einer bewegung der anderen Körperhälfte Gegenbewegung der anderen Köroder einer ausgedehnten Ausholbewe- per-hälfte oder einer ausgedehnten gung einher. Ausholbewegung einher. Die synchrone Ausführung der Die Fäuste sind, außer bei TechniTechniken in der Gruppe und damit ken mit der offenen Hand, immer die performative Hervorbringung von geschlossen.
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Kollektivität ist von höchster Bedeutung. Der Kampfschrei ist sehr wichtig und sollte besonders laut sein.
„Taekwondo“ nimmt in den kollektiven Rezitationen als Begriff eine wichtige Rolle ein.
Die Kommandos sind kräftig und akzentuiert. Die Einheit von Körper und Geist sowie die Zugehörigkeit zur dieser speziellen Taekwondo-Schule und zum Taekwondo werden verbal bekräftigt. Taekwondo wird als „Kukki“, also als nationale Technik, nationale Kunst oder nationale Praktik benannt.
Der Trainer und seine Kommandos ordnen den Beginn und das Ende fast jeder Übung wie auch die Abfolge ihrer Teile, also der jeweiligen Einzeltechniken, Sequenzen und Bewegungsformen. Mimik und Gestik des Trainers sind minimalistisch und distanziert.
Übungen werden sowohl kollektiv (Poomsae) als auch in Einzelarbeit (Poomsae-Sequenzen) ausgeführt. Entsprechend der Sozialformen ist die Exzellenz des/der Einzelnen, aber auch die harmonische Synchronisierung in der Gruppe wichtig. Der Trainer und seine Kommandos ordnen den Beginn und das Ende fast jeder Übung wie auch die Abfolge ihrer Teile, also der jeweiligen Einzeltechniken, Sequenzen und Bewegungsformen. Die Kommandos sind kräftig und akzentuiert. Mimik und Gestik des Trainers sind minimalistisch und distanziert.
Der Trainer korrigiert fast ausschließlich durch Zurufe, wenig aus unmittelbarer Nähe, und zeigt selten Techniken und Sequenzen selbst vor. Wenn Techniken vorgezeigt werden, dann ohne besondere Anstrengung. Oft werden sie nur angedeutet.
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Beim Üben der Poomsae wird kein besonderer Wert auf die Integrität persönlicher Freiräume gelegt. Es wird nicht darauf geachtet, die Grenzen der Aktionsräume anderer Schüler*innen zu respektieren. Mit einem Fokus auf die Ebene der Praktiken kann Gleichförmigkeit als umspannendes Merkmal der beobachteten Praxis der Kindergruppen bezeichnet werden. Hervorzuheben ist zudem die große Anzahl an unterschiedlichen Sequenzen, welche die Schüler*innen auswendig lernen müssen. Block-Formation ist das dominierende räumliche Ordnungsschema. Darüber hinaus wird auch hier Synchronizität auf körperlicher und akustischer Ebene, Kollektivität und der verbale Bezug zur Schule, zum Taekwondo und dem Kukkiwon bzw. Taekwondo als nationaler Technik praktiziert. Respekt für die persönlichen Aktionsräume der Schüler*innen spielt keine wesentliche Rolle. In der Profigruppe ist Kollektivität als zentrales Motiv der Praxis ebenfalls vorhanden. Synchronizität spielt jedoch eine geringere Rolle. Das Arbeiten an sich selbst und an den eigenen Fähigkeiten ist deutlich stärker ausgeprägt als in den Kindergruppen wie die stärkere Detailarbeit an Einzeltechniken und das wiederholte Laufen von Sequenzen in Bahnen zeigen. Elemente der Gleichförmigkeit zeigen sich auch hier in den räumlichen Anordnungen im Block und in gleichmäßigen Bahnen. Stärke ist auch in der Praxis der Profigruppe ein signifikantes Merkmal. Alle Techniken gilt es mit einer wahrnehmbaren Energieentladung auszuführen, die sichtbar und hörbar ist. Diese ist jedoch nur in Verbindung mit körperlicher Lockerheit und einem gewissen Fluss der Bewegungen zu erreichen. Mit dem Motiv der Stärke ist eine Form der Maskulinität verbunden, die vom Schulleiter und den Trainern verkörpert wird, die sich neben der Forderung nach Härte und Stärke in einer räumlichen und körperlichen Distanziertheit zeigt. Der Schulleiter und der jeweilige Trainer sind Autoritäten, die nicht herausgefordert werden und die ihre Stellung nicht durch die Demonstration ihrer Fähigkeiten performativ beglaubigen müssen. Auf Ebene der Emergenz von Bedeutung sind individuell unterschiedliche Assoziationen denkbar, die selbst wiederum weitere Assoziationen beinhalten. Auch hier ist ein Bezug zu militärischen Praktiken naheliegend. In den Praktiken-Ensembles spielen das Starke, das Kraftvolle, das Geordnete und das Autoritäre als Körperideale eine wichtige Rolle. Als besonders „traditionelle“ Praktiken des Taekwondo können Kibondongjak und Poomsae darüber hinaus als körperliche Repräsentationen einer imaginativen „traditionellen“ koreanischen
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Kultur gelesen werden. Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, beruht die Bezeichnung der einzelnen Poomsae auf Konzepten „traditioneller“ koreanischer Denkschulen. Die Konzepte, denen die Benennung der T'aegŭk-Poomsae zugrunde liegt, können dem daoistischen Klassiker Buch der Wandlungen zugeordnet werden.141 Hier entsprechen die Bezeichnungen der acht verschiedenen Poomsae jeweils einem der sogenannten Kwae (괘), Piktogrammen, die jeweils ein natürliches Element wie Donner, Feuer, Wind oder Wasser repräsentieren. Die Bezeichnungen der Yudanja-Poomsae (유단자 품새, Poomsae für Schwarzgürtel-Träger*innen) hingegen verweisen auf unterschiedliche Konzepte der „traditionellen“ koreanischen Kultur. Die meistpraktizierte Bewegungsform Koryŏ bezieht sich in der Bezeichnung auf das historische Königreich Koryŏ (918-1392). Gleichsam verweist das Bewegungsdiagramm in Form des Hanja 士 seiner Bedeutung nach auf die historische soziale Klasse der Sŏnbae oder Sŏnbi (선배/선비). Ein solcher sei laut Kukkiwon ein „learned man, who is characterized by a strong martial spirit as well as a rightous learned man’s spirit“142. Auf repräsentativer Ebene ist nicht zuletzt die Frage nach der unmittelbar körperlichen Bedeutung der Poomsae interessant, also der Bedeutung der Bewegungen innerhalb eines kämpferischen Kontexts. In der Praxis wurde dies nicht explizit thematisiert. Auf die gestellte Frage nach der Begründung für die Ausführung von Einzeltechniken entgegnete der Schulleiter, dass es für eine abweichende Antwort Punktabzug gäbe. 143 Kämpferische Anwendungsmöglichkeiten der Bewegungen wurden nicht thematisiert. Anwendungen der Einzeltechniken oder Teilsequenzen aus Bewegungsformen anhand konkreter kämpferischer Situationen konnten in der Praxis ebenfalls nicht beobachtet werden. Einzig innerhalb der stark formalisierten Übungsform Hanbŏn Kyŏrugi (한번 겨루기, dt. Einmal/Schritt-Kampf) 144 konnten Poomsae-Techniken in Anwendung mit einem Partner beobachtet werden. Diese ist jedoch in einem solch hohen Maße formalisiert und stilisiert, dass kaum von realitätsnahen Anwendungen gesprochen werden kann. Während die Praktik des Hanbŏn Kyŏrugi im folgenden Kapitel zu Kyŏrugi genauer thematisiert wird, führt die formalisierte und stilisierte Ausführung kämpferischer Bewegungen zu der Frage nach der Ebene der Theatralität und Ritualität im Kontext von Kibondongjak/Poomsae.
141 Anm.: Das Buch der Wandlungen (易經, 역경, chin. I-Ching, kor. yŏkkyŏng) (vgl. Riegel 2013, S. 91f.). 142 Kukkiwon 2011, S. 437. 143 Vgl. TE vom 09.01.2016. 144 Vgl. Abschn. 5.3.4.
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Kibondongjak/Poomsae: Theatralität und Ritualität Ähnlich den Fußtechnik-Praktiken können auch die konstituierenden Einzeltechniken der Praktiken-Gruppe Kibondongjak/Poomsae als Ausnahmetechniken bezeichnet werden. Die Einzeltechniken, Sequenzen und Bewegungsformen beziehen sich auf „alltägliche“ Praktiken des Kämpfens, sind von diesen jedoch durch Formalisierung und Stilisierung ästhetisch abgehoben. Eine solche Konzeption wurde bereits in mehreren Veröffentlichungen vorgestellt. 145 Die Einzeltechniken selbst sind anhand bestimmter körperlich-ästhetischer Merkmale stilisiert. Dazu gehört eine ausladende Ausholbewegung, das Zurückziehen der gegenüberliegenden Faust, die formalisierten Stellungen mit geraden Linien und exakten Winkeln sowie die punktuelle Energieentladung am Endpunkt jeder Technik. Auf lautlicher Ebene findet Hervorhebung in den Kindergruppen durch die kollektive rhythmische Rezitation von Versen und einem möglichst lauten Kampfschrei, der sich vollständig von der Funktion, die Atmung zu unterstützen, gelöst hat, statt. Es verbleibt die psychologische Funktion des Kampfschreis als Mittel der Fokussierung, Eigenmotivation und Einschüchterung eines möglichen Gegners, dessen Wirkung wiederum auf Wirkungsweisen von Theatralität zurückzuführen ist. Formalisierung und Stilisierung sind auch in den Bewegungsformen feststellbar. Bei ihnen handelt es sich um rhythmische Anordnungen von Ausnahmetechniken, die symmetrisch im geometrischen Raum verlaufen. Hierbei ist der Rhythmus interessant, der mit seiner Gleichförmigkeit eine einfachere Synchronisierung von mehreren Menschen ermöglicht. Die Bedeutung der Poomsae, also einzelner Sequenzen, als Strategien und Verhaltensweisen und somit als Praktiken, im Kontext konkreter Selbstschutzpraxen ist fast vollständig in den Hintergrund getreten. Alle Aspekte der Ausführung von Bewegungsformen unterliegen stattdessen dem Paradigma des ästhetisch Schönen, also der optimalen Ausführung nach ästhetischer Maßgabe, welche wiederum spezifischen ästhetischen Merkmalen folgt. Diese wurden bereits in der performativitäts-ästhetischen Analyse thematisiert. Der „teleologsiche Sinn“ der idealen Ausführung liegt demnach nicht in der effektiven und vor allem effizienten Anwendung für den physischen Konflikt, sondern bestenfalls im Erreichen einer möglichst hohen Punktzahl auf Poomsae-Wettkämpfen bzw. im Begeistern einer Zuschauer*innenschaft. Beides bezieht sich auf Bewegungen, die von ihrem kämpferisch-funktionellen Inhalt befreit sind. Das Fehlen eines kämpferischen Bezugs ermöglicht das Stilisieren anhand spezifischer ästhetischer Ideale, die wiederum mit Wissens- und Machtstrukturen zusammenhängen. Der Prozess der Verkörperung dieser Ideale geschieht mimetisch auf Basis eines Perfor145 Vgl. Minarik 2014; Minarik 2017a; b.
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mer*innen-Zuschauer*innen-Verhältnisses. Ein solches kann in der Trainingspraxis situativ im Rahmen der theatralen Praktiken der Gruppe Kibondongjak/Poomsae durch die Fokussierung von Aufmerksamkeit hervorgebracht werden. Aufmerksamkeit auf den Trainer als ordnungsgebende Instanz, aber auch Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf andere Schüler*innen und auf die Gruppe als Ganzes. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Körper der Akteur*innen und ihre Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten nach Maßgabe des ästhetisch Schönen. So besteht eine Möglichkeit für die fokussierte Aufmerksamkeit auf sich selbst in besonderem Maße in den Poomsae-Sequenzen-Praktiken oder in Kibon Makki/Chirŭgi. Der/Die Schüler*in ist Performer*in, indem er/sie die Bewegungen verkörpert und gleichzeitig Zuschauer*in, welche/r die eigene Performance gemäß bestimmter Körperideale begutachtet. Diese Körperideale werden wiederum als erstes vom Schulleiter, den Trainern und Assistenztrainer*innen sowie den besseren Schüler*innen verkörpert. Dies führt wiederum zu einer zweiten möglichen Performer*in-Zuschauer*in-Konstellation: zwischen neuen oder jüngeren oder zwischen Schüler*innen unterschiedlicher Niveaus. Die ästhetisch wirkungsvolle Aufführung der fortgeschritteneren Schüler*innen führt demnach zur Lenkung von Aufmerksamkeit und der Hervorbringung eines Perfomer*innen-Zuschauer*innen-Komplexes zwischen ihnen und weniger erfahrenen Schüler*innen. Praktiken wie Kibondongjak in der Kindergruppen oder Poomsae-Laufen als Gruppe in der Profigruppe eignen sich darüber hinaus besonders, um eine fokussierte Aufmerksamkeit gegenüber der Gruppe hervorzubringen. In beiden Fällen geht es um die synchrone Ausführung der Sequenzen und Bewegungsformen als harmonisches Kollektiv. Für eine skillful performance ist daher zunächst die Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Gruppe essentiell. In einem möglichen zweiten Schritt kann dieses Performer*inZuschauer*in-Verhältnis dialektisch aufgehoben werden, wenn die Bewegungen und Choreografien einzeln oder in der Gruppe soweit automatisiert worden sind, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr punktuell konzentriert ist, sondern in eine umfassende Wahrnehmung als individuelles Flow-Erlebnis oder kollektives Erleben spontaner Communitas übergegangen ist. Auf diese Weise könnte die Konzeption einer rituellen Wirkung auf Basis dieser Praktiken-Gruppe argumentiert werden. In den Kindergruppen wird auf körperlich-rhythmischer, akustischer, und räumlicher Ebene eine unmittelbar körperlich erfahrbare Kollektivität hergestellt, mithilfe derer in der Praxis spontane Communitas performativ hervorgebracht werden kann. Diese ist sowohl individuell als auch kollektiv erfahrbar. Während dies auch auf die Profigruppe übertragbar ist, kann darüber hinaus ein Zusammenhang beschrieben werden, der etwa als auto-rituelle Praxis bezeichnet
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werden kann. Wenn im Kontext von Praktiken wie Poomsae-Sequenzen von situativ-individuellen Flow-Erlebnissen gesprochen wird, so können diese auch als Selbst-Communitas, also als körperlich erfahrbare Einheit mit sich selbst, gedacht werden. Dies kann als psychologischen Effekt eine Steigerung des Selbstbewusstseins bezüglich der eigenen Kampfkraft und über dieses Medium positiver Assoziationen gleichsam eine positive Assoziation mit den verkörperten ästhetischen Idealen bewirken. Sowohl das Erleben kollektiver spontaner Communitas als auch das Erleben von Selbst-Communitas kann so eine beglaubigende Wirkung hinsichtlich der Verkörperung konstitutiver ästhetischer Ideale entfalten, welche sich wiederum auf individuelle und kollektive Normen und Werte auswirkt. 5.3.4 Kyŏrugi Kyŏrugi (겨루기) umfasst alle Praktiken, welche auf choreografierten und freien kämpferischen Anordnungen (Match'uŏgyŏrugi, 맞추어겨루기, und Chayugyŏrugi, 자유겨루기) 146 mit Partner*in basieren. Anhand der beobachteten Trainingspraxis und den dort verwendeten Benennungen wurden die beobachteten Praktiken induktiv als Hanbŏn Kyŏrugi (한번 겨루기, dt. Einmal-/SchrittKampf) und schlicht Sparring klassifiziert. Während Hanbŏn Kyŏrugi in den Kindergruppen die Häufigkeit betreffend im mittleren Bereich liegt, wurde diese Übungsform in der Profigruppe nicht praktiziert. 147 Sparring wurde in der Trainings-Praxis beider Gruppen jeweils einmal beobachtet.148 Obwohl beide Praktiken-Ensembles die kämpferische Anwendung mit einem Partner/einer Partnerin zum Gegenstand haben, bedienen sie sich Einzeltechniken unterschiedlicher Praktiken-Komplexe. Während Hanbŏn Kyŏrugi aus dem Technikpool der Grundtechniken schöpft, umfasst das Bewegungsrepertoire in Sparring in erster Linie Techniken aus dem Bereich Fußtechnik. Trotz der quantitativ geringen Bedeutung in der beobachteten Trainingspraxis muss die Praktiken-Gruppe Kyŏrugi als fundamentale Säule des formalisierten Taekwondo dennoch thematisiert werden.149
146 Vgl. http://www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/information/taek wondoSkill4, abgerufen 08.06.2020. 147 Anm.: In den Kindergruppen konnte Hanbŏn Kyŏrugi 6x4 Mal beobachtet werden. 148 Anm.: In den Kindergruppen entsprechend 1x4 Mal. 149 Vgl. http://www.kukkiwon.or.kr/front/pageView.action?cmd=/eng/information/taek wondoSkill, abgerufen 08.06.2020.
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Hanbŏn Kyŏrugi Hanbŏn Kyŏrugi ist ein Praktiken-Ensemble, das auf der paarweise-kooperativen Anwendung von Grundtechniken innerhalb einer choreografischen Rahmung basiert. Dabei ist jeweils ein/e Partner*in in der angreifenden Rolle und ein/e Partner*in in der verteidigenden Rolle. Diese Rollen können wechseln, jedoch ist immer klar wer sich in welcher Rolle befindet. Die praktizierten kämpferischen Sequenzen können variieren, der formelle Rahmen ist jedoch immer derselbe. Zum Curriculum der Taekwondo-Schule gehörten jeweils fünf Sequenzen für den 1. bis 3. Poom, was insgesamt 15 Sequenzen bis zum 4. Poom ergibt. Für die Ausführung stehen sich beide Partner*innen im Abstand von einer Armlänge gegenüber. Auf die Kommandos des Trainers „Ch'aryŏt!“ und „Kyŏngnye!“ nehmen beide Partner*innen formelle Haltung150 an und verbeugen sich voreinander. Es folgt das Kommando „Chunbi!“, woraufhin beide die Vorbereitungsstellung einnehmen. Nachdem die entsprechende Kombination vom Trainer angesagt wurde, erfolgt das Kommando „Shijak!“, auf das jeweils ein/e der Partner*innen eine Position einnimmt, welche die Absicht zum Angreifen signalisiert. Dazu setzt die jeweilige Person in der Rolle des/der Angreifenden den rechten Fuß nach hinten in die Stellung Apkubi sŏgi (앞굽이 서기, dt. vorgebeugte Stellung)151, während sie gleichzeitig mit dem linken Arm einen Araemakki ausführt. Die Bewegungssequenz wird mit einem Kampfschrei abgeschlossen. Die Gegenseite erwidert, sofern sie für den Angriff bereit ist, einen Kampfschrei, was für die angreifende Seite wiederum das Signal zum Starten des Angriffs bedeutet. Dieser erfolgt mit einem Schritt des rechten Fußes nach vorne in die Abgubi-Stellung gemeinsam mit einem geraden Fauststoß auf Höhe des Solarplexus. Die Abwehr erfolgt mit einer Blockbewegung, die schließlich in einen Gegenangriff übergeht, der ebenfalls mit einem zeitgleichen Kampfschrei abgeschlossen wird. Beide Partner*innen verbleiben in der Endposition bis das Kommando „Paro!“ erfolgt, auf das beide in die Vorbereitungsstellung zurückkehren. Nun werden die Rollen getauscht und der Ablauf wird mit der neuen Rollenaufteilung wiederholt. Nachdem die jeweilige Kombination von beiden Partner*innen aus beiden Perspektiven ausgeführt wurde, wird entweder die Kombination gewechselt oder die Übung mit dem Kommando „Shwiŏ!“ beendet. Daraufhin verbeugen sich beide Partner*innen erneut voreinander und nehmen eine nicht-formelle Haltung ein.
150 Vgl. Abschn. 5.3.3 und 5.3.3. 151 Anm.: Die Stellung entspricht grob einem langen Ausfallschritt. Dazu ist das Knie des vorderen Beins gebeugt, während das hintere Bein gerade gestreckt ist.
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Hanbŏn Kyŏrugi wurde in der beobachteten Trainingspraxis in unterschiedlichen Anordnungen und mit unterschiedlichen formalen Vorgaben praktiziert. In einer der Einheiten erfolgte dies in Kleingruppen aus drei Schüler*innen, wobei immer zwei Schüler*innen die Sequenzen ausführten und ein/e Schüler*in zuschaute.152 Die Abläufe erfolgten ohne Kommando, d. h. dass lediglich Beginn und Ende der Übung durch die Kommandos des Trainers angeleitet wurden, während die Rollen- und Partnerwechsel innerhalb der Gruppe geregelt wurden. Der Trainer und die Assistenztrainer*innen kontrollierten die Gruppen und achteten auf den Ablauf und die korrekte Ausführung der Abwehr- und Angriffssequenzen. War der Ablauf internalisiert, so wurde auf die passende Distanz zwischen den Partner*innen geachtet.153 Während in dieser Anordnung das Augenmerk noch stärker auf der korrekten Ausführung der Sequenzen lag, ging es in anderen Anordnungen lediglich um das kurze Wiederholen der Sequenzen ohne im Detail auf die Abfolgen oder gar Details der Ausführung einzugehen. In diesen konkreten Praxen waren die Schüler*innen paarweise in Reihen angeordnet.154 Im Rahmen der konkreten Prüfungsvorbereitung konnten auch Anordnungen beobachtet werden, in denen jeweils ein Paar ihre Ausführung der Sequenzen präsentierten, während die anderen Schüler*innen sitzend zuschauten. 155 Auf diese wird unter dem entsprechenden Teilkapitel zur Prüfungsvorbereitung genauer eingegangen. Sparring Die Bezeichnung „Sparring“ bezieht sich auf alle Anordnungen, die, der institutionellen Nomenklatur nach, als Chayugyŏrugi, als Freikampf bezeichnet werden können. Das Attribut „frei“ bezieht sich hier auf den Verzicht, Angreifende und Verteidigende als Rollen festzulegen. Ebenso sind keine konkreten Sequenzen des Angriffs und der Abwehr vorgegeben. Stattdessen wird beides situativ in der konkreten Praxis ausgehandelt, sodass sich ein freies Spiel entfalten, in dem die Beteiligten gemäß den vorgegebenen Regeln frei improvisieren können. Die Regeln für den freien Kampf/Sparring können variieren und auch Beschränkungen von Trefferflächen oder von Angriffs- und Abwehrtechniken beinhalten. In der beobachteten Trainingspraxis konnte ausschließlich der freie Kampf nach den Wettkampfregeln der WT beobachtet werden. Die Eckpunkte dieses Regle152 Vgl. TE vom 29.12.2015; TE vom 12.02.2016. Entsprechend der Einteilung in den Kindergruppen in 1x4 TE. 153 Ebd. 154 Vgl. TE vom 29.01.2016. 155 Vgl. TE vom 03.02.2016.
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ments umfassen u. a. das Verbot, mit der Faust den Kopf des/der Gegner*in anzugreifen, das Verbot den/die Gegner*in zu greifen und das Verbot unterhalb der Gürtellinie anzugreifen. In Kombination mit der Aufteilung in der Punktevergabe, die hohe, gesprungene und gedrehte Fußtechniken bevorzugt, bewirkt dies eine Kampfweise in deren Zentrum Ausnahme-Fußtechniken stehen. In allen Fällen umfasste die Praxis vorrangig das Kämpfen mit den Beinen, während die Hände und Arme lediglich zum Abwehren oder für gelegentliche gerade Fauststöße zum Torso genutzt wurden. In der Profigruppe konnte Sparring einmal beobachtet werden und fand im Nachgang zu vorherigen Partnerübungen der Praktiken-Gruppe Palch'agi-Partner statt.156 Gekämpft wurde in drei Runden von ca. zwei Minuten. Nach jeder Runde wurden die Partner*innen gewechselt. Nach Geschlecht wurde dabei nicht getrennt, jedoch wurde nach dem Alter getrennt. So gab es insgesamt zwei dieser Durchgänge von drei Runden à zwei Minuten, einen für die älteren Schüler*innen und einen für die jüngeren. Die nicht-kämpfende Gruppe schaute von außen zu. In dieser besagten Trainingseinheit musste die Hälfte der Schüler*innen bereits im Vorfeld zum Sparring Kampfweste und Kopfschutz anlegen, was basierend auf dem Ergebnis in einem vorherigen Spiel zugewiesen wurde. Alle, die sich in der unterlegenen Gruppe befanden, mussten demnach die Schutzausrüstung anlegen und diese Schüler*innen konnten während des Kämpfens auch härter getroffen werden. Bei Schüler*innen ohne Schutzausrüstung galt es nur leichten Kontakt anzuwenden. In der Kindergruppe war das Sparring ebenfalls dem Training von Palch'agiPartner nachgereiht.157 Während die Kämpfe den gleichen Regeln folgten wie in der Profigruppe, waren es in den Kindergruppen jedoch nur die PoomTräger*innen, die am Sparring teilnehmen durften. Die anderen Schüler*innen mussten in dieser Zeit von den Seiten zuschauen. Das Sparring fand hier ohne Schutzausrüstung statt, es wurde daher nur minimaler Körperkontakt vom Trainer zugelassen. Auch der zeitliche Umfang war hier mit jeweils einer Runde deutlich kürzer. Sowohl in der Profigruppe als auch in den Kindergruppen war das Sparring trotz des freien Charakters formell gerahmt. Nachdem alle Paare ihre Positionen eingenommen haben, erfolgen auch hier zu Beginn die Kommandos „Ch'aryŏt!“ und „Kyŏngnye!“. Nachdem sich beide Partner*innen voreinander verbeugt haben, folgt das Kommando „Kyŏrugi Chunbi!“, auf das beide Partner*innen die Kampfposition mit einem lauten Kampfschrei einnehmen. Auf das Kommando „Shijak!“ beginnt schließlich der Kampf. Das Ende wird durch das Kommando „Kŭman!“ angezeigt. Auf dieses stellen sich beide Part-
156 Vgl. TE vom 06.01.2016. 157 Ebd.
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ner*innen wieder gegenüber und verbeugen sich auf das Kommando „Kyŏngnye!“ erneut voreinander, womit die Übung beendet ist. Kyŏrugi: Performativitäts-ästhetische Spezifizierung Auf räumlicher Ebene ist beiden Praktiken-Ensembles gemeinsam, dass es sich bei ihnen um paarweise Konstellationen im Raum handelt, die frei im Raum oder in festen Reihen angeordnet sind. Dadurch wird ein performativer Raum geschaffen, der eine körperlich unmittelbarere Interaktionsform zwischen den Schüler*innen ermöglicht. Diese unterscheidet sich von den bisher behandelten Praktiken, bei denen es sich entweder um Anordnungen in der Gruppe oder um Einzelanordnungen handelte. Zusätzlich kann in der räumlichen Anordnung der Schüler*innen in Kyŏrugi ein Zusammenhang zwischen räumlicher Anordnung und der Formalisierung der Interaktionsform festgestellt werden. Im körperästhetisch stärker formalisierten Ausführungsmodus des Hanbŏn Kyŏrugi sind die Paare vermehrt in Reihen angeordnet und auch der Bewegungsradius ist durch die Determinierung der kämpferischen Sequenzen stark begrenzt. Im freien Interaktionsmodus des Sparrings hingegen ist die anfängliche Aufteilung der Paare als weniger strikt beobachtet worden. Auch der Bewegungsradius der Paare im Raum war entsprechend der freien Interaktionsform unvorhersehbarer und ausladender. Bei der Analyse der körperlichen Ebene wird, wie auch bei der räumlichen Ebene, zwischen Hanbŏn Kyŏrugi und Sparring sowie Kindergruppen und Profigruppe unterschieden. Auf körperlicher Ebene sind dort jeweils zwei Aspekte relevant: der jeweilige Technikpool, aus denen die Praktiken schöpfen, und die performative Entfaltung von Interkorporalität, welche durch die jeweilige Interaktionsform mitbestimmt ist. Die im Hanbŏn Kyŏrugi praktizierten Sequenzen speisen sich aus dem stark formalisierten Technikpool der Grundtechniken, der auch in Kibondongjak/Poomsae verkörpert wird. So erfolgte der initiative Angriff immer auf die gleiche Weise mit einem Ausfallschritt nach vorne und einem formalisierten Fauststoß zum Solarplexus. Die Antwort erfolgte wiederum stets in mehreren klar gegliederten Schritten, die zunächst eine formalisierte Abwehr und darauffolgend einen formalisierten Gegenangriff umfassten. Der stilisierte Angriff ermöglichte dabei eine ebenso stilisierte Reaktion. Die Bewegungssequenzen engten die Interaktionsform stark ein, wodurch gleichzeitig wenig Freiraum für eine improvisierte Interaktion blieb. Während eine kreative Arbeit mit den Sequenzen möglich gewesen wäre, etwa durch Improvisieren mit dem Rhythmus der Sequenzen, konnte dies in der Praxis jedoch nicht beobachtet werden. Auch war der Körperkontakt in der beobachteten Praxis entweder nicht
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besonders intensiv oder gar nicht vorhanden. Weder die Abwehrtechniken noch die darauffolgenden Gegenangriffe waren besonders kraftvoll. Direkter Körperkontakt konnte zwar im Moment des Blockens, seltener jedoch im Moment des Gegenangriffs beobachtet werden. Im Allgemeinen wurde von den Trainern in der Praxis weniger ins Detail gegangen, sondern in erster Linie auf einen korrekten Ablauf der Sequenzen geachtet. In Sparring handelte es sich sowohl um einen anderen Technikpool als auch um eine gänzlich andere Interaktionsform. Prinzipiell besteht im Sparring als solchem, auch hinsichtlich des zu verwendenden Technikpools, eine gewisse Freiheit, welche nur durch die gebotenen Regeln begrenzt wird. Die Regeln, nach denen im Beobachtungskontext Sparring betrieben wurde, entsprachen grob den Wettkampfregeln der WT, wenn diese auch nicht explizit deklariert wurden. Sparring bedeutete automatisch Sparring nach den Wettkampfregeln der WT, demnach wurden sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe fast ausschließlich Ausnahme-Fußtechniken verwendet, während die am häufigsten verwendete Technik der Tollyŏch'agi war. Dieser wurde auf Körper- und Kopfhöhe angewendet und auf unterschiedliche Arten auch mit anderen Techniken kombiniert. Insbesondere in der Profigruppe ergab dies eine kämpferische Hexis, die durch Agilität, Dynamik und Beweglichkeit geprägt war. Es wurde wenig direkt geblockt, stattdessen wurden Strategien des Ausweichens und gleichzeitigen Konterns oder des direkten Konterns verfolgt. Abgesehen von den Regelbeschränkungen handelte es sich um freie Interaktionsformen, in denen die Schüler*innen die Möglichkeit hatten, unmittelbar und kreativ in einen improvisierten Bewegungsdialog zu treten und sich dabei kämpferisch auszudrücken. Sowohl technisches Niveau als auch Kontaktstärke variierten zwischen den Kindergruppen und der Profigruppe stark. Während die Kämpfe in den Kindergruppen noch stark in Form von abwechselnden Aktionen abliefen und der Körperkontakt sehr gering bis nicht vorhanden war, liefen die Kämpfe in der Profigruppe deutlich agonaler, dynamischer und kontaktreicher ab. Wie bereits erwähnt, war die Hälfte der Schüler*innen in Schutzausrüstung gekleidet und durfte dementsprechend härter getroffen werden. Während auch hier bei manchen Paaren die Kämpfe kooperativ und spielerisch wirkten, konnten die Kämpfe unter den fortgeschritteneren, und hier insbesondere den männlichen Schülern, durchaus eine spürbare Härte und Entschlossenheit zeigen. Leider können die individuellen Ausdrucksformen der einzelnen Schüler*innen an dieser Stelle nicht näher ausdifferenziert werden, da die Praxis des Sparrings nur einmal beobachtet werden konnte und die eigene Involvierung besonders hoch war. Ein wichtiges Element, sowohl im Rahmen von Hanbŏn Kyŏrugi als auch im Rahmen von Sparring, war das formalisierte Verbeugen, welches vor und nach jeder Übungsrunde ausgeführt wurde.
