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German Pages [353] Year 2019
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817469
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis
VERLAG KARL ALBER
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis Zur Genesis und Kernstruktur der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Karl Marx – The dialectics of social practice On the genesis and core structure of the critical philosophy of social practice. Even the first edition of this book from the year 1981 tried to detach the philosophy of Marx’ societal praxis from the then still predominant dogmatic stronghold. After reunification and after becoming increasingly clear over the following decades that the value-based economy is not able to solve the societal and global conflicts, there is renewed interest in a dispassionate analysis of the philosophy of Marx. Schmied-Kowarzik demonstrates how Marx critically analyses the value-based economy in its estranged and inverted structures and how he comes to the conclusion that only a solidary societal praxis can overcome the economic oppositions, which it self-imposedly became entangled with. The societal praxis must however come to understand itself in its comprehensive natural context – this is where the philosophical prerequisites lie for a critical analysis and a possible mastering of today’s ecological problems. The Author: Professor Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, born 1939, taught philosophy at Kassel University between 1971 and 2007. He moved to Vienna in 2011. The publishing house Karl Alber has published numerous of his works, among these: Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Buber und Cohen (2006) (English: Rosenzweig in conversation with Ehrenberg, Buber and Cohen), as editor: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, 2 vols. (2006) (English: Franz Rosenzweig’s »new thinking«), Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015) (English: Thinking existence. Schelling’s philosophy from its beginnings to his late work) and Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit (2017) (English: The diversity of cultures and the responsibility for the one humankind).
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis Zur Genesis und Kernstruktur der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis Schon die Erstauflage dieses Buches aus dem Jahre 1981 versuchte die Philosophie der gesellschaftlichen Praxis von Marx aus der damals noch vorherrschenden dogmatischen Umklammerung zu lösen. Jetzt nach der Wende und nachdem in den folgenden Jahrzehnten immer deutlicher wird, dass die wertbestimmte Ökonomie die gesellschaftlichen und globalen Widersprüche nicht zu bewältigen vermag, erwacht das Interesse an einer unvoreingenommenen Analyse der Praxisphilosophie von Marx aufs Neue. Schmied-Kowarzik zeigt, wie Marx die wertbestimmte Ökonomie in ihren entfremdeten und verkehrten Strukturen kritisch analysiert und zu dem Ergebnis kommt, dass nur eine solidarische gesellschaftliche Praxis die ökonomischen Widersprüche zu überwinden vermag, in die sie sich ›selbstverschuldet‹ verstrickt hat. Allerdings muss sich die gesellschaftliche Praxis selber dialektisch aus dem umfassenderen Naturzusammenhang begreifen – hierin liegen die philosophischen Voraussetzungen für eine kritische Analyse und mögliche Bewältigung unserer heutigen ökologischen Probleme. Der Autor: Professor Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, geb. 1939, lehrte von 1971 bis 2007 Philosophie an der Universität Kassel und lebt seit 2011 in Wien. Im Verlag Karl Alber erschien u. a.: Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Buber und Cohen (2006), als Herausgeber Franz Rosenzweigs »neues Denken«, 2 Bde. (2006), Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015) und Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit (2017).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Porträtfoto Karl Marx, ca. 1875 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48969-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81746-9
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Inhalt
Vorwort zur Neuauflage 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung – Die Marxsche Theorie als praxisphilosophische Kritik . . . . .
17
I.
Kritik als Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie
.
31
II.
Von der Kritik der Rechtsphilosophie zur Kritik der politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
III.
Die Kernstruktur der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis
76
IV.
Zur Dialektik der Kritik der politischen Ökonomie . . . .
99
V.
Die gesellschaftliche Entwicklung, die Subjekte und die revolutionäre Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
VI. Die Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Natur . . .
145
VII. Die Selbstbegründung der materialistischen Dialektik . . .
168
Hermeneutische Ergänzungen Die Bedeutung der Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten . .
183
Die Praxis und das Begreifen der Praxis. Zu den »Thesen ad Feuerbach« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222
Systematische Darstellungen zur Praxisphilosophie Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation . . . . Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
237
. . . 255
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Inhalt
Ausblickgebende Perspektiven zur Weiterführung Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis .
273
Traditionslinien des »westlichen Marxismus« . . . . . . . . . .
284
Schautafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
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Ich widme dieses Buch meinem Sohn Dr. Anatol Schmied-Kowarzik, der sich als Historiker und Wirtschaftskritiker auf einem eigenen, auch Marx kritisierenden Weg mit der Kritik der gegenwärtigen Werttheorie auseinandersetzt.
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Vorwort zur Neuauflage 2018
»Mit Recht fordert daher die praktische politische Partei in Deutschland eine Negation der Philosophie. […] Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerliche und banale Phrasen über sie her murmelt. […] Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Wort: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen. Dasselbe Unrecht, nur mit umgekehrten Faktoren, beging die theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei. Sie erblickt in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie beachtet nicht, daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist. […] Ihr Grundmangel läßt sich dahin reduzieren: Sie glaubt, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben.« Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Marx 1: 384) 1
Als mein Buch Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis mit interessierter Unterstützung des damaligen Verlagsleiters Dr. Meinolf Wewel 1981 im Verlag Karl Alber erschien, galt es noch, die Praxisphilosophie von Karl Marx gegen zwei Fronten freizukämpfen, zum einen gegen den dogmatischen Marxismus, der sie zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung degradierte, und zum andern gegen die akademische Philosophie, die – meist nur den dogmatischen Marxis-
Alle Literaturhinweise erfolgen in diesem Buch mit Autorennamen, Titel und Ersterscheinungsjahr, bei wörtlichen Zitaten folgen auch noch das Erscheinungsjahr der vorliegenden Ausgabe und die Seitenangaben. Die Schriften von Kant, Hegel, Schelling, Feuerbach und Marx werden im Text nach Werkausgaben zitiert – siehe hierzu die Vorbemerkungen zum Literaturverzeichnis.
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Vorwort zur Neuauflage 2018
mus wahrnehmend – ihr überhaupt die Würde einer Philosophie absprach. Entsprechend fiel die Resonanz aus, die mein Buch damals erfuhr. Aus dem Osten Deutschlands, wo u. a. auch eine Dissertation auf meine Marx-Interpretation angesetzt wurde 2, war von einem der führenden Professoren der Geschichte der Philosophie zu hören: »Schmied-Kowarzik wendet sich gegen die Auffassung der Dialektik als objektiven Bewegungszusammenhanges, als Systems von Gesetzen. […] Keine Rede ist von universellen objektiven Gesetzen der Dialektik, vielmehr wird die Dialektik an den seine Zwecke verfolgenden Menschen gebunden, sie wird subjektiviert. […] Die politischen Implikationen der ›praxisphilosophischen‹ Interpretation der Marxschen Philosophie besteht darin, die geschichtliche Notwendigkeit des Übergangs zum Sozialismus zu bestreiten, im Grunde wird, trotz einiger gegenteiliger verbaler Beteuerungen, die Absolutheit des Kapitalismus proklamiert.« 3 Bis auf den letzten Satz, der eine groteske Verdrehung darstellt, traf diese Kritik genau meine Absicht und bekräftigte ihrerseits nur die Position des dogmatischen Marxismus als einer wissenschaftlichen Weltanschauung, die sich jeglicher philosophischen Begründung enthoben wähnt. Demgegenüber wurde mein Buch von der Philosophie im Westen Deutschlands mit Schweigen übergangen, nur jüngere Vertreter aus den Marx-Studienkreisen meldeten sich peripher zu Wort, blieben aber im Vagen, um sich nach keiner Richtung hin ihre akademischen Karrieren zu verderben. So orakelt ein Rezensent wie die Pythia zu Delphi, nachdem er meine Darstellung der Transformation der strukturellen Dialektik des Geistes bei Hegel in eine Dialektik der gesellschaftlichen Praxis durch Marx kurz skizzierte: »Über die Konsistenz des häufig aus konträren und inkompatiblen Argumentationszusammenhängen herausgebrochenen Materials macht der Autor keine Mitteilung. Und die unabsehbaren Schwierigkeiten bei der Bündelung der über alle Schulbildungen hinweg zum Beleg herbeizitierten Positionen bleiben nur deshalb im Verborgenen, weil die Bruchstellen in groben Zügen überflogen werden.« 4 2 Elke Schreiber, Analyse und Kritik der »philosophischen Rekonstruktion der Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie« als philosophische Grundlegung einer ›materialistischen Erziehungstheorie‹ durch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (1986). 3 Gottfried Stiehler, »Die Einheit von Materialismus und Dialektik in der Philosophie von Karl Marx« (1983: 139). 4 Ralf Konersmann in: Hegel-Studien 18 (1983: 446).
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Vorwort zur Neuauflage 2018
Insgesamt gesehen kam mein Versuch zu spät, um die Marxschen Praxisphilosophie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in die philosophische Diskussion einzubringen. Das Interesse der Studenten für die lange unterdrückte Marxsche Theorie flaute gerade wieder ab und wurde durch die Entdeckung der französischen Postmoderne ersetzt, so dass die Flut von marxistischer Literatur wieder aus den Schaufenstern der Buchhandlungen verschwand – die philosophischen Seminare der Universitäten hatte sie sowieso nie erreicht. Als dann noch ab 1989 der Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus einsetzte, meinte man vollends die Marxsche Theorie, auf die sich doch erklärtermaßen die sozialistischen Staaten berufen hatten, in die Kiste des Vergessens werfen zu können. Daher empfanden wir es – so formulierte ich es auf einer Tagung 1993 in Kassel – als »Erleichterung, dass mit der Selbstauflösung des real-existierenden Sozialismus auch die ideologische Weltanschauung des Marxismus-Leninismus-Stalinismus in sich selbst zusammengebrochen« war. Natürlich hofften wir auf eine schnellere Erneuerung »der kritischen Philosophie im Anschluss an Marx […]. Heute wissen wir jedoch, dass unsere Wünsche keine reale Basis hatten, zu sehr und zu lange hatte der Sowjetmarxismus alle sozialistischen Ideale und alles kritische Denken im Keime erstickt.« So müssen wir uns nun »auf eine längere Regenerationsphase einstellen, denn natürlich nutzen die Gegenideologen die Gunst ihrer Stunde, um alle sozialistischen Ideale und alles kritische Denken als gescheitert zu erklären.« 5 Zwar erfuhr mein Buch 1992 in Seoul eine Übersetzung ins Koreanische und ein Teilabschnitt daraus wurde 2002 in Porto Alegre ins Portugiesische übertragen, aber an einer Neuauflage des inzwischen vergriffenen Buches war um die Jahrtausendwende weder der damalige Leiter des Alber Verlages noch sonst ein anderer Verlag in Deutschland interessiert. Erst nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, an der die führenden kapitalistischen Industrienationen gerade noch vorbeigeschrammt sind, begann weltweit sich wieder Interesse an der Kritik der politischen Ökonomie von Marx zu regen. Denn ohne Zweifel ist die kritische Analyse der kapitalistischen Ökonomie von Marx immer noch die treffendste Kritik 5 Heinz Eidam/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis. Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus (1995: 13 f.)
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Vorwort zur Neuauflage 2018
der wertgetriebenen globalen Expansion des Kapitalismus. Aber dieses neu aufgeflammte Interesse hat noch immer nicht die philosophische Diskussion erreicht. Die philosophische Kernstruktur des Denkens von Karl Marx zu untersuchen, wird – zumal im deutschen Sprachraum 6 – immer noch für ein Sakrileg wider die Philosophie angesehen. Hier trifft gegenwärtig noch zu, was Karl Korsch vor 95 Jahren in den Eingangssätzen von Marxismus und Philosophie (1923) notierte: »Für die Professoren der Philosophie bedeutet der Marxismus im besten Falle einen ziemlich nebensächlichen Unterabschnitt aus […] der Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert […]. Aber auch die ›Marxisten‹ legten, wenngleich aus ganz anderen Motiven heraus, auf die ›philosophische Seite‹ ihrer Theorie im allgemeinen keinen großen Wert.« (Korsch 1923/1966: 73) Aber ohne die Klärung ihrer philosophischen Grundlagen ist die Marxsche Theorie weder zu widerlegen noch zu begründen, daher war und ist es bis heute für beide Seiten am bequemsten, die Marxsche Theorie jenseits der Philosophie anzusiedeln, so kann man sie verwerfen, ohne sie zur Kenntnis nehmen, oder man kann an sie glauben, ohne sie begründen zu müssen. Insofern stehen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch da, wo wir uns schon vor vier Jahrzehnten befanden: am Anfang einer philosophischen Aufarbeitung des Marxschen Werks als einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis. In ihrer dialektischen Tiefenschärfe und in ihrer praktischen Relevanz für die heutige ökonomische und gesellschaftliche Globalsituation ist sie noch keineswegs überholt, geschweige denn überboten, da sie – von Ausnahmen abgesehen 7 – bis heute in ihrer philosophischen Kernstruktur noch nicht
Auf internationalen Kongressen rund um den Erdball und auf meinen Vortragsreisen durch europäische Staaten, Brasilien und China begegnete mir fast durchweg eine große Neugier für Karl Marx, einem der großen deutschen Denker des 19. Jahrhunderts, der uns auch heute noch Grundlegendes zu sagen hat. 7 Zu den großen Ausnahmen des vorigen Jahrhunderts siehe den letzten Beitrag »Die Traditionslinien des ›westlichen Marxismus‹« in diesem Buch. Aber auch Interpreten der Marxschen Praxisphilosophie aus jüngerer Zeit seien hier ausdrücklich ausgenommen: Helmut Fleischer, Karl Marx – Die Wende der Philosophie zur Praxis (1976); Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie (1985); Wolfgang Fritz Haug, Einführung in marxistisches Philosophieren (2006); Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert (2016). Siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Dialektik im Primat der Praxis (2001). 6
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Vorwort zur Neuauflage 2018
ernsthaft genug zur Kenntnis genommen oder gar kritisch durchdiskutiert worden ist. Obwohl die Neuherausgabe des Buches Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis angesichts dieser Situation als durchaus sinnvoll erscheint, stellt sie den Autor nach 37 Jahren – in der sich der zeitgeschichtliche Kontext, zwar nicht grundlegend, aber doch mehrfach gravierend verändert hat – vor die schwierige Entscheidung, den Text entweder völlig neu zu gestalten oder ihn weitgehend in der ursprünglichen Fassung zu belassen. Ich habe mich dazu entschlossen, den ersten, eine argumentative Einheit bildenden Hauptteil – bis auf sprachliche Verbesserungen und kleine Präzisierungen – im Wesentlichen so zu belassen, wie er 1981 vorgelegt worden war, um so zu dokumentieren, dass meine praxisphilosophische Interpretation des Marxschen Gesamtwerks nichts mit dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus zu tun hat. Sie bestand damals in Gegnerschaft zum dogmatischen Marxismus und sie steht auch heute noch für eine die Ökonomie durchdringende demokratische und soziale Gesellschaftsverfassung ein. Den zweiten Teil des Buches, der seinerzeit aus drei Kongressbeiträgen zur philosophiegeschichtlichen Einbettung des Denkens von Marx bestand 8, habe ich dagegen vollständig durch sechs Beiträge ersetzt, die – bis auf einen hermeneutischen Beitrag zur Hegel-Kritik des jungen Marx – aus jüngerer Zeit stammen. Es handelt sich dabei zum einen um »Hermeneutische Ergänzungen« zu Marx’ Kritik der Hegelschen Dialektik und zu seinen »Thesen ad Feuerbach«, zum zweiten um »Systematische Darstellungen zur Praxisphilosophie«, die auch für sich als Einstiege gelesen werden können, sowie zum dritten um »Ausblickgebende Perspektiven zur Weiterführung« der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis. Insbesondere wird in ihnen versucht, den für die Interpretation der Marxschen Praxisphilosophie zentralen Begriff einer »Dialektik des Übergreifens« aus der Hegel-Kritik von Marx zu erläutern, um zu zeigen, inwiefern sich die materialistische Dialektik als »Aufhebung« und »Verwirklichung« Es sind dies die Beiträge: »Die dialektische Aufhebung von Idee und Materie in der gesellschaftlichen Praxis« (Lissabon 1976), »Ansätze materialistischer Kritik der Hegelschen Logik bei Schelling« (Belgrad 1979) und »Dialektischer Materialismus als Philosophie der Praxis. Eine Antwort an Louis Althusser« (Moskau 1974), die inzwischen in meinen Sammelband Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014) aufgenommen worden sind, zusammen mit allen anderen meiner Vorträge auf internationalen Hegel-Kongressen aus den letzten 50 Jahren.
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Vorwort zur Neuauflage 2018
der Grundlagenprobleme der bisherigen Philosophie versteht. Damit soll zugleich jenen Missverständnissen entgegengewirkt werden, die die Marxsche Theorie für einen einfachen Bruch mit der philosophischen Tradition und einen naiven Sprung in eine ›positive‹ Wissenschaftlichkeit ausgeben – ein Sprung, der sich im Nachhinein nur als Rückfall in eine längst überholte philosophische Aporetik erweisen muss. Zu danken habe ich Herrn Lukas Trabert, dem gegenwärtigen Leiter des Verlages Karl Alber, für seine mutige Entscheidung, meine beiden in den 80er Jahren erschienenen Marx-Bücher in überarbeiteter Fassung zum 200. Geburtsjahr von Karl Marx 2018 erneut herauszubringen und ihnen damit die Chance zu eröffnen, die Diskussion des Werkes von Marx doch noch in die Philosophie einzubringen. Wie jede philosophische Interpretation bleibt auch diese Marx-Deutung für jegliche argumentative Kritik offen, denn eine Philosophie braucht sich nicht vor der Kritik zu fürchten, von ihr kann sie nur lernen. Enttäuscht kann sie nur werden durch unphilosophische Verzerrungen oder durch ein ignorantes Nicht-zurKenntnis-Nehmen ihrer Argumente.
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Einleitung Die Marxsche Theorie als praxisphilosophische Kritik
Dass die Lehren großer Denker sowohl von ihren Anhängern als auch von ihren Kritikern gründlich missverstanden werden, ist nichts Neues, aber die nun gut hundertfünfzig Jahre währende Geschichte der Missverständnisse um die Marxsche Theorie bricht wohl alle Rekorde. Dies rührt nicht zuletzt daher, dass sie niemals nur – ja sogar viel zu beiläufig – als philosophische Theorie zur Debatte stand, sondern als Leitidee in soziale Emanzipationsbewegungen einging und zur Legitimation politischer Parteibildungen beansprucht wurde, wodurch sie nicht nur massenhaft Anhänger erhielt, sondern auch massenhafte Verformungen erfuhr, und wodurch sie sich immer wieder für in ihrem Namen begangene Taten und Untaten verantworten musste, die mit ihren Perspektiven und Forderungen oftmals im extremen Gegensatz stehen. Karl Marx wurde bereits als theoretischer Kopf einer revolutionären Arbeiterbewegung anerkannt und verfolgt, als diese in Deutschland noch gar nicht existent war, aber als diese sich zu organisieren begann, hatten ihre politischen Führer, bei aller Hochachtung gegenüber Marx, doch kaum Ahnungen von der Marxschen Philosophie – konnten mehr als Ahnungen zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht haben. 1 Allenfalls kannte man das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) von Marx und Engels und vielleicht das Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859); später trat noch der erste Band des Kapital (1867) hinzu, den aber nur wenige ganz gelesen und von diesen die wenigsten je verstanden haben. Umso mehr prägten die popularisierenden Schriften von Friedrich Engels das Bild von der materialistischen Geschichtsauffassung – insbesondere seine Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882), die neben 1 Zur Geschichte des Marxismus siehe Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, 2 Bde. (1961,1971); Iring Fetscher (Hg.), Der Marxismus, 3 Bde. (1976 f.); mit Vorbehalt siehe auch Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, 3 Bde. (1976).
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Einleitung
dem Manifest der Kommunistischen Partei zur meist verbreiteten Schrift der »Väter des Marxismus« wurde. Was so als Marxismus heranreifte – gespeist noch durch viele andere Quellen wie die Arbeiten von Ferdinand Lassalle, Joseph Dietzgen und noch ältere sozialistische Theorien – war ein Brei von philosophischen Weltanschauungen, ökonomischen Teilkenntnissen und revolutionären Ideen. Kein Wunder, dass Marx sich von dieser theoretischen Anhängerschaft distanzierte und noch am Ende seines Lebens 1883 zu Engels gesagt haben soll: »Ich bin kein Marxist!« 2 Besonders negativ wirkte sich das Fehlen jeglicher philosophischer Vorbildung und Interessen bei den jungen sozialistischen Intellektuellen der ersten Periode aus. Friedrich Engels versuchte diesem Fehlen philosophischer Bildung nach dem Tod von Marx durch seine Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886) sowie durch zahlreiche theorieklärende Briefe, die später nach seinem Tod veröffentlicht wurden (1895), entgegenzuwirken. Aber schon Karl Kautsky und Eduard Bernstein, die in unmittelbarstem Kontakt mit Marx und Engels gearbeitet hatten und als Nachlassverwalter und Herausgeber wohl als die damals besten Kenner der Schriften von Marx und Engels gelten konnten, hatten so wenig Ahnung von der eigenständig philosophischen Grundlage der Marxschen Theorie, dass sie meinten – jeder auf seine beschränkte Weise – den kritisch-ökonomischen Schriften von Marx eine eigene Philosophie unterlegen zu müssen. 3 Obwohl sicherlich von den philosophischen Ansätzen von Marx durch Welten getrennt, ragen allein schon auf Grund ihrer philosophischen Vorbildung Georgi W. Plechanow, Georges Sorel und vor allem Antonio Labriola aus dem Kreise der ersten marxistischen Theoretiker heraus. 4 Demgegenüber waren Wladimir I. Lenin, Leo Trotzki und Rosa Luxemburg sicherlich diejenigen, die die politischen und gesellschaftskritischen Aspekte der Marxschen Theorie wieder erneuerten und weiterdiskutierten, aber die philosophischen Grund-
Maximilien Rubel: Marx-Chronik. Daten zu Leben und Werk (1963/1975): 153. Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung (1927); Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1920). Vgl. Hartmut Mehringer/Gottfried Mergner (Hg.), Debatte um Engels (1973). 4 Georgi W. Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus (1896); Georges Sorel, Über die Gewalt (1906); Antonio Labriola, Über den Historischen Materialismus (1896). 2 3
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Einleitung
lagen der geschichtsmaterialistischen Dialektik blieben ihnen unzugänglich. 5 Zu einer Wiederentdeckung und Erneuerung der philosophischen Grundlagen der Marxschen Theorie kam es nach Antonio Labriola schrittweise durch Max Adler und dann vor allem durch Georg Lukács und Karl Korsch in den zwanziger Jahren. 6 1932 erschienen dann erstmals die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844) von Marx und konnten für einen kurzen Augenblick das dogmatische Marx-Bild erschüttern; sie beeinflussten die ersten Arbeiten von Herbert Marcuse, Henri Lefebvre und wurden auch für Ernst Blochs Philosophie bestimmend. Doch schon kurz danach verunmöglichten die nationalsozialistische Machtergreifung und das Diktat Stalins jegliche weitere Diskussion. Bereits kurz nach dem Sieg des radikalen Flügels der sozialistischen Bewegung in der Russischen Revolution wurde eine platt materialistische Auslegung der Marxschen Theorie zur allgemeinen philosophischen Weltanschauung des Kommunismus erhoben. Lukács und Korsch waren die ersten, die zu spüren bekamen, was es heißt, von diesem dogmatischen Weltbild abzuweichen. 7 Einige Jahre später, ab den dreißiger Jahren, wurden unter Stalin alle marxistischen Intellektuellen, gleich welche Linie sie vertraten, physisch liquidiert und durch Denkfunktionäre des Stalinismus ersetzt – stellvertretend für die unzähligen Namen sei hier an Nikolai Bucharin und Leo Trotzki erinnert. 8 Durch mehr als zwei Jahrzehnte war somit nicht nur die Marxsche Theorie unterdrückt, sondern auch der Marxismus in seinen theoretischen Grundlagen ruiniert. Die ersten wiedererwachenden Neuansätze kamen zunächst aus Gerda und Hermann Weber, Lenin-Chronik. Daten zu Leben und Werk (1970); Heinz Abosch, Trotzki Chronik (1973); Ossip K. Flechtheim, Rosa Luxemburg zur Einführung (1985). 6 Max Adler, Marxistische Probleme. Beiträge zur Theorie der marxistischen Geschichtsauffassung und Dialektik (1913); Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923); Karl Korsch, Marxismus und Philosophie (1924). 7 Vgl. Oskar Negt, Marxismus als Legitimationswissenschaft, in: Abram Deborin/ Nikolai Bucharin: Kontroversen über den dialektischen und mechanistischen Marxismus (1969); André Glucksmann, Köchin und Menschenfresser. Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager (1976). 8 Zur philosophischen Reflexion des Schauprozesses gegen Nikolaj Bucharin siehe: Maurice Merleau-Ponty, Humanismus und Terror (1947); zur Leo Trotzki siehe: Isaac Deutscher, Trotzki, 3 Bde. (1954 ff.) 5
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Einleitung
dem sich von Stalin lossagenden Jugoslawien. Nach Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Blutherrschaft (1956) setzte auch langsam eine geistige Befreiung in den kommunistischen Bewegungen Italiens, Frankreichs sowie in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei ein. Seit Mitte der fünfziger Jahre begann eine erneute, schrittweise philosophische Wiederentdeckung der Marxschen Theorie, so vor allem der philosophischen Frühschriften von Marx. Zugleich wurden jetzt Antonio Gramscis Aufzeichnungen aus dem Gefängnis aus den dreißiger Jahren bekannt 9; es erschienen die in den Kriegsjahren entstandenen philosophisch-marxistischen Auseinandersetzungen mit der Gesellschaftsphilosophie Hegels von Herbert Marcuse und von Georg Lukács 10, die die Marxsche Theorie wieder in die philosophische Diskussion zurückholten, und schließlich offenbarten Ernst Blochs Prinzip Hoffnung und Henri Lefebvres Kritik des Alltagslebens die noch schlummernden Potenzen, die von Marx’ Philosophie der Praxis ausgehen können. 11 Eine erneute Rückbesinnung auf die philosophischen Grundlagen des Denkansatzes von Marx wurde auch herausgefordert durch erste philosophisch ernst zu nehmende Versuche, kritisch über Marx hinauszugelangen – so die Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno. 12 In diesen Jahren wurden auch erstmals die Schriften von Marx ziemlich vollständig für weite Leserkreise zugänglich – einige erschienen sogar erstmals –, so dass es nun möglich wurde, die Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie im Kontext ihrer Entwicklung und vor dem Hintergrund des philosophischen Denkansatzes von Marx zu interpretieren. 13 Hier sind vor allem aus den fünfziger und sechziger Jahren die Arbeiten zur materialistischen Methodologie von Galvano della Volpe, das Projekt Lire le Capital von Louis
Antonio Gramsci, Gefängnishefte (1929–1936) sowie Philosophie der Praxis (1967). Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie (1942); Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Philosophie (1948). 11 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959); Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens (1947 ff.). 12 Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik (1955); Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960); Max Horkheimer, Kritische Theorie (1968); Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966). 13 Vgl. Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen »Kapital«. Der Rohentwurf des »Kapitals« 1857–1858 (1968). 9
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Einleitung
Althusser, Etienne Balibar u. a. sowie die Studie von Jindřich Zelený Die Wissenschaftslogik bei Marx und ›Das Kapital‹ zu nennen. 14 In Westdeutschland setzte die philosophische Rezeption der Marxschen Theorie mit einer zehnjährigen Verspätung, dann aber explosionsartig in der Studentenbewegung ein. In den Jahren davor war durch den ›kalten Krieg‹ und die ›Teilung der Nation‹ Marx mit dem Marxismus und dieser mit dem Kommunismus in einen Topf geworfen und so als Ganzes tabuisiert gewesen. Dagegen protestierten die Studenten von damals mit dem Ruf »Marx an die Uni«, und die Aktivsten unter ihnen begannen im Selbststudium sich nicht nur die Schriften von Marx, Lenin und Luxemburg anzueignen, sondern sie entdeckten darüber hinaus die Unterdrückten dieser unterdrückten Theoriegeschichte: Leo Trotzki und Karl Korsch, Wilhelm Reich, Otto Rühle und Karl August Wittfogel 15 – um nur einige zu nennen, deren in West und Ost unterdrückte Arbeiten damals in Nachdrucken verbreitet wurden. Später hängten sich die Verlage an dieses neuerwachte Interesse; unter dem unendlichen Wust von Ramsch, der als marxistisch geltend in den siebziger Jahren auf den Markt geworfen wurde, waren doch auch Neuauflagen, Übersetzungen und Erstveröffentlichungen von bleibender philosophischer Relevanz – es waren vor allem die Arbeiten von Ernst Bloch, Henri Lefebvre, Herbert Marcuse, Louis Althusser und Alfred Sohn-Rethel 16, die nachhaltig die Diskussion der siebziger Jahre anregten. Das aufgewühlte Interesse an Marx und dem Marxismus ist inzwischen verebbt, denn man muss ja nicht mehr um die Aneignung einer unterdrückten, vorenthaltenen Theorie kämpfen; abgesehen davon, dass die übersteigerte Hoffnung vieler in die weltverändernde Kraft des Marxismus notwendig eine Enttäuschung erfahren musste. So ist erst heute, nachdem die Studentenbewegung die Tabuisierung der Marxschen Theorie durchbrochen hat, aber auch die falschen Galvano della Volpe, Rousseau und Marx. Beiträge zur Dialektik geschichtlicher Strukturen (1956); Louis Althusser, Das Kapital lesen (1968); Jindřich Zelený, Die Wissenschaftslogik bei Marx und »Das Kapital« (1968). 15 Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven (1906). Die permanente Revolution (1930); Karl Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung (1927); Wilhelm Reich [Ernst Parell], Was ist Klassenbewusstsein? (1934); Otto Rühle, Baupläne für eine neue Gesellschaft (1939); Karl August Wittfogel, Marxismus und Wirtschaftsgeschichte. Aufsätze (1929–32). 16 Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthese (1970). 14
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Einleitung
Heilserwartungen mit ihren neuen Dogmatisierungen abgeklungen sind, der Weg frei, unbelastet von Glaubenssätzen und von politischen Vorurteilen an eine philosophische Lektüre der Schriften von Marx heranzutreten. Dabei kann die jetzt neu beginnende Aufarbeitung des philosophischen Kerns der Marxschen Theorie auf die nun ebenfalls zugängige Interpretationslinie aufbauen, die bei Antonio Labriola, Max Adler, Georg Lukács und Karl Korsch in der Entdeckung der philosophischen Motive bei Marx anhebt und bis zur schöpferischen Fortführung der Marxschen Philosophie der Praxis durch Ernst Bloch, Henri Lefebvre, Herbert Marcuse, Alfred SohnRethel reicht. 17 Trotzdem ist es notwendig, bei dem heute erst vollständig überschaubaren Gesamtwerk von Marx beginnend, aus diesem selber den philosophischen Kern herauszuarbeiten, um dann erst in weiteren Studien Begrenztheit und Fortentwicklung der nachfolgenden marxistischen Theoretiker abschätzen zu können. Betrachtet man die heute gängigsten Rekonstruktionen des dialektischen bzw. historischen Materialismus, 18 so fällt auf, dass sie eine direkte Auseinandersetzung mit den Marxschen Schriften umgehen. Repräsentativ für solche Versuche in der gegenwärtigen Diskussion sind die beiden einander extrem entgegengesetzten Arbeiten von Hans Jörg Sandkühler Praxis und Geschichtsbewußtsein und von Jürgen Habermas Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Die erste Arbeit, die von ihrem dogmatischen Selbstverständnis einer eindeutig vorliegenden Interpretationstradition des Marxismus aus entschieden den Begriff »Rekonstruktion« ablehnt, ist eine auf die materialistische Erkenntnistheorie Lenins gestützte Darlegung der philosophischen Leitsätze des Marxismus-Leninismus. Für sie ist bereits die Frage nach der philosophischen Kernstruktur der Marxschen Theorie, die sich direkt wieder auf Marx’ Schriften zurückwendet, insofern ein Skandal, als in ihr die Vermutung impliziert sein könnte, dass Lenins philosophische Bemühungen keine angemessene Weiterführung der von Marx entwickelten materialistischen Dialektik darKritisch mit großen Vorbehalten gegen die Philosophie reflektiert diese Entwicklung Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus (1976). Siehe auch Helga Grebing, Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum ›Prager Frühling‹ (1977) sowie Julius I. Löwenstein, Marx contra Marxismus (1976). 18 Siehe zur gegenwärtigen Rekonstruktions-Debatte insgesamt den Sammelband U. Jaeggi/A. Honneth (Hg.): Theorien des Historischen Materialismus (1977); sowie meinen teilweise in die vorliegende Studie eingearbeiteten Beitrag: Zur Rekonstruktion der materialistischen Dialektik (1978). 17
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Einleitung
stellen. 19 Der Ansatz von Habermas dagegen versteht unter »Rekonstruktion« das methodische Unternehmen, »daß man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen« (Habermas 1976: 9), wobei das Ziel des historischen Materialismus im Programm einer Theorie der sozialen Evolution gesehen wird, das nun auf der Grundlage neuester empirischer Forschungsergebnisse mit systemtheoretischen Instrumenten eine »evolutionstheoretische Reformulierung« erfahren soll. 20 Die Marxsche Theorie selbst dient hier nur als Steinbruch für die Gewinnung einiger Theoriestücke zur »Transformation« in einem neuen Argumentationszusammenhang, da sie sich in ihrem eigenen Ansatz – wie aus der Geschichte des Marxismus geschlossen wird – nicht bewährt habe. Beide Richtungen glauben sich also der erneuten Auseinandersetzung mit der dialektischen Kernstruktur der Marxschen Theorie enthoben, die eine, da sie Marx in der dogmatischen Interpretationsgeschichte bereits aufgehoben wähnt, und die andere Richtung, da sie das grundsätzliche Scheitern der Marxschen Theorie gerade durch die dogmatische Interpretationsgeschichte für bewiesen erachtet. Dass wir so schnell mit der Marxschen Theorie nicht fertig sind, zeigt sich jedoch in der seit den fünfziger Jahren voranschreitenden neuen Etappe philosophischer Interpretationsbemühungen, der es in Abwehr dogmatischer Abgleitungen und revisionistischer Abweichungen um die Wiedergewinnung ihrer ursprünglich philosophischen Grundfragen geht. Es sind dabei heute insbesondere zwei Richtungen, die von zwei verschiedenen Seiten aus sich an die Marxsche Theorie heranzuarbeiten versuchen. Die bereits ältere Richtung knüpft an die Frühschriften von Marx an und versucht insbesondere deren fundamentalanthropologischen, existentialphilosophischen Kern herauszuschälen. Zu dieser Richtung gehören insbesondere der jugoslawische Praxis-Kreis: Mihailo Marković, Gajo Petrović, Predrag Vranicki u. a. 21, sodann der Schülerkreis um Georg Lukács in
Zur Diskussion in den real-sozialistischen Staaten siehe Hans Jörg Sandkühler, Marxistische Erkenntnistheorie. Texte zu ihrem Forschungsstand in den sozialistischen Ländern (1973); kritisch dazu Bernd Rabehl, Marx und Lenin (1973). 20 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Albrecht Wellmer, Klaus Eder und Rainer Döbert in: U. Jaeggi/A. Honneth (Hg.), Theorien des Historischen Materialismus (1977); kritisch zu Habermas siehe den Beitrag von Helmut Fleischer im selben Band. 21 Mihailo Marković, Dialektik der Praxis (1968); Gajo Petrović, Wider den autoritä19
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Einleitung
Budapest wie Agnes Heller, György Márkus u. a. 22, schließlich der Prager Philosoph Karel Kosík mit seinem Buch Dialektik des Konkreten (1967); in Westdeutschland können Leo Kofler und in gewisser Weise Alfred Schmidt dieser Richtung zugerechnet werden 23, auch die existentialontologische Arbeit von Ekkehard Fräntzki Der mißverstandene Marx (1978) knüpft hier an. Dieser ganzen Richtung stellt sich seit den sechziger Jahren ganz entschieden eine andere entgegen, die von den Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie von Marx ausgeht und die die wahre Marxsche Theorie allein aus dem Spätwerk zu rekonstruieren versucht. Zu dieser Richtung gehören vor allem Louis Althusser, Etienne Balibar u. a. aus der französischen Schule, aber auch mit anderen Akzenten Galvano della Volpe, Jindřich Zeleny und Peter Ruben 24; in Westdeutschland hatten sich im Ausklang der Studentenbewegungen unzählige Kapital-Arbeitskreise gebildet, die von dieser Position ausgingen, der produktivste und profilierteste um Joachim Bischoff ist unter dem Namen »Projekt Klassenanalyse« bekanntgeworden, aber auch Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus sind dieser Richtung zuzurechnen. 25 Während die erste Richtung immer in der Gefahr steht, die Spitze der Marxschen Kritik gegen die bestehende bürgerliche Gesellschaft zu brechen, indem sie die Aussagen von Marx zur Entfremdung als ontologische Daseinsbestimmungen des Menschen auslegt, vergisst die zweite Richtung sich des philosophischen Fundaments zu versichern, von dem her die Kritik der politischen Ökonomie sich überhaupt erst als grundsätzliche Kritik ausweisen ren Marxismus (1969); zum Praxis-Kreis siehe Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus (1972 ff.), 2. Bd.; Ludvik Vrtačič, Der jugoslawische Marxismus (1975). 22 Vgl. Agnes Heller, Theorie der Bedürfnisse bei Marx (1976); György Márkus, Anthropologie und Marxismus (1966). 23 Leo Kofler, Geschichte und Dialektik (1972); Herbert Marcuse/Alfred Schmidt, Existenzialistische Marx-Interpretation (1973). 24 Vgl. Peter Ruben, Dialektik und Arbeit der Philosophie (1978). 25 Vgl. Joachim Bischoff, Gesellschaftliche Arbeit als Systembegriff (1973); Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx (1970); HansGeorg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik (1997). Neuerdings firmiert diese Interpretationsgruppe unter dem Titel »neue Marx-Lektüre«, siehe Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition (1991); Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik (2010). Zur Kritik an dieser Richtung siehe: Karl Reitter (Hg.) Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der »neuen MarxLektüre« (2015).
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Einleitung
kann, und gerät dadurch in die Gefahr der objektivistischen Festschreibung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. 26 Jenseits dieser Konfrontation und der Zerstückelung der Marxschen Theorie in eine Frühphase und das Spätwerk wird in der vorliegenden Studie gerade betont, dass die Marxsche Theorie in ihrer dialektischen Kernstruktur nur rekonstruiert werden kann, wenn die Frühschriften von Marx – insbesondere die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 – und sein Spätwerk zur Kritik der politischen Ökonomie (1857–1867) aufeinander bezogen interpretiert werden. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte bleiben neben den Grundrissen nach wie vor die wichtigste Quelle für die Wiedergewinnung der philosophischen Fundamente der Marxschen Theorie, wobei diese frühen Entwürfe allerdings erst dann in ihrer Bedeutung für die Grundlegung der geschichtsmaterialistischen Dialektik verstanden werden können, wenn sie nicht für sich, sondern von der Kritik der politischen Ökonomie her aufgearbeitet werden. Zur Eingrenzung der vorliegenden Studie sei noch auf zwei philosophische Arbeiten zu Marx aus den letzten Jahren hingewiesen. Die bisher grundsätzlichste und stärkste philosophische Kritik an Marx hat Klaus Hartmann in seinem Buch Die Marxsche Theorie (1970) vorgelegt. Obwohl bereits 1970 erschienen, hat diese bestechende kritische Analyse des Marxschen Gesamtwerks weder in philosophischen Seminaren die ihr gebührende Aufnahme noch durch die sich auf Marx berufenden politischen Bewegungen die ihr angemessene theoretische Entgegnung erfahren. Falls es der an Marx orientierten Philosophie nicht gelingen sollte, der Kritik von Hartmann in gleicher gedanklicher Schärfe zu begegnen, dann wäre die Marxsche Theorie philosophisch endgültig erledigt. Hartmann greift den Marxschen Ansatz in seinem philosophischen Kern an, in seinem Anliegen, Philosophie in praxisrelevante Kritik transformieren zu können. Dagegen hält er – mit Berufung auf Hegel – daran fest, dass Theorie immer nur Theorie sein kann, die die Praxis analysiert, die aber nicht ohne Selbstaufgabe als Theorie in die Praxis einzuwirken vermag. Ohne dass wir uns in unserer Studie direkt mit Hartmann auseinandersetzen und ohne den Anspruch zu erheben, hier eine Zur Kritik an beiden Richtungen siehe Wolfgang Fritz Haug, Das »Kapital« lesen – Aber wie? Materialien zur Philosophie und Epistemologie der Marxschen Kapitalismuskritik (2013); Dieter Wolf, Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie (2002). 26
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Einleitung
ebenso gründliche Analyse des Gesamtwerks von Marx derjenigen Hartmanns entgegenstellen zu können, ist doch unser eigener Versuch von der Intention geleitet, gerade aufzudecken, dass die philosophische Bedeutung von Marx darin liegt, gezeigt zu haben, dass Philosophie sich gar nicht anders als aus der Praxis begründen kann und dort, wo sie davon weiß, auch bewusst als Kritik in die Praxis einzuwirken hat. Im Bemühen, hierin den philosophischen Kern der Marxschen Theorie als einer Philosophie der Praxis aufzuweisen, berührt sich unsere Studie mit den Arbeiten von Helmut Fleischer. Insbesondere in seinem Buch Marx und Engels (1970) sowie in der Studie Karl Marx. Die Wendung der Philosophie zur Praxis (1976) hat Fleischer das praxisphilosophische Anliegen als das Treibende in der immanenten Entwicklung des praktischen Materialismus von Marx und Engels herausgestellt. Während es jedoch Fleischer mehr darum geht, aus diesem Denkansatz den materialen Verständnisrahmen für eine noch ausstehende nach-marxsche Gesellschaftspraxis zu erschließen, liegt der Akzent unserer eigenen Bemühungen stärker darin, die in der Marxschen Theorie entwickelte geschichtsmaterialistische Dialektik in ihrer Grundstruktur und in ihrem philosophischen Begründungszusammenhang nachzuzeichnen, um dadurch den Kern einer Philosophie der Praxis freizulegen, die sich aus der Praxis begreift und als Kritik auf die Praxis bezogen weiß. 27 Sicherlich wird einer solchen philosophischen Auseinandersetzung mit Marx der Vorwurf des Katheder-Marxismus nicht erspart bleiben – wie er bereits gegen Antonio Labriola, Georg Lukács oder Louis Althusser erhoben wurde, 28 doch kann einem solchen Vorwurf entgegengehalten werden, was Marx den Aktivisten der »politischen Partei« zurief: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.« (Marx 1: 384) Natürlich bleibt für die, die sich philosophisch mit der Marxschen Theorie beschäftigen und die sie als Philosophie der Praxis ernst nehmen, die Mahnung zu bedenken, die Marx gegenüber der kritischen Philosophie aussprach: »Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben.«
Vgl. Shingo Shibata, Revolution in der Philosophie. Der praktische Materialismus und seine Aufhebung (1970); Frieder Otto Wolf, Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit (2002); Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert (2016). 28 Vgl. Jacques Rancière, Wider den akademischen Marxismus (1975). 27
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Einleitung
(Marx 1: 384) Wir werden die hierin steckende Problematik nicht lösen, aber wir hoffen sie als ein grundsätzliches Problem der Philosophie aufweisen und vermitteln zu können. Es ist gerade dieses Problem, das der junge Marx in seiner Auseinandersetzung mit Hegel und den Junghegelianern aufdeckt und das ihn zu seiner Konzeption der praxisphilosophischen Kritik als Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie führt. Hier setzt unsere Studie ein und versucht sodann, die inhaltlichen Fragestellungen zu verfolgen, die den jungen Marx von der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zur Kritik der politischen Ökonomie führen. Nach diesen beiden Abschnitten zur Genese der Marxschen Theorie befassen sich die drei nächsten mit der Kernstruktur der geschichtsmaterialistischen Dialektik. Ausgangspunkt und Zentrum der Darstellung ist die Bestimmung der gesellschaftlichen Praxis, Arbeit und Produktion als übergreifende Basis und als forttreibender Motor der gesamten Menschheitsgeschichte. Die gesellschaftliche Produktion ist der Substanz nach auch das »Übergreifende« der kapitalistischen Produktionsweise und doch liegt in ihr zugleich eine »Verkehrung« der Verhältnisse, durch die gerade nicht die lebendige menschliche Arbeit und Praxis, sondern ihre Vergegenständlichung im Kapital als das Übergreifende erscheint. Die Aufdeckung der wirklichen Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung dieser »Verkehrung« und »Entfremdung« und – darin intendiert – der Aufweis der wirklichen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung ist die treibende Problemstellung der Marxschen Geschichts- und Gesellschaftstheorie. In diese Problemstellung ist auch das Kapital eingebettet, das in kritischer Analyse die Logik der kapitalistischen Produktionsweise als eine in sich selbst widersprüchliche ausweist, die aus sich heraus nicht in der Lage ist, die sich verschärfenden gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen. Die sich stetig erweiternde Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise verlangt nach einer revolutionären Aufhebung, die nur durch die gesellschaftlich bewusste Praxis der vereinigten Individuen, die zugleich deren Selbstveränderung impliziert, vollbracht werden könnte. Nach diesem Versuch, die Hauptlinien der Marxschen Theorie in ihrer dialektischen Entfaltung nachzuzeichnen, erfährt die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis durch zwei weitere Fragestellungen grundlegende Modifikationen. Eine erste modifizierte Einschränkung der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis wird erforderlich, sobald 27 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Einleitung
das Verhältnis der gesellschaftlichen Produktion zur Natur in die Analyse miteinbezogen wird; denn zwar ist die gesellschaftliche Arbeit in Naturwissenschaft und Industrie das Übergreifende unserer Naturbeherrschung, aber zugleich und noch umfassender gilt, dass die gesellschaftliche Produktion selber nur Moment des auch die Menschheitsgeschichte übergreifenden Naturprozesses ist. Daraus ergibt sich die komplexe Struktur einer doppelten Dialektik, die – wenn auch nur andeutungsweise – bereits bei Marx angelegt ist, und die – weiterentwickelt – zum grundlegenden Ausgangspunkt einer kritischen Analyse unserer heutigen ökologischen Probleme genommen werden kann. 29 Noch komplexer wird die dialektische Problemstellung, wo die geschichtsmaterialistische Dialektik auf sich selbst reflektiert und erkennt, dass sie als Theorie des Übergreifens der gesellschaftlichen Praxis und – noch umfassender – des übergreifenden Naturprozesses weder unmittelbare Explikation von Praxis und Natur sein kann noch in irgendeiner Selbstgewissheit ihrer selbst begründet ist, sondern sich dialektisch und materialistisch an sich selbst als von der gesellschaftlichen Praxis übergriffen ausweisen muss. Dies impliziert, dass alles vorher Dargelegte von dieser dialektischen Selbsteingrenzung der Theorie gegenüber der Praxis eine selbstkritische Relativierung erfahren muss. Die Aufgabenstellung einer solchen geschichtsmaterialistischen und dialektischen Selbstbegründung des Denkens aus der gesellschaftlichen Praxis ist das bestimmende Motiv der vorliegenden Studie. Doch gerade in diesem Punkt liegen ihre Grenzen und ihr Mangel. Sie rühren nicht zuletzt daher, dass Marx selber eine Selbstbegründung der geschichtsmaterialistischen Dialektik lediglich in dem frühen Manuskripten von 1844 in Paris konzipiert, aber späterhin nirgendwo ausgeführt hat, so dass die Rekonstruktion sich hier damit begnügen muss, den wenigen Andeutungen von Marx nachzugehen, um Hinweise auf ein noch zu bewältigendes Arbeitsprogramm zu geben. 30 Doch eines kann vorweg gesagt werden: Gelingt die Selbstbegründung der geschichtsmaterialistischen Dialektik aus der gesellschaftlichen Praxis und auf sie bezogen nicht, so ist auch Siehe hierzu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung) sowie Hans Immler/ Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die ›Kritik der politischen Ökonomie‹ (1984/2011). 30 Siehe hierzu den Beitrag »Die Bedeutung der Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten« in diesem Band. 29
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Einleitung
der dialektische Materialismus in seinen inhaltlichen Aussagen philosophisch nicht zu halten und degeneriert zu einer bloßen ›Weltanschauung‹. Die Marxsche Theorie als praxisphilosophische Kritik versteht sich als Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie; sie ist daher im bewussten Gegensatz zur »ersten Philosophie« (Aristoteles) grundsätzlich als »letzte Philosophie« (Adorno 1972: 47) bzw. als praxisbezogene »Metaphilosophie« (Lefebvre) zu begreifen. Sie versteht sich geschichtlich wie systematisch als Negation der durch die erste Philosophie vollzogenen Negation, und das bedeutet, dass sie nicht Rückkehr in den Ursprung vorphilosophischen Denkens zu sein versucht, sondern dialektische Aufhebung – Überwindung und Bewahrung – der Philosophie in ein »bewusst wirkliches Denken« aus und in der gesellschaftlichen Praxis und für sie. Die Forderung nach Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie setzt die Konstitution der Philosophie als Philosophie voraus. Dies geschah im Laufe von zweieinhalb Jahrtausenden, in denen sich die Philosophie als Philosophie in fortschreitender Selbstfindung von allen mythologischen und theologischen Bindungen befreite und sich reinigte von allen fremden Zwecksetzungen. Die »erste Philosophie« – so hebt Aristoteles im 11. Buch der Metaphysik hervor – »handelt nicht von dem Partikularen und dessen Akzidenzien, sondern betrachtet jedes nur in Beziehung auf das Seiende als solches« (Aristoteles, Metaphysik 1061 b). Auf diese Weise des Abhebens von allem nur empirisch Zufälligen emanzipiert sich die Philosophie in zunehmender Verselbständigung zur reinen Erkenntnis der Welt und läutert sich in reflexiver Selbsterkenntnis (Kant), bis sie sich schließlich vollendet, indem sie alles, sich selbst und die Totalität des Wirklichen, aus der alles hervortreibenden und durchwaltenden Vernunft begreift, deren Bewusstwerdung sie selbst ist. Zu dieser abschließenden, sich aus und durch sich selbst begreifenden Gestalt hat Hegel die Philosophie gebracht. Was sich hierin reflektiert, ist der Absolutheitsanspruch des abendländischen Rationalitätsbegriffs, der materiell seinen Ausdruck findet im Zugriff der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik unter dem Kommando kapitalistischer Ökonomie über alle menschlichen und natürlichen Lebensprozesse. Wir sind längst in ein Zeitalter eingetreten, in dem die Menschen beginnen, selber ihren eigenen Untergang zu produzieren, indem die unter privat- und staatskapitalistischem Antrieb stehende Expansion der wissenschaftlich indus29 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Einleitung
triellen Produktivkräfte in »Destruktivkräfte« (Marx) umschlagen, in Destruktivkräfte sowohl in Bezug auf den Menschen als handelndes Subjekt als auch gegenüber der Erde als unser aller Lebensgrundlage. Es bahnen sich weltweite Katastrophen an, die wir mit unseren wissenschaftlichen und technischen Instrumenten eventuell hinausschieben, aber nicht verhindern können, da sie gerade durch deren Expansion selber hervorgerufen und beschleunigt werden. Wie nie zuvor erfahren und sehen wir heute, wenn wir unsere Situation bedenken, das notwendige Ende dieser Tradition, die einst unter dem Vorzeichen der Befreiung des Menschen aus Naturzwängen begonnen wurde und nun auf die totale Knebelung der Menschen, ja vielleicht sogar auf die Zerstörung aller Lebensgrundlagen zuschreitet (Horkheimer/Adorno). 31 Wo diese abendländische Denktradition als an ihr Ende gekommen erfahren wird, da stellt sich die Frage nach einer Umkehr, nach einem Ausweg. Weder ein Rückgängigmachen der abendländischen Philosophie, Wissenschaft und Technik noch ein Ausbrechen aus ihr und Einkehr in eine andere Denktradition und Lebensführung können ein Ausweg sein, denn die Akkumulation der kapitalistisch bestimmten Industrie und Wissenschaft schreitet unaufhaltsam fort und weitet sich unaufhaltsam nach außen wie innen aus. So kann Umkehr und Ausweg nur in dem Versuch bestehen, durch die Kritik des Absolutheitsanspruchs der Rationalität und ihrer materiellen Gestalten hindurch über sie hinauszugelangen; nicht hinter sie zurückzugehen, sondern sie hinter sich zu lassen, sie dialektisch aufzuheben in bestimmter Negation ihrer Verkehrtheit und Entfremdung bei gleichzeitiger Bewahrung der in ihr angelegten Möglichkeiten und in Weiterentwicklung ihrer philosophischen Selbsteingrenzung. Dies ist der von Karl Marx eingeschlagene Weg der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie als des Ortes des Selbstverständnisses europäischen Denkens und Handelns; es ist dies der Weg der bewussten Einbindung des Denkens und Handelns in die gemeinsame Verantwortung der Menschen für ihre gesellschaftliche Praxis. In diesem Horizont gilt es, die Marxsche Philosophie zu bedenken.
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Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947).
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I. Kritik als Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie
Die Junghegelianer und Marx’ schrittweise Lösung von ihnen Als der junge Jurastudent Karl Heinrich Marx nach den ersten beiden Semestern von Bonn nach Berlin überwechselt, wird er über rechtsphilosophische Grundsatzfragen immer tiefer in die reine Philosophie getrieben, da ihm klargeworden war – wie er seinem Vater berichtet –, dass »ohne Philosophie […] nicht durchzudringen« sei (Marx 40: 7). Zuerst wendet er sich der Kantischen und Fichteschen Philosophie zu, dann der Naturphilosophie Schellings 1 und schließlich dem Hegelschen System, dessen »groteske Felsenmelodie« ihm zunächst nicht behagt (Marx 40: 8), ihn dann aber umso gründlicher in seinen Bann zieht. Immer intensiver vertieft er sich in das Studium der Werke Hegels, wie er dem Vater, der sich um sein Jurastudium und seine juristische Karriere sorgt, in einem Brief vom 10. November 1837 schonend beichtet: 2 »Während meines Unwohlseins hatte ich Hegel von Anfang bis Ende, samt den meisten seiner Schüler, kennengelernt. Durch mehrere Zusammenkünfte mit Freunden in Stralow geriet ich in einen Doktorclub, worunter einige Privatdozenten und mein intimster der Berliner Freunde, Dr. Rutenberg. Hier im Streite offenbarte sich manche widerstrebende Ansicht, und immer fester kettete ich mich selbst an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu entrinnen gedacht.« (Marx 40: 10) Während die Bezüge zu Hegel immer wieder unterstrichen werden – vgl. Günther Hillmann: Marx und Hegel (1966); Dieter Wolf, Hegel und Marx. Zur Bewegungsstruktur des absoluten Geistes und des Kapitals (1979); Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie (1985) –, wurden die Bezüge von Marx zu Fichte und zu Schelling bisher nur vereinzelt behandelt. Vgl. Johann Mader: Fichte, Feuerbach, Marx (1968); Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik (1975); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung). 2 Zum ganzen Abschnitt siehe Georg Lukács: Der junge Marx (1955). 1
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Kritik als Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie
Der Berliner Doktorclub junger Akademiker und Literaten war Keimzelle und Sammelpunkt der kritischen Philosophie der Junghegelianer. Hegel war nach zwölfjähriger Lehrtätigkeit in Berlin 1831 gestorben; er hinterließ das wohl gewaltigste und in sich geschlossenste System der Philosophie, das in seiner ganzen Fülle gerade erst in den dreißiger Jahren durch die rasche Herausgabe seiner Schriften und Vorlesungsmanuskripte durch seine Schüler allgemein sichtbar wurde. Eine Reihe seiner ehemaligen Schüler lehrte an den Universitäten in Preußen – wie Eduard Gans und Carl Ludwig Michelet in Berlin, Johann Karl Rosenkranz in Königsberg, Hermann W. Hinrichs und Johann Eduard Erdmann in Halle –, sie trugen zur Verbreitung der Hegelschen Philosophie bei und versuchten selber das philosophische Gedankengebäude im Sinne Hegels abzurunden und auszubauen. Im Gegensatz zu diesen unmittelbaren Schülern von Hegel geht es den Junghegelianern, zu denen neben Bruno Bauer und Karl Marx aus dem Berliner Doktorclub vor allem noch Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach, Max Stirner und Moses Hess zu rechnen sind – nicht mehr um ein Vervollständigen des Hegelschen Systems, sondern vielmehr darum, die dialektische Methode der Hegelschen Philosophie kritisch gegen die geistlosen und verknöcherten Verhältnisse ihrer Gegenwart zu wenden. Marx gehörte diesem Kreis bis zum Abschluss seines Studiums Anfang 1841 an; besondere Freundschaft verband ihn mit den Brüdern Bruno und Edgar Bauer, Adolf Rutenberg und Carl Friedrich Koeppen; bald schon entwickelte er sich zu einem der brillantesten Dialektiker in dieser Runde. Moses Hess, selbst ein hervorragender dialektischer Kopf, der Marx nach dessen Promotion 1841 kennenlernte, charakterisiert ihn emphatisch in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Berthold Auerbach: »Du kannst Dich darauf gefaßt machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen kennenzulernen […], er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidendsten Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt […] – so hast Du Dr. Marx.« (Zit. nach Rubel 1963/ 1975: 11) 3 Seit 1839 vertieft sich Marx in die nach-aristotelische Philosophie der Epikureer, Stoiker und Skeptiker. Ein Teilstück dieser StuBiographisches zu Marx siehe neben Maximilien Rubel, Marx-Chronik (1963) auch Werner Blumenberg, Marx in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1962).
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dien: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie legt er der Philosophischen Fakultät der Universität Jena als Dissertation vor, von der Marx im April 1841 zum Doktor der Philosophie promoviert wird. Auf den ersten Blick scheint mit ihr eine zwar auf höchstem philosophischen Niveau abgehandelte, aber doch traditionelle philosophiegeschichtliche Fragestellung vorzuliegen. Erst der genaueren Betrachtung erschließt sich diese Arbeit in mehrfacher Hinsicht als eine kritische Auseinandersetzung mit Hegel. Hegel hatte ein absolutes, ein die Wirklichkeit in ihrer Totalität begreifendes System der Philosophie entwickelt, vergleichbar nur dem philosophischen Werk des Aristoteles, das seinerzeit den Gipfelpunkt der attischen Philosophie bezeichnete. Aber auch dieser Vergleich trifft nicht ganz zu, denn in Aristoteles vollendet sich zwar das philosophische Wissen der griechischen Klassik, sein philosophisches Denken durchdringt und umgreift alle wissenschaftliche Erkenntnis seiner Zeit, doch steht geschichtlich gesehen dieses gigantische Werk des Aristoteles erst am Anfang der abendländischen Tradition. Die »erste Philosophie«, wie Aristoteles den Kern der philosophischen Reflexion bezeichnet – die später Metaphysik betitelt wurde –, geht allen Wissenschaften voran, indem sie die Prinzipien allen Denkens, Erkennens und Wissens bedenkt und bestimmt. Sie erhebt den Anspruch, durch menschliche Vernunft die Vernünftigkeit alles Wirklichen (Logos) zu begreifen und somit Voraussetzung zu sein für alle Erkenntnisse von der Natur (Physik) und von der Polis (Ethik, Politik, Ökonomie, Pädagogik). Bei Aristoteles freilich ist diese Programmatik erst in ihren Anfängen entwickelt. Anders bei Hegel: in seinem System der Philosophie vollendet sich die gesamte philosophische Selbstreflexion der abendländischen Tradition, hier kommt die »erste Philosophie« zu ihrem in sich selbst beschließenden Ende. Dies ist keineswegs lediglich Selbststilisierung Hegels, wie er sie in seinen monumentalen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie als eine dialektische Bewegung des Geistes von den griechischen Anfängen bis zu seinem dialektisch diese Bewegung vollendenden philosophischen System entwickelt, sondern genauso wurde der Anspruch seiner Philosophie von den älteren und jüngeren Hegelianern und den philosophisch Gebildeten jener Zeit erfahren, angenommen oder auch bekämpft. In seinem Systementwurf der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften wird der Anspruch der abendländischen Philosophie, alles Wirkliche zu begreifen, eingelöst. Alles, was Hegel geschrieben 33 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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oder vorgetragen hat, war entweder Hinführung zum System wie die Phänomenologie des Geistes oder detaillierte Explikation eines Teilbereiches des Systems. In seiner Logik, dem ersten Teil des Systems, entwickelt Hegel die dialektische Bewegung der zu sich selber kommenden Vernunft, von der her die Vernünftigkeit der Welt in Natur und Geschichte begriffen werden kann. Die Naturphilosophie, der zweite Systemteil, ist im Wesentlichen eine modifizierte Übernahme der Naturphilosophie Schellings. Hegels eigene große denkerische Leistung liegt – neben der Logik – im dritten Systemteil, in der Philosophie des Geistes, und hier wieder insbesondere in den Teilbereichen des objektiven Geistes – der Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie – und des absoluten Geistes – der philosophischen Explikation der Kunst, der Religion und der Philosophie selber. Die Philosophie wird sich selbst thematisch in der Geschichte der Philosophie, die Hegel hiermit erstmals als eine Bewegung des sich Bewusstwerdens der Vernunft im Begreifen der Wirklichkeit von den griechischen Anfängen bis zum eigenen System darlegt – hiermit schließt sich der Kreis des Systems in den Anfang der Logik zurück. Es kann hier weder darum gehen, das Hegelsche System tiefergehend zu explizieren, noch darum, in eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Absolutheitsanspruch einzutreten, 4 sondern hier sollte lediglich der Hintergrund markiert werden, vor dem Marx in seiner Dissertation argumentiert. Was Marx zum intensiven Studium der nach-aristotelischen Philosophie veranlasst, ist ihre systematische Parallelität zur eigenen nach-hegelschen Gegenwart. Hier wie dort liegen »Knotenpunkte« der philosophischen Entwicklung vor – wie Marx in den Vorarbeiten zur Dissertation schreibt –, »die sie in sich selbst zur Konkretion erheben, die abstrakten Prinzipien in eine Totalität befassen und so den Fortgang der geraden Linie abbrechen«. (Marx 40: 215) Nun stellt sich die Frage, was die Epoche nach einem das philosophische Wissen abschließenden System bestimmt, welche Problemstellung das Philosophieren einer solchen Zeit bewegt und sie in unterschiedliche Schulrichtungen auseinanderfallen lässt – wie Vgl. Manfred Riedel, Theorie und Praxis im Denken Hegels (1965); Dietrich Benner, Theorie und Praxis: Systemtheoretische Betrachtungen zu Hegel und Marx (1966); Michael Theunissen, Die Verwirklichung der Vernunft (1970); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Studien zur HegelKritik und zum Problem von Theorie und Praxis (1974) sowie Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014).