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Auf akustischer Ebene können zum einen der Kampfschrei und zum anderen die Kommandos des Trainers als wichtigste Stilmittel festgestellt werden. Beide nehmen aus funktionalistischer Perspektive eine ordnungsgebende Rolle ein. Wie in den bisherigen Beschreibungen, sind es auch im Kontext der KyŏrugiPraktiken-Ensembles die Kommandos des Trainers, welche die einzelnen Übungen initiieren, abschließen und überleiten. Dies trifft sowohl für Hanbŏn Kyŏrugi als auch für Sparring zu. Auch der Kampfschrei konnte in beiden PraktikenEnsembles beobachtet werden, fand jedoch in unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung. Im Rahmen von Hanbŏn Kyŏrugi war die Verwendung des Kampfschreis in den stark formalisierten Ablauf der Übung eingebettet. Interessant ist hier die semantische Dimension des Kampfschreis als Kommunikationsinstrument, mit dem der Zeitpunkt des initialen Angriffs ausgehandelt wird. Auf zeitlicher Ebene ist der Umfang der Praktiken-Gruppe Kyŏrugi interessant. Während Hanbŏn Kyŏrugi in den Kindergruppen noch auf einen mittleren Wert hinsichtlich des zeitlichen Anteils an der gesamten Trainingspraxis aufweist, fällt für Sparring auf, dass dies in den Kindergruppen und in der Profigruppe mit jeweils einem Mal nur einen sehr geringen Anteil der Trainingspraxis ausmachte. Dies ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen ist der Anteil unmittelbar interkorporaler kämpferischer Interaktionen in der gesamten Trainings-Praxis anteilsmäßig gering, obwohl es sich bei Taekwondo dem allgemeinen Verständnis nach um eine kämpferische Bewegungskultur handelt, also um eine Praxis in deren Zentrum der Kampf steht. Zum zweiten trägt der Zweikampf, aufgrund der olympischen Involviertheit des Taekwondo, maßgeblich zu dessen öffentlicher Wahrnehmung bei. Der sehr geringe Anteil kämpferischantagonistischer Praxen an der gesamten Trainingspraxis deutet auch auf die Problematik hin, das Phänomen „Martial Arts“ umfassend und allgemeingültig zu definieren. Auf selbstreferentieller Ebene der Bedeutung ist zwischen Hanbŏn Kyŏrugi und Sparring zu unterscheiden. Beim Hanbŏn Kyŏrugi handelt es sich um Übungsformen, in denen paarweise kämpferische Situationen formalisiert und stilisiert durchlaufen werden. Die Bedeutung der Techniken liegt in ihrer Anwendung in der Übungspraxis. Die Techniken bedeuten, was sie ausführen: einen Stoß zum Körper oder eine Abwehr eines eben solchen Stoßes auf eine bestimmte Art und Weise. Die Art und Weise der Ausführung wiederum hängt mit der unmittelbaren Funktion zusammen. Ist die Hand eines abwehrenden Armes geöffnet, so bedeutet dies das Greifen der gegnerischen Angriffswaffe. In der konkreten Situation des formalisierten Hanbŏn Kyŏrugi sind alle Techniken bedeutungsvoll, als dass sie Lösungen für kämpferische Hanbŏn-Kyŏrugi-
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Situationen darstellen. 158 Da diese körperlichen Lösungsvorschläge aus dem Bewegungs-Pool der Grundtechniken schöpfen, beinhalten sie auch die dessen zugrundeliegenden ästhetischen Merkmale. Zusammen mit der allgemeinen choreografischen Anordnung des Hanbŏn Kyŏrugi lassen sich demnach folgende Merkmale als selbstreferentielle Bedeutungsträger zusammenfassen. Tabelle 5: Kyŏrugi. Selbstreferentielle Bedeutungsebene Kyŏrugi: Selbstreferentielle Bedeutungsebene Hanbŏn Kyŏrugi Die Kommandos des Trainers ordnen die Übungspraxis, indem sie die anteiligen Choreografien initiieren, beenden und überleiten. Angriff und Verteidigung sind als Rollen eindeutig zugewiesen. Der Angriff erfolgt nach Ankündigung durch einen Kampfschrei und nach dessen Erwiderung. Angriff und Abwehr erfolgen auf vorgegebene Art und Weise. Ein kontrollierter und stilisierter Angriff ermöglicht eine ebenso kontrollierte und stilisierte Antwort.
Sparring Vor Beginn des Kampfes findet eine formalisierte Begrüßung zwischen den beiden Akteur*innen statt. Der Kampf ist bestimmten Regeln unterworfen. Diese sind allgemein bekannt. Die Regeln begünstigen die Verwendung von Ausnahme-Fußtechniken. Die kämpferische improvisiert.
Interaktion
ist
Die Härte der körperlichen Interaktion ist durch äußere Faktoren beeinflusst, wird aber unmittelbar in der situativen Praxis ausgehandelt. Als Merkmale einer skillful practice gelten Agilität, Distanzgefühl, Beweglichkeit und Timing. 158 Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig auch einen ähnlichen Bedeutungszusammenhang außerhalb der Praxis des Hanbŏn Kyŏrugi. Da Hanbŏn Kyŏrugi einer gewissen Stilisierung nach ästhetischen Maßstäben unterliegt, kann die Bedeutung der einzelnen Techniken nicht unmittelbar in kämpferische Praxen abseits davon übersetzt werden. Die Form hätte eine andere Bedeutung bzw. müsste eine entsprechende Bedeutung in eine andere körperliche Ausdrucksform übersetzt werden.
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Bei Hanbŏn Kyŏrugi handelt es sich um Praktiken, in denen die Einhaltung einer formellen Abfolge das oberste Ordnungsprinzip darstellt. Alle Bewegungen folgen einem klaren Ablauf mit vorgegebenen Rollen und ausgewiesenen Bewegungssequenzen. Beim Sparring hingegen sind das Treffen von Entscheidungen und das situativ angemessene Reagieren auf die Aktionen des Gegenübers die obersten Prinzipien. Deren situative Entfaltung findet im Rahmen eines ästhetisierten Bewegungsrepertoires statt. Im Hanbŏn Kyŏrugi und im Sparring entfaltet sich Bedeutung unmittelbar und eindeutig in der interkorporalen Praxis. Bedeutung meint hier die Bedeutung der jeweiligen Bewegungen als Angriffs-, Abwehr- oder Meidebewegungen. Gerade in Sparring ist die Frage nach der Emergenz von Bedeutung hinsichtlich Normen und Werten besonders interessant. Aus Akteur*innen-Perspektive ist der freie Kampf immer auch eine Praxis der Beglaubigung der eigenen kämpferischen Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten beinhalten im kämpferischen Kontext Strategien, Taktiken und (Re-)Aktionsvermögen, welche wiederum mit einem System individueller konfliktbezogener Normen und Werte zusammenhängen können. Abhängig von der individuellen Erfahrung in der Praxis des Sparrings können diese Normen und Werte nun beglaubigt und performativ verfestigt oder infrage gestellt werden. Darüber hinaus sind individuelle Assoziationen mit anderen (populär-)kulturellen Phänomenen denkbar. Im Kontext des Hanbŏn Kyŏrugi ist die Emergenz von Bedeutung ebenfalls interessant. Denn hier wird in der Praxis die Möglichkeit geboten, kämpferische Interaktionen in einem umfassend geschützten Umfeld zu erleben. Da der formale Vorgang sowie der Ausgang in einem hohen Maße vorgegeben sind, ist es die ästhetische Ausführung, welche in den Mittelpunkt rückt. Die Beglaubigung erfolgt nicht anhand der kämpferischen Funktionalität, sondern anhand ästhetischer Kriterien. Durch die Gewichtung der ästhetischen Dimension, bietet die Praxis mehr Spielraum für individuelle Bedeutungszuschreibungen und ideologisch eingefärbte Narrative. Kyŏrugi: Theatralität und Ritualität Die performative Beglaubigung von kämpferischen Praktiken steht in direktem Zusammenhang zu den Konzepten der Theatralität und Ritualität. Hier herrscht ein deutlicher Widerspruch. Bezugnehmend auf Axel Binhacks Definition von „Kampf“ ist die grundlegende Logik des Kampfes die der maximalen kämpferischen Effizienz. So schreibt Binhack:
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„Das reine Kampfphänomen ‚will‘ im Grunde keine Dauer, keine ‚innere Unendlichkeit‘ wie das Spiel […], sondern das genaue Gegenteil. Ein ernsthafter, nicht spielerischer Kampf will prinzipiell die Beendigung des Kampfes durch Kampf.“159
Dieser Logik des Kampfes steht wiederum die Logik des Theatralen, des Ästhetischen zuwider. Sicherlich können auch theatrale Phänomene in der Praxis des Kämpfens beobachtet werden, etwa ein einschüchternder Kampfschrei oder ähnliche Präsenz-Phänomene, welche die eigene Aufmerksamkeit steigern oder die des antagonistischen Gegenübers lenken. Im Kontext der Kyŏrugi-PraktikenEnsembles, insbesondere in Sparring, sind solche Phänomene durchaus denkbar. Theatralität im Kontext von Kyŏrugi bezieht sich an dieser Stelle jedoch auf eine potenzielle theatrale Praxis, welche im Rahmen von stilisierten und formalisierten Praktiken hervorgebracht wird. Im Rahmen von Hanbŏn Kyŏrugi bezieht sich dies auf den formalen Ablauf wie auch auf den technikbezogenen Inhalt. Kämpferische Situationen sind hier so weit modelliert, dass sie sich zwar auf Praktiken des Kämpfens beziehen, diese aber ästhetisch hervorheben. Dem Chaos und der Unberechenbarkeit des Kampfes stehen die klar strukturierten und der Logik der ästhetischen Ausführung unterliegenden Praktiken des Hanbŏn Kyŏrugi gegenüber. Qualitäten wie Timing und Distanzgefühl, die im kämpferischen Kontext unabdingbar sind, sind zwar auch hier Kriterien einer skillful performance, sie manifestieren sich jedoch einer Logik des Ästhetischen entsprechend und nicht einer Logik des Kämpferisch-Effektiven. Beglaubigung der kämpferischen Fähigkeiten findet auf Basis ihrer ästhetisch glaubhaften Ausund Aufführung statt. Die körperliche Bezugnahme der Akteur*innen aufeinander ist keine der Definition nach kämpferische – sie stehen in keinem antagonistischen Verhältnis zueinander. Stattdessen handelt es sich um eine ästhetische, spielerisch-konsequenzverminderte Interkorporalität, welche durch formalisierte und stilisierte Praktiken ermöglicht wird. „Kampf“ oder vielmehr kämpferische Praktiken dienen hier als Bewegungsmaterial, das anhand spezifischer Merkmale ästhetisiert zur Aufführung gebracht wird. Hanbŏn Kyŏrugi ist nur eingeschränkt als kämpferische Praxis zu bezeichnen. Prinzipiell bietet zwar auch Hanbŏn Kyŏrugi die Möglichkeit einer antagonistischen Interaktionsform innerhalb des festgelegten Rahmens der Praktik. Dies konnte in der Praxis jedoch nicht beobachtet werden. Stattdessen wurde vom Trainer Kooperation unterstrichen, um eine harmonische Gesamtausführung für beide Akteur*innen zu ermöglichen. Im Sparring hingegen ist das antagonistische Potential deutlich größer. In der Praxis konnten teils energische Kämpfe beobachtet werden. Sparring scheint deutlich näher am Archetypus des Kampfes und doch handelt es sich hier um eine Form 159 Binhack 1998, S. 31.
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des Kämpfens, die in mancherlei Hinsicht weitaus stärker stilisiert ist als die des Hanbŏn Kyŏrugi. Während dieser die Arbeit mit den Händen und Armen unter Beibehaltung eines kontrollierten, sicheren Standes umfasst, verkörpert Sparring hingegen regelbedingt fast ausschließlich eine Interaktion mittels AusnahmeFußtechniken. Basierend auf diesem scheinbaren Gegensatz, kann Sparring als dialektischer Prozess verstanden werden, in welchem das Verhältnis von Funktionalität und ästhetischer Stilisierung performativ ausgehandelt wird. So handelt es sich bei dem Technikpool zwar um Ausnahme-Techniken, diese sind jedoch gemäß einer Logik der kämpferischen Effizienz angepasst. Im Sparring bilden demnach ästhetisch stilisierte Techniken die Bewegungsgrundlage, über die Entwicklungsgeschichte des Taekwondo Sparrings hinweg wurden diese jedoch unter Maßgabe der kämpferischen Effizienz funktionalisiert und somit zu einer Art zweiter Natur bzw. zu „alltäglichen“ Techniken der zweiten Ordnung. In bestimmten Praktiken, wie unter dem Punkt zu fortgeschrittenen Fußtechniken erwähnt, werden diese „alltäglichen“ Techniken zweiter Ordnung wiederum zu hervorgehobenen Techniken der zweiten Ordnung stilisiert. Festzuhalten ist bezüglich Sparring, dass es sich zwar durchaus um eine kämpferischantagonistische Praxis handelt, diese jedoch hervorgehobenen AusnahmeTechniken als Grundlage hat. Hinsichtlich des Wirkens von Ritualität in der Kyŏrugi-Praxis lässt sich argumentieren, dass Hanbŏn Kyŏrugi in besonderem Maße dazu geeignet ist, diese hervorzubringen. Es handelt sich um eine potenziell sehr gleichförmige, rhythmische Übungsform, in welcher die skillful practice eine harmonische, eingespielte Interaktion zwischen den Akteur*innen erfordert. Insbesondere, wenn einzelne Sequenzen über einen längeren Zeitraum fortlaufend praktiziert werden, ist ein paarweises Flow-Erlebnis durchaus denkbar. In der konkreten Trainingspraxis hingegen konnte eine derartige Ausführung nicht beobachtet werden. Einzelne Sequenzen wurden nur wenige Male wiederholt, sodass allein aus zeitlichen Gründen wenig Raum für die Entfaltung von gemeinsam geteilten Flow-Erlebnissen gegeben wurde. Vielmehr wurde der Eindruck erweckt, dass dieses Praktiken-Ensemble einzig aufgrund seiner Prüfungsrelevanz praktiziert wurde. Obwohl es sich bei Sparring tendenziell eher um eine antagonistische Übungsform handelt, bei welcher der Agon, das Messen der Kräfte, im Mittelpunkt steht, ist auch hier das Entfalten von Ritualität prinzipiell denkbar. Dies kann an dieser Stelle jedoch nicht anhand der beobachteten Praxis erfolgen, da nichts Vergleichbares beobachtet werden konnte. Es ist jedoch denkbar, dass unter performativer Entfaltung von Kooperation, wenn also nicht Sieg oder Niederlage im Vordergrund stehen, sondern das Hervorbringen einer
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(teil-)improvisierten ästhetischen Interaktion, geteilte Flow-Erfahrungen ähnlich kollektiver Erfahrung der spontanen Communitas denkbar sind. 5.3.5 Undong Unter Undong (운동, dt. Übung, Training) sind alle Praktiken zusammengefasst, die nicht auf den für Taekwondo spezifischen Techniken basieren, sondern sich aus unterstützenden Übungen mit dem Fokus auf isolierte körperliche Fähigkeiten, zusammensetzen. Zu diesen gehören Laufen im Kreis und Laufen in Bahnen, Dehnen und Kräftigung. Die gewählten Bezeichnungen sind überwiegend selbsterklärend. Laufen wurde aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Anordnung in zwei Praktiken-Ensembles untergliedert. In den Kindergruppen spielte Laufen keine Rolle.160 In der Profigruppe hingegen wurde Laufen häufig praktiziert.161 Auch Dehnen und Kräftigung spielte in den Kindergruppen eine geringe Rolle.162 In der Profigruppe war besonders Dehnen von hoher Bedeutung,163 Kräftigung hingegen war von geringerer Bedeutung.164 Laufen im Kreis Laufen im Kreis bezeichnet das kontinuierliche Joggen in einer Kreisformation für die Dauer von zumeist 15-20 Minuten. 165 Dabei liefen die Schüler*innen konstant in eine Kreisrichtung mit gelegentlichen Richtungswechseln auf Kommando des Trainers bzw. des Schulleiters.166 Deren Positionierung war in den meisten Fällen etwas abseits des Kreises. Einmalig konnte der Trainer auch in der Mitte des Kreises positioniert beobachtet werden.167 In zwei Fällen wurde das Laufen von Musik begleitet.168
160 Laufen im Kreis: 0x4 TE, Laufen in Bahnen 0x4 TE. 161 Laufen im Kreis in 14 TE beobachtet; Laufen in Bahnen in 4 TE beobachtet. 162 Anm.: Dehnen wurde in 3x4 TE beobachtet, Kräftigungsübungen lediglich in 1x4 TE. 163 Anm.: Umfangreiches Dehnen wurde in zwölf TE beobachtet. 164 Anm.: Kräftigung wurde in sieben TE beobachtet, wobei drei der sieben Kräftigungseinheiten in derselben TE stattgefunden haben (vgl. TE vom 13.01.2016). 165 Vgl. etwa TE vom 30.12.2015; TE vom 09.01.2016; TE vom 13.02.2016. 166 Vgl. TE vom 16.01.2016. 167 Vgl. TE vom 27.01.2016. 168 Vgl. TE vom 15.02.2016; TE vom 17.02.2016.
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Laufen in Bahnen Unter dem Praktiken-Ensemble Laufen in Bahnen können zwei Anordnungen zusammengefasst werden: das kontinuierliche Laufen in Bahnen zwischen Front- und Rückseite des Trainingsraums 169 mit musikalischer Begleitung und differenzierte Laufübungen, die gruppenweise unter Anleitung des Trainers abliefen.170 Dehnen Dehnen umfasst Praktiken, die mit der Steigerung der Beweglichkeit der Schüler*innen zusammenhängen. Solche Übungen waren auch Teil des Kindertrainings, dort jedoch eine Randerscheinung. Im Training der Profigruppe hingegen waren diese Praktiken Bestandteil der meisten Trainingseinheiten. Dehnen ist in diesem Zusammenhang mit dem Dehnen als Teil der Aufwärmroutine zu unterscheiden. Während es sich dort um kurze Abschnitte mit dynamischer Ausführung handelte, umfasst das Dehnen in diesem Zusammenhang stattdessen das länger andauernde, statische Dehnen im Hüft- und Beinbereich. Gedehnt wurde überwiegend selbständig, wobei der Trainer jeweils einzelne Schüler*innen beim Dehnen zusätzlich in die Dehnung drückte. Kräftigung Zu Kräftigung gehören alle Arten von Übungen, welche isolierte Muskelpartien ansprechen. Dazu gehörten in der Praxis etwa Crunches und Sprungübungen 171, Kniebeugen172 und Übungen für die allgemeine Körperspannung 173. Die Bewegungen und die Anordnung der Schüler*innen zueinander und im Raum variierten sehr stark, sodass es nur schwer möglich ist, hier allgemein zutreffende Aussagen zu formulieren. Undong: Performativitäts-ästhetische Spezifizierung Da es sich bei Undong um eine Zusammenfassung sehr heterogener Praktiken handelt, sind allgemeine Aussagen schwierig zu treffen. Dennoch wird hier auf 169 Vgl. TE vom 23.01.2016; TE vom 12.02.2016; TE vom 16.02.2016. 170 Vgl. TE vom 08.01.2016; TE vom 25.01.2016; TE vom 28.01.2016. 171 Vgl. TE vom 07.01.2016; TE vom 27.01.2016. 172 Vgl. TE vom 13.01.2016. 173 Vgl. TE vom 27.01.2016.
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einige wenige wesentliche Merkmale eingegangen, die für die gesamte Praktiken-Gruppe relevant sind. Auf räumlicher Ebene sind Anordnungen im Kreis, in Bahnen und im Block, in paarweiser sowie einzelner Aufstellung vertreten. Obwohl es sich hierbei um grundlegend verschiedene Anordnungstypen handelt, ist die Gemeinsamkeit, dass sowohl auf vertikaler als auch auf horizontaler Ebene eine Differenzierung von Schüler*innen und Trainer stattfindet. Bis auf eine Ausnahme174 konnte der Trainer in den meisten Fällen abseits des Aktionsraums der Schüler*innen beobachtet werden, während er in einer Trainingseinheit zwischen den paarweise aufgestellten Schüler*innen umherwanderte. Auch hier kann dementsprechend eine räumliche Differenzierung argumentiert werden, die jedoch stark mit einer körperlichen Differenzierung zusammenhängt: Die Schüler*innen sind statisch in Paaren angeordnet, bei manchen der Übungen sitzend, während der Trainer mit uneingeschränktem Bewegungsradius zwischen den Paaren umherwandelt. Bei Dehnen konnte hinsichtlich der räumlichen Aufteilung eine Besonderheit festgestellt werden. Grundsätzlich bestand beim Dehnen in der Profigruppe eine freie Anordnung im Raum, während das Dehnen in den Kindergruppen in Block-Formation erfolgte. Einzelne Schüler*innen wurden vom Trainer nacheinander aus der Gruppe genommen und mussten sich entweder vor dem Block (Kindergruppen) 175 oder abseits der Gruppe (Profigruppe) positionieren, wo sie dann vom Trainer unter Hilfe der Assistenztrainer*innen (Kindergruppe) oder dem anderen Trainer und anderen Schüler*innen (Profigruppe) gedehnt wurden. Auch auf körperlicher Ebene sind gemeinsame Merkmale schwer auszumachen, da der Variationsreichtum der Übungen in der Praxis hoch war. Dennoch können auch hier Gemeinsamkeiten sowie bemerkenswerte Einzelheiten festgehalten werden. Bei den Lauf-Praktiken, sowohl in Bahnen als auch im Kreis, handelte es sich überwiegend um ein kontinuierliches, gleichförmiges SichBewegen. In einem Fall konnte das Laufen in Bahnen unter Einbeziehung verschiedener Lauf-Varianten beobachtet werden, solche Variationen waren jedoch selten.176 Das kontinuierliche Laufen über eine längere Zeit stand klar im Vordergrund. Bei den Kräftigungs-Praktiken kann bei dem hohen Variantenreichtum dennoch ein Schwerpunkt auf der Kombination von Kraft und Ausdauer festgestellt werden. Bei der überwiegenden Zahl an Übungen stand nicht allein Kraft
174 Vgl. TE vom 27.01.2016. 175 Vgl. TE vom 04.01.2016. 176 Vgl. TE vom 08.01.2016.
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im Mittelpunkt, sondern die Kombination mit Ausdauer.177 Als besonders einprägsam stellte sich Dehnen aufgrund des häufigen Vorkommens und aufgrund der damit verbundenen intensiven körperlich-emotionalen Erfahrung heraus. Wie bereits erwähnt, stand das selbständige Dehnen hier im Mittelpunkt. Im Wechsel wurden Schüler*innen einzeln nacheinander aus der Gruppe genommen und mit Hilfestellung des Trainers und anderer Assistierender gedehnt. Dies konnte sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe beobachtet werden. Sowohl das Aufkommen als auch die Intensität waren in der Profigruppe um ein Vielfaches höher. In diesen Einzelsessions wurde überwiegend im seitlichen Spagat gedehnt, dies jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. In einer Variante stellten die Schüler*innen ihre Füße jeweils auf zwei kastenförmige Polster, die aufgrund ihrer glatten Oberfläche auf dem Boden gleiten konnten. Die ganze Anordnung war an einer Wand platziert, sodass die Schüler*innen sich mit aufrechtem Oberkörper mit dem Rücken an der Wand anlehnen konnten. Nun drückte der Trainer die Schultern nach unten, sodass die Polster sich in beide Richtungen voneinander wegbewegten und sich die Beine immer weiter zum Spagat spreizten. 178 In einer anderen Anordnung mussten sich die Schüler*innen mit dem Rücken auf ein kastenförmiges Polster legen, welches so positioniert war, dass die Schüler*innen mit dem Gesäß an der Wand lagen und die Beine nach oben zur Decke ausgestreckt waren. Nun mussten sie die Beine spreizen, wobei beide Beine von den Trainern, ihren Assistenztrainer*innen oder anderen Schüler*innen jeweils nach unten gedrückt wurden, sodass sich die Beine immer weiter spreizten. Allgemein handelte es sich in diesen Fällen nicht um ein sanftes Unterstützen, sondern vielmehr um ein kräftiges Ziehen und Drücken von Seiten der Trainer und ihrer Assistent*innen. Teilweise konnte beobachtet werden, wie die Schüler*innen versuchten beim Dehnen gegenzuhalten, was den Trainer nur veranlasste, noch stärker zu ziehen und zu drücken.179 Mehrfach wurde beobachtet, wie jüngere Schüler*innen während des Dehnens zu weinen begannen 180 – und dies sogar bevor sie überhaupt gedehnt wurden.181 Interessant ist darüber hinaus das Konzept des Strafens, welches in der Analyse noch mehrfach aufkommen wird. Im Rahmen von Undong wurde beobachtet, wie ein Schüler beim Laufen im Kreis als Strafe etwa fünf Minuten länger 177 Anm.: Siehe Ausfallsschritte im springenden Wechsel (vgl. TE vom 27.01.2016; TE vom 13.01.2016), Crunches und Hüpfübungen (vgl. TE vom 07.01.2016) sowie Kniebeugen und „Klappmesser“ (vgl. TE vom 13.01.2016). 178 Vgl. TE vom 06.01.2016. 179 Ebd. 180 Vgl. TE vom 06.01.2016; TE vom 13.01.2016. 181 Ebd.
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laufen musste als alle anderen. Der Grund für die Strafe war nicht direkt ersichtlich, da der Schüler zuvor kein besonderes Fehlverhalten gezeigt hatte. Es handelte sich jedoch um einen Schüler, der des Öfteren mit „frechem“ Verhalten auffiel.182 Eine andere Situation konnte im Nachgang zu einem Lauf-Spiel beobachtet werden. Im Zuge des Praktiken-Ensembles Laufen im Kreis wurde ein Spiel gespielt, bei dem sich alle Schüler*innen auf Kommando des Trainers zu Gruppen mit variierender Gruppengröße zusammenfinden mussten. Wer keine Gruppe finden konnte, musste eine Strafe über sich ergehen lassen. Dazu musste sich der/die Schüler*in mit gespreizten Beinen und hinter dem Rücken verschränkten Armen hinstellen, wobei sie ihre Stirn auf dem Boden ablegen mussten. Diese Position wurde gehalten, bis der Trainer das Auflösen erlaubte. 183 Eine solche Form der Strafe konnte auch im Rahmen anderer Laufübungen beobachtet werden. Hier waren es nicht Verlierer*innen eines Spiels, welche bestraft wurden. Stattdessen erlitten alle Schüler*innen hier gemeinsam die Bestrafung, sofern die einzelnen Übungen für den Trainer nicht zufriedenstellend ausgeführt wurden.184 Auf lautlicher Ebene sind auch hier wieder die Kommandos des Trainers als ordnende Impulse genannt. Darüber hinaus kann der lautlichen Ebene im Rahmen des Dehnens eine besondere Bedeutung zugesprochen werden. Die Situationen, in denen die Schüler*innen vom Trainer gedehnt wurden, waren immer geprägt von lautstarkem Klagen und Stöhnen bis hin zu lauten, schmerzvollen Schreien.185 Im Rahmen von Laufen in Bahnen wurde eine besondere lautliche Rahmung der Praktik beobachtet, die gleichzeitig einen stilistischen Kontrast zu den soeben genannten Punkten bildet. Anders als bei vielen anderen Praktiken sind hier nicht die Kommandos des Trainers die ordnenden Impulse, welche die Übung anleiteten. Stattdessen wird hier ein vorgefertigtes mehrphasiges Musikstück gespielt, welches diese Funktion übernimmt. 186 Hierzu versammeln sich zunächst alle Schüler*innen an einer Seite des Trainingsraumes, woraufhin das Musikstück vom Trainer gestartet wird. Nach einführenden Worten einer freundlich klingenden Frauenstimme beginnt rhythmische K-Pop-Musik 187 . Auf ein onomatopoetisches „Bib-bib“ der Frauenstimme laufen alle Schüler*innen zur 182 Vgl. TE vom 16.01.2016. 183 Vgl. TE vom 26.01.2016. 184 Vgl. TE vom 08.01.2016. 185 Vgl. TE vom 20.12.2015; TE vom 06.01.2016; TE vom 08.01.2016; TE vom 13.01.2016. 186 Vgl. TE vom 23.01.2016. 187 Anm.: Bei K-Pop handelt es sich um eine generische Bezeichnung für koreanische Pop-Musik. Eine genauere Erläuterung ist unter Abschn. 5.3.7 zu finden.