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beispielsweise die Stoiker, Skeptiker und Epikureer –, die im Streit untereinander doch jeweils nur Bruchstücke aus dem vorausgegangenen System festzuhalten und weiterzutreiben vermögen. Gleichzeitig darf bei der nach-aristotelischen Philosophie nicht übersehen werden, dass es diese Schulrichtungen sind, die Geschichte machten, die Eingang fanden in die römische Welt, während das systematische Werk des Aristoteles für mehr als ein Jahrtausend in Vergessenheit geriet. Nun scheint dem Deutschen Idealismus, der größten Hochblüte der Philosophie seit der griechischen Klassik, Ähnliches bevorzustehen. Dies ist die Fragestellung, die Marx aufwirft und zu beantworten versucht: »Indem die Philosophie zu einer vollendeten, totalen Welt sich abgeschlossen hat […], so ist also die Totalität der Welt überhaupt dirimiert in sich selbst, und zwar ist diese Diremtion auf die Spitze getrieben, denn die geistige Existenz ist frei geworden, zur Allgemeinheit bereichert […]. Die Welt ist also eine zerrissene, die einer in sich totalen Philosophie gegenübertritt.« (Marx 40: 215) In solchen Epochen kann die Philosophie nicht fortschreiten im Begreifen der Wirklichkeit, denn sie ist bereits »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« (Hegel 7: 26), sondern ihr bleibt nur ein »Umschlagen in ein praktisches Verhältnis zur Wirklichkeit […]. Wie Prometheus, der das Feuer vom Himmel gestohlen, Häuser zu bauen und auf der Erde sich anzusiedeln anfängt, so wendet sich die Philosophie, die zur Welt sich erweitert hat, sich gegen die erscheinende Welt.« (Marx 40: 215) In den Epochen, die dem systematischen Begreifen der Wirklichkeit folgen, kann es nur noch ein Praktisch-Werden der Philosophie geben; dies war das Anliegen der nach-aristotelischen Philosophie, und dies ist auch die Aufgabe des Philosophierens nach Hegel. »Wer diese geschichtliche Notwendigkeit nicht einsieht, der muß konsequenterweise leugnen, dass überhaupt nach einer totalen Philosophie noch Menschen [Denker] leben können […]. Ohne diese Notwendigkeit ist es nicht zu begreifen, wie nach Aristoteles ein Zeno, ein Epikur, selbst ein Sextus Empiricus, wie nach Hegel die meistenteils bodenlos dürftigen Versuche neuerer Philosophen ans Tageslicht treten konnten.« (Marx 40: 217) Da die belebte Wirklichkeit eine zerrissene ist, nimmt auch die Philosophie jetzt mannigfaltige Gestalten an, »subjektive Formen des einzelnen Bewußtseins«, mit denen sie sich den Problemen der Zeit stellt: »Das ist die Fastnachtszeit der Philosophie […]. Es ist ihr da wesentlich, Charaktermasken anzulegen.« (Marx 40: 215) Doch noch roher und gewaltiger ist, was jener Zeit in der römischen Epoche 35 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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folgte; und was vielleicht auch der nach-idealistischen Epoche noch blüht – wie der junge Marx fast schon mit Seherblick orakelt: »Titanartig sind aber die Zeiten, die einer in sich totalen Philosophie und ihren subjektiven Entwicklungsformen folgen, denn riesenhaft ist der Zwiespalt, der ihre Einheit ist.« (Marx 40: 217) Doch ist diese Reflexion lediglich eine sehr indirekte Auseinandersetzung mit Hegel; die viel direktere bezieht sich auf die unterschiedliche Einschätzung der Bedeutung der nach-aristotelischen Philosophie und damit auf die Beurteilung der ganzen griechischen Philosophie durch Hegel und durch Marx. In der Vorrede zur Dissertation schreibt Marx: »Hegel hat zwar das Allgemeine der genannten Systeme im ganzen richtig bestimmt; allein bei dem bewunderungswürdig großen und kühnen Plan seiner Geschichte der Philosophie, von der überhaupt erst die Geschichte der Philosophie datiert werden kann, war es teils unmöglich, in das einzelne einzugehen, teils hinderte den riesenhaften Denker seine Ansicht von dem, was er par excellance spekulativ nannte, in diesen Systemen die hohe Bedeutung zu erkennen, die sie für die Geschichte der griechischen Philosophie und den griechischen Geist überhaupt haben. Diese Systeme sind der Schlüssel zur wahren Geschichte der griechischen Philosophie.« (Marx 40: 261 f.)
Die Geschichte der Philosophie als Bewusstwerdungsprozess Im Herangang an die Geschichte der antiken Philosophie stellt sich Marx zunächst ganz und gar auf den Boden der Geschichte der Philosophie von Hegel, die ja auch ein ungeheurer Wurf ohne Vorbild ist. 5 In ihr werden zum ersten Mal nicht Lehrmeinungen früherer Denker referiert, sondern die Geschichte der Philosophie als eine Bewegung des Zu-sich-selber-Kommens der Vernunft begriffen und dargestellt. Wobei diese Bewegung wiederum nicht nur als eine der Gedanken und Spekulationen einzelner Denker gesehen wird, sondern in ihr reflektieren sich die Probleme der jeweiligen Epoche und die besonderen Ausdrucksformen der jeweiligen Völker, so dass letztlich über den Nachvollzug der Gedanken der Philosophen durch die 5 Siehe Ernst Bloch: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1962) – darin vor allem »Philosophiegeschichte und Abschluß des Hegelschen Systems«.
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Geschichte hindurch unsere eigene Bewusstwerdung des menschlichen Geistes voranschreitet. Das Anliegen der Geschichte der Philosophie zusammenfassend sagt Hegel in den Schlusssätzen seiner Vorlesung, die tief in das Bewusstsein seiner unmittelbaren und mittelbaren Schüler eingedrungen ist: »Ich habe versucht, diesen Zug der geistigen Gestaltungen der Philosophie in ihrem Fortgehen mit Andeutung ihres Zusammenhangs zu entwickeln, vor Ihren Gedanken vorüberzuführen. Diese Reihe ist das wahrhafte Geisterreich, das einzige Geisterreich, das es gibt – eine Reihe, die nicht eine Vielheit, noch auch eine Reihe bleibt als Aufeinanderfolge, sondern eben im Sichselbsterkennen sich zu Momenten des einen Geistes, zu dem einen und demselben gegenwärtigen Geiste macht. Und dieser lange Zug von Geistern sind die einzelnen Pulse, die er in seinem Leben verwendet; sie sind der Organismus unserer Substanz. Auf sein Drängen – wenn der Maulwurf im Innern fortwühlt – haben wir zu hören und ihm Wirklichkeit zu verschaffen; sie sind ein schlechthin notwendiger Fortgang, der nichts als die Natur des Geistes selbst ausspricht und in uns allen lebt. Ich wünsche, dass diese Geschichte der Philosophie eine Aufforderung für Sie enthalten möge, den Geist der Zeit, der in uns natürlich ist, zu ergreifen und aus seiner Natürlichkeit, d. h. Verschlossenheit, Leblosigkeit hervor an den Tag zu ziehen und – jeder an seinem Ort – mit Bewußtsein an den Tag zu bringen.« (Hegel 20: 461 f.) Ganz im Sinne Hegels geht nun auch Marx an die philosophische Erforschung und Durchdringung der nach-aristotelischen Epoche; so schreibt er in den Vorarbeiten zur Dissertation in Anlehnung an Hegel: »Die philosophische Geschichtsschreibung hat es nicht sowohl damit zu tun, die Persönlichkeit, sei [es] auch die geistige des Philosophen, gleichsam als den Fokus und die Gestalt seines Systems zu fassen, noch weniger in psychologisches Kleinkramen und Klugsein sich zu ergehn; sondern sie hat in jedem Systeme die Bestimmungen selbst […] von […] der Darstellung der Philosophen, soweit diese sich selbst kennen, zu trennen; den stumm fortwirkenden Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens von dem gesprächigen, […] phänomenologischen Bewußtsein des Subjekts [zu lösen …]. Dies kritische Moment bei der Darstellung einer historischen Philosophie ist ein durchaus notwendiges, um die wissenschaftliche Darstellung eines Systems mit seiner historischen Existenz zu ermitteln.« (Marx 40: 247 f.) So sehr Marx mit Hegel darin übereinstimmt, dass die Gedanken 37 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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eines Philosophen weder für sich, abgetrennt vom Prozess des Zusich-selber-Kommens des Geistes, dem »stumm fortwirkenden Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens«, noch losgelöst von den konkreten Problemen und Sinnfragen einer Epoche und eines Volkes verstanden und begriffen werden können, so sehr unterscheiden sich beide doch in der Wichtung dieser beiden Momente und kommen dadurch zu völlig verschiedenen Beurteilungen der griechischen Philosophie. Für Hegel gipfelt die Gedankenbewegung der griechischen Philosophie in der klassischen Epoche, auf diesen Höhepunkt bewegen sich die vorhergehenden Denkbemühungen zu, von ihm her erscheint alles Folgende als Verfall. Hegels Darstellung der attischen Philosophie beginnend mit der Gestalt des Sokrates im Lebensalltag von Athen bis hin zu seinen Ausführungen zu Leben und Werk von Platon und Aristoteles gehören sicherlich zu den unüberbietbaren Meisterleistungen philosophischer Interpretation und Vergegenwärtigung. 6 Daran will auch Marx keineswegs rühren. Aber ist das griechische Denken allein schon in seinen unsterblichen philosophischen Systemen erfasst? Oder zeigt sich sein ganzer Charakter erst dort, wo der philosophische Gedanke wieder zurückwirkt auf die Lebenspraxis eines Volkes? Auf die nach-aristotelische Philosophie geht Hegel in seiner Geschichte der Philosophie nur kurz ein, sie ist für ihn gekennzeichnet durch den Verfall der Polis, bestimmt durch eine Privatisierung des Denkens, die sich niederschlägt in den diversen philosophischen Schulbildungen. Obwohl Marx auch dieser groben Einschätzung der hellenistischen Epoche keineswegs widerspricht, vermag er doch – gerade durch die Parallele zu seiner eigenen philosophischen Gegenwart – sensibler einzugehen auf die besondere Bedeutung der philosophischen Bemühungen in dieser nach-klassischen Zeit. Für ihn offenbart sich erst in diesen unterschiedlichen Versuchen des Praktischwerdens der Philosophie rückwirkend der ganze Charakter des griechischen Denkens, da »aus der bestimmten Weise dieses Umschlagens rückgeschlossen werden kann auf die immanente Bestimmtheit und den weltgeschichtlichen Charakter des Verlaufs einer Philosophie«. (Marx 40: 219) In seiner Dissertation macht dies Marx einerseits am Vergleich der Atomtheorie des Demokrit, eines Zeitgenossen des Sokrates, fest und andererseits an der Naturphilosophie des Epikur. Obwohl ge6 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Platon (1825 f.) sowie die Einleitung dazu von Jean-Louis Vieillard-Baron (1979).
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schichtlich wie philosophisch unterschiedlichen Epochen zugehörig – durch über 100 Jahre (Klassik und Alexanders Großreichbildung) getrennt – wird die Atomtheorie von Demokrit und Epikur in der Philosophiehistorie oftmals in einem Atemzug genannt; dadurch gehen nicht nur die Differenzierungen in der Atomtheorie des Epikur verloren, sondern dadurch wird auch der geradezu gegensätzliche Ausgangspunkt beider Ansätze völlig ignoriert. Während Demokrit mit der Atomtheorie den verborgenen, streng deterministischen Aufbau der Welt jenseits der Zufälligkeit der Erscheinungen zu konstruieren versucht, jedoch gleichwohl, von der Philosophie unbefriedigt, sich dem Studium der empirischen Wissenschaften verschreibt, verachtet Epikur das positivistische Denken der Wissenschaften und findet nur Seligkeit und Freiheit im philosophischen Denken, das gerade in der Fülle sinnlicher Erfahrung die Zufälligkeit des Zusammenspiels der Atome zu erblicken glaubt. Die Naturphilosophie des Epikur ist im letzten nur aus seiner Philosophie der menschlichen Freiheit zu verstehen; auch hier ist das Praktischwerden der Philosophie die dominante Fragestellung, von der her das Verhältnis des Menschen zur Natur bedacht wird. Diese Zusammenhänge versucht Marx in seiner Dissertation herauszuarbeiten. 7 Wir wollen jedoch hier nicht dieser philosophiegeschichtlichen Untersuchung nachgehen, sondern dort nochmals ansetzen, wo Marx in einer längeren Anmerkung zu seiner Dissertation das Problem des Praktischwerdens erneut vorauswendet auf die eigene Situation der nach-idealistischen Philosophie. Die »erste Philosophie« ist seit ihren bewussten Anfängen bei Aristoteles der Versuch, die Wirklichkeit in all ihren Gestaltungen zu begreifen; dieser Anspruch des Begreifens durch die Vernunft vollendet sich bei Hegel zum Sich-selbst-Begreifen der Vernunft in all ihren Gestaltungen der Wirklichkeit; das Begreifen wird hier zum Selbstbegreifen der Vernunft, die immer schon wirksam ist in den Gestalten der Natur und der Geschichte – wie dies Hegel gegen Ende der Wissenschaft der Logik ausspricht: »Die absolute Idee als der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht, [diese] absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit. Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie. Indem sie alle Bestimmtheit in sich enthält und ihr Wesen dies ist, durch ihre Selbstbestimmung oder Zur Epikur-Interpretation von Marx siehe Manfred Hülsewede, Die universellen Individuen: Entmystifikation und Universalität (1977).
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Besonderung zu sich zurückzukehren, so hat sie verschiedene Gestaltungen, und das Geschäft der Philosophie ist, sie in diesen zu erkennen. Die Natur und der Geist sind überhaupt unterschiedene Weisen, ihr Dasein darzustellen, Kunst und Religion ihre verschiedenen Weisen, sich zu erfassen […]; die Philosophie […] aber […] ist die höchste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise, die höchste, der Begriff ist.« (Hegel 6: 549) Die Philosophie, die sich so auf das Begreifen der vernünftigen Gestaltungen der Wirklichkeit in Natur und Geschichte konzentriert, kann sich natürlich nicht um die »Zufälligkeiten« der gelebten Wirklichkeit im einzelnen kümmern, ja sie muss – wie Hegel ausdrücklich zu Ende der Vorlesung über die Philosophie der Religion formuliert – sich abzusondern wissen von den »Nichtigkeiten« des praktischen Lebens; nur so vermag sich das philosophische Begreifen mit der Wirklichkeit in ihrer Vernunft zu versöhnen: »Die Philosophie ist in dieser Beziehung ein abgesondertes Heiligtum, und ihre Diener bilden einen isolierten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitztum der Wahrheit zu hüten hat […]. Wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.« (Hegel 17: 343 f.) Bei dieser Selbstheiligsprechung der Philosophie als Begriff der Wirklichkeit, die zugleich das Eingeständnis ihrer Bezugslosigkeit gegenüber der gelebten Wirklichkeit und Praxis ist, konnte die nachhegelsche Philosophie nicht stehenbleiben. Im Gegenteil, es stellt sich ihr gerade die entgegengesetzte Aufgabe, sich nun, da sie die Wirklichkeit in ihrer Vernünftigkeit begriffen hat, kritisch und praktisch gegen die bestehende Wirklichkeit in ihrem Zwiespalt, ihrer Zerrissenheit und Unvernunft zu wenden. 8 Dies haben sich die Junghegelianer zur Aufgabe ihres kritischen Philosophierens gemacht; darauf reflektiert Marx und versucht – durchaus in Anlehnung und mit den Mitteln der Reflexionslogik Hegels – die Dialektik dieses nach-idealistischen Philosophierens systematisch zu erfassen: »Es ist ein psychologisches Gesetz, dass der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vor8 Siehe Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1950); Johann Mader: Zwischen Hegel und Marx. Zur Verwirklichung der Philosophie (1975).
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handene Wirklichkeit kehrt. […] Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee mißt. Allein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet […]. Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt: ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d. h. es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht. Sein Verhältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis. […] So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, daß, was sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist […]. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft, ist immer dasselbe, was sie ist, nur mit umgekehrten Faktoren.« (Marx 40: 327 f.) In klarer Analyse arbeitet der junge Marx hier das dialektische Wesen und Problem der nach-hegelschen Philosophie – insbesondere der Junghegelianer – heraus. Ihren praktischen Auftrag als kritische Philosophie sieht sie darin, die Welt philosophisch zu machen, auf die Verhältnisse der Welt zu wirken, um sie vernünftig und sittlich zu machen. Damit wandeln sich aber zugleich Charakter und Funktion der Philosophie, sie ist nun nicht mehr reines Begreifen der Wirklichkeit in ihren vernünftigen Gestalten, sondern indem sie sich praktisch gegen die Welt wendet, wird sie selbst weltlich, gerät in die Zerrissenheit der lebendigen Praxis und Geschichte. Indem die kritische Philosophie versucht, sich gegen die Unvernunft der Welt zu wenden, gerät sie mit sich selbst als Philosophie in Widerstreit und spiegelt so die Zerrissenheit der Wirklichkeit als ihre eigene Zerrissenheit, denn einerseits ist »ihre Freimachung der Welt von der Unphilosophie […] zugleich ihre eigene Befreiung von der Philosophie, die sie als ein bestimmtes System in Fesseln schlug«, andererseits sind ihre Versuche der Befreiung »in theoretischer Hinsicht noch nicht über jenes System [Hegels] hinausgekommen«, und so merken sie »nicht, dass, indem sie sich gegen dasselbe wenden, sie nur seine einzelnen Momente verwirklichen«. (Marx 40: 329) In ihrem Wunsch, über das bloße Begreifen der Wirklichkeit hinauszukommen, spaltet sich die nach-hegelsche Philosophie selber in zwei »sich auf das extremste gegenüberstehende Richtungen auf«. (Marx 40: 329) Die eine Richtung, zu der vor allem der alte Schelling mit seiner grundsätzlichen Hegel-Kritik zählt – die Marx allerdings wohl nur vom Hörensagen kennt –, versucht die ganze Bewegung der 41 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Selbstkonstitution der »ersten Philosophie« als negative zu überwinden und mit einer »positiven Philosophie«, die sich aus der Wirklichkeit als wirkender erfasst, neu zu beginnen. Obwohl Marx die positive Philosophie in ihren »Forderungen und Tendenzen« anzuerkennen vermag, spricht sich doch in ihr – wie er sagt – »die Verkehrtheit; sozusagen die Verrücktheit, als solche« aus (Marx 40: 331), denn einerseits nimmt sie den »Begriff« als Prinzip der Philosophie zurück, in dem »die geistige Existenz […] frei geworden« ist, und geht vom »Nichtbegriff, [dem] Moment der Realität, als Hauptbestimmung« aus, andererseits ist sie gerade »der Versuch zu philosophieren, also das In-sich-Wenden der Philosophie, indem sie den Mangel als der Philosophie immanent weiß«. (Marx 40: 329 f.) Die entgegengesetzte Richtung ist die der »liberalen Partei« der Junghegelianer, sie halten »den Begriff und das Prinzip der Philosophie« in der Hegelschen Gestalt der Dialektik fest, aber ihre »Tat […] ist die Kritik, also gerade das Sich-nach-außen-Wenden der Philosophie, […] indem sie den Mangel […] als Mangel der Welt, die philosophisch zu machen [ist], begreift«. (Marx 40: 331) So lässt sich also zusammenfassend von beiden sich entgegenstehenden Richtungen der nach-hegelschen Philosophie sagen: »Jede dieser Parteien tut gerade das, was die andere tun will und was sie selbst nicht tun will«, jedoch – so fügt Marx hinzu – die liberale Partei »aber ist sich bei ihrem Innern Widerspruch des Prinzips im allgemeinen bewußt und ihres Zweckes«. (Marx 40: 330) Obwohl Marx hier ganz eindeutig Partei ergreift für das kritische Philosophieren der Junghegelianer und sich gegen »die Verrücktheit« der positiven Philosophie ausspricht, die ihre Kritik gegen die in Hegels System zum Abschluss kommende negative Philosophie wendet, denkt er doch gleichzeitig in seiner kritisch-dialektischen Analyse beider Seiten der nach-hegelschen Philosophie implizit auch über das kritische Philosophieren der Junghegelianer hinaus, ohne jedoch schon über die theoretischen Mittel zu verfügen, bewusst über diese Richtung hinauszugehen. In den folgenden Jahren löst sich Marx mehr und mehr von den Junghegelianern, indem er beginnt, die Hegelsche Philosophie selbst einer radikalen Kritik zu unterziehen, indem er also gerade das tut, was er der positiven Philosophie als die »Verrücktheit als solche« vorhielt. In der daraus erwachsenden doppelten Kritik beider Richtungen gegeneinander, die sich gleichzeitig sowohl gegen die Hegelsche Philosophie und ihre Nachfolger als auch gegen die bestehende Wirklich42 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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keit wendet, formt sich schließlich die radikale Neubestimmung philosophischen Denkens durch Marx, die als Kritik Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie zugleich ist. Diese Neubestimmung der theoretischen Arbeit als Kritik, die sich beim jungen Marx sowohl über seine politisch-publizistische Tätigkeit in der Redaktion der Rheinischen Zeitung (1842), 9 als auch über seine kritische Auseinandersetzung mit der Rechts- und Staatsphilosophie Hegels herausbildet, tritt 1843 in seinen Artikeln für die Deutsch-Französischen Jahrbücher 10 erstmals klar in Erscheinung und bleibt von da an bestimmend für sein Denken bis zum Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie. Die philosophischen Implikationen dieses neuen Begriffs der Kritik gilt es nun herauszuarbeiten.
Philosophie als Kritik Um die insbesondere das Theorie-Praxis-Verhältnis betreffende Umwälzung der Hegelschen Philosophie durch Marx sichtbar werden zu lassen, gilt es zunächst an die Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts zu erinnern, in der Hegel das Verhältnis der Philosophie des Rechts und des Staates zur gesellschaftlichen Praxis in ihrer jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit expliziert: »So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen. […] Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.« (Hegel 7: 26) Um Missverständnissen vorzubeugen, gilt es ausdrücklich zu unterstreichen, dass Hegel mit dem »was ist« die Idee des modernen Staates meint, d. h. die mit den bürgerlichen »Revolutionen« ins Dasein getretene verwirklichte Freiheit als Grundlage aller zivilisierten Staatsverfassungen seiner Zeit, dass er also keineswegs die »besonde9 Vgl. zu dieser Periode Helmut Richter, Zum Problem der Einheit von Theorie und Praxis bei Karl Marx (1978). 10 In den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, hg. von Arnold Ruge und Karl Marx 1844 (es erschien nur dieser erste Doppelband), waren Beiträge enthalten von Heinrich Heine, Friedrich Engels, Moses Hess; an dem Briefwechsel, in dem der Plan der Zeitschriftgründung diskutiert wurde, beteiligten sich neben Ruge und Marx Ludwig Feuerbach und Michail Bakunin.
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ren Staaten« – somit auch nicht den preußischen Staat – in der je begrenzten Realisation dieser Idee zu legitimieren versucht. 11 Hegel weiß sehr wohl, dass der Staat »als vorhandene Wirklichkeit« »in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums« verfangen ist, und er gibt an vielen Stellen zu erkennen, dass er so auch den preußischen Staat sieht. Doch darf es – wie Hegel meint – nicht die Aufgabe der Philosophie sein, dies auszusprechen. Die Philosophie hat unter Absehung der bestehenden »Fehler« und Mängel »das Affirmative zu begreifen«, das »den inwendigen Organismus des Staates selbst« ausmacht; »das Affirmative […] besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun«. (Hegel 7: 404) Angesichts des Wissens um den Zwiespalt zwischen der Idee der verwirklichten Freiheit als Grundlage des modernen Staates und dem vorhandenen »Kreuz der Gegenwart« klingt Hegels abschließende Kennzeichnung der Aufgabe und Möglichkeit einer Philosophie der gesellschaftlichen Praxis geradezu resignativ: »Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen […]. Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« (Hegel 7: 26 ff.) Dieser Bestimmung der Aufgabe der Philosophie, die Welt – d. h. hier die gesellschaftliche Praxis – nur im Nachhinein zu begreifen, stellt Marx in der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ganz entschieden eine Bestimmung der »Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht«, (Marx 1: 379) entgegen. 12 Bereits vorher hat Marx in einem programmatischen Brief In einer handschriftlichen Notiz zum § 75 der Rechtsphilosophie schreibt Hegel zur »bürgerlichen Revolution«: »Der ganze Übergang – der älteren in die neue Zeit – dreht sich hier herum – die Revolution in der Welt – d. h. nicht bloß etwa die laute, – Revolution, die alle Staaten mitgemacht haben.« (Hegel 7: 158) Vgl. auch Shlomo Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1972). 12 Obwohl Marx sicherlich hierfür entscheidende Impulse von Graf August Ciesz11
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an Arnold Ruge (September 1843) die Aufgaben des philosophischen Denkens als Kritik näher umrissen, wobei er deutlich macht, dass diese Kritik sich sowohl von Hegels Nach-Begreifen eines bereits vollendeten Bildungsprozesses als auch von dem von Hegel zu Recht distanzierten »Belehren, wie die Welt sein soll« abhebt: »Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, dass wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. […] Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.« (Marx 1: 344) Um auch hier gleich einem möglichen Missverständnis entgegenzutreten, sei ausdrücklich hervorgehoben, dass sich »die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« nicht gegen alles richtet, weil es besteht, sondern weil es das unterdrückende Kreuz der Gegenwart ist. Die Kritik wird von dem »kategorischen Imperativ« geleitet, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. (Marx 1: 385) Hegel glaubt, dass die Philosophie lediglich affirmativ »die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart« herauslösen müsse, um die eigentliche vernünftige Wirklichkeit zu erkennen, die als »List der Vernunft« (Hegel 12: 49) durch die Zerrissenheit der vorhandenen Wirklichkeit hindurch den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« (Hegel 12: 32) vorantreibt. So, das geheime Wirken der Vernunft in der Weltgeschichte erschauend, kann sie sich dieser »Rose« erfreuen, denn einzugreifen vermag sie doch nicht, da sie immer nur begreifen kann, was die Vernunft – dieser »Maulwurf«, der »im Innern [menschlicher Praxis] fortwühlt« (Hegel 20: 462) – bereits vollbracht hat. Für Marx dagegen ist das philosophische Denken immer kritisch auf die Gegenwart bezogen und deckt an ihr beides auf: die Rose und das Kreuz. 13 »Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in kowski, Prolegomena zur Historiosophie (1838) und Moses Hess, Philosophische und Sozialistische Schriften (1961) erfahren hat, geht er in seiner Fassung des TheoriePraxis-Problems doch über beide entschieden hinaus. Zum Einfluss von Moses Hess auf Marx siehe Zvi Rosen, Der Einfluß von Moses Hess auf die Frühschriften von Karl Marx (1979). 13 Vgl. Solange Mercier-Josa, Übergänge von Hegel zu Marx. Philosophie, Ideologie
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der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält grade der politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewußterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. […] Er gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmungen mit seinen realen Voraussetzungen. Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst läßt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln.« (Marx 1: 345) Das philosophische Denken hat aber nicht nur die Möglichkeit, »überall den Widerspruch« zwischen der Rose der Vernunft und dem Kreuze der Gegenwart aufzudecken, sondern sie ist selber als philosophische Analyse der Gegenwart in deren Widerspruch mit einbezogen: »Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, dass das philosophische Bewußtsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist.« (Marx 1: 344) Wo das philosophische Denken dies an sich selbst erkennt, dass es selber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wurzelt, die es zu verstehen trachtet, dass es dieser Wirklichkeit nicht in ein »abgesondertes Heiligtum« entfliehen kann, sondern immer, selbst »wenn sie auch nicht will«, Parteinahme im Widerstreit der gegenwärtigen Wirklichkeit ist, da muss es sich seiner politischen Aufgabe als Kritik bewusst stellen. »Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder! […] Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will. Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, […] daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt […]. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. […] Es wird sich endlich zeigen, daß die
und Kritik (1989); Jacques d’Hondt, De Hegel á Marx (1972); Milan Sobotka, Die idealistische Dialektik der Praxis bei Hegel (1965).
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Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt.« (Marx 1: 345 f.) 14 Die hier vorgetragene Kritik von Marx gegenüber Hegels Begriff der Philosophie gleicht nicht mehr der partiellen Wende der Junghegelianer, die noch fußend auf dem System Hegels »die besondere Wirklichkeit an der Idee« bemessen wollen – wie Marx in der Dissertation schreibt (Marx 40: 327 f.) –, sondern sie impliziert eine radikale Umwälzung des Verhältnisses der Philosophie zur gesellschaftlichen Praxis. Dieses neue Verständnis der Philosophie als Kritik ermöglicht es Marx, die Philosophie der gesellschaftlichen Praxis allererst zu ihrem wahren und wirklichen Ende zu bringen, denn nicht in der »vernünftigen Einsicht« vollendet sich »die Versöhnung mit der Wirklichkeit«, sondern das Bewusstmachen der bestehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ist selbst ein neuer Anfang für den jetzt erst anhebenden »Bildungsprozeß« einer bewusst zu gestaltenden gesellschaftlichen Praxis. Gerade weil sich das philosophische Denken als Teil der politischen und gesellschaftlichen Praxis selbst erfasst, die es zu ihrem Bewusstsein zu bringen hat, ist es nicht nur zur »rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden« in seiner Widervernünftigkeit berechtigt und beauftragt, sondern gründet in ihm auch die konkrete Hoffnung, dass sich gerade über die kritisch vorangetriebene Bewusstwerdung der handelnden Individuen die gesellschaftliche Wirklichkeit doch noch »verjüngen« werde. In diesem Sinne stellt Marx dem Schlussbild von Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie vom Flug der Eule der Minerva in der Abenddämmerung ganz bewusst am Ende seiner Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie das »Schmettern des gallischen Hahns« in der Morgenröte des »deutschen Auferstehungstags« entgegen. (Marx 1: 391) 15 Bereits an diesen programmatischen Ausführungen im Brief an Ruge wird deutlich, dass die Philosophie hier eine radikale UmwälDiese Textstelle wurde zum Grundmotiv von Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (1959). 15 Man könnte noch weiter gehen und aus der Konfrontation der Hegelschen Vorrede zur Rechtsphilosophie und der Marxschen Einleitung zu ihrer Kritik sogar eine gewisse Vertauschung der gängigen Leitvorstellung über idealistische und materialistische Positionen herausarbeiten, denn es ist nicht Marx, sondern Hegel, der von einem Bildungsprozess der Wirklichkeit spricht, welcher lediglich im Nachhinein abgebildet wird, während es nicht Hegel, sondern der junge Marx ist, der betont, dass der Bildungsprozess durch seine Bewusstwerdung eine entscheidende qualitative Veränderung erfährt und hierin wahrhaft erst zu sich selber kommt. 14
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zung erfährt; sie ist nicht mehr Begriff der vernünftigen Wirklichkeit, abgesondert von der gelebten gegenwärtigen Wirklichkeit, sondern sie erfasst sich selbst als in jener gesellschaftlichen Wirklichkeit fundiert, die sie in ihren bestehenden Widersprüchen analysiert; und es geht ihr auch nicht darum, diese Widersprüche lediglich festzustellen, sondern darum, sie aufzuheben; insofern weiß sich die Philosophie als Kritik auch praktisch auf die zu verwirklichende gesellschaftliche Praxis bezogen. Dies drückt auch die berühmte Forderung der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie aus, die sich aus Formulierungen der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie extrahieren lässt. Wir wollen diese Forderung zunächst aus ihrem unmittelbaren Kontext erläutern:
Die Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie Gerade weil die Hegelsche Rechtsphilosophie »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« (Hegel 7: 26), d. h. den modernen Staat und die bürgerliche Gesellschaft im weltgeschichtlichen Maßstab begreift – so hebt Marx hervor –, kann sie selbst als ein Teil der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit genommen werden. »Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte.« (Marx 1: 383) Deshalb versteht Marx auch seine eigene prinzipielle Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie zugleich als kritische Analyse des modernen Staates und beides als notwendige Voraussetzung und aktiven Beitrag zur Veränderung der politischen Verhältnisse. »Die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie […] ist beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staates und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst ist.« (Marx 1: 384) Von dieser doppelten Aufgabenstellung der Kritik wendet Marx sich gegen zwei Gruppen von politischen Kritikern an den deutschen Zuständen. Auf der einen Seite grenzt Marx sich gegen die »praktische politische Partei« ab, die »der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes […] einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt«. Sie hat keinen Begriff von der politischen Gegen48 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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wart, vom modernen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. »Die Beschränktheit ihres Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der deutschen Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und den ihr dienenden Theorien«, so dass sie im letzten mit ihrer »Negation der Philosophie« in eine begriffslose Praxis verfällt, »die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen kann«. Dieser Gruppe ruft Marx daher zu: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben; ohne sie zu verwirklichen.« (Marx 1: 384) Auf der anderen Seite ist Marx bemüht, sich von jener Position abzuheben, der er selbst einst nahestand: »die theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei« – an der ›Vergangenheit‹, in der Marx hier schreibt, offenbart sich die unausgesprochene Selbstkritik. Diese Partei »erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt«, glaubte also die bestehenden Verhältnisse allein von der philosophischen Idee des Staates her kritisieren zu können. »Kritisch gegen ihren Widerpart, verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten entweder stehenblieb oder anderweitig hergeholte Forderungen und Resultate für unmittelbare Forderungen und Resultate der Philosophie ausgab, obgleich dieselben […] im Gegenteil nur durch die Negation […] der Philosophie als Philosophie zu erhalten sind. […] Ihr Grundmangel läßt sich dahin reduzieren: Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben.« (Marx 1: 384) Es ist nicht möglich, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern, wenn man nicht einen philosophischen Begriff von den Widersprüchen der Gegenwart hat. Blinder politischer Aktionismus, der die theoretische Arbeit der Analyse der Gegenwart verächtlich beiseitelässt, verbleibt letztlich in den Verhältnissen verstrickt, die er zu bekämpfen vermeint. Demgegenüber haben zwar die Junghegelianer, die Marx mit der »theoretischen politischen Partei« anspricht, einen Begriff von der gegenwärtigen Wirklichkeit, die sie kritisieren, aber ihre Kritik bleibt eine der Philosophie, erfreut sich an den intellektuellen Kämpfen, ohne sich wirklich in die politische Praxis einzulassen, denn dazu müssten sie die »Philosophie als Philosophie« aufheben. So kann man diese Doppelkritik – aus dem begrenzten gemeinten Textzusammenhang herausgehoben – durchaus zu der grundsätzlichen Doppelforderung zusammenziehen: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie 49 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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zu verwirklichen« und ebensowenig »die Philosophie verwirklichen […], ohne sie aufzuheben«. Im doppelten Sinne von ›aufheben‹ und ›verwirklichen‹ geht es also darum, die Philosophie als Kritik zu verwirklichen und sie als bloße Philosophie aufzuheben, zugleich aber auch sie als Philosophie aufzuheben, um sie in die gesellschaftliche Praxis hinein zu verwirklichen. 16 Kritik meint hier – und diesen radikalen Begriff von Kritik hat Marx bis in sein Spätwerk beibehalten – eine »kritische Analyse« der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer konkreten Widersprüchlichkeit zwischen der in der menschlichen Praxis liegenden Vernunft und ihren widervernünftigen und unmenschlichen Verhältnissen. Zugleich meint Kritik die Anstrengung der philosophischen Theorie – ohne sich dabei als Theorie aufzugeben – über sich hinaus in die Praxis zu wirken, durch bewusste Aufklärung der Menschen sich entschieden in den Dienst revolutionärer gesellschaftlicher Praxis zu stellen: »Schon als entschiedener Widerpart der bisherigen Weise des deutschen politischen Bewußtseins verläuft sich die Kritik der spekulativen Rechtsphilosophie nicht in sich selbst, sondern in Aufgaben, für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis.« (Marx 1: 385) Die so verstandene Kritik hebt sich weder in revolutionäre Praxis auf noch ersetzt sie diese, jedoch ist sie eine der notwendigen Bedingungen ihrer Ermöglichung. 17 Sie stellt sich in den Dienst jener praktisch politischen Bewegung, die sich die Aufhebung der entfremdeten und unterdrückenden Verhältnisse der Gegenwart zum Ziel gesetzt hat, und sie ist durch ihre kritische Analyse der gegenwärtigen Entfremdung ein unentbehrliches Medium – sowohl für die Bewusstwerdung der Unterdrückten als auch für die theoretische Anleitung ihrer Bewegung und ihrer Kämpfe. »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.« (Marx 1: 385) »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Vgl. Helmut Fleischer, Karl Marx. Die Wendung der Philosophie zur Praxis (1976); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014) – darin »Philosophie im Primat der Praxis« und »Aufhebung – Gedanken zu einer Grundkategorie dialektischer Philosophie«. 17 Siehe Henri Lefebvre; Metaphilosophie (1965) – darin vor allem »Aufhebung der Philosophie« und »Metamorphose der Philosophie – Poiesis und Metaphilosophie«; Ernst Bloch, Über Karl Marx (1968). 16
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Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen […]. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« (Marx 1: 391) In diesen emphatischen Schlusssätzen der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie kündigt sich bereits ein weiterer Umbruch in der Marxschen Philosophie an, der insbesondere aus seinen intensiven Diskussionen mit Sozialisten und Kommunisten in Paris seit Ende 1843 erwächst und durch seine gründliche Beschäftigung mit der politischen Ökonomie in den folgenden Monaten konkretere Gestalt annimmt; doch der Ansatz der radikalen Kritik in dem hier entwickelten dialektischen Sinne der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie bleibt über die Wandlungen hinweg auch grundlegend für die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie – wie noch zu zeigen sein wird. Programmatisch hat Marx den Standort seiner praxisphilosophischen Kritik in den Thesen über Feuerbach (1845) formuliert. Sie fassen zusammen, was er sich in der Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern, insbesondere mit Feuerbach kritisch erarbeitet hat, und sie markieren den Ausgangspunkt seiner weiteren praxisphilosophisch fundierten Kritik. An den Thesen 2, 8 und 11 sei der Kern seines praxisphilosophischen Anliegens nochmals unterstrichen 18: »Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der [reinen] Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage. […] Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis. […] Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.« (Marx 3: 5 ff.)
Siehe hierzu den Beitrag: »Die Praxis und das Begreifen der Praxis. Zu den ›Thesen ad Feuerbach‹« in diesem Band.
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II. Von der Kritik der Rechtsphilosophie zur Kritik der politischen Ökonomie
Neben der Herausbildung des neuen praktischen Selbstverständnisses der Philosophie als Kritik ist die Frage nach den inhaltlichen Beweggründen, die den jungen Marx von der Kritik der Rechtsphilosophie zur Kritik der politischen Ökonomie vorantrieben, von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx. Um diese Entwicklungslinie in ihren Grundzügen zu klären, müssen wir nochmals bei den Diskussionen der Junghegelianer ansetzen. Alle Junghegelianer waren überzeugte Republikaner und setzten sich für freie demokratische Verhältnisse ein, aber in ihren Schriften bekämpften sie vornehmlich die Zwänge im geistigen und kulturellen Leben, im Zentrum stand die Kritik der Religion. So arbeitet auch Marx nach seiner Promotion zunächst an einer polemischen religionskritischen Schrift von Bruno Bauer mit und beabsichtigt, mit ihm und Ludwig Feuerbach gemeinsam eine Zeitschrift Archiv des Atheismus herauszugeben. 1 Doch neben Arnold Ruge und Moses Hess gehört Marx zu denjenigen, die sich dann sehr früh politischen und sozialen Fragen zuwenden. 2 Dabei wirkt sicherlich seine Mitarbeit bei der Rheinischen Zeitung seit Frühjahr 1842, deren leitender Redakteur er dann von Oktober 1842 bis zu ihrer Auflösung im März 1843 war, beschleunigend auf die Politisierung seiner kritischen Tätigkeit. Bereits im März 1842 kündigt Marx Arnold Ruge in einem Brief die baldige Fertigstellung eines Artikels zur »Kritik des Hegelschen Naturrechts, soweit es [die] innere Verfassung betrifft«, an. »Der Kern ist« – so schreibt er weiter – »die Bekämpfung der konstitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings. Res publica ist gar nicht deutsch zu übersetzen.« (Marx 27: 397) Der angekündigte Artikel Zur Religionskritik vgl. Werner Post: Kritik der Religion bei Karl Marx (1969). Vgl. Georg Lukács, Der junge Marx (1955); Zvi Rosen: Der Einfluß von Moses Hess auf die Frühschriften von Karl Marx (1979). 1 2
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wird – wohl wegen der Arbeiten für die Rheinische Zeitung – nicht fertig, doch hat Marx seine Auseinandersetzung mit den Paragraphen zum »inneren Staatsrecht« in Hegels Rechtsphilosophie gleich nach Auflösung der Rheinischen Zeitung von Frühjahr bis Sommer 1843 wieder aufgenommen. Das umfangreiche Rohmanuskript erhielt von den späteren Herausgebern die Bezeichnung Kritik des Hegelschen Staatsrechts. Diese Vorarbeiten sollten wahrscheinlich eingehen in die thematisch weiterreichende Kritik der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie, die Marx Ende 1843 auszuarbeiten plante. Die diese Arbeit ankündigende Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie erschien Anfang 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, doch hat Marx mit der Ausarbeitung der Kritik der Rechtsphilosophie nicht mehr begonnen, da er sich nun – angeregt durch die sozialkritischen Themen seiner Diskussionen in Paris – der Kritik der politischen Ökonomie zuwendet. 3 In seiner Auseinandersetzung mit Hegels Staatslehre, deren »Kern […] die Bekämpfung der konstitutionellen Monarchie« ist, möchte der junge Marx etwas einlösen, was er bereits in einer Anmerkung zur Dissertation von seinen junghegelianischen Freunden gefordert hatte. Einige Schüler Hegels versuchten »diese oder jene Bestimmung seines [Hegels] Systems aus Akkommodation u. dgl., mit einem Wort, moralisch [zu] erklären« (Marx 40: 327) – dies bezieht sich beispielsweise auf Hegels Bekenntnis zur christlichen Religion oder seine Affirmation der konstitutionellen Monarchie. Abgesehen davon, dass diese Hegel-Kritiker dabei »vergessen, daß sie vor einer kaum abgelaufenen Zeitspanne […] allen seinen Einseitigkeiten begeistert anhingen«, ist eine solche bloß äußerliche Kritik bei einem Denker wie Hegel, »dem die Wissenschaft keine empfangene, sondern eine werdende war«, nicht zulässig. Natürlich ist es möglich, dass »ein Philosoph diese oder jene scheinbare Inkonsequenz […] begeht«, doch dann gilt es zu zeigen, »dass die Möglichkeit dieser scheinbaren Akkommodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Prinzips selber ihre innerste Wurzel hat.« (Marx 40: 327) Wer jedoch selbst auf dem Hegelschen System aufbauend, lediglich Teilstücke daraus als Anpassungen Hegels an den Zeitgeist abtut, offenbart durch diese »unphilosophische Wendung« letztlich seine eigene philosophische »Ignoranz«. 3 Vgl. Karl Korsch, Karl Marx (1938); Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution (1942).
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»Hätte also wirklich ein Philosoph sich akkommodiert: so haben seine Schüler aus seinem innern wesentlichen Bewußtsein das zu erklären, was für ihn selbst die Form eines exoterischen Bewußtseins hatte. Auf diese Weise ist das, was als Fortschritt des Gewissens erscheint, zugleich ein Fortschritt des Wissens. Es wird nicht das partikulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform konstruiert, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben und damit zugleich darüber hinausgegangen.« (Marx 40: 327) Genau diese »innerste Wurzel« für die Inkonsequenzen der Staatslehre Hegels versucht Marx nun in seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts herauszuarbeiten. Doch bevor wir uns dieser Kritik zuwenden, gilt es, kurz jene Momente und jenes Anliegen der Rechtsphilosophie Hegels anzudeuten, die prägend wirkten auf die Junghegelianer und die auch noch fortwirken bis in die Theorie des Sozialismus von Karl Marx. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts – Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß versuchen dialektisch zu vermitteln, was in der Neuzeit extrem auseinandergetreten ist: der Anspruch der Individuen auf ihre freie Selbstbestimmung und der Anspruch des Gesellschaftlich-Allgemeinen, begriffen hier als Staat, auf ein geordnetes Zusammenleben aller bezogen. Dabei geht es nicht um eine bloß gedankliche Vermittlung getrennter Realitäten, vielmehr muss diese Vermittlung von individuellem und allgemeinem Recht nicht nur immer schon Grundlage menschlichen Zusammenlebens gewesen sein, sondern ist auch in der Neuzeit – sich seiner bewusstwerdend – in der Gestalt des modernen (bürgerlichen) Staates mit seiner die Freiheit der Bürger konstitutiv voraussetzenden Verfassung hervorgetreten. Dies ist ja das Unerhörte, was spätestens mit der Französischen Revolution allen ins Bewusstsein getreten ist und was von Frankreich aus sich in allen zivilisierten Völkern durchzusetzen beginnt. Emphatisch unterstreicht Hegel in seiner Vorlesung der Philosophie der Weltgeschichte die Bedeutung dieser Revolution: »Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.« (Hegel 12: 529) 4 4 Vgl. Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution (1965: 18): »Es gibt keine zweite Philosophie, die so in ihrem innersten Antriebe hinein Philosophie der [bürgerlichen] Revolution ist wie die Hegels.«
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Was in den modernen Staaten bereits wirksam ist bzw. schrittweise wirksam wurde, vermochten jedoch die bürgerlichen Rechtsund Staatsphilosophen vor Hegel gedanklich noch nicht einzuholen, denn sie versuchten, den dialektischen Zusammenhang jeweils nur von einem der Pole aus zu erfassen, entweder betonten sie dabei wie Hobbes die Übermächtigkeit des Staates (Leviathan), von der her die Freiheit der Individuen bestimmt werden soll, oder sie versuchten wie Rousseau das Gesellschaftlich-Allgemeine aus einem freien Vertragsabschluss der Individuen zu begreifen. Beide Ansätze sind jedoch, da sie gerade das andre Moment nicht von sich her ableiten können, zum Scheitern verurteilt. Auch in den bereits fortgeschrittenen Vermittlungsversuchen von Freiheit und Sittengesetz bei Kant und Fichte fallen letztlich abstrakt-allgemeine Legalität und je individuelle Moralität noch auseinander. Hegel dagegen geht in seiner Rechtsphilosophie, der »Philosophie des objektiven Geistes«, von dem allgemeinen Willen aus, von der dem menschlichen Zusammenleben immer schon der Substanz nach zugrunde liegenden Gesellschaftlichkeit. In ihr sind bereits die Momente des abstrakten Rechts und der individuellen Moralität fundiert, obwohl sie als gesonderte Gestalt selber erst in der »Sittlichkeit« als vermittelte gesellschaftliche und individuelle Freiheit hervortritt: »Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.« (Hegel 7: 292) Die Sittlichkeit wird selber näher bestimmt durch die drei Momente: (1) der »natürlichen Sittlichkeit« in der »Familie«, in den Bindungen der Liebe der Ehepartner und der Eltern zu den Kindern, (2) der »entzweiten Sittlichkeit« in der »bürgerlichen Gesellschaft«, wo jeder mit seinen ökonomischen Interessen gegen die anderen sich behaupten muss und sich doch durch alle hindurch die Angewiesenheit aller als abstrakter Zusammenhang durchsetzt, und schließlich (3) in der Sittlichkeit des Staates als der bewusst gewordenen Vermittlung von individueller und gesellschaftlich-allgemeiner Freiheit: »Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, dass die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Inte55 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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resse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind […]. Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.« (Hegel 7: 406 f.) Der ungeheuren Gewalt und Reichweite dieses philosophischen Begriffs der Gegenwart konnte sich keiner entziehen, dem es um eine theoretische und praktische Bestimmung der konkreten gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit zu tun war. 5 Hegel spricht hier das vernünftige Wesen des modernen (bürgerlichen) Staates aus, begreift also das Prinzip, das die politische Praxis insbesondere der Franzosen bewegt, während in der politischen Wirklichkeit der damaligen deutschen Staaten davon kaum etwas zu verspüren ist. Hierauf bezogen, sagt Marx später: »Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. […] Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte.« (Marx 1: 383) Doch mehr noch – und das bleibt auch bei Marx zunächst unangesprochen –, ist es gerade die von Hegel hier genannte »Wirklichkeit der konkreten Freiheit«, die Marx seit seinen frühen Auseinandersetzungen mit Hegel bis in sein Spätwerk hinein bewegt. Jedoch trennt beide von Anfang an, dass Hegel die »konkrete Freiheit« bereits im Prinzip des modernen Staates erfüllt sieht – wenn auch in den bestehenden Staaten noch keineswegs voll realisiert –, während demgegenüber Marx ihre Verwirklichung als noch ausständige, zu erkämpfende Zukunft einer sozialistischen Gesellschaft begreift. Doch kehren wir, bevor wir darauf eingehen, nochmals zu Hegels Ausführungen über das »innere Staatsrecht« zurück. Nach diesem grandiosen Auftakt und den folgenden sehr substantiellen Explikationen des Prinzips und Wesens des modernen
Vgl. Shlomo Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1972/1976: 10): »In diesem Sinne kann Hegel als der erste große politische Philosoph der modernen Gesellschaft angesehen werden.« Siehe auch die früheren Arbeiten von Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat (1920); Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution (1942).
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Staates in seiner inneren Gliederung erläutert Hegel die Notwendigkeit der »Gewaltenteilung« in die »gesetzgebende Gewalt«, die »Regierungsgewalt« und die »fürstliche Gewalt«. Von dieser letzten sagt er völlig unbegründet und durch das Vorhergehende keineswegs vorbereitet: »die fürstliche Gewalt, in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefaßt sind, [… ist] also die Spitze und der Anfang des Ganzen, der konstitutionellen Monarchie«. (Hegel 7: 435) Mit der plötzlich auftauchenden Benennung des letzten Momentes als des »Anfangs des Ganzen« dreht sich die folgende Entwicklung vollständig um, beginnt mit der »fürstlichen Gewalt«, geht Hegel von dieser zur »Regierungsgewalt« fort, um schließlich bei der nunmehr gänzlich eingeschränkten »gesetzgebenden Gewalt« anzukommen. Durch diese bei der sonstigen Strenge der Gedankenbewegung im System Hegels völlig unerklärliche Umkehrung der Entwicklung werden nicht nur die folgenden Darstellungen in Anlehnung an die bestehenden politischen Verhältnisse umgewichtet, sondern sie konterkariert im Grunde auch die vorhergehenden substantiellen Bestimmungen des modernen Staates. Kein Wunder, dass diese »Inkonsequenz« von den Junghegelianern als »Akkommodation« Hegels an den preußischen Staat angeprangert wurde. 6 Nun weiß Hegel offensichtlich sehr wohl, was er hier tut – in den entsprechenden Paragraphen der Enzyklopädie findet diese Umkehrung nicht statt –, und er fügt deshalb in der Rechtsphilosophie einen rechtfertigenden Paragraphen ein, dessen Bedeutung und Tragweite jedoch sehr geheimnisvoll bleibt: »Da der Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab; in diesem liegt seine subjektive Freiheit und damit die Wirklichkeit der Verfassung. […] Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört.« (Hegel 7: 440) Was immer Hegel mit diesem Hinweis sagen wollte, für Marx und einige andere Junghegelianer erwuchs daraus die Forderung verstärkter politischer Aufklärungsarbeit, um den »alle seine Verhältnisse durchdringenden« Untertanengeist des deutschen Volkes, das 6 Siehe Manfred Riedel (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, 2. Bd., (1975), darin insbesondere die Beiträge von Karl-Heinz Ilting und Jean Hyppolite.
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die »ihm angemessenen« Knechtschaftsverhältnisse in den deutschen Staaten trägt, in Bewegung zu bringen: »Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert […], man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.« (Marx 1: 381)
Die Kritik des Hegelschen Staatsrechts Wenden wir uns nach dieser kurzen Rückerinnerung an die Hegelsche Rechtsphilosophie dem Rohmanuskript der Kritik des Hegelschen Staatsrechts von Marx zu. Das Manuskript beginnt mit einer paragraphenweise vorgehenden kritischen Kommentierung des Textes zum »inneren Staatsrecht«, löst sich jedoch zusehends im weiteren Verlauf von einer bloßen Kommentierung und wird immer mehr zu einer am Faden der Hegelschen Paragraphen locker voranschreitenden kritischen Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen selbst. Wir können leider hier nicht ausführlich auf die nuancenreichen und auch voller Witz steckenden Detailanalysen zum Hegelschen Text und zu den politischen Verhältnissen jener Zeit eingehen. Auch auf die darin enthaltene grundsätzliche Kritik des Staates und seiner Bürokratie, die nach wie vor zu den schärfsten Argumenten von Marx gegen jeglichen Staatsbürokratismus zählt – auch vorausweisend gegen einen solchen des Sozialismus und dessen zur Legitimationswissenschaft verkommenen Vulgärmaterialismus –, kann hier nur verwiesen werden. 7 In unserem Zusammenhang gilt es vor allem, den zentralen Argumentationsstrang der radikal-demokratischen Kritik an Hegels Staatstheorie herauszuarbeiten, Marx (1: 248 ff.): »Die ›Bürokratie‹ ist der ›Staatsformalismus‹ der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist das ›Staatsbewußtsein‹, der ›Staatswille‹, die ›Staatsmacht‹ als eine Korporation […], also eine besondere, geschlossene Gesellschaft im Staat. […] Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen Staat, der Spiritualismus des Staats. […] Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung. […] Die Aufhebung der Bürokratie kann nur sein, daß das allgemeine Interesse wirklich und nicht, wie bei Hegel, bloß im Gedanken, in der Abstraktion zum besondren Interesse wird, was nur dadurch möglich ist, dass das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird.«
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da in diesem die Wurzeln für das spätere Konzept einer sozialistischen Gesellschaft der frei assoziierten Individuen aufzufinden sind. Bereits bei der Besprechung der ersten Paragraphen des »inneren Staatsrechts« benennt Marx den Grundfehler der Hegelschen Gedankenbewegung, von der her Hegels »Inkonsequenzen« und seine »scheinbare Akkommodation« erklärbar werden. Dabei lehnt sich Marx zunächst in Argumentation und Begrifflichkeit an die schon von Ludwig Feuerbach in Das Wesen des Christentums (1841) gegenüber Hegels Philosophie vorgetragene Kritik an, überträgt diese aber aus der Kritik der Religionsphilosophie in die Kritik der Rechtsphilosophie. »Wichtig ist, daß Hegel überall die Idee zum Subjekt macht und das eigentliche, wirkliche Subjekt […] zum Prädikat. Die Entwicklung geht aber immer auf Seite des Prädikats vor.« (Marx 1: 209) »Die Idee wird versubjektiviert, und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginäre Tätigkeit gefaßt. […] Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie […] zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee.« (Marx 1: 206) »Wäre Hegel von den wirklichen Subjekten als den Basen des Staats ausgegangen, so hätte er nicht nötig, auf eine mystische Weise den Staat sich versubjektivieren zu lassen.« (Marx 1: 224) Das »ganze Mysterium der Rechtsphilosophie« (Marx 1: 208) liegt also darin, dass Hegel die Idee des allgemeinen Willens, der Gesellschaftlichkeit schlechthin, zum sich selbst fortbewegenden Subjekt erhebt. Sie liegt der Substanz nach allem Handeln der Individuen immer schon zugrunde und schreitet durch deren Aktionen hindurch zu ihrer Bewusstwerdung als Subjekt. Diese zum Subjektgewordene Substanz des allgemeinen Willens ist der Staat, die zur »Wirklichkeit« gewordene »konkrete Freiheit«. Die »konkrete Freiheit«, von der Hegel spricht, ist also die Freiheit der Idee des allgemeinen Willens, an der die Individuen nur teilhaben, insofern sie sich im Staat als in ihrer Substanz aufgehoben wissen, sich ihm ein- und unterordnen. Diese verabsolutierte Idee gilt es nach Marx vom Kopf auf die Füße zu stellen, denn einzig und allein die »wirklichen Subjekte« bilden die Basis der geschichtlichen Bewegung, sie bringen ihre Lebensverhältnisse hervor – so auch den Staat –, durch sie und in ihnen realisiert sich erst die »Wirklichkeit der konkreten Freiheit«, indem sie gemeinsam und bewusst ihr Zusammenleben bestimmen. Dies wird an zentraler Stelle in der Hegel-Kritik von Marx an 59 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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der Differenz von Monarchie und Demokratie erläutert: »In der Monarchie ist das Ganze, das Volk, unter eine seiner Daseinsweisen, die politische Verfassung, subsumiert; in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung; und zwar Selbstbestimmung des Volks. […] Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihrem wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen […]. Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen.« (Marx 1: 231) Zweierlei gilt es im Anschluss an diese grundlegende Bestimmung der Demokratie festzuhalten, damit die Tragweite und das Forttreibende ihrer kritischen Potenz sichtbar wird: 8 Zum einen fällt Marx in seiner Rückführung der versubjektivierten Idee des Staates auf die Basis des »wirklichen Volkes« keineswegs auf eine »Atomistik« von Einzelsubjekten zurück, sondern er nähert sich hier bereits dem, was er später »gesellschaftliche Praxis« nennt, indem er das »Gemeinsame« des menschlichen Zusammenwirkens betont, ohne es zu einem Subjekt hinter den Subjekten zu hypostasieren. Zum andern meint »Demokratie« bei Marx sehr viel mehr als nur eine besondere Staatsform, sondern verweist auf ein gesellschaftliches Zusammenleben, in dem alle sozialen Widersprüche durch die gemeinsamen Handlungen der freien, selbstbestimmten Individuen aufgehoben sind. Beide Punkte gilt es näher zu explizieren. 1) Hegel hat die »Vorstellung der Demokratie« und den damit verbundenen Begriff der »Volkssouveränität«, der »gegen die im Monarchen existierende Souveränität« gestellt wird, in der Rechtsphilosophie als »verworrene Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zugrunde liegt«, denunziert, denn – so sagt er –: »Das Volk, ohne seinen Monarchen und eben damit notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse, die kein Staat mehr ist.« (Hegel 7: 447) Marx nimmt diese Scheinargumentation sehr gründlich auseinander, denn »die ›verworrenen Gedanken‹, und die ›wüste Vorstellung‹, befindet Vgl. Josef Derbolav, Die kritische Hegelrezeption des jungen Marx und das Problem der Emanzipation des Menschen (1962).