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anderen Seite der Halle, während die Frauenstimme den Lauf zählt. An der anderen Seite angekommen, warten die Schüler*innen auf das nächste Signal der Stimme, auf das sie wieder zurück zur anderen Seite laufen. So geht es insgesamt 131-mal hin und her. In dieser Zeit werden insgesamt drei standardmäßige Lieder zu Untermalung eingespielt, die bei jedem Liedwechsel schneller werden. Ebenso werden auch die Abstände der akustischen Signale der Frauenstimme immer kürzer, sodass auch die Läufe gleichsam immer schneller werden. Auf zeitlicher Ebene sind Häufigkeit und Dauer dieser Praktiken in der Gesamtpraxis zu thematisieren. Während Undong in den Kindergruppen nur eine marginale Rolle spielte, war diese Praktiken-Gruppe in der Profigruppe und in erster Linie das Dehnen von großer Bedeutung. Bezieht man hier Palch'agiAusdauer mit ein, so ist der zeitliche Anteil an der Gesamtpraxis noch höher. Palch'agi-Ausdauer wurde zwar aufgrund der Bezugnahme auf Fußtechniken dieser entsprechenden Praktiken-Gruppe untergeordnet, Gemeinsamkeiten mit Undong sind allerdings offensichtlich. Laufen und/oder Dehnen kamen in fast jeder Trainingseinheit der Profigruppe vor und waren mit jeweils etwa 20 Minuten wichtige Bestandteile jedes Trainings. Auf Ebene der selbsreferentiellen Bedeutung wird in diesem Fall nicht zwangsläufig zwischen Kindergruppen und Profigruppe unterschieden, da es sich in erster Linie lediglich um einen unterschiedlichen Anteil an der Gesamtpraxis handelt. Insgesamt können hier folgende Merkmale festgestellt werden: Tabelle 6: Undong. Selbstreferentielle Bedeutungsebene Undong: Selbstreferentielle Bedeutungsebene Ausdauer und Durchhaltevermögen spielen eine große Rolle, sowohl auf körperlicher als auch auf mentaler Ebene. Körperliches Strafen ist ein legitimes Mittel und muss nicht zwangsläufig nachvollziehbare Gründe haben. Die entsprechenden Situationen sind jedoch von Ambivalenz im Spannungsverhältnis von Spiel und Ernst geprägt. Schmerz gilt es zu ertragen und zu überwinden. Dennoch ist das lautstarke Kundtun des eigenen Leidens gestattet. Bei Undong handelt es sich demnach um mehrere Praktiken-Ensembles, in denen Ausdauer die wesentliche Fähigkeit darstellt. Das Durchhalten, das Ertragen unangenehmer Umstände, nicht nur auf körperlicher, sondern auch auf mentaler Ebene ist hier eine wichtige Gemeinsamkeit. Dies umfasst starke körperliche Schmerzen zu ertragen. Besonders prägnant war in dieser Hinsicht das Kundtun des eigenen Leidens beim Dehnen. So wurden Situationen beobachtet,
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in denen die Schüler*innen beim Dehnen noch lautstark schrien und wie kurz vor dem Zusammenbruch wirkten und nach dem Dehnen wieder völlig entspannt zu sein schienen. Dies wirft die Frage auf, wie authentisch das Schreien tatsächlich eingeschätzt werden kann. Ob also das Schreien in diesem Zusammenhang nicht nur unmittelbarer Ausdruck des Leidens ist, sondern das Leiden darüber hinaus hervorgehoben werden soll. Beachtenswert ist darüber hinaus ein Gegensatz, der sich im Rahmen dieser Praktiken andeutet: auf der einen Seite Härte, Durchhalten und die Autorität des Trainers, auf der anderen Seite steht das Freundliche, fast Niedliche, der Frauenstimme, welche die Laufübungen anleitet. Auch K-Pop als stilistischer Anknüpfungspunkt ist in dieser Hinsicht relevant und wird im weiteren Verlauf der Analyse noch näher untersucht. Auf Ebene der Emergenz von Bedeutung sind zwei Punkte interessant. Erstens bieten gerade die monotonen Laufübungen viel Raum zur Assoziation und Reflektion. Zweitens können individuell, ähnlich den bisher beschriebenen Praktiken, ganz unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich militärischer, kriegerischer oder athletisch-sportlicher Narrative geschehen. Undong: Theatralität und Ritualität Zunächst scheint es abwegig im Zusammenhang mit Undong von Theatralität zu sprechen. Zwar besitzt diese Praktiken-Gruppe unweigerlich bestimmte ästhetisch-stilistische Merkmale, jedoch scheinen diese in erster Linie einen funktionalen Hintergrund zu haben. Dennoch kann auch Undong Elemente theatraler Praktiken aufweisen. So sind in den einzelnen Praktiken jeweils unterschiedliche körperliche Fähigkeiten fokussiert: das Laufen, das Dehnen oder das ausdauernde Kräftigen der Beinmuskulatur. Über diesen Fokus auf isolierte Fähigkeiten, mit dem gleichzeitig eine hohe emotionale Involviertheit einhergeht, z. B. Schmerz oder Langeweile, wird der Fokus der Akteur*innen (potenziell) auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers gerichtet. Die Akteur*innen sind so gleichsam Performer*innen, indem sie die Übungen ausführen, und potenziell Zuschauer*innen, indem sie die teils sehr intensiven Wirkungen auf ihren eigenen Körper wahrnehmen. Hinsichtlich Ritualität kann nun argumentiert werden, dass diese intensiven körperlich-emotionalen Wahrnehmungen wiederum das Potential besitzen Flow-Erfahrungen auf individueller Ebene und CommunitasErfahrungen auf kollektiver Ebene zu bewirken. Denkbar ist in diesem Zusammenhang gerade der Moment der Überwindung, etwa wenn sich beim Laufen zunächst Langeweile einstellt und diese dann überwunden werden kann. Oder etwa beim Dehnen, wenn der Schmerz zunächst sehr groß ist, jedoch durch Konzentration und ruhige, langsame Atmung überwunden werden kann. Solche
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Erfahrungen des Überwindens können, wenn sie kollektiv geteilt werden, potenziell rituelle Erfahrungen hervorbringen. 5.3.6 Gehen, Drehen, Sitzen Die Praktiken-Gruppe Gehen, Drehen, Sitzen umfasst die Praktiken-Ensemble Haltung und Bewegung sowie Monologe des Lehrers. Dabei handelt es sich jeweils um Anordnungen, welche die für Taekwondo korrekte Art und Weise der Ausführung alltäglicher Praktiken des Gehens, Drehens und Sitzens thematisieren. Während diese Praktiken-Gruppe in den Kindergruppen in signifikanter Häufigkeit beobachtet werden konnte, stellte diese Praktiken-Gruppe in der Profigruppe eher eine Randerscheinung dar.188 Haltung und Bewegung Zur Praktiken-Gruppe Haltung und Bewegung sind Anordnungen zu zählen, die als zeremonielles Bewegungsrepertoire der Taekwondo-Praxis bezeichnet werden können. Dazu gehört etwa das richtige Einlaufen 189 bei einer DemoPerformance oder bei einer Prüfung, das richtige Drehen im Rahmen des Einlaufens oder bei Begrüßung sowie das richtige Sitzen im Rahmen von Prüfungen oder Demo-Performances. Dies alles wurde vor allem in den Kindergruppen beobachtet. In der Profigruppe spielten diese Praktiken weniger als Teil separater Übungsanordnungen eine Rolle, sondern wurden als praktisches Wissen vorausgesetzt. Neben dem einmaligen Beobachten einer Übung zum korrekten Einlaufen 190 konnte einmalig eine Art Exerzier-Übung beobachtet werden. 191 Hier mussten die Schüler*innen in einem Block angeordnet möglichst schnell auf Kommandos des Trainers wie „Lauft zur Tür!“, „Auf den Bauch legen!“ oder „Zehn Liegestütze!“ reagieren. Monologe des Lehrers Bei den Monologen des Lehrers – hierunter sind Trainer und Schulleiter zusammengefasst – handelt es sich seitens der Schüler*innen um Praktiken des Sitzens und Zuhörens, während der Trainer bzw. Schulleiter eine Ansprache über mora188 Anm.: Haltung und Bewegung wurde im Rahmen der Kindergruppe 6x4 Mal beobachtet und in der Profigruppe zweimal. Monologe des Lehrers wurde in den Kindergruppen 10x4 Mal und in der Profigruppe zweimal beobachtet. 189 Vgl. TE vom 11.02.2016. 190 Vgl. TE vom 03.02.2016. 191 Vgl. TE vom 27.01.2016.
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lisches Verhalten, Trainingsleistungen oder anstehende Termine hält. Solche Anordnungen wurden vermehrt in der Praxis der Kindergruppen beobachtet, in der Profigruppe hingegen nur einmal. Sie standen üblicherweise am Beginn oder Ende der jeweiligen Trainingseinheit. Gehen, Drehen, Sitzen: Performativitäts-ästhetische Spezifizierung Die Praktiken der Kindergruppen und der Profigruppe ähneln sich hier sehr stark und werden daher gemeinsam behandelt. Hinsichtlich der räumlichen Ebene handelt es sich auch hier wieder überwiegend um Anordnungen in Block-Formation. Es besteht räumliche Separierung von Schüler*innen und Trainer in horizontaler Richtung. Der Trainer steht überwiegend abseits des Blocks. Bei den Monologen des Lehrers besteht zusätzlich zur horizontalen Differenzierung eine vertikale Differenzierung, indem die Schüler*innen im Block sitzen, während der Trainer vor dem Block steht. Auf körperlicher Ebene handelt es sich um formalisierte, stilisierte und ästhetisierte Ausführungen alltäglicher Praktiken. Bei Praktiken des Gehens etwa musste der Gang natürlich, aber rhythmisch präzise sein. Die Hände mussten zu lockeren Fäusten auf Höhe der Oberschenkel geballt entgegen den Schritten schwingen. Die Abstände zu anderen Schüler*innen mussten konstant gehalten und Richtungswechsel akzentuiert werden.192 Drehen erfolgte auf ähnlich formalisierte Art und Weise. Eine 180-Grad-Drehung wurde ausgeführt, indem in paralleler Fußstellung der rechte Fuß den linken von hinten kreuzte und zunächst auf dem Ballen abgesetzt wurde. Daraufhin führte der Körper eine akzentuierte rückwertige Drehung um 180 Grad aus.193 Für das Sitzen gab es zwei Praktiken, die unterschiedlichen formellen Ebenen entsprachen: das Sitzen auf den Unterschenkeln und das Sitzen im Schneidersitz. Ersteres entsprach der höheren formellen Ebene. Für beide Praktiken galt es, den Rücken beim Sitzen gerade zu halten.194 Bei Ansprachen des Trainers bzw. des Schulleiters galt es nach formeller Stufe und entsprechendem Kommando eine der Sitzhaltungen einzunehmen und über die Dauer der Ansprache einzuhalten. Wie einmalig beobachtet, wurden derartige Anordnungen auch für exemplarische Bestrafungen genutzt.195 So wurden im Zuge einer Ansprache des Trainers in der Profigruppe stellvertretend für die gesamte Trainingsgruppe der ranghöchste Schüler und die ranghöchste Schülerin nach vorne zum Trainer gerufen. Nach Aufforderung durch den Trai192 Vgl. TE vom 11.02.2016. 193 Vgl. TE vom 25.01.2016. 194 Vgl. TE vom 04.02.2016. 195 Vgl. TE vom 25.01.2016.
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ner begaben sich beide in die Liegestützposition und bekamen mit einem Papprohr jeweils zwei Schläge auf ihr Gesäß, was die Schülerin mit lautstarken Schmerzbekundungen kommentierte. Die Schläge waren zwar nicht besonders hart, haben jedoch sicherlich zumindest leichte Schmerzen hervorgerufen. Die lautlicher Ebene ist klar durch den Trainer bzw. den Schulleiter dominiert. Es sind auch hier ihre Kommandos, welche die Praktiken einleiten, beenden und überleiten. Des Weiteren halten sie etwa zehnminütige Monologe, während die Schüler*innen ihnen in einer passiven Rolle gegenübersitzen. 196 Leider kann auf den semantischen Inhalt der Monologe aufgrund sprachlicher Einschränkungen nicht im Detail eingegangen werden. Wie bereits einführend erwähnt, umfassten diese Ansprachen Belehrungen über moralisches Verhalten, aktuelle Trainingsleistungen oder anstehende Termine überwiegend in ruhigem, aber bestimmten Ton.197 Bezüglich der zeitlichen Ebene ist auch im Kontext der Praktiken-Gruppe Gehen, Drehen, Sitzen der kollektive Rhythmus interessant, der die Körper der Schüler*innen in eine gemeinsame Ordnung bringt. Dies trifft besonders für die Praktik des Einlaufens zu. Nicht nur bewegen sich die Körper in einer räumlichen Ordnung, indem die Positionen und Abstände zu anderen Schüler*innen eingehalten werden. Sie bewegen sich darüber hinaus auch in der zeitlichen Organisationsform eines gemeinsamen Rhythmus. Neben dem kollektiven Rhythmus als zeitlichem Ordnungselement ist die Häufigkeit und Dauer der Praktiken innerhalb der gesamten Trainingspraxis hervorzuheben. Während Praktiken des Drehens und Sitzens einmalig beobachtet wurden, war in den Kindergruppen das richtige Einmarschieren mit viermal im mittleren Bereich der Häufigkeit zu verorten. Die Monologe des Lehrers hingegen bildeten zumindest in den Kindergruppen einen signifikanten Bestandteil der gesamten Trainingspraxis. Tatsächlich stellte dieses Praktiken-Ensemble mit 10x4 beobachteten Praxen, gemeinsam mit einem weiteren, das am meisten beobachtete PraktikenEnsemble in den Kindergruppen dar. Hinzu kommt die Dauer von zehn Minuten oder länger, was mindesten ein Sechstel einer Trainingseinheit ausmacht. Zusammengenommen mit Grundgerüst, welches insgesamt eine Dauer von etwa 15-20 aufweist, kommen beide Praktiken-Gruppen bereits auf etwa die Hälfte der Zeit der Trainingseinheit. Fast die Hälfte aller beobachteten Einheiten bestand aus Grundgerüst und Monologe des Lehrers. Auf selbstreferentieller Ebene der Bedeutung können folgende Merkmale zusammengefasst werden:
196 Vgl. TE vom 04.01.2016; TE vom 28.01.2016. 197 Vgl. TE vom 25.01.2016.
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Tabelle 7: Gehen, Drehen, Sitzen. Selbstreferentielle Bedeutungsebene Gehen, Drehen, Sitzen: Selbstreferentielle Bedeutungsebene Die Kommandos des Trainers bzw. des Schulleiters sind die maßgeblichen Impulse, welche die Übungen an- und überleiten. Es liegt eine klare räumliche Differenzierung zwischen Schüler*innen und Trainer vor. Die dominierende Form der räumlichen Anordnung ist die Block-Formation. Die Ästhetik des körperlichen Ausdrucks ist durch die Merkmale Präzision und Gleichförmigkeit gekennzeichnet. Bewegungen sollen natürlich, aber zugleich aufrecht, spannungsvoll und akzentuiert sein. Im Rahmen des Einlaufens herrscht ein ästhetisches Paradigma der geformten Natürlichkeit. Eine gerade aufgerichtete Körperhaltung ist besonders wichtig. Es gibt unterschiedliche Sitzhaltungen entsprechend der formellen Ebene. Langes, aufmerksames Sitzen spielt eine große Rolle. (Körperliches) Strafen wird exemplarisch vorgenommen. Leider kann die Semantik der Ansprachen des Trainers bzw. des Schulleiters aus genannten Gründen nicht berücksichtigt werden. Die Ästhetik der körperlichen Merkmale reiht sich jedoch nahtlos in jene der übrigen Praktiken ein. Die Praktiken-Gruppe ist gekennzeichnet durch eine Ästhetik der kontrollierten Gleichförmigkeit unter den Schüler*innen. In den Bewegungen spielt Natürlichkeit eine Rolle. Es handelt sich beim Laufen nicht etwa um eine Art Stechschritt, es ist aber aufgrund der aufrechten Haltung, der erhöhten Körperspannung und der akzentuierten Bewegungsart mit stilisierter Natürlichkeit gestaltet. Hierarchie und die Autorität des Trainers/des Schulleiters werden auf räumlicher, körperlicher und lautlicher Ebene hergestellt. Dies zeigt sich verdichtet in Monologen des Lehrers, bei denen die Schüler*innen in einer passiven und gleichzeitig aufmerksamen Haltung den Ausführungen des Lehrenden lauschen. Die performative Herstellung einer hierarchischen Differenzierung zeigt sich anhand mehrerer Merkmale. Während die Schüler*innen möglichst unbewegt in einer aufrechten Haltung sitzen, steht der Lehrende und hat damit verbunden auch ein größeres räumliches Aktionspotential. Die Schüler*innen richten schweigend ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrenden, der wiederum zu verschiedenen Themen doziert. Zusätzlich wird seine Autorität durch das exemplarische Bestrafen von Schüler*innen aus- und hergestellt. Strafen ist auch hinsichtlich der Emergenz von Bedeutung interessant. Tatsächlich ist die Bedeutung dieser Praktik nicht nur auf ihre Selbstreferenzialität auf das Strafen an sich zu reduzieren. In der Praxis konnte der Akt des Strafens
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hingegen als ambivalenter Akt beobachtet werden. Dies hing mit der moderaten Stärke der Schläge und mit der fast übertriebenen Reaktion der Schülerin mit lautstarkem Jammern und Wehklagen zusammen. Tatsächlich kann nicht genau gesagt werden, ob es sich ausschließlich um eine Bestrafung gehandelt hat oder ob es sich, zumindest ansatzweise, nicht eher um eine Art ironisierte Aufführung einer Bestrafung gehandelt hat. In der abschließenden Auswertung wird dem Strafen aufgrund der Häufigkeit bei gleichzeitiger Ambivalenz ein eigenes Teilkapitel gewidmet. Davon abgesehen wird auch hier bezüglich der Emergenz von Bedeutung ein Pool an möglichen Bedeutungen angegeben. Wie bereits im Kontext der vorherigen Praktiken-Gruppen erwähnt, sind Assoziationen mit militärischen Praktiken naheliegend. Dies betrifft aufgrund ihrer spezifischen Ästhetik in erster Linie die Praktiken des Einlaufens. Die Praktiken des Sitzens hingegen lassen verstärkt Assoziationen mit „traditionellen“ koreanischen Kulturpraktiken des zeremoniellen Sitzens, etwa im Rahmen der Ahnenverehrung zu Geburtstagen Verstorbener oder zum koreanischen Neujahrsfest Sŏllal zu.198 Die Bedeutung des Trainers bzw. des Schulleiters als (konfuzianischem) Gelehrtem ist ebenfalls denkbar, wenn die Schüler*innen in der Trainingspraxis angehalten sind, den umfangreichen Ausführungen der Lehrenden zu lauschen. Gehen, Drehen, Sitzen: Theatralität und Ritualität Theatralität zeigt sich im Rahmen der Praktiken-Gruppe Gehen, Drehen, Sitzen der Betrachtung nach, in der beschriebenen Stilisierung und Ästhetisierung alltäglicher Praktiken des Sich-Bewegens. Diese theatralisierten Praktiken folgen dem stringenten ästhetischen Paradigma einer vitalen Ordnung, also der Verkörperung und performativen Hervorbringung von vitalen Körpern in harmonischer Ordnung. Das verkörperte Erleben des ästhetisierten Sich-Bewegens, das Wahrnehmen des eigenen Körpers und das Betrachten der anderen Akteur*innen birgt schließlich das Potential in der Praxis, Wirkung auf die Wahrnehmung der Akteur*innen hinsichtlich Theatralität auszuüben, also theatrale Praxis hervorzubringen, indem die Akteur*innen diese als solche wahrnehmen. Damit zusammenhängend besitzen die Praktiken des Gehens, Drehens, Sitzens das Potential für rituelle Erfahrungen. Über das kollektive, rhythmische Sich-Bewegen sind Erfahrungen ganz ähnlich der von Turner beschrieben spontanen Communitas denkbar. 198 Anm.: Beide Praktiken wurden im Rahmen des Forschungsaufenthaltes beobachtet. Auf Einladung des Schulleiters wurde sowohl an einer Zeremonie zum Geburtstag seines verstorbenen Großvaters als auch an den Ahnenzeremonien im Rahmen des Sŏllal-Festes im Kreis seiner Familie teilgenommen.
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5.3.7 Performance(-vorbereitung) Performance(-vorbereitung) beschreibt Praktiken-Ensembles, welche explizit im Hinblick auf Aufführungskontexte praktiziert werden und spezifische Praxen, welche Übungskontexte hinsichtlich institutionalisierter Aufführungen darstellen. Hierunter sind solche Praxen gefasst, die im Allgemeinen unter der Bezeichnung „Probenpraxis“ oder „Rehearsal“199 subsumiert werden können. Praktiken-Ensembles, die ersterer Kategorie zuzuordnen sind, umfassen Breaking, Praktiken des Zerstörens unterschiedlicher Materialien, vornehmlich Holzbretter, und Taekwondance, tänzerische Choreografien unter Einbeziehung Taekwondo spezifischer Techniken. Trainingspraxen der zweiten Kategorie umfassen Probenpraxen, welche sich als Demo-Rehearsal entweder auf Demo-Performances oder als Prüfungsvorbereitung auf Prüfungen beziehen. Im Kontext der übergeordneten Kategorie Performance(-vorbereitung) ist es schwer, genaue Zahlen bezüglich der beobachteten Praxen zu nennen, da die Grenzen zu anderen Trainingspraxen fließend waren. Nichtsdestotrotz soll als Orientierungshilfe eine, wenn auch grobe, Auflistung der Häufigkeit der entsprechenden Praktiken und Praxen geboten werden. Breaking konnte in den Kindergruppen 10x4 Mal beobachtet werden und in der Profigruppe zweimal. Taekwondance konnte in den Kindergruppen insgesamt 9x4 Mal beobachtet werden, in der Profigruppe fünfmal. Demo-Rehearsal konnte in der Kindergruppen aus dem Grund, dass diese Gruppen nicht bei Demo-Performances auftraten, nicht beobachtet werden. In der Profigruppe hingegen wurden diese Praxen sechzehnmal beobachtet. Prüfungsvorbereitung wurde in den Kindergruppen 4x4 Mal beobachtet, in der Profigruppe hingegen mit dreimal ähnlich oft. Während es sich bei Breaking und Taekwondance um ein Ensemble einzelner Praktiken darstellt, handelt es sich bei Demo-Rehearsal und Prüfungsvorbereitung um spezifische Übungspraxen, die Praktiken aus allen bisher vorgestellten Praktiken-Gruppen zu unterschiedlichen Anteilen enthalten. Breaking Beaking-Praktiken 200 umfassen Anordnungen, in deren Zentrum das Zerstören unterschiedlicher Materialien wie z. B. Holzbretter, Dachziegel oder Backsteine mit den eigenen „Körperwaffen“ steht. Dazu werden Techniken aus dem Bereich der Grundtechniken sowie der Fußtechniken verwendet. Während diese Praktiken-Gruppe in der Profigruppe hauptsächlich in die Praxis Demo-Rehearsal 199 Vgl. Schechner 2013, S. 238. 200 Anm.: Kor. Kyŏkp'a (격파, dt. frei übersetzt: brechen, zerbrechen).
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integriert war, stand sie in den Kindergruppen vermehrt als separate Übungspraxis auf dem Trainingsplan. Tatsächlich wurden in den der beobachteten Trainingspraxis jedoch kaum Holzbretter o. ä. zerbrochen. Stattdessen wurden die Techniken mit „Übungsbrettern“ aus Schaumstoff geübt. In den Kindergruppen war die Übungspraxis in erster Linie durch die Graduierung der Schüler*innen determiniert. Die jeweilige Graduierung bestimmte, welche Technik(en) die Schüler*innen verwenden mussten: Sonnal Naeryŏch'igi (손날 내려치기, dt. Handkanten-Abwärtsschlag) oder Tollyŏch'agi für Kŭp-Träger*innen, Ttwiŏapch'agi für die Träger*innen des 1. Poom, Ttwiŏyŏpch'agi für die Träger*innen des 2. Poom und 540 to Tolgaech'agi für die Träger*innen des 3. Poom.201 Üblicherweise wurde die Trainingsgruppe entsprechend den Graduierungen und den damit verbundenen Techniken geteilt. So trainierten etwa alle Kŭp-Träger*innen zusammen im Block, wobei sie ihre Techniken auf Kommando des Trainers ausführten. Dieser oder eine/r seiner Assistent*innen hielt bei den Schüler*innen das Übungsbrett, während die anderen Schüler*innen die Technik ohne Übungsbrett ausführten.202 Alle Poom-Träger*innen hingegen stellte sich in einer Reihe auf und führten nacheinander ihre Technik am Übungsbrett aus, welches vom Trainer oder eine/r seiner Assistent*innen gehalten wurde. Taekwondance Taekwondance vereint als Praktiken-Ensemble Bewegungselemente aus dem Bereich der Grund- und Fußtechniken mit tänzerischen Bewegungen zur Musik. Dieses Praktiken-Ensemble wurde als eigenständige Übungspraxis sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppe beobachtet, wobei es in der Profigruppe auch im Rahmen von Demo-Rehearsal eine Rolle spielte. In den Kindergruppen wurden insgesamt zwei Tänze eingeübt, von denen einer hinsichtlich der Musik und dem Bewegungsrepertoire als „Kindertanz“ bezeichnet werden kann, während der andere hinsichtlich Musik und Bewegungsrepertoire als Tanz für Jugendliche bezeichnet werden kann. 203 Diese Zuschreibungen werden im Rahmen der ästhetischen Analyse genauer argumentiert. Das Üben erfolgte im Block unter Leitung der Trainer oder der Assistenztrainer*innen. 204 In der Profigruppe wurden die Übungspraxen auch von höherrangigen Schüler*innen angeleitet.205 201 Vgl. TE vom 29.01.2016. 202 Vgl. TE vom 25.01.2016. 203 Vgl. TE vom 25.01.2016. 204 Vgl. TE vom 13.01.2016; TE vom 02.02.2016. 205 Vgl. TE vom 09.01.2016.
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Demo-Rehearsal Hierbei handelte es sich um Praxen, welche Proben für konkrete Aufführungssituationen oder Demo-Performances umfassten. In ihnen waren Poomsae, Breaking und Taekwondance sowie in geringerem Ausmaß choreografierte Kämpfe zu einer zusammenhängenden Performance zusammengefasst. In den einzelnen Trainingseinheiten wurde überwiegend der gesamte Performance-Ablauf in der korrekten dramaturgischen Abfolge geprobt, während einzelne Bilder nach Bedarf mehrfach wiederholt wurden. Die übrigen Schüler*innen, die in dem jeweiligen Bild nicht zum Einsatz kamen, saßen jeweils um die Übungsfläche herum an den Wänden.206 Der Trainer bzw. der Schulleiter standen zumeist frontal vor der Gruppe und nahmen Korrekturen überwiegend über Zurufe vor.207 Prüfungsvorbereitung Ähnlich wie Demo-Rehearsal handelte es sich auch bei Prüfungsvorbereitung um Übungspraxen für konkrete Aufführungen. Ebenso umfasste auch die Prüfungsvorbereitung alle bisher vorgestellten Praktiken-Gruppen, der Schwerpunkt lag jedoch, anders als bei Demo-Rehearsal, weniger auf Breaking und Taekwondance, sondern auf der Praktiken-Gruppe Kibondongjak/Poomsae. Zu geringerem Anteil spielten auch Hanbŏn Kyŏrugi, die grundlegenden Fußtechniken und Breaking eine Rolle. In der Praxis waren die Schüler*innen entweder in der gleichen Form wie bei Demo-Rehearsal angeordnet, sodass also ein Teil der Gruppe die Techniken und Sequenzen vorzeigte, während die Übrigen sitzend zuschauten208, oder aber die gesamte Gruppe wurde geteilt, sodass ein Teil vom Trainer überprüft wurde, während die übrigen Schüler*innen unter Anleitung der Assistenztrainer*innen übten209. Performance(-vorbereitung): Performativitäts-ästhetische Spezifizierung In den Kindergruppen ist auf räumlicher Ebene erneut der Block die dominierende Formation. Sowohl in Breaking als auch in Taekwondance sind die Schüler*innen in gleichmäßigen Blöcken aufgestellt, in denen sie sich kollektiv bewegen. Beim Breaking der Yupoomja konnten darüber hinaus dynamische Anordnungen mit ausgedehnten Laufwegen beobachtet werden, welche bereits auf 206 Vgl. TE vom 23.01.2016. 207 Vgl. TE vom 25.01.2016; TE vom 13.02.2016. 208 Vgl. TE vom 29.01.2016. 209 Vgl. TE vom 11.02.2016.