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sich hier allein auf der Seite Hegels«. (Marx 1: 229) Nimmt man das Volk als »formlose Masse« vereinzelter Individuen, so kann man von dort aus allerdings niemals zu einem gegliederten Ganzen der menschlichen Gesellschaft kommen – hier in seiner Kritik an der Theorie des Gesellschaftsvertrags von Rousseau ist Hegel Recht zu geben –, aber einzig und allein das Vorurteil Hegels behauptet, dass das Volk diese »formlose Masse« ist, die allein durch den Monarchen ihre »Gliederung des Ganzen« erhält. Auch hier zeigt sich wieder die grundsätzliche Verkehrung der Hegelschen Rechtsphilosophie, denn da für Hegel allein die Idee das sich bewegende Subjekt ist, erscheinen ihm die einzelnen Individuen als Organe dieses einen Ganzen, das in seiner höchsten Form des Staates nur als konstitutionelle Monarchie bestimmt werden kann; wird nun diesem Ganzen die formgebende Gliederung und die lebendige Bestimmung entzogen, so bleibt eben nur eine »formlose Masse« übrig. Was Hegel nicht begreift, ist, dass das »wirkliche Volk« in den konkreten gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen zueinander selber bereits das lebendige gegliederte Ganze darstellt, das seine Substanz und sein Subjektsein nicht in einem anderen hat, sondern eben in den wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen miteinander. »Das Volk allein ist das Konkretum« (Marx 1: 229), und daher ist »die Demokratie […] die Wahrheit« aller Gesellschaften, denn sie allein »kann aus sich selbst begriffen werden. In der Demokratie erlangt keines der Momente eine andere Bedeutung, als ihm zukommt. Jedes ist wirklich nur Moment des ganzen Demos.« (Marx 1: 230) Die Bewegung der Idee in Hegels Rechtsphilosophie, die sich durch ihre logische Gestaltung der Idee der Familie, der Idee der bürgerlichen Gesellschaft zur Idee des Staates fortbewegt, ist also überall auf ihre wirkliche Basis der gesellschaftlichen Beziehungen eines Volkes zu transformieren. 9 In ihren wirklichen gesellschaftlichen Bezügen gestalten die Individuen ihr Leben in den Formen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates; diese sind ihre Verwirklichungsweisen und müssen als solche auch von den gesellschaftlichen Individuen erkannt und angeeignet werden – dies eben geschieht in der Demokratie. »Würden z. B. bei der Entwicklung von Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Staat etc. diese sozialen Existen-
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Vgl. Georg Ahrweiler: Hegels Gesellschaftslehre (1976).
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tialweisen des Menschen als Verwirklichung, Verobjektivierung seines Wesens betrachtet, so erscheinen Familie etc. als einem Subjekt inhärente Qualitäten. Der Mensch bleibt immer das Wesen aller dieser Wesen, aber diese Wesen erscheinen auch als seine wirkliche Allgemeinheit, daher auch als das Gemeinsame.« (Marx 1: 241) Bei Hegel dagegen tritt eine »Verkehrung des Subjektiven in das Objektive und des Objektiven in das Subjektive« ein, »die daher rührt, daß Hegel die Lebensgeschichte der abstrakten Substanz, der Idee, schreiben will, daß also die menschliche Tätigkeit etc. als Tätigkeit und Resultat eines andern erscheinen muß, daß Hegel das Wesen des Menschen für sich, als eine imaginäre Einzelheit, statt in seiner wirklichen, menschlichen Existenz wirken lassen will«. (Marx 1: 240 f.) Nun haben diese letzten, wieder stärker an Feuerbach erinnernden Ausführungen den Anschein, als wolle Marx mit seiner HegelKritik lediglich eine »Verkehrung« in Hegels Philosophie aufzeigen, als gälte es, der imaginären Bewegung des allgemeinen Willens bis zur wirklich- und subjektgewordenen Idee des Staates die positive Einsicht in die konkrete Basis des »wirklichen Volkes« in den gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen als die wahre Philosophie entgegenzusetzen. Doch Marx schreitet bereits in dieser frühen Schrift über eine solche Kritik der bloßen Entgegensetzung philosophischer Weltinterpretationen hinaus. Er zeigt vielmehr im weiteren Verlauf seiner Argumentation auf, dass Hegel mit seiner Staatsphilosophie durchaus die Wahrheit der wirklichen Verhältnisse ausspricht, allerdings in einem ganz anderen Sinne als Hegel dies selber zu tun meinte. Denn es ist die Wahrheit der Gegenwart, dass der Staat sich gegenüber den gesellschaftlichen Individuen verselbständigt hat, dass diese in der bürgerlichen Gesellschaft sich in totaler Vereinzelung gegenübertreten, doch ist dies nicht die vernünftige Wirklichkeit, die hierin zum Vorschein kommt, wie Hegel glaubt, sondern die nackte Wahrheit der gegenwärtigen entfremdeten Verhältnisse. Würde man dieser Wahrheit der entfremdeten Gegenwart lediglich die wahre Einsicht in die eigentliche Basis des »wirklichen Volkes« und die darin enthaltene Forderung einer radikalen Demokratie entgegensetzen, so würde man weder die Gegenwart in ihrer Entfremdung begreifen, noch könnte man hoffen, dass sich eine Demokratie je verwirklichen ließe. 10 10 Bereits in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts, die oft als Höhepunkt der Marxschen Abhängigkeit von Feuerbach interpretiert wird – siehe Louis Althusser, Ideo-
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Aufgabe der Kritik ist es also, die Wahrheit der Gegenwart, die Hegel als vernünftige affirmiert, in ihrer Entfremdung und ihrer wirklichen Genesis als entfremdete aufzudecken; erst dann wird die Kritik das Rüstzeug haben, im Begreifen der gegenwärtigen Wirklichkeit die realen Möglichkeiten der Verwirklichung einer radikalen Demokratie aufzuzeigen. »Hegels Hauptfehler besteht darin, daß er den Widerspruch der Erscheinung als Einheit im Wesen, in der Idee faßt, während er allerdings ein Tieferes zu seinem Wesen hat, nämlich einen wesentlichen Widerspruch, wie z. B. hier der Widerspruch der gesetzgebenden Gewalt in sich selbst nur der Widerspruch des politischen Staats, also auch der bürgerlichen Gesellschaft mit sich selbst ist. Die vulgäre Kritik verfällt in einen entgegengesetzten dogmatischen Irrtum. So kritisiert sie z. B. die Konstitution. Sie macht auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc. Sie findet überall Widersprüche. Das ist selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft […]. Die wahre Kritik dagegen zeigt die innere Genesis […]. Sie beschreibt ihren Geburtsakt. So weist die wahrhafte philosophische Kritik der jetzigen Staatsfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit. Sie faßt sie in ihrer eigentümlichen Bedeutung. Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.« (Marx 1: 295 f.) Der junge Marx hat hier über die Junghegelianer und Feuerbach hinaus die Höhe dessen erreicht, was für ihn von nun an Kritik als kritische Analyse der Gegenwart inhaltlich bedeutet. 11 Sie kann nicht dabei stehen bleiben, der bestehenden Wirklichkeit den wahren Begriff menschlichen Zusammenlebens entgegenzuhalten, sondern sie hat aufzuzeigen, wie die Gegenwart in ihren grundlegenden Widerspruch geraten ist, um gerade daran die praktischen Möglichkeiten zu entdecken, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen. Um logie und ideologiscbe Staatsapparate (1976) –, finden wir die spätere Kritik an Feuerbach im Ansatz entwickelt. 11 Prägnanter spricht dies Marx im Kapital aus (23: 393): »Selbst alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahiert, ist – unkritisch. Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.«
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diese praktische Seite der Kritik und ihre Perspektive noch näher zu klären, kehren wir nochmals zu den Ausführungen von Marx zur Demokratie zurück. 2) Ausdrücklich hebt Marx bereits in den Anfangspartien der Kritik des Hegelschen Staatsrechts hervor, dass mit der Demokratie als Verwirklichung der »konkreten Freiheit« der gesellschaftlichen Individuen nicht mehr nur eine besondere Staatsverfassung gemeint ist, sondern eine die abstrakte Entgegensetzung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft aufhebende Gesellschaftsform. »In allen von der Demokratie unterschiedenen Staaten ist der Staat, das Gesetz, die Verfassung das Herrschende, ohne dass er wirklich herrschte, d. h. den Inhalt der übrigen nicht politischen Sphären materiell durchdringe. In der Demokratie ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist. […] In der Demokratie hat der abstrakte Staat aufgehört, das herrschende Moment zu sein. […] Die politische Republik ist die Demokratie innerhalb der abstrakten Staatsform. Die abstrakte Staatsform der Demokratie ist daher die Republik; sie hört hier aber auf, die nur politische Verfassung zu sein. […] Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung nicht mehr für das Ganze gilt.« (Marx 1: 232) Wie wenig die politische Verfassung moderner Staaten – gleich in welcher Form – in die materiellen sozialen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens eingreift, macht Marx an den im Großen und Ganzen gleichbleibenden Eigentums- und damit Ungleichheitsverhältnissen im monarchischen Preußen und in den republikanischen Vereinigten Staaten sichtbar. 12 »Das Eigentum etc., kurz, der ganze Inhalt des Rechts und des Staats, ist mit wenigen Modifikationen in Nordamerika dasselbe wie in Preußen. Dort ist also die Republik eine bloße Staatsform wie hier die Monarchie. Der Inhalt des Staats liegt außerhalb dieser Verfassungen.« (Marx 1: 232 f.) Gleichwohl kann man sagen: »Die Monarchie ist der vollendete Ausdruck dieser Entfremdung« (Marx 1: 233), denn in ihr tritt der Staat dem Volk als total fremde Macht entgegen, während die Republik bereits die formelle Aneignung des abstrakten Staates durch das Volk ist. »Die
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Vgl. Umerto Cerroni: Marx und das moderne Recht (1962).
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Republik ist die Negation derselben [der Entfremdung] innerhalb ihrer eignen Sphäre.« (Marx 1: 233) Nun gilt es zu erkennen, dass sich der politische Staat als abstrakt übergreifende Sphäre des gesellschaftlichen Lebens erst dort herausbildet, wo sich zugleich die privaten Eigentumsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft verselbständigen; beides sind im Grunde nur zwei Momente ein und derselben Entwicklung, die die Verhältnisse der Gegenwart hervorgebracht haben, denn im feudalen Mittelalter gab es diese Trennung noch nicht. »Es versteht sich, daß da erst die politische Verfassung als solche ausgebildet ist, wo die Privatsphären eine selbständige Existenz erlangt haben. Wo Handel und Grundeigentum unfrei, noch nicht verselbständigt sind, ist auch noch nicht die politische Verfassung. […] Die Abstraktion des Staates als solchen gehört erst der modernen Zeit, weil die Abstraktion des Privatlebens erst der modernen Zeit gehört. Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt.« (Marx 1: 233) Das gerade ist das Große der Rechts- und Staatsphilosophie Hegels, dass sie die Besonderung dieser beiden Sphären erkennt und als die Wahrheit der Gegenwart ausspricht. Hegel glaubt jedoch, dass die Idee des Staates die bürgerliche Gesellschaft übergreife und in ihrer Einheit von allgemeinem und individuellem Willen im Staat sich die Freiheit des Geistes konkret verwirkliche. Von diesem Gedanken erfüllt, sieht Hegel nicht, dass es in Wirklichkeit die Aktionen der bürgerlichen Gesellschaft sind, die die Trennung von Staat und Gesellschaft hervortreiben, die vom politischen Staat in seiner Abstraktheit gar nicht wirklich übergriffen werden können, so dass Hegel gerade dort, wo er die übergreifende Einheit der konkreten Freiheit im Staat zu konkretisieren versucht, im Grunde jeweils selber unter der Hand die widersprüchliche Trennung beider Momente benennt – so in der konstitutionellen Monarchie, so im bürokratischen Staatsapparat, so in der ständischen Gliederung des Volkes. 13 So spricht Hegel, indem Marx (1: 276 f.): Hier »findet man alle Widersprüche der Hegelschen Darstellung zusammen. 1. hat er die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staats (einen modernen Zustand) vorausgesetzt und als notwendiges Moment der Idee entwickelt, als absolute Vernunftwahrheit. […] Er hat dem wirklichen handelnden Staat die Bürokratie zu seinem Leib gegeben und sie als den wissenden Geist dem Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft supraordiniert. Er hat das an und für sich seiende Allgemeine des Staats dem besonderen Interesse und dem Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft gegenübergestellt. Mit einem Wort: Er stellt überall den Konflikt der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates dar.«
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er die Wirklichkeit in ihrer vernünftigen Logik explizieren will, überall die Logik der Entfremdung aus, die die Gegenwart beherrscht. »Das Tiefere bei Hegel liegt darin, dass er die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und der politischen als einen Widerspruch empfindet. Aber das Falsche ist, dass er sich mit dem Schein dieser Auflösung begnügt und ihn für die Sache selbst ausgibt.« (Marx 1: 279) »Die Atomistik, in die sich die bürgerliche Gesellschaft in ihrem politischen Akt stürzt, geht notwendig daraus hervor, dass das Gemeinwesen, das kommunistische Wesen, worin der einzelne existiert, die bürgerliche Gesellschaft getrennt vom Staat oder der politische Staat eine Abstraktion von ihr ist. […] Dadurch, daß Hegel das Befremdliche dieser Erscheinung ausspricht, hat er die Entfremdung nicht gehoben.« (Marx 1: 283)
Die soziale, die menschliche Emanzipation Es ist klar, dass dieser kritische Begriff der Gegenwart und dieses Verständnis der Demokratie als eine das ganze gesellschaftliche Leben durchwirkende konkrete Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen praktische Konsequenzen hat, die weit über die bloß politischen Ziele der bürgerlichen Emanzipationsbewegung hinausgehen. Diese Konsequenzen zieht Marx unmittelbar im Anschluss an seine Arbeiten an der Kritik des Hegelschen Staatsrechts im Herbst 1843 in der polemischen Streitschrift Zur Judenfrage gegen zwei Arbeiten seines früheren Freundes Bruno Bauer. Der Kampf der demokratischen Kräfte kann weder bei der politischen Emanzipation stehen bleiben, der Freiheit und Gleichheit in der politischen Sphäre, da diese die Ungleichheit in der sozialen Sphäre unangetastet lässt, noch genügt es, darüber hinaus eine »gesellschaftliche Emanzipation«, wie beispielsweise die gesellschaftliche Gleichstellung der Juden mit den Christen, also die Religionsfreiheit und Gleichheit in der Privatsphäre der bürgerlichen Gesellschaft zu fordern, sondern die Perspektive des Kampfes muss die »menschliche Emanzipation« sein, d. h. die Aufhebung der Trennung von »politischem Gemeinwesen« und »bürgerlicher Gesellschaft« und damit die Aufhebung der Selbstzerrissenheit der Individuen in bourgeois und citoyen. »Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen 66 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Weltordnung.« (Marx 1: 356) »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. […] Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« (Marx 1: 370) Obwohl die Vorstellung einer »menschlichen Emanzipation« hier von Marx noch sehr verschwommen antizipiert wird und selbst noch ganz und gar als ein sittliches Postulat auftritt, sind doch in ihr bereits die wesentlichen revolutionären Perspektiven der späteren kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx im Keime ausgesprochen. Insbesondere wird hier schon deutlich gesehen, dass die Verwirklichung »konkreter Freiheit« als die Einheit von individueller und allgemeiner Freiheit, die Hegel bereits in der Idee des modernen Staats erfüllt sah, für Marx nur über eine radikale Umwälzung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft, die zugleich eine Selbstveränderung der Individuen in sich schließt, zu erreichen ist. Die Perspektive ist hier schon – wenn auch nicht dem Begriffe nach – eine solidarische Gesellschaft, in der die Individuen gemeinsam ihre »gesellschaftlichen Kräfte erkennen und organisieren« werden. Es fragt sich nun, was Marx wohl veranlasst, sein Projekt einer Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie abzubrechen? Bereits aus der bisherigen Nachzeichnung der Marxschen Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Staatsrecht von Frühjahr bis Herbst 1843 wird deutlich, dass Marx durch seine kritische Analyse der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie und der politischen Gegenwart zur Erkenntnis der wirklichen Priorität der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem politischen Staat getrieben wird. Dies veranlasst Marx zunächst, seine Kritik des Hegelschen Staatsrechts zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie auszuweiten, wie er sie in der Einleitung – aber hier immer noch unter Vorrang politischer Problemstellungen – ankündigt. Der eigentliche Umbruch erfolgt erst in den folgenden Monaten im ersten Halbjahr 1844, in denen Marx über die Kritik von Hegels Rechtsphilosophie hinaus zu einer eigenen Rezeption der Schriften der politischen Ökonomie voranschreitet. Marx selbst hielt 67 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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zu Recht nur diesen Umbruch in seinem Denken für wesentlich, denn erst er bedeutet wahrhaft einen radikalen Bruch mit der Hegelschen Philosophie und einen Neubeginn in seinem eigenen Denken – die wissenschaftliche Ausarbeitung des neu entstehenden Projekts der Kritik der politischen Ökonomie beschäftigt Marx von nun an in immer detaillierteren, nie vollendeten Studien. In den ersten Monaten von 1844 findet Marx zu den Voraussetzungen, die seine Kritik unabhängig machen von der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie, deren erste Ausformulierung uns in den Pariser Manuskripten vorliegt, den sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten vom Sommer 1844.
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte Man könnte diese neue Position eine totale Kritik an Hegel nennen, insofern sie nicht nur dem Totalitätsanspruch der Hegelschen Philosophie einen ebensolchen entgegenstellt, sondern sie darüber hinaus als notwendige Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft – im doppelten Sinne dieses Ausdrucks – von den eigenen Voraussetzungen her zu erklären unternimmt. 14 Über diesen Umbruch schreibt Marx selber 1859 im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie rückblickend: »Die erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie, eine Arbeit, wovon die Einleitung in den 1844 in Paris herausgegebenen ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ erschien. Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammengefaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.« (Marx 13: 8) Vorausgegangen waren diesem endgültigen Umbruch einerseits die wirkliche Konfrontation mit der sozialen Lage des Proletariats und mit den Anfängen einer sozialrevolutionären Protestbewegung 14
Vgl. Karl Korsch: Karl Marx, 1967: 27 f.
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in Paris – Pierre Joseph Proudhon, Wilhelm Weitling, Michail Bakunin und andere sozialrevolutionäre Denker 15 – sowie andererseits die ersten Studien der politischen Ökonomie – Adam Smith, David Ricardo, Jean-Baptiste Say 16 – also jener Wissenschaft, die sich mit der Grundlage der rasant aufstrebenden bürgerlichen Erwerbswirtschaft befasst. Bereits ein halbes Jahr nach der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie beginnt Marx im Sommer 1844 in Paris mit der Niederschrift des ersten Entwurfs einer »Kritik der politischen Ökonomie«, den er noch nicht so nennt und der gegenüber dem Spätwerk auch noch mit sehr verschwommenen Ahnungen operiert, der aber die entscheidende, umbrechende Entdeckung schon klar herausstellt: die gesellschaftliche Arbeit als Fundament aller Ökonomie, Gesellschaft und Geschichte. 17 In der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie spricht Marx zwar bereits von der ausstehenden Revolution des Proletariats, aber er kann weder ihre Möglichkeit noch ihre Notwendigkeit dialektisch begründen; er erklärt sie lediglich für moralisch notwendig und hält sie über eine radikal aufklärende Kritik auch für möglich. Nun aber entdeckt Marx in Kenntnis von Hegels philosophischer Bestimmung der »bürgerlichen Gesellschaft« bei seiner beginnenden Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie von Adam Smith, Jean-Baptist Say, David Ricardo, John Stuart Mill den grundlegenden Widerspruch in der Basis der bürgerlichen Gesellschaft selbst, der es ihm ermöglicht, mit den in der politischen Ökonomie herausgearbeiteten Kategorien und Erkenntnissen die Mechanismen der Entfremdung dieser Gesellschaft zu entschlüsseln. Er entdeckt in der gesellschaftlichen Arbeit sowohl die Grundlage einer 15 Siehe Pierre Joseph Proudhon, Was ist Eigentum? (1840); Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit (1842). 16 Siehe Adam Smith, Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes (1776); Jean-Baptist Say, Katechismus der National-Oekonomie (1815); David Ricardo, Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung (1817); John Stuart Mill, Einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie (1844). 17 Die später sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte waren Marx’ erster Versuch einer »Kritik der Nationalökonomie«, wie aus Briefen hervorgeht. Am 20. Januar 1845 schreibt Engels an Marx und drängt ihn, bis April mit seiner Kritik der Nationalökonomie fertig zu werden: »Mach, dass Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du selber auch mit vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif, und wir müssen das Eisen schmieden, weil es warm ist.« (Engels 27: 16) Vgl. Werner Blumenberg: Marx in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.
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umfassenden Theorie der Gesellschaft und Geschichte als auch die Voraussetzung zur Kritik der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer sozialen Zerrissenheit. Marx findet also hier die Möglichkeit, sowohl die klassischen Theorien der politischen Ökonomie als auch Hegels philosophischen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, die die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit als notwendig zerrissene aufdeckt, mit einander zu verknüpfen und deren geschichtliche Überwindbarkeit aufzuzeigen. Doch wenden wir uns zunächst – um kurz den Zusammenhang herzustellen – in wenigen Andeutungen Hegels Darstellung der »bürgerlichen Gesellschaft« zu.
Die bürgerliche Gesellschaft bei Hegel Die bürgerliche Gesellschaft, die gesellschaftliche Gestalt der Erwerbswirtschaft, ist für Hegel keine geschichtlich bestimmte Gesellschaftsformation, sondern stellt – wiewohl erst in jüngster Zeit in ihrer selbständigen Gestaltung hervorgetreten – die zur vernünftigen Form gelangte individuelle und gesamtgesellschaftliche Regulation menschlicher Lebenserhaltung dar. 18 Die ihr zugrunde liegende »Entzweiung« der Individuen untereinander wie der Individuen gegenüber der gesellschaftlichen Gesamtheit ist nach Hegel daher eine prinzipiell unaufhebbare Zerrissenheit, die der Form menschlicher Lebenserhaltung selbst innewohnt. Denn in der Lebenshaltung ist jedes Individuum als »Privatperson« auf das »eigene Interesse« nach »Befriedigung« seiner »subjektiven Bedürfnisse« eingeschränkt. Nur dadurch, dass jeder einzelne zur Befriedigung seiner Bedürfnisse »wesentlich in Beziehung auf andere« steht, so dass jedes Individuum allein durch die anderen »vermittelt sich geltend macht und befriedigt« (Hegel 7: 339), stellt sich gleichsam hinter dem Rücken und ohne Willen der Individuen die gesellschaftliche Gesamtheit als »ein System allseitiger Abhängigkeit« (Hegel 7: 340) her. »Die Idee in dieser ihrer Entzweiung erteilt den Momenten eigentümliches Dasein, – der Besonderheit das Recht, sich nach allen Seiten zu entwickeln und
Hegel (7: 339): »Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt. […] Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche alle Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren läßt.«
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zu ergehen, und der Allgemeinheit das Recht, sich als Grund und notwendige Form der Besonderheit sowie als die Macht über sie und ihren letzten Zweck zu erweisen. Es ist das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit.« (Hegel 7: 340) Wir können hier nicht die ganze weitere Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft von Hegel nachzeichnen, 19 eine Darstellung, die in nach wie vor unerreichter Strenge und Schärfe die Grundzüge unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Illusionen aufdeckt, und die schließlich in einer Ratlosigkeit vor den aufgedeckten und prinzipiell nicht zu bewältigenden Widersprüchen endet. Denn die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt aus sich selbst einen grundsätzlichen Zwiespalt zwischen den akkumulierten Reichtümern und der Arbeiterklasse, die zu ihrer Lebenserhaltung an die Arbeit gekettet ist: »Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer – denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen – auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt.« (Hegel 7: 389) Es zeugt von der Größe und Konsequenz Hegels als Denker, dass er nicht nach billigen Scheinlösungen sucht, sondern an dem aus den Grundvoraussetzungen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Widerspruch als unaufhebbaren festhält und damit darauf verweist, dass diese Gesellschaft vor einem für sie nicht lösbaren Problem steht. »Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.« (Hegel 7: 390) Dabei antizipiert Hegel durchaus scharfsichtig ausgleichende und abmildernde Formen staatlicher Sozialhilfe und gewerkschaftlicher Selbsthilfe, wie sie erst von unserer spätbürgerlichen Gesell-
Vgl. Klaus Lichtblau, Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1978); Manfred Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie (1969).
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schaft voll verwirklicht worden sind. 20 Aber Hegel belügt sich dadurch nicht: diese Formen der »Vorsorge« können die prinzipielle Entzweiung nicht lösen. Für die bürgerliche Gesellschaft gilt nach wie vor: »Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und Erzeugung des Pöbels zu steuern.« (Hegel 7: 390) Zwar gibt es für eine gewisse Zeitperiode – deren Nutznießer wir heute noch sind, obwohl wir mehr und mehr an ihr Ende gelangen – noch eine Expansion der Kolonisation nach außen, aber da die Erde endlich ist, kann diese Ausflucht notwendig nur eine begrenzte sein: »Durch diese Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese um außer ihr in anderen Völkern, woran sie Überfluß hat, oder Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten nötigen Subsistenzmittel zu suchen.« (Hegel 7: 391) Nach Explikation dieses Gedankens bricht Hegel seine wirtschaftspolitischen Überlegungen zur Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft ab, ohne für die erhoffte Evolution zum Besseren, die seine Darstellung unausgesprochen bestimmt, eine grundsätzlich ermöglichende und absichernde Lösung gefunden zu haben. Ohne jeden Zweifel vermag Hegel die Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch noch unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit aufzudecken. Aber ist damit zugleich auch der Beweis erbracht, dass hiermit das schlechterdings notwendige und vernünftige System menschlicher Lebenserhaltung entwickelt worden ist? Was Marx bei seiner eigenen an Hegel geschulten kritischen Rezeption der politischen Ökonomie entdeckt, ist, dass die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Entzweiung eine geschichtlich gewordene ist, und zwar nicht in dem auch von Hegel betonten Sinne, dass dieser Bereich erst in jüngster Zeit – nachdem bereits der moderne Staat hervorgetreten ist – zu seiner vernünftigen Gestaltung gefunden hat, sondern ganz im Gegenteil, dass sich das Werden der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Entzweiung als das Endprodukt einer Entwicklung zunehmender »Entfremdung« erweist. 21 Vgl. Walter Euchner, Egoismus und Gemeinwohl (1973). Siehe Lorenz von Stein, »Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland und ihre Zukunft« (1844) und »Die socialen Bewegungen der Gegenwart« (1848). Stein, der gleichzeitig mit Marx die sozialen Probleme seiner Zeit erkannte und analysierte, zieht genau entgegengesetzte Schlüsse. Ganz im Sinne Hegels hält er die Widersprüche zwischen dem kapitalistischen Unternehmertum und dem
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Die bürgerliche Gesellschaft stellt tatsächlich »das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit« (Hegel 7: 340) dar, aber nicht im Sinne Hegels als ein prinzipielles Moment menschlichen Zusammenlebens schlechthin, sondern als eine geschichtlich gewordene Entfremdung, die in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation eine solch tief- und weitreichende Form angenommen hat, dass sie offen zu Tage tritt. Somit wird zum einen deutlich, dass die von Hegel im »System Bedürfnisse« aufgewiesene allgemeinmenschliche »Entzweiung« subjektiver Bedürfnisbefriedigung und abstrakter Gesellschaftlichkeit (»allseitiger Abhängigkeit«) gerade nicht die »unmittelbare« Grundlage der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens ausspricht, sondern vielmehr die geschichtlich gewordene Gestaltung kennzeichnet einer bereits entfremdeten Gesellschaft. Zum anderen wird deutlich, dass die bürgerliche Gesellschaft auch nicht die vernünftige Endgestalt menschlicher Lebenserhaltung darstellt, sondern nur eine begrenzte geschichtliche Reichweite hat. Daher ist der Hegelsche Satz: »Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben« (Hegel 7: 391) prinzipieller zu verstehen – nicht wie bei Hegel als Moment der Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft durch Ausbeutung unterentwickelter Völker, sondern als Hinweis auf eine qualitativ neue, freie und selbstbestimmte sozialistische Gesellschaft. In den Dienst ihrer praktischrevolutionären Hervorbringung hat sich die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu stellen. Alle diese Momente eines radikalen Umbruchs im politischen Denken werden ermöglicht durch die ›Entdeckung‹ der gesellschaftlichen Arbeit: in ihrer Substanz als unmittelbare Grundlage der Produktion und Reproduktion alles menschlichen Lebens, in ihrer verkehrten Form als »entfremdete Arbeit« in der bürgerlichen Gesellschaft und in ihrem möglichen ›Subjektsein‹ als bewusste gesellschaftliche Arbeit der »frei assoziierten Produzenten« in einem frei Proletariat auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft für unaufhebbar und unlösbar; er fordert daher einen starken politischen Staat, denn nur auf der politischen Ebene des Staates könne der Konflikt zu einem Ausgleich gebracht werden. Eine direkte Auseinandersetzung zwischen Stein und Marx hat es leider nie gegeben – sie hätte die analytischen Möglichkeiten sowohl der Hegelschen Dialektik in ihrer sozialwissenschaftlichen Konkretion durch Stein als auch der Marxschen Kritik mit ihren praxisphilosophischen Implikationen sicherlich deutlicher zum Vorschein gebracht. Vgl. Michael Löbig, Persönlichkeit, Gesellschaft und Staat. Idealistische Voraussetzungen der Theorie Lorenz von Steins (2004).
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und bewusst gestalteten gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen. Dieser nun wirklich totalen Kritik an Hegels Philosophie der Gesellschaft, die keine direkte Kritik an Hegel mehr zu sein braucht, da sie Gesellschaft und Geschichte aus ihren eigenen Voraussetzungen begreift, wollen wir uns in den folgenden Abschnitten zuwenden. Dabei werden wir nicht den verschlungenen Pfaden des Erkenntnisund Forschungsprozesses von Marx im Einzelnen folgen. 22 Dieser Weg lief zunächst über eine erste Analyse der »entfremdeten Arbeit« und dem Aufweis der Möglichkeit der »Aufhebung der Entfremdung« in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, dann über einige, gemeinsam mit Engels entworfene Andeutungen zum geschichtsmaterialistischen Ausgangspunkt bei der gesellschaftlichen Arbeit im ersten Kapitel der Deutschen Ideologie (1845/1846), danach über Das Elend der Philosophie (1847) und einige kleinere Studien – wie Lohnarbeit und Kapital (1849) – zu den Grundrissen (1857/1858), dem Rohentwurf des großen Projekts einer Kritik der politischen Ökonomie, ein Manuskript, das wie kein anderes – wenn auch unzusammenhängend – die Fülle der Motive des Gesamtwerks repräsentiert, und schließlich zum teilweise ausgefeilten, aber insgesamt bruchstückhaften ersten Teil der Kritik der politischen Ökonomie, dem Kapital – Band I, sowie den darum herum gruppierten Studien und Entwürfen (1862–1882). Diese Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie nehmen alles revolutionäre Pathos der Jugendjahre zurück und wollen nichts anderes sein als grundlegende Kritik der inneren Logik des Kapitals, und zwar Kritik im radikalen Sinne einer Analyse der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft in ihren unaufhebbaren, sich zuspitzenden Widersprüchen, so dass dadurch die unabweisliche Notwendigkeit einer revolutionären Aufhebung der diese Gesellschaft in ihrem Bann haltenden Verhältnisse sichtbar wird. Von dieser dialektischen Kritik sagt Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des Kapital 1873: »In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, […]
Vgl. Walter Tuchscheerer, Bevor das Kapital entstand (1968); Ernest Mandel, Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1968).
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sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionar ist.« (Marx 23: 27 f.) Statt dem Marxschen Forschungsprozess im Einzelnen zu folgen, werden wir hier mit der Bestimmung der gesellschaftlichen Arbeit beginnen, um dann auf das Problem der Entfremdung und ihrer Aufhebung einzugehen 23; wobei wir zur Kennzeichnung der Marxschen Kerngedanken Textstellen aus allen Schriften nach dem erfolgten Umbruch heranziehen.
Siehe ergänzend auch den Beitrag »Die Bedeutung der Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten« in diesem Band.
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III. Die Kernstruktur der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis
»In Gesellschaft produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt« (Marx 42: 19) – so beginnt die ursprünglich geplante Einleitung der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, und Marx macht darin deutlich, dass die gesellschaftliche Produktion Ausgangspunkt, Entwicklungsfeld und Zielbestimmung der Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung der Menschen als gesellschaftliche und geschichtliche Wesen ist. Wenn hier von gesellschaftlicher Produktion, gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlicher Praxis 1 als Ausgangspunkt einer umfassenden Theorie der menschlichen Gesellschaft und Geschichte gesprochen wird, so meint dies zunächst die »in letzter Instanz« unabdingbar vorausgesetzte materielle Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens durch die Arbeit der gesellschaftlichen Individuen. Polemisch gegen die deutsche Philosophie des Selbstbewusstseins und des Geistes gewendet, heben Marx und Engels bereits in der Deutschen Ideologie die materielle Produktion und In unserer Studie wird zwischen gesellschaftlicher Praxis, gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlicher Produktion nicht näher differenziert. Eine anthropologische Trennung von Arbeit und Praxis, wie sie Jürgen Habermas in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1968) und in Erkenntnis und Interesse (1968) vorgeschlagen hat, wird aus Gründen zurückgewiesen, die aus der folgenden Interpretation des Marxschen Begriffs der gesellschaftlichen Produktion deutlich werden. Analytisch kann natürlich zwischen den Begriffen unterschieden werden: Arbeit meint stärker das Hervorbringen (Poiesis) eines Produktes, beispielsweise einer Erkenntnis durch wissenschaftliche Arbeit, während Praxis mehr die Gestaltung menschlicher Beziehungen umschreibt. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958); Henri Lefebvre: Metaphilosophie (1965). »Gesellschaftliche Produktion« in dem hier gebrauchten Sinne meint nicht den ökonomisch verengten Begriff der Warenproduktion; sondern die Arbeit und Praxis umfassende geschichtliche »Erzeugung« des Menschen durch den Menschen, wie Marx in den Manuskripten von 1844 sagt. Gemeinsam ist allen drei Begriffen, dass sie als die Basis und den Motor der Geschichte nicht die Verdinglichung der Ökonomie, sondern die lebendige Tätigkeit der gemeinsam handelnden Menschen setzen.
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Reproduktion des menschlichen Lebens als Basis aller Geschichte hervor. »Wir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können. […] Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten.« (Marx/Engels 3: 28) Es scheint dies eine Banalität zu sein, die so selbstverständlich und gewöhnlich ist, dass sie einer philosophischen Bestimmung des Menschseins unwürdig ist. Doch diese scheinbare Banalitat beginnt ihr Geheimnis preiszugeben, wenn wir sie mit dem Ausgangspunkt der Hegelschen Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft konfrontieren. Nicht die gesellschaftliche Arbeit steht bei Hegel am Anfang, sondern »die Art des Bedürfnisses und der Befriedigung«: »Das Tier hat einen beschränkten Kreis von Mitteln und Weisen der Befriedigung seiner gleichfalls beschränkten Bedürfnisse. Der Mensch beweist auch in dieser Abhängigkeit zugleich sein Hinausgehen über dieselbe und seine Allgemeinheit, zunächst durch die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Mittel, und dann durch Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedürfnisses in einzelne Teile und Seiten, welche verschiedene partikularisierte, damit abstrakte Bedürfnisse werden.« (Hegel 7: 347 f.) Und erst an zweiter Stelle steht für Hegel die Arbeit des je einzelnen Individuums als Vermittlung der individuellen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung: »Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessen, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigen Prozesse spezifiziert.« (Hegel 7: 351) Man muss eigentlich nur die Ausführungen Hegels lesen, um die Verkehrung, die hier in den Grundbestimmungen stattfindet, zu erkennen. Denn wie anders soll der Mensch »in dieser Abhängigkeit« der Reproduktion seines Lebens »zugleich sein Hinausgehen über dieselbe und seine Allgemeinheit« (Hegel 7: 345) bewerkstelligen als durch eine produktive Veränderung der Natur und seiner selbst; wie soll er seine Bedürfnisse und Mittel vervielfältigen, wenn nicht durch 77 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Arbeit. 2 Diese Verkehrung stellen Marx und Engels in der Deutschen Ideologie richtig, wenn sie darauf verweisen, dass »die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, […] Grundbedingung aller Geschichte« (Marx/ Engels 3: 28) ist und »zweitens« betonen, »daß das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt«. (Marx/Engels 3: 28) Systematisch hat Marx diesen Gedanken nochmals in der Einleitung zu den Grundrissen ausführlich dargelegt, damit will er einer Verdrehung der Grundmomente in der ganzen politischen Ökonomie entgegentreten: »Das Wichtige ist hier nur hervorzuheben, daß, betrachte man Produktion und Konsumtion als Tätigkeit eines Subjekts oder vieler Individuen, sie jedenfalls als Momente eines Prozesses erscheinen, worin die Produktion der wirkliche Ausgangspunkt und darum auch das übergreifende Moment ist. Die Konsumtion als Notdurft, als Bedürfnis ist selbst ein inneres Moment der produktiven Tätigkeit. Aber die letztre ist der Ausgangspunkt der Realisierung und daher auch ihr übergreifendes Moment, der Akt, worin der ganze Prozeß sich wieder verläuft. Das Individuum produziert einen Gegenstand und kehrt durch dessen Konsumtion wieder in sich zurück, aber als produktives Individuum, und sich selbst reproduzierendes. Die Konsumtion erscheint so als Moment der Produktion.« (Marx 42: 29) So unscheinbar der Anfang mit der gesellschaftlichen Arbeit auch scheint, bereits jetzt zeichnen sich weitreichende Konsequenzen ab, denn mit der gesellschaftlichen Arbeit ist der Scheidepunkt benannt, von dem aus überhaupt von einer menschlichen Geschichte gesprochen werden kann. Hegel hatte den Unterschied in der Lebenserhaltung zwischen Tier und Mensch an der menschlichen Vervielfältigung der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung im Unterschied zur Festgelegtheit der Tiere deutlich zu machen versucht. Wiewohl die Zwar sieht auch Hegel partiell diese Bedeutung der Arbeit, wie sich an den §§ 198 und 199 der Rechtsphilosophie (7: 352 f.), aber noch eindrücklicher an seinen frühen Jenenser Manuskripten zeigen lässt, trotzdem bleibt die von der Arbeit unabhängige Differenzierung der Bedürfnisse im Vorrang. Georg Lukács hat in seinem Buch: Der junge Hegel: Über die Beziehung von Dialektik und Ökonomie, versucht, den jungen Hegel ganz dicht an Marx heranzurücken; darin stecken aber auch die rückwirkenden Gefahren, insofern dadurch die Marxsche Philosophie selbst zur affirmativen Ontologie wird. Vgl. Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins (1971–73); Karel Kosík: Die Dialektik des Konkreten (1967).
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Feststellung dieses Unterschieds keineswegs falsch ist, so ist doch das eigentlich Unterscheidende die menschliche Arbeit. Auch die Tiere, die Tierarten verändern sich im Laufe der Naturgeschichte und wirken verändernd auf ihre Umwelt zurück, aber das Übergreifende dieses Prozesses ist nicht ihre Lebenstätigkeit, sondern die Naturveränderung in der Umwelt und im tierischen Bedürfnis. Die Tierart passt sich einer veränderten Umwelt an. Der Naturprozess treibt Veränderungen aus sich hervor, die verändernd auf Teilorganismen einwirken und so verändernd auf den Naturprozess selbst zurückwirken, der somit sich in der Totalität seiner Momente gewandelt hat. Auch der Mensch als Tierart ist so durch den Naturprozess hervorgebracht worden (und kann durch veränderte Gesamtverhältnisse der Natur – ganz gleich, wodurch hervorgerufen – auch wieder durch einen Naturprozess ausgelöscht werden). Obwohl Hegel den Unterschied von Mensch und Tier betont, hält er doch am Modell des Übergreifens der Bedürfnisse gegenüber der Arbeit als menschlicher Lebenstätigkeit fest, während Marx in der Arbeit das produktiv Unterscheidende herausarbeitet, die gerade als produktive Gestaltung und Hervorbringung Grundlage der gesamten Menschheitsgeschichte ist. 3 Mit der zwecksetzenden Tätigkeit der Menschen, der gesellschaftlichen Arbeit und Praxis, ändert sich jedoch das Verhältnis der Natur zu einem ihrer Organismen, denn nun wird »die Produktion der wirkliche Ausgangspunkt und darum auch das übergreifende Moment« (Marx 42, 29), das Hervortreibende und Gestaltende des menschlichen Lebens und der Veränderung der Natur – wie dies Marx im Kapital am Arbeitsprozess darlegt: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. […] Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zuVereinfacht hat diesen Zusammenhang Friedrich Engels in: Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen (20: 244 ff.) dargestellt; doch muss man darauf achten, dass Engels nicht genau unterscheidet zwischen der biologischen Menschwerdung durch manuelle Tätigkeit, der Kooperation von Hand und Gehirn, und der gesellschaftlichen Menschwerdung, durch die gemeinsame Produktion der eigenen menschlichen Lebensverhältnisse. Genau dies wirft auch Jürgen Habermas in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus durcheinander, was sich bei ihm dann in der Formel zusammenfasst (1976: 151): »Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft.« Was insofern ein Unsinn ist, als Arbeit und Sprache nur als soziale Leistungen denkbar sind.
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gleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit.« (Marx 23: 192) Es ist klar – und Marx selber hebt dies ausdrücklich hervor –, dass diese Umkehrung nicht im einmaligen, umwälzenden Akt der Geburt des Menschen geschieht, sondern der langwierigen geschichtlichen Arbeit und Selbsterzeugung der Menschen durch ihre gesellschaftliche Praxis vorbehalten bleibt, der geistigen und materiellen Aneignung und Beherrschung der Natur durch die Menschen, einschließlich der heutigen und künftigen naturwissenschaftlichen und industriellen Möglichkeiten einerseits, der praktischen und bewussten Hervorbringung und Gestaltung menschlicher Verhältnisse im gesellschaftlichen Zusammenleben freier Individuen andererseits. Zweierlei gilt es – in Abwehr verschiedener mechanistischer und ökonomistischer Missverständnisse – herauszustellen: die Produktion als Grundbegriff menschlicher Geschichte erkennen heißt, sie prinzipiell als gesellschaftliche und bewusste Praxis zu begreifen. 1) Individuelle Arbeitshandlungen sind überhaupt nur im Kontext gesellschaftlicher Produktion möglich und bestimmbar. »Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft […] ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.« (Marx 42: 20) Wenn also Hegel und die Theoretiker der klassischen Ökonomie bei der individuellen Arbeit ansetzen und diese zur Grundlage des Austausches der erzeugten Produkte erklären (Hegel 7: 354), so übersehen sie, dass individuelle Arbeit selber geschichtliches Produkt eines langwierigen gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist, der durch gesellschaftliche Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung von individuellen Arbeiten allererst die Grundlage für den Tausch von Produkten geschaffen hat. »Die Setzung des Individuums als eines Arbeiters, in dieser Nacktheit, ist selbst historisches Produkt.« (Marx 42: 384) Der einzelne Arbeiter als Arbeiter, wie ihn Hegel immer schon in seinen Bestimmungen ansetzt, ist ein Spätprodukt geschichtlicher Entwicklung; allerdings zugleich eine der Voraussetzungen der bestimmten Form der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft – worauf wir später noch zurückkommen werden. 4 4 Jürgen Habermas weigert sich, diese Bestimmung der gesellschaftlichen Arbeit von Marx zur Kenntnis zu nehmen – selbst dort, wo er die einschlägigen Textstellen von Marx zitiert (Erkenntnis und Interesse, 1968: 72 ff. und erneut Zur Rekonstruktion
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Ganz allgemein ist das Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum als ein dialektisches zu kennzeichnen, in der die gesellschaftliche Produktion durch die Individuen das Übergreifende ist, wie dies Marx bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ausgesprochen hat: »Also ist der gesellschaftliche Charakter der allgemeine Charakter der ganzen Bewegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert.« (Marx 40: 537) 5 Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass die gesellschaftliche Produktion auch das Übergreifende über die gesellschaftlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse ist. D. h., die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« produzieren und reproduzieren selber ihren gesellschaftlichen Lebenszusammenhang; im letzten werden auch dort, wo dieser Lebenszusammenhang ursprünglich ein natürlich vorgegebener war und ist – wie die geschlechtliche und edukative Regeneration der Menschen –, diese Voraussetzungen und Bedingungen allererst »durch den Prozeß der Produktion selbst […], aus naturwüchsigen in geschichtliche verwandelt […]. Innerhalb der Produktion selbst werden sie beständig verändert« (Marx 42: 32) und erhalten ihre gesellschaftliche Bestimmtheit. Generell sind alle menschlichen Verhältnisse erst durch gesellschaftliche Produktion hervorgebracht und werden als solche in der gesellschaftlichen Praxis erneuert. »In dem Akt der Reproduktion selbst ändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen, z. B. aus dem Dorf wird Stadt, aus der Wildnis gelichteter Acker etc., sondern die Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraussetzen, sich selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, neue Kräfte und neue Vorstel-
des Historischen Materialismus, 1976, 145 ff.), unterstellt er ihnen in textwidrigem Sinne den eigenen Begriff der »instrumentellen Arbeitshandlung«. Hier ist Erich Hahn, Die theoretischen Grundlagen der Soziologie von J. Habermas (1974, 232) voll zuzustimmen: »Habermas fälscht Marx’ Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in jenen Zusammenhang von Arbeit und Interaktion um; er liest Marx subjektivistisch, durch den selbstgezimmerten Interpretationsrahmen, und wundert sich, daß das Ganze nicht zusammenpaßt.« 5 Die erstaunliche Nähe dieser Ausführungen von Marx zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft in Friedrich Schleiermachers Ethik (1812/13), Pädagogik (1814–26) und Politik (1817–33) bedürften einer gründlicheren Untersuchung, Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999), darin »Schleiermacher – Philosophie der Sittlichkeit als Einheit von Ethik und Gesellschaftstheorie«.
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lungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue Sprache.« (Marx 42: 402) 2) Damit sind wir bereits bei der zweiten Implikation: dem Bewusstsein. Auch hier gilt es ein Doppeltes zu sehen: einerseits ist das Bewusstsein ein bestimmendes Moment der gesellschaftlichen Praxis, andererseits ist es selbst Produkt menschlicher Praxis. Gerade wieder im Unterschied zum Tier hebt Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten hervor: »Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. […] Der Mensch […] hat bewußte Lebenstätigkeit. […] Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. […] Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit.« (Marx 40: 516) Eben diese Bestimmungen weisen aber auch das Bewusstsein – nicht als natürliche Voraussetzung genommen, sondern in menschlicher Gestaltung – und, anschaulicher noch, die Sprache als Produkte der gesellschaftlichen Praxis aus. In polemischer Akzentuierung und daher eher einseitig formulieren dies Marx und Engels in der Deutschen Ideologie: »Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. […] Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.« (Marx/Engels 3: 30 f.) Nach dem bisher Dargelegten ist wohl klar, dass, wenn in dieser Weise die »drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewußtsein« (Marx/Engels 3: 32), in ihren Verhältnissen zueinander thematisiert werden, niemals eine lineare Determination des gesellschaftlichen Zustands und des Bewusstseins durch die Produktion behauptet werden kann; denn selbstverständlich gibt es keine Produktion ohne gesellschaftlichen Zustand und ohne Bewusstsein – trotzdem sind diese nur als Produkte der gesellschaftlichen Produktion bestimmbar. In der Deutschen Ideologie haben Marx und Engels dieses konstitutive Ineinander so umschrieben: »Übrigens sind diese drei Seiten der sozialen Tätigkeit nicht als drei verschiedene Stufen zu fassen, sondern eben nur als drei Seiten, oder um für die Deutschen klar zu schreiben, drei ›Momente‹, die vom Anbeginn der Geschichte an und seit den ersten Menschen zugleich existiert haben und sich noch heute in der Geschichte geltend machen.« (Marx/Engels 3: 29) Darüber hinaus gilt es aber festzuhalten, 82 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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dass das prinzipiell Übergreifende auch über das Bewusstsein die gesellschaftliche Praxis ist – dieses herauszuarbeiten, ist ja die eigentliche Intention der Deutschen Ideologie: »Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.« (Marx/Engels 3: 26) Aus all diesen Bestimmungen geht hervor, dass Marx die gesellschaftliche Praxis, Arbeit und Produktion als das Übergreifende über sich und ihr Anderes versteht: als das Übergreifende über sich als Arbeit und über die bearbeitete Natur, über sich als Produktion und über die produzierten Lebensverhältnisse, über sich als gesellschaftliche Praxis und über das gesellschaftlich bestimmte Individuum, über sich als gesellschaftliches Sein und das Bewusstsein. Marx hat die gesellschaftliche Produktion als das Übergreifende über sich und ihr Anderes in den Grundrissen – dort bezogen auf die politisch-ökonomischen Grundbestimmungen des gesellschaftlichen Lebens, aber durchaus fundamentaler auf das menschliche Dasein und Wirken beziehbar 6 – prägnant ausgesprochen: »Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß [… die bestimmenden Momente] identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion, als über die andren Momente. Von ihr beginnt der Prozeß immer wieder von neuem […]. Eine bestimmte Produktion bestimmt also […] bestimmte Verhältnisse dieser verschiedenen Momente zueinander. Allerdings wird auch die Produktion, in ihrer einseitigen Form [als Moment unter anderen], ihrerseits bestimmt durch die andren Momente.« (Marx 42: 34) Mit dieser Aussage sind wir zum Kerngedanken der materialistischen Dialektik von Marx vorgestoßen. 7 Es ist wohl einleuchtend, Marx behandelt in dem Textzusammenhang der Grundrisse neben der Produktion die Momente: Konsumtion, Distribution, Austausch, Zirkulation. Das Übergreifen der gesellschaftlichen Produktion auch über die Momente der gesellschaftlichen Verhältnisse und über das Bewusstsein – in dem hier hervorgehobenen umfassenden Sinn – wird vor allem in der Deutschen Ideologie (Marx/Engels 3: 28 ff.), aber auch in den Grundrissen selbst an anderer Stelle (Marx 42: 383 ff.) dargelegt. 7 Marx spielt hier bewusst auf den Begriff des »Übergreifens« in Hegels Enzyklopä6
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dass sich damit gegenüber Hegels Philosophie des objektiven Geistes eine totale Umwälzung des gesamten Programms einer Theorie der Gesellschaft und Geschichte ergibt. Diese Theorie ist materialistisch, weil sie bei der materiellen Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens ansetzt; sie ist dialektisch, weil sie das Ineinanderwirken der selbständigen Momente des gesellschaftlichen Lebens bei der »in letzter Instanz« übergreifenden gesellschaftlichen Produktion als einen Prozess begreift; sie ist geschichtlich, weil sie diesen durch die gesellschaftliche Praxis hervorgetriebenen Prozess als die geschichtliche Selbsterzeugung der Menschen zu erfassen vermag. Programmatisch benennt Marx mit Engels in der Deutschen Ideologie den Ausgangspunkt der materialistischen Geschichtstheorie: »Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft, […] als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins […] aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen.« (Marx/Engels 3: 37 f.) Bereits vorher hat Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten deutlich gemacht, wie weitgehend er diesen Ansatz bei der gesellschaftlichen Arbeit als Neuansatz für die gesamte Gesellschaftsund Geschichtsphilosophie versteht: »Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß.« (Marx 40: 546) Diese die vorherigen Ausführungen zusammenfassende Hervordie (8: 372 f.) an. Hinzuweisen ist auch auf den Begriff der »Überdeterminierung«, den Louis Althusser in Für Marx zur Kennzeichnung der Marxschen Dialektik in die Diskussion gebracht hat. Dieser versucht zwar – ausdrücklich auch mit Berufung auf die obige Textstelle –, das Übergreifen eines Moments über die anderen bei gleichzeitiger Wechselbestimmung aller untereinander zu erfassen, aber ihm gerinnt einerseits die dialektische Bewegung des Übergreifens in eine strukturalistische Statik, andererseits sieht Althusser nicht, dass das Entscheidende der Marxschen Dialektik gerade darin liegt, dass die gesellschaftliche Produktion prinzipiell als Basis und Motor die ganze Menschheitsgeschichte, d. h. alle Gesellschaftsformationen übergreift.
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hebung der gesellschaftlichen Arbeit als Basis und Motor der Geschichte allein für sich genommen, lässt den philosophischen Ansatz von Marx als Synthese und Fortführung der philosophischen Positionen von Hegel und Feuerbach erscheinen. Aber dieser Schein trügt, und alle jene, die Marx von hierher anthropologisch-geschichtsphilosophisch zu interpretieren versuchen und dabei zwangsläufig seine Position zu einer affirmativen Geschichtstheorie umdeuten, 8 übersehen, dass wir mit der gesellschaftlichen Arbeit als dem prinzipiell Übergreifenden über die »ganze sogenannte Weltgeschichte« erst ein Moment der von Marx entwickelten Dialektik der Geschichte nachgezeichnet haben; darauf hat Marx selber im Zusammenhang seiner Hegel-Kritik in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ausdrücklich hingewiesen. Schon Hegel hat – zwar nicht in der Rechtsphilosophie, wohl aber in der Phänomenologie des Geistes –, wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schreibt, das »Wesen der Arbeit« erfasst: »Das Große an der Hegelschen ›Phänomenologie‹ und ihrem Endresultate – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist […], daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt […], daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.« (Marx 40: 574) Dass dabei »die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, […] die abstrakt geistige« Arbeit ist (Marx 40: 574), macht die Begrenztheit seiner idealistischen Dialektik aus, die zu einer geschichtsmaterialistischen Dialektik des wirklichen, materiellen und praktischen Geschichtsprozesses fortgeführt werden muss. Aber diese Einschätzung reicht noch nicht aus, jetzt erst kommt das große »aber«, welches Marx hinter diese Hervorhebung Hegels setzt; wobei er nicht nur Hegel, sondern genauso die englischen Theoretiker der politischen Ökonomie meint. Unmittelbar anschließend an die oben zitierte Stelle führt Marx zur »Einseitigkeit und […] Grenze Hegels« aus: »Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative.« (Marx 40: 574) 9 8 Vgl. Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx (1963); Heinrich Popitz, Der entfremdete Mensch (1967); Ekkehard Fräntzk, Der mißverstandene Marx (1978). 9 Siehe hierzu die bittere Kritik von Marx am Gothaer Programm, dem »Koalitions-
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Hegel spricht also nur die halbe Wahrheit aus; er beleuchtet – ebenso wie die Nationalökonomen – nur die Gesamtheit der durch die Menschen in der Geschichte hervorgebrachten Errungenschaften und Reichtümer sowie die an ihnen selbst bewirkte Bildung des Geistes und Genusses. Er übergeht und verschweigt jedoch die wirklichen Verhältnisse der arbeitenden Menschen, die »Form der Entfremdung« – wie Marx hier ausdrücklich sagt –, in der die Arbeit in der gegenwärtigen Gesellschaft gefesselt ist. Daher verschleiern alle, die wie Hegel nur die positive Seite der Arbeit hervorheben, den grundlegenden Widerspruch der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, der sichtbar wird in den wirklichen Verhältnissen der arbeitenden Menschen, die diese Reichtümer hervorgebracht haben und hervorbringen. »Die Nationalökonomie verbirgt die Entfremdung in dem Wesen der Arbeit dadurch, daß sie nicht das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arbeiter (der Arbeit) und der Produktion betrachtet. Allerdings. Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den andren Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter.« (Marx 40: 513) Um genauer zu sein: Hegel und die Theoretiker der politischen Ökonomie heben das Wesen der Arbeit als grundlegende Kategorie des menschlichen Lebens hervor, was sie aber dem entgegen dann wirklich beschreiben, ist eine Gesellschaft – die bürgerlich-kapitalistische –, die gerade nicht durch dieses Wesen der Arbeit, sondern durch das Kapital (Privateigentum der Produktionsmittel) bestimmt wird. Es wäre nun falsch, wie der sozialistische Kritiker Proudhon in einfacher Negation des Privateigentums eine bloße Restauration des Wesens der Arbeit zu fordern. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass die Nationalökonomen und auch Hegel, der ihnen hierin bei der Darstellung der »bürgerlichen Gesellschaft« in der Rechtsphilosophie folgt, den wirklichen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft aussprechen, und es gilt danach zu klären, wie die gesellschaftliche Arbeit in diesen Widerspruch geraten konnte, denn erst darin können die Möglichkeiten der Überwindung dieses Widerspruchs aufgefunprogramm« der deutschen Arbeiterparteien von 1875, das gleich der bürgerlichen Ideologie wiederum nur die positive Seite der Arbeit hervorhebt (Marx 19: 17).
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den werden. »Die Nationalökonomie geht von der Arbeit als der eigentlichen Seele der Produktion aus, und dennoch gibt sie der Arbeit nichts und dem Privateigentum alles. Proudhon hat aus diesem Widerspruch zugunsten der Arbeit wider das Privateigentum geschlossen. Wir aber sehen ein, daß dieser scheinbare Widerspruch der Widerspruch der entfremdeten Arbeit mit sich selbst ist und daß die Nationalökonomie nur die Gesetze der entfremdeten Arbeit ausgesprochen hat.« (Marx 40: 520) 10 Seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ist die Aufdeckung dieses wirklichen Widerspruchs in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Erklärung seiner Entstehung und die Forderung seiner Aufhebung, das Ziel der Marxschen Theorie. In diesen frühen Manuskripten versucht Marx noch nicht, wie in seinem Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie, die durch das Kapital bestimmte gegenwärtige Gesellschaft in ihrer immanenten Logik der Widersprüchlichkeit zu rekonstruieren, sondern er geht vom »gegenwärtigen Faktum« der »entfremdeten Arbeit« aus (Marx 40: 511) und fragt von daher zum einen nach den materiellen Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung der Entfremdung, um gerade dadurch zum anderen die materiellen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung aufdecken zu können. 11 Hier nun begegnen wir gleichsam wieder Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, jedoch nicht als prinzipieller Bestimmung menschlicher Lebenserhaltung, sondern als politisch-ökonomischer Analyse der gesellschaftlichen Gegenwart in der »Form der Entfremdung«! Nachdem Marx erstens die Entfremdung des Arbeiters vom Siehe hierzu Pierre Joseph Proudhon, System der ökonomischen Widersprüche oder: Philosophie des Elends (1846) und Karl Marx Antwort darauf in Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends« (1847) in: (Marx 4: 63 ff.). 11 Diese Unterschiede in der Fragestellung berücksichtigt Louis Althusser, Ideologie und ideologischer Staatsapparat (1976) nicht und verweist daher die Ökonomischphilosophischen Manuskripte in eine stark von Feuerbach geprägte philosophischideologische Periode in der Denkentwicklung von Marx. Dabei übersieht er völlig die hier bereits ausgeführte entschiedene Feuerbach-Kritik. Es ist in diesem Punkt vielmehr Henri Lefebvre, Der dialektisch Materialismus (1940) voll zuzustimmen, dass seit den Manuskripten von 1844 das Marxsche Werk als eine Einheit zu verstehen ist, die durch das Vorhaben einer umfassenden Kritik der politischen Ökonomie geprägt ist. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014) – darin »Dialektischer Materialismus als Philosophie der Praxis. Eine Antwort an Louis Althusser« (1974). 10
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Produkt seiner Arbeit – wir kommen darauf gleich noch zurück – und zweitens die Selbstentfremdung des Arbeiters in seiner »produzierenden Tätigkeit« analysiert hat, gilt es, »eine dritte Bestimmung der entfremdeten Arbeit aus den beiden bisherigen zu ziehn« (Marx 40: 515), die die völlige Verkehrung der gesellschaftlichen Arbeit sichtbar macht: »Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen die Natur entfremdet, sich selbst, seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben, und zweitens macht sie das letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form. Denn erstens erscheint dem Menschen die Arbeit, die Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst nur als ein Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses der Erhaltung der physischen Existenz. […] Ebenso indem die entfremdete Arbeit die Selbsttätigkeit, die freie Tätigkeit, zum Mittel herabsetzt, macht sie das Gattungsleben des Menschen zum Mittel seiner physischen Existenz. Das Bewußtsein, welches der Mensch von seiner Gattung hat, verwandelt sich durch die Entfremdung also dahin, daß das Gattungsleben ihm zum Mittel wird.« (Marx 40: 516 f.) Wer wäre hier nicht an die ersten Paragraphen zur »bürgerlichen Gesellschaft« aus Hegels Rechtsphilosophie erinnert; nur dass die Ausführungen Hegels nun in der Kritik von Marx ausgesprochen ihren bloßen beschreibenden Charakter des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustands verlieren und das Geheimnis ihrer wirklichen Verkehrung preisgeben. Dass jeder Mensch in seiner Lebenstätigkeit auf seine subjektive Bedürfnisbefriedigung eingeschränkt ist und der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang sich nur hinter dem Rücken der Privatpersonen als »ein System allseitiger Abhängigkeit« herstellt, ist adäquate Beschreibung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die eine wirkliche Verkehrtheit der gesellschaftlichen Praxis in all ihren Momenten impliziert und im letzten eine Zerstörung aller menschlichen Beziehungen zur Folge hat: »Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen. […] Überhaupt, der Satz, daß der Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, heißt, daß ein Mensch dem andern, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist.« (Marx 40: 517 f.) 88 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Es wäre sicher reizvoll, an dieser Stelle in eine nähere Gegenüberstellung der Darstellung der »bürgerlichen Gesellschaft« von Hegel und den Ausführungen zur »entfremdeten Arbeit« von Marx einzutreten, doch muss eine solche vergleichende Interpretation hier zurückgestellt werden. 12 Im bestehenden Zusammenhang müssen wir uns allein auf die zentrale Frage beschränken: Wie kann es überhaupt zur Entstehung entfremdeter Arbeit, d. h. zu einer grundlegenden Verkehrung der gesellschaftlichen Arbeit kommen, wo wir doch mit Marx die gesellschaftliche Arbeit als das grundsätzlich Übergreifende für die Dialektik der wirklichen Geschichte ausgewiesen haben? Ist eine solche Negation der Arbeit nicht eine Selbstaufhebung der theoretischen Grundlagen der Marxschen Kritik? Marx stellt diese Frage selbst in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: »Wie, fragen wir nun, kömmt der Mensch dazu, seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet? Wir haben schon viel für die Lösung der Aufgabe gewonnen, indem wir die Frage nach dem Ursprung des Privateigentums in die Frage nach dem Verhältnis der entäußerten Arbeit zum Entwicklungsgang der Menschheit verwandelt haben. Denn wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man es mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben. Wenn man von der Arbeit spricht, so hat man es unmittelbar mit dem Menschen selbst zu tun. Diese neue Stellung der Frage ist inklusive schon ihre Lösung.« (Marx 40: 521 f.) Wir können an dieser Stelle nicht eine umfassende Interpretation der Ausführungen über die »entfremdete Arbeit« geben; 13 in unserem Zusammenhang gilt es vor allem, der Dialektik von Entstehung und Aufhebung der entfremdeten Arbeit nachzugehen und hierin das dialektische Übergreifen der gesellschaftlichen Praxis auch über ihren Widerspruch und damit über den Gesamtprozess der Geschichte aufzuzeigen. Dies sei in vier Punkten expliziert. 1) Eine ermöglichende Voraussetzung der Entfremdung liegt in der natürlichen Form der Arbeit selbst, nämlich darin, dass die gesellschaftliche Arbeit sich im Produkt der Arbeit – im umfassenden Sin-
Vgl. Klaus Lichtblau, Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1978), Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014, 179 ff.). 13 Vgl. István Mészáros, Der Entfremdungsbegriff bei Marx (1973); Joachim Israel, Der Begriff der Entfremdung (1972); siehe dazu den Beitrag: »Die Bedeutung der Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten«. 12
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ne alles gesellschaftlich Produzierten – vergegenständlicht und dass diese vergegenständlichte Arbeit, das Hervorgebrachte und Gestaltete, von der Arbeit losgelöst, eine selbständige Existenz erlangt. Daher kann das Vergegenständlichte – der Möglichkeit nach – in ein gegensätzliches Verhältnis zu den Produzenten treten. Was in der Vergegenständlichung der Arbeit der Möglichkeit nach angelegt ist, nämlich die selbständige Rückwirkung des Produkts des produzierten Verhältnisses auf die Arbeit selber – und erst hierin liegt die Entfremdung –, ist im geschichtlichen Entwicklungsprozess der gesellschaftlichen Arbeit tatsächlich wirklich geworden, wie sich an der Faktizität des Kapitals zeigen lässt, die als vergegenständlichte Arbeit über die lebendige Arbeit herrscht: »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand [der gegenwärtigen Gesellschaft] als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.« (Marx 40: 511 f.) Da diese Stelle oftmals in Anlehnung an Hegels Bestimmung der »Entfremdung« in der Phänomenologie eine Missdeutung erfahren hat, als läge in der Vergegenständlichung der Arbeit selber bereits die Entfremdung, so dass die Entfremdung als ein wesentliches Moment der Arbeit zur unaufhebbaren »Bürde der Arbeit« stilisiert erscheint, 14 sei hier ausdrücklich eine längere Klarstellung aus der Selbstkritik von Georg Lukács angeführt, in der er seine zunächst vereinseitigende Deutung von Marx in Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923 zurücknimmt 15: »›Geschichte und Klassenbewußtsein‹ folgt nun Hegel insofern, als auch in ihm Entfremdung Siehe hierzu Herbert Marcuse, »Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs« (1933); neuerdings Harald Böhme, »Die Logik der menschlichen Arbeit« (1978); Ekkehard Fräntzki, Der mißverstandene Marx (1978). 15 Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, in denen Marx seine Entfremdungstheorie expliziert, erschienen erstmals 1932, so standen Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein und allen anderen Rekonstruktionsversuchen der Marxschen Theorie vorher nur eine sehr schmale philosophische Textbasis zur Verfügung, zumal 14
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mit Vergegenständlichung […] gleichgesetzt wird. Dieser fundamentale und grobe Irrtum hat sicherlich vieles zum Erfolg von ›Geschichte und Klassenbewußtsein‹ beigetragen. […] Die mit der Vergegenständlichung identifizierte Entfremdung war zwar als eine gesellschaftliche Kategorie gemeint, […] ihre unaufhebbare Existenz in den Klassengesellschaften und vor allem ihre philosophische Begründung näherte sie trotzdem der ›condition humaine‹ an. […] Denn die Vergegenständlichung ist tatsächlich eine unaufhebbare Äußerungsweise im gesellschaftlichen Leben der Menschen. […] Erst wenn die vergegenständlichten Formen in der Gesellschaft solche Funktionen erhalten, die das Wesen des Menschen mit seinem Sein in Gegensatz bringen, das menschliche Wesen durch das gesellschaftliche Sein unterjochen, entstellen, verzerren usw., entstehen das objektiv gesellschaftliche Verhältnis der Entfremdung und in ihrer notwendigen Folge alle subjektiven Kennzeichen der inneren Entfremdung.« (Lukács 1923/1970: 25 f.) Damit ist zwar noch nicht die Entfremdung selbst bestimmt, aber zumindest ein häufiges Missverständnis hegelianisierender Marx-Interpretation ausgeräumt. 2) Die »Entfremdung des Menschen von dem Menschen« ist eine »Konsequenz« aus der entfremdeten Arbeit und nicht umgekehrt, d. h. die gesellschaftlichen Verhältnisse sind Ausdruck der durch die Produktion hervorgebrachten Produktionsverhältnisse, und diese verändern sich infolge von grundlegenden Veränderungen der gesellschaftlichen Produktion. Es geht also nicht an, irgendwelche von außen an die gesellschaftliche Arbeit herangetragenen gesellschaftlichen Verhältnisse für die Entfremdung verantwortlich zu machen, z. B. die Eroberung und Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes (Marx 42: 30 f.), sondern durch die gesellschaftliche Arbeit werden Verhältnisse produziert, die entfremdend auf die Arbeit zurückwirken, die nun ihrerseits wieder diese Verhältnisse reproduziert und die damit die »Entfremdung des Menschen von dem Menschen«, d. h. die unterdrückenden Herrschaftsverhältnisse, aufrechterhält. »Also durch die entfremdete, entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu dieser Arbeit. Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhältnis des Kapitalisten zu derselben […]. auch von der Deutschen Ideologie von Marx und Engels seit 1905 nur das erste Feuerbach-Kapitel bekannt war.
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Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.« (Marx 40: 519 f.) Diese Vorrangigkeit der Produktion gegenüber den politischen Verhältnissen wird von Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) zum ersten Mal in ihrer allgemeinen prinzipiellen Notwendigkeit formuliert; in ihr gründet die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als einer praktischen Gesellschaftstheorie. Von diesem Grundgedanken her erklärt sich auch Engels vehemente Kritik an Eugen Dührings Kritischer Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus (1875). Denn Dühring vertritt, direkt gegen Marx’ Ausführungen im Kapital gewendet, die Gegenthese: »Die Gestaltung der politischen Beziehungen ist das geschichtlich Fundamentale, und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind nur eine Wirkung oder ein Spezialfall und daher stets Tatsachen zweiter Ordnung. Einige der neueren sozialistischen Systeme machen den in die Augen fallenden Schein eines völlig umgekehrten Verhältnisses zum leitenden Prinzip, indem sie aus den wirtschaftlichen Zuständen die politischen Unterordnungen gleichsam herauswachsen lassen.« (Zit. nach Engels 20: 147) 16 Träfe die Behauptung von Dühring zu, so wäre neben die gesellschaftliche Arbeit ein zweites grundlegendes Prinzip getreten, das man entweder »politische Beziehungen« oder »Interaktion« nennen könnte; ein solcher dualistischer Anfang wäre aber ein Rückfall in eine vordialektische Gesellschaftstheorie. Marx denkt hier radikaler und konsequenter und Engels verteidigt ihn daher zu Recht im AntiDühring. 3) Das entscheidende Problem besteht nun in der dialektischen Fassung des dargestellten Zusammenhangs: Die gesellschaftliche Arbeit bringt gesellschaftliche Verhältnisse hervor, die als verselbständigte auf die gesellschaftliche Arbeit zurückwirken – sie entfremdet sich somit selbst und reproduziert als entfremdete Arbeit die sie entfremdenden Verhältnisse. Im Grunde liegt die Auflösung dieses prinzipiellen Problems bereits in der dialektischen Bestimmung der gesellschaftlichen Produktion als dem Übergreifenden über sich und ihr Anderes, denn diese Beziehung impliziert bereits die Möglichkeit, Die Position von Dühring wird heute – wenn auch in abgewandelter Form – von Jürgen Habermas vertreten: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976).
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dass das Andere als selbständiges Moment auf die gesellschaftliche Produktion nicht nur grundsätzlich zurückwirken kann, sondern auch in der Form der Negation gegenüber jener sich selbst wie ein Übergreifendes gebärden kann, ohne es doch je sein zu können – darauf ist noch zurückzukommen. Bereits in der Deutschen Ideologie (1845/46) weist Marx mit Engels auf diese Rückbeziehung hin: »Wir erhalten […] nur das eine Resultat, daß diese drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewußtsein, in Widerspruch untereinander geraten können und müssen, weil mit der Teilung der Arbeit [– die selbst Produkt gesellschaftlicher Arbeit ist –] die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß die geistige und materielle Tätigkeit – daß der Genuß und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit, daß sie nicht in Widerspruch geraten, nur darin liegt, daß die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird.« (Marx/Engels 3: 32 f.) Diese Textstelle deutet auf zweierlei hin: Dass die gesellschaftliche Produktion über die selbsthervorgebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse entfremdet werden kann, und dass dies auch so lange wirklich geschieht, als sie nicht als eine bewusste gesellschaftliche Aufgabe der »in Gesellschaft produzierenden Individuen« begriffen und verwirklicht wird, dass aber eben gerade daher in der gesellschaftlichen Produktion selber auch die Bedingungen der Möglichkeit liegen, die naturwüchsig selbsterzeugte Entfremdung bewusst aufzuheben. Diesen Zusammenhang formuliert Marx in den Grundrissen explizit: »Sosehr nun das Ganze dieser Bewegung als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht […]. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozeß und Gewalt. […]. Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werden sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.« (Marx 42: 127) 17 Siehe auch Die deutsche Ideologie (Marx/Engels 3: 33): »Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich
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4) Aus dieser dreifachen Bestimmung der Ermöglichung der Entfremdung ergibt sich geradezu zwangsläufig die Einsicht in die Möglichkeit der Aufhebung der Entfremdung. Denn da die gesellschaftliche Produktion letztlich das Hervorbringende ihrer eigenen Entfremdung und Negation ist – die als Negation allerdings niemals totalwerden kann, ohne dem menschlichen Leben seine Grundlage zu entziehen –, kann auch und nur die gesellschaftliche Produktion die ›selbstverschuldete‹ Entfremdung wieder aufheben, und zwar durch die vereinigte Gewalt der Produzenten als Träger der lebendigen, gesellschaftlichen Arbeit. Die gesellschaftliche Produktion bringt nicht nur in ihrer naturwüchsigen Entwicklung das Kapital in seiner materiellen und daher sogar lebensbedrohenden Negation der lebendigen Arbeit hervor, sondern schafft auch die materiellen und geistigen Möglichkeiten der Negation der Negation, die allein durch die revolutionäre Praxis der Produzenten verwirklicht werden kann. Durch diese sie selbst ebenfalls revolutionierende Praxis werden die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« allererst zu den bewussten Produzenten ihrer eigenen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und ihrer eigenen Geschichte werden. (Marx/Engels 3: 69 f.) In diesem Sinne kennzeichnet Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten den Kommunismus als revolutionäre Aufhebung der Entfremdung: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist […] die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.« (Marx 40: 536) in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. […] Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichtemacht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung.«
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In der Aufdeckung der materiellen Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung und Aufhebung der Entfremdung gewinnt Marx das logische Fundament für seine Kritik der politischen Ökonomie, von dem her es ihm möglich wird, sowohl die bürgerlichen Gesellschaftstheorien zurückzuweisen, die entweder die Widersprüche in der gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt leugnen oder als anthropologisch gegebene und daher unaufhebbare legitimieren, 18 als auch jene sozialistischen Theorien abzulehnen, die glauben, entweder durch ein bloßes gesellschaftliches Übereinkommen oder allein durch einen politischen Gewaltstreich Unterdrückungsverhältnisse überwinden zu können. Wichtiger noch scheint es uns, darauf hinzuweisen, dass von diesem logischen Fundament der Dialektik der Geschichte her jene Rezeptionen von Marx zu kritisieren sind, die diese Dialektik wiederum linear abspannen. Zwei solche Positionen seien hier beispielhaft angedeutet. Bereits bei Friedrich Engels, der sicherlich bemüht war, die Marxsche Theorie getreu wiederzugeben, beginnt eine Auflösung der dialektischen Beweisführung in eine bloß beschreibende Darstellung eines für faktisch genommenen historischen Prozesses. Dadurch werden einerseits die Widersprüche in der bestehenden Gesellschaft nicht mehr aus der prinzipiellen Verkehrung der entfremdeten Arbeit erklärbar und gerinnt andererseits der die Widersprüche bekämpfende Sozialismus zu einem nicht mehr begründbaren dogmatischen Postulat. 19 Diese Abspannung der Dialektik zeigt sich besonders deutlich am Begriff der Arbeit, wie ihn Engels expliziert. Für Engels erzeugt die Arbeit in »allen höheren Formen der Produktion« immer »natürliche«, aber auch »gesellschaftliche Wirkungen«, die von ihr unmittelbar nicht intendiert sind. In diesen ungewollten Folgeerscheinungen, die negativ auf die Gesellschaft zurückwirken – wie z. B. im gesellschaftlichen Bereich die Spaltung in »herrschende und unterdrückende Klassen« –, liegt gleichsam ihre ›Entfremdung‹. Diese negativen Folgeerscheinungen gilt es durch technische – was groKlaus Hartmann, Die Marxsche Theorie (1970) versucht den genau entgegengesetzten Beweis zu führen, dass Marx’ Fundierung der Geschichts- und Gesellschaftstheorie über eine doppelte Negation logisch nicht gelungen sei – er beruft sich dabei auf Hegel und Lorenz von Stein und fordert daher die bewusste Rückkehr zu einer affirmativen Sozialtheorie im Sinne der Kategorialanalyse der Rechtsphilosophie Hegels. 19 Siehe vor allem Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (19: 189 ff.). 18
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ßenteils bereits gelungen ist – und durch gesellschaftliche Planung – was z. B. durch die »Abschaffung aller Klassengegensätze« im Sozialismus zu leisten ist – in den Griff zu bekommen, worin gleichsam ihre ›Aufhebung‹ erfolgt. »Aber auch auf diesem Gebiet [der gesellschaftlichen Folgen] lernen wir allmählich: […] uns über die mittelbaren, entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven Tätigkeit Klarheit zu verschaffen, und damit wird uns die Möglichkeit gegeben, auch diese Wirkungen zu beherrschen und zu regeln.« (Engels 20: 454) Gerade einem solchen, wiederum nur anthropologisch linear gefassten Begriff der Arbeit mit seinen Konsequenzen für eine undialektische evolutionäre Geschichtstheorie tritt Alfred Sohn-Rethel mit seinem geschichtsmaterialistischen Ansatz entgegen, wenn er versucht, die logische Struktur und prinzipielle Entfremdung der durch den Warentausch regulierten »Tauschgesellschaften« herauszuarbeiten und sie gegenüber den von der gesellschaftlichen Arbeit bestimmten »Produktionsgesellschaften« abzuheben. 20 Jedoch durch die einfache Negation der Entgegensetzung gelingt es Sohn-Rethel nicht, die Dialektik der Entstehung und Aufhebung der Entfremdung der »Tauschgesellschaften« geschichtsmaterialistisch zu erklären. Um die gesellschaftliche Arbeit nicht mit der Entfremdung zu belasten, bürdet er die Negation der entfremdenden »Abstraktion« einem anderen, von außen hinzukommenden Moment auf, nämlich der »Tauschhandlung«, ohne allerdings nach Verhältnis und Zusammenhang von beiden, Arbeit und Tausch, zu fragen. Sein Ansatz gerät dadurch erneut in einen undialektischen Dualismus: »Die Arbeit abstraktifiziert sich nicht selber. Der Sitz der Abstraktion [und damit auch der Entfremdung liegt] außerhalb der Arbeit in der bestimmten gesellschaftlichen Verkehrsform des Austauschverhältnisses.« (SohnRethel 1970/1972: 46) Die reine Arbeitshandlung als solche kann zwar tatsächlich nicht ihre eigene Entfremdung hervorbringen, aber die Arbeit als gesellschaftliche Produktion – in der Dialektik, wie Marx sie seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) versteht – ist das Übergreifende über sich und ihr Anderes. Die gesellschaftliche Arbeit »abstraktifiziert« sich also insofern doch dialektisch selbst, d. h. sie tritt mit sich selbst in Widerspruch; und einzig und allein darin liegt auch die Bedingung der Möglichkeit, dass dieser selbst hervor20
Siehe Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit (1970).
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gebrachte Widerspruch durch die gesellschaftlich bewusste Aktion der Produzenten wieder aufgehoben werden kann. 21 Die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« schaffen nicht nur die gesellschaftlichen Reichtümer, sondern auch ihre Lebensverhältnisse, in denen sie produzieren. Die gesellschaftliche Produktion ist – so expliziert Marx im Kapital – »sowohl Produktionsprozeß der materiellen Existenzbedingungen des menschlichen Lebens wie ein in spezifischen, historisch-ökonomischen Produktionsverhältnissen vor sich gehender, diese Produktionsverhältnisse selbst und damit die Träger dieses Prozesses, ihre materiellen Existenzbedingungen und ihre gegenseitigen Verhältnisse, d. h. ihre bestimmte ökonomische Gesellschaftsform produzierender und reproduzierender Prozeß«. (Marx 25: 826) Nun geschieht aber diese Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs zunächst naturwüchsig, d. h. dieser Prozess erwächst aus der Lebensgestaltung der vielen einzelnen Individuen, die mit ihrer Tätigkeit ihre besonderen Zwecke verfolgen, ohne sich der gesellschaftlichen Implikationen ihres Tuns bewusst zu sein. Und so erscheint der gesellschaftlich produzierte Lebenszusammenhang als »ein fremdes Wesen«, als eine von den Produzenten »unabhängige Macht«, und bewirkt, dass diese die vorgefundenen oder ihnen aufgezwungenen entfremdeten Lebensverhältnisse hinnehmen müssen, um sich überhaupt reproduzieren zu können. 22 Die Hervorbringung ihrer eigenen Negation in der entfremdeten Arbeit ist also kein bewusster, sondern ein »naturwüchsiger« Akt der gesellschaftlichen Produktion, d. h. der »in Gesellschaft produzierenden Individuen«, sondern sie ist bis zu dem Zeitpunkt, da die »frei assoziierten Individuen« die Planung und Gestaltung ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens selber in die Hände und unter Kontrolle nehmen (Marx 23: 94), ein naturwüchsiger Prozess, in Siehe Henri Lefebvre, Soziologie nach Marx (1966/1972: 40). Marx, »Fragment des Urtextes von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) abgedruckt in der Erstausgabe der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1939/41: 909: »Daß der gesellschaftliche Zusammenhang, der durch den Zusammenstoß der unabhängigen Individuen entsteht, zugleich als sachliche Notwendigkeit, und zugleich als ein äußerliches Band gegenüber ihnen erscheint, stellt eben ihre Unabhängigkeit dar, für die das gesellschaftliche Dasein zwar Notwendigkeit, aber nur Mittel ist, also den Individuen selbst als ein Äußerliches erscheint, im Geld sogar als ein handgreifliches Ding. Sie produziert in und für die Gesellschaft, als gesellschaftliche, aber zugleich erscheint dies als bloßes Mittel ihre Individualität zu vergegenständlichen.«
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dem »die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht«. (Marx/Engels 3: 33). Gerade weil die geschichtlich bestimmten Produktions- und Verkehrsverhältnisse der Menschen auch in ihrer entfremdeten Form selber Produkte der gesellschaftlichen Arbeit sind, ist die prinzipielle Möglichkeit ihrer Aufhebung durch eine die entfremdeten Verhältnisse bewusst umstürzende revolutionäre Praxis der assoziierten Produzenten gegeben. Dies heben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie hervor, wenn sie sagen: »Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschheit behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.« (Marx/Engels 3: 70) Entscheidend für unseren Zusammenhang der Rekonstruktion der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis ist also, dass die gesellschaftliche Produktion in ihrem naturwüchsigen Prozess selber die entfremdeten Verhältnisse und Widersprüche unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorgebracht hat, die als »sachliche Gewalt über uns« (Marx/Engels 3: 33) auf sie in all ihren Momenten entfremdend zurückwirkt, dass also »der Mensch […] in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht« wird (Marx 23: 649). Eine Kritik der politischen Ökonomie muss also in der Analyse der strukturlogischen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise zugleich die Aufdeckung der materiellen Möglichkeiten ihrer Aufhebung als entfremdetes »Machwerk« zum Ziel haben. 23
23 Siehe Karl Korsch, Karl Marx (1938); vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Karl Marx – Dialektik im Primat der Praxis« (2001).
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IV. Zur Dialektik der Kritik der politischen Ökonomie
Nachdem wir die Kernstruktur der Marxschen Theorie in der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis aufgewiesen haben, müssen wir uns nun der Interpretation des nie vollendeten Hauptwerkes von Marx, der Kritik der politischen Ökonomie, zuwenden. Es kann uns dabei in diesem Abschnitt natürlich nicht darum zu tun sein, die Gesamtheit der unzähligen Manuskripte zu diesem Projekt auch nur überblickhaft darzustellen 1, aber auch schon eine genauere Analyse des von Marx selber herausgegebenen Teilstücks Das Kapital geht über das in diesem Rahmen Diskutierbare hinaus. 2 Vielmehr soll in diesem Abschnitt lediglich die systematische Einordnung des Projekts der Kritik der politischen Ökonomie sowie insbesondere des Kapital in den aufgewiesenen dialektischen Zusammenhang herausgearbeitet werden. So geht es vor allem darum aufzuweisen, wie das Gesamtprojekt der Kritik der politischen Ökonomie unter Einschluss des Kapital aus der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis begriffen werden kann, während es umgekehrt nicht ohne substantielle Verkürzungen und grobe Missdeutungen möglich ist, die Marxsche Theorie allein aus dem Kapital zu rekonstruieren, wie dies auch heute noch allzu häufig geschieht. 3
Vgl. Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, 2 Bde. (1962). Vgl. Isaak Iljitsch Rubin, Studien zur Marxschen Werttheorie (1928); M. M. Rosental, Die dialektische Methode der politischen Ökonomie (1955); Maurice Godelier, Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie (1966); Walter Euchner/Alfred Schmidt (Hg.), Kritik der Politischen Ökonomie heute. 100 Jahre »Kapital« (1968); Jindřich Zelený, Die Wissenschaftslogik bei Marx und das »Kapital« (1968); Helmut Reichelt: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx (1970); Wolfgang Fritz Haug, Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital« (1974) sowie Das »Kapital« lesen – Aber wie? Materialien zur Philosophie und Epistemologie der Marxschen Kapitalismuskritik (2013); Dieter Wolf, Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie, Hamburg 2002. 3 Louis Althusser/Etienne Balibar, Das Kapital lesen, 2 Bde. (1968); Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie 1 2
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Wir wollen hiermit keineswegs die leidige Konfrontation von Marx’ Frühschriften und Spätwerk wieder aufrollen, sondern wir wollen im Gegenteil unterstreichen, dass die wissenschaftliche Arbeit von Marx – nach den vorbereitenden Auseinandersetzungen mit Hegels Rechtsphilosophie und der Herausbildung des eigenen theoretischen Ansatzes als Kritik – seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) von einer einzigen Problemstellung und ihrer dialektischen Bearbeitung bestimmt ist, die die durchgängige Einheit der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx ausmacht. Dass sich im Laufe der jahrzehntelangen Forschungen sowohl der Problemhorizont der Kritik als auch die dialektische Methode modifizierten und differenzierten, ist geradezu selbstverständlich und kann nicht Grundlage einer Abgrenzung verschiedener Theorieperioden sein, die dann gegeneinander ausgespielt werden – eine solche »unphilosophische Wendung« zeugt, wie Marx es den Hegel-Schülern vorhält: von der »Ignoranz« der Interpreten. Gerade wenn man von der Marxschen Philosophie als einer Einheit ausgeht, wird offenkundig, dass die späteren Manuskripte zur Kritik der politischen Ökonomie und noch mehr das Kapital in hochspezialisierter Form nur noch einen Teilbereich des Gesamtprojekts der Kritik bearbeiten. Je intensiver sich Marx in die Kritik der politischen Ökonomie einarbeitet, um so umfangreicher werden einerseits seine Detailuntersuchungen, aber gleichzeitig verengt und konzentriert sich seine Forschung immer mehr auf die kritische Analyse des Kapitals, das allerdings das Basisproblem der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt fundiert. Ursprünglich plante Marx, wie er in der Vorrede zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schreibt, nach der Kritik der ökonomischen Basis der bürgerlichen Gesellschaft »in verschiednen selbständigen Broschüren die Kritik des Rechts, der Moral, Politik etc. aufeinanderfolgen [zu] lassen und schließlich in einer besondren Arbeit wieder den Zusammenhang des Ganzen, das Verhältnis der einzelnen Teile, wie endlich die Kritik der spekulativen Bearbeitung jenes Materials zu geben« (Marx 40: 467). Als sich Marx 1857 nach längerer erzwungener Pause – in der er durch journalistische Tätigkeit den Lebensunterhalt für seine Familie erschreiben musste 4 zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition (1991); Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik (2010). 4 Abgesehen von den vielen journalistischen Beiträgen zur weltpolitischen Situation
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– wieder seinen wissenschaftlichen Forschungen zuwendet und an den später sogenannten Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie arbeitet, hat sich allein das Projekt der Kritik des »Systems der bürgerlichen Ökonomie« unter Einschluss einer Kritik des Staates »auf sechs bis acht Bücher« ausgedehnt, ohne dass er deshalb die darüber hinausgehenden Pläne der Kritik weiterer Teilbereiche der bürgerlichen Gesellschaft ganz aufgegeben hatte. An Ferdinand Lasalle schreibt Marx am 22. Februar 1858: »Die Arbeit, um die es sich zunächst [!] handelt, ist [die] Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben. […] Das Ganze ist eingeteilt in 6 Bücher. 1. Vom Kapital (enthält einige Vorchapters). 2. Vom Grundeigentum. 3. Von der Lohnarbeit. 4. Vom Staat. 5. Internationaler Handel. 6. Weltmarkt.« Darüber hinaus »sollte die Kritik und Geschichte der politischen Ökonomie und des Sozialismus Gegenstand einer andren Arbeit bilden. Endlich die kurze historische Skizze der Entwicklung der ökonomischen Kategorien und Verhältnisse eine dritte.« (Marx 29: 550 f.) Was Marx schließlich aus den ungeheuer umfangreichen und detaillierten Vorarbeiten in mehreren Anläufen für den Druck vorbereitet, ist im Grunde nur das obengenannte erste Buch »Vom Kapital« sowie die letzten beiden Teilstücke, soweit sie die Geschichte der Theorie betreffen. 5 So berichtet Marx in einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 13. Oktober 1866: »Das ganze Werk« – und hier ist nur vom Kapital die Rede – »zerfällt nämlich in folgende Teile: Buch I. Produktionsprozeß des Kapitals. Buch II. Zirkulationsprozeß des Kapitals. Buch III. Gestaltung des Gesamtprozesses. Buch IV. Zur Geschichte der Theorie.« (Marx 31: 534) Tatsächlich erschien dann als einziger von Marx selber herausgegebener Band 1867 Das Kapital. Erster Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Der zweite Band wurde 1885 von Engels in der von Marx vorbereiteten Form erscheint in dieser Zeit auch eine der wichtigsten politisch-historischen Schriften von Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). 5 W. S. Wygodski, Geschichte einer großen Entdeckung. Über die Entstehung des Werkes »Das Kapital« von Karl Marx (1967); Ernest Mandel, Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1843–1863) (1968); Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen »Kapital«. Der Rohentwurf des »Kapitals« 1857–1858, 3 Bde. (1968 ff.); Manfred Müller, Auf dem Wege zum »Kapital« von Marx in den Jahren 1857–1863 (1979).
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herausgegeben. Der 1894 von Engels veröffentlichte dritte Band ist eine Zusammenstellung und Verarbeitung mehrerer Manuskripte von Marx, wovon einige sicherlich nicht zum Kapital, sondern in den größeren Zusammenhang der Kritik der politischen Ökonomie gehören. 6 Der vierte Band Theorien über den Mehrwert ist eine Zusammenstellung von Rohmanuskripten zu den Theoretikern der politischen Ökonomie – in Teilstücken gab Karl Kautsky sie erstmals 1905–1910 heraus. Aus den umfangreichen Rohmanuskripten zum Gesamtprojekt erschienen verstreut weitere Teilabschnitte wie die Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, anderes ist bis heute noch nicht publiziert, 7 doch lässt sich bereits jetzt sagen, dass sich auch diese Manuskripte vorwiegend auf das Teilstück »Vom Kapital« beziehen. Wir wollen uns hier nicht in eine philologisch-historische Spezialerörterung einlassen, nur so viel gilt es zu unterstreichen, dass im Laufe der Forschungen das Projekt der Kritik der politischen Ökonomie einerseits sich immer mehr einengt auf die Bearbeitung des Kapital, andererseits gleichzeitig sich dieses Teilgebiet der Kapital-Analyse immer weiter ausdehnt. Nun ist es jedoch keineswegs so, wie manche unterstellen, die allein das Kapital als authentische Marxsche Theorie anerkannt wissen wollen, dass Marx in der Konzentration seiner Forschungsarbeit auf die kritische Analyse des Kapitals, sein ursprüngliches Gesamtprojekt einer Kritik der politischen Ökonomie, die selbst nur Zentrum einer Kritik aller Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft bilden sollte, sowie die noch weiterreichenden Perspektiven seiner dialektischen Geschichts- und Revolutionstheorie gänzlich aus den Augen verloren hat. In einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 28. Dezember 1862, in dem Marx sichtlich seine Resignation erkennen lässt, das vorgenommene Gesamtprojekt selber noch ausführen zu können, spricht er jedoch die Hoffnung aus, dass andere »auf Grundlage des Gelieferten leicht« die meisten der weiteren Teilstücke werden ausführen können, »mit Ausnahme etwa des Verhältnisses der verschiedenen Staatsformen zu den verschiednen ökonomischen Strukturen der Gesellschaft« (Marx 30: 639). In anderen Briefen kündigt er an, dass er
Hierzu gehören der sechste Abschnitt »Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente« und der siebente Abschnitt »Die Revenuen und ihre Quellen« jedenfalls in der vorliegenden Form. 7 Siehe Jürgen Jungnickel: »Bemerkungen über Wissenschaft und Naturkräfte in einem bisher in Deutsch nicht veröffentlichten Manuskript von Karl Marx« (1975). 6
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unbedingt noch etwas zur dialektischen Methode ausarbeiten müsse (Marx 29: 260; 32: 544). Doch mehr als diese in Briefen geäußerten Vorsätze zeigen die kritischen Randglossen zum Gothaer Programm von 1875 und zu Adolph Wagners Lehrbuch der politischen Ökonomie von 1880, dass Marx nichts von der umfassenden Perspektive seiner Kritik, wie wir sie aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, der Deutschen Ideologie und dem Manifest der Kommunistischen Partei kennen, jemals aufgegeben hat. 8 Damit stellt sich aber immer dringlicher die Frage, wie diese Diskrepanz zwischen der Konzentration der wissenschaftlichen Arbeit allein auf die Analyse des Kapitals und der beibehaltenen Perspektive einer umfassenden Kritik der bestehenden Gesellschaft im Dienste einer revolutionären Praxis zu erklären ist. 9 Die sich immer weiter zuspitzende Konzentration auf die kritische Analyse des Kapitals ist einerseits nur zu verstehen aus der dialektisch begründeten Überzeugung, dass der Kern der Widersprüche der gegenwärtigen Gesellschaftsformation in der ökonomischen Basis ihrer Produktionsweise zu suchen und zu finden ist, und andererseits aus der wissenschaftlichen Besessenheit, die wirklichen Mechanismen und Strukturgesetze des Kapitals in seiner Widersprüchlichkeit bis in alle Verästelungen hinein exakt nachweisen zu wollen. Während es Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten darum ging, die wirklichen Bedingungen der Möglichkeit der Entfremdung aufzudecken, um dadurch die wirklichen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung erkennen zu können, versucht er in der Kritik der politischen Ökonomie – in kritischer Absicht – nunmehr die Logik des Kapitals, d. h. die Logik der Entfremdung, der Verkehrung, des Widerspruchs in ihrem strukturgesetzlichen Funktionieren darzustellen. Nun ist völlig klar, dass die Basis der bestehenden Gesellschaftsformation nur dann in ihrer Logik der EntSiehe hierzu auch die klarstellenden Briefe des alten Engels an einige junge Intellektuelle der sozialistischen Partei, in denen nochmals die Weite des Programms betont wird – so an Joseph Bloch vom 21. September 1890, an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890, an Franz Mehring vom 14. Juli 1893. 9 Wir folgen hierin nicht der Periodisierung des Marxschen Denkens von Karl Korsch, der zwischen einer revolutionären Phase, deren Höhepunkt 1848 liegt, und einer wissenschaftlich-analytischen Phase trennt. Es handelt sich hier nicht um zwei verschiedene Phasen, sondern um zwei verschiedene Aspekte eines einzigen großen Anliegens, das zwar mit unterschiedlicher Akzentsetzung, jedoch durchgängig durchgehalten wird. 8
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fremdung entfaltet werden kann, wenn vorweg die Ermöglichungsgründe einer Entfremdung gesellschaftlicher Praxis sowie der Möglichkeit ihrer Aufhebung geklärt sind, d. h. die geschichtliche Dialektik der gesellschaftlichen Praxis philosophisch entwickelt und begriffen ist. Diese dialektische Grundlage, die von den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten bis zu den Grundrissen immer wieder thematisiert wird, setzt Marx bei seiner kritischen Analyse des Kapitals als erarbeitet voraus; insofern expliziert er diese dialektische Grundvoraussetzung nicht nochmals, wohl aber argumentiert er implizit und explizit im Kapital von der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis her – denn nicht anders ist das Kapital als »Kritik der politischen Ökonomie«, wie es im Untertitel heißt, zu begründen. Wenn man diese Grundvoraussetzung nicht mitbedenkt und das Kapital lediglich für sich als die Marxsche Theorie liest, kann es passieren – wie es vielen Freunden und Feinden der Marxschen Lehre passiert ist –, dass man die Pointe übersieht, hier die immanent in der Logik des Kapitals argumentierende kritische Aufdeckung ihrer prinzipiellen Widersprüchlichkeit vor sich zu haben. Dann wird Marx zu einem der großen klassischen Ökonomen, der sich kritisch zwar – daher Kritik – von seinen Vorgängern abhebt, aber doch positiv wissenschaftlich die Dynamik der ökonomischen Bewegungsgesetze analysiert, die über die bestehende Gesellschaftsformation hinaus in eine andere, die sozialistische Gesellschaft treiben werden. Ob man sich zu dieser Auffassung als Weltanschauung bekennt oder ob man sie als falschen Geschichtsobjektivismus bekämpft, auf alle Fälle hat man die Argumentationsstruktur der Marxschen Theorie als praxisphilosophische Kritik – die beansprucht Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie zu sein – missverstanden und nimmt die in kritischer Absicht aufgedeckten Strukturgesetze der Entfremdung als ewige »Naturgesetze« oder als Gesetzesannahmen von Marx. Die Geschichte der Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie ist bis in die Gegenwart hinein geprägt von solchen Missverständnissen; dies trifft gleicherweise für die sozialistische Bewegung wie für die bürgerliche Philosophie zu. 10 Im Folgenden wollen wir kurz andeuten, inwiefern auch das 10 Beispielsweise Wolfgang Röd, Dialektische Philosophie der Neuzeit (1974); dagegen Hans Dieter Bahr, »Theorie und Empirie« oder Vorboten der verödeten Dialektik (1970). Siehe auch Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus (1977).
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Kapital in der Dialektik der gesellschaftlichen Produktion gründet. Dies soll zunächst in einer ersten Übersicht an der doppelt gerichteten analytischen Fragestellung der Kritik der politischen Ökonomie aufgezeigt werden, um von daher dann auf einige zentrale Problemstellungen der Einordnung des Kapital in diesem Zusammenhang eingehen zu können. Wenden wir uns also als erstes den beiden Blick- und Argumentationsebenen zu, durch deren Verschränkung die Analyse als Kritik der politischen Ökonomie fungieren kann. 1) Zum einen – dies ist die Ebene, in der auch die Kritik als Kritik fundiert ist – gilt es aufzudecken, dass auch die kapitalistische Gesellschaftsformation (wie jede vorhergehende) einzig und allein durch die gesellschaftliche Arbeit erhalten und erneuert wird. »Die Arbeit ist das lebendige, gestaltende Feuer« (Marx 42: 278), ist die »allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam«. (Marx 23: 198) Die gesellschaftliche Arbeit ist auch in der kapitalistischen Produktionsweise die materielle Basis des Lebens, während das Kapital nichts anderes ist als angehäufte, vergegenständlichte Arbeit, mag diese sich nun in Geld oder in Maschinen manifestieren. Vergegenständlichte Arbeit ist zwar konsumierbarer Reichtum, aber für sich genommen und im Hinblick auf die nach aller Konsumtion immer wieder neu gestellte Aufgabe der Produktion der gesellschaftlichen Lebensmittel ist sie nichts als »tote Arbeit«. Um den in der vergegenständlichten Arbeit angesammelten gesellschaftlichen Reichtum zu erhalten, bedarf es daher ständig erneuter und erneuernder lebendiger Arbeit. »Eine Maschine, die nicht im Arbeitsprozeß dient, ist nutzlos. […] Die lebendige Arbeit muß diese Dinge ergreifen, sie von den Toten erwecken.« (Marx 23: 198) Und noch prinzipieller gesagt: »Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.« (Marx 23: 247) 11 Marx (42: 382 f.): »In fact, in dem Produktionsprozeß des Kapitals, wie sich noch mehr bei weitrer Entwicklung desselben zeigen wird, ist die Arbeit eine Totalität – eine Kombination von Arbeiten –, wovon die einzelnen Bestandteile sich fremd sind, so daß die Gesamtarbeit als Totalität nicht das Werk des einzelnen Arbeiters, und auch das Werk der verschiedenen Arbeiter zusammen nur ist, soweit sie kombiniert sind, nicht sich als Kombinierende zueinander verhalten. In ihrer Kombination erscheint diese Arbeit ebensosehr einem fremden Willen und einer fremden Intelligenz die-
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2) Damit wird bereits die zweite Ebene der Analyse sichtbar, die die »Logik des Kapitals« selber betrifft, jenes »eingebildeten Wesens«, das sich als »automatisches Subjekt« (Marx 23: 169) der gesellschaftlichen Entwicklung gebärdet und das als gesellschaftliche Macht formbestimmend und gesetzgebend auf die gesellschaftliche Arbeit zurückwirkt, diese zur Lohnarbeit entfremdend. Das Kapital verhält sich – »als das übergreifende Subjekt eines […] Prozesses« (Marx 23: 169) gesellschaftlicher Entwicklung und es fungiert – darin liegt die Realität seiner Logik – in der Formbestimmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit tatsächlich als dieses Subjekt. Damit aber steht es in einem unaufhörlichen Widerspruch zu den wirklichen Subjekten der gesellschaftlichen Praxis, den »in Gesellschaft produzierenden Individuen«, die es als wirkliche Subjekte negiert und auf die »rein subjektive Existenz der Arbeit« (Marx 42: 217) reduziert, um weiterhin seine Herrschaft über die Menschen aufrechtzuerhalten. »Innerhalb des Produktionsprozesses entwickelte sich das Kapital zum Kommando über die Arbeit, d. h. über die sich betätigende Arbeitskraft oder den Arbeiter selbst. […] Das Kapital entwickelte sich ferner zu einem Zwangsverhältnis, welches die Arbeiterklasse nötigt, mehr Arbeit zu verrichten, als der enge Umkreis ihrer eignen Lebensbedürfnisse vorschrieb. Und als Produzent fremder Arbeitsamkeit, als Auspumpen von Mehrarbeit und Exploiteur von Arbeitskraft übergipfelt es an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit alle frühern auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme. […] Die Produktionsmittel verwandelten sich sofort in Mittel zur Einsaugung fremder Arbeit. Es ist nicht mehr der Arbeiter, der die Produktionsmittel anwendet, sondern es sind die Produktionsmittel, die den Arbeiter anwenden. Statt von ihm als stoffliche Elemente seiner produktiven Tätigkeit verzehrt zu werden, verzehren sie ihn als Ferment ihres eignen Lebensprozesses, und der Lebensprozeß
nend, und von ihr geleitet – ihre seelenhafte Einheit außer sich habend, wie in ihrer materiellen Einheit untergeordnet unter die Gegenständliche Einheit der Maschinerie, des capital fixe, das als beseeltes Ungeheuer den wissenschaftlichen Gedanken objektiviert und faktisch das Zusammenfassende ist, keineswegs als Instrument zum einzelnen Arbeiter sich verhält, vielmehr er als beseelte einzelne Punktualität, lebendiges isoliertes Zubehör an ihm existiert. Die kombinierte Arbeit ist so nach doppelter Seite hin an sich Kombination; nicht Kombination als Beziehung der zusammenarbeitenden Individuen aufeinander, noch als ihr Übergreifen, sei es über ihre besondre oder vereinzelte Funktion, sei es über das Instrument der Arbeit.«
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des Kapitals besteht nur in seiner Bewegung als sich selbst verwertender Wert.« (Marx 23: 328 f.) Aber das Kapital ist nicht nur die Negation der gesellschaftlichen Arbeit, der wirklich produzierenden Individuen, deren lebendige Kraft sie aussaugt und ausbeutet, sondern »diese der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit« (Marx 23: 329) impliziert einen Selbstwiderspruch, der zu einer Selbstzerstörung werden muss. »Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch« (Marx 42: 601); um sich selber als das »übergreifende Subjekt« (Marx 42: 383) als die wahre »prozessierende, sich selbst bewegende Substanz« (Marx 23: 169) zu erweisen, negiert es das Übergreifende der gesellschaftlichen Arbeit, aber untergräbt dadurch auch seine wirkliche substantielle Grundlage, ohne die es nicht sein kann – ein Selbstwiderspruch, der so oder so auf sein eigenes Ende zusteuert. (Marx 42: 600 ff.) 12 In der Analyse des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Produktionsweise, der durch die doppelte analytische Perspektive allererst kritisch aufgedeckt werden kann, wird zugleich die Möglichkeit seiner materiellen Überwindung sichtbar. Da sich die gesellschaftliche Arbeit als das der Substanz nach Übergreifende erweist, muss es den Subjekten der gesellschaftlichen Arbeit auch prinzipiell möglich sein, in bewusster gemeinsamer Aktion das sie beherrschende »Machwerk [der] eigenen Hand« des Menschen (Marx 23: 649), die »Despotie des Kapitals« (Marx 23: 669) aufzubrechen und sich die aufgehäufte vergegenständlichte Arbeit gemeinsam anzueignen. »Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.« (Marx 42: 602 f.) Die materiellen Bedingungen der Möglichkeit, die kapitalistische Produktionsweise umzuwälzen, liegen allein in der »revolutionären« gesellschaftlichen Praxis der Produzenten, in der gemeinsamen, bewussten Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen und in dem Marx (23: 512); »Die Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform ist jedoch der einzige geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung.«
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gemeinsamen, gezielten Einsatz ihrer Produktivkräfte. Die Notwendigkeit einer solchen revolutionären Wiederaneignung der gesellschaftlichen Arbeit durch die produzierenden Individuen rührt daher, dass der Kapitalismus sich prinzipiell nicht selbst aufheben kann; er bleibt zwangsläufig – trotz aller Wandlungen, die er vollzieht – die Negation der gesellschaftlichen Arbeit. Es bedarf also einer bewussten und tätigen Negation der kapitalistischen Produktionsweise, die selber wiederum in der gesellschaftlichen Arbeit verankert sein muss. »Es ist die Negation der Negation« (Marx 23: 791), die gleichzeitig die bewusste und tätige Aneignung der gesellschaftlichen Arbeit durch und für die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« ist. Voraus- und Zielsetzung einer solchen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft ist daher die bewusste, praktische und gesellschaftliche Aneignung der gesellschaftlichen Arbeit, die als das der Substanz nach Übergreifende immer schon materiell aller Gesellschaft zugrunde liegt, die es aber als das wirklich bewusste übergreifende »Subjekt« erst durch die vereinigten, bewusstgewordenen Subjekte der gesellschaftlichen Arbeit gegen die Macht ihrer eigenen »Machwerke« herzustellen gilt. »Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter [wirklich freier Arbeit] nur erhalten dadurch, daß 1) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint.« (Marx 42, 512) Nach dieser kurzen Charakterisierung der dialektischen Grundstruktur der Kritik der politischen Ökonomie können wir uns nun der Darstellung des Kapital zuwenden. Immer wieder werden in der Marx-Rezeption die offensichtlichen Parallelen der Darstellung des Kapital mit Hegels Logik und hier vor allem der Wesenslogik hervorgehoben, doch werden daraus – da man die Darstellung des Kapital für sich selbst betrachtet und nicht aus der Kritik-Perspektive von Marx – oftmals völlig auf den Kopf gestellte Schlussfolgerungen über die Nähe von Marx zu Hegel gezogen. Denn wenn man nicht berücksichtigt, dass Marx im Kapital die Logik der Entfremdung der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise vorzulegen versucht, und weiterhin vergisst, dass für Marx die Logik Hegels geradezu die Logik eines entfremdeten Denkens darstellt, dann wird die bewusst kritische Parallele zwischen den enthüllten Bewegungsgesetzen des Kapi108 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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tals in seiner grundsätzlichen Widersprüchlichkeit und den Bewegungsgesetzen der Idee des reinen Denkens in Hegels Logik zu einer positiven Bestimmung verkehrt sowohl der Hegelschen Dialektik als auch der ›Dialektik‹ des Kapitals. 13 Nun ist ganz klar, dass die Parallelen sich insbesondere auf die Wesenslogik konzentrieren, zum einen, weil für Marx die Versöhnung der Hegelschen Begriffslogik eine Scheinlösung darstellt, die gerade den Widerspruch der ganzen Logik zu ihrer eigentlichen materiellen Basis im wirklichen Denken der Menschen verschleiert, und zum andern – worum es Marx insbesondere geht – um zu zeigen, dass das Kapital sich nicht selbst ›erlösen‹ kann, sondern in seiner Logik in einen immer grundsätzlicheren Widerspruch gerät, der nur durch die revolutionäre Praxis der gesellschaftlich bewussten, frei assoziierten Individuen aufgehoben werden kann. In unserem Versuch, das Kapital skizzenhaft zu erläutern, können wir nicht der ganzen Entwicklung des »Kapitals im allgemeinen« durch die drei Bände hindurch vom Produktionsprozess über den Zirkulationsprozess zum Gesamtprozess des Kapitals folgen, sondern werden uns darauf beschränken, einige Notizen zur Darstellung des Anfangs, des Fortgangs und des Endes vorzulegen. Der Darstellung des Produktionsprozesses des Kapitals geht die Bestimmung der Ware Der Begriff »Logik des Kapitals« hat einen Doppelsinn, der viel Verwirrung stiftet. Es kann einmal die wissenschaftliche Analyse und Kritik des Kapitals in Marx’ Werk Das Kapital meinen – vgl. W. I. Lenin: Philosophische Hefte (1918/1971: 316). In diesem Sinne wird heute oft von der Logik der Darstellungsmethode im Kapital gesprochen – vgl. Hans Friedrich Fulda: Thesen zur Dialektik als Darstellungsmethode (im Kapital von Marx) (1975). Zum anderen kann man unter Logik des Kapitals – wie wir es hier tun – die reale Wertgesetzlichkeit des Kapitals verstehen, die Marx in der Logik ihres Fortschreitens nachzeichnet, zugleich aber in ihrer »Verkehrung« menschlicher Verhältnisse kritisch aufdeckt. Die Analogie der aus sich selbst begreifenden Logik Hegels mit dem von Marx dargelegten Selbstverständnis des Kapitals, das sich als »übergreifende Subjektivität« und »absolute Substanz« gebärdet, hat oft dazu geführt, im Kapital von Marx die materialistische »Anwendung« der Logik Hegels zu sehen – vgl. Heinz Kimmerle, »Paradigma der Logik des revolutionären Denkens« (1978). Das führt dann dazu, dass nicht mehr gesehen wird, dass es nur die gesellschaftliche Praxis ist, die den Kapitalismus auch im Kapitalismus »transzendiert« (Alfred Sohn-Rethel). Die Doppeldeutigkeit des Begriffs »Logik des Kapitals« hat viel dazu beigetragen, dass vor allem im Umkreis der Kritischen Theorie die Unterschiede der Dialektik von Hegel und Marx eingeebnet wurden. Vgl. Detlef Horster: Die Subjekt-Objekt-Beziehung im Deutschen Idealismus und in der Marxschen Philosophie (1979); Dieter Wolf: Hegel und Marx. Zur Bewegungsstruktur des absoluten Geistes und des Kapitals (1979). 13
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und des Geldes voraus, nicht weil etwa der kapitalistischen Gesellschaft historisch eine warenproduzierende vorhergeht, sondern weil die Ware, das Geld und die Arbeitskraft als Ware die immanenten logischen Voraussetzungen des Kapitals sind. 14 So beginnt der erste Band des Kapital mit dem berühmten Satz: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht [!], erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.« (Marx 23: 49) Nochmals gilt es, gerade an diesem ersten Satz ausdrücklich hervorzuheben, dass wir in der gesamten Darstellung des »Kapitals im allgemeinen« keine Explikation der Dialektik der gesellschaftlichen Produktion vor uns haben, sondern vom allerersten bis hin zum letzten Satz bewegt sich die Darstellung einzig und allein entlang der Logik des Kapitals mit all ihren logischen Vorbegriffen, Bewegungsgesetzen und Ausweglosigkeiten. Es geht im Kapital allein um die Entfaltung der immanenten Struktur- und Entwicklungsgesetze des Kapitals in den ihnen selbst eigentümlichen Widersprüchen – dies ist auch im Hinblick darauf wichtig, im Kapital weder eine revolutionäre Perspektive zu erwarten noch zu vermissen, denn eine solche kann von der immanenten Explikation des Kapitals in seiner widersprüchlichen Logik auch niemals entwickelt werden. Wir hatten bereits betont, dass die Widersprüche, die dem Kapital immanent sind, die die Entfremdung der kapitalistischen Gesellschaft ausmachen, zwar an ihm selbst aufgewiesen werden müssen, aber ursprünglich weder von ihm selber hervorgebracht sind noch von ihm überwunden werden können; hieran zeigt sich, dass das ganze Unternehmen der Kapitalanalyse letztlich nur aus dem weiteren Horizont der Dialektik der gesellschaftlichen Produktion erschlossen und überwunden werden kann. Dies muss auch in der Darstellung des Kapital zum Ausdruck kommen, und kommt auch überall zum Vorschein, wo an der Logik des Kapitals negativ dasjenige sichtbar wird, wovon das Kapital entfremdet ist, nämlich die lebendige Arbeit der in Gesellschaft produzierenden Individuen. So
In diesem Punkt hat bereits Friedrich Engels Marx missverstanden, wie eindeutig aus dem Vorwort zum dritten Band des Kapital von Engels hervorgeht. Vgl. die Richtigstellungen von Louis Althusser/Etienne Balibar: Das Kapital lesen – darin vor allem »Der Marxismus ist kein Historizismus«.
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muss bereits an der Ware als der »Elementarform« des Kapitals eine grundlegende Verkehrung aufweisbar sein. Die Ware ist einerseits Arbeitsprodukt und Gebrauchsgegenstand, hervorgebracht zur Befriedigung von Bedürfnissen – so wie Jagdwaffen und Jagdbeute oder Grabstock und Feldfrucht in archaischen Gesellschaften Gebrauchsgüter sind 15 –, andererseits aber – und das macht sie erst zur Ware – ist sie ein für den Markt produzierter Gegenstand, d. h. sie kann nur über den Tausch, den Verkauf und Kauf, vom Produzenten zum Verbraucher gelangen. Dies ist nicht etwas, was ihr materialiter als bestimmter Gegenstand anhaftet, und doch kann in unserer Gesellschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – sich ein Arbeitsprodukt nur über den Markt als Gebrauchsgegenstand realisieren. Durch diesen zweiten Charakter der Ware, ihre gesellschaftliche Formbestimmtheit, ist sie zu einem »sinnlichübersinnlichen Ding« geworden. Der Wert, nach welchem die Waren als gleichwertige getauscht und berechnet werden, ist ebenfalls nicht eine natürliche Eigenschaft der Produkte, sondern eine gesellschaftliche Bestimmtheit, die ihnen als Waren zukommt. Die reale Verrechnungsbasis, auf die die Waren im Laufe der Entwicklung einer auf Warenproduktion beruhenden Gesellschaft wie der unseren reduziert werden, ist die in ihnen im gesellschaftlichen Durchschnitt vergegenständlichte Arbeit, die für ihre Produktion verausgabte Arbeitszeit. 16 »Diese Dinge stellen nur noch dar, daß in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind die Werte Warenwerte.« (Marx 23: 52) Ebenfalls im Laufe der Geschichte der warenproduzierenden und warentauschenden Prozesse setzt sich durch, dass eine Ware gegen alle anderen austauschbar wird, Geldform annimmt und von nun an die gesellschaftlich gültige Verrechnungsgrundlage darstellt. »Es kommt damit zum Vorschein, daß die Wertgegenständlichkeit der Waren, weil sie das bloß ›gesellschaftliche Dasein‹ dieser Dinge ist, Marx (23: 57): »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, als das menschliche Leben zu vermitteln.« Vgl. Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts (1976). 16 Auf die Modifikationen der Arbeitswertlehre der klassischen Ökonomie durch Marx kann hier nicht näher eingegangen werden; siehe hierzu Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftslehre (1962). 15
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auch nur durch ihre allseitige gesellschaftliche Beziehung ausgedrückt werden kann, ihre Wertform daher gesellschaftlich gültige Form sein muß.« (Marx 23: 80 f.) Gesamtgesellschaftlich repräsentiert das im Umlauf befindliche Geld die Gesamtheit der vergegenständlichten Arbeit einer Gesellschaft, doch sieht man dem Geld diesen gesellschaftlichen Charakter nicht an, sondern nimmt es – wie die Ware auch – für das Ding, das es zu sein scheint. Gerade dies macht den »Fetischismus« und den »Mystizismus der Warenwelt« aus. »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« (Marx 23: 86) »Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.« (Marx 23: 89) »Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind.« (Marx 23: 94) Doch Ware und Geld allein erklären noch nicht die Geheimnisse des Kapitals. Zwar liegt eine der logischen Voraussetzungen des Kapitals bereits in der Zirkulation des Geldes, der Rückkehr des Geldes zu sich, in der die Möglichkeit angelegt ist, zu einer »prozessierenden, sich selbst bewegenden Substanz [zu werden], für welche Ware und Geld beide bloße Formen« sind (Marx 23: 169), deren Mehrwert erzeugende Verwertung – gleich durch welche Art erzeugt – sie als »geldheckendes Geld« (Marx 23: 170) erscheinen lassen; aber damit ist noch nicht die »Bildung von Mehrwert«, jene Kardinaleigenschaft, die das Kapital erst zum Kapital macht, erklärt. Als die die gesellschaftliche Produktion beherrschende Macht tritt das Kapital erst dort auf, wo die Arbeitskraft im gesellschaftlichen Maßstab selbst zur Ware wird – zur Ware werden muss, da diese Menschen keine anderen Mittel mehr haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und deshalb zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwun112 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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gen sind. 17 Die Arbeitskraft, selbst verkauft für den Produktions- und Reproduktionswert, den sie im gesellschaftlichen Durchschnitt hat, gibt dem Käufer der Arbeitskraft das Recht, aus ihrer Arbeitsleistung Nutzen zu ziehen, d. h. sie so lange intensiv und kombiniert arbeiten zu lassen, dass die »Arbeitskraft« durch ihre Arbeit mehr Wert erzeugt, als für sie als Ware verausgabt werden musste. »Der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft ist zugleich der Produktionsprozeß von Ware und von Mehrwert.« Hier in der »verborgenen Stätte der Produktion« steckt »das Geheimnis der Plusmacherei« des Kapitals. (Marx 23: 189) Fetischismus und Mystizismus des Kapitals beruhen darauf, dass dem Kapital als Prozess der Verwertung des Werts nicht mehr anzusehen ist, dass es von der lebendigen Arbeit der unmittelbaren Produzenten lebt, und der Anschein entsteht, als sei es das Kapital selber, das sich fortbewegt, verwertet, Mehrwert abwirft. Dieser Anschein wird einerseits dadurch genährt, dass der Gegenwert, den der Arbeiter für den Verkauf der Arbeitskraft erhält, als Lohn für seine geleistete, für die von ihm verausgabte Arbeit erscheint und so nicht sichtbar wird, dass der unmittelbare Produzent in seiner Arbeit nicht nur den Wert für seine Arbeitskraft erarbeitet, sondern darüber hinaus auch noch Neuwert schafft. »Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. […] Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise.« (Marx 23: 562) Andererseits entsteht dieser Anschein auch dadurch, dass alles, was ein kapitalistisches Unternehmen durch den Einsatz der lebendigen Arbeit aus den von ihm beigebrachten Mitteln (Rohstoffen, Maschinen, Arbeitskräften in Warenwerte umsetzt und mehr noch durch das, was ihm dabei nebenher noch unentgeltlich zufällt, wie die Kombination kooperierender Arbeitskräfte, die wissenschaftlichEine weitere historische Voraussetzung für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise ist die »ursprüngliche Akkumulation«, d. h. es muss bereits so viel Geld angehäuft sein, das nicht mehr in konsumierbare Waren umgesetzt zu werden braucht, dass davon die Rohstoffe, Produktionsmittel und Arbeitskräfte so lange gekauft werden können, bis der Produktionsprozess den ursprünglich vorgeschossenen Wert reproduziert hat – danach steht das Kapital erst ›auf eigenen Füßen‹.