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die räumlichen Anordnungen der Profigruppe hindeuten. Die Fußtechniken Ttwiŏapch'agi und Ttwiŏyŏpch'agi wurden abseits des Blocks in Reihen ausgeführt. 210 Eine solche räumliche Differenzierung zwischen Schüler*innen fand sich auch in der Praxis der Prüfungsvorbereitung, in der parallel ein Aufführungsbereich und ein Übungsbereich bestand. In dem verhältnismäßig großen Aufführungsbereich stand der Trainer, während die Schüler*innen entsprechend ihrer Graduierung vor ihm in einer Reihe aufgestellt waren und ihr Prüfungsprogramm vorführten. In dem Übungsbereich standen die übrigen Schüler*innen und übten ihr entsprechendes Prüfungsprogramm unter Anleitung der Assistenztrainer*innen. 211 Auffällig war, dass der Aufführungsbereich mit etwa zwei Drittel zu einem Drittel deutlich größer war als der Übungsbereich, in dem sich dicht gedrängt die übrigen Schüler*inne befanden. Bei Demo-Rehearsal der Profigruppe bestand ebenfalls eine räumliche Unterscheidung der Schüler*innen. Hier bestand sie in der Anordnung der agierenden Schüler*innen vor der Frontseite des Trainingsraumes, entsprechend den jeweiligen Bildern in unterschiedlicher Formation, während die nicht-aktiven Schüler*innen an den Seitenwänden des Trainingsraumes saßen. Die Formationen der agierenden Schüler*innen waren durch Dynamik in den permanent wechselnden Anordnungen geprägt. Dazu zu zählen ist die Block-Formation oder eine ähnlich gleichmäßige geometrische Formation wie das Dreieck. Darüber hinaus umfassten die Anordnungen unterschiedliche Formen von Reihen und Linien und bei bestimmte Formen des Breaking mit Ausnahme-Fußtechniken, punktuelle Positionierungen mit weiten geradlinigen, sich teilweise kreuzenden, Bewegungsvektoren. 212 Der Trainer stand in diesen Formationen entweder zentral vor der Gruppe der agierenden Schüler*innen213 oder abseits an die Wand gelehnt. In den Kindergruppen sind auf körperlicher Ebene im Rahmen von Breaking, Taekwondance und Prüfungsvorbereitung Einzeltechniken aus dem Technikpool der Grundtechniken und den damit einhergehenden ästhetischen Merkmalen präsent. Beim Breaking der Poom-Träger*innen spielen darüber hinaus auch Ausnahme-Fußtechniken eine Rolle, was auf eine Orientierung in Richtung der Profigruppe hindeutet. Im Rahmen von Taekwondance bilden neben Grundtechniken unterschiedliche tänzerische Formen das Bewegungsrepertoire dieses Praktiken-Ensembles. In der Praxis konnten in der Kindergruppe zwei Choreografien beobachtet werden, die sich hinsichtlich der Musik und dem Bewegungsrepertoire unterschieden. Die erste Choreografie, dem Musikstück entsprechend 210 Vgl. TE vom 29.01.2016. 211 Vgl. TE vom 11.02.2016. 212 Vgl. TE vom 11.02.2016. 213 Vgl. TE vom 25.01.2016.
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als „Hello, Hello“ bezeichnet, umfasste neben rhythmisch verknüpften Grundtechniken und gestischen Illustrationen des Musiktextes wie etwa Winken unterschiedliche rhythmische Bewegungen wie stationäres Laufen, Hüpfen oder Hampelmänner. Diese Bewegungen wurden kollektiv im Rhythmus der Musik ausgeführt. Die zweite Choreografie, dem Musikstück entsprechend als „Bang Bang Bang“214 bezeichnet, umfasste ein ähnliches Bewegungsrepertoire wie die erste Choreografie, doch waren hier die Bewegungen entsprechend der Musik weniger kindlich, sondern erinnerten stärker an Tanzbewegungen, die aus Choreografien bekannter K-Pop-Gruppen215 stammten und Elemente verschiedener Ausformungen von Jazz-, Street- und Urban Dance vereinten.216 Einzelne Bewegungen wie etwa die zur Pistole geformte Hand waren der Choreografie 217 der Musikgruppe entnommen. Bewegungsästhetisch können die Choreografien des Taekwondance somit als hybride Formen aus für Taekwondo spezifischen Techniken und Tanzformen aus K-Pop-Choreografien bezeichnet werden. Einer skillful performance entsprechend bewegt sich die gesamte Gruppe im Rahmen dieser Tänze synchron als Einheit, was in der Praxis jedoch, aufgrund der erhöhten Komplexität der Bewegungen, nicht erreicht werden konnte. Mit Ausnahme des Breaking der Poom-Träger*innen handelte es sich bei den Praktiken der Kindergruppen, Breaking, Taekwondance und Prüfungsvorbereitung, um kollektive und gleichförmige Bewegungsformen der performativen Hervorbringung eines gemeinsamen Kollektivkörpers. Alle bisher genannten Merkmale sind überwiegend auch auf die Praxis der Profigruppe übertragbar. Breaking als eigenständige Übungspraxis konnte nicht 214 Die Choreografie wird zum Musikstück „뱅 뱅 뱅“ („Bang Bang Bang“) der koreanischen Musikgruppe Big Bang getanzt. 215 K-Pop bezeichnet die gegenwärtige populäre Musik aus Südkorea, die sich in ihrer aktuellen Form in der Mitte der 1990er Jahre herauszubilden begann. Protagonist dieser neuen Musikrichtung war die Musikgruppe Seo Taiji and Boys, die in ihrer Musik einheimische Einflüsse sowie Hip-Hop, elektronische Musik, Reggae und andere Stilrichtungen vereinten (Oh 2017, S. 444). Als global rezipiertes populärkulturelles Phänomen zeichnet sich K-Pop durch seinen hybriden Charakter aus, indem verschiedene Musikstile vereint werden. Zentral sind außerdem synchrone Gruppentänze mit ausgefeilten Choreografien. Oh schreibt dazu: „K-pop group dances consist of many complex gestures and systematic formations, which are difficult for band members to master unless they exert genuine effort to learn each move and archieve harmony and perfect synchrony […].” (Oh 2017, S. 446) 216 Vgl. TE vom 26.01.2016. 217 Vgl. Big Bang – „뱅 뱅 뱅“ („Bang Bang Bang“), 00:00:59-00:01:13, https://ww w.youtube.com/watch?v=2ips2mM7Zqw, abgerufen: 10.06.2020.
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beobachtet werden, sondern war ausschließlich in die Praxis der DemoRehearsals eingegliedert. In diesem Zusammenhang konnten in erster Linie Ausnahme-Fußtechniken beobachtet werden, darunter insbesondere fortgeschrittene Fußtechniken mit möglichst vielen Drehungen und großen Sprunghöhen. Für Techniken wie Ttwiŏapch'agi und Ttwiŏyŏpch'agi wurden dazu die Bretter von Schüler*innen gehalten, die währenddessen auf den Schultern anderer Schüler*innen saßen, um so die Tritthöhe zu erhöhen. Nicht nur Höhe und Anzahl der Drehungen waren wichtige Merkmale. Darüber hinaus konnte auch das konsekutive Brechen mehrerer Bretter mit unterschiedlichen Techniken oder in unterschiedlichen Höhen in einer rhythmischen Anordnung beobachtet werden. Taekwondance der Profigruppe wies stärkere Parallelen zur zweiten Choreografie der Kindergruppen „Bang Bang Bang“ auf. In den Choreografien der Profigruppe war eine Verbindung zu Tanzformen des K-Pop anhand unterschiedlicher choreografischer Bewegungselemente noch deutlicher erkennbar. Diese hybride Verbindung wurde zusätzlich mit akrobatischen Elementen wie Salti angereichert. Interessanterweise konnten selbst in den tänzerischen Choreografien Passagen des kollektiven Marschierens beobachtet werden. Sowohl in der Profigruppe als auch in den Kindergruppen waren Prüfungsvorbereitung und DemoRehearsal für die nicht aktiven Schüler*innen mit vielem Sitzen und Passivität verbunden, was den jüngeren Kindern sehr schwerfiel. Auf unruhiges Verhalten in diesen Kontexten erfolgten prompt eindringliche Ermahnungen durch den Trainer.218 Hinsichtlich der körperlichen Präsenz des Trainers werden auch im Rahmen dieser Praktiken Übereinstimmungen mit bisherigen Beobachtungen festgestellt. So wurde die Mimik auch hier als minimalistisch beobachtet. Ebenso minimalistisch war auch die Gestik, welche sich zumeist auf vor der Brust verschränkte Arme begrenzte.219 Vereinzelt verwendete der Trainer die rechte Hand, um Aussagen mehr Nachdruck zu verleihen. 220 Darüber hinaus konnte der Trainer im Training der Profigruppe locker auf eine Papprolle gestützt beobachtet werden, welche mehrfach als Instrument des Strafens zum Einsatz kam. Diese wurde überwiegend für leichte bis mittlere Schläge auf das Hinterteil gebraucht, wenn Übungen nicht entsprechend ausgeführt wurden.221 In den Kindergruppen, wenn auch ausschließlich bei den älteren Schüler*innen im Alter von etwa 13-15 Jahren, wurde beobachtet, wie der Trainer bei Fehlverhalten einzelnen Schüler*innen auftrug, die Missetäter*innen zu schlagen oder zu treten. Dies wirkte 218 Vgl. TE vom 11.02.2016. 219 Vgl. TE vom 13.01.2016; TE vom 18.01.2016. 220 Vgl. TE vom 25.01.2016. 221 Vgl. TE vom 13.01.2016.
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nicht übermäßig stark oder schmerzhaft, sondern schien sich ambivalent zwischen Spiel und Ernst zu bewegen. 222 Eine solche Ambivalenz zwischen Spaß und Ernst wurde mehrfach beobachtet. Insbesondere in der Profigruppe wurde auch im Rahmen dieser Praktiken-Ensembles beobachtet, wie der Trainer aus seiner Rolle fiel, mit den Schüler*innen scherzte, diese ärgerte und mit ihnen spielerisch raufte. Dabei blieb der Trainer jedoch stets in einer dominanten Position, während sich die Schüler*innen zwar wehrten, aber sich nicht so sehr widersetzten, als dass der Trainer in eine passive oder rezessive Position geriet. 223 In einer Trainingseinheit konnte die seltene Situation beobachtete werden, wie der Schulleiter Demo-Rehearsal der Profigruppe leitete. Seine Mimik war minimalistisch und seine Gestik beschränkte sich hauptsächlich auf vor der Brust verschränkte Arme. Jedoch korrigierte er in dieser Einheit stärker als die Trainer. Er korrigierte taktil, während der laufenden Rehearsal-Performance, wobei die übrigen aktiven Schülerinnen ihn in ihren Aktionsräumen berücksichtigen mussten. Vereinzelt demonstrierte er einzelne fortgeschrittene Fußtechniken, jedoch lediglich schemenhaft angedeutet.224 Die lautliche Ebene ist im Rahmen dieser Praktiken-Gruppen von besonderer Bedeutung. Im Rahmen von Breaking als eigenständiger Übungspraxis und der Prüfungsvorbereitung dienen die Kommandos des Trainers wieder als ordnende Impulse. Diese waren auch hier wieder besonders laut und akzentuiert. Vereinzelt wurde beobachtet, dass der Trainer die letzte Silbe eines Kommandos betonte, indem er die Lautstärke erhöhte und/oder die Silbe besonders in die Länge zog.225 Bei Anwesenheit des Schulleiters konnten auch seine Kommandos und verbalen Korrekturen als ähnlich laut, eindringlich und akzentuiert wahrgenommen werden. Dem gegenüber stand seine abschließende Ansprache innerhalb derselben Trainingseinheit, welche in einer ruhigen, sanften Tonlage gehalten wurde.226 In beiden Kontexten spielte der laute und kräftige Kampfschrei wieder eine signifikante Rolle. In der Praxis Demo-Rehearsal war der Kampfschrei im Vergleich zu anderen Anordnungen nicht nur besonders laut, sondern auch besonders in die Länge gezogen. Im Rahmen von Taekwondance und DemoRehearsal war es die Musik, welche eine zentrale Rolle unter den ästhetischen Gestaltungselementen als Untermalung und als strukturierendes Element einnahm. Abgesehen von dem Lied „Hello, Hello“, bei dem es sich dem musikalischen Arrangement und der Intonation des Gesangs nach um ein Kinderlied 222 Vgl. TE vom 18.01.2016. 223 Ebd. 224 Vgl. TE vom 13.02.2016. 225 Vgl. TE vom 25.01.2016. 226 Vgl. TE vom 13.02.2016.
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handelte, 227 waren alle Musikstücke im Rahmen von Taekwondance Lieder bekannter Interpret*innen des K-Pop.228 Darüber hinaus war die gesamte Inszenierung der Demo-Performance durch Musik begleitet, die sich je nach Wechsel der Bilder ebenfalls änderte. Zu diesen Musikstücken gehörten je nach Dynamik der Bilder langsame, aber sehr rhythmische Passagen, ruhige, fast meditative Passagen mit ostasiatischen Instrumenten, bis hin zu sehr dynamischen Passagen mit klar erkennbaren populär-musikalischen Einflüssen. Lediglich zwei kurze Passagen waren nicht von Musik begleitet. Hierbei handelte es sich um besonders schwierige Aktionen, deren körperliche Ausführung durch die Abwesenheit der Musik stärker zu Geltung gebracht wurde. Die zeitliche Ebene betreffend sind auch im Kontext dieser Praktiken und Praxen zunächst die Häufigkeit und Dauer innerhalb der beobachteten Trainingspraxis relevant. So war Breaking als eigenständige Übungspraxis in der Profigruppe mit zwei Malen nur marginal vertreten, wurde in den Kindergruppen mit 10x4 Mal jedoch häufig beobachtet. Taekwondance wurde sowohl in den Kindergruppen mit 9x4 Mal als auch in der Profigruppe mit fünfmal mäßig häufig praktiziert. Prüfungsvorbereitung als zusammenhängende Übungspraxis wurde im Rahmen der Kindergruppen 4x4 Mal und im Rahmen der Profigruppe dreimal beobachtet und wurde somit in beiden Fällen eher seltener praktiziert. Demo-Rehearsal schließlich wurde in den Kindergruppen nicht beobachtet, in der Profigruppe hingegen sechzehnmal. Es war damit eine der Anordnungen, welche mit Abstand am häufigsten in der Profigruppe beobachtet wurde. Auf der selbstreferentiellen Ebene von Bedeutung werden unter Betrachtung der vorhergegangenen Analyseschritte jeweils für die Kindergruppen und die Profigruppe folgende Merkmale zusammengefasst: Tabelle 8: Performance(-vorbereitung). Selbstreferentielle Bedeutungsebene Performance(-vorbereitung): Selbstreferentielle Bedeutungsebene Kindergruppen Der Block ist die dominierende räumliche Ordnung.
Profigruppe Der Block nimmt als räumliche Ordnung eine wichtige Rolle ein, darüber hinaus spielen jedoch unterschiedliche dynamisch wechselnde Ordnungen eine zentrale Rolle.
227 Vgl. TE vom 26.01.2016. 228 Anm.: Dazu gehörten Lieder der Gruppe BIGBANG („Bang Bang Bang“), GD X TAEYANG („GOOD BOY“) und 블락비 바스타즈 (BLOCK B - BASTARZ) (품행제로 (Zero For Conduct)).
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Es herrscht überwiegend eine konstante räumliche Differenzierung von Trainer und Schüler*innen. Alle beschriebenen Praktiken beinhalten Einzeltechniken, Sequenzen und Bewegungsformen aus dem Bereich der Grundtechniken und deren ästhetische Merkmale. Das Zerstören widerständiger Materialien wird praktiziert. Beim Breaking der Poom-Träger*innen spielen auch Ausnahme-Fußtechniken und entsprechend deren ästhetische Merkmale eine Rolle. Der Kampfschrei ist besonders wichtig und sollte besonders laut sein.
Im Rahmen von Taekwondance wurde eine Hybridisierung von für Taekwondo spezifischen Bewegungen, Tanz und Kinder- bzw. K-Pop-Musik beobachtet. Die Hexis der Trainer bzw. des Schulleiters umfasste auch hier minimale Mimik und Gestik mit der typischen Pose der vor der Brust verschränkten Arme. Die Art und Weise der Verbalen Intonation ist laut und akzentuiert. Nicht-aktive Schüler*innen warten sitzend auf ihren Einsatz.
Es wird körperliches Strafen praktiziert. Die Atmosphäre ist dabei ambivalent.
Es herrscht überwiegend eine konstante räumliche Differenzierung von Trainer und Schüler*innen. Alle beschriebenen Praktiken beinhalten Einzeltechniken, Sequenzen und Bewegungsformen aus dem Bereich der Grundtechniken und deren ästhetische Merkmale. Das Zerstören widerständiger Materialien wird praktiziert. Im Rahmen von Demo-Rehearsal spielen Ausnahme-Fußtechniken und entsprechend deren ästhetische Merkmale eine wichtige Rolle. Nicht das Zerbrechen möglichst widerstandsfähiger Materialien steht im Mittelpunkt, sondern das kunstvolle Zerbrechen weniger widerstandsfähiger Materialien. Musik ist ein wichtiger stilistischer Faktor. K-Pop spielt dabei eine zentrale Rolle. In vielen Choreografien werden für Taekwondo spezifische Bewegungen mit populären tänzerischen Bewegungen kombiniert.
Der Kampfschrei ist omnipräsent und sollte besonders laut sein. Im Rahmen von Demo-Rehearsal ist er zudem besonders in die Länge gezogen. Die Hexis der Trainer bzw. des Schulleiters umfasste auch hier minimale Mimik und Gestik mit der typischen Pose der vor der Brust verschränkten Arme. Die Art und Weise der verbalen Intonation ist laut
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und akzentuiert. Der Schulleiter zeigte jedoch auch Merkmale väterlichen Verständnisses. Nicht-aktive Schüler*innen warten sitzend auf ihren Einsatz. Es wird körperliches Strafen praktiziert. Die Atmosphäre ist dabei ambivalent. Der aktive Trainer fällt mehrfach aus seiner Rolle und albert mit den Schüler*innen. Trotzdem ist das hierarchische Verhältnis klar erkennbar. Unter Betrachtung der Praktiken-Ebene lassen sich auch hier ähnlich den bisher untersuchten Praktiken zunächst im Rahmen der Kindergruppen klare Ordnung, Synchronizität und Kollektivität als zentrale Merkmale herausarbeiten. Individuelle und kollektive Stärke spielen eine wichtige Rolle, treten aber in der Profigruppe gegenüber Dynamik und Athletizität in den Hintergrund. Mögliche Langeweile, etwa während des passiven Sitzens, ist zu ertragen. Klare hierarchische Verhältnisse zwischen Trainern und Schulleiter und Schüler*innen werden räumlich, körperlich und lautlich hervorgebracht. Körperliches Strafen ist dahingehend ein zulässiges Mittel. Dieser konservativen Konzeption steht eine generelle Offenheit populärkultureller Medien gegenüber. Auf der Ebene der Emergenz von Bedeutung finden sich ähnliche mögliche Motive wie in den bislang untersuchten Praktiken. Mögliche Assoziationen mit militärischen Praktiken gehören dazu. Zu diesem potenziellen Bild tragen die räumlichen, körperlichen und lautlichen Aspekte von Stärke, Gleichförmigkeit und hierarchischer Untergliederung bei. Eben diese Merkmale können jedoch auch Assoziationen mit Motiven der „traditionellen“ koreanischen Kultur hervorbringen, darunter Aspekte der hierarchischen Untergliederung als zentrale Merkmale einer (neo-)konfuzianistischen Werteethik. Im Rahmen von DemoRehearsal tragen hierzu auch musikalische Stilelemente bei, die unter anderem einer orientalistisch wirkenden ästhetischen Konzeption folgen. Daneben finden sich, stärker als im Rahmen der übrigen Praktiken-Ensembles, potenzielle Assoziationen mit aktuellen populärkulturellen Phänomenen in Südkorea. Sowohl die choreografischen Anordnungen im Rahmen von Taekwondance und DemoRehearsal als auch deren musikalische Begleitung weisen deutliche Referenzen zu aktuellen populärkulturellen Trends auf. So werden nicht nur aktuelle Musik-
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stücke verwendet, sondern auch zentrale Bewegungselemente aus den entsprechenden Musikvideos in die körperliche Darbietung integriert. Performance(-vorbereitung): Theatralität und Ritualität Da Performance(-vorbereitung) Praktiken aller bisher vorgestellten PraktikenEnsembles beinhaltet, können deren Implikationen bezüglich Theatralität auch hier Anwendung finden. Darüber hinaus ist die Rolle der Musik in diesem Kontext besonders hervorzuheben. Eine weitere Qualität ergibt sich aus der räumlichen Anordnung der Schüler*innen, welche teilweise im Rahmen von Prüfungsvorbereitung und ganz besonders im Rahmen von Demo-Rehearsals beobachtet werden konnte. Durch die sitzende Anordnung der nicht-aktiven Schüler*innen um die aktiven Schüler*innen herum wird auf Basis der räumlichen Anordnung ein Performer*inZuschauer*in-Verhältnis begünstigt. Die räumliche Anordnung ist sicherlich kein Garant für ein solches, da die sitzenden Schüler*innen die potenzielle Möglichkeit haben, nicht zuzuschauen, sondern sich zu unterhalten oder in Gedanken zu versinken. In der Kombination mit Ausnahme-Techniken sowie lautlicher Hervorhebung durch Musik und Kampfschrei jedoch, ist eine Lenkung der Aufmerksamkeit hin zu den aktiven Schüler*innen durchaus möglich. Insbesondere dann, wenn sich Schüler*innen mit einer besonderen Präsenz, hervorgerufen durch ihre skillfull performance, unter den aktiven Schuler*innen befinden. Durch die räumliche Trennung der Schüler*innen ist fraglich, ob hier Ritualität in ähnlicher Form wirken kann wie im Rahmen der der bisherigen Praktiken. 5.3.8 Freies Training Das freie Training ist eine Praxis, welche ausschließlich in der Profigruppe beobachtet werden konnte. Im Rahmen der Beobachtungen handelte es sich in einigen Fällen um Abschnitte innerhalb der Trainingseinheit, in denen die Schüler*innen einzeln oder in kleinen Gruppen bestimmte Techniken oder komplexere Choreografien übten.229 Diese eingeschobenen Episoden des freien Trainings dauerten etwa 20-30 Minuten. 230 In den meisten Fällen jedoch war das freie Training an das Ende der jeweiligen Trainingseinheit gelegt. Sofern es eine formelle Verabschiedung gab – dies war nicht immer der Fall – fand das freie Training nach dieser Verabschiedung und somit formal außerhalb der regulären 229 Vgl. TE vom 29.12.2015; TE vom 27.01.2016; TE vom 28.01.2016; TE vom 11.12.2016; 12.02.2016; TE vom 16.02.2016; TE vom 17. 02.2016. 230 Vgl. TE vom 25.01.2016; 27.01.2016.
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Trainingszeit statt. Während das reguläre Training abends bis etwa 22:30 Uhr dauerte, so konnte das freie Training im Anschluss noch bis etwa 23:30 Uhr dauern.231 Gemeinsam war allen Formen des freien Trainings, dass sie nicht vom Trainer geleitet wurden. Stattdessen handelte es sich entweder um Übungsformen, in denen die Schüler*innen selbständig trainierten oder aber ältere bzw. erfahrenere Schüler*innen die jüngeren oder weniger erfahreneren trainierten.232 Dabei war die formell-hierarchische Untergliederung der Schüler*innen zweitrangig. Ausschlaggebend waren stattdessen die Fähigkeiten bezüglich konkreter Techniken und Sequenzen.233 In den überwiegenden Fällen fielen jedoch höhere Graduierung und höheres technischen Können zusammen. Freies Training: Performativitäts-ästhetische Spezifizierung Bezüglich der räumlichen Ebene ist festzuhalten, dass keinerlei formelle Struktur zu beobachten war. Natürlich wies der performative Raum eine strukturelle Gliederung auf, jedoch war diese situativ unterschiedlich und in keinem Fall vergleichbar mit der wiederkehrenden regelmäßigen räumlichen Ordnung der regulären Trainingsanordnungen. Wiederkehrend war jedoch die paarweise Anordnung von jeweils Lehrenden und Übenden. Auf körperlicher Ebene können ebenso wenig bestimmte wiederkehrende Merkmale festgehalten werden. Ähnlich Prüfungsvorbereitung und Demo-Rehearsal handelte es sich bei Freies Training um ein Amalgam verschiedener Taekwondo-Praktiken. Ein Unterschied lässt sich jedoch bezüglich des freien Trainings innerhalb der formellen Trainingseinheit und außerhalb dieser feststellen. Während in den Abschnitten innerhalb der regulären Trainingseinheit bestimmte Techniken durch den Trainer oder den Schulleiter vorgegeben wurden234 (diese hingen mit den individuellen Parts in der Demo-Performance zusammen), so gab es solche Vorgaben beim freien Training außerhalb der regulären Trainingszeit nicht. Das Üben vermischte sich hier mit zwanglosem Plaudern und ähnlich formlosen Interaktionen. Auf lautlicher Ebene sind ebenso wenig wiederkehrende Regelmäßigkeiten auszumachen wie im Rahmen der bisherigen Analyse. Jedoch wurde teilweise beobachtet, dass, sofern Schüler*innen das Trainieren von anderen Schüler*innen übernahmen, diese beim Korrigieren vielfach eine autoritäre Intonation annahmen.235 Bezüglich der zeitlichen Ebene ist interessant, dass das freie Trai231 Vgl. TE vom 01.02.2016; 11.02.2016. 232 Vgl. TE vom 26.01.2016. 233 Vgl. TE vom 12.02.2016. 234 Vgl. TE vom 11.02.2016 235 Vgl. TE vom 26.01.2016.
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis | 265
ning in der Praxis gemeinsam mit Demo-Rehearsal am häufigsten beobachtet wurde. Insbesondere das freie Training außerhalb der regulären Trainingszeit ist zeitlich betrachtet als fundamentaler Bestandteil der Trainingspraxis zu bezeichnen. Dieses nicht-formelle Training hatte dabei mit bis zu einer Stunde eine signifikante Dauer. Die Dauer war jedoch, anders als beim regulären Training, nicht formell festgelegt. So begann sich die Trainingsgruppe ab einer gewissen Zeit langsam aufzulösen. Den Beginn machten immer die jüngsten Schüler*innen, die manchmal bereits direkt nach Ende des regulären Trainings den Trainingsraum verließen. Ab einem gewissen Zeitpunkt verließen auch die älteren Schüler*innen langsam den Trainingsraum, um sich umzuziehen. Gleichzeitig begannen die rangniedrigeren der älteren Schüler*innen den Trainingsraum zu putzen. Nachdem der Trainingsraum geputzt war und sich alle Schüler*innen und Trainer umgezogen hatten, verließen sie gemeinsam die Schule. Bezüglich der Bedeutung wird argumentiert, dass das freie Training eine Anti-Struktur zur regulären Trainingspraxis darstellt. Zwar wird auf Praktiken des Trainings Bezug genommen, diese werden jedoch in einem nicht-formellen Kontext praktiziert. 236 Während die hierarchischen Strukturen des regulären Trainings aufgeweicht werden, indem nicht der Trainer die ordnende, strukturgebende Macht innehat, zeichnen sich jedoch gleichzeitig bestimmte Übertragungen aus dem regulären Training ab. Schüler*innen, die im regulären Training keine strukturgebende Macht besitzen, bekommen diese nun im freien Training. Gleichzeitig sind mimetische Vorgänge beobachtbar, wenn nun lehrende Schüler*innen ein ähnlich autoritäres Verhalten aufweisen wie der Trainer während des regulären Trainings. Freies Training: Theatralität und Ritualität Inwiefern im Rahmen des freien Trainings von Theatralität gesprochen werden kann, ist nicht ganz einfach zu klären. Zunächst wirkt es, als sei die Praxis des freien Trainings das Gegenteil zur potenziell theatralen Praxis des regulären Trainings. Gemäß den theoretischen Vorüberlegungen in Kapitel 3 schließt die Abwesenheit einer inszenatorischen Rahmung das Emergieren von Theatralität jedoch nicht aus. Das Emergieren theatraler Praxis kann durch das Wirken theatraler Praktiken hervorgebracht werden, welche wiederum auf Basis einer inszenatorischen Praxis vorgegeben werden können. Diese ist jedoch weder als notwendige noch als hinreichende Vorbedingung zu verstehen. Theatralität kann demnach durchaus in der Praxis des freien Trainings performativ situativ dadurch entstehen, dass auch hier für Taekwondo typische theatrale Praktiken auf 236 Vgl. TE vom 29.12.2016.
266 | Im Gleichschritt des Dao
Basis von Ausnahme-Techniken praktiziert werden. In manchen Situationen, in denen Schüler*innen besonders schwierige Bewegungen übten, wurde vereinzelt beobachtet, dass andere Schüler*innen in ihrem eigenen Training pausierten, um diesen beim Üben ihrer schwierigen Bewegungen zuzuschauen. Hierbei lässt sich ganz klar von einer theatralen Praxis sprechen. Wenn Theatralität nicht an die inszenatorische Rahmung des regulären Trainings gebunden ist, kann dementsprechend auch Ritualität im Sinne von Turners spontaner Communitas im Rahmen des freien Trainings wirksam werden? Ein wichtiger Punkt ist hier die Konzeption des freien Trainings als Anti-Struktur zum regulären Training durch die Aufhebung hierarchischer Differenzierungen unter den Akteur*innen. Dies wurde in der Praxis in Bezug auf die Trainer beobachtet. Im Rahmen des freien Trainings agierten sie ähnlich, wie wiederholt im Rahmen der Mit-Ch'agi-Praktiken beobachtet wurde. Statt aus der Distanz heraus die Praxis anzuleiten, waren sie in diesen Situationen mitten im Geschehen, nicht nur räumlich, sondern auch körperlich. Im Rahmen des freien Trainings wurde wiederholt beobachtet, wie einer der Trainer mit einigen älteren Schüler*innen gemeinsam trainierte. Es handelte sich nicht um eine vollständige Aufhebung der hierarchischen Differenzierung, jedoch um eine Verflachung dieser, was zumindest punktuell und tendenziell rituelle Wirkung hinsichtlich spontaner Communitas entwickelt haben könnte.