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technische Nutzung von Naturkräften etc., als Erzeugnisse des Kapitals erscheinen. »Es ist die Naturgabe der lebendigen Arbeit, alten Wert zu erhalten, während sie Neuwert schafft. Mit dem Wachstum von Wirksamkeit, Umfang und Wert ihrer Produktionsmittel, also mit der die Entwicklung ihrer Produktionskraft begleitenden Akkumulation erhält und verewigt die Arbeit daher in stets neuer Form einen stets schwellenden Kapitalwert. Diese Naturkraft der Arbeit erscheint als Selbsterhaltungskraft des Kapitals, dem sie einverleibt ist, ganz wie ihre gesellschaftlichen Produktivkräfte als seine Eigenschaften, und wie die beständige Aneignung der Mehrarbeit durch den Kapitalisten als beständige Selbstverwertung des Kapitals. Alle Kräfte der Arbeit projektieren sich als Kräfte des Kapitals, wie alle Wertformen der Ware als Formen des Geldes.« (Marx 23: 633 f.) Es kann hier auch nicht annähernd gelingen, in dieser Skizze alle reallogischen Komponenten, die in den Produktionsprozess des Kapitals eingehen, zu rekonstruieren; es galt nur, beispielhaft den »Fetischismus des Kapitals« sichtbar zu machen, der darin besteht, dass alle Spuren der wertbildenden Potenz der lebendigen Arbeit verwischt werden und stattdessen das Kapital als Substanz und Subjekt des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht nur erscheint, sondern auch als solches durch die unter seinen Gesetzen agierenden Subjekte fungiert. Eine genauere Nachzeichnung der Strukturmomente des Kapitals und ihrer Darstellung von Marx müsste nun auf die einzelnen Gesetzlichkeiten der absoluten und relativen Mehrwertproduktion eingehen. Doch wollen wir hier nur noch als Ergebnis zusammenfassen, dass der Produktionsprozess des Kapitals zugleich als sein eigner Reproduktionsprozess auf stets wachsender Stufenleiter erscheint und funktioniert, indem er einerseits die Produktionsverhältnisse, die ihn ermöglichen, scheinbar aus sich selbst heraus erneuert, andererseits in einen scheinbar sich selber hervorbringenden unendlichen Akkumulationsprozess der Erzeugung von »Kapital durch Kapital« (Marx 23: 608) eintritt. »Da der Produktionsprozeß zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Bereich als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die 114 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungsund Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.« (Marx 23: 596) »Der kapitalistische Produktionsprozeß […] als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst.« (Marx 23: 604) Wir sind nun gegen Ende des ersten Bandes des Kapital ins Zentrum der Logik des Kapitals vorgedrungen, dem Zentrum des Produktionsprozesses des Kapitals als Reproduktion und Akkumulation. Der weitere Verlauf der Entwicklung führt über die Darstellung des Zirkulationsprozesses im zweiten Band zum Gesamtprozess des Kapitals im dritten Band. 18 Für unseren Zusammenhang ergibt sich jedoch nur die eine Frage, die auch Marx’ Kapitalanalyse bewegend zugrunde liegt: Gibt es für die kapitalistische Produktionsweise, die in ihrer Produktion stets die Bedingungen ihrer Selbsterhaltung und Ausweitung auf erweiterter Stufenleiter mitproduziert, irgendwelche Schranken oder hat sie in sich die Mittel, über alle sich ihr in den Weg stellenden Hemmnisse hinweg fortzuschreiten? In der Form, wie hier im Kapital die Frage aufgeworfen wird, ist selbstverständlich, dass die Schranke, wenn sie besteht, so überhaupt nur in den Bewegungsgesetzen des Kapitals selbst angelegt sein kann, denn wenn diese in sich schrankenlos sind, so kann nichts das Kapital von außen in seiner Logik der Selbstverwertung tangieren, weder der politische Staat noch der revolutionäre Wille der Arbeiterklasse. Dass das Kapital ein Fetisch ist, dass sein Akkumulationsprozess die Arbeiter und die Erde ausbeutet, dies alles sind dann nur moralische Proteste, die gegen seinen Progress nichts ausrichten können, falls das Kapital in seiner Logik weiterhin und ungehindert alles an lebendigen Kräften der Menschen für sich, seinen Selbstverwertungsprozess vereinnahmen kann. Es gibt aus der obigen Frage keine Ausflüchte, entweder die kapitalistische Produktionsweise kann sich aus ihren eigenen reallogischen Gesetzen erneuern und erweitert fortentwickeln, d. h. sie kann grenzenlos die lebendige Kraft der Menschen für ihren Wachstumsprozess aussaugen, oder sie ist in sich selbst widersprüch-
Zur Diskussion um den dritten Band siehe Friedrich Eberle (Hg.): Aspekte der Marxschen Theorie 1. Zur methodischen Bedeutung des 3. Bandes des ›Kapital‹ (1973).
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lich, so muss sich dieser Widerspruch auch in der Logik ihrer eigenen Entwicklung materialiter aufzeigen lassen. Obwohl zu Ende des ersten Bandes des Kapital bereits genannt, wird die prinzipielle Widersprüchlichkeit der Entwicklungslogik des Kapitals erst im dritten Band voll entfaltet – wir können auch hier nicht mehr als einen Hinweis auf die ausführlichen Erörterungen bei Marx geben. Der kapitalistische Produktionsprozess wird vorangetrieben durch die Verwertung des Werts in der Erzeugung von Mehrwert, der selbst wieder als vermehrter Wert in den Produktionsprozess eingeht und so die Akkumulation des Kapitals vorantreibt. Quelle des Mehrwerts ist die Ausnutzung der lebendigen Arbeit der gekauften Arbeitskräfte. Da die Verausgabung von Arbeit über ein bestimmtes Maß von Arbeitsstunden am Tag hinaus auf natürliche Grenzen stößt, kann die Ausnutzung der lebendigen Arbeit nur dadurch darüber hinaus noch gesteigert werden, dass technische und maschinelle Arbeitsmittel ihre Produktionskraft erhöhen. Dies führt zu einer ständigen wissenschaftlich-industriellen Revolutionierung des Produktionsprozesses, der selbst den Akkumulationsprozess des Kapitals kräftig vorantreibt. Verbunden ist damit aber das Phänomen, dass sich die Zusammensetzung des Kapitals immer stärker auf die Seite der industriellen Anlagen und der Maschinerie im Verhältnis zu den Arbeitskräften verschiebt, und damit ist zwangsläufig ein »tendenzieller Fall der Profitrate« verbunden, d. h. aus dem investierten Gesamtkapital lässt sich nur noch ein verhältnismäßig geringer Profit ziehen – auch dann, wenn die Erzeugung von Mehrwert absolut steigt –, da der Anteil der mehrwerterzeugenden lebendigen Arbeit im Verhältnis zum rasend anwachsenden konstanten Kapital immer nur geringfügiger gesteigert werden kann. Hier zeigt sich nun materialiter ein prinzipieller »innerer Widerspruch« im Entwicklungsprozess der kapitalistischen Produktion: Je mehr ihre Akkumulation fortschreitet, was ja eine absolut anwachsende Mehrwertproduktion anzeigt, umso mehr sinkt tendenziell die Profitrate – tendenziell, denn es gibt eine Reihe von entgegenwirkenden Bewegungen, die diesen Fall der Profitrate partiell abbremsen, aber nie ganz aufhalten können. Damit aber ist die kapitalistische Produktionsweise in ihrem Kern von einem Widerspruch gezeichnet, der mit ihr wächst. »Fall der Profitrate und beschleunigte Akkumulation sind insofern nur verschiedne Ausdrücke desselben Prozesses, als beide die Entwicklung der Produktivkräfte ausdrücken. Die Akkumulation […] beschleunigt den Fall der Profitrate […]. Andererseits be116 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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schleunigt der Fall der Profitrate wieder […] die Akkumulation, der Masse nach […]. Soweit die Rate der Verwertung des Gesamtkapitals, die Profitrate, der Stachel der kapitalistischen Produktion ist (wie die Verwertung des Kapitals ihr einziger Zweck), verlangsamt ihr Fall die Bildung neuer selbständiger Kapitale und erscheint so als bedrohlich für die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses; er befördert Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger Bevölkerung. […] Das Wichtige aber in ihrem Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl, daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise.« (Marx 25: 251 f.) Auf den ersten Blick mag dieser Widerspruch, der mitten durch die kapitalistische Produktionsentwicklung hindurchgeht, als relativ harmlos erscheinen. Jedoch sind in ihm die strukturellen Krisenerscheinungen mit all ihren materiellen Auswirkungen im gesellschaftlichen Leben begründet, die die kapitalistische Produktionsweise zyklisch befallen und die auf erweiterter Stufenleiter auch erweiterte Formen annehmen. 19 Entscheidender ist es jedoch zu sehen, dass sich hierin die prinzipielle Widersprüchlichkeit der Logik des Kapitals offenbart, die tendenziell ihre eigene Selbstzerstörung impliziert. Dieser Widersprüchlichkeit kann sich das Kapital nicht aus eigenen Stücken entziehen, denn sie steckt ja in seiner eigenen Entwicklungslogik. Das Kapital geht also tendenziell an sich selbst zugrunde; etwas davon wird sichtbar an der periodischen Entwertung von Kapital durch die wissenschaftlich-technische Revolutionierung der Produktionsweise, durch weltwirtschaftliche Zusammenbrüche und Kriege. Aber es hat in solchen partiellen Entwertungen von Kapital – und das darf nicht übersehen werden – gleichzeitig die Chance, auf erneuerter Basis nochmals zu einer Steigerung der Profitrate zu kommen, so dass gerade hierin auch die dem tendenziellen Fall partiell und vorübergehend entgegenwirkenden Tendenzen sichtbar werden. Abgesehen davon, dass die Ressourcen der Ausbeutung der lebendigen Arbeit und der Erde noch gar nicht voll ausgeschöpft sind, so dass Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie (1962) – darin vor allem »Die periodischen Wirtschaftskrisen«.
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vorläufig nur geschichtlich gewachsene, partielle Schranken überschritten werden müssen, nach außen in Richtung auf eine erweiterte Vereinnahmung der »unterentwickelten« Völker und Reichtümer der Erde in den kapitalistischen Weltmarkt, nach innen durch eine erweiterte Einbeziehung von Lebensbereichen in die Warenförmigkeit und Einverleibung weiterer lebendiger körperlicher und geistiger Kräfte der Menschen in die kapitalistische Produktion. 20 Das Kapital enthält zwar in sich die Tendenz seiner eigenen Negation, aber da es noch immer lebendige menschliche Kräfte für seinen Wachstumsprozess zu mobilisieren vermag, kann sich sein Siechtum noch lange hinziehen. Gerade aber hier kommt an den wirklichen Konsequenzen des Selbstwiderspruchs der Entwicklungslogik des Kapitals der darüber hinausgehende materiell grundlegende Widerspruch des Kapitals zu seiner lebendigen Grundlage in der gesellschaftlichen Praxis zum Vorschein. Die Selbstverwertungsschwierigkeiten des Kapitals verschärfen notwendigerweise, da das Kapital ja von einer gesteigerten Ausbeutung lebendiger Arbeit lebt, auch den materiellen Grundwiderspruch zwischen den »in Gesellschaft produzierenden Individuen« und dem Kapital als dem sie beherrschenden und auszehrenden »Machwerk ihrer eigenen Hand«. »Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel sind für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte
Erinnert sei hier nochmals an die Ausführungen zur »Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft« in Hegels Rechtsphilosophie (7: 391) sowie die Ausführungen von Marx in den Grundrissen (42: 322 f.). Siehe auch Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals (1923); Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus (1962); Henri Lefebvre: Die Zukunft des Kapitalismus (1973). 20
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Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.« (Marx 25: 260) 21 Wir sind damit am Ende der Darstellung des Kapital angelangt; was immanent über die Entwicklungslogik des Kapitals in ihrer prinzipiellen Widersprüchlichkeit ausgeführt werden kann, ist – hier natürlich nur punktuell und beispielhaft – aus ihr selber entwickelt; es ist damit durchgängig aufgewiesen, dass die Logik der kapitalistischen Produktionsweise nicht in sich selber ruht und zur Ruhe kommen kann, dass sie vielmehr aus einem anderen Grund begriffen und bewältigt werden muss: aus der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Doch dieses zu explizieren ist nicht die Aufgabe der kritischen Analyse und Darstellung des Kapital. Insofern kann Marx innerhalb des Kapital – aber zugleich schon über es hinaus – nur noch die als revolutionäre Gewissheit formulierte Hoffnung äußern, dass die durch die Selbstwidersprüche des Kapitals hervorgerufenen materiellen, lebenspraktischen Widersprüche im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang die davon Betroffenen zum praktisch-tätigen Widerspruch gegen das Kapital mobilisieren werden. Ob und wann dies gelingen wird, liegt nicht – auch nicht negativ – in der Gewalt des Kapitals, sondern einzig und allein bei den »in Gesellschaft produzierenden Individuen«, in ihrem Bewusstwerden und Erstarken zu einer revolutionären Bewegung. Dies und nichts anderes meint auch die über das Kapital hinausweisende Aussage von Marx gegen Ende des ersten Bandes, die allerdings in ihrer Formulierung ungenau ist und daher immer wieder zu Missverständnis-
Die Wirkungen auf den Lebenszusammenhang werden von Marx noch deutlicher im ersten Band des Kapital beschrieben (23: 511 f.): »Wenn aber der Wechsel der Arbeit sich jetzt nur als überwältigendes Naturgesetz und mit der blind zerstörenden Wirkung eines Naturgesetzes durchsetzt, das überall auf Hindernisse stößt, macht die große Industrie durch ihre Katastrophen selbst es zur Frage von Leben oder Tod; den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen.«
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sen Anlass gibt: 22 »Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist die Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.« (Marx 23: 791)
Gegen diese Missverständnisse siehe Helmut Reinicke; Ware und Dialektik (1974); auch Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf (1971); sowie die Ausführungen im nächsten Abschnitt.
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V. Die gesellschaftliche Entwicklung, die Subjekte und die revolutionäre Praxis
Nachdem wir im vorausgegangenen Abschnitt gezeigt haben, wie sich das Kapital als ein Teilstück der Kritik der politischen Ökonomie in den Gesamtzusammenhang der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx einfügt, müssen wir diese als dialektische Geschichtstheorie in praktischer Absicht selber nochmals näher zu charakterisieren versuchen. Wir wollen dabei zunächst an Marx’ eigene berühmt-berüchtigte Selbstdarstellung seiner Theorie im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859 anknüpfen, da sich zum einen an ihren stark an die Deutsche Ideologie angelehnten Formulierungen der geschichtsmaterialistische Gesamtansatz verdeutlichen lässt, zum anderen weil die konzentrierte Zusammenbindung von grundsätzlichen Aussagen im Vorwort zu vielen Missdeutungen Anlass gegeben hat, die es richtigzustellen gilt. Um nichts an Problematischem zu unterschlagen, sei hier – mit einigen unbedeutenden Auslassungen – die ganze Textstelle wiedergegeben, so dass die weiteren Ausführungen daran überprüft werden können. »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution 121 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. […] Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses […], aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.« (Marx 13: 8 f.) Marx benennt hier im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie – dem ersten Teilstück seiner sich mit dem System der bürgerlichen Ökonomie befassenden Studien, dem er dann im erneuten Anlauf acht Jahre später das Kapital folgen lässt – den geschichtsmaterialistischen Gesamtzusammenhang seiner Theorie. Er verweist auf die Dialektik der gesellschaftlichen Kräfte, die den Geschichtsprozess vorantreiben bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft. Marx deutet damit vorweg an, was wir im vorigen Abschnitt besprochen haben, dass die Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft selber geschichtlich durch die gesellschaftlichen Produktivkräfte hervorgebracht worden sind, die nun selber entfaltend und bestimmend auf diese zurückwirken und im Laufe ihrer Entwicklung zur Fessel der gesellschaftlichen Produktivkräfte werden. Es ist dann an den »im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft« heranreifenden Produktivkräften, diese Fessel zu sprengen und ihnen entsprechende gesell122 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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schaftliche Verhältnisse hervorzubringen. 1 Zunächst sehen wir also, dass auch hier das grundsätzliche Übergreifen der gesellschaftlichen Produktivkräfte – das, was wir ganz allgemein gesellschaftliche Produktion, Arbeit und Praxis genannt haben – über die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ausgesprochen wird, wobei letztere allerdings sehr wohl dialektisch auf die Produktivkräfte zurückwirken, ja sogar zeitweilig in Verkehrung des wirklichen Zusammenhangs als das Übergreifende in Erscheinung treten, so dass der Entwicklungsprozess einer gesellschaftlichen Epoche durch ihre Form beherrscht und bestimmt wird. Dies ist ja, was die Kritik der politischen Ökonomie kritisch-analytisch aufzuweisen beabsichtigt, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die derzeit zwar den Produktionsprozess und das gesellschaftliche Zusammenleben der bürgerlichen Gesellschaft beherrschen, weder die anthropologisch feststehende Grundlage des gesellschaftlichen Seins der Menschen ausmachen noch in sich selber die Mittel haben, in eine unabsehbare Zukunft hinein sich in ihrer gesellschaftlichen Form behaupten zu können. Vielmehr sind sie durch die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Menschen hervorgebracht, und sie können daher auch von diesen und nur von diesen wieder überwunden werden, sobald ihre hemmenden, ja zerstörenden Wirkungen ein solches Ausmaß annehmen, dass die »Menschheit« sich der »Aufgabe« stellen muss, »neue höhere Produktionsverhältnisse« hervorzubringen. Nun liegt ohne Zweifel das Problematische dieser Kurzdarstellung der Marxschen Geschichtsphilosophie darin, dass sie den Anschein erweckt, als würde hier »in großen Umrissen« ein »naturwissenschaftlich treu zu konstatierender« Geschichtsprozess beschrieben, der durch die Gesetzmäßigkeit in der ökonomischen Basis unaufhaltsam vorangetrieben wird: Die Produktivkräfte bringen Produktionsverhältnisse hervor, diese wirken zunächst entwickelnd auf jene zurück, dadurch wachsen die Produktivkräfte dermaßen an, dass ihnen die Produktionsverhältnisse zu eng werden, sie sprengen daher diese und bringen so neue Produktionsverhältnisse hervor, die wieder entwickelnd auf sie zurückwirken können usw. Die objektiven Gesetzmäßigkeiten dieses Geschichtsprozesses beherrschen auch unsere Marx (23: 526): »Mit den materiellen Bedingungen und der gesellschaftlichen Kombination des Produktionsprozesses reift sie die Widersprüche und Antagonismen seiner kapitalistischen Form, daher gleichzeitig die Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft.«
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Geschichtsepoche und werden daher mit Notwendigkeit auch über die »letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« hinaus eine neue höhere »Gesellschaftsformation« hervortreiben. In dieser Weise wurde der Text von Kautsky über Stalin bis zu Mao – mit kleinen abweichenden Nuancen – in allen Lagern des dogmatischen Marxismus verstanden und ausgelegt. Nun wollen wir keineswegs bestreiten, dass der Text von Marx tatsächlich dem ersten Anschein nach diese Züge eines objektivistischen Geschichtsbilds aufweist, das beinahe mehr an Auguste Comte als an Hegels Geschichtsphilosophie erinnert. 2 Trotzdem ist auch in diesem Text einiges enthalten, was einer objektivistischen Lesart entgegensteht und was es ermöglicht, das Vorwort doch in den praxisphilosophischen Kontext von Marx’ kritischer Philosophie gesellschaftlicher Praxis einzubeziehen, den Marx von den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten bis zu den Randglossen zum Gothaer Programm nicht aufgegeben hat. Vorweg muss der letzte Satz der Textstelle in Erinnerung gerufen werden: »Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.« Legt man diesen Satz, in dem die ganze Explikation gipfelt, der Interpretation der Textstelle insgesamt zugrunde, so ist klar, dass sich die Darstellung des objektiven Geschichtsprozesses – falls sie eine solche überhaupt ist – nur auf die »Vorgeschichte« beziehen kann, d. h. auf die gesellschaftlich bewusstlose, naturwüchsige Geschichte bis einschließlich der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation, aber nicht mehr auf die danach erst beginnende eigentliche Geschichte, in der die frei vereinigten Individuen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse gemeinschaftlich planen, gestalten und kontrollieren. Dann trifft, übertragen auf die gemeinsame Gestaltung der Geschichte zu, was Marx an anderer Stelle von der geplanten und kontrollierten Auseinandersetzung mit der Natur in einer sozialistischen Gesellschaft sagt: »Die Freiheit auf diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinZu Auguste Comte schreibt Marx an Engels am 7. Juli 1866 (31: 234): »Aber das ist jammervoll gegen Hegel (obgleich Comte als Mathematiker und Physiker von Profession ihm überlegen, d. h. überlegen im Detail, Hegel ist selbst hier unendlich größer im Ganzen).« Vgl. Oskar Negt, Die Konstituierung der Soziologie zur Ordnungswissenschaft. Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels (1974).
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schaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen.« (Marx 25: 828) Wenn aber die noch ausstehende Epoche dadurch gekennzeichnet sein soll, dass in ihr die freien Individuen bewusst und gemeinsam ihre Lebensverhältnisse planen und gestalten, dass sie also von da an bewusst ihre gesellschaftliche Geschichte machen, so setzt das voraus, dass sie diesen Zustand der Freiheit bereits bewusst erkämpft haben – wie dies Marx mit Engels zusammen in der Deutschen Ideologie und im Manifest der Kommunistischen Partei mehrfach unmissverständlich ausgesprochen hat. (Marx/Engels 3: 69 f. und 4: 482) Dies bedeutet aber, dass nun auch der vorletzte Satz aus der objektivistischen Lesart herausgelöst werden muss. Wenn es hier heißt: »aber die im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus«, so sind mit den sich hier entwickelnden Produktivkräften die sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe bewusstgewordenen, zu einer emanzipativen Bewegung sich zusammenschließenden Individuen gemeint, die durch ihre revolutionäre Praxis nicht nur die Fesseln der alten Gesellschaft sprengen, sondern auch eine neue zu errichten beginnen, die jeden gesellschaftlichen Klassenantagonismus ausschließt. 3 Dies ist also ganz im Sinne des Manifests der Kommunistischen Partei zu verstehen, wo nicht nur von der Produktivkraft der bewusstgewordenen Proletarier gesprochen wird, die die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen wird, sondern wo es ausdrücklich weiter heißt: »Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereinigt, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassen-
Zum Bewusstwerden im Befreiungsprozess siehe Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten (1970); vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Pedagogia dialética. De Aristoteles a Paulo Freire (1983) [dt.: Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (2008)] sowie Kritische Theorie und revolutionäre Praxis. Konzepte und Perspektiven marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorie (1988).
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gegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (Marx/Engels 4: 482) In dieser Weise einmal stutzig geworden, müssen wir den für das ganze Vorwort zentralen Begriff der Produktivkräfte näher untersuchen. Der ganze Anschein eines objektiv-gesetzmäßigen Geschichtsprozesses beruht ja darauf, dass man die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse als zwei objektive Gegebenheiten nimmt, die sich nach einer in ihnen angelegten Gesetzmäßigkeit wechselseitig vorantreiben. Nun hat Marx immer wieder darauf hingewiesen, dass die eigentliche Produktivkraft der Mensch selber ist, das sich seiner selbst bewusstgewordene Individuum (Marx 42: 607) und die im gesellschaftlichen Maßstab sich ihrer gesellschaftlichen Aufgaben bewusstgewordenen, zusammengeschlossenen Individuen der revolutionären Bewegung (Marx 4: 470 f.). Trotzdem hat der dogmatische Marxismus hierin Marx immer missverstanden und die Produktivkräfte zu einem außer dem Menschen existierenden Fetisch der Technik und Industrie umgedeutet – Nikolai Bucharins Theorie des historischen Materialismus (1921) ist ein Paradebeispiel hierfür. 4 Natürlich sind Technik, Industrie, Wissenschaft, ja auch die Philosophie Produktivkräfte des Menschen, aber sie sind es nicht für sich, sondern nur in der Form und in dem Maße, in denen sie von dem Menschen hervorgebracht und erhalten werden. In der kapitalistischen Produktionsweise allerdings erscheinen die Produktivkräfte der Menschen in der verkehrten Gestalt als selbständige Kräfte der kapitalistischen Industrie, deren Anhängsel dann die an ihr und für sie arbeitenden Individuen sind. Dies haben Marx und Engels bereits in der Deutschen Ideologie eingehend dargelegt: »Erstens erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind. Also auf der einen Seite eine Totalität von Produktivkräften, die Abraham Deborin/Nikolai Bucharin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, hg. u. eingel. von Oskar Negt (1969),– darin auch die Kritik von Antonio Gramsci an Bucharin; siehe auch Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis (1929–1936).
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gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des Privateigentums [sind], und daher der Individuen nur, insofern sie Privateigentümer sind. […] Auf der andern Seite steht diesen Produktivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind und die daher alles wirklichen Lebensinhalts beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbindung zu treten.« (Marx/Engels 3: 67) Legt man nun den hier explizierten Begriff von Produktivkräften, genauer von »gesellschaftlichen Produktivkräften«, als die geschichtlich entfalteten Kräfte der »in Gesellschaft produzierenden Individuen« dem Vorwort zugrunde, so beginnt sich der Anschein eines Geschichtsobjektivismus schrittweise aufzulösen. Der Text erweist sich dann als ein »in großen Umrissen« gegebenes Programm einer geschichtsmaterialistischen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung mit praxisphilosophischen Konsequenzen für die noch ausstehende Geschichte. Als zentrale Aussage tritt dann hervor, dass es die wirklichen Kräfte der Menschen sind, die je in bestimmter gesellschaftlicher Form nicht nur aller Geschichte zugrunde liegen, sondern sie auch vorantreiben. Solange aber dieser Prozess ein gesellschaftlich bewusstloser ist und bleibt, erzeugen die Menschen gesellschaftliche Verhältnisse, die doch nicht die ihren sind, sondern in denen zunächst einige wenige Nutznießer der produzierten Reichtümer werden, auf Kosten der Mehrzahl derer, die diese Reichtümer erarbeiten mussten. Es sind dies die antagonistischen Klassengesellschaften, die »asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweise«, die Marx hier »als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation« bezeichnet. Mit dieser Aufzählung will Marx weder der bisherigen Menschheitsgeschichte ein Periodisierungsschema überstülpen noch behauptet er, dass die genannten Produktionsweisen nach einer objektiven Gesetzmäßigkeit der Geschichte aufeinanderfolgen, wie dies ihm vom Vulgärmarxismus und von der bürgerlichen Geschichtswissenschaft unterstellt wird. 5 Der geschichtsmaterialistische Ansatz von Siehe dazu Stalin, Über dialektischen und historischen Materialismus (1938) einerseits und Immanuel Geiss: »Zwischen Marx und Stalin. Kritische Anmerkungen zur marxistischen Periodisierung der Weltgeschichte« (1974). Kritisch zu dieser objektivistischen Geschichtsbetrachtung Helmut Fleischer, Marxismus und Geschichte
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Marx ist ein völlig anderer, weder operiert er mit dem Begriff einer Geschichte an sich, die nach irgendwelchen ihr innewohnenden Gesetzen voranschreitet – dies hat Marx bereits in seiner Hegel-Kritik überwunden –, noch reduziert sich ihm Geschichte auf empirisch konstatierbare Einzelereignisse, die im Nachhinein durch eine geschichtswissenschaftliche Deutung zu Epochen und Perioden zusammengefügt werden. Für Marx ist Geschichte nur aus der gesellschaftlichen Praxis der Individuen aufzuklären, aus der je spezifischen Entfaltung ihrer Produktivkräfte und den durch diese hervorgebrachten spezifischen Produktionsverhältnissen. Dadurch ist es Marx möglich, sowohl jede einzelne Gesellschaft aus der in ihr ausgeprägten gesellschaftlichen Praxis, in ihrer Dialektik von Produktionskräften und Produktionsverhältnissen zu bestimmen als auch zugleich die durch diese hindurch voranschreitende Dialektik der menschlichen Entwicklung zu verfolgen, mit ihrer Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und mit ihrer Ausbildung je spezifischer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse, Rechts- und Staatsverhältnisse sowie ideologischer Legitimationssysteme. In den letzten Jahren seines Lebens hat Marx sich, wie seine Ethnologischen Exzerpthefte zeigen, mit archaischen Gesellschaften und den Problemen des Übergangs zu den agrarischen Großreichen auseinandergesetzt. 6 In den Grundrissen hat Marx im Hinblick auf (1969). Gegen die vulgärmaterialistische Vereinnahmung seiner Theorie hat sich bereits Marx zur Wehr gesetzt – so in einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 27. Juni 1870 (32: 685 f.): »Herr Lange (Über die Arbeiterfrage etc. 2. Aufl.) macht mir große Elogen, aber zu dem Behufe, sich selbst wichtig zu machen. Herr Lange hat nämlich eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (– der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase –) ›struggle for life‹, ›Kampf ums Dasein‹, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungs- oder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ›struggle for life‹, wie er sich geschichtlich in verschiednen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ›struggle for life‹ und diese Phrase in die Malthussche ›Bevölkerungsphantasie‹ umzusetzen. Man muß zugeben, daß dies eine sehr einbringliche Methode – für gespreizte, wissenschaftlich tuende, hochtrabende Unwissenheit und Denkfaulheit ist. Was derselbe Lange über Hegelsche Methode und meine Anwendung derselben sagt, ist wahrhaft kindisch. Erstens versteht er rien von Hegels Methode und darum zweitens noch viel weniger von meiner kritischen Weise, sie anzuwenden.« 6 Karl Marx: Die ethnologiscben Exzerpthefte, hg. von Lawrence Krader (1976). Aufbauend auf diese Exzerpthefte, doch in stärkerer Anlehnung an Lewis H. Morgan hat dann Friedrich Engels sein Buch: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und
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das System der bürgerlichen Ökonomie einen kurzen Rückblick »auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit«, auf »die Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn« (Marx 42: 383 ff.) gegeben. Dabei grenzt er den Stellenwert dieser Untersuchungen vorweg auf ihre Funktion im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie ein: »Diese Andeutungen, zugleich mit der richtigen Fassung des Gegenwärtigen, bieten dann auch den Schlüssel für das Verständnis der Vergangenheit – eine Arbeit für sich, an die wir hoffentlich auch noch kommen werden. Ebenso führt diese richtige Betrachtung andrerseits zu Punkten, an denen die Aufhebung der gegenwärtigen Gestalt der Produktionsverhältnisse – und so foreshadowing der Zukunft, werdende Bewegung sich andeutet.« (Marx 42: 373) Wie so vieles, hat Marx auch diese eigenständige Untersuchung der vorkapitalistischen Produktionsweisen nie ausgeführt, doch enthalten bereits die Andeutungen in den Grundrissen sehr substanzielle Hinweise darauf, wie Marx sich die Analyse der Logik dieser Gesellschaftsformation und der durch sie hindurchgehenden Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis vorstellt. Insbesondere zeigt Marx hier auf, wie die Progression in der geschichtlichen Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zugleich für die Individuen eine zunehmende Entfremdung vom ursprünglichen Gemeinwesen einerseits und eine fortschreitende Enteignung von Boden und von Produktionsmitteln andererseits impliziert; gerade in diesem Prozess liegt dann eine der wesentlichen Bedingungen der Ermöglichung der Entstehung des Kapitalismus: freie Arbeiter, das frei über sich verfügen könnende Subjekt, das zugleich »frei« von allen Produktionsmitteln ist. »Die Entwicklung der Produktivkräfte löst sie [die »Gemeinwesen als Produktionsbedingungen«] auf und ihre Auflösung selbst ist eine Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Es wird erst gearbeitet von (einer) gewissen Grundlage aus […]. Dann aber wird diese Grundlage oder Voraussetzung selbst aufgehoben oder ge-
des Staates verfasst (1884). Vgl. Lawrence Krader, Ethnologie und Anthropologie bei Marx (1973). Zur geschichtsmaterialistischen Kulturanthropologie siehe Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (1973); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Strukturale Ethnologie und geschichtsmaterialistische Kulturtheorie« (1993), in: Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit. Philosophische Reflexion zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie (2017).
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setzt als eine verschwindende Voraussetzung, die zu eng geworden für die Entfaltung des progressiven Menschenpacks.« (Marx 42: 404) Die Progressionen der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die in diesen Gesellschaftsformationen und durch sie hindurch gesellschaftlich bewusstlos erfolgen, bedeuten für die Mehrzahl der Bevölkerung brutale Unterdrückung und Ausbeutung, sie verursachen unbeschreibliche Leiden für die Opfer dieses Fortschritts. Aber, so betont Marx gegen Ricardo und zugleich gegen dessen Kritiker Sismondi, »daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzen Menschenklassen macht« und »durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden«, doch auch derselbe Prozeß ist, der »schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums« (Marx 26/2: 111). Weder darf man bei der Analyse der geschichtlichen Entwicklung die Opfer unterschlagen (dies gegen Ricardo) noch bringt es weiter, in einen moralischen Protest gegen die bisherige Entwicklung zu verfallen (dies gegen Sismondi), es kommt vielmehr darauf an, die gesellschaftliche Entwicklung in ihrer wirklichen Dialektik bis in die gegenwärtige Gesellschaftsformation hinein zu verfolgen, um in der Gegenwart umso entschiedener die realen Möglichkeiten der Aufhebung der antagonistischen »Vorgeschichte« zu ergreifen. Auch unsere bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation ist durch einen Antagonismus geprägt, der in einem grundlegenden Widerspruch zwischen den durch das Kapital bestimmten Produktionsverhältnissen und den produzierenden Individuen gründet. So sehr dieses antagonistische Verhältnis den Anschein eines schlechthin Gegebenen und Unaufhebbaren erweckt, gilt es erstens zu erkennen: »Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.« (Marx 23: 183) Zweitens aber gilt es – durch die Analyse der Kritik der politischen Ökonomie hindurch – sich die Einsicht zu erarbeiten, dass die Produktionsverhältnisse nicht das Übergreifende über sich und die weitere gesellschaftliche Entwicklung sein können, nicht das zu sein vermögen, was sie in Verkehrung der wirklichen Grundlagen zu sein scheinen, sondern dass sie durch den in 130 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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ihren Struktur- und Bewegungsgesetzen liegenden Widerspruch notwendig den Antagonismus zwischen der Kapitalakkumulation einerseits und den Lebensbedürfnissen der Individuen andererseits steigern müssen. In einer Wiederaneignung der von ihnen getrennten gesellschaftlichen Produktivkräfte, die jetzt als die Kräfte des Kapitals fungieren, ist es jedoch den frei assoziierten Individuen möglich, die Fesseln des Kapitals zu sprengen und in freier und gemeinsamer Praxis die Grundlagen für eine höhere Gesellschaftsform zu schaffen. 7 Nachdem wir die geschichtsmaterialistischen Andeutungen des Vorworts aus den Fängen des objektivistischen Missverstandes des Vulgärmarxismus befreit haben, bleibt allerdings noch immer ein Problem: das Basis-Überbau-Schema. Der dogmatische Marxismus glaubt – in Berufung auf das Vorwort von Marx – hier zwei Ebenen voneinander isolieren zu können: zum einen die materielle Basis, in der sich die Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bewegt, und zum anderen den ideologischen Überbau, in dem sich jene Bewegungen spiegeln. 8 Bereits Friedrich Engels hat sich in den letzten Jahren seines Lebens in mehreren Briefen an junge Intellektuelle der sozialdemokratischen Partei gegen diese damals schon aufkommende Entstellung der Marxschen Theorie energisch zur Wehr gesetzt, so schreibt er an Josef Bloch am 21. September 1890: »Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite Siehe Marx 42: 602 sowie Marx/Engels 4: 474. Vgl. die schwerlich zu überbietenden Ausführungen in G. Klaus/M. Buhr (Hg.): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie (1972: 171): »Die besondere Bedeutung der Begriffe ›Basis‹ und ›Überbau‹ ist darin zu sehen, daß sie theoretische Instrumente zur Erfassung des Systemcharakters der Gesellschaft darstellen und daß sie gerade unter diesem Aspekt für die Bewältigung der wissenschaftlichen Probleme wichtig sind, die bei der praktisch-revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft und bei der planmäßigen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsformation auftreten. Die theoretische und methodische Bedeutung der Lehre von Basis und Überbau bestätigt sich vor allem bei der Prognose und bei der planmäßigen Entwicklung des Sozialismus als umfassendes Gesellschaftssystem. […] Wenn beispielsweise die Aufgabe gestellt ist, die Entwicklung der künstlerischen Kultur prognostisch zu erfassen und weit vorausschauend zu gestalten, dann weisen die Begriffe ›Basis‹ und ›Überbau‹ darauf hin, daß primär nicht von den inneren Entwicklungstendenzen und -problemen der künstlerischen Kultur […], sondern von der notwendigen Entwicklung eines der sozialistischen ökonomischen Basis entsprechenden Überbaus, mithin einer künstlerischen Kultur, die sich ihrem politisch-ideologischen Inhalt und ihrer politisch-ideologischen Zielsetzung nach als Teilsystem des sozialistischen gesellschaftlichen Gesamtsystems bewähren muß, welches auf der Basis des ökonomischen Systems gestaltet wird.«
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gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.« (Engels 37: 465) »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate […] Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten […] als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.« (Engels 37: 463) Als erste Zurückweisung einer ökonomischen Entstellung der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx mag diese Klarstellung genügen. Aber schon Engels verdinglicht die Marxsche Dialektik, indem er zum einen von der »ökonomischen Basis« und von den ideologischen »Reflexen« als von ontologischen Gegebenheiten spricht und zudem noch ihr zufälliges Wechselwirken gleich einem »Kräfteparallelogramm« auf eine notwendige Entwicklungslinie der »ökonomischen Bewegung« verrechnet. 9 So fährt Engels in dem Brief an Joseph Bloch fort – und wir zitieren ihn so ausführlich, weil sein Rettungsversuch der Marxschen Dialektik zum Ausgangspunkt erneuter Vulgarisierungen wurde –: »Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. […] Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch die Menge besonderer Lebens9
Siehe Hartmut Mehringer/Gottfried Mergner (Hg.): Debatte um Engels (1973).
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bedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. […] So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen [!].« (Engels 37: 463 f.) Natürlich – und das dürfen wir nicht übersehen – bezieht auch Engels seine Charakterisierung nur auf die »bisherige Geschichte«, die gesellschaftlich bewusstlose Vorgeschichte, aber er tut es mit solch unzureichenden Mitteln, dass aus der geschichtlichen Dialektik, um die es Marx zu tun ist, eine naturwissenschaftlich berechenbare Wechselwirkung von Einzelkräften wird. Die grundsätzliche Schwäche in Engels’ Argumentation besteht darin, dass er nicht anzugeben vermag, wie denn eigentlich Basis und Überbau und Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse miteinander dialektisch vermittelt sind, und daher muss er zurückgreifen auf die äußerliche Behauptung einer Wechselwirkung, die natürlich nichts mehr aus den inneren Bestimmungs- und Bewegungsgründen erklärt, sondern nur noch die Zufälligkeit des Gegebenen im Nachhinein mit einer vorgefassten Grundüberzeugung beschreiben kann. Bevor wir erneut zu Marx zurückkehren, sei noch auf Antonio Gramsci verwiesen, der sehr vehement – insbesondere gegen Nikolai Bucharins Theorie des historischen Materialismus (1921) die objektivistischen Verunstaltungen der Marxschen Geschichtspühilosophie kritisiert und gerade im Vorwort von Marx die der gelebten Geschichte zugrunde liegende Dialektik von Theorie und Praxis angedeutet findet, die er zum Ausgangspunkt seiner eigenen Fortführung der Philosophie der Praxis macht. 10 Gramsci verweist dabei insbesondere auf die Aussage von Marx, dass die zu Fesseln gewordenen Produktionsverhältnisse überhaupt nur gesprengt werden können, wenn »sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten«. 10 Antonio Gramsci, Gefängnis Hefte 6, 1393 ff. Hier zitiert nach der von Christian Riechers herausgegebenen Auswahl: Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, 1967. Der Begriff »Philosophie der Praxis« hat bei Antonio Gramsci einen Doppelsinn: zum einen ist er das im Gefängnis gebrauchte Codewort für den Marxismus, zum andern sieht Gramsci – in Anlehnung an Antonio Labriola – hierin die adäquate Charakterisierung des Kerns der Marxschen Philosophie. Siehe Antonio Labriola: Über den historischen Materialismus (1896).
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Diese Aussage wirft nicht nur alle mechanistischen Basis-ÜberbauSchemata des dogmatischen Marxismus über den Haufen, sondern zeigt auch, welche eminent große Bedeutung dem Bewusstsein der Menschen in der wirklichen Geschichte zukommt; nicht zuletzt auch für die Marxsche kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis selbst, will sie ins Bewusstsein derer eintreten, die in der Gegenwart die Konflikte auszufechten haben. »Der Satz aus dem Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie, daß die Menschen das Bewußtsein der strukturellen Konflikte auf dem Gebiet der Ideologien gewinnen, muß als eine Feststellung von erkenntnistheoretischem und nicht rein psychologischem und moralischem Wert betrachtet werden.« (Gramsci, Philosophie der Praxis, 1967: 163) Kann man wirklich meinen, Marx habe den Satz: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (Marx 13: 9) nur als zu konstatierende Feststellung ausgesprochen? Kann man wirklich meinen, er habe die erkenntnistheoretische Implikation nicht mehr durchschaut, dass jene, denen ihr gesellschaftliches Sein bewusst wird, auch fähig werden, ihr gesellschaftliches Sein in bewusster Praxis zu vollbringen – was jedoch eine Veränderung des vorgefundenen gesellschaftlichen Seins durch das Bewusstsein impliziert? Kann man dies alles wirklich annehmen, da es doch Marx war, der diese erkenntnistheoretischen Implikationen einer Philosophie der Praxis, die Kritik ist, in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern in einer prinzipiellen Hegel-Kritik herausgearbeitet und der dies zum Kernstück seiner Theorie der revolutionären Praxis gemacht hat? 11 Antonio Gramsci hat alle diese Momente der Marxschen kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis wieder aufgenommen und sie seiner Philosophie der geschichtlichen und politischen Praxis zugrunde gelegt, in deren Zentrum die geschichtlichen Subjekte stehen, über die sich Theorie und Praxis, Basis und Überbau, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse vermitteln, und die dadurch Geschichte machen. »Für die Philosophie der Praxis sind die Überbauten eine Realität […], eine objektive und wirksame Realität: die Philosophie der Praxis behauptet ausdrücklich, daß die Menschen das Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Stellung und folglich ihrer Aufgaben auf ideologischem Gebiet gewinnen. […] Die Philosophie der Praxis Vgl. Henri Lefebvre, Der dialektische Materialismus (1940); Ernst Bloch: Über Karl Marx (1968).
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selbst ist ein Überbau, ist das Terrain, auf dem bestimmte Gesellschaftsklassen das Bewußtsein ihres eigenen gesellschaftlichen Wesens gewinnen. […] Wenn die Menschen das Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Aufgaben im Bereich der Überbauten erlangen, so bedeutet das eine notwendige und vitale Verknüpfung zwischen Basis und Überbau.« (Gramsci, Philosophie der Praxis, 1967: 279 ff.) Wir können hier nicht weiter auf Gramscis Philosophie der Praxis eingehen, die von ihrem Zentrum der Dialektik von Theorie und Praxis aus eine politische Strategie der Brechung der Hegemonie der bürgerlichen Gesellschaft in allen ideologischen Bereichen durch die bewusstwerdenden Subjekte entwickelt. 12 Wir haben nochmals zu Marx zurückzukehren, um zu zeigen, dass auch für ihn die Vermittlung der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von Basis und Überbau über die wirklichen Subjekte läuft, und dass gerade auch hierin seine Theorie der revolutionären Praxis gründet: »Der Mensch selbst ist die Basis seiner materiellen Produktion, wie jeder andren, die er verrichtet. Alle Umstände also, die den Menschen affizieren, das Subjekt der Produktion, modifizieren plus ou moins alle seine Funktionen und Tätigkeiten, also auch seine Funktionen und Tätigkeiten als Schöpfer des materiellen Reichtums, der Waren. In dieser Hinsicht kann in der Tat nachgewiesen werden, dass alle menschlichen Verhältnisse und Funktionen, wie und worin sie sich immer darstellen, die materielle Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie eingreifen.« (Marx 26/1: 260) Hier wird nicht nur klargestellt, wie die Produktionsverhältnisse, aber auch die politischen Verhältnisse und die ideologischen Systeme über die Subjekte fördernd oder hemmend einwirken können auf die Produktivkräfte der Menschen, sondern es wird darüber hinaus deutlich, dass die Produktivkräfte nicht etwas für sich Bestehendes und für sich Wachsendes sind, sondern immer nur das sind, was die Subjekte erarbeitet haben. Es versteht sich von selbst, dass hier nicht von vereinzelten Subjekten für sich die Rede ist, sondern von den »in Gesellschaft produzierenden Individuen«. Diese bringen durch ihre geschichtlich gewordenen Produktivkräfte nicht nur einzelne Produkte, sondern den gesamten Umfang ihrer LebensverhältVgl. Annegret Kramer: Gramscis Interpretation des Marxismus (1975); Wolfgang Fritz Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci (1996); siehe auch im Anhang den Beitrag »Traditionslinien des ›westlichen Marxismus‹«.
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nisse hervor, welche selbst wieder bestimmend auf die Subjekte in ihren produktiven Kräften zurückwirken. Solange diese Bewegung wechselseitiger Bestimmung eine bewusstlose bleibt, wird sie von den einzelnen Individuen als eine ihnen äußerliche Gegebenheit und Gesetzmäßigkeit erfahren, wobei insbesondere das Gesellschaftliche ihres Zusammenwirkens und das Geflecht ihrer Beziehungen untereinander ihnen als fremde Kräfte und Seinsordnungen erscheinen – sei dies nun die orientalische Despotie oder das Kapital. Erst dann, wenn die Subjekte sich ihrer eigenen produktiven Kräfte in ihrem gesellschaftlichen Zusammenwirken bewusst werden und daher beginnen, sich diese anzueignen und gemeinschaftlich ihre gesellschaftlichen Lebensformen selber zu gestalten, erst dann wird »die menschliche Emanzipation vollbracht«. (Marx 1: 370) Um diese für die Marxsche kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis wichtige Vermittlung der Dialektik in den Subjekten noch präziser zu explizieren, müssen wir – in gebotener Kürze – auf das Problem des Subjektwerdens der Individuen im gesellschaftlichen Zusammenhang eingehen. 13 Bekanntlich besteht hier eine der großen Lücken in der Marxschen Theorie. Bezeichnenderweise bricht in der Deutschen Ideologie das Manuskript im ersten Teil an einer Stelle ab, wo angekündigt wird, dass nach der vorhergehenden Darstellung, in der »hauptsächlich nur die eine Seite der menschlichen Tätigkeit, die Bearbeitung der Natur durch die Menschen betrachtet« wurde, nun »die andre Seite, die Bearbeitung der Menschen durch den Menschen« folgen werde (Marx/Engels 3: 36). Die grundsätzliche Bedeutung einer hierfür erforderlichen kritischen Analyse der edukativen und familialen Sozialisationsprozesse wird vorher schon einmal in der Deutschen Ideologie unterstrichen: »daß die Menschen, die ihr eignes Leben täglich neu machen, anfangen, andre Menschen zu machen, sich fortzupflanzen – das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Familie […] muß alsdann nach den existierenden empirischen Daten […] behandelt und entwickelt werden«. (Marx/Engels 3: 29) Später hat Engels im Vorwort zu Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884) mit Nachdruck auf die beiden Seiten der Produktion und Regeneration des menschlichen Lebens hingewiesen: »Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der GeVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Kritische Theorie und revolutionäre Praxis. Konzepte und Perspektiven marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorie (1988).
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schichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie.« (Engels 21: 27 f.) In einer solchen – hier nur angerissenen – Kritik der edukativen und familialen Praxis der gestaltenden Einwirkung der Menschen auf die Menschen wäre der Ort für die Bearbeitung all jener Probleme, die nicht unmittelbar in der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft aufgehen und daher auch nicht in der Kritik der politischen Ökonomie behandelt werden können, wohl aber die Bestimmtheit menschlichen Lebens entscheidend mitprägen – etwa die Subjektwerdung in der familialen Gruppe, insbesondere durch Erziehung, die psychische Regeneration über unmittelbar menschliche Beziehungen und in Gruppenverhältnissen, die Erneuerung und Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in alltäglichen Bezügen und über die verschiedenen kulturellen Bereiche. Weder Marx noch Engels haben jedoch auch nur in Ansätzen die Ausführung einer solchen Kritik von Sozialisationsprozessen in Angriff genommen. 14 Trotzdem gibt es in Marx’ Gesamtwerk verstreut – insbesondere in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, der Deutschen Ideologie und in den Grundrissen – mehr grundsätzliche Hinweise auf die Probleme der Subjektwerdung der Individuen als man zunächst auf Grund seiner betonten Ausrichtung auf die Kritik der politischen Ökonomie vermuten würde. In einigen skizzenAufgegriffen und kritisch dargestellt haben diese Problemstellungen erst sehr viel später die Arbeiten der »revolutionären Pädagogen« der zwanziger Jahre: Otto Rühle, Erziehung zum Sozialismus (1919), Max Adler, Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung (1924), Otto Felix Kanitz, Kämpfer der Zukunft. Für eine sozialistische Erziehung (1925), Edwin Hoernle, Grundfragen proletarischer Erziehung (1929) und Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus (1933) sowie Henri Levebvre: Kritik des Alltagslebens (1947 ff.); Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft (1960); Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx (1961); Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion (1970) und. Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung (1972). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Theorie und revolutionäre Praxis (1988).
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haften Bemerkungen sei auf den inneren Zusammenhang dieser Andeutungen hingewiesen. Den Ausgangspunkt bildet die Einsicht, dass die gesellschaftliche Regeneration und Bildung der Individuen als Träger der gesellschaftlichen Praxis ein ebenso unabdingbares und basales Moment der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens darstellt wie die Produktion der Mittel zur menschlichen Lebenserhaltung. Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung ist daher zugleich immer auch eine Entwicklung der Individuen in ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten und in ihren Beziehungen zueinander. Die Gesellschaft ist genauso auf die Bildung und Weiterentwicklung der sie tragenden Individuen angewiesen, wie diese sich nicht außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge entwickeln können. Die »Bedingungen unter denen diese bestimmten, unter bestimmten Verhältnissen existierenden Individuen allein ihr materielles Leben […] produzieren können, sind also die Bedingungen ihrer Selbstbetätigung und werden von dieser Selbstbetätigung produziert. […] Da diese Bedingungen auf jeder Stufe der gleichzeitigen Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen, so ist ihre Geschichte zugleich die Geschichte der sich entwickelnden und von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte und damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst.« (Marx/Engels 3: 72) Doch gilt es nicht nur die grundsätzliche, alle Geschichte betreffende Bildung der Individuen im Reproduktionsprozess der Gesellschaft aufzudecken, sondern darüber hinaus auch die geschichtlichen Formen, in denen sich die Bildung vollzieht, kritisch herauszuarbeiten. 15 Diese Formen sind bestimmt durch die – selbst produzierten – gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie stattfinden und deren Reproduktion sie dienen. Solange die gesellschaftliche Entwicklung naturwüchsig abläuft, und die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« noch nicht zu frei assoziierten Subjekten der bewussten Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Lebensverhältnisse geworden sind, sie also noch »notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse« eingehen (Marx 13: 8), die ihnen als naturgegebene, sie beherrschende Mächte erscheinen, so lange kann auch das Individuum sich nicht »sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art« aneignen (Marx 40: 539). Es bleibt von seinem gesellschaftlichen Wesen abgetrennt, Zur »Reproduktion des Individuums« in agrarischen Sozietäten siehe Marx, Grundrisse (42: 392 f.).
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auf seine individuelle Existenzerhaltung in Konkurrenz zu den anderen Individuen reduziert, sich selbst als gesellschaftlichem, d. h. menschlichem Wesen entfremdet. »Erst in der Gemeinschaft (mit Andern hat jedes) Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich. […] In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit.« (Marx/ Engels 3: 74) Dies aber ist erst möglich in einer wirklich sozialistischen Gesellschaft, in der einerseits die »freie Individualität gegründet [ist] auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens«, andererseits »die universal entwickelten Individuen«, die »gesellschaftlichen Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen« haben (Marx 42: 91/95). 16 Ihrer Idee nach hat auch die klassische Bildungstheorie der bürgerlichen Gesellschaft immer das universal entwickelte Individuum als Träger einer menschlichen Welt intendiert, aber ohne Zweifel hat die real kapitalistische Basis dieser Gesellschaft dies für die Mehrheit ihrer Mitglieder – und damit prinzipiell – verunmöglicht. 17 Auch der Kapitalismus ist noch eine Formation naturwüchsiger gesellschaftlicher Entwicklung, die auf die Spitze getriebene Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Herrschaft der naturwüchsig produzierten Sachgesetzlichkeit über die gesellschaftlich produzierenden Individuen. Der sich hierin zeigende grundsätzliche Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise hat im konkreten Entwicklungsverlauf des Kapitalismus oftmals grausame Formen der Verkrüppelung der kindlichen Entwicklung und der individuellen Verwirklichung hervorgebracht. Indem die kapitalistische Produktionsweise den Produktionsprozess von Grund auf revolutioniert, »ergreift [sie] Marx (42: 601): »Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.« 17 Max Adler: Neue Menschen (1924: 11): »Es ist eine weit verbreitete Meinung, daß Erziehung etwas Unpolitisches sei, […] neutral sein müsse […]. Sowie man aber die Erziehung […] gleichsam in ihrer konkreten Bestimmtheit durch die Gesellschaftsform […] ins Auge faßt, wird der scheinbar für sich selbst bestehende Begriff der Erziehung sofort in die realen Gegensätze, ja Widersprüche der Klassengesellschaft – und eine andere haben wir heute noch nicht – hineingezogen.« 16
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die individuelle Arbeitskraft an ihrer Wurzel. Sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen.« (Marx 23: 381) Und dies beginnt mit der »intellektuellen Verödung« der Heranwachsenden, »künstlich produziert durch die Verwandlung unreifer Menschen in bloße Maschinen zur Fabrikation von Mehrwert«. (Marx 23: 421 f.) Den bürgerlichen Ideologen aber erscheint die Verkümmerung eines Großteils der Heranwachsenden als eine naturwüchsige Gegebenheit; sie denken – wie auch Stirner (1844), gegen den diese Stelle gemünzt ist – »nicht im Entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können«. (Marx/Engels 3: 410) Eine Kritik der edukativen und familialen Praxis in ihrer Entfremdung, wie sie sich hier und in wesentlich ausführlicheren Passagen im Gesamtwerk von Marx findet, versteht sich – wie die Kritik der politischen Ökonomie insgesamt – immer im Hinblick auf eine praktische Bewegung, die die Aufhebung dieser entfremdeten Praxis intendiert: »Das Umschlagen des individuellen Verhaltens in sein Gegenteil […] ist […] ein geschichtlicher Prozeß und nimmt auf verschiednen Entwicklungsstufen verschiedene, immer schärfere und universelle Formen an. In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.« (Marx/Engels 3: 424) Die praktischen Aufgaben, auf die die kritische Analyse der bestehenden Entfremdungen in der erzieherischen und sozialen Praxis schließlich verweist, sind nicht mehr allein aus individueller Entscheidung und Handlungspraxis zu bewältigen, sondern erweisen sich als gesellschaftliche Aufgaben, die nur durch die vereinigte Macht der assoziierten Individuen den eingefahrenen Mechanismen verharschter Verhältnisse abgetrotzt werden können. 18 18
Marx (16: 194): »Der aufgeklärtere Teil der Arbeiterklasse begreift jedoch sehr gut,
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Daher erfordert die Bewältigung dieser praktischen Aufgaben »eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den andern Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann«. (Marx/Engels 3: 69) Hier nun zeigt sich einerseits die gewaltige Aufgabe einer kritischen Bildungsarbeit, aber zugleich, dass diese Aufgabe allein als Bildungsarbeit nicht zu bewältigen ist: denn so wie die Umwälzung der bestehenden Produktionsverhältnisse allseitig entwickelte Individuen voraussetzt, die ein »Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution« haben, so setzt die Bildung allseitig entwickelter Individuen gesellschaftliche Verhältnisse voraus, in denen die Individuen die Gestaltung ihrer Lebensweise gemeinsam in die Hand und in Kontrolle nehmen können. Dies scheint ein auswegloser Zirkel zu sein, denn die herrschenden Produktionsverhältnisse veröden die schöpferischen Kräfte der Individuen, damit diese nur noch zur Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse fungieren, und die in ihrer Entwicklung eingeschränkten, sich ihrer gesellschaftlichen Potenz nicht bewussten Individuen müssen sich der kapitalistischen Produktionsweise einfügen, da es für sie keine andere Möglichkeit gibt, sich wenigstens in ihrem beschränkten Dasein zu erhalten. Die einzige Möglichkeit, diesen Zirkel zu durchbrechen, liegt – wie Marx bereits in der dritten These zu Feuerbach notiert – in der »revolutionären Praxis« selbst: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. […] Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.« (Marx 3: 5 f.) »Revolutionäre Praxis« meint dabei das Projekt des gemeinsamen Kampfes um die Neugestaltung des menschlichen Lebenszusammenhangs, der zugleich eine Neuformierung der Individuen in ihren menschlichen Beziehungen impliziert. 19 daß die Zukunft seiner Klasse und damit die Zukunft der Menschheit völlig von der Erziehung der heranwachsenden Arbeitergeneration abhängt. Er weiß, daß vor allem andern die Kinder und jugendlichen Arbeiter vor den verderblichen Folgen des gegenwärtigen Systems bewahrt werden müssen. Das kann nur erreicht werden durch eine Verwandlung gesellschaftlicher Einsicht in gesellschaftliche Gewalt«. 19 Siehe hierzu vor allem die Arbeiten von Heinz Joachim Heydorn: Über den Wider-
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Marx vertraut darauf, dass die Zuspitzung der Widersprüche in der kapitalistischen Produktionsentwicklung immer drückendere Lebensumstände und Erfahrungen hervorrufen und dass die zunehmende Einsicht in diese Widersprüche die Intellektuellen zur Parteinahme für die anstehende »menschliche Emanzipation« führen werde, so dass aus beidem eine revolutionäre Bewegung erwachsen kann. Diese ist erforderlich, da »sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden«. (Marx/Engels 3: 70) Um mit diesem Hinweis auf die Notwendigkeit einer revolutionären Umwälzung der gegenwärtig herrschenden Verhältnisse nicht Gespenster heraufzubeschwören, die die Menschen ängstigen, anstatt sie mit konkreter Hoffnung zu erfüllen, sei auf das Ziel einer in dieser Weise erfüllten Dialektik der geschichtlichen Entwicklung hingewiesen – wie es Marx in den Randglossen zum Gothaer Programm skizziert hat: Gemeinsam eine Gesellschaft »frei assoziierter Individuen« zu entwickeln, in der die gesellschaftliche Praxis nicht nur der Substanz nach, sondern auch wirklich durch die »bewußt planmäßige Kontrolle« der vereinigten Individuen zum übergreifenden »Subjekt« der gesellschaftlichen Praxis durch und für die produzierenden Subjekte geworden ist; eine Gesellschaft also, in der »die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist«; in der »die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden«; in der »mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«. (Marx 19: 21) 20 spruch von Bildung und Herrschaft (1970) und Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs (1972). 20 Marx (25: 828): »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der
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Eine solche Zielsetzung ist insofern kein utopischer Wunschtraum, als die prinzipiellen Bedingungen ihrer Möglichkeit in der gesellschaftlichen Produktion immer schon vorliegen, als die Bedingungen zu ihrer realen Verwirklichung durch die entwickelten materiellen und geistigen Produktivkräfte zunehmend gegeben sind und als die Notwendigkeit ihrer Erfüllung – bei Strafe eines totalen Zusammenbruchs unseres gesellschaftlichen Lebens – uns immer deutlicher bewusst wird. »Die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation« (Marx 23: 791). Damit nun diese Negation nicht die Selbstzerstörung des gesellschaftlichen Lebens ist, sondern die »bestimmte Negation« und Errichtung einer menschlichen Gesellschaft, bedarf es der bewussten revolutionären Praxis der vereinigten Produzenten. 21 Hoffnungsvoll schrieb Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: »Die Geschichte wird sie bringen, und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozeß durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, daß wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung [wissen] und ein sie überbietendes Bewußtsein erworben haben.« (Marx 40: 553) Wir wissen heute aus geschichtlicher Erfahrung, dass die revolutionäre Praxis der Veränderung der Menschen selbst und ihrer Verhältnisse einen noch weit rauheren und weitläufigeren Prozess vor sich hat, als es Marx vermuten konnte. Denn einerseits ist es den Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. […] Jenseits desselben [des »Reichs der Notwendigkeit«] beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« 21 Henri Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus (1973/1974: 131 f.): »Die Destruktion wird damit dem Kapitalismus inhärent, und zwar auf ganzer Linie. […] Und das Negative […] steht […] nicht mehr außerhalb des Prozesses, [… sondern] ist in den Prozess selber eingegangen.« (1973/1974: 109) »Diese Situation fordert ein globales und konkretes Projekt einer neuen, qualitativ anderen Gesellschaft. Dieses Projekt greift über die Forderungen, die sich auf die Arbeit beziehen und innerhalb des Raumes an den Arbeitsplätzen (den Produktionseinheiten) entstehen, ebenso weit hinaus wie über eine bloße Verbesserung der ›Lebensqualität‹. Ein solches Projekt läßt sich nur erarbeiten unter Mobilisierung aller Kräfte der Erkenntnis und der Phantasie. Grundsätzlich revidierbar, kann es sehr leicht scheitern, denn es verfügt taktisch über keinerlei gesellschaftliche Wirksamkeit und keinerlei politische Macht.«
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Staaten des fortgeschrittenen Kapitalismus gelungen, durch Verlagerung des Zentrums der Widersprüche in die Dritte Welt die materielle Verelendung der unmittelbaren Produzenten und die »intellektuelle Verödung« der Individuen so weit abzumildern, dass jedem kollektiven Widerstand die Massenbasis genommen ist und die Individuen in gesellschaftlicher Unmündigkeit gehalten werden können, andererseits hat der Staatsapparat des »realen Sozialismus« jegliche revolutionäre Praxis im Keim erstickt, so dass auch dort nicht die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« das Projekt ihrer allseitigen Entwicklung und der Neugestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens voranbringen können, sondern von der ihr fremden Macht der Staatsbürokratie auf ihre Funktion als gesellschaftliche Arbeitskräfte reduziert werden. 22
Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus (1977).