5.4
ZWISCHENBILANZ
Auf Basis der untersuchten Trainingseinheiten konnten dreißig PraktikenEnsembles festgelegt werden, die den Rahmen der Trainingspraxis bildeten. Diese Praktiken-Ensembles wurden in acht Praktiken-Gruppen gegliedert. Diese acht sind: Grundgerüst, Fußtechniken, Kibondongjak/Poomsae, Kyŏrugi, Undong, Gehen-Drehen-Sitzen, Performance(-Vorbereitung) und Freies Training. Die Trainingspraxis der Kindergruppen unterschied sich untereinander in den beobachteten Praktiken-Ensembles unwesentlich, da der Aufbau der Trainingseinheiten je Unterrichtstag in allen Gruppen gleich war. Die Trainingspraxis der Profigruppen unterschied sich von jener der Kindergruppen aufgrund der vorkommenden Praktiken-Ensembles und ihrer performativen Entfaltung enorm. Die konstitutiven Praktiken-Ensembles wurden mit Zugängen und Methoden der Aufführungsanalyse hinsichtlich ihrer spezifischen Medialität untersucht. In Anlehnung an Fischer-Lichtes Ästhetik der Performativen erfolgte die Untersuchung anhand der Kategorien Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit. Anhand dieser Kategorien wurde die durch die entsprechenden Praktiken-Ensembles gerahmte und interkorporal hervorgebrachte Praxis unter-
266 | Im Gleichschritt des Dao
Basis von Ausnahme-Techniken praktiziert werden. In manchen Situationen, in denen Schüler*innen besonders schwierige Bewegungen übten, wurde vereinzelt beobachtet, dass andere Schüler*innen in ihrem eigenen Training pausierten, um diesen beim Üben ihrer schwierigen Bewegungen zuzuschauen. Hierbei lässt sich ganz klar von einer theatralen Praxis sprechen. Wenn Theatralität nicht an die inszenatorische Rahmung des regulären Trainings gebunden ist, kann dementsprechend auch Ritualität im Sinne von Turners spontaner Communitas im Rahmen des freien Trainings wirksam werden? Ein wichtiger Punkt ist hier die Konzeption des freien Trainings als Anti-Struktur zum regulären Training durch die Aufhebung hierarchischer Differenzierungen unter den Akteur*innen. Dies wurde in der Praxis in Bezug auf die Trainer beobachtet. Im Rahmen des freien Trainings agierten sie ähnlich, wie wiederholt im Rahmen der Mit-Ch'agi-Praktiken beobachtet wurde. Statt aus der Distanz heraus die Praxis anzuleiten, waren sie in diesen Situationen mitten im Geschehen, nicht nur räumlich, sondern auch körperlich. Im Rahmen des freien Trainings wurde wiederholt beobachtet, wie einer der Trainer mit einigen älteren Schüler*innen gemeinsam trainierte. Es handelte sich nicht um eine vollständige Aufhebung der hierarchischen Differenzierung, jedoch um eine Verflachung dieser, was zumindest punktuell und tendenziell rituelle Wirkung hinsichtlich spontaner Communitas entwickelt haben könnte.
5.4
ZWISCHENBILANZ
Auf Basis der untersuchten Trainingseinheiten konnten dreißig PraktikenEnsembles festgelegt werden, die den Rahmen der Trainingspraxis bildeten. Diese Praktiken-Ensembles wurden in acht Praktiken-Gruppen gegliedert. Diese acht sind: Grundgerüst, Fußtechniken, Kibondongjak/Poomsae, Kyŏrugi, Undong, Gehen-Drehen-Sitzen, Performance(-Vorbereitung) und Freies Training. Die Trainingspraxis der Kindergruppen unterschied sich untereinander in den beobachteten Praktiken-Ensembles unwesentlich, da der Aufbau der Trainingseinheiten je Unterrichtstag in allen Gruppen gleich war. Die Trainingspraxis der Profigruppen unterschied sich von jener der Kindergruppen aufgrund der vorkommenden Praktiken-Ensembles und ihrer performativen Entfaltung enorm. Die konstitutiven Praktiken-Ensembles wurden mit Zugängen und Methoden der Aufführungsanalyse hinsichtlich ihrer spezifischen Medialität untersucht. In Anlehnung an Fischer-Lichtes Ästhetik der Performativen erfolgte die Untersuchung anhand der Kategorien Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit. Anhand dieser Kategorien wurde die durch die entsprechenden Praktiken-Ensembles gerahmte und interkorporal hervorgebrachte Praxis unter-
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis | 267
sucht. Konkret wurden die räumlichen Relationen der Akteur*innen in den jeweiligen Praktiken-Ensembles und ihre Bewegungen im Verhältnis zueinander untersucht. Des Weiteren wurde hinsichtlich der körperlichen Ebene der ästhetische Ausdruck von Taekwondo-Techniken und -Choreografien und die damit verbundenen Bewegungsideale ebenso wie die Mimik, Bewegungsdynamik und Körperhaltung der Akteur*innen(gruppen) untersucht. Auf lautlicher Ebene wurde die Sprache der Akteur*innen, ihre Intonation, Syntax und in geringerem Ausmaß die standardisierte Wortwahl und Wortform innerhalb der jeweiligen Praktiken-Ensembles untersucht. Auch außersprachliche Ausdrücke wie der Kampfschrei und weitere lautliche Aspekte wie Geräusche und etwaige musikalische Untermalung wurden berücksichtigt. Unter zeitlichen Aspekten wurden Häufigkeit, Dauer und Rhythmus der Praktiken-Ensembles und ihrer Bestandteile untersucht. Auf dieser Basis wurde schließlich die Ebene der Bedeutung in den Blick genommen. Die Bedeutungsebene wurde unter den Gesichtspunkten der Normen, Werte und Ideale betrachtet. Dabei wurde zwischen selbstreferentieller Bedeutung und der Emergenz von Bedeutung unterschieden. Auf selbstreferentieller Ebene wurde versucht den Blickwinkel auf die materielle Durchführung zu richten und die Interpretation hinsichtlich der verkörperten Normen, Werte und Ideale dabei so allgemein wie möglich zu halten. Auf der Ebene der Emergenz von Bedeutung wurden darüber hinaus mögliche Begriffe, Konzepte, Narrative und Diskurse vorgestellt, im Kontext derer in der Praxis Bedeutung individuell im Spannungsverhältnis von Diskurs, Habitus und Leiblichkeit hervorgebracht wird. Diese wurde hier bewusst kurz gehalten, um in Kapitel 6 noch einmal genauer thematisiert zu werden. Dort wird auch der Bezug zur Analyse des Raumes und der Akteur*innen hergestellt. An dieser Stelle erfolgt eine komprimierte Darstellung der Normen, Werte und Ideale die auf Basis der selbstreferentiellen Bedeutungsebene herausdestilliert werden konnte. Die detaillierte Darstellung der Grundlagen, auf denen diese Zusammenstellung basiert, ist gebündelt unter der Analyse der jeweiligen Praktiken-Gruppen (Abschnitte 5.3.1-5.3.8) zu finden.
268 | Im Gleichschritt des Dao
Tabelle 9: Taekwondo Spirit in der Praxis (selbstreferentielle Bedeutungsebene) Taekwondo Spirit (selbstreferentielle Bedeutungsebene)
PraktikenGruppe Grundgerüst
• • • • • • •
Fußtechniken
• • • • • •
Kibondongjak/ Poomsae
• • • •
Kyŏrugi
Kindergruppen Klare Ordnung Folgsamkeit Hierarchie Kollektivität Synchronizität Nationalismus Höflichkeit gegenüber Mitschüler*innen und insbesondere den Trainern Klare Ordnung Folgsamkeit Hierarchie Kollektivität Strenge (Trainer) Kraft (Trainer)
Gleichförmigkeit Kollektivität Synchronizität Lernbereitschaft/Breites Wissen • Verbundenheit zur Schule, zum Taekwondo und dem Kukkiwon
• Einhaltung einer formel-
len Abfolge, vorgegebener Rollen und ausge-
Profigruppe Klare Ordnung Folgsamkeit Hierarchie Kollektivität Synchronizität Nationalismus Höflichkeit gegenüber Mitschüler*innen und insbesondere den Trainern • Klare Ordnung • Höflichkeit • individuelle Höchstleistung • Strenge (Trainer) • Kraft (Trainer) • Athletik • Freude, Spaß und Ungezwungenheit • Kollektivität • Arbeiten an sich selbst und an den eigenen Fähigkeiten • Gleichförmigkeit • Stärke • Lockerheit • Fluss • Härte und Stärke (Trainer) • Autoritäten, die nicht herausgefordert werde • Treffen von Entscheidungen und das situativ angemessene Reagieren • • • • • • •
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis | 269
wiesener Bewegungssequenzen • Treffen von Entscheidungen und das situativ angemessene Reagieren auf die Aktionen des Gegenübers • Durchsetzungsfähigkeit Undong
Gehen, Drehen, Sitzen
auf die Aktionen des Gegenübers • Durchsetzungsfähigkeit
• Ausdauer • Durchhaltevermögen • Ertragen von Leiden • Gleichförmigkeit • Hierarchie • Autorität des Trainers/
• Gleichförmigkeit • Hierarchie • Autorität des Trainers/
des Schulleiters • Öffentliches körperliches
Performance (-Vorbereitung)
Freies Training
Strafen Klare Ordnung Synchronizität Kollektivität Selbstüberwindung (echter Bruchtest) • Niedlichkeit • Offenheit gegenüber populärkulturellen Einflüssen • • • •
des Schulleiters • Öffentliches körperliches
Strafen Klare Ordnung Synchronizität Kollektivität Dynamik Athletik Klare Hierarchie Offenheit populärkulturellen Einflüssen gegenüber • Hilfsbereitschaft • Arbeiten an sich selbst und an den eigenen Fähigkeiten • • • • • • •
Abseits der beschriebenen Praktiken-Gruppen wurden weitere PraktikenEnsembles beobachtet, die als spielerischer Ausgleich zum übrigen TrainingsRegime betrachtet werden können. Hierzu zählten unterschiedliche Ball- und Geschicklichkeitsspiele. Eine dieser Praktiken umfasste das Überspringen eines Stabes, dessen Höhe nach jeder Runde erhöht wurde. Die Schüler*innen stellten sich dazu in einer Reihe auf und sprangen nacheinander über den Stab. Die Runde war beendet, nachdem alle Schüler*innen im Spiel den Stab übersprungen hatten. Wer den Stab nicht überspringen konnte, schied aus. Diese Anordnung
270 | Im Gleichschritt des Dao
wurde sowohl in den Kindergruppen als auch in der Profigruppen beobachtet. 237 Darüber hinaus fand in den Kindergruppen ein völkerballähnliches Spiel statt, bei dem sich zwei Mannschaften in getrennten Spielfeldern gegenseitig mit Bällen abwarfen. Sobald Schüler*innen getroffen waren, mussten Sie sich an die Seite setzten. 238 Während diese Spielform fast die gesamte Dauer einer Trainingseinheit umfassen konnte, wurde auch eine Variante beobachtet, in der alle Schüler*innen in einer Spielfeldhälfte den Bällen ausweichen mussten, während ein/e Schüler*in in der anderen Spielfeldhälfte die Bälle warf.239 Die völkerballähnlichen Spielformen wurden in der Profigruppe nicht praktiziert. Stattdessen wurde hier Fußball gespielt. Dazu waren die Schüler*innen in vier Mannschaften aufgeteilt, von denen zwei Mannschaften spielten und zwei Mannschaften an den Seiten saßen.240 Darüber hinaus wurden sowohl in der Kindergruppe als auch in der Profigruppe jeweils einmal Praxen beobachtet, die an spontane Flashmobs erinnerten. In den Kindergruppen handelte es sich um kurze Interventionen, die in den vier Trainingseinheiten am 05.01.2016 zwischen Begrüßung und Aufwärmen eingeschoben wurden. Dazu wurde vom Trainer für etwa fünf Minuten Musik eingespielt, zu der sich die Schüler*innen ihren eigenen Impulsen nach individuell bewegen bzw. tanzen konnten.241 Eine ähnlich freie Bewegungspraxis wurde in der Profigruppe nicht beobachtet. In der Einheit vom 03.02.2016 wurde stattdessen eine andere Form der tänzerischen Intervention praktiziert. Dazu bestimmte der Trainer mehrere Schüler*innen, die gemeinsam eine der beiden Taekwondance-Choreografien der Kindergruppen vor den übrigen Schüler*innen aufführten. Dies war während beider Darbietungen von viel Gelächter und einer gelösten Atmosphäre begleitet.242 Diese Praxen stellten eine Anti-Struktur zum eigentlichen Training dar, führten aber wesentliche der aufgestellten Aspekte des Taekwondo Spirit auf selbstreferentieller Ebene weiter, darunter Synchronizität, Kollektivität, Athletik, Durchsetzungsfähigkeit, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Niedlichkeit, Dynamik und Athletik. Für die verschiedenen Spielarten traf dies in unterschiedlichen Ausmaßen zu. Neben ihrer Bedeutung hinsichtlich der Verkörperung eines Taekwondo Spirit wurden die konstitutiven Praktiken-Ensembles außerdem im Hinblick auf die Hervorbringung von Theatralität und Ritualität untersucht. Es wurde argumen237 Vgl. TE vom 28.12.2015; 15.01.2016. 238 Vgl. TE vom 08.01.2016; TE vom 15.01.2016. 239 Vgl. TE vom 14.01.2016. 240 Vgl. TE vom 02.02.2016. 241 Vgl. TE vom 05.01.2016. 242 Vgl. TE vom 03.02.2016.
Die Trainingspraxis des Taekwondo als Aufführungspraxis | 271
tiert, dass sich wesentliche Bestandteile der beobachteten Praktiken-Ensembles aus theatralen Praktiken zusammensetzten, welche aufgrund ihrer Ästhetisierung und Stilisierung die Aufmerksamkeit der Akteur*innen in besonderem Maße lenken und bündeln können. Über Theatralität hinaus bestehe das Potential der situativen Hervorbringung von Ritualität, welche im Kontext dieser Arbeit als unmittelbare leibliche Erfahrung von Kollektivität und Zusammengehörigkeitsgefühl konzipiert wurde. Die Trainingspraxis wirke demnach potenziell als kollektivierende Erfahrung, mit der bei den Akteur*innen ein starkes positives Gefühl der Verbundenheit und Sinnhaftigkeit einhergehen kann, was wiederum eine Identifikation mit der Gruppe und den kollektiv verkörperten Normen, Werten und Idealen fördern kann. Raum und Akteur*innen Der Dojang wurde als funktioneller Trainingsraum beschrieben, der gleichzeitig einen hohen ästhetischen Gestaltungsaufwand aufweist. Die enthaltenen Materialitäten sind in einigen Fällen in die Trainingspraxis involviert, überwiegend jedoch scheinen sie eine rein dekorative Funktion zu erfüllen, indem sie zur Raumatmosphäre beitragen. Poster, Bilder, Tafeln und Banner illustrieren entweder körperlich-geistige Haltungen oder stellen kulturelle und institutionelle Reminiszenzen her. Interessant sind neben den „traditionell koreanischen“ auch die „westlich-europäischen“ kulturellen Verweise. Das Büro des Schulleiters und seine Ausgestaltung stellen Legitimation von Autorität und eine Verbindung zu „traditionellen“ kulturellen Aspekten Südkoreas her. Mit professionell hergestellte „Familienfotos“ des Schulleiters mit seinen engsten Schüler*innen ist seine Legitimation als Schulleiter verbunden, aber auch die Hervorhebung von Gemeinschaft. Der Trampolinbereich ist hervorzuheben, da er einen scheinbaren konzeptuellen Bruch darstellt und nicht zuletzt mit den kommerziellen Aspekten des Trainings verbunden ist. Die Frage der Semantik der unterschiedlichen ästhetischen Zeichen und ihre kulturellen Anknüpfungspunkte werden in der Auswertung im Zusammenhang mit der Emergenz von Bedeutung noch einmal performativitäts-theoretisch genauer betrachtet. Was jedoch auf selbstreferentieller Ebene festgehalten werden kann, ist die pure Masse an unterschiedlichen symbolischen Formen, die strategisch im Dojang gesetzt sind, um bestimmte Normen, Werte und Ideale wie auch eine bestimmte kulturelle Identität des Taekwondo zu kommunizieren. Die Akteur*innen entstammten überwiegend der sozialen Mitte. Bei den Schüler*innen handelte es sich um Kinder und Jugendliche, von denen Grundschulkinder die überwiegende Anzahl ausmachten. Akademische Abschlüsse im
272 | Im Gleichschritt des Dao
Bereich Taekwondo und Physical Education waren bei Trainern und Schulleiter vorhanden. Entgegen den institutionellen Standards war der Dobok kein zwingendes Element der Trainingspraxis, sondern konnte bedingt durch die Jahreszeit durch konventionelle Sportbekleidung ersetzt werden. Auch über die Bekleidung wurde auf unterschiedliche Weise Kollektivität, aber auch hierarchische Differenzierung, hervorgebracht. Kulturelle Reminiszenzen konnten auch an der Kleidung beobachtet werden. Wie am Beispiel des Raumes zeigt sich auch in der Bekleidung die besondere symbolische Dichte, die einer Strategie der (kulturellen) Bedeutungsvermittlung folgt. Nach dieser Zusammenfassung der Zwischenergebnisse der Analyse der Trainingspraxis schließt im nächsten Kapitel die Einordnung und finale Auswertung der Ergebnisse an. Die Einordnung erfolgt zunächst in den breiteren Ausübungskontext des Taekwondo in Südkorea und anschließend in einen allgemeinen gesellschaftlichen Kontext. In der Auswertung wird schließlich der Taekwondo Spirit, der auf Basis der selbstreferentiellen Bedeutung der PraktikenEnsembles ermittelt wurde, mit dem individuell emergenten Taekwondo Spirit in Verbindung gebracht. All das wiederum wird mit dem institutionellen Taekwondo Spirit verglichen und evaluiert. Theatralität und Ritualität werden abschließend aufgegriffen und ihre Rollen in der Praxis kritisch in Bezug auf ihren historischen und gegenwärtigen kulturellen und politischen Kontext diskutiert. Zusätzlich zu der Gegenüberstellung von institutionellem und selbstreferentiellem Taekwondo Spirit sowie den Überlegungen zum emergenten Taekwondo Spirit, sind hinsichtlich der forschungsleitenden Fragestellungen folgende Fragen relevant: • •
Wie ist die gesellschaftliche Rolle des Taekwondo als theatrale Praxis einzuordnen? Wie ist Taekwondo Spirit im Kontext von individuellen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu verorten?
6. Der Performative Taekwondo Spirit: Zwischen Selbstreferentialität und Emergenz
Das vorherige Kapitel umfasste die detaillierte Analyse der Trainingspraxis in einer Taekwondo-Schule hinsichtlich der Verkörperung des Taekwondo Spirit als Konglomerat aus Normen, Werten und Idealen. Im Rahmen dieses Fallbeispiels wurde die reguläre Trainingspraxis mit Fokus auf routinierte PraktikenEnsembles einer performativitäts-ästhetischen Analyse unterzogen. 1 In einer Zwischenbilanz wurde darauf aufbauend unter Berücksichtigung der selbstreferentiellen Bedeutungsebene der unterschiedlichen Praktiken-Ensembles eine vorläufige Skizze eines verkörperten, performativ hervorgebrachten Taekwondo Spirit vorgestellt. In diesem Kapitel werden die Zwischenergebnisse des vorherigen Kapitels aufgegriffen und als selbstreferentieller Taekwondo Spirit in einem ersten Schritt mit dem institutionellen Taekwondo Spirit, welcher in Abschnitt 2.3 ausgearbeitet wurde, in Beziehung gesetzt. In einem zweiten Schritt richtet sich die Aufmerksamkeit auf den emergenten Taekwondo Spirit, welcher in der Praxis durch die Akteur*innen (semi-)reflexiv als Bedeutung hervorgebracht wird. Diese Bezeichnung basiert auf Fischer-Lichtes Konzept der „Emergenz von Bedeutung“2, auf das in der vorherigen Analyse bereits zurückgegriffen wurde. Der Prozess der Hervorbringung von Bedeutung entsteht demnach im Zusammenspiel von Habitus, leiblicher Erfahrung und zirkulierenden Narrativen, welche als Bestandteile ideologischer Diskurse innerhalb des Ausübungskontexts kursieren. Der emergente Taekwondo Spirit als individueller Bedeutungszuschreibung wird daher anhand historischer und aktueller Einflüsse als Möglichkeitsspektrum
1
Vgl. Abschn. 4.3.2.
2
Vgl. Abschn. 3.2.2.1.
274 | Im Gleichschritt des Dao
von Bedeutung erarbeitet, ohne jedoch auf einzelne konkrete Hervorbringungen einzugehen. Dies erfolgt in Form einer performativitätstheoretisch geleiteten Argumentation, die sich weniger auf Praktiken stützt, sondern auf Diskurse und Narrative mit Bezug zu Taekwondo. Theatralität und Ritualität werden abschließend aufgegriffen und ihre Rolle in der Praxis kritisch in Bezug zu ihren historischen und gegenwärtigen Ausübungskontexten diskutiert. Dabei wird gezeigt, wie Theatralität und Ritualität in der Trainingspraxis des Taekwondo als performative Mechanismen der Macht gesellschaftsbildend und kollektiv subjektivierend wirken.
6.1
SELBSTREFERENTIELLER UND INSTITUTIONELLER TAEKWONDO SPIRIT
Die folgende Tabelle stellt einen Versuch dar, den institutionellen mit dem selbstreferentiellen Taekwondo Spirit der Praxis in Beziehung zu setzen. Werte, Norme und Ideale der Praxis wurden dazu in Kindergruppen und Profigruppe aufgeteilt und einer der Kategorien des institutionellen Taekwondo Spirit zugeordnet. Leerstellen mit fehlenden Entsprechungen wurden als solche markiert. Selbstreferentielle Aspekte, die keiner institutionellen Kategorie zugeordnet werden konnten, wurden weiter unten ohne entsprechende Kategorie angefügt. Tabelle 10: Gegenüberstellung institutioneller und selbstreferentieller Taekwondo Spirit Selbstreferentieller Taekwondo Spirit
Institutioneller Taekwondo Spirit
Kindergruppen • Strenge (Trainer) • Kraftvolles Auftreten
(Trainer)
Selbstvertrauen, Mut und Durchsetzungsfähigkeit
• Entscheidungsfähig-
keit • Durchsetzungsfähig-
keit • (Selbstüberwindung)
Profigruppe • Strenge (Trainer) • Kraftvolles Auftreten
(Trainer) • Stärke • Härte (Trainer) • Entscheidungsfähig-
keit • Durchsetzungsfähig-
keit
Der Performative Taekwondo Spirit | 275
Höflichkeit und Respekt, insbesondere gegenüber Älteren
• Starke Hierarchie • Autoritäten, die nicht
• Starke Hierarchie • Autoritäten, die nicht
herausgefordert werden • Höflichkeit gegenüber Mitschüler*innen, insbesondere jedoch gegenüber den Trainern und dem Schulleiter
herausgefordert werden Höflichkeit gegenüber Mitschüler*innen, insbesondere jedoch gegenüber den Trainern und dem Schulleiter Arbeiten an sich selbst und an den eigenen Fähigkeiten Ausdauer Durchhaltevermögen Ertragen von Leiden Klare Ordnung Folgsamkeit Gleichförmigkeit
•
•
Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen
Regelkonformes Verhalten und Ordnung
• • • • • • •
Klare Ordnung Folgsamkeit Gleichförmigkeit Vorgegebene Rollen für und ausgewiesene Bewegungssequenzen
• • •
Gerechtigkeitssinn Verantwortungsbewusstsein und Eigenverantwortung Gemeinschaftlichkeit und das Handeln auf ein gemeinsames Wohl hin Patriotismus Hervorhebung traditioneller kultureller Identität
• Hilfsbereitschaft;
• Kollektivität • Verbundenheit
zur Schule, zum Taekwondo und zum Kukkiwon • Synchronizität • Nationalismus
Erfahrenere lehren weniger Erfahrene • Kollektivität • Hilfsbereitschaft • Synchronizität
• Nationalismus
• Hervorhebung indivi-
dueller Höchstleistung
276 | Im Gleichschritt des Dao
Athletik Lockerheit Fluss Dynamik • Freude, Spaß, Ungezwungenheit und Gelöstheit • Körperliches öffentliches Strafen (Ambivalenz) • Offenheit populärkulturellen Einflüssen gegenüber • • • •
• Körperliches öffentli-
ches Strafen (Ambivalenz) • Offenheit populärkulturellen Einflüssen gegenüber • Niedlichkeit • Breites Wissen
Entsprechend der Hypothese, die zum Ende des Abschnitts 2.3 formuliert wurde, zeigt die Gegenüberstellung, dass nicht alle Aspekte des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit deckungsgleich mit denen des institutionellen Taekwondo Spirit sind. „Selbstvertrauen“, „Mut“ und „Durchsetzungsfähigkeit“ haben als institutionelle Kategorien angesichts der Nennungen durch die behandelten Taekwondo-Experten etwa mittlere Wichtigkeit und werden gerade von Ko Eui Min, als Taekwondo-Vertreter mit Schwerpunkt auf kompetitiven TaekwondoZweikampf, propagiert. 3 „Strenge“ und „kraftvolles Auftreten“ wurden in der Praxis vor allem durch die Trainer und den Schulleiter verkörpert. „Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit“ wurden in beiden Gruppenformen während des „Sparrings“ verkörpert, welches in der Praxis angesichts des zeitlichen Aufwandes jedoch nur eine marginale Rolle spielte. Zu dieser Kategorie kann, wenn auch eingeschränkt für die Kindergruppen, „Selbstüberwindung“ hinzugezählt werden. Dies gilt für die Praxis des Bruchtest, der jedoch nur in öffentlichen Prüfungen als solcher praktiziert wurde. In der Trainingspraxis hingegen wurde dieser mit Schaumstoffbrettern geübt, womit „Selbstüberwindung“ streng genommen nicht zu den verkörperten Aspekten der Trainingspraxis gezählt werden kann, da bei Fehlversuchen kein körperlicher Schmerz drohte. „Höflichkeit und Respekt, insbesondere gegenüber Älteren“ spielt im Rahmen des institutionellen Taekwondo Spirit eine zentrale Rolle. Auch für die beobachtete Praxis kann dies als zentraler Aspekt bezeichnet werden, sowohl in den Kindergruppen als auch
3 Vgl. Abschn. 2.3.
Der Performative Taekwondo Spirit | 277
in der Profigruppe. „Hierarchie“ und die Anerkennung von „Autoritäten, die nicht herausgefordert werden“ waren wesentliche Aspekte der überwiegenden Zahl der Praktiken-Ensembles. „Höflichkeit gegenüber Mitschüler*innen“ wurde ebenfalls verkörpert, hauptsächlich jedoch im Grundgerüst. Dieser Aspekt spielte in jedem Fall eine deutlich geringere Rolle als die Anerkennung von Hierarchien und Autoritäten und das respektvolle Verhalten gegenüber diesen. „Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen“ stellte sich unter Abschnitt 2.3 ebenfalls als wichtige Kategorie des institutionellen Taekwondo Spirit heraus. Als Kategorie des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit spielte sie jedoch nur in der Profigruppe eine signifikante Rolle. Hier finden sich diese Aspekte im PraktikenEnsemble Undong. Doch auch im Kontext anderer Praktiken-Ensembles spielen diese Aspekte als „Arbeiten an sich selbst und den eigenen Fähigkeiten“ eine essenzielle Rolle. „Regelkonformes Verhalten und Ordnung“ als institutionelle Kategorie wurde von fast allen Taekwondo-Experten erwähnt. In der Praxis konnten Aspekte dieser Kategorie in besonderem Ausmaß beobachtet werden. Insbesondere „Klare Ordnung und Gleichförmigkeit“ konnten als zentrale Bewegungsideale der überwiegenden Zahl der Praktiken-Ensembles festgestellt werden. „Gerechtigkeitssinn“ wird als zentrale Kategorie des institutionellen Taekwondo Spirit von allen Autoren bedient, bei der überwiegenden Zahl der Autoren sogar mehrfach in unterschiedlichen Formulierungen. Deshalb ist es umso interessanter, dass diese Kategorie weder im Kontext der Kindergruppen noch in der Profigruppe eine signifikante Rolle spielte. Auch „Verantwortungsbewusstsein und Eigenverantwortung“ konnte in der beobachteten Praxis nur im Kontext bestimmter Praxen festgestellt werden, obwohl diese Kategorie bei den diskutierten Taekwondo-Experten eine wichtige Rolle spielt. In der Profigruppe konnte regelmäßig im freien Training beobachtet werden, dass erfahrenere Schüler*innen weniger Erfahrene unterstützten und lehrten, was als Verkörperung von Verantwortungsbewusstsein gelesen werden kann. Die Kategorie „Gemeinschaftlichkeit und das Handeln auf ein gemeinsames Wohl hin“ kann anhand des Hongik ingan als wesentliches Merkmal für den institutionellen Taekwondo Spirit gesehen werden. Insbesondere der Aspekt der „Gemeinschaftlichkeit“ spielt auch im selbstreferentiellen Taekwondo Spirit eine wesentliche Rolle. Dies wurde sowohl im Kontext der Kindergruppen als auch in der Profigruppe in Form von „Kollektivität“ und „Synchronizität“ als Bewegungsidealen in der Praxis verkörpert. In den Kindergruppen wurde darüber hinaus durch Rezitationen die „Verbundenheit zur Schule, zum Taekwondo und zum Kukkiwon“ performativ beglaubigt.4 In der Profigruppe kann als weiterer Aspekt, wie bereits als Teil der vorherigen Kategorie, „Hilfsbereitschaft“ genannt werden. „Patriotis4
Vgl. Abschn. 5.3.3.
278 | Im Gleichschritt des Dao
mus“ als weitere Kategorie des institutionellen Taekwondo Spirit ist nicht problemlos auf den selbstreferentiellen Taekwondo Spirit übertragbar. Ausschlaggebend ist, wie eng das Konzept der Selbstreferenzialität hier gefasst wird. Tatsächlich ist jedoch keine ausgeprägte Reflexion notwendig, um bestimmte Verkörperungen und Bezugnahmen auf bestimmte Materialitäten als performative Beglaubigungen von nationaler Verbundenheit wahrzunehmen. In dieser Arbeit wird daher auch „Nationalismus“ als Aspekt des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit verstanden. Dieser zeigte sich in der Praxis in den Kindergruppen verkörpert in den Begrüßungspraktiken des Grundgerüsts. Auch in der Profigruppe waren derartige Beglaubigungen zu beobachten, wenn auch in einem deutlich geringeren Umfang. Die koreanische Nationalflagge nahm eine zentrale Position im Dojang ein und war als Materialität im Gegensatz zu den meisten anderen dekorativen Artefakten unmittelbar in Praktiken eingebunden. Für „Hervorhebung traditioneller kultureller Identität“ als letzter Kategorie des institutionalisierten Taekwondo Spirit kann keine Entsprechung im selbstreferentiellen Taekwondo Spirit gefunden werden. In Abschnitt 5.3.3 wurde bereits darauf eingegangen, dass etwa die Poomsae unterschiedliche Elemente „traditioneller“ koreanischer Denksysteme verkörpern sollen. Dies kann jedoch kaum als Aspekt des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit betrachtet werden, sondern bestenfalls als Aspekt eines emergenten Taekwondo Spirit, auf den im nächsten Teilkapitel Bezug genommen wird. Ausschlaggebend ist, dass die rein körperliche Durchführung etwa der Poomsae5 keinen unmittelbaren Bezug zu diesen Konzepten hat, zumindest gibt es bisher keine Veröffentlichung, die dies überzeugend argumentieren konnte. Auch in der eigenen Praxis konnte hier bisher kein unmittelbarer Zusammenhang festgestellt werden. Eine skillfull practice ist ohne jede Kenntnis dieser „traditionellen“ Konzepte möglich. Neben den Aspekten des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit, denen Aspekte des institutionellen Taekwondo Spirit zugeordnet werden konnten, ergaben sich aus der Analyse der Trainingspraxis mit Fokus auf die rahmenden Praktiken-Ensembles auch Verkörperungen, für die kein unmittelbarer Bezug zum institutionellen Taekwondo Spirit nachgezeichnet werden konnte. Auch diese Aspekte betreffend zeigt sich eine ausgeprägte Differenz zwischen den Kindergruppen und der Profigruppe. Für die Praxis der Profigruppe lassen sich „Athletik“ und die „Hervorhebung individueller Höchstleistungen“ als körperliche Ideale ausmachen. Skillful practice ist hier mit der Verkörperung von „Stärke“ verbunden. Diese Stärke ist jedoch nicht ausschließlich als pure Muskelkraft zu verstehen, sondern ist treffender mit Energieentladung zu beschreiben. Diese wird im Zusammenspiel von Lockerheit und flüssigen Bewegungen auf der 5
Vgl. Abschn. 5.3.3.
Der Performative Taekwondo Spirit | 279
einen Seite und punktueller muskulärer Anspannung auf der anderen Seite generiert. Diese Beschreibung bezieht sich insbesondere auf die Praktiken-Ensembles der Gruppe Kibondongjak/Poomsae. „Lockerheit“ und „Fluss“ müssen demnach ebenso als zentrale Aspekte eines selbstreferentiellen Taekwondo Spirit erachtet werden. Angesichts der Praktiken-Gruppe „Fußtechniken“ ist die Verkörperung von Stärke nicht nur mit „Lockerheit“ und „Fluss“, sondern darüber hinaus auch mit „Dynamik, Agilität und Beweglichkeit“ verbunden. Stärke ist hierbei in erster Linie keine statische, stabile Stärke, sondern eine dynamische Stärke der Beschleunigung. Dies zeigt sich in der Profigruppe in den Bruchtests der Performance(-vorbereitung) ebenso wie im Sparring. In beiden Praxen ist eine skillful practice deutlich stärker mit Agilität und Schnelligkeit verbunden als mit einem festen Stand und mit wenigen, aber entscheidenden Aktionen. Schließlich können für die Profigruppe auch „Freude, Spaß und Ungezwungenheit“ als Aspekte des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit festgestellt werden. Dies zeigte sich im gemeinsamen Herumalbern und gegenseitigen Necken, woran auch die Trainer beteiligt waren. 6 Gemeinsam ist den Kindergruppen und der Profigruppe das „öffentliche körperliche Strafen“ als praktizierte soziale Norm, wobei die Durchführung dieser Maßnahmen in der Regel von einer Ambivalenz zwischen Spiel und Ernst geprägt war. Ebenso kann die „Offenheit gegenüber populärkulturellen Einflüssen“ als weiterer Aspekt gelesen werden. Dies bezieht sich in konzentrierter Form auf das Einbeziehen von choreografischen Versatzstücken aus K-Pop-Tanzformen und der dazugehörigen Musik sowie auf das Verwenden aktueller Musik, z. B. im Rahmen von Laufübungen. Damit zusammenhängend ist für die Kindergruppen auch „Niedlichkeit“ als Aspekt eines selbstreferentiellen Taekwondo Spirit einzubeziehen. Ein grundlegender Aspekt der Kindergruppen ist schließlich etwas, das aus Ermangelung eines geeigneteren Begriffs als breites Wissen bezeichnet werden kann. Dies meint, dass zu einer skillful practice nicht zwangsläufig das detaillierte Verstehen und Umsetzen von Bewegungsabläufen und ihrer Anwendung gehören, sondern in erster Linie das Kennen der äußeren Abläufe, von denen sehr viele zu lernen waren.7 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich der institutionalisierte und der selbstreferentielle Taekwondo Spirit in vielen Punkten überschneiden. „Selbstvertrauen, Mut und Durchsetzungsfähigkeit“; „Höflichkeit und Respekt, insbesondere gegenüber Älteren“; „Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen“; „Regelkonformes Verhalten und Ordnung“; „Gemeinschaftlichkeit und das Handeln auf ein gemeinsames Wohl hin“ und „Patriotismus“ sind gemeinsame Kategorien, die angesichts der beobachteten Praxis als Aspekte eines selbstrefe6
Vgl. Abschn. 5.3.2.
7
Vgl. Abschn. 5.3.3.
280 | Im Gleichschritt des Dao
rentiellen Taekwondo Spirit hervorgehoben werden können. Darüber hinaus zeigen sich für die Profigruppe weitere Aspekte, die über die Kategorien des institutionalisierten Taekwondo Spirit hinaus gehen. Hier werden auch die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Taekwondo Spirit der Kindergruppen und jenem der Profigruppe deutlich. In den Kindergruppen steht erkennbar die „Kollektivität“ und die Aneignung eines „breiten Wissens“ im Zentrum der Praxis. Alle wesentlichen Praktiken-Ensembles sind von diesen Aspekten geprägt. In der Profigruppe spielt „Kollektivität“ ebenfalls eine Rolle, doch ist die individuelle Exzellenz und damit zusammenhängend „Lockerheit“ und „Fluss“ von mindestens ebenso großer Bedeutung. „Hierarchie“ und „Autorität“ waren in beiden Praxisformen allumfassend, in der Profigruppe zeigte sich diesbezüglich angesichts der Verkörperung von „Freude, Spaß und Ungezwungenheit“ jedoch ein ambivalentes Bild. Durch den gelegentlichen Einschub spielerischer Praxisformen in beiden Gruppen wurde dieses ambivalente Bild zusätzlich verstärkt. In beiden Gruppenarten wurde außerdem „Offenheit gegenüber populärkulturellen Einflüssen“ praktiziert, ein Aspekt, der sich explizit gegenteilig zur „Hervorhebung der traditionellen kulturellen Identität“ des institutionalisierten Taekwondo Spirit verhält. Diese Differenzen, sowohl zwischen dem institutionalisierten und dem selbstreferentiellen Taekwondo Spirit, sowie die Differenzen zwischen der Praxis der Kindergruppen und der Profigruppe, liegen nicht zuletzt in Diskursen begründet, welche sich in verschiedenen historischen Etappen unterschiedlich stark auf die Praxis des Taekwondo ausgewirkt haben. Die individuelle Hervorbringung des emergenten Taekwondo Spirit ist wesentlich von diesen gesellschaftlichen Diskursen und kulturellen wie auch politischen Narrativen mitbestimmt. Im nächsten Abschnitt werden dazu die bisherigen Zwischenergebnisse den für die Praxis des Taekwondo besonders relevanten historischen wie auch aktuellen gesellschaftlichen Diskursen gegenübergestellt. Darauf aufbauend wird der emergente Taekwondo Spirit als performativer Möglichkeitsraum konzipiert, wobei auch auf kulturelle und politische Einflüsse, die bereits unter Abschnitt 2.2 thematisiert wurden, Bezug genommen wird.
6.2
TAEKWONDO-PRAXIS, GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT UND EMERGENTER TAEKWONDO SPIRIT
Ein wesentlicher Einfluss auf das frühe Taekwondo war zweifellos der BudōDiskurs, zu dem Kanō Jigorō (嘉納 治五郎, 1860-1938), der Begründer des Jūdō, beigetrug. Dieser war beeinflusst vom Geist der Meiji-Periode (18861912), der von einer Öffnung zum Westen und der Erneuerung aller Bereiche der
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rentiellen Taekwondo Spirit hervorgehoben werden können. Darüber hinaus zeigen sich für die Profigruppe weitere Aspekte, die über die Kategorien des institutionalisierten Taekwondo Spirit hinaus gehen. Hier werden auch die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Taekwondo Spirit der Kindergruppen und jenem der Profigruppe deutlich. In den Kindergruppen steht erkennbar die „Kollektivität“ und die Aneignung eines „breiten Wissens“ im Zentrum der Praxis. Alle wesentlichen Praktiken-Ensembles sind von diesen Aspekten geprägt. In der Profigruppe spielt „Kollektivität“ ebenfalls eine Rolle, doch ist die individuelle Exzellenz und damit zusammenhängend „Lockerheit“ und „Fluss“ von mindestens ebenso großer Bedeutung. „Hierarchie“ und „Autorität“ waren in beiden Praxisformen allumfassend, in der Profigruppe zeigte sich diesbezüglich angesichts der Verkörperung von „Freude, Spaß und Ungezwungenheit“ jedoch ein ambivalentes Bild. Durch den gelegentlichen Einschub spielerischer Praxisformen in beiden Gruppen wurde dieses ambivalente Bild zusätzlich verstärkt. In beiden Gruppenarten wurde außerdem „Offenheit gegenüber populärkulturellen Einflüssen“ praktiziert, ein Aspekt, der sich explizit gegenteilig zur „Hervorhebung der traditionellen kulturellen Identität“ des institutionalisierten Taekwondo Spirit verhält. Diese Differenzen, sowohl zwischen dem institutionalisierten und dem selbstreferentiellen Taekwondo Spirit, sowie die Differenzen zwischen der Praxis der Kindergruppen und der Profigruppe, liegen nicht zuletzt in Diskursen begründet, welche sich in verschiedenen historischen Etappen unterschiedlich stark auf die Praxis des Taekwondo ausgewirkt haben. Die individuelle Hervorbringung des emergenten Taekwondo Spirit ist wesentlich von diesen gesellschaftlichen Diskursen und kulturellen wie auch politischen Narrativen mitbestimmt. Im nächsten Abschnitt werden dazu die bisherigen Zwischenergebnisse den für die Praxis des Taekwondo besonders relevanten historischen wie auch aktuellen gesellschaftlichen Diskursen gegenübergestellt. Darauf aufbauend wird der emergente Taekwondo Spirit als performativer Möglichkeitsraum konzipiert, wobei auch auf kulturelle und politische Einflüsse, die bereits unter Abschnitt 2.2 thematisiert wurden, Bezug genommen wird.
6.2
TAEKWONDO-PRAXIS, GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT UND EMERGENTER TAEKWONDO SPIRIT
Ein wesentlicher Einfluss auf das frühe Taekwondo war zweifellos der BudōDiskurs, zu dem Kanō Jigorō (嘉納 治五郎, 1860-1938), der Begründer des Jūdō, beigetrug. Dieser war beeinflusst vom Geist der Meiji-Periode (18861912), der von einer Öffnung zum Westen und der Erneuerung aller Bereiche der
Der Performative Taekwondo Spirit | 281
japanischen Gesellschaft nach westlichem Vorbild geprägt war. Kanōs Jūdō war der Versuch einer Modernisierung bzw. Neukonzeption des feudalzeitlichen Jūjutsu (柔術) unter Bezugnahme auf westliche Pädagogik, Normen und Wertvorstellungen sowie Idealen, die durch das Konzept „rationaler Wissenschaft“ geprägt waren.8 Ein wichtiger Einfluss sei dabei die Philosophie Herbert Spencers (1820-1903) gewesen.9 Zum Zweck der Neustrukturierung führte Kanō ein standardisiertes Curriculum, Graduierungen mit einem Stufenmodell und eine Trainingsuniform ein.10 Diese Neuerungen wurden später ebenfalls durch Funakoshi im Karate eingeführt. Neben Jūdō stand Kendō im Zentrum dieses Diskurses, das ähnlich wie Jūdō auf feudalzeitlichen Bewegungskulturen basierte und im Zuge der Meiji-Ära als Verkörperung des Bushido Spirit, dem Geist der Samurai, neu konzipiert wurde. Auch der Bushido Spirit entstand dabei als neuzeitliche Projektion einer idealisierten kriegerischen Vergangenheit unter Bezugnahme auf „westliche“ Konzepte wie Ritterlichkeit. 11 Oleg Benesch schreibt dazu: „The positive reassessment of the samurai was aided by the passage of time that had dulled memories of the Tokugawa order and made it possible for symbolic appropriation. The idealization of the samurai was further encouraged by Japanese encounters with popular European and American theories that sought the strength of those nations in their idealized medieval past. The Victorian chivalric revival was especially influential, and Japanese thinkers were intrigued by the notion that strength of the British Empire was founded on gentlemanly ideals supposedly traced back to feudal knighthood. This dynamic fed directly into the formulation of the bushido ethic around 1890, especially among Japanese with extensive foreign experience. Japanese Christians were especially enamored with bushido, as its links with the ostensibly Christian chivalric codes of Europe seemed to provide the possibility of using it as a tool for the conversion of their countrymen.“ 12
Verkürzt kann der Budō-Diskurs als Vermischung von europäischem Militarismus und Leibesertüchtigung mit japanischem Militarismus, Neo-Konfuzianismus und kämpferischen Bewegungskulturen der Samurai-Klasse zusammengefasst werden.13 Benesch stellt hierzu fest, dass sich diese Kombination aus kodifi-zierten Bewegungen und Ideologie auch hinsichtlich des zeitlichen 8
Moenig/Kim 2019a, S. 1535; Benesch 2020, S. 13.
9
Benesch 2020, S. 13.
10 Ebd. 11 Vgl. Benesch 2020, S. 10. 12 Ebd. 13 Vgl. Moenig 2017, S. 155.
282 | Im Gleichschritt des Dao
Rahmens nicht wesentlich von der Turner-Bewegung in Deutschland unterschieden habe.14 Kanō, selbst Lehrer, Schulleiter und Bildungspolitiker, hob den Bildungsaspekt von kollektiven und individuellen körperlichen Übungen hervor. Durch körperliche Übungen sollte zunächst der eigene Charakter geformt werden, um so zum Wohle der Gesellschaft beizutragen.15 Diese Narrative fanden durch das Shōtōkan-Karate Funakoshi Gichins und durch die Praxis des Kendō und Jūdō, welche bereits zur Zeit der japanischen Herrschaft in das Bildungssystem Koreas integriert wurden, in die Praxis des Taekwondo Einzug.16 Das frühe Taekwondo der Kwan-Ära verhandelte den Budō-Diskurs mit der Erweiterung um nationalemanzipatorische Bestrebungen. Taekwondo-Pioniere wie Hwang Kee und Choi Hong Hi äußerten explizit den selbstgesetzten Anspruch, ihre respektive Bewegungspraxis als nationale Kampfkunst entwerfen zu wollen.17 Taekwondo sollte demnach als Instrument einer individuellen und nationalen Ermächtigung dienen. Narrative wie das der Hwarang wurden zunächst von den frühen Pionieren aufgegriffen und später von KTA und Kukkiwon weitergeführt. Bei den Hwarang (화랑, 花郞) handelte es sich um eine historische Vereinigung im Reich Silla (신라, 75 v. Chr.-935 n. Chr.) innerhalb derer junge Adelige eine besondere Erziehung erfuhren und so auf eine Führungslaufbahn im Staatsdienst vorbereitet wurden. Die historische Praxis der Hwarang als primär militärische oder militärpädagogische Praxis ist dabei keinesfalls gesichert. Mehrere Autoren haben bereits auf die Problematik hingewiesen, dass die Hwarang als elitäre Vereinigung zwar kämpferische/kämpferisch-spielerische Praktiken kannten, diese Aspekte jedoch lediglich einen kleinen Teil ihrer Ausbildung ausmachten. 18 Das Narrativ der Hwarang als primär militärischem Orden wurde hingegen 1949 durch den Historiker Yi Sŏn-gŭn (1905-1983) in einen Diskurs eingebracht, der wesentlich von der Suche nach einer nationalen Identität zur Erneuerung und Selbstermächtigung nach der Kolonialzeit geprägt war. 19 Der Hwarang Spirit wurde in wesentlichen Punkten nach dem Modell des Bushido Spirit modelliert, der sich auf eine fiktionalisierte und idealisierte Vergangenheit bezog. Yi studierte während der kolonialen Periode in Japan und war daher direkt von diesen Ideen beeinflusst.20 Ein historisches Äquivalent zu den Samurai oder Bushi (武 14 Benesch 2020, S. 9. 15 Benesch 2020, S. 9. 16 Vgl. Abschn. 2.2. 17 Ebd. 18 Vgl. Rutt 1961; Moenig/Kim 2016. 19 Yi 1949. 20 Moenig/Kim 2016, S. 140.
Der Performative Taekwondo Spirit | 283
士) war in der vorkolonialen Joseon-Dynastie (조선왕조, 朝鮮王朝, Chosŏnwangjo, 1392-1910) und dem kurzen Kaiserreich Korea (대한제국, 大韓帝國, Taehanjeguk, 1897-1910) jedoch nicht vorhanden. 21 Seit Beginn der 1960er Jahre wurde Taekwondo in die nationale Bildungs- und Sportpolitik der Regierung Park Chung Hi eingegliedert, an Schulen, Universitäten und dem Militär eingeführt und um anti-japanische und anti-kommunistische Narrative erweitert.22 Taekwondo fügte sich damit in ein staatliches Programm ein, dass kollektive Identität und Nationalstolz implementieren sollte. 23 Es folgte eine immer stärkere Zentralisierung der Taekwondo-Praxis unter der KTA und schließlich unter dem Kukkiwon. Dabei wurde die Identität des Taekwondo kontinuierlich als eine rein koreanische weiterentwickelt. Der Sport- und Wettkampfgedanke wurde ab dieser Zeit stärker hervorgehoben, nachdem olympische Narrative bereits bei Kanō in den Budō-Diskurs Einzug gehalten hatten.24 Mit dem Fokus auf den Zweikampf auf Wettkampfebene hielt auch der individualisierte Leistungsgedanke Einzug in die Praxis. Dieser stand im Einklang mit der Bildungspolitik des Park-Regimes, die einen strenge Arbeitsethos mit Fleiß und Selbstaufopferung propagierte.25 Zur gleichen Zeit wurden jedoch auch populärkulturelle Einflüsse verstärkte relevant. Die Popularisierung des Taekwon-do fand zu einer Zeit statt, in der, zunächst in Ostasien und später weltweit, Martial-ArtsFilme aus Hong Kong populär wurden. Der zunehmende Fokus auf AusnahmeFußtechniken fällt mit Mitte der 1960er in diese Zeit wie auch die steigende Popularität von Martial-Arts-Filmen. Der hohe Fußtritt war nicht nur das Markenzeichen Bruce Lees, das seine Kampfweise von westlichen Actionhelden abhob. Der hohe Fußtritt sollte in der Folgezeit auch zu dem zentralen ästhetischen Merkmal von Martial Arts im Allgemeinen werden. So stellt etwa Paul Bowman zum populärkulturellen Diskurs über Martial Arts fest: „For arguably, a kick, especially a high kick, a well-formed high kick, signifies [sic!] martial arts – or what Roland Barthes might once have called ‘martial art-ness’.“26 Das Austragungsjahr der ersten Taekwondo-Weltmeisterschaften fällt mit 1973 auf das Todesjahr von Bruce Lee. Zu dieser Zeit entwickelte sich Taekwondo, zunächst unter Einfluss Choi Hong Hi und ab 1974 durch das Kukkiwon 21 Anm.: Während in Japans Ständesystem die Krieger an oberster Stelle standen, waren die oberen Gruppen in Korea mit Adeligen und konfuzianistischen Gelehrten besetzt, deren Praktiken weniger kriegerisch geprägt waren. 22 Vgl. Kap. 2.2. 23 Kim 2017, S. 55. 24 Benesch 2020, S. 14. 25 Vgl. Kim 2017, S. 56. 26 Bowman 2017, S. 77.
284 | Im Gleichschritt des Dao
Taekwondo Demonstration Team, verstärkt als Performance-Art weiter. Dies zog unterschiedliche Demo-Team-Formen nach sich, wie etwa Uni-Demo-Teams, Firmen-Demo-Teams und eigenständige Demo-Teams. Das populärste dieser Demo-Teams sind gegenwärtig die K-Tigers, die in den letzten Jahren durch Kooperationen mit K-Pop-Interpreten bekannt wurden. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1970er Jahren gewann Taekwondo als Vehikel für den sozialen Aufstieg an Bedeutung. Taekwondo bot die Chance einen Zugang zu Universitäten zu bekommen. Außerdem etablierte sich die Taekwondo-Praxis außerhalb der öffentlichen Schulen an privaten Taekwondo-Schulen. Seit Beginn der 1990er Jahre ist die Zahl solcher privaten Taekwondo-Schulen stetig gestiegen.27 Diese bieten Eltern die Möglichkeit, ihren Kindern eine Charakterschulung nach post-industriellen Bildungsstandards zu ermöglichen. Taekwondo solle Schüler*innen helfen, selbstbewusster, zielstrebiger und fleißiger zu sein. Nicht selten werden Trainings auch auf Englisch angeboten, um den Bildungserfolg zusätzlich zu erhöhen. All diese kulturellen und sozialen Entwicklungen und Diskurse wirken noch heute in Verbindung mit Praktiken als leiblich gefühlte Erfahrungen zusammen und bringen situativ und individuell emergenten Taekwondo Spirit hervor. Im Rahmen dieser Studie kann der emergente Taekwondo Spirit lediglich als performativer Möglichkeitsraum formuliert werden, innerhalb dessen in der Praxis Bedeutung hinsichtlich Normen, Werte und Ideale hervorgebracht wird.
6.3
VERFLECHTUNGEN: SELBSTREFERENTIELLER TAEKWONDO SPIRIT UND EMERGENTER TAEKWONDO SPIRIT
In der Praxis greifen selbstreferentieller und emergenter Taekwondo Spirit ineinander. So haben die Praktiken und Praktiken-Ensembles als Verkörperungen des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit gleichzeitig Auswirkungen auf den emergenten Taekwondo Spirit, da sie die Rahmung seiner performativen Hervorbringung sind. Zudem übt der emergente Taekwondo Spirit Einfluss auf die Praktiken und Praktiken-Ensembles aus, weil die situative Art und Weise ihrer Aus- und Durchführung von individuell hervorgebrachten Bedeutungsgefügen mitbestimmt wird. Von einem allgemeinen, einem essenziellen Taekwondo Spirit zu sprechen, scheint angesichts der bisherigen Ergebnisse haltlos. Vielmehr wird Taekwondo Spirit erst performativ, d. h. interkorporal, kontextuell, situativ und individuell hervorgebracht. Geht es um den selbstreferentiellen Taekwondo
27 Vgl. Lee 2016.
284 | Im Gleichschritt des Dao
Taekwondo Demonstration Team, verstärkt als Performance-Art weiter. Dies zog unterschiedliche Demo-Team-Formen nach sich, wie etwa Uni-Demo-Teams, Firmen-Demo-Teams und eigenständige Demo-Teams. Das populärste dieser Demo-Teams sind gegenwärtig die K-Tigers, die in den letzten Jahren durch Kooperationen mit K-Pop-Interpreten bekannt wurden. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1970er Jahren gewann Taekwondo als Vehikel für den sozialen Aufstieg an Bedeutung. Taekwondo bot die Chance einen Zugang zu Universitäten zu bekommen. Außerdem etablierte sich die Taekwondo-Praxis außerhalb der öffentlichen Schulen an privaten Taekwondo-Schulen. Seit Beginn der 1990er Jahre ist die Zahl solcher privaten Taekwondo-Schulen stetig gestiegen.27 Diese bieten Eltern die Möglichkeit, ihren Kindern eine Charakterschulung nach post-industriellen Bildungsstandards zu ermöglichen. Taekwondo solle Schüler*innen helfen, selbstbewusster, zielstrebiger und fleißiger zu sein. Nicht selten werden Trainings auch auf Englisch angeboten, um den Bildungserfolg zusätzlich zu erhöhen. All diese kulturellen und sozialen Entwicklungen und Diskurse wirken noch heute in Verbindung mit Praktiken als leiblich gefühlte Erfahrungen zusammen und bringen situativ und individuell emergenten Taekwondo Spirit hervor. Im Rahmen dieser Studie kann der emergente Taekwondo Spirit lediglich als performativer Möglichkeitsraum formuliert werden, innerhalb dessen in der Praxis Bedeutung hinsichtlich Normen, Werte und Ideale hervorgebracht wird.
6.3
VERFLECHTUNGEN: SELBSTREFERENTIELLER TAEKWONDO SPIRIT UND EMERGENTER TAEKWONDO SPIRIT
In der Praxis greifen selbstreferentieller und emergenter Taekwondo Spirit ineinander. So haben die Praktiken und Praktiken-Ensembles als Verkörperungen des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit gleichzeitig Auswirkungen auf den emergenten Taekwondo Spirit, da sie die Rahmung seiner performativen Hervorbringung sind. Zudem übt der emergente Taekwondo Spirit Einfluss auf die Praktiken und Praktiken-Ensembles aus, weil die situative Art und Weise ihrer Aus- und Durchführung von individuell hervorgebrachten Bedeutungsgefügen mitbestimmt wird. Von einem allgemeinen, einem essenziellen Taekwondo Spirit zu sprechen, scheint angesichts der bisherigen Ergebnisse haltlos. Vielmehr wird Taekwondo Spirit erst performativ, d. h. interkorporal, kontextuell, situativ und individuell hervorgebracht. Geht es um den selbstreferentiellen Taekwondo
27 Vgl. Lee 2016.
Der Performative Taekwondo Spirit | 285
Spirit, so kann davon ausgegangen werden, dass dieser von den beteiligten Akteur*innen in sehr ähnlicher Form wahrgenommen wird, da es sich hierbei in erster Linie um eine prä-reflexive Form der Bedeutungswahrnehmung auf struktureller Ebene, nicht jedoch auf inhaltlicher Ebene, handelt. Doch zeigte sich während der Forschungsaufenthalte, dass die Trainingspraxis des Taekwondo hinsichtlich der rahmenden Praktiken und Praktiken-Ensembles in Korea nicht so homogen ist, wie zunächst angenommen.28 Obwohl Techniken und Praktiken, etwa die Poomsae, formal gleich sind, variieren die Praktiken-Ensembles, in denen diese eingewoben sind, teilweise erheblich. Bereits in der untersuchten Schule unterschieden sich Praktiken und Praktiken-Ensembles der Kindergruppen und der Profigruppe, sodass bereits hier Unterschiede im Taekwondo Spirit auf selbstreferentieller Ebene festgestellt werden konnten. Darüber hinaus findet Praxis immer kontextuell und situativ als interkorporale Erfahrung statt. Gerade der emergente Taekwondo Spirit ist daher als flüchtig und individuell anzusehen. Obwohl er aus diesem Grund schwer fassbar ist, können dennoch aufgrund von geteilten sozialen Milieus, einem ähnlichen Habitus und schließlich mit Bezug auf die rahmenden Praktiken-Ensembles auch hier, wenn auch vorsichtig, allgemeinere Aussagen getroffen werden. So kann zumindest von performativen Möglichkeitsräumen hinsichtlich des emergenten Taekwondo Spirit gesprochen werden, innerhalb derer dieser Spirit in der Praxis hervorgebracht wird. Er fluktuiert zwischen Narrativen einer imaginierten, genuin-national-kulturellen Identität, sportlichem Leistungswillen, massenmedialer Populärkultur und postindustriellen Bildungsidealen. Gleichzeitig bietet der emergente Charakter der Taekwondo Spirit auch die Möglichkeit der geteilten interkorporalen Erfahrung bei unterschiedlichen ideologischen Hintergründen. Die individuelle Emergenz des Taekwondo Spirit lässt, sicherlich mit Einschränkung, unterschiedliche ideologiebezogene Lesarten für dieselben Praktiken-Ensembles zu. Für die Entwicklung des Taekwondo wie auch für dessen politische Eingebundenheit, historisch wie gegenwärtig, ist Theatralität ein wichtiger Faktor. Im folgenden Teilkapitel werden daher noch einmal Theatralität und Ritualität aufgegriffen und zu der Praxis des Taekwondo in der untersuchten Schule sowie zu dessen historischem Entwicklungsprozess in Bezug gesetzt.
28 Anm.: Während weiterer Aufenthalte in Seoul bestand die Möglichkeit, auch Trainingseinheiten in anderen Schulen zu besuchen. Diese unterschieden sich teilweise grundlegend von den Trainingseinheiten der Fallstudie. Während die einzelnen Techniken zwar standardisiert aufgeführt wurden, unterschieden sich die PraktikenEnsembles hinsichtlich der Anordnung der Schüler*innen und ihrer Interaktion mit dem jeweiligen Trainer.