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VI. Die Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Natur
Eine erste modifizierende Ergänzung erfährt unsere Rekonstruktion der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx durch die Frage nach dem Verhältnis der gesellschaftlichen Praxis zur Natur – einem der umstrittensten Probleme innerhalb des Marxismus. Wäre mit der bisher dargelegten Dialektik der gesellschaftlichen Praxis als dem Übergreifenden in der Menschheitsgeschichte die Kernstruktur der Marxschen Praxisphilosophie bereits gänzlich umrissen, so müsste sie zu Recht mit Erich Heintel ein »extremer Geschichtsansatz« genannt werden, der allein auf einem »Aktivismus des schaffenden Begriffs« aufbaut – und von einem solchen Ansatz her könnte auch nicht mehr die Natur in ihrer Wirklichkeit philosophisch begriffen werden. 1 Es geht uns im Folgenden darum aufzuzeigen, dass Marx bei der Fundierung der Geschichte in der gesellschaftlichen Praxis keineswegs stehenbleibt, sondern diese selber – wenn auch nicht stringent entwickelt – dialektisch im übergreifenden Naturprozess fundiert begreift; was eine durchgängige Modifikation des bisher Dargelegten zur Folge hat. 2 Bevor wir jedoch dies aus den Darlegungen von Marx zur Natur näher zu belegen versuchen, sei das »Dilemma« des Marxismus (Heintel) in Bezug auf das Naturproblem kurz benannt: a) Hält man streng an der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis fest, so bleibt die Natur notwendig außerhalb dieser Dialektik; ledigErich Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie (1968), darin insbesondere § 44 »Natur bei Marx«. Zu Recht betont Heintel auf den Diamat oder Histomat bezogen, dass gerade die unterentwickelte »Reflexion auf das, was Natur ist, das mäßige fundamentalphilosophische Gesamtniveau des Marxismus mitverschuldet hat. Zwischen der Aufhebung der Natur in der Geschichte und ihrer vulgärmaterialistischen Verabsolutierung gibt es kaum Möglichkeiten, auf einigem Niveau zu philosophieren.« (Heintel 1968: 860) Vgl. Erich Heintel: Philosophie des Organischen in der DDR (1974). 2 Siehe zum gesamten Kapitel ausführlicher: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung). 1
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lich das theoretisch-praktische Verhältnis der Menschen zur Natur ist in das Übergreifende der gesellschaftlichen Praxis einbezogen. Die Natur selbst ist undialektisch, und je nach Einstellung des Interpreten wird sie als das schlechthin Gegebene oder das schlechthin Unbegreifbare aus der philosophischen Theorie ausgeklammert und allein den Naturwissenschaften zur Bearbeitung überlassen. b) Betont man dagegen stärker den Materialismus – und jeder Materialismus muss in der Materie, im Sein, in der Wirklichkeit das Primäre und Übergreifende anerkennen –, so verliert die gesellschaftliche Praxis notwendig ihre übergreifende Gestalt, sie wird zu einem spezifischen Moment im Naturprozess; damit verflüchtigt sich aber auch aller Anspruch auf Befreiung der »in Gesellschaft produzierenden Individuen« durch ihre eigene, bewusst gestaltete gesellschaftliche Praxis. Die zweite Version beginnt bereits mit Engels’ Manuskripten zur Dialektik der Natur, in denen Engels versucht, den dialektischen Materialismus der Gesellschaftsentwicklung linear im Naturprozess zu verankern. Er unterstreicht dabei die Einlinigkeit der NaturGeschichts-entwicklung, während er die »Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden« (Engels 20: 504) ansetzt. 3 Dieser Trend setzt sich dann unter stark darwinistischen Elementen in der Zweiten Internationale durch – insbesondere sei hier an Die materialistische Geschichtsauffassung (1927) von Karl Kautsky erinnert. Noch wesentlich simpler wird diese Version über Lenins Materialismus und Empiriokritizismus (1908) schließlich in Stalins Lehrsätzen Über dialektischen und historischen Materialismus (1938) zur Weltanschauung des sogenannten Sowjetmarxismus kodifiziert. 4 Mehr oder weniger streng wird diese Konzeption heute noch in der marxistisch-leninistischen Philosophie der Sowjetunion und in der DDR vertreten sowie in Westdeutschland von Hans Jörg Sand3 Die verbesserte Neuherausgabe von Engels’ Manuskripten zur Dialektik der Natur in: B. M. Kedrow (Hg.): Friedrich Engels über die Dialektik der Naturwissenschaften (1979), verstärkt sogar noch den einseitig naturwissenschaftlichen Begriff von Natur bei Engels. 4 Zu Kautsky siehe die vernichtende Kritik von Karl Korsch in: Die Materialistische Geschichtsauffassung (1924–32); zur Kritik an Lenin siehe Anton Pannekoek, Lenin als Philosoph (1938) und Bernd Rabehl: Marx und Lenin (1973); zum Sowjetmarxismus siehe Oskar Negt, Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie (1969).
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kühler. 5 Als Beispiel seien hier zentrale Stellen aus dem Artikel über »dialektisch-historischen Materialismus« des Marxistischen Wörterbuchs der Philosophie zitiert: »Die beiden grundlegenden Bestandteile des dialektischen Materialismus sind der Materialismus und die Dialektik, die sich wechselseitig durchdringen und eine untrennbare Einheit bilden. […] Der marxistische Materialismus ist die philosophische Theorie von der Materialität der Welt, vom Verhältnis von Materie und Bewußtsein; die marxistische Dialektik ist die philosophische Theorie vom Zusammenhang, von Bewegung und Entwicklung in der Welt.« 6 In diesen programmatischen Eingangssätzen wird zwar im Grunde nichts, bzw. nicht mehr ausgesagt als die Priorität der Materialität der Welt und ihrer Bewegtheit, aber die Art und Weise, wie hier über die Welt als Dingliches gesprochen wird, erinnert doch stark an den »abstrakt-naturwissenschaftlichen Materialismus«, »den Feuerbachschen mit eingerechnet«, über den Marx kritisch äußerte: »Er will das Bewußtsein über diese Tatsache etablieren, er will also, wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen, während es dem wirklichen Kommunisten darauf ankommt, das Bestehende umzustürzen.« (Marx/ Engels 3: 42) Der Gegensatz zwischen Marx und dem sogenannten Marxismus-Leninismus wird dort besonders deutlich, wo die praktischen Folgerungen aus diesem Dialektik- und Materialismus-Begriff gezogen werden. So heißt es im Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch: »Die Einsicht in die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des Denkens wird im dialektischen Materialismus als philosophische Grundlage der Politik der marxistisch-leninistischen Partei zu einem mächtigen ideellen Werkzeug zur praktischen Umgestaltung der Welt im Sinne des historischen Zieles der Arbeiterklasse, des Sozialismus und Kommunismus.« (Klaus/Buhr 1964/ 1972: 686) Abgesehen davon, dass die Ziele der Arbeiterklasse nicht genannt werden, dient ihre Beschwörung an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang nur zur Verschleierung der sozialtechnokratischen Übersetzung der linear materialistischen – man kann auch saVgl. Herbert Hörz: Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften (1974); Hans Jörg Sandkühler, Praxis und Geschichtsbewußtsein (1973). 6 Georg Klaus/Manfred Buhr (Hg.), Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch (1964/ 1972: 685) 5
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gen: simpel positivistischen – Theorie in eine technisch-manipulative Praxis. Hier wird nicht das Ziel postuliert, dass die Arbeiterklasse zum Subjekt ihrer eigenen revolutionären Praxis werde, sondern es sollen nur materialistisch ausgelegte natur- und gesellschaftswissenschaftliche Einzelerkenntnisse zur technischen Umgestaltung der Welt, der Natur ebenso wie der menschlichen Gesellschaft, genutzt werden. Es ist verständlich, dass dieser Degeneration der Marxschen Dialektik immer wieder marxistische Philosophen kritisch entgegengetreten sind. Um aber gerade die geschichtlichen und revolutionären Momente der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis zu retten, sahen sie sich genötigt, das Problem einer Dialektik der Natur auszuklammern und damit die Bearbeitung der Natur allein den Naturwissenschaften zu überlassen. So schreibt Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein: »Die Mißverständnisse, die aus der Engelsschen Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich darauf, daß Engels – dem falschen Beispiel Hegels folgend – die dialektische Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung des Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veränderung im Denken etc. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.« (Lukács 1923/1970: 63) Ähnlich kritische Eingrenzungen finden sich in der Philosophie der Praxis von Antonio Gramsci, dem jugoslawischen Praxis-Kreis, bei Jean Paul Sartre und in Teilen der »Kritischen Theorie« – hier besonders ausgeprägt bei Alfred Schmidt in seiner Dissertation Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (1962). Im Anhang zur zweiten Auflage schreibt Schmidt: »Natur erscheint immer nur im Horizont der Geschichte, die, emphatisch gesprochen, nur den Menschen zukommen kann. Geschichte aber ist zunächst und unmittelbar Praxis.« »Nur der Erkenntnisprozeß der Natur kann daher dialektisch sein, nicht sie selbst. Natur für sich ist jeder Negation bar. Diese taucht erst mit dem arbeitenden Subjekt in ihr auf. Nur zwischen Mensch und Natur ist ein dialektisches Verhältnis möglich.« (Schmidt 1962/1971: 203/205) 7 Treffend charakterisiert Erich Heintel: Die beiden Labyrinthe der Philosophie (1968) in einem Exkurs »Die Natur auf der Schaukel« das Verschaukeln der Natur bei Alfred Schmidt: »Von den Schwierigkeiten, die mit dem ›Begriff der Natur in der
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Diese Positionen markieren – kurz umrissen – die aporetische Situation im gegenwärtigen Marxismus. Lediglich Ernst Bloch hat im größeren Maßstab und grundsätzlich das Naturproblem im dialektisch-materialistischen Sinne von Marx aufgenommen und fortgedacht 8 – dazu später noch. Zunächst gilt es zu zeigen, dass Marx in all seinen Schriften seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, in denen er das Naturproblem gelegentlich thematisiert, über diese Aporie hinaus ist bzw. hinter sie zurückgeht. Die gesellschaftliche Produktion ist zwar das Übergreifende über sich und ihr Anderes, und dazu gehört auch die Natur als natürliche Lebensgrundlage der menschlichen Gesellschaft mit allen Möglichkeiten zu ihrer Umgestaltung, aber gleichzeitig und noch umfassender gilt, dass die gesellschaftliche Produktion als materieller Eingriff der Menschen in die Natur selbst Teil der Natur ist. Insofern ist der Naturprozess das Übergreifende über sich und sein total Anderes, die gesellschaftliche Produktion, und nur dort, wo diese materialistisch und dialektisch so aus der Natur begriffen wird, kann auch zu Recht vom dialektischen Materialismus gesprochen werden. Bewusst hatten wir vorher im Kapitel zur Dialektik der gesellschaftlichen Praxis aus dem Zusammenhang der Ausführungen von Marx über den Arbeitsprozess als dem Übergreifenden über sich und die Natur jenen Satz ausgeklammert, der von der Arbeit als Prozess zwischen Mensch und Natur sagt: »Er tritt dem Naturstoff selbst als Lehre von Marx‹ zusammenhängen, legt die diesen Titel tragende Monographie von Alfred Schmidt […] ein aufschlußreiches Zeugnis ab, indem sie die Veränderung des Reflexionsmediums durch Marx so weit mitmacht, daß die einschlägigen Probleme der Natur gar nicht mehr in Sicht kommen.« Durch ein Zusammentragen der unterschiedlichsten Äußerungen zum Problem der Natur aus den Schriften von Marx »hat sich Schmidt ein Schaukelsystem konstruiert, das man jeweils nach der einen oder anderen Seite schwingen lassen kann«, so dass die Natur als philosophisches Problem verschwindet (Heintel 1968: 855 ff.). 8 Zu nennen wären hier auch noch die Arbeiten von Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964); Karel Kosik, Dialektik des Konkreten 1967); Henri Lefebvre: Der dialektische Materialismus (1940). Für die adäquate Aufarbeitung des Naturproblems bei Marx spielt die positive Rezeption der Naturphilosophie Schellings eine entscheidende Rolle. Friedrich Engels hat sich nur auf die Naturphilosophie Hegels rückbezogen, die selbst bereits eine schematische Erstarrung des dynamischen Naturprozesses, wie ihn Schelling entwickelt, darstellt. Zur positiven Rezeption von Schellings Naturphilosophie siehe Ernst Bloch, Das Materialismusproblem (1972) sowie Maurice Merleau-Ponty, »Der Naturbegriff« (1975), Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung) sowie Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014).
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eine Naturmacht gegenüber.« (Marx 23:192) 9 Den hierin anklingenden doppelten dialektischen Bezug der gesellschaftlichen Produktion zur Natur bei »Priorität der äußeren Natur« (Marx/Engels 3: 44) hat Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten dargelegt: »Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen; indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut.« (Marx 40: 517) Aber gleichzeitig gilt: »Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« (Marx 40: 516) 10 Es ist klar, dass dieser doppelte Bezug, in dem die gesellschaftliche Arbeit zur Natur steht – einmal als Übergreifendes über den Aneignungs- und Umgestaltungsprozess der Natur und zum anderen als gegensätzliches Moment im übergreifenden Naturprozess – eingehender Untersuchungen und Darlegungen bedarf. Denn die Dialektik wird in beiden Bezügen unterschiedlich zugängig: In der menschlichen Geschichte, wo die gesellschaftliche Arbeit bei Einklammerung des anderen Bezugs allein als Übergreifendes in Erscheinung tritt, ist ihre Darstellung »leichter zu liefern« – wie Marx im Kapital anmerkt – »da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben«. (Marx 23: 392 f.). Wo hingegen die Dialektik der Natur in Frage steht, wird es insofern schwieriger, als das Übergreifende des Naturprozesses immer nur an Zum dialektischen Verhältnis von gesellschaftlicher Produktion und Natur siehe vor allem die weitgehend unbekannten Arbeiten von Karl August Wittfogel aus den Jahren 1929 bis 1932: »So steht der Mensch, als ihr Teil, mitten in der Natur. Als aktives Element, als ein auf eine ganz spezifische Art aktives Element steht er ihr, der ihn umgebenden Natur, zugleich sich auf dem Wege des Arbeitsprozesses ständig mit ihr auseinandersetzend, gegenüber.« (Wittfogel 1929: 506); vgl. auch Max Adler, Natur und Gesellschaft (1964). 10 Noch deutlicher sagt dies Marx in Die heilige Familie (Marx/Engels 2: 49): »Die Materie selbst hat der Mensch nicht geschaffen. Er schafft sogar jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter der Voraussetzung der Materie.« 9
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seinem und durch sein Anderes, die gesellschaftliche Arbeit, greifbar wird, und zwar durchaus in dem doppelten Sinne, dass die Natur inhaltlich nur durch die geistige wie materielle Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur – also daher nicht in ihrem übergreifenden Wirken – bestimmbar und dass ihr übergreifendes Wirken wiederum nur in der materiellen Potenz der gesellschaftlichen Arbeit – also gerade an seinem Anderen – offenbar wird. Marx hat sich nur der ersten Aufgabe, der Darstellung des Übergreifenden der gesellschaftlichen Arbeit, bei Einklammerung der zweiten, zugewandt. Aber er hat an sehr vielen verstreuten Stellen seines Gesamtwerks immer wieder Bezug genommen auf das Übergreifende der Natur – es sei hier nur eine Stelle für viele aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten herangezogen: »Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. […] Sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens.« (Marx 40: 577) An solchen Stellen wird deutlich, dass Marx sich der Komplexität der doppelten dialektischen Bestimmung durchaus bewusst ist, dass die gesellschaftliche Arbeit, obwohl ›Schöpferin‹ der menschlichen Geschichte und ›Gestalterin‹ der Natur für die Menschen, gleichwohl Teil der Natur ist, und dass sie, obgleich sie die Natur künstlich um- und umformt, ja sogar zu negieren versucht, trotzdem auch hierin dialektisches Moment der sich selbst produzierenden Naturtotalität bleibt. Die Rückbezüge auf Schellings Naturphilosophie sind hier unverkennbar. 11
Zum Begriff der »ursprünglichen Produktivität der Natur« siehe insbesondere Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799). Vgl. Werner Hartkopf, Die Dialektik in Schellings Ansätzen zu einer Naturphilosophie (1972); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinanderset-
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Die Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Natur
Innerhalb des Marxismus ist es einzig und allein Ernst Bloch, der den doppelten dialektischen Bezug der gesellschaftlichen Arbeit zur Natur im Marxschen Sinne aufgenommen und der im kritischen Rückbezug auf die dialektischen und materialistischen Ansätze bei Schelling »das Problemgebiet einer dialektischen Vermittlung des Menschen und seiner Arbeit mit dem möglichen Subjekt der Natur« (Bloch, Prinzip Hoffnung 1959/1967: 1383) 12 weiterdiskutiert hat: »Wie der Marxismus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken, sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgänge vordringt, die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd.« (Bloch 1959/1967: 787) 13 Dies bedeutet eine dialektische Aufhebung des neuzeitlichen Naturverständnisses und impliziert eine noch zu leistende materialistisch-dialektische »Kritik der Naturwissenschaften«, wie sie sich bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von Marx andeutet – eine Stelle, die meist als Hinweis auf seinen »heimlichen Positivismus« (Wellmer und ebenso Habermas) 14 missverstanden wird: »Nur […] – […] wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht –, ist sie wirkliche Wissenschaft. Damit der ›Mensch‹ zum Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und das Bedürfnis des ›Menschen als Menschen‹ zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschichte die Vorbereitungs-Entwicklungsgeschichte. Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft [allerdings nicht die subjektlos-abstrakte] wird später ebensowohl die Wissenschaft von
zung mit Kant, Fichte und Hegel (1996) sowie Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015). 12 Siehe auch Ernst Bloch, Das Materialismusproblem (1972: 211 ff.) und Leipziger Vorlesungen, 4 Bde. (1950–56/1985, IV: 189 ff.). 13 Zu Blochs Naturbegriff siehe Helmut Reinicke, Materie und Revolution (1974); Hans Heinz Holz, Logos spermatikos (1975) und vor allem die vom Sozialistischen Büro herausgegebene Diskussion der ersten Tübinger Bloch-Tage, Marxismus und Naturbeherrschung (1979).Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Natur« (1986). 14 Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus (1969); Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976)
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dem Menschen, wie die Wissenschaft von den Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.« (Marx 40: 543 f.) Er reicht aber nicht aus, nur eine theoretische Korrektur im Naturverständnis vorzunehmen, die die Notwendigkeit einer ›Kritik der Naturwissenschaften‹ auf ein dialektisches Naturverständnis hin sichtbar macht, in das auch die gesellschaftliche Produktion dialektisch einbezogen ist, sondern die Korrektur hat durchgängig Konsequenzen für die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In diesem Sinne kritisierte Marx bereits den Ausgangspunkt des Gothaer Programms der sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1875, das mit dem Satz beginnt: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur.« Marx korrigiert: »Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben.« (Marx 19: 15) Marx selber hat in seinen Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie durchgängig dieser Naturbasis der gesellschaftlichen Produktion Rechnung getragen, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die Natur der menschlichen Arbeit als Gegenstand der Bearbeitung zu Grunde liegt, sondern auch darin, dass die menschliche Produktion selber dialektisches Moment des Naturprozesses ist: »Der Mensch selbst, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ist ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch lebendiges, selbstbewußtes Ding, und die Arbeit selbst ist dingliche Äußerung jener Kraft.« (Marx 23: 217) Aber all dies ist nur die eine Seite der Problematik: die Aufdeckung der prinzipiellen Naturgebundenheit der gesellschaftlichen Praxis schlechthin, die Darstellung der grundsätzlichen Bezogenheit der gesellschaftlichen Arbeit auf die Natur »in ihrer stofflichen Substanz«. Dabei bleibt aber die geschichtlich-konkrete Beziehung der Menschen zur Natur »in deren gesellschaftlicher Formbestimmtheit« (Marx 25: 833) unberücksichtigt, d. h. für unsere Zeit: es bleibt der industrielle Umgang der kapitalistischen Produktionsweise mit der 153 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Natur auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnisse noch völlig aus der Betrachtung ausgeklammert. Nun wird immer wieder mit Verweis auf verstreute Äußerungen von Marx behauptet, dass Marx – darin ein Kind seiner Zeit – Naturwissenschaft und Industrie linear positivistisch aufgenommen habe, wie sie sich selber verstanden und gaben, d. h. in der Selbstverständlichkeit ihres positiven Wissens von den Gesetzen der Natur, das sich in der technischen Praxis der industriellen Produktion so prächtig bewährte. Und es wird weiter behauptet, dass erst Georg Lukács, der bekanntlich mit der Problematik einer Dialektik der Natur nichts anzufangen wusste, den doch absonderlichen Gedanken aufgebracht habe, dass die wissenschaftliche Rationalität selber einer gesellschaftlichen Formbestimmtheit unterliegt, also in ihrer methodischen Form – und damit bereits in ihren Erkenntnissen, nicht erst in deren Anwendung – bestimmt ist von der Verkehrtheit der kapitalistischen Produktionsweise. Nun lässt sich sehr leicht an den Aussagen von Marx zu Naturwissenschaft und Industrie aufweisen, dass er alles andere als ein »geheimer Positivist« (Habermas) war, sondern dass er – ganz im Sinne von Lukács – Ansätze zu einer radikalen Kritik der wissenschaftlichen Rationalität und der Technik in ihrer entfremdeten, neuzeitlich-kapitalistischen Formbestimmtheit vorgebracht hat. 15 Es sei hierzu zunächst eine Stelle aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten zitiert, da sie – wenn auch in einer später nicht mehr gebrauchten Begrifflichkeit – das kritische Verhältnis von Marx zu Naturwissenschaft und Technik in ihrer bestehenden Form, bei gleichzeitiger Anerkenntnis ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung, klar ausspricht: »Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte […] ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußeren Nützlichkeitsbeziehung gefasst wurde, weil man – innerhalb der Entfremdung sich bewegend – nur das allgemeine Dasein des Menschen […] als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche GatWesentlich fortgeführt hat diesen Gedanken Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit (1970) und Warenform und Denkform (1978); vgl. auch Hans Dieter Bahr: Kritik der »Politischen Technologie« (1970) sowie Christine Woesler: Für eine be-greifende Praxis in der Natur (1978).
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tungsakte zu fassen wusste. In der gewöhnlichen, materiellen Industrie […] haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung [!], die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns. […] – Die Naturwissenschaften haben eine enorme Tätigkeit entwickelt und sich ein stets wachsendes Material angeeignet. Die Philosophie ist ihnen indessen ebenso fremd geblieben, wie sie der Philosophie fremd blieben […]. Aber desto praktischer hat die Naturwissenschaft vermittelst der Industrie in das menschliche Leben eingegriffen und es umgestaltet und die menschliche Emanzipation vorbereitet, sosehr sie unmittelbar die Entmenschung vervollständigen mußte [!]. Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefaßt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung [!] verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon – obgleich in entfremdeter Gestalt [!] – zur Basis des wirklich menschlichen Lebens geworden ist, und eine andre Basis für das Leben, eine andre für die Wissenschaft ist von vornherein eine Lüge. Die in der menschlichen Geschichte – dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft – werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, wenn auch in entfremdeter Gestalt [!] wird, die wahre anthropologische Natur ist.« (Marx 40: 542 f.) Diese Stelle zeigt – obgleich hier nicht alle Nuancen herausgearbeitet werden können – doch sehr deutlich auf, dass Marx zwar einerseits »Naturwissenschaft und Industrie« als die geistige und materielle Produktivkraft der Menschen, die als solche zugleich menschliche Naturkraft ist, würdigt, andererseits jedoch gleichzeitig keinen Zweifel daran lässt, dass diese Produktivkraft unter den bestehenden Produktionsverhältnissen selbst einer Entfremdung in ihrer Formbestimmtheit unterliegt, die in ihrer Unterordnung unter »äußere Nützlichkeitsbeziehung« »unmittelbar die Entmenschung vervollständigen« muss. Nun ist Marx keineswegs dabei stehengeblieben, Naturwissenschaft und Technik in ihrer gegenwärtigen Form nur ganz allgemein als entfremdete zu behaupten, sondern er hat immer wieder – wiewohl nicht systematisch durchgängig – aufgezeigt, dass und wie die 155 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Produktivkräfte in ihrer entfremdeten Formbestimmtheit in »Destruktivkräfte« umschlagen, und zwar nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegen die Natur. 16 So spricht Marx im Kapital ganz ausdrücklich davon, dass die gesellschaftlichen Produktivkräfte in ihrer gegenwärtigen Verkehrtheit nicht nur die Ausbeutung und die Negation der gesellschaftlichen Arbeit und der Arbeiter beinhalten, sondern auch die Negation und Ausbeutung der Natur: »Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (Marx 23: 529 f.) An dieser und an ähnlichen Stellen nähert sich Marx der hochaktuellen Einsicht, dass die gesellschaftliche Arbeit, Praxis, Produktion in ihrer entfremdeten Form nicht nur Negation ihrer selbst als gesellschaftliche Praxis, sondern auch der Natur ist, dass die Macht der vergegenständlichten Arbeit nicht nur die sie selbst substantiell übergreifende lebendige Arbeit und Praxis der Menschen bedroht, sondern darüber hinaus auch noch die die gesamte gesellschaftliche Produktion substantiell übergreifende Natur ruiniert. Nicht in der Weise, dass sie die Natur in ihrer kosmischen Totalität treffen könnte, wohl aber, dass sie die gegenwärtige Gesellschaft, die Menschheit, das Leben, die Erde zugrunde richten kann. Es maßt sich das von der Siehe Die Deutsche Ideologie (Marx/Engels 3: 69): »In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktivkräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktivkräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld)«. Bereits 1843 in Zur Judenfrage schreibt Marx (1: 375): »Die Anschauung, welche unter der Herrschaft des Privateigentums und des Geldes von der Natur gewonnen wird, ist die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur.«
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Natur substantiell übergriffene Moment der gesellschaftlichen Produktion übergreifende Gewalt über die Natur an und gerät dadurch in einen Selbstwiderspruch, der bei seiner ständigen bewusstlosen Steigerung zur Zerstörung aller natürlichen Lebensgrundlagen anwachsen kann. 17 Wie nahe Marx gerade durch die doppelte dialektische Fassung des Verhältnisses der gesellschaftlichen Praxis zur Natur an diese sehr aktuelle Problemstellung herangekommen ist, lässt sich an einer Textstelle der Grundrisse diskutieren, die als Belegstelle auch von jenen herangezogen wird, die Marx zum heimlichen oder ausgesprochenen Positivisten umstilisieren wollen. Der zentrale Teil der Textstelle lautet: »Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des Konsums, sei es als Mittel der Produktion zu unterwerfen.« (Marx 42: 323) Verfolgen wir zunächst, was die Interpreten jener beiden sich aporetisch entgegenstehenden Lager aus dieser Textstelle gemacht haben. Alfred Schmidt deutet sie unter Hinzunahme der FeuerbachKritik von Marx in der Deutschen Ideologie so: »Wenn Marx hier an Feuerbach und den seitherigen Materialisten auszusetzen hat, daß sie die Natur als feste Gegebenheit und Erkenntnis als abbildenden Spiegel betrachten, so heißt das ökonomisch, daß der Materialismus dem geschichtlichen Übergang von agrarischer zu industrieller Produktion nicht Rechnung getragen und sich an gesellschaftlichen Verhältnissen orientiert hat, unter denen die Erde noch ›als von Menschen unabhängiges Naturdasein anerkannt‹ wird. Feuerbach verkennt, daß inzwischen die Natur ›rein Gegenstand für den Menschen‹ geworden ist. Längst hat sie aufgehört, ›als Macht für sich anerkannt zu werden‹. Indem mit der beginnenden Neuzeit die Natur immer mehr zum Moment gesellschaftlicher Tätigkeiten herabgesetzt wird, wandern die Bestimmungen der Objektivität stufenweise ins Subjekt ein. […] Die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt ist für Marx sinnvoll Vgl. Elisabet und Tor Inge Romøren, Marx und die Ökologie (1973); siehe auch Andre Gorz, Ökologie und Politik (1977); Roger Garaudy, Das Projekt Hoffnung (1977); Wolfgang Methe, Ökologie und Marxismus. Ein Neuansatz zur Rekonstruktion der politischen Ökonomie unter ökologischen Krisenbedingungen (1981); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984).
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nur insoweit sie ein menschliches ›Erzeugnis‹ ist [!]. Wir wissen erst wirklich, was ein Naturding ist, wenn wir die Gesamtheit der industriellen naturwissenschaftlich-experimentellen Veranstaltungen kennen, die es herzustellen gestatten [!].« (Schmidt 1962/1971: 123 f.) Alfred Schmidt interpretiert also die Aussage von Marx als eine positive und prinzipielle Beschreibung des Übergangs und Fortschritts zur Neuzeit, in der nicht länger die Natur als vom Menschen unabhängige Kraft mythologisiert zu werden braucht, sondern »rein Gegenstand für den Menschen geworden ist«, denn gerade durch die theoretischen und praktischen Kräfte des Menschen, die Naturwissenschaft und die Industrie, wird allererst objektive und positive Erkenntnis und Beherrschung der Natur möglich – Schmidt fasst also die Stelle als positive Äußerung von Marx über die neuzeitlichen Naturwissenschaften und die industrielle Technik. Dieser Interpretation antwortet nun Friedrich Tomberg: »So existiert für Schmidt-Marx lediglich die Menschenwelt, und es existieren Beziehungen dieser Menschenwelt zu Dingen, die als außer ihr an sich selbst bestehende gar nicht in Erscheinung treten und daher auch gar nicht vorhanden sind. […] Schmidt hat diese original wörtlichen Marx-Weisheiten aus den ›Grundrissen‹ geschöpft. Wir schlagen nach und erfahren, daß Marx an besagter Textstelle das spezifische Verhalten des Kapitals beschreibt, das sich der an sich vorhandenen Natur gegenüber in einer bestimmten Weise verhält; diese Natur wird nämlich, wie Marx hinzufügt, für den Kapitalisten ›rein Sache der Nützlichkeit‹. Marx fährt fort – und das zitiert Schmidt nicht mehr –: ›und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des Konsums, sei es als Mittel der Produktion zu unterwerfen‹. Kein Zweifel an den ›selbständigen Gesetzen‹ der Natur und der Möglichkeit ihrer ›theoretischen Erkenntnis‹. Im Gegenteil: Diese letztere ist vielmehr die Voraussetzung dafür, daß dem Kapitalisten die Natur rein Gegenstand für seine Zwecke werden kann. Alfred Schmidt hingegen nimmt die ›List‹ des Kapitals für die Sache selbst. Man kann sich, das besagt gerade der von Schmidt herangezogene Marx-Text, gegenüber der Natur – und zwar selbstredend innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis – ›beobachtend‹, ›anschauend‹ und dann natürlich die Beobachtung im Experiment überprüfend – verhalten und dabei selbständige, d. h. der objektiven Realität inhärente Gesetze erkennen. Für Marx eröffnet sich hier die Möglichkeit des Sozialismus, denn wenn man die objek158 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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tiven gesellschaftlichen [!] Gesetze erst erkannt hat, muß die Gesellschaft ihrem blinden Wirken nicht mehr ausgeliefert sein, sondern die Menschen können sie zu selbstgesetzten Zwecken anwenden [!]« (Tomberg 1976: 405 f.) – etwa so listig wie die Kapitalisten? Tomberg beginnt mit der richtigen Klarstellung, dass Marx in der interpretierten Textstelle keine positive Aussage, sondern eine Darstellung des kapitalistischen Verhältnisses zur Natur gibt, aber indem er weiterhin unterstellt, dass Marx natürlich keinen anderen als einen positiven Begriff von den neuzeitlichen Wissenschaften gehabt haben kann, missrät ihm seine Interpretation nicht nur zu einem materialistischen Positivismus, sondern er zieht daraus noch ganz naiv praktisch-gesellschaftliche Konsequenzen, durch die der Sozialismus auf die sozialmanipulative Ausnutzung erkannter Gesetzmäßigkeiten reduziert wird, also auf die List des Kapitals bzw. die des Staatsbürokratismus. Wir müssen uns nun selber der Interpretation dieser Textstelle im Kontext der Ausführungen von Marx zuwenden. Der Abschnitt beginnt mit der Feststellung der Ausbeutung aller natürlichen und menschlichen Kräfte durch das Kapital, das sich hierfür der Wissenschaften bedient: »Wie also die auf das Kapital gegründete Produktion einerseits die universelle Industrie schafft […], so anderseits ein System der allgemeinen Exploitation der natürlichen und menschlichen Eigenschaften, ein System der allgemeinen Nützlichkeit, als dessen Träger die Wissenschaft selbst so gut erscheint, wie alle physischen und geistigen Eigenschaften, während nichts als An-sich-Höheres, Für-sich-selbst-Berechtigtes, außer diesem Zirkel der gesellschaftlichen Produktion und Austauschs erscheint.« (Marx 42: 323) Es geht aus dem Textzusammenhang völlig eindeutig hervor, dass die Aussage, »die Natur« werde »rein Gegenstand für den Menschen« in kritischer Absicht die vom Kapital bestimmte naturwissenschaftlich-industrielle Ausbeutung der natürlichen und menschlichen Kräfte beschreibt. So ist also diese Textstelle alles andere als eine positive Verherrlichung verdinglichter Produktivkraftentwicklung, des naturwissenschaftlich-industriellen Fortschritts unter kapitalistischem Kommando, sondern im Gegenteil die Aufdeckung der in ihr liegenden Exploitation aller »Natur- und Geisteskräfte«. Deshalb heißt es im selben Absatz weiter: 18 »Das Kapital […] ist destruktiv gegen alles Wobei Marx hier auch vorkapitalistische Verhaltensweisen und Weltbilder nennt, gegen die sich das Kapital ebenfalls »destruktiv« verhält. Zur Diskussion dieses Prob-
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dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die Entwicklung der Produktivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannigfaltigkeit der Produktion und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen.« (Marx 42: 323) Verallgemeinernd zusammengefasst besagen die Ausführungen also, dass Naturwissenschaft und Industrie in ihrer Bestimmtheit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise »die Natur« rein zu einer »Sache der Nützlichkeit« für den kapitalistischen Verwertungszusammenhang machen, die daher für sie aufhört, »als Macht für sich anerkannt zu werden«, so dass Naturwissenschaft und Industrie als Momente der gesellschaftlichen Produktion, als geistige und materielle Produktionskräfte, sich übergreifend verhalten über sich und die Natur in ihrer Wirklichkeit. Darüber hinaus lässt Marx keinen Zweifel daran, dass diese Negation des Übergreifens der Natur über sich und die gesellschaftliche Produktion durch das fortschreitende Übergreifen von Naturwissenschaft und Industrie einen zunehmenden Widerspruch erzeugt, der nicht anders als durch eine Negation der Negation aufgehoben werden kann; denn Naturwissenschaft und Industrie können als Instrument des Kapitals zwar in der Formbestimmung (»ideell«), niemals aber der Substanz nach (»real«) das Übergreifende sein: 19 »Daraus aber, daß das Kapital jede solche Grenze als Schranke setzt und daher
lems sowie zu den subversiven Potenzen vorkapitalistischer Lebenspraxis, die eine revolutionäre Bewegung zu beerben hat, siehe Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935). 19 In einem bisher noch nicht vollständig veröffentlichten Manuskript, teilweise mitgeteilt durch Jürgen Jungnickel (1975) schreibt Marx (in Manuskriptpaginierung 1261 ff.): »Die Anwendung der natural agents – gewissermassen ihre Einverleibung in das Capital – fällt zusammen mit der Entwicklung der Wissenschaft, als eines selbständigen Factors des Productionsprocesses. […] Erst die capitalistische Productionsweise macht die Naturwissenschaften dem unmittelbaren Productionsproceß dienstbar, während umgekehrt die Entwicklung der Production die Mittel zur theoretischen Unterwerfung der Natur liefert. […] Das Capital schafft die Wissenschaft nicht, aber es exploitiert sie, eignet sie dem Productionsproceß an. Damit zugleich Trennung der Wissenschaft, als auf die Production angewandter Wissenschaft von der unmittelbaren Arbeit. […] Die Wissenschaft erscheint als der Arbeit fremde, feindliche und sie beherrschende Potenz gegenüber ihrer Anwendung […] – ihre Anwendung beruht ganz so auf der Trennung der geistigen Potenzen des Processes von dem Wissen, Kenntniß und Geschick des einzelnen Arbeiters.« Vgl. auch Grundrisse (Marx 42: 592 f., 599 f.).
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ideell darüber weg ist, folgt keineswegs, daß es sie real überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. Noch mehr. Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.« (Marx 42: 323 f.) Streng auf die Naturproblematik bezogen heißt dies, dass die durch das Kapital bestimmte, in der naturwissenschaftlich-technischen Ausbeutung der Naturkräfte liegende Negation der wirklichen Natur in einen zunehmenden wirklichen Widerspruch mit sich selbst gerät, da sie sich ihre eigene Lebensgrundlage in der Natur entzieht. Ihr übergreifendes Verhalten gegenüber der Natur, das dieser keine eigene Wirklichkeit außer ihrer naturwissenschaftlich-technischen Beherrschung mehr zuerkennen will, negiert gerade die Natur als das wirklich Übergreifende, aus dem auch die gesellschaftlichen Produktivkräfte als wirkliche Kräfte selber leben. Dieser Widerspruch der sich autonom und übergreifend gebärdenden geistigen und materiellen Produktivkräfte in Naturwissenschaft und Technik gegenüber der wirklichen Natur nimmt so weit zu, bis das Kapital und mit ihm Naturwissenschaft und Technik, d. h. die gesellschaftlichen Produktivkräfte in ihrer entfremdeten Form, »selbst als die größte Schranke dieser Tendenz« erkannt werden »und daher zu [ihrer] Aufhebung durch [sie] selbst hintreiben«, d. h. also durch die bewusste gesellschaftliche Praxis der vereinigten Produzenten in ihrer Entfremdung überwunden werden. Ganz im Gegensatz zur Interpretation von Alfred Schmidt und Friedrich Tomberg verherrlicht Marx weder den gegenwärtigen Zustand, in dem die »Natur ganz Gegenstand für den Menschen«, also Gegenstand seiner Willkür, die sich selbst nicht mehr aus der Natur begreift, geworden ist, noch feiert er die gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und den technischen Umgang mit der Natur als die wahre Einsicht und Einordnung in einen gegebenen Gesetzeszusammenhang, sondern er anerkennt Naturwissenschaft und Technik als die geistigen und materiellen gesellschaftlichen Produktivkräfte in der entfremdeten und verkehrten Form der Negation nicht nur gegenüber der lebendigen menschlichen Arbeit und Praxis, sondern auch und darüber hinaus gegenüber der lebendigen Natur, zu 161 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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der in letzter Instanz die menschlichen Kräfte als wirkliche ebenfalls gehören. Marx hat die destruktiven Tendenzen, die in der kapitalistisch bestimmten naturwissenschaftlich-technischen Form der gesellschaftlichen Produktivkräfte liegen, partiell erkannt und verschiedentlich auch sehr drastisch ausgesprochen, 20 aber ihre totale Zerstörungstendenz, wie sie uns heute immer bewusster wird, konnte er noch nicht vorausahnen. Deshalb ist es von ihm her gesehen – d. h. für die damalige Zeit – konsequent, dass er glaubt, sich fast ausschließlich der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis in der Geschichte zuwenden zu können und zu müssen; denn wird erst einmal die gesellschaftliche Praxis in die bewusste Gestaltung der »frei assoziierten Produzenten« genommen, so wird sich auch das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur ändern – das meint ja auch jene Stelle aus den Ökonomischphilosophischen Manuskripten, in der Marx die »Resurrektion der Natur« anspricht: »Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen […]. Also die [befreite] Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.« (Marx 40: 536 ff.) Für Marx ist das soziale Problem das brennendste, ihm ordnet er das Naturproblem ein. Von ungebrochenem Vertrauen in die notwendige Gesetzlichkeit der Dialektik gesellschaftlicher Praxis durchdrungen, konnte Marx deshalb auch sagen: »Die kapitalistische Produktionsweise erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation.« (Marx 23: 791) Denn trotz der Einsicht in die »lange und qualvolle Entwicklungsgeschichte«, die uns bis zur Errichtung einer Gesellschaft »als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle« (Marx 23: 94) bevorsteht, gibt es für Marx keine andere Möglichkeit als die, dass sich die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis der bewusst vereinigten MenMarx, Theorien über den Mehrwert (26/3: 303): »Antizipation der Zukunft – wirkliche Antizipation – findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion«; vgl. auch (Marx 23: 528 und 25: 826).
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schen irgendwann in der Geschichte erfüllen muss. Die Gewissheit, von der Marx ausgeht, ist die Gewissheit der praktisch-notwendigen Gesetzlichkeit der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis selbst, denn die gesellschaftliche Praxis kann nur zu sich selber kommen durch den revolutionären Umsturz der entfremdeten Verhältnisse, die sie selbst naturwüchsig hervorgebracht hat und die sie fremdbestimmen. 21 Natürlich kann die kapitalistische Produktionsweise noch lange und zäh sich am Leben erhalten, ja, es kann sogar Krisen geben, die den Kapitalismus ruinieren, ohne dass es zu einer bewussteren, menschlicheren Gesellschaft kommt; dann beginnt – wie Marx und Engels formulieren – die »ganze alte Scheiße« (Marx/Engels 3: 35) wieder von vorne, aber dies sind nur Verzögerungen in der »langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte«, jedoch keine Alternative zu der prinzipiell notwendigen Aufhebung ihrer bisherigen Verkehrtheit durch die revolutionär bewusste gesellschaftliche Praxis der »frei assoziierten Produzenten«; dies ist das dialektisch notwendige Ziel, das wir über den qualvollen Weg hinaus bereits vorweg wissen. Heute haben wir diese Gewissheit nicht mehr, dass sich die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis notwendig erfüllen werde, wir wissen vielmehr, dass die Negation der Negation als bestimmte Aufhebung in eine Gesellschaft der frei vergesellschafteten Produzenten nicht mit Notwendigkeit erreicht werden muss, da vorher schon die Negation der Naturkräfte durch die gegenwärtige naturwissenschaftlich-technische Produktion, wie sie die kapitalistischen und real-sozialistischen Staaten beherrscht, uns die natürliche und damit auch
Überall dort, wo Marx in den Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie von der »Gesetzmäßigkeit eines Naturprozesses« über die Gesellschaftsentwicklung spricht, ist durchweg nicht eine Reduktion auf den neuzeitlichen Naturgesetzbegriff gemeint. Entweder apostrophiert er so die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit, die sich in den strukturgesetzlichen Bahnen kapitalistischer Produktionsverhältnisse fortentwickelt – z. B. mitwirkt an einem sich selbst und ihre Glieder zugrunde richtenden Wachstum –, oder er bezeichnet damit die dialektische praktische Notwendigkeit, mit der nur über die revolutionäre Umgestaltung ihrer Praxis die frei assoziierten Produzenten zu einer bewusst gesellschaftlichen Produktion ihres Lebenszusammenhangs kommen können. In diesem Sinne schreibt Marx im Vorwort zum Kapital – einer häufig missverstandenen Stelle – (Marx 23: 15 f.): »Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.«
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gesellschaftliche Lebensgrundlage entzogen haben kann. D. h. was Marx nicht zu Ende zu denken vermochte, ist für uns in greifbare, lebensbedrohende Nähe gerückt: die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlage schreitet schneller voran als die »Einsicht« und die aus ihr erwachsende Parteinahme für eine revolutionäre Umgestaltung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. 22 Durch diese verschärfte dialektische Problemlage ist zwar die Gewissheit der Erfüllung der Dialektik gesellschaftlicher Praxis gebrochen, aber umso dringender unsere Parteinahme für eine Gesellschaft frei vergesellschafteter Individuen gefordert, für eine Gesellschaft, die auch ihr produktives Verhältnis zur Natur dialektisch neu aus der Totalität des Naturprozesses bestimmt. Umso dringender steht heute neben der Kritik der politischen Ökonomie eine Kritik der Naturwissenschaft und Industrie auf der Tagesordnung. Denn die Gefahr droht von Naturwissenschaft und Industrie als Instrumenten des Kapitals, denn sie gebärden sich wie das Übergreifende über sich und die Natur und betreiben dabei bewusstlos die Negation der lebendigen Natur, womit sie die substantielle Lebensgrundlage der Menschen ideell leugnen und materiell ruinieren. Auf ihre Agenten trifft zu, was Erich Heintel über die machtbesessenen und -besitzenden »Doktrinäre der Ideologie« aussagt: »Unbewältigte Tradition führt zu Maßstablosigkeit, diese zu Kurzschlüssen der Motivation, diese wiederum zur Macht der ›terribles simplificateurs‹. Diese Macht wird aber dann zu einer geradezu ›eschatologischen‹ Gefahr, wenn in ihre Hände die Möglichkeit der totalen Vernichtung der Menschheit
22 Siehe Ulrich Hampicke, Kapitalistische Expansion und Umweltzerstörung (1975: 796). Obwohl Hampicke die gegenwärtige Problemlage sehr gut erkennt – »Die Gesellschaft befindet sich auf einem Kollisionskurs mit physischen Grenzen, der deshalb ernst zu nehmen ist, weil hier nicht wie bei anderen Umweltproblemen Substitutionsmöglichkeiten offenstehen« –, glaubt er doch, mit einer – von Marx nicht so gemeinten – rechtzeitigen Einsicht und Umkehr der Einsichtigen rechnen zu können: »Eine mechanistische Selbstzerstörungstheorie des Kapitalismus aus Gründen physischer Begrenzung ist abzulehnen. Die physischen Begrenzungen und die abzusehende Kollision zwischen ökologischen Restriktionen und systemnotwendiger Expansion des Kapitalismus werden vielmehr in das Bewusstsein der Menschen treten und zu einem wesentlichen Faktor mit Rückwirkungen auf die politische Praxis werden, lange bevor die wirkliche Kollision geschieht.« Wie verträgt sich dieser Optimismus mit der von Hampicke selber aufgezeigten »Gefahr einer schleichenden Zerstörung der Biosphäre« (1975: 798), die eine unumkehrbare Qualität annehmen kann? Vgl. dazu Dieter Hassenpflug, Umweltzerstörung und Sozialkosten (1974).
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auf der Erde (die auf die Spitze getriebene und sich selbst negierende ›Raserei der Negation‹) gegeben ist.« (Heintel 1968: 335) 23 Die hier notwendig werdende »Kritik der Naturwissenschaft und Industrie« darf nicht etwa nur äußerlich das naturwissenschaftliche Denken als borniertes diffamieren oder die düsteren Folgen der technischen Manipulation der Natur beschwören, sondern hat zum einen Naturwissenschaft und Industrie als zwei Seiten der gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung kritisch in die Dialektik der gesellschaftlichen Produktion zurückzubinden – diesen Schritt der Kritik, der sich bei Marx durchaus bereits in den Grundrissen und im Kapital andeutet, hat Alfred Sohn-Rethel in einem ersten Versuch einer geschichtsmaterialistischen Fortschreibung der Kantischen Kritik der wissenschaftlichen Vernunft begonnen 24 –, zum anderen und darüber hinaus hat eine solche Kritik die gesellschaftliche Produktion selber, deren Momente Naturwissenschaft und Industrie sind, dialektisch mit dem sie übergreifenden Naturprozess zu vermitteln – wie dies Ernst Bloch in der Konsequenz des bei Marx angedeuteten Naturverständnisses weiterzuentwickeln versucht. Hier nun, wenn die Natur nicht nur als Gegenstand der gesellschaftlichen Produktion erscheint, sondern als noch »offenes Werden«, in das die gesellschaftliche Praxis selber als ein bestimmtes und bestimmendes Moment mit seinen Möglichkeiten und Aufgaben der Naturformung einbezogen ist, kann auch mit Recht von einer »Dialektik der Natur« gesprochen werden. Dann nämlich – wie Bloch sagt –, »wenn ›Natur‹ nicht mehr nur als technisch auszubeutende Umwelt in der Geschichte erscheint, sondern – objektiv – als atomares Alpha wie noch ausstehendes, sozusagen apokalyptisches Omega unserer allemal materiellen Geschichte«. 25
Direkt auf die »Wissenschaftskrise« und »Überlebensfrage« bezogen hat dieses Problem bisher am umfassendsten der Physiker und Protestant – im betonten Wortsinn – A. M. Klaus Müller, Die präparierte Zeit. Der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen (1972), ausgesprochen; vgl. Otto Ullrich, Weltniveau – In der Sackgasse des Industriesystems (1979). 24 Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1970) siehe auch Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, darin insbesondere das Kapitel »Vom negativen zum positiven Denken: technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft.« 25 Siehe Bloch 1959/1967: 729 ff. Zu den äußerlich verwandt erscheinenden Ansätze bei Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962) siehe Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken (1966). Zu den Differenzen zwischen Bloch und Hei23
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Die fundamentalphilosophische Schwierigkeit eines solchen »Ergreifens« (Schelling) der gesellschaftlichen Produktion aus dem Übergreifenden des Naturprozesses liegt eben darin, dass die gesellschaftliche Produktion als menschliches Denken und Handeln die Natur und sich in der Natur aus der Position des Übergriffenen zu erfassen hat, ohne doch je ihre eigene Selbständigkeit als produktive Aneignung und gezielte Formung der Natur aufgeben zu können und zu dürfen. Schelling hat in seiner späten Selbstkritik am Idealismus dieses Problem einer ›materialistischen‹ Dialektik sehr klar ausgesprochen. Bezogen auf die geistige Arbeit des Denkens, die sich praktisch im »schlechthin unzweifelhaften Sein«, dem »unvordenklichen Existieren«, fundiert »ergreift«, schreibt er: »Die Vernunft […] entschließt sich vom Seyn vor allem Denken auszugehen. Sie unterwirft sich diesem aber nur, um sich unmittelbar gegen dasselbe wieder aufzurichten, mit der Frage nämlich, was das unvordenkliche Seyende ist, denn sie hat in ihm zunächst und unmittelbar eben nur das unvordenkliche Existieren selbst.« (Schelling XIV: 345) Diesen dialektischen »Akt« des Denkens, die Schelling als »Ekstasis« umschreibt, sein Heraustreten aus der Priorität des wissenwollenden Zugriffs auf das Sein, um sich dadurch praktisch aus dem Sein erfahren und erfassen zu können, gilt es im Sinne des »praktischen Materialismus« von Marx und in Aufarbeitung des doppelten dialektischen Verhältnisses der gesellschaftlichen Praxis zur Natur auszuweiten, um so unsere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur ökologisch aus ihren Kräften und Zusammenhängen in und außer uns bestimmen zu lernen. 26 In der gleichzeitigen Nachfolge von Marx und Schelling hat Ernst Bloch die fundamentalphilosophischen Grundzüge einer dialektisch-materialistischen Aufarbeitung der Naturproblematik mehrfach skizziert. Fundament und Horizont solcher dialektisch-materialistischer Naturphilosophie seien daher abschließend mit Blochs Worten umrissen – wobei allerdings nicht vergessen werden darf, dass die darin anklingende apokalyptische Botschaft nur über einen revolutionären Umsturz der gegenwärtigen »Raserei der Negation« degger siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999: 192 ff. und 210 ff.). 26 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur« (1996), Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014) sowie Existenz denken (2015). Vgl. Hans Heinz Holz, »Das Licht in Schellings Naturphilosophie«, in: Kritik und Praxis, hg. von Heinz Eidam, Frank Hermenau und Dirk Stederoth (1999).
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durch die von ihr Betroffenen, d. h. durch die bewusst und vereinigt ihre Geschichte gestaltenden Menschen, erfüllt werden kann. 27 »Die endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig manifestierte Geschichte im Horizont der Zukunft, und nur auf diesen Horizont laufen auch die künftig wohlerwartbaren Vermittlungskategorien konkreter Technik [einer »Technik ohne Vergewaltigung«] zu. Je mehr gerade statt der äußerlichen eine Allianztechnik möglich werden sollte, eine mit der Mitproduktivität der Natur vermittelte, desto sicherer werden die Bildekräfte einer gefrorenen Natur erneut freigesetzt. Natur ist kein Vorbei, sondern der noch gar nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat vorhandene Bauzeug für das noch gar nicht adäquat vorhandene menschliche Haus. […] Darum ist es sicher, daß das menschliche Haus nicht nur in der Geschichte steht und auf dem Grund der menschlichen Tätigkeit, es steht vor allem auch auf dem Grund eines vermittelten Natursubjekts und auf dem Bauplatz der Natur.« (Bloch 1959/1967: 807) 28
Siehe dazu Henri Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975: 345 f.): »Was wir […] vorschlagen, ist nur ein Projekt. […] Seine Möglichkeit ist eine Gewißheit, nicht aber seine Verwirklichung. Wir können die Hypothese eines kolossalen Abortus der menschlichen Geschichte, einer Katastrophe in planetarischem Maßstab nicht ausschließen. […] Weder der totale Fehlschlag der Menschheitsgeschichte noch die nukleare Vernichtung des Planeten lassen sich aus der Liste der Möglichkeiten streichen.« 28 In diesem Zusammenhang sei auch mit Marx an unseren menschheitlichen Auftrag zu erinnern (25, 784): »Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammen genommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« 27
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VII. Die Selbstbegründung der materialistischen Dialektik
Die eben angestellten Überlegungen haben gezeigt, dass das dialektische Übergreifen der gesellschaftlichen Produktion, das immer und notwendig den Ausgangspunkt des dialektischen Materialismus darstellt, selber dialektisch einbezogen ist in die selbst übergreifende Dialektik der Natur, die allerdings ihrerseits wiederum nur von der gesellschaftlichen Praxis, also von dem von ihr übergriffenen Moment aus dialektisch bestimmt und erfüllt werden kann. Die zweite Korrektur und Ergänzung, die wir gegenüber der bisher rekonstruierten Kernstruktur der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx anzubringen haben, bezieht sich auf die Dialektik des Erkenntnis- und Denkprozesses, in dem die Dialektik von Geschichte und Natur bewusst darstellbar und wissenschaftlich begründet wird. Es geht hier also um das Problem, dass wir bisher nur die Konturen der Struktur und der Inhalte einer Theorie rekonstruiert haben, deren Eigenart als dialektischer Materialismus aber so lange eine bloß postulierte bleibt, solange es ihr nicht in der Selbstreflexion als Theorie gelingt, sich dialektisch und materialistisch zu begründen. D. h. sie muss sich als Theorie, ohne von sich als Theorie zu lassen, dialektisch und materialistisch aus einem Anderen, der gesellschaftlichen Praxis, fundiert ausweisen. Sie muss sich in einer theoretischen Selbstbegründung als materialistische Dialektik legitimieren können, denn andernfalls kommt auch der dialektische Materialismus nicht über den Dualismus alles bisherigen Materialismus hinaus, dem es nicht gelingt, die eigene theoretische Position in den erklärten umfassenden Seinszusammenhang einzufügen, und er verfällt in seiner theoretischen Schwäche der verzehrenden Kritik der dialektischen Logik Hegels. 1 Nur wenn die Selbstbegründung als materialistische Dialektik gelingt, wird sich der dialektische MaterialisHierzu – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen –: Cesare Luporini, Karl Marx – Kommunismus und Dialektik (1974); Lucio Colletti, Hegel und der Marxismus (1976).
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mus als »Revolution in der Theorie« (Althusser) 2 behaupten und legitimieren können. Wenn der dialektische Materialismus die gesellschaftliche Praxis als das Übergreifende über sie selbst und ihr Anderes darstellt, so muss er sie auch als das Übergreifende über das menschliche Bewusstsein, die Wissenschaft und somit über sich als dialektisch-materialistische Theorie, in der dieses Übergreifen der gesellschaftlichen Praxis zu Bewusstsein kommt, ausweisen. In diesem Sinne wird bereits in der Deutschen Ideologie gesagt: »Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.« (Marx/Engels 3: 26) Das Bewusstsein, das Denken der Menschen ist also dialektisch einbezogen in die gesellschaftliche Praxis, und zwar in dem dialektischen Sinne, dass es einerseits das ganz Andere der gesellschaftlichen Praxis ist, nämlich das diese widerspiegelnde Bewusstsein. Wobei Widerspiegelung gerade nicht eine lineare und passive Abbildung des objektiven Seins durch ein subjektives Bewusstsein meint, sondern den aktiven Denkprozess, der die gesellschaftliche Praxis und alles andere Wirkliche nicht anders denn in seinem Medium des Bewusstseins und des Begriffs darzustellen vermag. 3 Andererseits ist das Denken und bewusste Sein gerade selber Teil der gesellschaftlichen Praxis, so wie vorher bereits gezeigt worden ist, dass das wirkliche Denken unentbehrliches Moment der gesellschaftlichen Praxis und als solches selber gesellschaftliche Tätigkeit ist. Dies hat Marx bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten in seiner Dialektik angedeutet: »Allein auch wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin, eine Tätigkeit, die ich selten in unmittelbarer Gemeinschaft mit andren ausführen kann, so bin ich gesell-
Saül Karsz, Theorie und Politik: Louis Althusser (1975). Zur philosophischen Kritik der Widerspiegelungstheorie, die durch die obige, ›kokettierende‹ Bemerkung nicht abgemildert werden soll, vgl. Heinrich Brinkmann, Zur Kritik der Wiederspiegelungstheorie (1978); Rolf Zimmermann, Der Begriff des Praxis bei Marx und die Elimination der Abbildtheorie (1975); Miodrag Cekić, Ist Praxis der Maßstab der Wahrheit? (1979); vor allem Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1997. 2 3
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schaftlich, weil als Mensch tätig. Nicht nur das Material meiner Tätigkeit ist mir – wie selbst die Sprache, in der der Denker tätig ist – als gesellschaftliches Produkt gegeben, mein eignes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit […]. Mein allgemeines Bewußtsein ist nur die theoretische Gestalt dessen, wovon das reelle Gemeinwesen, gesellschaftliche Wesen, die lebendige Gestalt ist […]. Daher ist auch die Tätigkeit meines allgemeinen Bewußtseins – als eine solche – mein theoretisches Dasein als gesellschaftliches Wesen.« (Marx 40: 538) Die gesellschaftliche Praxis stellt sich als das wirklich Übergreifende über sich und das Denken als ihr anderes dar. Dies verhindert aber nicht, dass dieses dialektische Verhältnis sich im Denken umkehren kann, so wie Marx auch in der oben zitierten Stelle einfügt: »während heutzutag das allgemeine Bewußtsein eine Abstraktion vom wirklichen Leben ist und als solche ihm feindlich gegenübertritt« (Marx 40: 538). Die Möglichkeit dieser Verkehrung im Bewusstsein liegt einmal darin, dass es in der geschichtlichen Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis zu einer Arbeitsteilung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit kommt, die zu einer Verselbständigung beider Bereiche gegeneinander und gegenüber ihrer gemeinsamen Grundlage der gesellschaftlichen Arbeit führt, so dass »mit der Teilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß die geistige und materielle Tätigkeit – daß der Genuß und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit, daß sie nicht in Widerspruch geraten, nur darin liegt, daß die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird«. (Marx/Engels 3: 32) Zum anderen liegt sie darin, wie wir bereits in anderem Zusammenhang gesehen haben, dass das Produkt menschlicher Denkarbeit sich dieser gegenüber als »fremdes Wesen« und »unabhängige Macht«, d. h. als Ideologie fixieren kann, etwa im Sinne der aus sich selbst seienden Logik Hegels. Diese doppelte Ermöglichung voraussetzend, heißt es in der Deutschen Ideologie: »Von diesem Augenblick an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ›reinen Theorie‹ […] überzugehen.« (Marx/Engels 3: 31) Die Kritik der Deutschen Ideologie – in der das Verhältnis des Bewusstseins zur gesellschaftlichen Praxis diskutiert wird – versucht nicht nur das ideologische Selbstverständnis der Theorien der Jung170 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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hegelianer an der gesellschaftlichen Praxis zu blamieren, sondern will darüber hinaus das philosophische Denken überhaupt aus einer vermeintlichen Priorität zurücknehmen und es als »wirklich begreifendes Denken« aus und in der gesellschaftlichen Praxis begründen, d. h. ihr eine kritische Funktion zur Bewältigung der konkreten Lebensaufgaben in Wirklichkeit und geschichtlicher Praxis zuweisen. 4 »Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen.« (Marx/Engels 3: 27) Aus dem dialektischen Argumentationszusammenhang gerissen ist diese Textstelle missverständlich, und sie wurde auch vom positivistischen und dogmatischen Vulgärmarxismus oftmals in dieser Weise missbraucht. Wenn nicht mehr berücksichtigt wird, dass sich die Kritik gegen den »Schein der Selbständigkeit« einer ideologischen, sich aus sich selbst begründen wollenden Philosophie wendet, und wo die »positive Wissenschaft« platt mit dem Positivismus, der Gedankenlosigkeit der – von Marx und Engels angeprangerten – »abstrakten Empiriker« (Marx/Engels 3: 27) gleichgesetzt wird, da geht das von Marx intendierte dialektisch-materialistische Selbstverständnis des sich im Übergreifenden der gesellschaftlichen Praxis »wirklich begreifenden Denkens« völlig zugrunde. 5 Dadurch verlöre die Marxsche Dialektik jedoch auch ihre »kritische und revolutionäre« Potenz; denn ein undialektischer Materialismus kann – wie Marx gegen Feuerbach einwendet – »wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen«, während es »sich in Wirklichkeit für den praktischen Materialisten, Vgl. Heinz Hülsmann, Historischer Materialismus und Dialektik (1976); Siegfried Dangelmayr, Die philosophische Interpretation des Theorie-Praxis-Bezuges bei Karl Marx (1979). 5 Siehe hierzu die Klarstellungen von Helmut Fleischer, Karl Marx – Die Wendung der Philosophie zur Praxis (1976) sowie Wolfgang Fritz Haug, »Wider den bloß verbalen Materialismus und Für eine materialistisch-dialektische Begründung des dialektischen Materialismus« (1975). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Karl Marx – Dialektik im Primat der Praxis« (2001). 4
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d. h. Kommunisten, darum handelt, die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern« (Marx/Engels 3: 42). Dazu aber bedarf es eines sich selbst aus der gesellschaftlichen Praxis begründenden Denkens, einer dialektisch-materialistischen Philosophie. Nach wie vor gelten – gerade für den dialektischen Materialismus – die Mahnungen von Marx aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen«, und ebensowenig »die Philosophie verwirklichen, […] ohne sie aufzuheben«. (Marx 1: 384) Was also hier zur Debatte steht, ist nicht die »Abschaffung« der Philosophie, um eine unmittelbar positive, reflexionslose Theorie an ihre Stelle zu setzen, sondern ist die Kritik der Verselbständigung des philosophischen Denkens, um zu einer dialektisch-materialistischen Selbstbegründung des »wirklich begreifenden Denkens« aus der gesellschaftlichen Praxis zu kommen. 6 Zu einer solchen dialektisch-materialistischen Selbstbegründung reicht allerdings eine nur geschichtsmaterialistische Darstellung des Denkens und Bewusstseins in ihrer Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Praxis – wie sie in der Deutschen Ideologie vorliegt – nicht aus; in ihr bleibt das Denken bloß Objekt der Theorie und begründet sich daher gerade nicht dialektisch und materialistisch an sich selbst als Theorie. Hier ist vielmehr eine fundamentalphilosophisch im Medium des Denkens selber sich vollziehende dialektischmaterialistische Selbstbegründung der Theorie aus der gesellschaftlichen Praxis, in der das Denken selber sich als dialektisch-materialistisch bestimmtes Subjekt erweist, erforderlich. Erste Gedanken zu einer dialektisch-materialistischen Selbstbegründung der Dialektik hat Marx in der Kritik der Hegelschen Dialektik und der Philosophie überhaupt, dem Schlusskapitel der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, entwickelt. Da Marx den Henri Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975: 29 f.): »Aufhebung der Philosophie bedeutet mithin weder schlicht ihre Abschaffung (nach der positivistischen oder szientistischen These) noch eine Verlängerung des traditionellen, spekulativen, systematisierten Denkens in mehr oder weniger erneuerter Form. […] Wir würden gern sagen, daß der ›Begriff‹ der Aufhebung auf das verweist, was in der lebendigen (produktiven, kreativen) Tätigkeit durch den Begriff selbst gerade nicht erfaßt werden kann. […] Es bedarf einer Spontaneität und zugleich eines Projekts, einer natürlichen Reifung und eines reflektierten Handelns – einer Praxis und einer Poiesis.« Vgl. im Anhang »Die Praxis und das Begreifen der Praxis. Zu den ›Thesen ad Feuerbach‹«.
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auch später immer wieder geäußerten Plan, »das Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat« (Marx 29: 260; 32: 544), gesondert herauszuarbeiten, nicht mehr ausgeführt hat, bleibt dieses frühe Manuskript das entscheidende Dokument zur Rekonstruktion der von Marx ansatzweise begonnenen Selbstbegründung der materialistischen Dialektik. Diese »Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt« (Marx 40: 468) hält Marx allein schon deshalb für erforderlich, weil er – im Gegensatz zur »modernen deutschen Kritik« – an einer dialektischen Selbstbegründung der Kritik festhält und daher – wenigstens zu ihrem Beweise – eine kritische Auseinandersetzung mit der philosophischen Dialektik (für) nötig« erachtet (Marx 40: 470), während die übrigen »Kritiker« ein »völlig kritikloses Verhalten zur Methode des Kritisierens und eine völlige Bewußtlosigkeit […] zur Hegelschen Philosophie überhaupt und zur Dialektik namentlich« (Marx 40: 568) an den Tag legen, das im Grunde ihr gänzlich »unkritisches Verhalten zu sich selbst« (Marx 40: 569) dokumentiert. Unter allen diesen ist Feuerbach – wie Marx hervorhebt – »der einzige, der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat« (Marx 40: 569). Doch Feuerbach vermag seinerseits nur die negativen Seiten der Hegelschen Dialektik zu sehen, nicht aber ihre »positiven Momente«, und deshalb kann er nicht »die kritische Gestalt dieser bei Hegel noch unkritischen Bewegung« (Marx 40: 571) rekonstruieren, um die es Marx gerade geht. Feuerbach fasst die »Negation der Negation«, das Kernstück der Hegelschen Dialektik, »nur als Widerspruch der Philosophie mit sich selbst auf«, und stellt ihr daher »direkt und unvermittelt die sinnlich gewisse, auf sich selbst gegründete Position« entgegen (Marx 40: 570). Indirekt und unausgesprochen lebt jedoch gerade auch diese unvermittelte, »auf sich selbst gegründete Position« Feuerbachs aus der Negation der Negation der Hegelschen Philosophie. Insofern meint Marx völlig zu Recht, bei einem solchen Selbstmissverständnis nicht stehenbleiben zu können. Da Marx jedoch andererseits die radikale Kritik an der Hegelschen Philosophie mit Feuerbach teilt und also nicht zur idealistischen Gestalt der Dialektik zurückkehren kann, steht er vor der Aufgabe, in der Kritik der Hegelschen Dialektik jene wahre und wirkliche Gestalt der Dialektik aufdecken zu müssen, von der die Hegelsche nur ein entfremdeter Ausdruck ist. Die materialistische Dialektik kann sich nur dadurch begründen, dass sie in materialistischer Kritik die Entfremdung der idealistischen Dialektik aufdeckt und in 173 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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dialektischer Aufhebung dieser Entfremdung – durch die so vermittelte Bewegung – sich die Dialektik in ihrer wahren und wirklichen Gestalt aneignet. Im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit »der ›Phänomenologie‹ als der Geburtsstätte der Hegelschen Philosophie« (Marx 40: 572) und der Logik als ihrer entwickeltsten Gestalt steht daher die Frage nach dem Wesen der »Entfremdung« und ihrer »Aufhebung«. An dieser Stelle brauchen wir nicht nochmals auf die materialistischdialektische Fassung dieser Bewegung, wie sie Marx an der Dialektik der gesellschaftlichen Produktion entwickelt hat, einzugehen und können auch die Darstellung der Hegel-Kritik auf jene Momente beschränken, die zum Verständnis der Selbstbegründung der materialistischen Dialektik erforderlich sind. 7 Zunächst gilt es, einen »doppelten Fehler bei Hegel« (Marx 40: 572) aufzuzeigen: 1) Die ganze dialektische Bewegung der Vergegenständlichung bzw. »Entäußerung« und der »Aufhebung dieser Entäußerung«, der Aneignung der fremd gewordenen Gegenstände, vollzieht sich nur »im Bewußtsein, im reinen Denken«, sie ist daher nur eine »Gedankenbewegung«. (Marx 40: 573) Hegel begreift also nicht die dialektische Bewegung des Denkens als ein Moment der dialektischen Bewegung der gesellschaftlichen Praxis, des »wirklichen, tätigen Verhaltens des Menschen zu sich als Gattungswesen« – wie Marx die gesellschaftliche Praxis damals noch umschreibt –, in der der Mensch »wirklich alle seine Gattungskräfte […] herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält« (Marx 40: 574); er begreift also das Denken nicht als eine der »Wesenskräfte«, die die Menschen in gesellschaftlicher Produktion entäußern und deren produzierte Gegenständlichkeit sie sich im wirklichen Wissen wiederum gesellschaftlich aneignen können. Hegel fasst daher auch nicht die Philosophie als »die Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft«, sondern setzt die sich in ihr äußernde dialektische Bewegung als »Dialektik des reinen Gedankens« absolut. (Marx 40: 574) 2) Gerade weil für Hegel Dialektik die »nur noch in sich selbst vorgehende Bewegung des abstrakten Denkens« (Marx 40: 574) ist, vermengt er den Unterschied zwischen Vergegenständlichung und Siehe dazu ausführlicher den nachfolgenden Beitrag »Die Bedeutung der HegelKritik in den Pariser Manuskripten«.
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Entfremdung; das »menschliche Wesen«, das »im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung« (Marx 40: 572). »Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels« (Marx 40: 581), denn nicht die entfremdete Form von Recht, Moral, Staat, Religion gilt ihm als aufzuhebende, sondern Aufhebung der Entfremdung bedeutet für ihn ihre Aneignung im philosophischen Begriff, die Einholung ihrer Vergegenständlichung in »die wahre Form des Geistes« (Marx 40: 573), wodurch sie »als geistige Wesen« gerade in ihrer entfremdeten Form bestätigt werden. Somit ergibt sich aus beidem für Hegel – wie Marx zusammenfasst –: »Alle Entfremdung des menschlichen Wesens ist daher nichts als Entfremdung des Selbstbewußtseins. Die Entfremdung des Selbstbewußtseins gilt nicht als Ausdruck, im Wissen und Denken sich abspiegelnder Ausdruck der wirklichen Entfremdung des menschlichen Wesens. Die wirkliche, als real erscheinende Entfremdung vielmehr ist ihrem innersten verborgnen […] Wesen nach nichts andres als die Erscheinung von der Entfremdung […], des Selbstbewußtseins.« (Marx 40: 575 f.) So wird von Hegel auch nicht »der wirkliche Mensch«, die gesellschaftlich produzierenden Menschen, als Subjekt der dialektischen Bewegung erkannt, »sondern nur die Abstraktion des Menschen, das Selbstbewußtsein« (Marx 40: 577) zum absoluten Subjekt erklärt. In dieser »absoluten Verkehrung« wird schließlich die dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins, »die sich wissende und betätigende Idee«, zur »übergreifenden Subjektivität« des »absoluten Geistes« verklärt, für den »der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur […] bloß zu Prädikaten« (Marx 40: 584) seines Seins und Bewusstseins werden. Trotz dieser radikalen materialistischen Kritik an Hegel, die Marx im Wesentlichen mit Feuerbach teilt, lässt sich Marx nicht zu einer Ablehnung der Dialektik hinreißen, sondern versucht, auch »die positiven Momente der Hegelschen Dialektik – innerhalb der Bestimmung der Entfremdung – zu fassen« (Marx 40: 583), um gerade dadurch zur Begründung der materialistischen Dialektik zu kommen. 8 1) Was Hegel zunächst positiv – wenn auch in entfremdeter Form – herausgearbeitet hat, ist der »positive Sinn der auf sich selbst 8 Hierzu Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1962); Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie (1942).
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bezognen Negation« (Marx 40: 583). Diese bereits an der »entfremdeten Arbeit« aufgezeigte Struktur der doppelten dialektischen Negation besagt auf die Selbstbegründung der materialistischen Dialektik bezogen, dass sich diese als theoretische Position nicht aus einer einfachen Negation und daher äußerlichen Kritik gegenüber aller bisherigen Philosophie als »positiv von sich selbst beginnender« Wissenschaft setzen kann, wie dies Feuerbach mit seinem anthropologischen Materialismus versucht; dass sie sich vielmehr nur dort materialistisch und dialektisch begründen kann, wo sie nicht nur die verselbständigte Philosophie in ihrer Entfremdung und Negation gegenüber ihrer materiellen Basis im wirklichen Denken aufdeckt, um sie dann abzutun, denn dann wäre sie nichts anderes als die zur »unentwickelten Einfachheit zurückkehrende Armut« des Denkens (Marx 40: 583), sondern dass sie sich auch in der Philosophie als ihrer eigenen Entfremdung negiert, da sie nur durch diese Negation der Negation sich den ganzen Reichtum des in der Philosophie vergegenständlichten menschlichen Denkens aneignen kann. Deshalb ist die von Feuerbach intendierte »Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft« (Marx 40: 570) erst über eine solche dialektische Vermittlung zu erreichen. »Erst durch die Aufhebung dieser Vermittlung – die aber eine notwendige Voraussetzung ist – wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus.« (Marx 40: 583) 2) Das zweite »Positive, was Hegel hier vollbracht hat – in seiner spekulativen Logik – ist, daß die bestimmten Begriffe, die allgemeinen fixen Denkformen in ihrer Selbständigkeit gegen Natur und Geist ein notwendiges Resultat der allgemeinen Entfremdung des menschlichen Wesens, also auch des menschlichen Denkens sind und daß Hegel sie daher als Momente des Abstraktionsprozesses dargestellt und zusammengefaßt hat«. (Marx 40: 585) D. h. gerade dadurch, dass Hegel in seiner Logik die theoretischen und logischen Gedankenbemühungen aller vorhergehenden Philosophen in einer aus sich selbst entwickelten Bewegung des Abstraktionsprozesses, dem »in sich kreisenden Akt der Abstraktion« (Marx 40: 586), dargestellt hat – in einer potenzierten Abstraktion, die »als die Tätigkeit schlechthin gedacht wird« –, erscheint zwar seine Philosophie einerseits als »absolute Negativität«, vermag aber andererseits – wenn auch in entfremdeter Form – die gesellschaftlich produzierten »für jeden Inhalt gültigen Abstraktionsformen, die Denkformen, die logischen Kategorien« zu entwickeln, die »die inhaltsvolle, lebendige, 176 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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sinnliche, konkrete Tätigkeit der Selbstvergegenständlichung« (Marx 40: 585) hervorgebracht hat, also das menschliche Denken in der Geschichte seiner geistigen Arbeit. Nur bedarf es eben einer sie in ihrer Entfremdung aufdeckenden und aufhebenden Kritik der Logik, um sie als Vergegenständlichungen des »wirklich bewußten Denkens« aneignen zu können. »Die ganze Logik ist also der Beweis, daß das abstrakte Denken für sich nichts ist« (Marx 40: 585) – aber in sich einen wahren Kern birgt, der erst über ihre dialektische und materialistische Kritik positiv bestimmbar wird. Zusammenfassend und darin die Konturen seiner dialektischmaterialistischen Kritik an der Hegelschen Philosophie und Dialektik aufzeigend, schreibt Marx: »Der sich selbst entfremdete Mensch ist auch seinem Wesen, d. h. dem natürlichen und menschlichen Wesen entfremdeter Denker. Seine Gedanken sind daher außer der Natur und dem Menschen hausende fixe Geister. Hegel hat in seiner Logik alle diese fixen Geister zusammengesperrt, jeden derselben einmal als Negation, d. h. als Entäußerung des menschlichen Denkens, dann als Negation der Negation, d. h. als Aufhebung dieser Entäußerung, als wirkliche Äußerung des menschlichen Denkens gefaßt; aber da – als selbst noch in der Entfremdung befangen – ist diese Negation der Negation teils das Wiederherstellen derselben in ihrer Entfremdung, teils das Stehenbleiben bei dem letzten Akt, das Sichaufsichbeziehn in der Entäußerung, als dem wahren Dasein dieser fixen Geister.« (Marx 40: 586). Die dialektisch-materialistische Kritik der Logik 9 begründet diese materialistisch neu und betreibt sie zugleich dialektisch weiter. Sie ist die Negation ihrer Verselbständigung als Philosophie, in der – wie Marx mit Hegels Begriffen kokettierend sagt – »das abstrakte Denken« sich »dazu entschließt, sich aufzugeben« (Marx 40: 586), um aus der gesellschaftlichen Praxis begründetes »wirklich bewußtes Der Versuch einer unmittelbar positiven materialistischen oder dialektischen Logik, die nicht aus der Kritik an Hegels Logik hervorgegangen ist, zu entwickeln, muss zwangsläufig scheitern – siehe z. B. Béla Fogarasi, Dialektische Logik mit einer Darstellung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe (1954). Demgegenüber ist immer an den Satz von Marx aus der Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt zu erinnern (40: 571 f.): »Die Logik – das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwert des Menschen und der Natur – ihr gegen alle wirkliche Bestimmtheit vollständig gleichgültig gewordnes und darum unwirkliches Wesen – das entäußerte, daher von der Natur und dem wirklichen Menschen abstrahierende Denken; das abstrakte Denken.«
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Die Selbstbegründung der materialistischen Dialektik
Denken« sein zu können. Diese »Negation der Negation« an »der in sich selbst webenden und nirgends in die Wirklichkeit hinausschauenden Arbeit des Denkens« (Marx 40: 587) bedeutet zum einen die Selbstbegründung der Dialektik in der materiellen Wirklichkeit der gesellschaftlichen Praxis, welche »sich sowohl in [ihrem] Sein als in [ihrem] Wissen bestätigen und betätigen muß« (Marx 40: 579); zum anderen ist diese »Negation der Negation« die »wirkliche Aneignung« des vergegenständlichten Denkens »durch und für den Menschen«, die »vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr« (Marx 40: 536) des wirklichen Denkens – wie in Übertragung einer Kennzeichnung des Kommunismus gesagt werden kann. Marx hat seine in der Hegel-Kritik angelegte Selbstbegründung der materialistischen Dialektik nicht zu Ende geführt, und auch in dem Dargelegten finden sich Unschärfen: so die Vermengung von Vergegenständlichung und Entfremdung, wodurch nicht deutlich wird, ob die dialektische Bewegung sich mit Notwendigkeit nur über die Entfremdung vermitteln kann (z. B. Marx 40: 574); so die an Feuerbach gemahnenden Reste positiver, nicht am Denken selbst vermittelter Setzungen wie der »wirkliche Mensch« und sein »wirkliches Denken«. Aber es lassen sich doch aus diesem Fragment die Konturen der in der Hegel-Kritik liegenden Selbstbegründung der materialistischen Dialektik erkennen, die in ihrer logischen Struktur stark an die Hegel-Kritik und Selbstbegründung der »positiven Philosophie« des alten Schelling erinnert, die Marx sicherlich nicht gekannt, aber gleichsam aus den undialektisch verarbeiteten Anregungen, die Feuerbach von Schelling erhielt, wieder dialektisch rückübersetzt hat. 10 Abschließend lässt sich aus dieser ansatzweisen Selbstbegründung der materialistischen Dialektik für unsere Rekonstruktion der Kernstruktur der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx folgendes gewinnen: Da die Selbstbegründung der materialistiSchellings ›dialektische‹ und ›materialistische‹ Kritik an der sich selbst absolut setzenden Logik Hegels enthüllt zum einen deren Negation ihrer Praxisgrundlage im »wirklichen Denken«, eine Negation, die, wie Hegel es in der Phänomenologie selber fordert, die »Selbstaufopferung« des menschlichen Bewusstseins bedeutet, und sie intendiert zum zweiten in einer Negation der Negation die Begründung einer »positiven Philosophie«, eines sich in Wirklichkeit und geschichtlicher Praxis bewährenden »wirklichen Denkens«. Vgl. Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik (1975); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014: 305 ff.). 10
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Die Selbstbegründung der materialistischen Dialektik
schen Dialektik gerade nicht – wie die Hegelsche Dialektik – sich aus sich selbst vollziehen kann, sondern sich aus ›ihrem‹ Anderen, der gesellschaftlichen Praxis begründet weiß, gleichzeitig aber daran festhalten muss, dass ihre Begründung nicht unvermittelt gegeben ist, sondern nur im Medium ihrer selbst als Philosophie erfolgen kann, ergibt sich daraus eine prinzipiell doppelte dialektische Struktur. Die gesellschaftliche Praxis als das Übergreifende über sich und ihr Anderes, die Philosophie, kann sich ihrer selbst als das Übergreifende nur bewusst werden durch eine sie ausdrückende Philosophie, vermittelt über die gesellschaftlich bewussten Subjekte; aber die Philosophie, die das Übergreifende der gesellschaftlichen Praxis ausdrücken können soll, muss – ohne sich als Philosophie aufgeben zu können und zu dürfen – sich an sich selbst als von der gesellschaftlichen Praxis übergriffenes Moment begründen –, sonst fallen Theorie und Praxis wieder auseinander. Für sich aber kann weder die gesellschaftliche Praxis jemals sich als das Übergreifende explizieren noch die Theorie – sosehr sie sich auch als das aus sich selbst Gewisse ausgeben mag – je die gesellschaftliche Praxis einholen. Daraus erwächst die komplexe dialektische Problemlage einer Philosophie der Praxis. 11 Wenn wir also in den vorangegangenen Abschnitten unserer Rekonstruktion die gesellschaftliche Produktion, Arbeit und Praxis als den Ausgangspunkt des dialektischen Materialismus und als das Übergreifende der Geschichte herausstellten, so hat dies nur insofern weiterhin Gültigkeit, als die gesellschaftliche Praxis einerseits gleichzeitig als ein dialektisch übergriffenes Moment des Naturprozesses erfasst wird und sie sich andererseits selbst nur durch eine Philosophie zur Sprache bringen kann, die selber ein – wenn auch notwendiges – dialektisch übergriffenes Moment der gesellschaftlichen Praxis ist. Erst dort, wo gezeigt werden kann, wie der dialektische Materialismus als materialistische und dialektische Philosophie sich in materialistischer Dialektik aus der gesellschaftlichen Praxis und Henri Lefebvre: Metaphilosophie (1965/1975: 329 f.): »Die Aufhebung der Philosophie nimmt programmatischen Charakter an, aber gleichzeitig wird sie konkret. Sie verlängert die Philosophie, indem sie die philosophische Haltung radikal verändert. Sie umschließt die Analyse der Praxis und zugleich die Darlegung der Praxis in die Totalität. […] Dieses Programm zielt darauf ab, die aus der Philosophie herausgelösten und übernommenen Elemente in die (revolutionäre) Praxis einzufügen. [… So ist sie] eine Verwirklichung oder zumindest ein Ansatz zur Verwirklichung des […] philosophischen Projekts in der Praxis.« Siehe auch Ernst Bloch, Experimentum Mundi (1975).
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Die Selbstbegründung der materialistischen Dialektik
auf sie bezogen zu begründen vermag, findet die Rekonstruktion der dialektischen Kernstruktur von Marx ihren Abschluss. Jede vorher abbrechende Rekonstruktion von Theoriestücken wird dem fundamentalphilosophischen Anspruch der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx nicht gerecht.
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Hermeneutische Ergänzungen
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Die Bedeutung der Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten 1
1.
Die Umbruchsituation der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte
Die in Paris 1844 niedergeschriebenen, später so benannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte bieten der Marx-Forschung nicht nur philologische Schwierigkeiten, die darin bestehen, dass es sich hierbei um drei nicht direkt zusammenhängende Manuskripte handelt, von denen das zweite nur noch im Schlussteil erhalten ist und das dritte sich aus einer Sammlung von Exkursen und Anmerkungen zu einem verloren gegangenen Teil zusammensetzt. Auch systematisch ergeben sich Schwierigkeiten für die Interpretation, immerhin sind die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte neben den einige Wochen später geschriebenen Passagen des mit Engels gemeinsam verfassten Buches Die heilige Familie (1844/45) die letzten Zeugnisse philosophischer Kritik, denn bereits in dem 1845/46 entDer hier gekürzt aufgenommene Beitrag erschien zuerst unter dem Titel »Marx’ letzte philosophische Selbstfertigung. Die Bedeutung der Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten« im: Wiener Jahrbuch für Philosophie II (1969: 206 ff.), wieder aufgenommen in: Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Studien zur Hegel-Kritik und zum Problem von Theorie und Praxis, Ratingen u. a. 1974: 81 ff. Ende der 60er Jahre meinte ich noch einen Bruch zwischen den frühen philosophischen Schriften und der materialistischen Theorie ab der Deutschen Ideologie feststellen zu können, da ich den polemischen Charakter der Deutschen Ideologie zu wenig beachtet und das praxisphilosophische Anliegen der Kritik der politischen Ökonomie noch nicht durchschaut hatte. Daher finden sich in diesem Text noch Aussagen, die einen Einschnitt zwischen den philosophischen Frühschriften und dem wissenschaftlichen Spätwerk behaupten – eine Annahme, der ich seit den frühen 70er Jahren ausdrücklich widerspreche: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Dialektischer Materialismus als Philosophie der Praxis. Eine Antwort an Louis Althusser« (1975), wieder abgedruckt in: Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014: 319 ff.). Trotzdem habe ich meinen frühen Text – hier etwas gekürzt – wieder aufgenommen, da er eine differenzierte Auseinandersetzungen mit der Hegel-Kritik in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten vorlegt, die auch noch grundlegend ist für Marx’ »Kokettieren« mit Hegels Logik in der Kritik der politischen Ökonomie.
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Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
standenen zweiten gemeinsamen polemischen Buch Die Deutsche Ideologie (1845/46) vollzieht Marx – jedenfalls verbal – eine totale Abkehr von der Philosophie. 2 Marx schreibt darüber 1859 im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie: »[I]m Frühling 1845 […] beschlossen wir, den Gegensatz unserer Ansicht gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten, in der Tat mit unserem ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen.« (Marx 13: 10) Weiterhin stellen die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte den ersten Versuch dar, eine Kritik der Nationalökonomie oder Politischen Ökonomie zu erstellen. Bereits Anfang 1844 fasst Marx den Entschluss und unterzeichnet den Verlagsvertrag zu einer zweibändigen »Kritik der Politik und Nationalökonomie«, und noch im Januar 1845 mahnt Engels eindringlich: »Mach, daß Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du selbst auch mit vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif, und wir müssen das Eisen schmieden, weil es warm ist.« (Engels 27: 16) Die Manuskripte, die uns aus Marx’ Pariser Zeit (1844) erhalten sind, geben uns Zeugnis von diesem ersten Versuch, der schon wesentliche Grundeinsichten in die Nationalökonomie enthält, die Marx bis in sein Spätwerk hinein weiter verfolgt. Trotz dieser Kontinuität zeigt sich doch auch, dass in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten die Ökonomie noch nicht als die alleinige Basis für die menschliche Geschichte gefasst wird und somit die Kritik der Nationalökonomie nur eine Kritik neben der »Kritik des Rechts, der Moral, Politik etc.« (Marx 40: 467) sein soll – wie Marx in der gegen Ende des dritten Manuskripts verfassten »Vorrede« ausführt. Aber nicht nur die Doppelheit der Fragestellung in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten selbst, sondern auch deren relative Isoliertheit gegenüber den vorhergehenden philosophischen Jugendschriften einerseits und der nachfolgenden Kritik der politischen Ökonomie andererseits spiegeln die Umbruchsituation wider, in der Marx sich in Paris befindet. Besonders deutlich wird dies aus Marx’ Stellung zu
Mit dieser Aussage sitze ich noch der damals gängigen Marx-Interpretation auf, die auch heute noch vorherrschend ist. Zum begründeten Widerruf dieser Aussage siehe vor allem meine Beiträge: »Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation« (1985) sowie »Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik« (2010) in diesem Band.
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Die Umbruchsituation der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte
Hegel, die symptomatisch ist für sein Verhältnis zur Philosophie überhaupt. Bis zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten war die stark von Feuerbach beeinflusste Kritik an der Hegelschen Philosophie dominant, wie sie Marx bereits in seinen Arbeiten zur Dissertation (1839–41) entwickelt hat: Die Hegelsche Philosophie versucht, die Welt in Gedanken zu fassen und nur das, was sie sich gedanklich anzueignen vermag, ist ihre Welt. Da nun die wirkliche und erscheinende Welt sich nicht in den Gedanken aufheben lässt, verwirft Hegel sie als Nichtigkeit. »Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt, ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d. h., es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht.« (Marx 40: 329) Die Hegelsche Philosophie hat sich eine Welt in Gedanken aufgebaut, hat sich »zu einer vollendeten, totalen Welt […] abgeschlossen« (Marx 40: 215), die der wirklichen Welt unversöhnlich gegenübersteht. Dabei kann nun nicht stehengeblieben werden – dieses Problem bewegt Marx ebenso wie die meisten Junghegelianer um 1840 in Berlin –, denn dadurch, dass der Philosoph die absolute Entgegensetzung und Negativität der Philosophie gegenüber der wirklichen Welt erfährt, vermag diese in ihm umzuschlagen »in ein praktisches Verhältnis zur Wirklichkeit«. (Marx 40: 214) Damit zeigt sich aber eine doppelte Zerrissenheit zwischen absoluter Philosophie und Philosophen und zwischen der erscheinenden Welt in ihren bestehenden Verhältnissen und der philosophisch eingeleiteten Veränderung der Welt. Aus dieser Zerrissenheit gibt es für den jungen Marx nur einen notwendigen Ausweg: »So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie […] ist« (Marx 40: 329), dass die Versöhnung also in einer philosophisch bestimmten Praxis durch eine praktisch bestimmte Philosophie erstrebt wird. Diese kritische, aber selbst philosophisch argumentierende Stellung gegenüber Hegel behält Marx noch bis zur »Einleitung« Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44) bei, in der er polemisch warnend gegen die verschiedenen Hegel-Schulen äußert, sie könnten »die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen«, sie könnten aber auch nicht »die Philosophie verwirklichen […], ohne sie aufzuheben.« (Marx 1: 384) Die Philosophie kann sich aber nur dadurch verwirklichen, dass in der menschlichen Praxis »der Mensch das höchste Wesen für den Menschen« (Marx 1: 385) wird, dass die 185 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
theoretisch ermittelte Selbstbestimmung des Menschen sich auch praktisch realisiert, indem die Gemeinschaft der Menschen mächtig und die Menschen einander bedürftig und voneinander bereichert werden. Das bedeutet für die bestehenden Verhältnisse gesprochen: »Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« (Marx 1: 391) Diese unmittelbar vor den Pariser Manuskripten entstandene »Einleitung« ist noch von dem Auftrag der Philosophie erfüllt, die geistigen Voraussetzungen für die Emanzipation des Menschen zum Menschen zu schaffen: »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen«. (Marx 1: 391) Die philosophische Kritik steht dabei »im Dienste der Geschichte«, ihre Aufgabe ist es, in einer »Kritik der Politik« die menschliche »Selbstentfremdung […] zu entlarven«. (Marx 1: 379) Eine solche philosophische Kritik »verläuft […] nicht in sich selbst«, da weder in ihr noch durch sie allein eine Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung erreicht werden kann, sondern sie hat »Aufgaben, für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis« (Marx 1: 385). Zunächst plant Marx, der »Einleitung« eine ausgeführte Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie folgen zu lassen, wobei er auf seine Exzerpte und Anmerkungen zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts von 1843 zurückgreifen will, doch durch das Studium nationalökonomischer Schriften angeregt und durch Umgang und Diskussion mit Kommunisten und Sozialisten in Paris gedrängt, sieht sich Marx genötigt, die menschliche Selbstentfremdung in den verschiedensten Gestalten einer Kritik zu unterwerfen, und er wendet sich der grundlegendsten, der Kritik der Nationalökonomie zu. (Marx 40: 467) Bereits ein Jahr später ist ihm (und Engels) in der Deutschen Ideologie die Ökonomie der einzig wirkliche Ausdruck der menschlichen Praxis und die Kritik ihrer Theorien die einzige Aufgabe im Dienste einer geschichtlich notwendigen kommunistischen Revolution. »Wir haben gesehen, daß das ganze Problem, vom Denken zur Wirklichkeit und daher von der Sprache zum Leben zu kommen, nur in der philosophischen Illusion existiert, d. h. nur berechtigt ist für das philosophische Bewußtsein, das über die Beschaffenheit und den Ursprung seiner scheinbaren Trennung vom Leben unmöglich klar sein kann.« (Marx/Engels 3: 435) Die Veränderung im theoretischen Ansatz ab der Deutschen 186 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Umbruchsituation der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte
Ideologie zeigt sich auch in der Haltung zur Hegelschen Philosophie. Die Philosophie Hegels, die die Welt in Gedanken zu fassen versucht, wird nicht mehr als Anstoß verstanden, um den philosophischen Gedanken in der Welt zu verwirklichen, denn ein solcher Versuch wäre selbst noch ein entfremdeter Gedanke der Philosophie. »Hegel hatte den positiven Idealismus vollendet. Nicht nur hatte sich ihm die ganze materielle Welt in eine Gedankenwelt und die ganze Geschichte in eine Geschichte von Gedanken verwandelt« (Marx/Engels 3: 14), sondern damit auch als absolute Negation der Wirklichkeit bloßgestellt. Die Darstellung der Hegelschen Philosophie erscheint gleichbleibend, aber das Urteil und die Folgerungen daraus haben sich radikal gewandelt. Die Philosophie hat sich gleichsam in Hegels absolutem System selbst in Nichts aufgelöst und damit für immer als Ideologie entlarvt und aus der wirklichen Welt zurückgezogen in ein Reich der Mystifikation. Es gilt diese konsequente Tat Hegels anzuerkennen und für die Kritik der wirklichen Welt einen neuen, positiv beginnenden Anfang zu setzen. Dieser positive Anfang liegt in der Analyse des wirklichen Prozesses der menschlichen Geschichte: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.« (Marx/Engels 3: 18) »Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.« (Marx/Engels 3: 20) Dokumente des Umbruchs in der Haltung zu Hegel und der Philosophie überhaupt von der politisch-werdenden philosophischen Kritik zur unmittelbar positiv setzenden Geschichtsanalyse finden sich bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Dabei lassen die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte eine kritische Auseinandersetzung mit Feuerbach als Anstoß zu diesem Umbruch erkennen. In ihnen vollzieht sich die Loslösung von der Philosophie ähnlich wie bei Feuerbach in seiner Wendung zum anthropologischen Materialismus Ende der 30er Jahre. Neben dieser schrittweisen Lossagung von der Philosophie beginnt in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten zum ersten Mal eine positive Einschätzung und sogar Übernahme der Hegelschen Dialektik in ihren Vermittlungsmomenten. Trotz der prinzipiellen Ablehnung der Philosophie, besonders der sich absolut voll187 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
endenden Philosophie Hegels, möchte Marx die dialektische Struktur – natürlich ihres idealistischen Gewandes entkleidet – in seine eigene methodische Deutung der Geschichte hinüberretten. Marx kann dies nur dann, wenn die Struktur der Bewegung, die Hegel als Dialektik der Gedankenbewegung fasst, sich als eine wirkliche Bewegung erweisen lässt. Will man die Dialektik als wirkliche Entwicklungsbewegung der menschlichen Geschichte erfassen, so gilt es, die Entfremdung in die reine Gedankenbewegung bei Hegel aufzuzeigen, um wieder zur wirklichen Bewegung zurückzufinden. »Dann aber gibt Hegel sehr oft innerhalb der spekulativen Darstellung eine wirkliche, die Sache selbst ergreifende Darstellung. Diese wirkliche Entwicklung innerhalb der spekulativen Entwicklung verleitet den Leser dazu, die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwicklung für spekulativ zu halten.« (Marx/Engels 2: 63) Diese positive Übernahme der dialektischen Struktur hat Marx seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten in all seinen späteren Schriften und Manuskripten grundlegend beibehalten. So schreibt er im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital (1872): »Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. […] Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« (Marx 23: 27) Während sich Marx seit der Deutschen Ideologie damit begnügt, das Kopfstehen der Hegelschen Philosophie nur noch zu behaupten, versucht er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten dagegen noch, die Berechtigung der Übernahme der dialektischen Struktur argumentativ zu begründen und in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Hegel die einzelnen Momente in ihrer wirklichen und in ihrer gedanklich entfremdeten Gestalt aufzudecken. Mit Recht kann Marx die Übersetzung der Dialektik in die geschichtliche Entwicklungsstruktur des Menschen zum Menschen, die sich für ihn im Laufe der Jahre mehr und mehr auf die Darstellung 188 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Zur Einordnung der Hegel-Kritik
der ökonomischen Lebensverhältnisse des Menschen konzentriert, als seine ureigenste Entdeckung bezeichnen. Er berichtet im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), dass er seinen Ansatz aus einer »kritischen Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie« gewonnen hat: »Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln«. (Marx 13: 8) Die Struktur der geschichtlichen Bewegung lässt sich dabei »aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären«. (Marx 13: 9) Die Ursprünge und die erste Darstellung seines neuen Ansatzes finden wir in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Erst kurz danach tritt Marx mit Engels in Verbindung, von dem er schreibt: »Friedrich Engels […] war auf anderem Wege […] mit mir zu demselben Resultat gelangt«. (Marx 13: 10) In dieser positiven Übernahme der Dialektik stecken auch die Motive für Marx’ Distanzierung von Feuerbach, die implizit bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten klar angesprochen, aber erst in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels polemisch ausgeführt werden.
2.
Zur Einordnung der Hegel-Kritik
Im dritten Manuskript aus der Pariser Zeit finden sich zwei HegelExkurse, von denen der erste kürzere aus zwei durch andere Darstellungen getrennte, aber direkt zusammengehörenden Texten besteht. Der erste Hegel-Exkurs ist noch unmittelbar an Feuerbachs HegelKritik orientiert, von dem Marx anerkennend sagt: »Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie ist.« (Marx 40: 569) Als die großen Taten Feuerbachs nennt Marx drei Punkte, die bestimmend für seinen eigenen Ansatz geworden sind und auch sein Verhältnis zu Hegel kennzeichnen: 1. den »Beweis, daß die Philosophie nichts anderes ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion;« 2. »die Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft, indem Feuerbach das gesellschaftliche Verhältnis ›des Menschen zum Menschen‹ […] 189 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
zum Grundprinzip der Theorie macht;« 3. gegenüber Hegels Dialektik, dass Feuerbach »der Negation der Negation […] das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst gegründete Positive entgegenstellt.« (Marx 40: 569 f.) Auf eine Formel gebracht, heißt das nun: Feuerbach hat die Philosophie als Gestalt des Jenseits entlarvt und hat ihr entgegen die »auf sich selbst gegründete Position« gestellt, die mit dem wirklichen Verhältnis des Menschen zum Menschen beginnt. Feuerbach hat bekanntlich die Hegelsche Dialektik als Vermittlungsbewegung verworfen, da sie das Wirkliche, das Positive, in keiner Weise begreifen oder auch nur benennen kann. Hier nun liegt die Wurzel für Marx’ Distanzierung von Feuerbach, die er ein Jahr später in den Thesen ad Feuerbach und der Deutschen Ideologie endgültig explizieren wird. Feuerbach sieht nicht, dass die Hegelsche Dialektik nichts anderes ist als der ins Jenseits entfremdete »Erzeugungsakt, [die] Entstehungsgeschichte des Menschen«, dass also Hegels dialektische Gedankenbewegung »den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte« (Marx 40: 570) darstellt. Feuerbach ist zwar Materialist, denn er beginnt mit dem wirklichen Verhältnis »des Menschen zum Menschen«, aber er begreift dieses Verhältnis nicht geschichtlich, er setzt es positiv an den Anfang, ohne es in seinem Werden aus der Entfremdung in der Geschichte zu verstehen. So kann also Marx in der Deutschen Ideologie schreiben: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander«. (Marx/Engels 3: 45) Diese Kritik an Feuerbach zeichnet sich bereits im ersten HegelExkurs ab, verstärkt sich aber im zweiten Hegel-Exkurs, der von einer eigenständigen Hegel-Darstellung ausgeht und Feuerbachs Kritik an Hegel nur noch zur Unterstreichung der eigenen Stellungnahme erwähnt. Die Thematik der beiden Hegel-Exkurse ist die gleiche, was im ersten Exkurs nur in einer Inhaltsnennung von Hegels Phänomenologie des Geistes und seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften angedeutet wird, erfährt im zweiten Exkurs seine Ausführung. Die in zwei Punkten zusammengefasste Kritik an Hegel ist in beiden Hegel-Exkursen gleich, wenn sie auch im zweiten breiter dargestellt ist und durch Andeutungen auf die eigene Position verdeutlicht wird. Da also der zweite Hegel-Exkurs den ersten umgreift,
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Zur Einordnung der Hegel-Kritik
können wir uns vor allem auf jenen stützen, lediglich gelegentlich den ersten zur Ergänzung heranziehend. Unmittelbarer Anlass der Hegel-Darstellung und -Kritik ist für Marx die Erläuterung der eigenen Theorie der geschichtlichen Entwicklungsbewegung des Menschen. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten versucht Marx zum ersten Mal seine Theorie der geschichtlichen Entwicklung des Menschen zum Menschen darzustellen. Es sind uns davon nicht alle Teile erhalten – wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Marx bereits eine geschlossene, einheitliche Darstellung gelungen ist –, wohl aber haben wir die beiden wichtigsten Kerngedanken andeutungsweise vorliegen. Zu Ende des ersten Manuskripts entwickelt Marx die Theorie der entfremdeten Arbeit bzw. der menschlichen Entfremdung, und im dritten Manuskript spricht Marx in einem längeren Anmerkungsexkurs zu einem verlorengegangenen Text von der Aufhebung der Entfremdung durch den Kommunismus (»Privateigentum und Kommunismus«). Der erste Hegel-Exkurs schließt unmittelbar an diese Ausführungen an, dient sogar ausdrücklich der philosophischen und methodischen Rechtfertigung der vorhergehenden Geschichtstheorie: »An diesem Punkte ist vielleicht der Ort, sowohl zur Verständigung und Berechtigung über die Hegelsche Dialektik […] einige Andeutungen zu geben.« (Marx 40: 568) Marx spricht in seiner Geschichtstheorie von der Entfremdung, in die der Mensch notwendig geraten musste, um seine Wesenskräfte hervorzutreiben, und die ebenso notwendig einer Aufhebung bedarf, damit die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich der Mensch als Mensch gewinne. Diese Aufhebung der Entfremdung soll durch den Kommunismus geleistet werden. Die beiden dialektisch zusammenhängenden Bewegungen, die der Entfremdung der menschlichen Arbeit und die der Aneignung der menschlichen Wesenskräfte durch die Aufhebung der Entfremdung, bilden für Marx die Vorgeschichte für den erst dadurch möglich werdenden wahren Sozialismus, für den auf dieser Vorgeschichte aufbauenden Humanismus, des positiv aus sich selbst beginnenden gesellschaftlichen Verhältnisses des Menschen zum Menschen. (Marx 40: 536 f., 546 f., 553 f., 583 f.) Die Geschichte der Menschen erfüllt sich also keineswegs in der dialektischen Bewegung selbst, sie ist nur Vorgeschichte, das Ziel liegt in der positiven (sittlichen) menschlichen Gesellschaft, in der der Mensch dem Menschen Bedürfnis geworden ist und in der der 191 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
Mensch im Menschen den Zweck all seiner Tätigkeit sieht. Dieses menschliche Verhältnis der Menschen zueinander kann nicht als ursprüngliche Positivität des Menschen angesetzt werden, wie dies Feuerbach beschrieben hat, weil damit die materielle Basis der Geschichte der menschlichen Praxis, die praktisch und materiell bestehende Entfremdung und ihre notwendig praktische und materielle Aufhebung, übersprungen werden würde – der Humanismus wäre nur ein philosophisch gedachter und nicht ein durch die Geschichte praktisch und materiell vermittelter. Wir sehen also, dass Marx in seiner Theorie die dialektische Vermittlung und den aus sich positiv beginnenden Ansatz miteinander verknüpfen möchte. An Hegels Dialektik und Philosophie versucht er, kritisch die Notwendigkeit einer solchen Verknüpfung zu begründen. Die Hegel-Darstellung und -Kritik in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ist also mehr als eine polemische Abhebung von Hegel. Diese kritische Auseinandersetzung mit Hegel soll gleichzeitig die philosophische Begründung und Rechtfertigung der eigenen Geschichtstheorie leisten. Wir haben also in den Hegel-Exkursen – ergänzt durch einige Partien aus Die heilige Familie – die philosophisch-kritische Begründung der Marxschen Dialektik vor uns. Marx plante die Hegel-Darstellung und -Kritik als Schlusskapitel seiner geplanten Kritik der Nationalökonomie. Dieses Schlusskapitel sollte gleichsam die philosophische Selbstrechtfertigung der Kritik der Nationalökonomie und Begründung der dialektischen Geschichtsauffassung sein; denn den diversen Hegel-Jüngern und Hegel-Gegnern seiner Zeit wirft Marx vor, dass sie »der notwendigen Auseinandersetzung der Kritik mit ihrer Geburtsstätte – der Hegelschen Dialektik und deutschen Philosophie überhaupt« (Marx 40: 469) ausgewichen seien – wie er in der »Vorrede« schreibt. Diese diversen Hegel-Verbesserer begnügten sich damit, »etwa die Kategorie des vermittelnden Beweises gegen die Kategorie der positiven, von sich selbst beginnenden Wahrheit« (Marx 40: 469) auszuspielen, ihm dagegen geht es um beide Momente – dabei Hegel wie Feuerbach in verschiedener Weise zurück auf die Füße stellend – damit die dialektische Vermittlung und die Positivität, in einer einzigen die Geschichte der menschlichen Praxis begreifenden Theorie erfasst werden könne. Das Hegel-Schlusskapitel sollte in einer Abhebung von Hegel eine philosophische Selbstbesinnung auf die eigene Theorie als eine »notwendige Erhebung der modernen Kritik über ihre eigene Beschränktheit und Naturwüchsigkeit« sein. (Marx 40: 469) Entgegen 192 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Zur Einordnung der Hegel-Kritik
jenen, die in »Bewußtlosigkeit – über das Verhältnis der modernen Kritik zur Hegelschen Philosophie überhaupt und zur Dialektik namentlich – […] wenigstens der Potenz nach noch vollständig innerhalb der Hegelschen Logik befangen sind« (Marx 40: 568), geht es Marx darum, die Dialektik als eine wirkliche Bewegung der Geschichte zu begreifen und sie bei Hegel als Gedankenbewegung zu entlarven. In dieser philosophischen Selbstbesinnung und Begründung der eigenen Theorie finden wir zwar nicht mehr die Philosophie als das praktische Subjekt der Kritik der Politik wieder, das, wie Marx einige Monate früher in der »Einleitung« Zur Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie ausführte, die geistigen Voraussetzungen für die menschliche Emanzipation schaffen soll, sondern die Philosophie versteht sich nun als Teil der menschlichen Geschichte, als Moment der geschichtlichen Selbstbewusstwerdung der Menschen. Trotzdem hält Marx an der Philosophie als Ort der argumentativen Rechtfertigung der Theorie und als Moment innerhalb der Selbstgewinnung des Menschen als Menschen fest. Dieser philosophische Begründungsversuch unterscheidet die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von der im Jahr darauf begonnenen Deutschen Ideologie, in der Marx und Engels in ihrer polemischen Abgrenzung von den Junghegelianern sich geradezu demonstrativ einer ganz und gar unphilosophischen und undialektischen Sprache bedienen. Doch ist es Marx auch in späteren Jahren klar, dass sein dialektischer Ansatz einer eigenen Begründung bedarf, so schreibt er beispielsweise am 16. Januar 1858 an Engels: »Wenn je wieder Zeit für solche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen.« (Marx 29: 260; vgl. 32: 18, 538, 686) Leider hat Marx für eine solche Arbeit die Zeit nicht mehr gefunden, somit kommt den Hegel-Exkursen in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten als dem letzten philosophischen Begründungsversuch seiner Dialektik eine entscheidende Bedeutung für die philosophische Beurteilung seines Gesamtwerkes zu.
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Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
3.
Marx’ Darstellung der Hegelschen Dialektik und seine Kritik an ihr
Die Position, von der her Marx Hegel kritisiert, klärt sich uns am deutlichsten an einigen Stellen aus Die heilige Familie, deren philosophische Partien noch unmittelbar vom Geist der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte durchdrungen sind. Erneut – wie bereits in der Dissertation – zeigt Marx die Diskrepanz in der Hegelschen Philosophie zwischen dem absoluten Geist und dem Philosophen auf, »in dem sich der absolute Geist […] nachträglich zum Bewußtsein kömmt« und fährt dann fort: »Hegel macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären«. (Marx/Engels 2: 90) Da nun bei Hegel der absolute Geist der schöpferische Weltgeist der Geschichte ist, der aber immer »erst post festum im Philosophen […] zum Bewußtsein kommt« und gerade in dieser Bewegung des Bewusstwerdens sein Schöpfertum besteht, »so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewußtsein […] des Philosophen«. (Marx/Engels 2: 90) Diese Diskrepanz zwischen dem Weltgeist, der schöpferisch die Bewegung der Geschichte selbst ist, und dem Philosophen, in dem diese Bewegung allein in Gedanken vorgeht, bildet nach Marx den unauflösbaren und unablässigen Widerspruch in Hegels Philosophieren, den Hegel aber als Identität ausgibt. »In Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichtesche Selbstbewußtsein, die Hegelsche notwendig-widerspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist.« (Marx/Engels 2: 147) Die bisherige Hegel-Kritik der Junghegelianer, die bemüht war, die Hegelsche Philosophie in die Wirklichkeit zurückzubiegen, konnte immer nur an einem Moment ansetzen, so Strauß an der Substanz, der »metaphysisch travestierten Natur in der Trennung vom Menschen«, so Bauer am Selbstbewusstsein, dem »metaphysisch travestierten Geist in der Trennung von der Natur […]. Erst Feuerbach, der den Hegel auf Hegelschem Standpunkt vollendete und kritisierte, indem er den metaphysischen absoluten Geist in den ›wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur‹ auflöste, vollendete die Kritik der Religion […] und […] aller Metaphysik«. (Marx/Engels 2: 147) Der Widerspruch der Hegelschen Philosophie ist gelöst, indem die widerspruchsvolle Einheit von absolutem Weltgeist und mensch194 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Marx’ Darstellung der Hegelschen Dialektik und seine Kritik an ihr
lichem Selbstbewusstsein nicht mehr als Einheit in der Philosophie verstanden, sondern aus der wirklichen Einheit von natürlicher Geschichte der Menschen und menschlicher Geschichte der Natur positiv erfasst wird. So schreibt Marx in der »Vorrede« der ÖkonomischPhilosophischen Manuskripte: »Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik«. (Marx 40: 468) Die Resultate der Hegelschen Philosophie beruhen auf einer Verankerung, in der die Philosophie selbst immer zum absoluten Subjekt und die Wirklichkeit notwendig zum Prädikat wird, so dass das Wirkliche in seiner Wirklichkeit – dem gegenüber das Denken Prädikat, d. h. Bestimmung des Seins, sein sollte – nicht mehr als selbsttätig wirkend erscheinen kann. Die Position also, von der her Marx Hegel kritisiert, ist, wenn wir sie in ihrem tiefsten philosophischen Sinn nehmen, immer schon eine negativ über die Hegelsche Philosophie vermittelte Position. Es bedurfte erst der Hegelschen Philosophie, die sich zum absoluten Subjekt ihrer eigenen Vermittlung erhob, um zu einer radikalen Negation der spekulativen Philosophie als vermittelndem Subjekt bereit zu sein, um einem der Wirklichkeit unterstellten und sich ihr einordnenden Philosophieren erschlossen zu sein. Zu dieser philosophischen Einsicht gelangt Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten – auch wenn er nicht zu solch einer Klarheit über seinen eigenen Ansatzpunkt kommt wie etwa Kierkegaard oder der greise Schelling gerade zur selben Zeit. 3 Marx kritisiert Hegel nicht von einem platten Sensualismus und Materialismus her, sondern er ist erfüllt von der Aufgabe der Errichtung eines positiven Philosophierens, das nicht mehr nur die Wirklichkeit in Gedanken fasst, sondern sich einbegreifend aus einer Wirklichkeit erfasst, in die sie entschieden einzuwirken vermag. Marx versucht dabei die widerspruchsvolle Einheit der Hegelschen Philosophie in ihrem »unkritischen Positivismus« zu entlarven, der »ebenso unkritischer Idealismus« ist (Marx 40: 573), indem er sie als unversöhnlichen Widerspruch zwischen dem absoluten Subjekt der Philosophie und dem menschlichen Subjekt des Philosophierenden aufdeckt und nun von beiden Seiten her Hegel kritisiert, seine GedanVgl. Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik (1975); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Marx – Kierkegaard – Schelling« (1965), in: Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings [1963] und andere Schellingiana (2016).