286 | Im Gleichschritt des Dao
6.4
TAEKWONDO SPIRIT: THEATRALITÄT UND RITUALITÄT
In den bisherigen Punkten der Auswertung konnte gezeigt werden, wie sich Trainingspraxis als wichtiger Bestandteil einer Praxis des Taekwondo, praxeologisch konzipieren und performativitäts-ästhetisch mit einem Fokus auf die Ebene der Praktiken und Praktiken-Ensembles hinsichtlich der performativen Hervorbringung von Taekwondo Spirit als Konglomerat von Normen, Werten und Idealen analysieren lässt. Darauf aufbauend wurde der Taekwondo Spirit für das explizite Fallbeispiel beschrieben, dessen Wahrnehmung in der Praxis zwischen selbstreferentiellem und emergentem Taekwondo Spirit oszilliert. Bereits in der Analyse wurde versucht, die zuvor formulierte Konzeption von Theatralität auf das untersuchte Fallbeispiel anzuwenden. Theatralität wurde hier als performativer, also in der situativen Entfaltung individuell hervorgebrachter Wirkungszusammenhang der Praxis beschrieben, in dem sich durch ästhetische Verdichtung eine Fokussierung und Lenkung von Aufmerksamkeit entfaltet. Während Theatralität als theatrale Praxis dieser Konzeption nach situativ und individuell in der Praxis entsteht, können theatrale Praktiken hingegen einen Rahmen bilden, der die Hervorbringung von Theatralität begünstigt. In der Fallstudie wurden die rahmenden Praktiken und Praktiken-Ensembles auf Basis dieser theoretischen Prämissen als theatrale Praktiken untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass diese mimetisch29 auf alltägliche Praktiken der Bewegung, des Stehens, Gehens, Drehens, Sitzens und auf Praktiken des Kämpfens Bezug nehmen und diese durch Stilisierung, Formalisierung und Rhythmisierung hervorheben. Wie sich dies in den Praktiken-Ensembles und ihrer performativen Entfaltung jeweils in unterschiedlicher Weise manifestierte, kann für die wesentlichen Praktiken-Gruppen wie folgt zusammengefasst werden. Die Praktiken-Gruppe Grundgerüst umfasst alltägliche Praktiken des Stehens, Verbeugens und Sprechens, die stilisiert und (kollektiv) rhythmisiert werden. Ebendies konnte auch für die Praktiken-Gruppe Gehen, Drehen, Sitzen festgestellt werden. Die Praktiken der Fußtechniken stellen sogenannte Ausnahme-Fußtechniken dar und spielen, im Vergleich zu ihren „alltäglichen“ Gegenstücken, mit kämpferischer Ineffizienz und Überhöhung, um Aufmerksamkeit zu erregen und zu lenken. Ihre inhärente Logik ist nicht die der kämpferischen Effizienz, sondern die der wirkungsmächtigen Präsenz und der ästhetischen Stilisierung anhand bestimmter körperästhetischer Ideale. Die Einzeltechniken, Sequenzen und Bewegungsformen der Praktiken-Gruppe Kibondong-
29 Vgl. Abschn. 3.1.4.
Der Performative Taekwondo Spirit | 287
jak/Poomsae beziehen sich ebenfalls auf „alltägliche“ Praktiken des Kämpfens und sind von diesen durch Formalisierung und Stilisierung ästhetisch abgehoben. Körperästhetische Merkmale sind z. B. eine ausladende Ausholbewegung, das Zurückziehen der jeweils anderen Faust, die formalisierten Stellungen mit geraden Linien und klaren Winkeln sowie die punktuelle Energieentladung am Endpunkt jeder Technik. Auf lautlicher Ebene findet Hervorhebung in den Kindergruppen durch die kollektive, rhythmische Rezitation von Versen statt. In beiden Gruppen wurde außerdem ein möglichst lauter Kampfschrei praktiziert, der sich vollständig von der Funktion, die Atemtechnik zu unterstützen, gelöst hat. Praktiken wie Kibondongjak in den Kindergruppen oder das gruppenweise PoomsaeLaufen in der Profigruppe eignen sich, um eine fokussierte Aufmerksamkeit gegenüber der Gruppe hervorzubringen. Auch in der Praktiken-Gruppe Kyŏrugi konnte beobachtet werden, dass Praktiken des Kämpfens in stilisierter, formalisierter und auch rhythmisierter Form, beispielsweise in Hanbŏn Kyŏrugi, hervorgehoben wurden. Hier waren Qualitäten wie Timing und Distanzgefühl, die im kämpferischen Kontext unabdingbar sind, zwar ebenfalls Kriterien einer skillful performance, waren jedoch klar einer Logik des ästhetisch Schönen untergeordnet. Statt einer kämpferischen Bezugnahme der Akteur*innen aufeinander, handelt es sich um eine ästhetische, spielerisch-konsequenzverminderte Interkorporalität, welche durch formalisierte und stilisierte Praktiken und Praktiken-Ensembles ermöglicht wurde. Kämpferische Praktiken dienten hier lediglich als Bewegungsmaterial, das anhand spezifischer Merkmale ästhetisiert zur Aufführung gebracht wurde. Sparring hingegen verkörperte eine kämpferischantagonistische Interkorporalität, basierte jedoch regelbedingt fast ausschließlich auf Ausnahme-Fußtechniken. Wie in den Abschnitten 5.1 und 5.2 gezeigt werden konnte, sind auch der Raum und die Bekleidung, die in die Praktiken eingebunden sind, Aspekte ihrer Theatralität. Der Dojang war zwar ein funktioneller Trainingsraum, wies gleichzeitig aber einen hohen ästhetischen Gestaltungsaufwand auf. Dazu zählten der Fußboden in Holzoptik, eine repräsentative Frontseite mit stilisierten Tiger- und Taekwondoin-Darstellungen sowie die koreanische Nationalflagge in beträchtlicher Größe wie auch diverse Poster, Bilder, Tafeln und Banner. Im Büro des Schulleiters waren diese spezifischen Symboliken weitergeführt und räumlich verdichtet zusammengetragen. Der Trainingsraum und die angrenzenden Räume zeigten somit eine hohe symbolische Dichte. 30 Gerade bezüglich des Raumes konnten bestimmte Narrative in der Bedeutungsvermittlung festgestellt werden, darunter die nationale und „traditionell“-kulturelle Zugehörigkeit, der Bezug zu höheren Bildungseinrichtungen und schließlich die Hervorhebung eines spezifi30 Vgl. Abschn. 6.2.
288 | Im Gleichschritt des Dao
schen Bildungsanspruchs. Auch die Trainingsbekleidung, der Dobok, fügt sich in dieses Schema. Obwohl dieser entgegen den institutionellen Standards kein zwingendes Element der Trainingspraxis war, wurde er von den Trainern sowie den Mitgliedern der Profigruppe in jeder Trainingseinheit getragen. Neben dem allgemeinen Design der Dobok, die sich klar von Alltagskleidung und gewöhnlicher Sportkleidung abhoben, waren diese zusätzlich mit diversen Aufnähern und Drucken geschmückt, was die symbolische Dichte verstärkte. Darüber hinaus konnten in der Praxis, abhängig von der jeweiligen Rahmung, das Tragen eines Demo-Dobok, eines Alumni-Dobok und eines Meister-Dobok festgestellt werden, welche jeweils unterschiedliche symbolische Elemente in sich vereinten und unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten herstellten. Trainingsjacken und Schuhe waren weitere spezifische Kleidungsstücke, die über die materielle Differenzierung zu denen, die sie nicht trugen, eine Hervorhebung ihrer Träger*innen herstellten. Wie beim Raum, so ist auch die Bedeutung der Kleidung und ihrer symbolischen Aspekte performativ zu konzipieren. Dennoch können auch hier eine nationale und eine „traditionell“-kulturelle Verbindung sowie der Bezug zu höheren Bildungseinrichtungen als Strategien der Bedeutungsvermittlung festgestellt werden. Die beschriebenen interkorporalen Mechanismen theatraler Hervorhebung in Verbindung mit der räumlichen und kleidungsspezifischen Hervorhebung fokussieren die Aufmerksamkeit auf die unmittelbar gegenwärtige persönliche und auf die kollektive Praxis sowie auf den Trainer. Die Schüler*innen können in dieser Praxis zum einen als Zuschauer*innen verstanden werden, deren Aufmerksamkeit auf den Trainer, andere Schüler*innen und die Gruppe gelenkt wird. Zum anderen wird in den Praktiken, besonders in den Poomsae-Sequenzen-Praktiken oder in Kibon-Makki/Chirŭgi, eine fokussierte Aufmerksamkeit auf sich selbst begünstigt. Im gesamten Prozess sind die Schüler*innen dabei Performer*innen, indem sie die Bewegungen verkörpert zur Aufführung bringen, und gleichzeitig Zuschauer*innen, welche die eigene Performance gemäß einem ästhetischen Ideal begutachten. Dieses ästhetische Ideal wird in besonderem Maße durch den Schulleiter, die Trainer und Assistenztrainer*innen und die fortgeschritteneren Schüler*innen verkörpert. Gerade die ästhetisch wirkungsvolle Aufführung der fortgeschritteneren Schüler*innen führt demnach zur Lenkung von Aufmerksamkeit und der Hervorbringung eines Perfomer*innen-Zuschauer*innenKomplexes.31 Während Theatralität einen Wirkungszusammenhang auf individueller Ebene der Aus- und Aufführung sowie der Wahrnehmung darstellt, beschreibt Ritualität hingegen einen Wirkungszusammenhang hinsichtlich der performativen und 31 Vgl. Abschn. 5.3.2.
Der Performative Taekwondo Spirit | 289
leiblich erfahrbaren Hervorbringung von Gemeinschaft. Während Theatralität die Lenkung und Fokussierung von Aufmerksamkeit beschreibt, betrifft Ritualität die potenziell daraus resultierenden sozialen Effekte hinsichtlich der Schaffung von andauernder Gemeinschaft auf Basis ihrer unmittelbar leiblichen Erfahrung in theatralen bzw. rituellen Praktiken. Ein Nachweis solcher Dynamiken in der untersuchten Trainingspraxis konnte im Rahmen dieser Studie nicht im Einzelnen erbracht werden. Über individuelles Erleben von Flow oder kollektivem Erleben spontaner Communitas32 in den konkreten Praxen kann auf Basis der Analyse keine Aussage getroffen werden. Hierzu wären andere Forschungsmethoden notwendig gewesen. Ritualität als performatives Phänomen entsteht situativ und individuell bzw. kollektiv. Was in dieser Studie gezeigt werden konnte – und hier verhält es sich ähnlich wie im Falle der Emergenz von Bedeutung und der Hervorbringung von Theatralität – ist, dass die Praktiken und Praktiken-Ensembles, welche die Trainingspraxis rahmen, die performative Hervorbringung von Ritualität begünstigen. In erster Linie sind hier die PraktikenEnsembles der Kindergruppen zu nennen, da diese durch die interkorporale Bezugnahme der Akteur*innen aufeinander Synchronizität und Kollektivität hervorbringen.33 Zwar sind solche Praktiken-Ensemble auch Teil der Praxis der Profigruppe, konnten jedoch deutlich seltener beobachtet werden. Es sind die Praktiken-Ensembles als Elemente der Performance(-Vorbereitung), in denen Synchronizität und Kollektivität potentiell verstärkt hervorgebracht werden. 34 Vielfach handelt es sich hier um Gruppenchoreografien, deren skillful performance die Synchronisierung der beteiligten Akteur*innen erfordert. In Praktiken-Ensembles wie Palch'agi-Bahnen 35 und Poomsae-Sequenzen/Laufen 36 hingegen liegt der Fokus verstärkt auf der eigenen Aus- und Aufführung. Hier kann von individuellen Flow-Erlebnissen gesprochen werden, welche auch als SelbstCommunitas, also als leiblich erfahrbare Einheit mit sich selbst, gedacht werden können. Wenn auch die situative Hervorbringung von Ritualität nicht belegt werden konnte, so konnten zumindest Indizien dafür gesammelt werden. Ein starkes Anzeichen hierfür ist die Gemeinschaft der ehemaligen Schüler*innen, die eine normative Communitas37 darstellt, welche unter wesentlichem Einfluss des gemeinsamen Erlebens von spontaner Communitas im Kontext der Trainingspraxis gewachsen ist. Bei den Schüler*innen der Kindergruppen kann 32 Vgl. Abschn. 3.2.4.1. 33 Vgl. Abschn. 5.5. 34 Ebd. 35 Vgl. Kap. 5.3.2. 36 Vgl. Kap. 5.3.3. 37 Vgl. Kap. 3.2.4.1.
290 | Im Gleichschritt des Dao
davon ausgegangen werden, dass ein treibender Einfluss zur Teilnahme am Training die Vorgabe der Eltern war. In der Profigruppe kann dieser Aspekt ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Eine wichtige Bedeutung kann darüber hinaus der eigenen Motivation zugemessen werden, durch die Praxis des Taekwondo einen Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen zu erhalten. In der Gruppe der ehemaligen Schüler*innen, können diese Faktoren hingegen ausgeschlossen werden. Insbesondere unter ihnen kann die ideologische Communitas, welche sich auf Basis gemeinsam erlebter spontaner Communitas herausgebildet hat, als wesentlicher Einflussfaktor für die Herausbildung der normativen Communitas, der real existierenden Gemeinschaft der ehemaligen Schüler*innen, angenommen werden.
6.5
ZUSAMMENFASSUNG, EINORDNUNG UND DISKUSSION
Institutionalisierter und selbstreferentieller Taekwondo Spirit überschneiden sich in vielen Punkten. In vielen unterscheiden sie sich jedoch auch. Selbstvertrauen, Mut und Durchsetzungsfähigkeit, Höflichkeit und Respekt, insbesondere gegenüber Älteren, Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen, Regelkonformes Verhalten und Ordnung, Gemeinschaftlichkeit und das Handeln auf ein gemeinsames Wohl hin und Patriotismus sind Kategorien, die angesichts der beobachteten Praxis als Aspekte eines selbstreferentiellen Taekwondo Spirit für beide Trainingsgruppen hervorgehoben werden können. Auch zwischen Kindergruppen und Profigruppe konnten weitere Unterschiede ausgemacht werden. In den Kindergruppen steht erkennbar die Kollektivität und die Aneignung eines breiten Wissens im Zentrum der Praxis. In der Profigruppe spielt Kollektivität ebenfalls eine Rolle, doch sind individuelle Exzellenz als Wert sowie Lockerheit und Fluss als körperästhetische Ideale von mindestens ebenso großer Bedeutung. Hierarchie und Autorität waren in beiden Praxisformen ein integraler Bestandteil, in der Profigruppe zeigte sich bezüglich der Verkörperung von Freude, Spaß und Ungezwungenheit jedoch ein ambivalentes Bild. In beiden Gruppenformen wurde ebenso die Offenheit gegenüber populärkulturellen Einflüssen praktiziert, ein Aspekt, der sich explizit gegenteilig zur Hervorhebung der traditionellen kulturellen Identität des institutionalisierte Taekwondo Spirit verhält. Zusätzlich zum vor-reflexiven selbstreferentiellen Taekwondo Spirit wird der (semi-)reflexive emergente Taekwondo Spirit in der Praxis von den Akteur*innen in individuellen Assoziationsprozessen hervorgebracht. Dieser entsteht als Bedeutung individuell im Zusammenspiel von rahmenden Praktiken, leiblicher Erfahrung, persönlichem Habitus und sozialen wie auch kulturellen und politi-
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davon ausgegangen werden, dass ein treibender Einfluss zur Teilnahme am Training die Vorgabe der Eltern war. In der Profigruppe kann dieser Aspekt ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Eine wichtige Bedeutung kann darüber hinaus der eigenen Motivation zugemessen werden, durch die Praxis des Taekwondo einen Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen zu erhalten. In der Gruppe der ehemaligen Schüler*innen, können diese Faktoren hingegen ausgeschlossen werden. Insbesondere unter ihnen kann die ideologische Communitas, welche sich auf Basis gemeinsam erlebter spontaner Communitas herausgebildet hat, als wesentlicher Einflussfaktor für die Herausbildung der normativen Communitas, der real existierenden Gemeinschaft der ehemaligen Schüler*innen, angenommen werden.
6.5
ZUSAMMENFASSUNG, EINORDNUNG UND DISKUSSION
Institutionalisierter und selbstreferentieller Taekwondo Spirit überschneiden sich in vielen Punkten. In vielen unterscheiden sie sich jedoch auch. Selbstvertrauen, Mut und Durchsetzungsfähigkeit, Höflichkeit und Respekt, insbesondere gegenüber Älteren, Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen, Regelkonformes Verhalten und Ordnung, Gemeinschaftlichkeit und das Handeln auf ein gemeinsames Wohl hin und Patriotismus sind Kategorien, die angesichts der beobachteten Praxis als Aspekte eines selbstreferentiellen Taekwondo Spirit für beide Trainingsgruppen hervorgehoben werden können. Auch zwischen Kindergruppen und Profigruppe konnten weitere Unterschiede ausgemacht werden. In den Kindergruppen steht erkennbar die Kollektivität und die Aneignung eines breiten Wissens im Zentrum der Praxis. In der Profigruppe spielt Kollektivität ebenfalls eine Rolle, doch sind individuelle Exzellenz als Wert sowie Lockerheit und Fluss als körperästhetische Ideale von mindestens ebenso großer Bedeutung. Hierarchie und Autorität waren in beiden Praxisformen ein integraler Bestandteil, in der Profigruppe zeigte sich bezüglich der Verkörperung von Freude, Spaß und Ungezwungenheit jedoch ein ambivalentes Bild. In beiden Gruppenformen wurde ebenso die Offenheit gegenüber populärkulturellen Einflüssen praktiziert, ein Aspekt, der sich explizit gegenteilig zur Hervorhebung der traditionellen kulturellen Identität des institutionalisierte Taekwondo Spirit verhält. Zusätzlich zum vor-reflexiven selbstreferentiellen Taekwondo Spirit wird der (semi-)reflexive emergente Taekwondo Spirit in der Praxis von den Akteur*innen in individuellen Assoziationsprozessen hervorgebracht. Dieser entsteht als Bedeutung individuell im Zusammenspiel von rahmenden Praktiken, leiblicher Erfahrung, persönlichem Habitus und sozialen wie auch kulturellen und politi-
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schen Diskursen. Obwohl er aus diesem Grund schwer fassbar ist, kann dennoch von performativen Möglichkeitsräumen hinsichtlich des emergenten Taekwondo Spirit gesprochen werden, in denen dieser Spirit in der Praxis hervorgebracht wird. Sie fluktuieren in diesem Beispiel zwischen Narrativen einer imaginierten national-traditionellen Identität, sportlichem Leistungswillen, populärer Medienkultur und post-industriellen Bildungsidealen. In der Praxis greifen selbstreferentieller und emergenter Taekwondo Spirit ineinander. So haben die Praktiken und Praktiken-Ensembles als Verkörperungen des selbstreferentiellen Taekwondo Spirits gleichzeitig Auswirkungen auf den emergenten Taekwondo Spirit, da sie die Rahmung seiner performativen Hervorbringung sind. Zugleich übt auch der emergente Taekwondo Spirit Einfluss auf die Praktiken und Praktiken-Ensembles aus, da die situative Art und Weise ihrer Durchführung von individuell hervorgebrachten Bedeutungsgefügen mitbestimmt wird. So ergibt sich ein dynamisches Verhältnis von Stabilität und Instabilität in der Praxis. Die routinierten Praktiken und Praktiken-Ensembles des Taekwondo stellen einerseits das stabile Element der Praxis dar, besitzen aber aufgrund ihrer Performativität eine prinzipielle Offenheit. Von einem allgemeinen, einem essenziellen Taekwondo Spirit zu sprechen, scheint angesichts der bisherigen Ergebnisse nicht haltbar. Vielmehr wird Taekwondo Spirit performativ, d. h. interkorporal, kontextuell, situativ und individuell hervorgebracht und unterliegt damit einer performativen Unschärfe. Er ist nur zu einem gewissen Punkt allgemein zu beschreiben. Gerade der emergente Taekwondo Spirit ist als flüchtig und individuell emergent anzusehen. Obwohl er aus diesem Grund schwer fassbar ist, können dennoch aufgrund von geteilten sozialen Milieus, einem ähnlichen Habitus und schließlich auf Basis der rahmenden Praktiken-Ensembles, wenn auch vorsichtig, allgemeinere Aussagen getroffen werden. Theatrale Praktiken bilden in der Trainingspraxis einen Rahmen, durch den machtvoller Einfluss auf die Emergenz von Bedeutung und die individuelle Wirkung dieser Bedeutung ausgeübt wird. Sie umfassen die Realität der Trainingspraxis damit potenziell als quasi-spirituelles Erleben von Einheit, mit einer Gruppe wie auch mit und in sich selbst. 6.5.1 Einordnung Bezogen auf gesamtgesellschaftliche Normen, Werte und Ideale sowie auf ihre historische und aktuelle diskursive Verhandlung zeigt sich die beobachtete Praxis als verkörperter Verhandlungsort. Taekwondo ist ein permanent in Wandlung begriffener kultureller Hybrid und so ist es der Taekwondo Spirit ebenfalls –
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ganz im Gegensatz zum institutionellen Postulat einer genuin koreanischen, traditionellen Identität. Noch immer haben Praktiken und Praktiken-Ensembles, die sich während der japanischen Kolonialära, in der Frühzeit der südkoreanischen Republik und der Yushin-Ära unter Park Chung Hi herausgebildet haben, eine zentrale Rolle in der Praxis des Taekwondo. Ganz besonders sind diese Praktiken und Praktiken-Ensemble in den Kindergruppen vorzufinden. Die Praktiken-Gruppe Grundgerüst ist signifikant durch die Praxis des Shōtōkan-Karate wie auch andere in der Kolonialzeit praktizierten Budō-Praktiken beeinflusst. Außerdem zeigen sich besonders Einflüsse aus der Phase des südkoreanischen nation-building mit Bezug auf nationalistische, kultur-essentialistische und militaristische Diskurse. In der beobachteten Praxis zeigt sich dies in der Begrüßung, der Anordnung der Akteur*innen, der militärischen Kommandos und in der starken Bezugnahme auf die koreanische Nationalflagge. Neben dem Grundgerüst sind es die Praktiken-Ensembles der Gruppe Gehen, Drehen, Sitzen, in denen sich der Einfluss militaristischer Körperästhetik zeigt. Die PraktikenEnsembles der Gruppe Kibondongjak/Poomsae verdankt ihre Körperästhetik ebenfalls dem frühen Einfluss des japanischen Karate, insbesondere des Shōtōkan-Karate.38 Dazu zählt das grundlegende technische Repertoire von Angriffsund Abwehrbewegungen, die Dynamik der Bewegungsführung, vor allem das punktuelle Stoppen der Techniken in ihrem Fokuspunkt (jap. Kime, 決め) sowie die Einteilung und Klassifizierung der einzelnen Techniken in Gruppen von Angriffs- und Abwehrtechniken ebenso wie der Schwerpunkt auf den geraden Fauststoß (주먹 지르기, Chumŏk Chirŭgi) als Hauptangriffstechnik in Kibondongjak und den Poomsae. Auch der Fokus auf kollektive Übungsformen wie Kibondongjak, Kibon Makki/Chirŭgi und Poomsae-Sequenzen/Laufen, aber auch Palch'agi-Block und Palch'agi-Kombinationen sind hierdurch beeinflusst. In den 1960er und 1970er Jahren wurden diese Praktiken nuancenhaft bearbeitet, um sie vom Karate abzuheben und dem Taekwondo eine „koreanische“ Identität zu verleihen. Ab Mitte der 2000er Jahre und verstärkt ab den 2010er Jahren erfuhren die Einzeltechniken und zusammenhängenden Praktiken mit der Anerkennung von internationalen Poomsae-Wettkämpfen einen weiteren Entwicklungsschub, im Zuge dessen die Bewegungsideale Lockerheit sowie fließende und runde Bewegungsabläufe hervorgehoben wurden. Konzentriert zu beobachten sind die Effekte dieser Entwicklung in der beobachteten Praxis in den PraktikenEnsembles Palch'agi-Bahnen/Aufwärm-Palch'agi-Bahnen und Poomsae38 Anm.: Dabei handelte es sich bereits um eine vielfach stilisierte und formalisierte Bewegungskultur, die auf kämpferischen Praktiken basierte, die unter verschiedenen Einflüssen auf Okinawa entstanden waren und zum Zweck der Leibeserziehung in dieser Form abgeändert worden waren (vgl. Moenig 2017).
Der Performative Taekwondo Spirit | 293
Sequenzen, in denen es um die individuelle Perfektionierung der persönlichen Techniken geht. Die Praktiken-Ensembles der Gruppe Fußtechniken basieren ebenfalls auf Praktiken des Shōtōkan-Karate, haben sich von diesen Ursprüngen jedoch wesentlich entfernt. Wie Udo Moenig argumentiert, war die Ausprägung des kompetitiven Freikampfes ab Mitte der 1960er Jahre für die Entwicklung der für Taekwondo so charakteristischen Fußtechniken verantwortlich. 39 Zusätzlich können jedoch auch die frühen internationalen Expansionsbestrebungen unter Choi Hong Hi als wichtige Grundlage für die Entwicklung der heute praktizierten Fußtechniken erachtet werden. Wie in Abschnitt 2.2 beschrieben, versuchte dieser, sein Taekwondo verstärkt ab den 1960er Jahren durch Demo-TeamVorführungen zu popularisieren. In diese Zeit fällt auch die beginnende Entwicklung von Ausnahmefußtechniken, welche das Bewegungsrepertoire der Fußtechniken in der beobachteten Praxis maßgeblich prägten. 40 Sowohl die Praxis des kompetitiven Zweikampfs als auch die der Demo-TeamVorführungen sind historisch betrachtet, wie in Abschnitt 2.2 und 6.2 ausgeführt, mit den internationalen Ambitionen Südkoreas in der Spätzeit der Regierung Park Chung Hees und später unter Chun Doo Hwan verbunden. Kyŏrugi wurde wenig praktiziert, was durch die höhere Verletzungsgefahr und durch den in Südkorea immer stärker werdenden Trend hin zu Poomsae und Demo-Team-Vorführung begründet werden kann. Diese bildeten im Training die klaren Schwerpunkte hinsichtlich des zeitlichen Umfangs. In der Profigruppe nahm Performance(-vorbereitung) einen großen Teil der Trainingszeit ein. Die Kollaboration von Taekwondo-Demo-Teams und K-Pop-Gruppen ist ein aktuell sehr verbreitetes Phänomen und Demo-Teams genießen in populärkulturellen Sphären eine hohe Beliebtheit. In der beobachteten Praxis war dieser Einfluss klar erkennbar. Taekwondo zeigt sich hier von seiner progressiven, popmedialen Seite. Dem gegenüber steht in der Praxis die Verkörperung von Nationalbewusstsein, Stärke, Disziplin, Hierarchie und Autorität. Dies interagiert mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, welche die Stellung des Individuums gegenüber der Gesellschaft verhandeln. Gesellschaft wird in Südkorea konservativ als nationale Gemeinschaft verhandelt, die gemäß konfuzianistischer Anschauung die Erweiterung der Familie darstellt. Tatsächlich ist die generationenübergreifende Familie ein Lebensentwurf, der in Südkorea immer weniger Anklang findet.41 Umso interessanter ist es, dass das Konzept der Familie in der untersuchten Taekwondo-Schule eine wichtige Rolle spielte. Die fortgeschrittenen Schüler*innen der Profigruppe wie auch die ehemaligen Schüler*innen 39 Vgl. Moenig 2015. 40 Vgl. Gillis 2011, S. 62; 64; 73. 41 Vgl. Kweon 2017, S. 81.
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wurden vom Schulleiter als seine Kinder betrachtet, für die er auch abseits des Trainings Sorge zu tragen hatte. Bei gemeinsamen Essen bezahlte der Schulleiter für alle Schüler*innen die Rechnung und vermittelte ihnen Aushilfsjobs. Bildung hat in der südkoreanischen Mittelschicht einen sehr hohen Stellenwert, der im Zuge der Demokratisierung ab den 1990er Jahren konstant zugenommen hat.42 Plätze an Top-Universitäten sind sehr begehrt, da sie als Voraussetzung für einen gutbezahlten Arbeitsplatz gelten. In diesem Zusammenhang hat sich ab den 1990er Jahren ein expandierender Markt um außerschulischen Unterricht entwickelt. Laut einer Studie von Yang Young-Kyun lag der Prozentsatz der Familien, die mehr als 500.000 Won (etwa 500 €) monatlich für außerschulische Bildungsangebote ausgaben, im Jahr 2009 bei 11,8 %. Der höchste Prozentsatz lag hier mit 18,1 % bei den Familien, die zwischen 200.000 Won (ca. 200 €) und 300.000 Won (ca. 300 €) für außerschulischen Unterricht ausgaben. Lediglich 25 % gaben an, kein Geld für außerschulische Bildungsangebote auszugeben.43 Während diese Bildungsangebote vor allem im Highschool-Alter zusätzlichen Unterricht in Prüfungsfächern abdecken, umfassen sie im Grundschulalter auch Aktivitäten wie das Erlernen von Musikinstrumenten, Kalligrafie, Malen und Sport.44 Dieser Trend konnte ebenfalls in der untersuchten Schule beobachtet werden. Auch hier war die überwiegende Mehrheit der Schüler*innen im Grundschulalter. Die älteren Schüler*innen trainierten, bis auf vereinzelte Ausnahmen, um später Taekwondo, Sport oder Physical Education studieren zu können. Auch hier ist der Name der Universität und ihr Ranking ausschlaggebend, was sich auch in der symbolischen Ausgestaltung der Schule widerspiegelte. In der Praxis zeigte sich dies in der vielfachen symbolischen Bezugnahme zu der Yong In University, einer der drei Top-Universitäten mit Taekwondo-Angebot. Taekwondo zeigt sich demnach als Verkörperung, als Aus- und Aufführung von Gesellschaft, in der gesellschaftlich relevante Diskurse auch in der erweiterten Trainingspraxis verhandelt werden. Gleichzeitigt findet über ihre Verkörperung die Einverleibung dieser gesellschaftlichen Diskurse und eine damit zusammenhängende Subjektivierung der Akteur*innen statt. Was als Taekwondo Spirit einverleibt wird, ist letzten Endes jedoch maßgeblich von der individuell hervorgebrachten Bedeutung anhängig. Durch theatrale Praktiken wie sie auch in der Trainingspraxis angetroffen wurden, können diese Prozesse durch die Emergenz von Theatralität und Ritualität beeinflusst werden. Sowohl Theatralität als auch Ritualität werden im Rahmen dieser Arbeit daher als soziale Kataly42 Vgl. Yang 2017, S. 216. 43 Vgl. Yang 2017, S. 224. 44 Vgl. Yang 2017, S. 227.
Der Performative Taekwondo Spirit | 295
satoren verstanden. Durch sie lässt sich schließlich erklären, wie die Trainingspraxis des Taekwondo als Mittel einer nationalen Erziehung sowie einer neoliberalen, post-industriellen Leibeserziehung und Selbsttechnik Wirkung zeigen konnte. In der Trainingspraxis werden gesellschaftliche Normen, Werte und Ideale konzentriert und stilisiert, formalisiert und kodifiziert zur Aufführung gebracht. Gleichzeitig bietet die Trainingspraxis einen emotional, materiell und symbolisch verdichteten Rahmen, in dem strukturelle Normen, Werte und Ideale konzentriert verhandelt werden können. Die performative Hervorbringung von Communitas ermöglicht dabei die unmittelbare Erfahrung von Einheit, Verbundenheit und Gemeinschaft, was gleichzeitig eine starke Überzeugungskraft bezüglich der im rituellen Prozess verhandelten Normen, Werte und Ideale ausüben kann. Das transformative Potential theatraler bzw. ritueller Praxis zeigt sich in der subjektivierenden Wirkung der Trainingspraxis. In und durch die Trainingspraxis befinden sich die Akteur*innen in einem fortlaufenden Prozess der Subjektivierung, in dem sie zu mitspielfähigen Subjekten in der Praxis des Taekwondo selbst gemacht werden. Über die Bezugnahme auf gesellschaftliche Strukturen und ihre fortlaufende Verkörperung schreiben sich diese in die Akteur*innen ein und machen sie nicht nur zu Subjekten in der Praxis des Taekwondo, sondern darüber hinaus zu gesellschaftlich mitspielfähigen Subjekten. Wenn auch die unmittelbare Transformation der Akteur*innen zunächst nur für die Dauer der Trainingspraxis besteht, so kann dennoch angenommen werden, dass die Transformationserfahrungen, insbesondere, wenn diese wiederholt oder sogar in regelmäßigen Abständen erfolgen, als prägende und somit kontinuierlich, schrittweise transformierende Erfahrungen wirksam werden Historisch betrachtet kann gesagt werden, dass die theatralen Praktiken des Taekwondo Wirkung erzielten. Das nation-building in Südkorea, an dem Taekwondo wesentlich beteiligt war, hat funktioniert. Ein durch staatliche Kulturund Bildungspolitik geprägtes Narrativ zum Zusammengang von individueller, kollektiver und nationaler Identität bestimmt auch heute noch gesellschaftliche Diskurse, anhand derer individuelle Identität herausgebildet wird. An diesen Prozessen der Essentialisierung von national-kultureller Identität war Taekwondo maßgeblich beteiligt. Gleichsam zeigt sich eine solche Essentialisierung auch im Diskurs um die Identität des Taekwondo selbst. Während die Zuschreibung einer nationalen-kulturellen Identität in der Kwan-Ära noch strategisch und als solche bewusst war,45 setzte fast gleichzeitig ein Prozess der Naturalisierung ein, der wenige Jahre später in der Yushin-Ära auf nationaler Ebene politisch institutionalisiert wurde. Dieser Prozess bestimmte die Identität des Taekwondo lange 45 Anm.: Die Kulturtheoretikerin Gayatri Spivak bezeichnet dies als „strategischen Essenzialismus“ (vgl. Spivak 1988a; b).
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Zeit auf hegemonialer Ebene und ist noch heute weit verbreitet. 46 Bezüglich der Wirksamkeit des Taekwondo für den privaten Bildungssektor kann anhand der Anzahl der privaten Taekwondo-Schulen eine konstante, sogar zunehmende Bedeutung diagnostiziert werden. Neben Aktivitäten wie Tanzen und dem Erlernen von Musikinstrumenten hat Taekwondo eine wichtige Rolle als Element einer post-indu-striellen Mittelklasse-Erziehung inne. Auch die internationale Popularisierung kann als erfolgreich betrachtet werden. Taekwondo ist seit dem Gründungsjahr der Korea Taekwondo Association 1959 in nur etwa 60 Jahren zu einem weltweit praktizierten Phänomen und zu einer olympischer Wettkampfdisziplin geworden.47 In all diesen Prozessen haben die theatralen und rituellen Qualitäten des Taekwondo eine wichtige Rolle gespielt. 6.5.2 Diskussion Während sich die Praxis des Taekwondo aus unterschiedlichen Teilpraxen wie Trainingspraxis, Prüfungspraxis, Kyŏrugi-Wettkampfpraxis, PoomsaeWettkampfpraxis und Demo-Praxis zusammensetzt, wurde in dieser Studie lediglich die Trainingspraxis untersucht. Dementsprechend können keine endgültigen, umfassenden Aussagen über die Gesamtpraxis des Taekwondo, die wiederum alle genannten Teilpraxen umfasst, getroffen werden. Hinzu kommt, dass es sich um ein Fallbeispiel handelt, was den Aussagegehalt weiter eingrenzt. Dennoch kann der Trainingspraxis unter den übrigen Teilpraxen allein schon hinsichtlich ihres zeitlichen Anteils eine zentrale Rolle für die Gesamtpraxis des Taekwondo zugesprochen werden. Darüber hinaus sind sowohl die Wettkampfpraxen als auch die Demo-Praxis für die meisten TaekwondoSchüler*innen irrelevant, da sie nicht daran teilnehmen oder als Zuschauer*innen rezipieren. Die Trainingspraxis hingegen ist als Praxis umfassend verbreitet. Auch deshalb sind Ergebnisse dieser Studie auf die gesamte Praxis des Taekwondo in Südkorea übertragbar. In erster Linie ist es die Erkenntnis, dass nicht von dem einen Taekwondo Spirit gesprochen werden kann, zumindest nicht in einem deskriptivessentialistischen Sinne, als dass er die tatsächliche Praxis des Taekwondo beschreiben könnte. Stattdessen ist der Taekwondo Spirit abhängig von der Rahmung durch Praktiken und Praktiken-Ensembles und ist kontextuell, situativ und individuell emergent. Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Praxen des Taekwondo in Südkorea auch hinsichtlich ihrer Praktiken, sowohl im Kleinen als auch im Großen. Während es von Schule zu Schule Abweichungen und Varia46 Vgl. Abschn. 2.1.2 und Abschn. 2.3. 47 Vgl. Abschn. 2.1.
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tionen hinsichtlich der verkörperten Praktiken gibt, kann darüber hinaus aufgrund von unterschiedlichen Trainingsschwerpunkten, etwa Kyŏrugi, Poomsae, Demo-Team-Vorführung oder Selbstverteidigung, von signifikanten Unterschieden in der Trainingspraxis gesprochen werden. Aus all diesen Unterschiede in den Trainingspraxen resultieren dementsprechend auch Unterschiede für den verkörperten Taekwondo Spirit. Gemeinsamkeiten sind etwa geteilte soziale Räume, ein ähnlicher Habitus und eine gemeinsame Einbettung in gesamtgesellschaftliche Diskurse, die wiederum einen geteilten Möglichkeitsraum hinsichtlich der Emer-genz von Taekwondo Spirit bedeuten. Dies erscheint umso interessanter, wenn Taekwondo nicht nur als südkoreanisches Phänomen, sondern darüber hinaus als globales Phänomen betrachtet wird. Zu dem Variantenreichtum in den Praktiken und Praktiken-Ensembles tritt eine gravierende Differenz von sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. Dies hat die Auswirkung, dass bei gleichen Praktiken-Ensembles der selbstreferentielle Taekwondo Spirit in völlig unterschiedlichen Kontexten zwar gleich bzw. sehr ähnlich sein kann, der emergente Taekwondo Spirit sich jedoch voraussichtlich signifikant unterscheiden wird. Dieser Umstand macht den institutionellen Taekwondo Spirit als deskriptives Konzept im Hinblick auf die globale Praxis des Taekwondo umso fragwürdiger. Es bleibt allein seine Relevanz als normatives Konzept. Weitere Untersuchungen hinsichtlich der kulturellen Übersetzung 48 von Taekwondo würden sich daher anbieten. Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt umfasst die sprachlichen Elemente der Trainingspraxis, deren Semantik in der Analyse weitestgehend außer Acht gelassen wurde. Es stellt sich die Frage, ob das Einbeziehen dieser Aspekte ein signifikant anderes Ergebnis erzielt hätte. Obwohl dies nicht endgültig ausgeschlossen werden kann, können vollkommen andere Ergebnisse dennoch bezweifelt werden. Praktiken-Ensembles, in denen die Sprache eine Rolle als zentraler Bedeutungsträger spielte, waren ausschließlich die Monologe des Lehrers. Eine Inhaltsanalyse der Monologe wäre interessant gewesen, für eine Untersuchung des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit jedoch zweitrangig. Wesentlich hierfür ist nicht, was die Trainer bzw. der Schulleiter erzählen, sondern im Rahmen welcher praktischen Anordnungen und mit welcher Intonation dies geschieht. Beide Punkte wurden in die Analyse miteinbezogen. Damit zusammenhängend zeigt sich auch die allgemeine heuristische Grundproblematik, von äußeren Darstellungen auf innere Vorgänge rückzuschließen. So gestaltete es sich nicht einfach, im Rahmen des selbstreferentiellen Taekwondo Spirit diesen genau zu benennen. Hierbei handelte es sich nicht nur um sprachliche Probleme
48 Vgl. Benthien/Klein 2017.
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der Formulierung, sondern auch das Problem, das Beobachtete überhaupt erfassen zu können. Als letzter Punkt ist an dieser Stelle eine kritische Reflexion der erarbeiteten Konzeptionen von Theatralität und Ritualität bezogen auf die Trainingspraxis des Taekwondo angebracht. Im Rahmen der Untersuchung offenbarte sich, dass Theatralität und Ritualität nicht zwingend in direkt-kausalem Zusammenhang zu theatralen Praktiken stehen, sodass theatrale Praktiken – und nur diese – zwangsläufig Theatralität und Ritualität hervorbringen müssen. Vielmehr zeigten sich beide als situativ emergent. Sogar die Klassifikation der einzelnen Praktiken als theatrale Praktiken zeigte sich als kontextgebunden. Besonders anschaulich zeigt sich dies im Falle der Ausnahme-Fußtechniken, die zwar als Bestandteile von theatralen Praktiken konzipiert wurden, im Kontext von Kyŏrugi jedoch als „alltägliche“ Praktiken dem Paradigma der Effizienz nach ausgeführt wurden.49 Hier zeigt sich, dass Theatralität und Ritualität im Rahmen dieser Studie nicht in ihrer vollen Komplexität erfasst werden konnten und es weiterer Forschung bedarf. So ist die gegenseitige Bezugnahme der unterschiedlichen Teilpraxen des Taekwondo aufeinander in dieser Studie kaum untersucht worden: wie etwa Trainingspraxis, Demo-Team-Praxis, Wettkampfpraxis und gemeinsame Freizeitaktivitäten in der Gesamtpraxis des Taekwondo in einer Schule ineinandergreifen und wie hier Theatralität und Ritualität auf unterschiedlichen Ebenen in ihrer Beziehung zueinander hervorgebracht werden. Dies gilt auch für die Prozesse, in denen sich theatrale Praktiken zu „alltäglichen“ Praktiken wandeln, und wie unter Bezugnahme auf „alltägliche“ Praktiken, theatrale Praktiken implementiert werden. 6.5.3 Abschließender Überblick Abschließend wird ein komprimierter Überblick über Eckpunkte dieser Forschungsarbeit geboten. Die forschungsleitende Fragestellung wurde anhand von drei Argumentationslinien entwickelt, die in der Einleitung unter Abschnitt 1.4 formuliert wurden. Nach jedem folgenden Kapitel wurden spezifizierende Fragestellungen formuliert, welche die jeweilige Argumentationslinie unter Einbeziehung des jeweiligen Kapitels mit konkretisierenden Fragen fortführen. Die Befunde umfassen schließlich einen Überblick über die einzelnen Teilergebnisse, welche auf Basis der Analyse der beobachteten Trainingspraxis ermittelt werden konnten. Eine Auflistung der einzelnen Aspekte des institutionellen Taekwondo Spirit und des performativen (selbstreferentiellen und emergenten) Taekwondo Spirit können aufgrund des Umfangs an dieser Stelle nicht 49 Vgl. Abschn. 5.3.4.
Der Performative Taekwondo Spirit | 299
geboten werden. Diese findet sich ebenfalls in tabellarischer Form unter den jeweiligen Abschnitten Tabelle 11: Forschungsüberblick und Argumentationsstruktur
Argumentationsstruktur Progressiver Aufbau der Forschungsfragen
Argumentationslinie
1
2
3
[4]
Forschungsleitende Fragestellungen (Kap. 1)
Spezifizierende Fragestellung nach Kap. 2
Welche Normen, Werte und Ideale werden im Taekwondo(-Training) verkörpert?
Welche Normen, Werte und Ideale werden in der tatsächlichen Praxis des Taekwondo verkörpert? Wie kann Taekwondo Spirit auf Ebene der Praxis theoretisch gefasst werden?
Spezifizierende Fragestellung nach Kap. 3
Welche Praktiken (-Ensembles) rahmen die Praxis des Taekwondo? Wie wird Taekwondo Spirit als Bedeutung in der Wie gestalten Praxis hervorgesich die Verkörbracht? perungsprozesse Welche Rolle spievon Normen, len theatrale PrakWerten und Idetiken in der Traialen? ningspraxis? Wie können diese Wie zeigen sich ge- Wie ist die RolVerkörperungspro- sellschaftliche Trans- le des Taekwondo zesse im Kontext formationsprozesse als theatrale Praxis gesellschaftlicher in der gegenwärti- im Kontext indiviTransformations- gen Praxis des Tae- dueller und kollektiver Transformaprozesse verortet kwondo? werden? tionsprozesse einzuordnen? Wie können oben genannte Fragen empirisch untersucht werden?
300 | Im Gleichschritt des Dao
Befunde
ad 1
ad 2
ad 3
Taekwondo Spirit als Konglomerat von Normen, Werten und Idealen kann in Form eines institutionellen und eines performativen Taekwondo Spirit konzipiert werden. Der performative Taekwondo Spirit wird in der Praxis als Zusammenspiel von selbstreferentiellem und emergenten Taekwondo Spirit individuell und situativ hervorgebracht. Dies wurde anhand einer Fallstudie analysiert (detaillierte Auflistungen sind unter den Abschnitten 5.4, 6.1 und 6.2 aufgeführt). Der performative Taekwondo Spirit ist kontextuell, situativ und individuell. Es kann daher nicht von dem einen Taekwondo Spirit gesprochen werden. Der performative (selbstreferentielle) Taekwondo Spirit unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von dem institutionellen Taekwondo Spirit (vgl. Abschnitt 6.1). Taekwondo-Praxis ist durch bestimmbare PraktikenEnsembles gerahmt, die vielfach als theatrale Praktiken verstanden werden können. Theatralität ist jedoch als performatives Phänomen zu verstehen und wird daher erst interkorporal in der Praxis hervorgebracht. Dies wurde anhand der Fallstudie aufgezeigt (vgl. Abschnitt 5.3 und 6.3). Taekwondo-Praktiken haben sich im Kontext gesellschaftlicher Diskurse und Transformationsprozesse in Südkorea kontinuierlich gewandelt. Einige Wesentliche konnten mit der Praxis der Fallstudie in Verbindung gebracht werden (vgl. Abschnitt 6.2 und 6.4). Der Taekwondo Spirit hat sich in diesem Zusammenhang ebenfalls gewandelt und unterliegt einer Zeitlichkeit und einer Räumlichkeit. Taekwondo in Südkorea ist als kulturell hybride Praxis zu verstehen wie auch der Taekwondo Spirit als Hybrid zu verstehen ist. Als theatrale Praxis wirkt Taekwondo als sozialer Katalysator hinsichtlich gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Dies konnte im Kleinen anhand der Fallstudie gezeigt werden (vgl. Abschnitt 6.2, 6.3 und 6.4).
7. Schluss: Resümee, Grenzen, Anknüpfungspunkte und Wissenstransfer
Ziel dieser Studie war es, die performative Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen in der Praxis des Taekwondo zu untersuchen. Dabei waren drei Fragen forschungsleitend: • • •
Welche Normen, Werte und Ideale werden im Taekwondo verkörpert? Auf welche Art und Weise geschieht dies? Wie ist dies im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen zu verorten?
Diesen Fragestellungen wurde im Rahmen einer theoriegestützten empirischen Fallstudie nachgegangen. Die theoretische Grundlage konzentrierte sich auf wesentliche Aspekte der Praxistheorie sowie der Theater- und PerformanceTheorie. Zentrale Begriffe umfassten dabei Praxis und Praktiken, Performativität, Theatralität und Ritualität. Die Fallstudie konzertierte sich speziell auf die Trainingspraxis in einer Taekwondo-Schule in Seoul/Südkorea mit einem besonderen Fokus auf die rahmenden Praktiken und Praktiken-Ensembles. Die performative Hervorbringung von Taekwondo Spirit im Kontext theatraler Praktiken wurde schließlich im Kontext von gesellschaftlichen Entwicklungen und zentraler Taekwondo-naher Diskurse in Südkorea eingeordnet.
7.1
ZENTRALE ERGEBNISSE
Die zentralen Erkenntnisse dieser Forschungsarbeit können in Bezug auf die forschungsleitenden Fragestellungen wie folgt zusammengefasst werden: 1.
Taekwondo Spirit als Konglomerat von Normen, Werten und Idealen kann in Form eines institutionellen und eines performativen Taekwondo Spirit konzipiert werden. Der performative Taekwondo Spirit wird in der
302 | Im Gleichschritt des Dao
2.
3.
Praxis als Zusammenspiel von selbstreferentiellem und emergenten Taekwondo Spirit individuell und situativ hervorgebracht. Dies wurde anhand einer Fallstudie analysiert. 1 Der performative Taekwondo Spirit ist kontextuell, situativ und individuell. Es kann daher nicht von dem einen Taekwondo Spirit gesprochen werden. Der performative (selbstreferentielle) Taekwondo Spirit unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von dem institutionellen Taekwondo Spirit.2 Taekwondo-Praxis ist durch bestimmbare Praktiken-Ensembles gerahmt, die vielfach als theatrale Praktiken verstanden werden können. Theatralität ist jedoch als performatives Phänomen zu verstehen und wird daher erst interkorporal in der Praxis hervorgebracht. Dies wurde anhand der Fallstudie aufgezeigt.3 Taekwondo-Praktiken haben sich im Kontext gesellschaftlicher Diskurse und Transformationsprozesse in Südkorea kontinuierlich gewandelt. Einige wesentliche konnten mit der Praxis der Fallstudie in Verbindung gebracht werden.4 Der Taekwondo Spirit hat sich in diesem Zusammenhang ebenfalls gewandelt und unterliegt einer Zeitlichkeit und einer Räumlichkeit. Taekwondo in Südkorea ist als kulturell hybride Praxis zu verstehen wie auch der Taekwondo Spirit als Hybrid zu verstehen ist. Als theatrale Praxis wirkt Taekwondo als sozialer Katalysator hinsichtlich gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Dies konnte im Kleinen anhand der Fallstudie gezeigt werden.5
Neben der zentralen Erkenntnis, dass nicht von einem Taekwondo Spirit gesprochen werden kann und dieser stattdessen performativ hervorgebracht wird, bietet sich darüber hinaus die These an, dass sich bei Veränderung von Trainingspraktiken, etwa aus Gründen der wettkampfsportlichen Effektivität, zwangsläufig auch die Rahmung für die Hervorbringung des performativen Taekwondo Spirit ändert.
1
Anm.: Detaillierte Auflistungen sind unter den Abschnitten 5.4, 6.1 und 6.2 aufgeführt.
2
Vgl. Abschn. 6.1.
3
Vgl. Abschn. 5.3; 6.3.
4
Vgl. Abschn. 6.2; 6.4.
5
Vgl. Abschn. 6.2; 6.3; 6.4.
Schluss | 303
7.2
BEGRENZUNGEN UND ANKNÜPFUNGSPUNKTE
Zunächst ist die umfassende Gültigkeit dieser Studie durch die Begrenzungen von qualitativer Forschung im Allgemeinen und ethnografischer Methoden im Speziellen eingeschränkt. Die Beschränkung auf ein Fallbeispiel muss, auch bei konkreten Indizien für eine allgemeinere Übertragbarkeit, als Einschränkung betrachtet werden,6 ebenso wie der Fokus auf die Trainingspraxis als eine Teilpraxis des Taekwondo bei Ausklammerung der übrigen Teilpraxen. Obwohl die sprachlichen Hürden zwar begründbar wenig Einfluss auf die Ergebnisse der Studie ausgeübt haben, sind sie dennoch ebenfalls als Begrenzung anzuerkennen.7 Was diese Forschungsarbeit leisten konnte, ist das Veranschaulichen von theoretischen Überlegungen an einem empirischen Fallbeispiel und die Analyse einer konkreten Rahmung für die performative Hervorbringung eines Taekwondo Spirits, bei gleichzeitigem Rückschluss vom Speziellen auf das Allgemeine: Taekwondo Spirit ist in besonderem Maße abhängig von den rahmenden Praktiken und von einen Taekwondo Spirit kann nicht gesprochen werden. Gleichzeitig bietet die Studie vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Forschung. Ein Anknüpfungspunkt wäre die Untersuchung anderer Taekwondo-Schulen in Südkorea bzw. in anderen Ländern und der Vergleich der Befunde mit denen dieser Studie. Interessant wäre hier besonders die Frage, wie sich der Taekwondo Spirit der Trainingspraxis einer Schule mit Fokus auf olympischen Zweikampf von dem einer Schule mit Fokus auf Poomsae-Wettkampf oder Selbstverteidigung unterscheidet. Interessant wäre auch, andere Teilpraxen wie Wettkampf oder Demo-Vorführung dahingehend zu untersuchen, wie Taekwondo Spirit hier interkorporal zwischen Athlet*innen, Zuschauer*innen, Kampfrichter*innen sowie Turnier und Wettkampfleitung hervorgebracht wird. Sinnvoll wäre außerdem der Versuch, den emergenten Taekwondo Spirit weiter zu untersuchen und zu analysieren, ob und wie dieselben Praktiken-Ensembles bei unterschiedlichen Akteur*innen einen unterschiedlichen Taekwondo Spirit hervorbringen. Hier wären andere Methoden notwendig, die auf diskursiver Ebene arbeiten, z. B. umfassende Interviews. Während in dieser Studie der Fokus auf die Ebene der Praktiken gelegt wurde, wäre nun interessant, die PraxisEbene in den Blick zu nehmen und stärker auf die leibliche Perspektive einzugehen. Es wäre bereichernd zu fragen, welchen Einfluss das leibliche Erleben der Trainingspraxis und die Progression in Bezug auf das spezifische Körperwissen auf die individuelle Emergenz von Taekwondo Spirit hat. Bezüglich der Theatra-
6
Vgl. Abschn. 6.4.2.
7
Ebd.
304 | Im Gleichschritt des Dao
lität im Kontext der Taekwondo-Praxis wäre es interessant, diese innerhalb Axel Binhacks Konzept einer allgemeinen „Kampfsportlichen Ästhetik“ 8 zu verorten bzw. miteinander in Beziehung zu setzen. Schließlich könnte auch die Praxis anderer Martial Arts in Korea oder auch in anderen Ländern hinsichtlich der performativen Hervorbringung eines spezifischen Spirits untersucht werden.
7.3
WISSENSCHAFTLICHER MEHRWERT UND WISSENSTRANSFER
Neben dem Beitrag zum Forschungsfeld der Martial Arts Studies kann diese Studie in mehrerlei Hinsicht einen Beitrag leisten. Bezogen auf die praxeologische Theorie kann sie dazu beitragen, die Verkörperung und Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen innerhalb der Praxis und die Rolle von Theatralität und Ritualität in diesem Zusammenhang zu präzisieren. Auf theater- und performancetheoretische Forschung bezogen kann die Studie ein praxeologisch aktualisiertes Theatralitätskonzept anbieten, welches Theatralität als performatives und emergentes Konzept beschreibt, dessen Entfaltung durch theatrale Praktiken begünstigt wird. Das hier erarbeitete Theatralitätskonzept ist dabei bewusst als praxeologische Ergänzung zu aktuellen handlungsorientierten Theatralitätsbegriffen zu verstehen. Im Bereich der Koreanistik kann diese Studie dazu beitragen, mit der Analyse der populären Bewegungskultur Taekwondo Rückschlüsse auf gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse in Südkorea zu ziehen. Hinsichtlich pädagogischer Forschung und Praxis kann diese Studie ein methodisches Werkzeug bieten, Trainingspraxis im Kontext von Martial Arts und populären Bewegungskulturen im Allgemeinen bezüglich der Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen zu untersuchen. Aktuell zeigen sich hier verschiedene Anwendungsmöglichkeiten auf. Neben der Taekwondo Humanitarian Foundation und dem Taekwondo Peace Corps implementieren derzeit unterschiedliche Organisationen Martial Arts als Mittel einer werteorientierten Pädagogik in unterschiedlichen Weltregionen, so das UNESCO ICM (International Center for Martial Arts and Youth Development)9 in Südkorea und weltweit, Martial Arts for Peace10 in Deutschland und in der Türkei, Fight for Peace11 in
8
Vgl. Binhack 1998, S. 156ff.
9
UNESCO ICM, Website, http://www.unescoicm.org/eng/, abgerufen 19.06.2020.
10 Martial Arts for Peace, Website, https://martialartsforpeace.org/, abgerufen 04.05.2020. 11 Fight for Peace, Website, https://fightforpeace.net/, abgerufen 19.06.2020.
304 | Im Gleichschritt des Dao
lität im Kontext der Taekwondo-Praxis wäre es interessant, diese innerhalb Axel Binhacks Konzept einer allgemeinen „Kampfsportlichen Ästhetik“ 8 zu verorten bzw. miteinander in Beziehung zu setzen. Schließlich könnte auch die Praxis anderer Martial Arts in Korea oder auch in anderen Ländern hinsichtlich der performativen Hervorbringung eines spezifischen Spirits untersucht werden.
7.3
WISSENSCHAFTLICHER MEHRWERT UND WISSENSTRANSFER
Neben dem Beitrag zum Forschungsfeld der Martial Arts Studies kann diese Studie in mehrerlei Hinsicht einen Beitrag leisten. Bezogen auf die praxeologische Theorie kann sie dazu beitragen, die Verkörperung und Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen innerhalb der Praxis und die Rolle von Theatralität und Ritualität in diesem Zusammenhang zu präzisieren. Auf theater- und performancetheoretische Forschung bezogen kann die Studie ein praxeologisch aktualisiertes Theatralitätskonzept anbieten, welches Theatralität als performatives und emergentes Konzept beschreibt, dessen Entfaltung durch theatrale Praktiken begünstigt wird. Das hier erarbeitete Theatralitätskonzept ist dabei bewusst als praxeologische Ergänzung zu aktuellen handlungsorientierten Theatralitätsbegriffen zu verstehen. Im Bereich der Koreanistik kann diese Studie dazu beitragen, mit der Analyse der populären Bewegungskultur Taekwondo Rückschlüsse auf gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse in Südkorea zu ziehen. Hinsichtlich pädagogischer Forschung und Praxis kann diese Studie ein methodisches Werkzeug bieten, Trainingspraxis im Kontext von Martial Arts und populären Bewegungskulturen im Allgemeinen bezüglich der Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen zu untersuchen. Aktuell zeigen sich hier verschiedene Anwendungsmöglichkeiten auf. Neben der Taekwondo Humanitarian Foundation und dem Taekwondo Peace Corps implementieren derzeit unterschiedliche Organisationen Martial Arts als Mittel einer werteorientierten Pädagogik in unterschiedlichen Weltregionen, so das UNESCO ICM (International Center for Martial Arts and Youth Development)9 in Südkorea und weltweit, Martial Arts for Peace10 in Deutschland und in der Türkei, Fight for Peace11 in
8
Vgl. Binhack 1998, S. 156ff.
9
UNESCO ICM, Website, http://www.unescoicm.org/eng/, abgerufen 19.06.2020.
10 Martial Arts for Peace, Website, https://martialartsforpeace.org/, abgerufen 04.05.2020. 11 Fight for Peace, Website, https://fightforpeace.net/, abgerufen 19.06.2020.
Schluss | 305
Brasilien, Großbritannien, Südafrika und Jamaica, Bom Combat12 in Südafrika, Budo for Peace13 in Israel, die Atrium Society14 in den USA und schließlich auch das Programm Sports for Development15, eine Kooperation von DFB (Deutscher Fußball Bund), DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund), GIZ (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit) und BMZ (Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), aktiv in unterschiedlichen Ländern weltweit. Im Rahmen solcher Aktivitäten kann das methodische Gerüst dieser Arbeit als wissenschaftliches Werkzeug dienen, solche Projekte wissenschaftlich zu begleiten und hinsichtlich der Hervorbringung von Normen, Werten und Idealen zu evaluieren. Schließlich möchte diese Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Bedeutung, Entstehung und Transformation von kulturellen Normen, Werten und Idealen zu diskutieren. Angesichts der in Deutschland seit längerem erstarkenden gesellschaftlichen Debatten zu kultureller Identität und kollektiven Normen, Werten und Idealen im Zuge globaler Migrationsbewegungen, kann diese Studien einen Beitrag dazu leisten, kulturelle Dynamiken in dieser Hinsicht genauer zu beleuchten.
12 Bom Combat, Website, https://www.saferspaces.org.za/organisation/entry/bom-com bat, abgerufen 04.05.2020. 13 Budo for Peace, Website, http://www.budoforpeace.org/, abgerufen 04.05.2020. 14 Atrium Society, Website, https://www.atriumsoc.org/map/introduction.php, abgerufen 04.05.2020. 15 Sports for Development, Website, https://www.sport-for-development.com/home, abgerufen 04.05.2020.
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Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung September 2021, 160 S., kart., Dispersionsbindung 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8
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Soziologie Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid
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