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Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
kenwelt bloßstellt, um die wirklichen und positiven Verhältnisse sichtbar werden zu lassen. Da in Hegels Philosophie ein unaufhebbarer innerer Widerspruch waltet, gibt es immer zwei Möglichkeiten, Hegels philosophische Aussagen ernst und beim Wort zu nehmen: (1) Entweder man begreift die Philosophie selbst als absolute, sich selber einholende Vermittlung, in der das Denken im Andern seiner selbst zu sich selber kommt und damit an sich und für sich absolutes Subjekt ist und bleibt, dann aber zeigt sich, dass dieses Denken niemals auch nur die Wirklichkeit positiv berührt, geschweige denn begreift – deshalb auch muss diese Philosophie, dort wo sie notgedrungen Wirklichem begegnet (dem Philosophierenden, den geschichtlichen Verhältnissen), dieses als Nichtigkeit unbegriffen von sich stoßen. Als absolute Philosophie ernst genommen, wird die Hegelsche Philosophie zu einer Gedankenwelt fixer Ideen, in die sie sich selbst einkreiselt, wie es Hegel selbst in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hegel 7: 26 ff.) und am Ende seiner Philosophie der Geschichte (Hegel 12: 539 f.) vorgezeichnet hat. In dieser Gestalt zeigt sich die Philosophie – wie Marx unterstreicht – in »absoluter Negativität« (Marx 40: 586) und Getrenntheit von der Wirklichkeit, zeigt sich das menschliche Denken in seiner größten Entfremdung. (2) Oder man versteht die Philosophie Hegels als den Bildungsprozess des menschlichen Bewusstseins, seine Entfremdung in verschiedener Gestaltung und seine Aufhebung der Entfremdung und Aneignung seines bewussten Selbst, dann aber zeigt sich, dass Hegel das menschliche Denken isoliert aus der menschlichen Wirklichkeit verfolgt und obendrein das Denken zum Subjekt des Menschen erhebt, statt aus dem wirklichen Menschen das menschliche Denken sich begreifen zu lassen. (Marx 40: 580 f.) Auch hier zeigt sich also eine Verkehrtheit von Subjekt und Prädikat in allen Schritten. Aber gerade aus dieser hofft Marx die dialektische Vermittlungsbewegung befreien und auf das wirkliche Werden des Menschen zum Menschen in der wirklichen Geschichte übersetzen zu können. Wenden wir uns nun direkt Marxens Darstellung der Hegelschen Dialektik zu. Er beginnt die Darstellung unmittelbar damit, dass er sagt: »Die Hauptsache ist, daß der Gegenstand des Bewußtseins nichts anderes als das Selbstbewußtsein oder daß der Gegenstand nur das vergegenständlichte Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein als Gegenstand ist.« (Marx 40: 575) Marx lässt sich also 196 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Marx’ Darstellung der Hegelschen Dialektik und seine Kritik an ihr
von vornherein nicht auf die transzendentalphilosophische Aporetik ein, von der her Hegel seine Dialektik vermittelt, sondern fasst in seiner Darstellung die Hegelsche Philosophie in ihrem Resultat. Damit wird er natürlich dem philosophischen Niveau Hegels in keiner Weise gerecht, obwohl er in den philosophischen Motiven, um die es uns hier geht, über Hegel hinausgelangt. Das Denken setzt den Gegenstand des Wissens, das Denken konstituiert den Gegenstand – so charakterisiert Marx die Hegelsche Dialektik –, indem es seine Gegenständlichkeit bestimmt. Weiß nun das Denken sich im Setzen des Gegenstandes als das Setzende seiner Gegenständlichkeit, so weiß das Denken sich selbst in seiner Vergegenständlichung, es erkennt sich selbst als »das vergegenständlichte Selbstbewußtsein«. Darin aber zeigt sich, dass der Gegenstand des Wissens in einer Gegenständlichkeit für sich genommen nichts ist, sondern nur als Setzung des Denkens etwas ist. »Es gilt daher den Gegenstand des Bewußtseins zu überwinden.« (Marx 40: 575) Es gilt, die Entfremdung des Denkens in die Gegenständlichkeit wieder zurückzunehmen ins Selbstbewusstsein des Denkens, damit das Denken in seinem Selbstbewusstsein als das wahre und einzige Subjekt der Denkbewegung in sein Selbstwissen zurückkehrt. »Die Wiederaneignung des als fremd, unter der Bestimmung der Entfremdung erzeugten gegenständlichen Wesens des Menschen hat also nicht nur die Bedeutung, die Entfremdung, sondern die Gegenständlichkeit aufzuheben, d. h. also der Mensch gilt als ein nicht-gegenständliches, spiritualistisches Wesen.« (Marx 40: 575) Wenn wir vom Menschen reden, meinen wir ihn als ein denkendes Wesen, hier aber bei Hegel wird das Denken in seinem Selbstbewusstsein zum absoluten Subjekt erhoben, für das das Menschliche und Wirkliche zum Prädikat wird. »Der Mensch wird = Selbst gesetzt. Das Selbst ist aber nur der abstrakt gefaßte und durch Abstraktion erzeugte Mensch. […] Das menschliche Wesen, der Mensch, gilt für Hegel = Selbstbewußtsein.« (Marx 40: 575) Diese Verkehrung gilt es an Hegel immer festzuhalten; das Denken ist bei ihm nicht das Zusich-selber-Kommen des Menschen in der Wirklichkeit, sondern das Denken ist der sich in der menschlichen Erscheinung wissende absolute Geist. Alle Aufhebung der Entfremdung, d. h. Aufhebung der gegenständlichen Bestimmung ist also Bildung und Selbstwerdung des Denkens als absolutes Subjekt. »Alle Wiederaneignung des entfremdeten gegenständlichen Wesens erscheint daher als eine Einverleibung in das Selbstbewußtsein«. (Marx 40: 576) 197 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
Von hier her versucht Marx, Hegels Dialektik als »die Überwindung des Gegenstandes des Bewußtseins« (Marx 40: 576) in acht Punkten charakterisieren zu können, die zugleich die formale Struktur der Dialektik umschreiben, wie er sie selbst in seine Geschichtstheorie übernimmt: 1. Die Bewusstseinsdialektik ist dadurch gekennzeichnet, dass der Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit dem Denken als etwas erscheint, das »verschwindet«. Das Verschwinden des Gegenstandes ist zugleich die »Rückkehr des Gegenstandes in das Selbst«. (Marx 40: 576) Das setzt aber 2. voraus, dass es das Denken ist, welches den Gegenstand, den es später zurücknehmen kann, gesetzt hat. Der Gegenstand des Bewusstseins ist nichts anderes als das entäußerte, gegenständlich gewordene Wesen des Bewusstseins selbst. 3. »Diese Entäußerung des Bewußtseins hat nicht nur negative, sondern auch positive Bedeutung«, denn 4. »jene Nichtigkeit des Gegenstandes ist eben die Selbstbestätigung der Ungegenständlichkeit, der Abstraktion, seiner selbst.« (Marx 40: 579 f.) 5. Dies bedeutet nun, dass »das Bewußtsein […] diese Nichtigkeit, das gegenständliche Wesen, als seine Selbstentäußerung weiß«, gerade darin liegt 6., »daß es diese Entäußerung der Gegenständlichkeit ebensosehr aufgehoben und in sich zurückgenommen hat also in seinem Anderssein als solchem bei sich ist.« (Marx 40: 580) 7. In dieser Gedoppeltheit der Momente, der Entfremdung (Selbstentäußerung) und der Aufhebung der Entfremdung (»in seinem Anderssein als solchem bei sich« zu sein) liegt »die Bewegung des Bewußtseins, und dies ist darum die Totalität seiner Momente.« (Marx 40: 576) Da das Denken allein Subjekt ist, bedeutet die Entäußerung des Denkens ins Wissen und die Zurücknahme des Wissens ins Selbstbewusstsein die Totalität der dialektischen Denkbewegung, durch welche 8. das denkende Bewusstsein erst »an sich zum geistigen Wesen« (Marx 40: 576) wird, zur Substanz, zum Wesen seiner eigenen gegenständlichen Bestimmungen. Deshalb glaubt das Bewusstsein durch die dialektische (negative) Denkbewegung sich selbst in die Position eines absoluten Selbstbewusstseins vermittelt und erzeugt zu haben. Zusammenfassend lässt sich über Hegels Dialektik sagen – und damit übt Marx immanente Kritik an der sich selbst zur Position werdenden Vermittlungsbewegung, die sich in der Negation der Negation bereits in ihrer Position wähnt –, dass sie sich nur in ihrer positiven Seite, im Selbstwerden des Bewusstseins begreift, d. h. niemals den wirklichen Gegenstand, die Wirklichkeit, als das wirklich und ganz Andere erfährt; dass sie sich an einem Gedankengegenstand 198 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Marx’ Darstellung der Hegelschen Dialektik und seine Kritik an ihr
und seiner Rücknahme in das Denken befriedigt, anstatt die wirkliche Auseinandersetzung mit dem wirklichen Gegenstand zu wagen und dabei ihre dialektische Auseinandersetzung als ein vermittelndes Einordnen des Denkens in die Wirklichkeit zu begreifen. In die Sprache seiner Position übersetzt, heißt es bei Marx: Hegel »erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige. Was also überhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen […]. Was die anderen Philosophen taten […], das weiß Hegel aus dem Tun der Philosophie. Darum ist seine Wissenschaft absolut.« (Marx 40: 574 f.) Marx’ Kritik wendet sich nicht so sehr dagegen, dass Hegel nur die geistige Tätigkeit des Menschen als Arbeit begreift – wohl aber sieht sie darin ein Symptom der Entfremdung; denn nur das Denken kann glauben, mitsamt seinen Gedanken allein bei sich zu sein. Die eigentliche Verkehrtheit der Hegelschen Philosophie rührt daher, dass Hegel die Wirklichkeit als wirklich existierende nicht anerkennt. Das Denken, das sich in der Bestimmung des Gegenstandes entäußert, ist nicht außer sich in der Wirklichkeit, ist nicht wirkliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, im Versuch, Sinnbestimmung dieser Wirklichkeit zu sein. Es erfährt deshalb auch die sinnbestimmte Wirklichkeit nicht in deren eigenem Wirken. Das Privatrecht ist ihm nicht das wirkliche Privatrecht, der Staat nicht der wirkliche Staat, sondern jeweils nur eine gedachte Wirklichkeit, die das Denken wieder in sich zurücknehmen kann. Die Aufhebung der Entfremdung ist für Hegel also nicht der Versuch der Rücknahme einer entfremdeten Sinnbestimmung, sondern Aufhebung eines Gedankens ins Denken und somit Selbstbestätigung des Denkens als des einzig wirklichen Subjekts. Es ist »dies Aufheben ein Aufheben des gedachten Wesens, also das gedachte Privateigentum hebt sich auf in den Gedanken der Moral« etc. (Marx 40: 582) Darüber hinaus ist es die Selbstbestätigung des Denkens in den einverleibten Bestimmungen des Privateigentums, der Moral, etc., so dass die dialektische Bewegung zur selbstgewordenen Position des Denkens über alle Gedankenwesen wird. »Bei Hegel ist die Negation der Negation daher nicht die Bestätigung des Scheinwesens oder des sich entfremdeten Wesens 199 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
in seiner Verneinung oder die Verneinung dieses Scheinwesens als eines gegenständlichen, außer dem Menschen hausenden und von ihm unabhängigen Wesens und seine Verwandlung in das Subjekt.« (Marx 40: 581) Die eigentliche Verkehrtheit der Hegelschen Philosophie liegt also darin, dass Hegel das wirkliche Tätigsein des Menschen nicht als Entäußerung des Menschen in die Wirklichkeit fasst und so auch die Aufhebung der Entfremdung nicht als wirkliche Aufgabe, als wirkliche Aneignung der menschlichen Wirklichkeit als menschlicher begreifen kann. Daher kann er auch den negativen Charakter der dialektischen Bewegung, nicht als Vermittlung erfassen, die zum wirklich positiven Menschsein in der Wirklichkeit hinführt, sondern verkennt die Bewegung prinzipiell als Selbstsein und Position aus sich selbst. Hegel sieht in der Arbeit, und zwar der abstrakt geistigen, nur die positive Seite, weil für ihn die denkende Vermittlung selbst schon die Position ist; er sieht nicht die negative Seite der dialektischen Vermittlung, die darin besteht, dass sie nur Hinführung zur aus sich selbst beginnenden Position des Menschseins in der Wirklichkeit ist. Wenden wir uns nun der ausgeführten Kritik der Hegelschen Dialektik, wie sie Marx in den Pariser Manuskripten entwickelt hat, zu. Wir sagten bereits, dass die Kritik an zwei Punkten ansetzen kann, entweder sie nimmt den Absolutheitsanspruch der Philosophie als absolutes Vermittlungssubjekt ernst oder sie versucht, die dialektische Vermittlungsbewegung als geistige Selbstgewinnung des Menschen als Menschen darzulegen. Verfolgen wir zunächst die erste Kritik, die für Marx letztlich zu einem Bruch mit der Philosophie als Philosophie, genauer ihrem Absolutheitsanspruch führt: Für Hegel liegt in der dialektischen Bewegung, die sowohl eine Entäußerung des Denkens in den Gegenstand als auch das »in seinem Anderssein als solchem bei sich«-Sein bedeutet, die selbstvermittelte Position des Denkens als Selbstbewusstsein. Dieser »falsche Positivismus Hegels«, sein »nur scheinbarer Kritizismus« »liegt hierin, daß der selbstbewußte Mensch, insofern er die geistige Welt – als Selbstentäußerung erkannt und aufgehoben hat, er dieselbe dennoch wieder in dieser entäußerten Gestalt bestätigt und als sein wahres Dasein ausgibt, sie wiederherstellt, in seinem Anderssein als solchem bei sich zu sein vorgibt«. (Marx 40: 581) Diese Scheinposition des Selbstbewusstseins als einem über die Totalität seiner Bestimmungen zu sich gekommenen absoluten Subjekt besteht darin, dass sich das Denken in seinem Wissen selbst bejaht, 200 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Marx’ Darstellung der Hegelschen Dialektik und seine Kritik an ihr
denn das wissende Denken ist das einzig Wirkliche seiner selbst. »Die Selbstbejahung, Selbstbestätigung im Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen als mit dem Wissen des Gegenstandes, ist also das wahre Wissen und Leben.« (Marx 40: 581) Die dialektische Bewegung kann deshalb als das positive Sein im Werden des Selbstbewusstseins erscheinen, da – wie Marx bereits im ersten Hegel-Exkurs schreibt – die angeeigneten »Produkte des abstrakten Geistes« Gedankenwesen sind; »diese Aneignung oder die Einsicht in diesen Prozeß erscheint daher bei Hegel so, daß die Sinnlichkeit, Religion, Staatsmacht etc. geistige Wesen sind; denn nur der Geist ist das wahre Wesen des Menschen, und die wahre Form des Geistes ist der denkende Geist, der logische, spekulative Geist.« (Marx 40: 573) Dadurch, dass Hegel in seiner Philosophie die Wirklichkeit als wirklich Existierende nicht kennt und somit auch nicht anerkennt, wird seine Philosophie zu einer absolut von der Wirklichkeit getrennten, rein in sich selbst kreisenden Gedankenwelt. »Die ganze Entäußerungsgeschichte und die ganze Zurücknahme der Entäußerung ist daher nichts als die Produktionsgeschichte des abstrakten, i. e. absoluten Denkens, des logischen spekulativen Denkens.« (Marx 40: 572) Da aber Hegel konsequent in seiner absoluten Philosophie bleibt, hat er die absolute Negativität aller nur sich selbst wollenden und wissenden Philosophie positiv bewiesen. Diese Philosophie, vor allem in der Gestalt der Logik, ist der »Abstraktionsakt«, der »eine Totalität von Abstraktionen« durchläuft und sich dabei »als Abstraktion erfassende Abstraktion weiß«. (Marx 40: 585) Dadurch setzt Hegel konsequenterweise – so betont Marx – »den in sich kreisenden Akt der Abstraktion an die Stelle jener fixen Abstraktionen« (Marx 40: 586), die die bisherige Philosophie hervorgebracht hat. Hegels absolute Philosophie ist somit das menschliche Denken in seiner völligen Entfremdung von der Wirklichkeit. »Das Positive, was Hegel hier vollbracht hat – in seiner spekulativen Logik – ist, daß die bestimmten Begriffe, die allgemeinen fixen Denkformen in ihrer Selbständigkeit gegen Natur und Geist ein notwendiges Resultat der allgemeinen Entfremdung des menschlichen Wesens, also auch des menschlichen Denkens sind und daß Hegel sie daher als Momente des Abstraktionsprozesses dargestellt und zusammengefaßt hat.« (Marx 40: 585) Die ganze dialektische Bewegung dieser absoluten Philosophie ist eine Scheinbewegung, eine Bewegung in Gedanken – nicht einmal die Bewegung des wirklichen Denkens –, die ihren Zweck in sich selbst sieht und sich daher selbst als Position 201 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
ausgibt. »Hegel hat in seiner Logik alle diese fixen Geister zusammengesperrt, jeden derselben einmal als Negation, d. h. als Entäußerung des menschlichen Denkens, dann als Negation der Negation, d. h. als Aufhebung dieser Entäußerung, als wirkliche Äußerung des menschlichen Denkens gefaßt«. (Marx 40: 586) Hegel hat damit eine wirkliche dialektische Bewegung, die in der Entäußerung des Denkens als Sinnbestimmung des Wirklichen und der Aufhebung der Entäußerung als Innewerden seiner denkenden Äußerung lediglich in entfremdeter Gestalt, d. h. nicht als wirkliche, sondern als gedachte Bewegung begriffen. Er anerkennt die dialektische Bewegung nicht als Hinführung zum wirklichen, sich in der Wirklichkeit begreifenden Menschen, sondern er sieht in der dialektischen Bewegung selbst die absolut aus und in sich seiende Position des Denkens, weil ihm »diese Negation der Negation teils das Wiederherstellen (der Entäußerung) in ihrer Entfremdung, teils das Stehnbleiben bei dem letzten Akt, das Sichaufsichbeziehn in der Entäußerung« (Marx 40: 586) ist. So empfindet Hegel zwar selber zu Ende seiner Logik die »unendliche Langeweile […] des abstrakten, nur im Denken sich bewegenden Denkens« (Marx 40: 586 f.), aber seine Versuche, das abstrakte Denken wieder mit der Natur und der Geschichte zu vermitteln, enden letztlich wiederum in einem nur sich selbst kennenden und anerkennenden absoluten Geist. (Marx 40: 587 f.) Die absolute Philosophie behauptet nur immer sich selbst als Position und ist deshalb »losgerissen vom wirklichen Geist und von der wirklichen Natur«. (Marx 40: 585) Es hat sich bei Hegel die Philosophie im Ganzen in ihrer »absoluten Verkehrung« und Entfremdung bloßgestellt. Die Wirklichkeit wird der Philosophie zum Prädikat; die Philosophie kennt keine Wirklichkeit außer sich, sie selbst wird so »das absolute Subjekt als ein Prozeß, als sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sich zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine, rastlose Kreisen in sich.« (Marx 40: 584) Verfolgen wir nun die zweite Kritik, die im Grunde Voraussetzung für Marx’ Kritik an der absoluten Philosophie ist; da aus dieser zweiten (eigentlich ersten) Kritik aber die positive Rezeption der dialektischen Methode erwächst, stellen wir sie hier der vorher behandelten nach. Diese Kritik geht davon aus, dass das Denken vorgibt, »in seinem Anderssein als solchem bei sich« zu sein. »Darin liegt einmal, daß das Bewußtsein – das Wissen als Wissen – das Denken als Den202 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Marx’ Darstellung der Hegelschen Dialektik und seine Kritik an ihr
ken – unmittelbar das andere seiner selbst […], Sinnlichkeit, Wirklichkeit, Leben zu sein vorgibt – das im Denken sich überbietende Denken.« (Marx 40: 580 f.) Wie sehr die Hegelsche Philosophie nur mit den Gedankenwesen zu tun hat und nicht mit den wirklichen und wirkenden Gegenständen, zeigt Marx bereits im ersten Hegel-Exkurs: »Wenn er z. B. Reichtum, Staatsmacht etc. als dem menschlichen Wesen entfremdete Wesen gefaßt, so geschieht dies nur in ihrer Gedankenform … Sie sind Gedankenwesen – daher bloß eine Entfremdung des reinen, d. i. abstrakten philosophischen Denkens.« (Marx 40: 572) Die ganze Verkehrung der Wirklichkeit in eine gedachte zeigt sich besonders darin, dass Hegel die Entfremdung nicht in bestimmten Sinnbestimmungen der Wirklichkeit sieht, sondern in der Wirklichkeit etwas dem Denken Entgegenstehendes begreift, aber nicht wirklich sich Entgegenstellendes, sondern vom Denken selbst in seinem Bestimmen Entgegengestelltes. »Nicht daß das menschliche Wesen sich unmenschlich, im Gegensatz zu sich selbst sich vergegenständlicht, sondern daß es im Unterschied vom und im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung.« (Marx 40: 572) Liegt die Entfremdung für das Denken in der Gegenständlichkeit, d. h. nur in den vom Denken selbst gesetzten Bestimmungen, so kann die Aufhebung der Entfremdung und Aneignung des Denkens als Denken »nur eine Aneignung, die im Bewußtsein, im reinen Denken, i. e. in der Abstraktion vor sich geht, die Aneignung dieser Gegenstände als Gedanken und Gedankenbewegungen« (Marx 40: 573) sein. In dieser dialektischen Bewegung des Denkens, dem »im Denken sich überbietenden Denken« (Marx 40: 580 f.) verbirgt sich in entfremdeter Gestalt eine wirkliche Bewegung. »Das Große an der Hegelschen »Phänomenologie« und ihrem Endresultate« (Marx 40: 574) ist es, dass er diese dialektische Bewegung zum ersten Mal erfasst hat. »Es ist dies die innerhalb der Entfremdung ausgedrückte Einsicht von der Aneignung des gegenständlichen Wesens durch die Aufhebung seiner Entfremdung, die entfremdete Einsicht in die wirkliche Vergegenständlichung des Menschen, in die wirkliche Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt«. (Marx 40: 583) Begreift man Hegels Philosophie von seiner »Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip« (Marx 40: 203 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
574), so findet man darin die Momente einer wirklichen Bewegung, die der Mensch in der Wirklichkeit durchmacht, die über die Entfremdung und die Aufhebung der Entfremdung zur Bewegung des wirklichen Werdens des Menschen zum Menschen wird. »Hegel faßt also, indem er den positiven Sinn der auf sich selbst bezogenen Negation – wenn auch wieder in entfremdeter Weise – faßt, die Selbstentfremdung, Wesensentäußerung, Entgegenständlichung und Entwirklichung des Menschen als Selbstgewinnung, Wesensäußerung, Vergegenständlichung, Verwirklichung […] – innerhalb der Abstraktion – die Arbeit als den Selbsterzeugungsakt des Menschen, das Verhalten zu sich als fremdem Wesen und das Betätigen seiner als eines fremden Wesens als das werdende Gattungsbewußtsein und Gattungsleben.« (Marx 40: 583 f.) Voraussetzung für ein solches Verstehen der Hegelschen Dialektik ist, dass man die Entfremdung als wirkliche Macht einsieht, die nur durch wirkliche Aufhebung der Entfremdung vernichtet werden kann und die damit die Gewinnung des Menschen als Menschen bedeutet als Ermöglichung des tätigen Verhaltens des Menschen zum Menschen. Das Große an Hegel ist, dass er »die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d. h. als menschliches Wesen, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte – was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte – herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist.« (Marx 40: 574) Übersetzt man – so argumentiert Marx – die Momente der Hegelschen Dialektik in das wirkliche Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit und in der Wirklichkeit, dann begreift man die Struktur der wirklichen und geschichtlichen Bewegung des Menschen zum Menschen. Diese wirkliche Bewegung kann nun nicht, wie bei Hegel die Dialektik, selbst schon absolute Position sein, aber sie ist die notwendig vorausgehende Entwicklungsgeschichte zur Position der aus sich selbst erhebenden Menschlichkeit. Hier nun wendet sich die Hegel-Darstellung und -Kritik zur eigenen kritischen Philosophie der 204 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen; diese in ihrem prinzipiellen Selbstverständnis darzustellen wird unsere folgende Aufgabe sein.
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Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
Marxens Kritik an der sich in einer absoluten Gedankenbewegung erfüllenden Philosophie mündete in den Aufweis ihrer absoluten Negativität und Getrenntheit von aller Wirklichkeit. Nun gelangt Hegel zu dieser absoluten aus sich durch sich in sich seienden Philosophie über die dialektische Methode, d. h. über das im Andern bei sich Sein des Denkens; die Momente der Dialektik: Die Entäußerung, Negation, und die Aufhebung der Entäußerung, Negation der Negation, sind die Momente des sich reflexiv selbst erfassenden Denkens. Was liegt also näher, als in der absoluten Negativität der Philosophie einen Ausdruck der Negativität der dialektischen Methode zu sehen. Diesen Weg ging letztlich Feuerbach, der mit der alten Philosophie auch die Dialektik verwarf, um mit einem positiv aus sich selbst beginnenden Philosophieren in der Wirklichkeit zu beginnen. Genau diese Konsequenz glaubt Marx nicht ziehen zu dürfen. Marx möchte die Dialektik als eine wirkliche Bewegung retten, weil sie seiner Meinung nach ursprünglich gerade nicht der Bewegung der Gedanken angehört, sondern in der absoluten Philosophie Hegels nur in entfremdeter Gestalt vorkommt. Damit stellt sich uns nun die Frage: Gelingt es Marx, die Hegelsche Dialektik als eine entfremdete Gestalt einer wirklichen Bewegung kritisch aufzudecken, bzw. gelingt es ihm, die dialektische Bewegung losgetrennt von der Bewegung der Gedanken im Denken zu begründen? Versuchen wir zunächst, eine kurze prinzipielle Darstellung der Marxschen Philosophie der geschichtlichen Bewegung zu geben. Im ersten Manuskript der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte legt uns Marx eine strukturelle Analyse der entfremdeten Arbeit vor. Die Analyse findet diese entfremdete Arbeit als wirkliches »Faktum« in der bürgerlichen Gesellschaft auf. »Wir gingen aus von einem nationalökonomischen Faktum der Entfremdung des Arbeiters und seiner Produktion. Wir haben den Begriff dieses Faktums ausgesprochen: die entfremdete, entäußerte Arbeit. Wir haben diesen Begriff analysiert, also bloß ein nationalökonomisches Faktum analysiert.« (Marx 40: 518) Will man dieses Faktum in einer Theorie der 205 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
geschichtlichen Bewegung verwenden, so muss seine Notwendigkeit als geschichtliches Moment – besser, als Moment der Struktur der Geschichtlichkeit der menschlichen Entwicklung begründet werden. Marx weiß davon, wenn er am Ende des ersten (abbrechenden) Manuskripts selbst fordert: »Wir haben die Entfremdung der Arbeit, ihre Entäußerung als ein Faktum angenommen und dieses Faktum analysiert. Wie, fragen wir nun, kommt der Mensch dazu, seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet?« (Marx 40: 521) Das erste Manuskript bricht ab, ohne dieses aufgeworfene Problem zu beantworten, wir wissen nicht, ob diese Frage in einem der verlorengegangenen Manuskriptfragmente wieder aufgegriffen worden ist; die uns erhaltenen Manuskripte geben keine Antwort darauf. Lediglich gegen Ende des dritten Manuskripts finden wir eine »Betrachtung der Teilung der Arbeit und des Austausches«, die für unser Problem »von höchstem Interesse« ist, »weil sie die sinnfällig entäußerten Ausdrücke der menschlichen Tätigkeit und Wesenskraft als einer gattungsmäßigen Tätigkeit und Wesenskraft sind«. (Marx 40: 561) Sie sind sinnfällige Ausdrücke dafür, dass die Menschheit der Arbeitsteilung unter den Menschen und des Austausches bedarf, um alle menschlichen Wesenskräfte und Tätigkeiten der Ganzheit der menschlichen Gesellschaft nutzbar zu machen. Die Arbeitsteilung führt zu immer stärkerer Entäußerung der menschlichen Tätigkeiten, gleichzeitig allerdings auch zu immer größerer Entfremdung der Arbeit für den Arbeiter; ebenso wie der Austausch einen immer stärker werdenden Verkehr der Menschen untereinander, gleichzeitig jedoch eine immer größer werdende Abhängigkeit der Austauschenden hervorbringt. Es zeigt sich also in der Arbeitsteilung und im Austausch, dass sie einerseits notwendig sind für die Entfaltung und Entäußerung der menschlichen Wesenskräfte, also notwendig sind für die Entwicklung der Menschheit, andererseits aber den einzelnen arbeitenden Menschen in immer größere Entfremdung und Abhängigkeit stürzen, ihn also immer mehr entmenschen. »Eben darin, daß Teilung der Arbeit und Austausch Gestaltungen des Privateigentums sind, eben darin liegt der doppelte Beweis, sowohl daß das menschliche Leben zu seiner Verwirklichung des Privateigentums bedurfte, wie andererseits, daß es jetzt der Aufhebung des Privateigentums bedarf.« (Marx 40: 562) Es liegt natürlich in diesen sinnfälligen Ausdrücken kein Beweis, aber wir sehen doch, dass Marx hier die Entfremdung als ein wesen206 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
haft notwendiges Moment zur Menschheit und Menschlichkeit hin antizipiert. Da wir in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten keine ausgeführte Begründung der Entfremdung als notwendiges Moment der geschichtlichen Entwicklung des Menschen zum Menschen finden – später in der Deutschen Ideologie versuchen Marx und Engels, eine solche Begründung durch eine geschichtliche Erzählung zu überspielen (Marx/Engels 3: 21 f.) –, müssen wir uns hier damit begnügen, die von Marx analysierten Momente der entfremdeten Arbeit darzustellen. Die entfremdete Arbeit lässt sich in drei Momenten charakterisieren, die eine (vierte) Konsequenz in sich bergen: 1. »Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt.« (Marx 40: 512) 2. Die »Entäußerung der Arbeit« besteht weiterhin darin, »dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert.« (Marx 40: 514) War die erste Charakteristik die »Entfremdung der Sache«, so ist die zweite die der »Selbstentfremdung«, daraus ist »nun noch eine dritte Bestimmung der entfremdeten Arbeit […] zu ziehen«. (Marx 40: 515) 3. Die entfremdete Arbeit trennt den Menschen von der Gattung, von der menschlichen Gemeinschaft; »sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben, und zweitens macht sie das letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form.« (Marx 40: 516) Aus diesen drei Momenten der Entfremdung erwächst als viertes eine allgemein den Menschen als Menschen betreffende Konsequenz: »Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen. Wenn der Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andre Mensch gegenüber. […] Überhaupt, der Satz, daß dem Menschen sein 207 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
Gattungswesen entfremdet ist, heißt, daß ein Mensch dem anderen, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist.« (Marx 40: 515 f.) Es ist wichtig zu sehen, dass diese sittliche Entfremdung des Menschen vom Menschen, des Menschen von seiner Menschlichkeit, nicht eine notwendige Bestimmung und Folgerung der entäußerten Arbeit ist, sondern als Konsequenz, als unmittelbare Folge gesehen wird. Wir werden diese Unterscheidung zwischen den strukturnotwendigen Momenten und der durch diese ermöglichte geschichtliche Folge erneut bei der Analyse der Aufhebung der Entfremdung wiederfinden. Es wäre ein Missverständnis der Geschichtsphilosophie von Marx, glaubte man, aus dem bestehenden entfremdeten Zustand auf einen ursprünglichen Zustand zurückschließen zu können, von dem her der Mensch in die Entfremdung geraten ist. Gerade ein solches ungeschichtliches Begreifen der Geschichte des Menschen kritisiert Marx an Feuerbach ausführlich in der Deutschen Ideologie. Es gibt keinen Ur- und Naturzustand des Menschen, »der Mensch [… hat] immer eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte vor sich«. (Marx/Engels 3: 43) Die entfremdete Arbeit ist als notwendiges Moment für alle Geschichte und Menschheitsentwicklung zu sehen. Wo immer Menschen als Menschen sich »naturwüchsig« äußern, wo immer menschliche Geschichte ist, ist der Mensch daran, sich in seiner Tätigkeit zu entfremden, d. h. jede naturwüchsige Entäußerung menschlicher Wesenskräfte führt notwendig in die Entfremdung. Wo immer wir den Menschen in seinen naturwüchsigen – gesellschaftlich noch nicht bewusst ergriffenen – Äußerungen betrachten, stehen wir von dem Faktum der Entfremdung; sie ist aber je eine andere und gewandelte im Laufe der geschichtlichen Entwicklung des Menschen in seinem praktischen Verhältnis zur Natur, zu sich selbst und zur menschlichen Gemeinschaft. Entscheidend für die Beurteilung der Theorie der Entfremdung ist es, drei Gesichtspunkte festzuhalten, die, wegen der Unvollständigkeit der Darstellung, von der Marx-Forschung oftmals übersehen wurden. 1. Die Frage, wie die Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung notwendig begründet ist, wird von Marx nicht beantwortet. Wir stehen immer schon vor dem »Faktum« der Entfremdung, wenn wir in die Geschichte der Menschheit zurückschauen. Wohl aber versucht Marx, die Struktur dieses Faktums in seinen Momenten zu analysieren. 2. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen in ihrer sittlichen Konsequenz gehört nicht der logischen 208 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
Struktur dieses Faktums an, ist also nicht Voraussetzung aller Geschichte, sondern geschichtliche Folge. Sie ist ermöglicht durch die entfremdete Arbeit und hat sich in der Geschichte – und zwar im zunehmenden Maße – auch wirklich ereignet, trotzdem gehört sie nicht notwendig zur Geschichtlichkeit des Menschen, sondern ist geschichtliche Tat des Menschen. 3. Aus beiden zeigt sich, dass die Entfremdung nicht etwas dem Menschen Äußerliches sein kann, was auch äußerlich beseitigt werden könnte, vielmehr gehört die Entfremdung des Menschen in der Arbeit zur Geschichtlichkeit des Menschen selbst, sie ist ein notwendiges Moment im wirklichen Zu-sichselber-Kommen des Menschen als Menschen. Das Privateigentum ist nur der äußere Ausdruck der Entfremdung, nicht deren innerer Grund, der in der »entäußerten Arbeit« selbst liegt (Marx 40: 521 f.) Haben wir so die Notwendigkeit der Entfremdung für den »Entwicklungsgang der Menschheit« (Marx 40: 521) behauptet und in ihrer Struktur analysiert, so ist nun auch die Aufhebung der Entfremdung als notwendiges Moment der menschlichen Geschichtlichkeit zu begreifen. In den uns erhaltenen Manuskripten findet sich keine Begründung dafür, dass die Aufhebung der Entfremdung ein notwendiges Moment der Menschheitsentwicklung darstellt, doch lässt ein langer Nachtrag zu diesem Problem im dritten Manuskript (»Privateigentum und Kommunismus«) darauf schließen, dass Marx an anderer Stelle sich mit dieser Frage beschäftigt hat. Der Nachtrag selbst befasst sich – wenn auch nur andeutungsweise – wiederum lediglich mit der strukturellen Analyse der Aufhebung der Entfremdung, nicht mit deren Begründung, er beginnt unmittelbar mit einer strukturellen Analyse der Momente: »Die Aufhebung der Selbstentfremdung macht denselben Weg wie die Selbstentfremdung.« (Marx 40: 533) Wobei unter Weg nicht der Verlauf der Geschichte zu verstehen ist, wie aus den folgenden Sätzen hervorgeht, sondern die analytische Aufdeckung der dialektischen Bedingungen der Möglichkeit der geschichtlichen Bewegung. Es folgt eine dreifache Bestimmung des Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums als der entäußerten Arbeit: 1. »Erst wird das Privateigentum nur in seiner objektiven Seite – aber doch die Arbeit als sein Wesen – betrachtet. Seine Daseinsform ist daher das Kapital, das ›als solches‹ aufzuheben ist (Proudhon)« d. h. als Aufhebung der in die Sache entfremdeten Arbeit. Für sich allein genommen, steht dieser »rohe Kommunismus […], die Vollendung [des] Neides und [der] Nivellierung von dem vorgestellten 209 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
Minimum aus« (Marx 40: 534 f.), noch ganz unter dem Gedanken des Privateigentums, ist also selbst noch durch die Entfremdung affiziert. 2. Die Aufhebung der politischen und ökonomischen Ungleichheit, d. h. die Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen in der Bewertung seiner Arbeit. Dieser politische Kommunismus weiß sich zwar »schon als Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich, als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung« (Marx 40: 536), aber in seinem Rückgang auf eine ursprüngliche Gleichheit des Menschen erkennt er nicht »das positive Wesen des Privateigentums« (Marx 40: 536) als eines notwendigen Moments für die Entwicklung des Menschen. 3. Erst das dritte, die beiden ersten umfassende Moment vermag die Aufhebung der Entfremdung zu vollenden, gerade indem es die Entfremdung als notwendiges Moment begreift. Dies ist nun der »Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.« (Marx 40: 536) Diese Stelle darf nicht in der Weise missverstanden werden, als ob diese dritte Gestalt des Kommunismus bereits die Position der aus sich selbst beginnenden Menschlichkeit darstelle. Er ist vielmehr nur letztes Moment der Vorgeschichte des Menschen in seiner Entwicklung zum solidarischen Menschen, insofern ist er Lösung des »Rätsel[s] der Geschichte und weiß sich als diese Lösung« – wie wir später noch ausführlich zeigen werden. Zunächst gilt es festzuhalten, dass die drei Momente der Aufhebung der Entfremdung den drei Momenten der Entfremdung korrespondieren, deshalb kann Marx sagen, dass »die ganze revolutionäre Bewegung […] sowohl ihre empirische als theoretische Basis« »in der Bewegung des Privateigentums, eben
210 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
der Ökonomie,« (Marx 40: 536) findet, dass also die Momente der Aufhebung bei den Momenten der Entfremdung ansetzen. Die hier ausgesprochene Gleichsetzung von Entfremdung und Privateigentum darf uns nicht verleiten, hierin einen Widerspruch zum ersten Manuskript zu sehen, wo ausdrücklich (Marx 40: 521) von der Priorität der entfremdeten Arbeit gegenüber der nur äußerlich erscheinenden Entfremdung des Privateigentums gesprochen wird, denn hier steht der Begriff »Privateigentum« für die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, »eben der Ökonomie« in ihrer entfremdeten Gestalt. »Dies materielle, unmittelbar sinnliche Privateigentum ist der materielle sinnliche Ausdruck des entfremdeten menschlichen Lebens. Seine Bewegung – die Produktion und Konsumtion – ist die sinnliche Offenbarung von der Bewegung aller bisherigen Produktion, d. h. Verwirklichung oder Wirklichkeit des Menschen. Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondere Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz.« (Marx 40: 537) Ganz im Sinne der ebenfalls im dritten Manuskript befindlichen »Vorrede« wird die Ökonomie in ihrer entfremdeten Gestalt als Privateigentum modellhaft für die Struktur aller Entfremdung gesetzt, trotzdem deutet sich hier bereits die Priorität der Ökonomie an, wie sie ab der Deutschen Ideologie dargelegt wird, wenn Marx unmittelbar anschließend schreibt: »Die positive Aufhebung des Privateigentums, als Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat, etc. in sein menschliches, d. h, gesellschaftliches Dasein.« (Marx 40: 537) Wobei hiermit die Priorität der menschlichen Praxis in ihrer materiellen Wirklichkeit gegenüber der nur theoretisch-abstrakt in sich bleibenden Gedankenwelt gemeint ist. Die Ökonomie ist Ausdruck dieses wirklichen und praktischen Lebens des Menschen und eine praktische Aufhebung der entfremdeten ökonomischen Verhältnisse, eine Aufhebung des Privateigentums bedeutet somit eine wirkliche Aufhebung innerhalb aller Bereiche der menschlichen Praxis und nicht etwa nur eine theoretische Gedankenbewegung. Die wirklich praktische Aufhebung der Grundlagen der Entfremdung ist somit eine Aufhebung aller Entfremdung. Dies formuliert Marx im Hinblick auf Feuerbach, der zwar durch die Kritik der Religion und Philosophie die wirkliche Basis aller Aufhebung der Entfremdung freilegt, diese aber wiederum nur theoretisch aus211 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
spricht, indem er sich einem neuen Philosophieren anvertraut, anstatt die Entfremdung praktisch ernst zu nehmen, um sie auch praktisch aufheben zu können. »Die religiöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet des Bewußtseins des menschlichen Innern vor, aber die ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens – ihre Aufhebung umfaßt daher beide Seiten. […] Die Philanthropie des Atheismus ist daher zuerst nur eine philosophische abstrakte Philanthropie, die des Kommunismus sogleich reell und unmittelbar zur Wirkung gespannt.« (Marx 40: 537) Die Aufhebung der Entfremdung in ihren drei Momenten beseitigt wirklich und praktisch die bestehende Entfremdung, nicht aber um diese ungeschehen zu machen und in einen Ur- und Naturzustand zurückzukehren, sondern unter Bejahung der Notwendigkeit der Entfremdung als Moment in der Entwicklung des Menschen und unter Beibehaltung aller Errungenschaften menschlicher Tätigkeit – denn die Entfremdung hat allererst die Vielfalt der menschlichen Kräfte und Schöpfungen hervorgetrieben. Indem der positive Kommunismus die geschichtliche Notwendigkeit von Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung anerkennt und praktiziert, erkennt er in diesem Weg der Negationen das Positive für die Entwicklung des Menschen zum Menschen. Ihm ist »die ganze Bewegung der Geschichte […] daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch sein denkendes Bewußtsein die begriffene und gewußte Bewegung seines Werdens.« (Marx 40: 536) Damit sind wir am entscheidenden Punkt der Marxschen Geschichtsdialektik angelangt. Die Entfremdung der Arbeit und die Aufhebung der Entfremdung sind für Marx zwei dialektische Momente der geschichtlichen Entwicklung des Menschen zum Menschen, sie sind für ihn Momente einer wirklichen und praktischen Bewegung, die Hegel in der Negation und der Negation der Negation nur als dialektische Momente der Denkbewegung aussprechen konnte. Mit dieser Geschichtsdialektik glaubt Marx (gegen Feuerbach), die Hegelsche Dialektik aus ihrer entfremdeten Gestalt einer absoluten Philosophie befreit und zugleich für die Analyse der Struktur der wirklichen Praxis und Geschichte gerettet zu haben. Dokumentiert Marx in der Übernahme der revidierten Hegelschen Dialektik seine Nähe zu Hegel, so bemüht er sich doch gleichzeitig um eine Distanzierung von Hegel. Denn niemals kann für ihn die dialektische Bewegung selbst schon die Position, das Positive, sein, auch nicht – oder erst recht nicht – als wirkliche Entwicklung des 212 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
Menschen zum Menschen. Das Positive der Bewegung über die Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung liegt nicht in der geschichtlichen Bewegung selbst, sondern darin, dass sie »Voraussetzung« und »Vorgeschichte« für das selbstbewusste und sinnbestimmte solidarische Menschlichsein des Menschen ist. Dazu, dass »das Bedürfnis des ›Menschen als Menschen‹ zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschichte die Vorbereitungs-, Entwicklungsgeschichte. Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen.« (Marx 40: 544) In der Geschichte der Entfremdung, der naturwüchsigen Entäußerung der menschlichen Wesenskräfte und der Aufhebung der Entfremdung durch den Kommunismus ist der Mensch als Mensch noch nicht wirklich zu sich gekommen, beides sind sie lediglich »Voraussetzung« dafür, dass nun erst »der Mensch den Menschen produziert, sich selbst und den anderen Menschen; wie der Gegenstand, welcher die unmittelbare Betätigung seiner Individualität, zugleich sein eigenes Dasein für den anderen Menschen, dessen Dasein, und dessen Dasein für ihn ist.« (Marx 40: 541) So ergibt sich auch aus der Struktur der Aufhebung eine sittliche Konsequenz als geschichtliche Folge, die zugleich Konsequenz der gesamten Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen ist: die Menschlichkeit in einer menschlichen Gesellschaft, in der der Mensch sich aus dem Menschen und für ihn versteht und verwirklicht. Alles Vorhergehende, inklusive der kommunistischen Bewegung als letztem Moment, gehört noch zur »Naturgeschichte«, zur »Entwicklungsgeschichte«, in der die Menschen noch nicht positiv aus sich selbst zu gemeinsamen Akteuren der menschlichen und menschheitlichen Gesellschaft geworden sind. Im dritten Manuskript finden sich drei Stellen, die explizit aussprechen, dass der Kommunismus als Aufhebung der Entfremdung oder Negation der Negation lediglich vorausgehendes, wenn auch praktisch notwendiges Moment für die Position, den aus sich selbst beginnenden Humanismus und Sozialismus, darstellt. Die erste und zweite Stelle befindet sich unmittelbar vor bzw. nach dem ersten Hegel-Exkurs, die dritte im zweiten Hegel-Exkurs selbst. In letzterer lobt Marx an Hegel, dass dieser, zwar »innerhalb der Entfremdung«, zu der dadurch »entfremdeten Einsicht in die wirkliche Vergegenständlichung des Menschen« gekommen sei, zur Einsicht »in die wirkliche Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt«. 213 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
Wie »der Atheismus als Aufhebung Gottes das Werden des theoretischen Humanismus, [so ist] der Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums die Vindikation des wirklichen menschlichen Lebens als seines Eigentums [… also ist] der Kommunismus der durch Aufhebung des Privateigentums mit sich vermittelte Humanismus. Erst durch die Aufhebung dieser Vermittlung – die aber eine notwendige Voraussetzung ist – wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus« hervorgehen. (Marx 40: 583) Marx versucht hier, den Hegelschen Vermittlungsgedanken, einer Dialektik der Negation, mit dem »auf sich selbst begründeten Positiven« bei Feuerbach, dem »gesellschaftlichen Verhältnis ›des Menschen zum Menschen‹« (Marx 40: 570) in einem einzigen Ansatz einer menschlichen Entwicklungsgeschichte, die das Menschliche des Menschen allererst erzeugend ermöglicht, zusammenzudenken. Auch hier zeigt sich – wie bereits bei der sittlichen Konsequenz der Entfremdung der Arbeit –, dass die Sittlichkeit eines positiven Humanismus nicht schon geschichtsnotwendig mechanisch mit der Aufhebung der Entfremdung gegeben ist, sondern nur eine sittlich-praktische Folge der revolutionären Praxis zu sein vermag. Der Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums, der praktischen Entfremdung des menschlichen Lebens, ist zwar notwendige Voraussetzung und notwendiges Moment der Vorgeschichte des sittlichen Verhältnisses des Menschen zum Menschen, ist sogar die »Lösung« dieser Entwicklungsgeschichte zur positiven Menschlichkeit hin, jedoch ist die positive Menschlichkeit nicht notwendige Folge aus der Aufhebung der Entfremdung. Die vermittelnde Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen ermöglicht zwar – wie Marx in den letzten beiden Abschnitten des Nachtrags »Privateigentum und Kommunismus« (4./5.) ausführt – die positive Aneignung der Natur durch den Menschen und die positive Begegnung des Menschen mit dem Menschen, sie ist die notwendige Vorbedingung dafür, nicht aber das Erzeugende und Bewirkende dieser Positivität des Menschen im Menschen. Denn nicht von außen durch einen Prozess wird der Mensch in diese sittliche und praktische Selbstbestimmung gebracht, obwohl diese allerdings durch jene Vorgeschichte über die Entfremdung und die Aufhebung der Entfremdung ermöglicht wurde. In den Schlusssätzen von »Privateigentum und Kommunismus« fasst Marx seine Geschichtsphilosophie nochmals zusammen: »Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des 214 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen
Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich, anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden. Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretischen und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen, wie das wirkliche Leben positive, nicht mehr durch die Aufhebung des Privateigentums, den Kommunismus, vermittelte Wirklichkeit des Menschen ist. Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung – die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.« (Marx 40: 546) Indem Marx das selbstbewusste und sinnbestimmte Menschsein durch und für den Menschen als das Wesen und das Ziel der Geschichte, d. h. die Sittlichkeit einer menschlichen Gesellschaft, vorweg bestimmt, ist es ihm möglich, die Struktur einer darauf hinführenden Entwicklung, die die Ermöglichung dieser sittlichen Gesellschaft sein soll, in ihren notwendigen Bewegungsmomenten zu analysieren. Diese Struktur ist nicht etwa aus der wirklichen Geschichte abzulesen, sondern liegt vielmehr umgekehrt dieser als dialektisch notwendiges Gesetz zugrunde. Die wirkliche Geschichte vollzieht sich, in Bezug auf die Entwicklung des Menschen zum Menschen, in jenen notwendigen Bewegungsmomenten, der Entfremdung der Arbeit, die die Wesenskräfte des Menschen hervortreibt, und der Aufhebung der Entfremdung, die die entäußerten Wesenskräfte dem Menschen wie215 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
der aneignet, die also nicht das vorausgehende Moment ungeschehen machen, sondern im Gegenteil deren Errungenschaften den solidarisch handelnden Menschen verfügbar machen will. Solange die Menschen sich noch nicht als solidarisches Geschichtssubjekt bewusst geworden sind, sondern sich ihnen ihre gesellschaftlichen Aktionen unbewusst und naturwüchsig ereignen, solange kann noch nicht von einer freien und positiven Handlung des Menschen für den Menschen die Rede sein. Die geschichtliche Entwicklung des Menschen befindet sich dann noch in einem steten strukturellen »Antagonismus« zwischen den menschlichen Produktivkräften und der Gesetzlichkeit der bestehenden Produktionsverhältnisse. Gerade aber weil die notwendige und strukturelle Bewegung der Geschichte des Menschen zum solidarischen Menschen nicht aus der konstatierbaren Ereignisgeschichte lediglich aufgegriffen, sondern vom voraus antizipierten Wesen, Sinn und Ziel des Menschseins durch und für den Menschen konzipiert worden ist, glaubt Marx, zuversichtlich in das Kommende der wirklichen Geschichte blicken zu können: »Um das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion. Die Geschichte wird sie bringen, und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozeß durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, daß wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung, und ein sie überbietendes Bewußtsein erworben haben.« (Marx 40: 553) Die Hoffnung auf das Endziel, der positiv aus sich selbst beginnenden Menschlichkeit der Menschen, vermittelt mit der Beschränktheit der geschichtlichen Bewegung, die erst Hinführung dazu ist, versöhnt mit dem notwendig werdenden rauhen Prozess der Revolution. Die Revolution, die wirkliche Aufhebung der Entfremdung, ist für Marx aus keinerlei pragmatischen Gründen – etwa der Verbesserung bestehender Verhältnisse – zu rechtfertigen, sondern nur als ein praktisch-notwendiges Moment der Menschwerdung, der Entwicklung des Menschen zum solidarischen Menschen, d. h. der Gewinnung der positiven Menschlichkeit. Marx’ Philosophie der Geschichte, des Werdens des Menschen zum Menschen, steht und fällt daher mit der Vorausbestimmung von Wesen, Sinn und Ziel der Menschlichkeit als einer durch und für den Menschen errungenen 216 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Das Selbstverständnis der Geschichtsdialektik
Selbstverwirklichung des Menschen. Marx behauptet nicht, dass die wirkliche und geschichtliche dialektische Bewegung die Positivität der Menschlichkeit erzeuge, sondern er sagt, dass umgekehrt der »sozialistische Mensch«, d. h. der Mensch innerhalb der positiven und sittlichen Gesellschaft, in der Weltgeschichte ein Zu-sich-Kommen des Menschen als solidarischen Menschen durch die menschliche Arbeit und ihre revolutionäre Aneignung sieht, dass er die Vorgeschichte als seine Menschwerdung zum solidarischen Menschen begreift. Nicht der notwendige Entwicklungsgang macht den Menschen zum solidarischen Menschen, sondern der menschgewordene Mensch in der sittlichen Gesellschaft begreift den vorausliegenden Entwicklungsgang als Ermöglichung seiner Positivität und Sittlichkeit. Damit sind wir wieder zu unserer Frage zurückgekehrt: Ist es Marx gelungen, Hegels dialektische Methode in eine wirkliche und geschichtliche Vermittlungsbewegung zu übersetzen und sie darüber hinaus mit dem Gedanken der aus sich selbst beginnenden Positivität des Menschen durch den Menschen (Feuerbach) in einer einzigen Theorie der Geschichte zu versöhnen?
5.
Das Selbstverständnis der Geschichtsdialektik
Bei Hegel ist die Dialektik der Negativität das reflexive Denken selbst, d. h. sie ist die Struktur der Momente, der Negation und der Negation der Negation sowie zugleich die Bewegung des Denkens in diesen Momenten und somit schließlich das Denken in der Totalität seiner selbst. Dass das Denken als Identität von Struktur und Bewegung verstanden, absolutes, in sich bleibendes Subjekt wird, dem gegenüber alles Wirkliche zum Prädikat geworden ist, hat Marx mit Recht kritisiert – wiewohl er Hegel im Ganzen gesehen nicht gerecht wird, da er ihn nur an seinem »Resultat« bemisst und somit Hegel fundamentalphilosophisch nicht radikal genug begegnet. Indem nun Marx die Dialektik auf die Entwicklung des Menschen zum Menschen übersetzt, gerät er in die Gefahr, die Struktur der Geschichtlichkeit mit der empirischen Bewegung der menschlichen Geschichte zu identifizieren und damit den Geschichtsprozess zum absoluten Subjekt zu erheben. Genau dieser Gefahr scheint Marx auch ab der Deutschen Ideologie zu erliegen, insofern dort die Struktur der Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen mit dem Werdeprozess der menschlichen Geschichte zusammen217 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
fällt. 4 So jedenfalls wurde Marx von seinen Nachfolgern verstanden und weiterentwickelt. Wir müssen also genauer nach dem Selbstverständnis der Philosophie der Geschichte innerhalb der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte fragen, ob sich diese Theorie noch wie die philosophischen Frühschriften als philosophische Parteinahme für die Emanzipation des Menschen versteht. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripten scheinen zweierlei leisten zu wollen, zum einen sollen sie dem Bewusstwerden des Menschen in seinem Wesen und seiner Wirklichkeit dienen, was zugleich ein Bewusstwerden der dem Menschen aufgegebenen solidarischen Praxis bedeutet, und zum anderen sollen sie eine Theorie der menschheitlichen Entwicklungsgeschichte darstellen. Nur dadurch, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich seines Wesens bewusst zu werden vermag, kann er auch bewusst und praktisch sein Wesen solidarisch mit anderen Menschen erfüllen. »Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h. sein eigenes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit.« (Marx 40: 516) In diesem Versuch einer Wesensbestimmung des Menschen in seinem Werden zur Menschlichkeit verbirgt sich die eigentliche Position der Ökonomisch-philosophischen-Manuskripte, die hierin philosophisch tiefer fundiert ist als die vorausgehenden Frühschriften oder das Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie. Die Theorie hat also hier die Aufgabe und Funktion, den Menschen zum Bewusstsein seines Seins und Wesens in der Wirklichkeit zu bringen, denn erst dadurch sind »Denken und Sein […] zwar unterschieden, aber zugleich in Einheit miteinander« (Marx 40: 539), und nur der Mensch, der im Bewusstsein seines Seins in der Wirklichkeit steht, vermag mit Bewusstsein sittlich-praktisch Mensch zu sein. Dieser Theorie geht es nicht darum, zu einem Selbstbewusstsein Auch dies ist eine Formulierung, die ich heute nicht mehr unterschreiben kann. Zwar hat der dogmatische Marxismus die Schriften von Marx und Engels ab der Deutsche Ideologie so ausgelegt, aber genauer besehen, ist – trotz ihrer deftig-polemischen Sprache – die Deutsche Ideologie im letzten nur von der praxisphilosophischen Grundlegung der unmittelbar vorausgehenden Thesen ad Feuerbach her zu verstehen. Siehe dazu den nächsten Beitrag: »Die Praxis und das Begreifen der Praxis. Zu den ›Thesen ad Feuerbach‹« sowie die folgenden »Systematischen Darstellung zur Praxisphilosophie«.
4
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Das Selbstverständnis der Geschichtsdialektik
aus sich und absolut in sich zu kommen, nicht im Denken sieht sie ihren Selbstzweck, sondern es geht ihr um ein Bewusstwerden des wirklichen Menschen in der Wirklichkeit; eine solches Denken versteht sich immer schon als Mittel für das wirkliche und praktische Menschsein in der Geschichte. Die Philosophie der Geschichte als der Entwicklung des Menschen zum solidarischen Menschsein könnte nicht zur Position des Menschseins durch und für den Menschen gelangen, wenn diese Entwicklung nur eine sich am Menschen ereignende wäre. Erst im Bewusstwerden dieser Entwicklung durch die Philosophie der Geschichte, was zugleich eine Anerkennung dieser theoretisch-praktischen Vermittlung bedeutet, kann es zu einem Umschlagen in das positive, bewusst und gewollt aus sich selbst begründete solidarische Menschsein des Menschen kommen: »Und wie alles Natürliche entstehen muß, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist.« (Marx 40: 579) Verstehen wir die Einsicht in die geschichtliche Bewegung nicht als einen empirischen Aufweis eines notwendigen Geschichtsprozesses, sondern als Einsicht in die wesenhaften Möglichkeiten und somit Aufgegebenheiten der menschlichen Geschichtlichkeit unter der Voraussetzung, ja dem Primat, die Menschlichkeit durch und für den Menschen zu erreichen, so steht diese Einsicht in die Geschichte nicht im Widerspruch zu einer Parteinahme für die menschliche Emanzipation – im Gegenteil, sie schafft geradezu die theoretischen und praktischen Vorbedingungen hierfür. Das aus dieser Theorie hervorgebrachte Selbstverständnis des Menschen in seinen geschichtlichen Möglichkeiten und Aufgegebenheiten ist zugleich Appell an das praktische Gewissen des Menschen, die bestehenden Entfremdungen in all ihren Formen aufzudecken und aufzuheben, denn gerade nur über die geschichtliche Aktion, die revolutionäre Praxis, vermag der Mensch die materiellen und praktischen Voraussetzungen für eine menschliche Gemeinschaft freier Individuen zu schaffen. Die so verstandene Kritik der Nationalökonomie als einer praktischen Wissenschaft im Dienste der Selbstfindung des gesellschaftlichen Menschen muss in der Aufdeckung der notwendigen Voraussetzungen der Entwicklungsgeschichte des Menschen zum solidarischen Menschen zugleich die politische Aufgegebenheit der Verwirklichung dieser Voraussetzungen sehen und ihre Verwirklichung fordern, denn ihr letztes Ziel ist die Position der sittlichen Beziehung des 219 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
Menschen zu den anderen Menschen. »Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den andren und des andren für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit, erst hier ist sie da als Grundlage seines eignen menschlichen Daseins.« (Marx 40: 537 f.) Gerade aber das Erreichen dieses Ziels kann aus der Geschichtlichkeit des Menschen nicht mehr theoretisch vorausgesagt zu werden, sondern es bleibt ein praktisches Postulat, das dem praktischen Handeln der Menschen zur sittlichen Bewährung aufgegeben bleibt. Werden die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte in dieser Weise als Theorie der Politik (der gesellschaftlichen und geschichtlichen Verwirklichung) verstanden, so hat man sie neben die großen philosophischen Schriften vom Wesen und von der Aufgegebenheit der menschlichen Selbstverwirklichung einzuordnen: neben Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), wo es um die sittliche Aufhebung der Entfremdung in der Motivation des Einzelnen durch die »Revolutionierung der Denkungsart« geht und neben Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die sich um eine pädagogische Aufhebung der Entfremdung durch eine sinnenhafte Umkehr der Erziehung mühen (ähnlich gewissen Forderungen von Marx im dritten Manuskript »Privateigentum und Kommunismus«). Allen dreien wäre die Rückbesinnung auf die Struktur der menschlichen Selbstverwirklichung gemein, von der her eine bewusste politische, sittliche oder pädagogische Aktion der Selbstbestimmung des Menschen zu seiner Menschlichkeit gefordert wird – lediglich Kant gelingt es, darüber hinaus die Selbstverwirklichung des Menschen auch mit dem Glauben zu versöhnen. 5 Wir dürfen uns allerdings durch das Fehlen großer Teile des Manuskripts und durch die andeutende Sprache der Entwürfe nicht verleiten lassen, mehr in Marx hineinzudeuten als in den Texten wirklich zu finden ist. Da nämlich, wo das Ziel der Geschichte, das Menschsein durch und für den Menschen, nicht als praktischer Primat, sondern als empirische Bestimmung des Menschen aufgefasst wird, ergibt sich die Misere, dass der Mensch nur noch zum abbildenden Zeugen eines an ihm sich ereignenden Prozesses herabsinkt; eine Vgl. Wolfgang Janke, Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx (1977); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Geschichtsphilosophie und Theologie« (2007: 51 ff.).
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Das Selbstverständnis der Geschichtsdialektik
Konsequenz, die die Geschichtstheorie des späteren Marxismus mit dem vulgären Hegelianismus gemein hat, was sich an ihrem gemeinsamen Verständnis der Dialektik als eines ontologischen Prozesses mit Notwendigkeit ergibt. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte stellen den Versuch dar, Marx’ jugendliche Forderung eines Praktischwerdens der Philosophie selber philosophisch durch eine Philosophie der Geschichte als Entwicklung des Menschen zum Menschen zu begründen. Ein solcher Begründungsversuch kann nur gelingen, wenn er sich selbst radikal aus dem praktischen Primat versteht, zur menschlichen Emanzipation beizutragen, sich also selber aktiv in den Dienste der Geschichte stellt. Sie scheitert jedoch dann, wenn sie glaubt – hierin wahrhaft einen idealistisch-ontologisch verstandenen Hegel nur vom Kopf auf die Füße stellend – die Entwicklungsgeschichte des Menschen als gesetzmäßigen Emanzipationsprozess konstatieren zu können. Von daher kann dann weder die dialektische Struktur der menschlichen Geschichtlichkeit noch der politische Auftrag der Menschen zur »menschlichen Emanzipation« sinnvoll begründet und gefordert werden. Die geschichtsmaterialistische Philosophie steht nicht außerhalb der menschlichen Geschichte, sondern steht selbst im sittlich-praktischen Primat und ist der »menschliche Emanzipation« verpflichtet.
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Die Praxis und das Begreifen der Praxis Zu den »Thesen ad Feuerbach« 1
1.
Vorbemerkung zum Begreifen der Praxis
In den nicht zur Veröffentlichung bestimmten, flüchtig ins Notizbuch geschriebenen Thesen ad Feuerbach von 1845 hat Marx bekanntlich die Grundmotive seiner Praxisphilosophie angedeutet, die in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 zwar bereits angelegt sind, nun aber zu ihrer endgültigen Bestimmtheit finden. Die Thesen ad Feuerbach sind unmittelbar vor Abfassung des Feuerbach-Kapitels der mit Engels gemeinsam begonnen Arbeiten zur Deutschen Ideologie konzipiert worden und dienten Marx als Orientierung für die Abfassung seiner Manuskriptteile. Insofern muss es auch uns klar sein, dass wir die teilweise in einer sehr deftig-handgreiflichen und vereinfachend-polemischen Sprache abgefasste Deutsche Ideologie von den Thesen ad Feuerbach her zu lesen und zu verstehen haben, wollen wir dem von Marx intendierten praxisphilosophischen Gehalt ihrer Aussagen gerecht werden. Daher kommt den Thesen ad Feuerbach für das Verständnis des Gesamtwerks von Marx eine Schlüsselrolle zu. Die achte These, aus der der Titel des vorliegenden Beitrags entstammt, lautet im Kontext: »8. Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.« (Marx 3: 7)
Wer genau hinhört, wird entdecken, dass der zur Handlichkeit eines Mottos zusammengestutzte Beitragstitel gegenüber dieser achten These eine gefährliche Vereinfachung vornimmt. Wir können dieser Gefahr einer grundsätzlichen Missdeutung der Aussage von Marx Zuerst erschienen in: Michael Grauer/Gottfried Heinemann/Wolfdietrich SchmiedKowarzik (Hg.), Die Praxis und das Begreifen der Praxis, Bochum 1984: 15 ff.
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Vorbemerkung zum Begreifen der Praxis
nur dadurch begegnen, dass wir ihr gleich zu Beginn entgegenzutreten versuchen. Marx unterstreicht in der achten These ad Feuerbach, dass alles gesellschaftliche Leben wesentlich praktisch ist und dass deren theoretisch unlösbare Probleme in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis ihre Lösung finden. Es wird also hier von Marx auf die gesellschaftliche Praxis und ihr Begreifen als praktische Aufgabe verwiesen. Der Beitragstitel dagegen lässt diesen Kontext nicht mehr erkennen, sondern suggeriert, dass die Praxis und das Begreifen der Praxis Momente eines aus sich heraus klärbaren Bezugs darstellen. Der Titel könnte sogar so verstanden werden, als ginge es hier allein um eine theoretische Klärung des Bezugs von Praxis und Begreifen, also gerade um jenen Mystizismus, den Marx mit der achten These zu überwinden sucht. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Marxsche Theorie sowohl von ihren dogmatischen Fortsetzern als auch von ihren Gegnern als positive Wissenschaft und planbare Praxis gründlich missverstanden wurde. Überhaupt lassen sich die beiden im 20. Jahrhundert in Ost und West vorherrschenden Positivismen aus der wissenschaftlich linearen Auflösung des Bezuges von Praxis und ihrem Begreifen ableiten: Während der wissenschaftliche Materialismus des Ostens davon ausging, dass die Praxis ein naturnotwendiges Prozessgeschehen sei, dessen Bewegungsgesetzlichkeit das Begreifen schlicht widerzuspiegeln habe, bemühte sich demgegenüber der kritische Rationalismus des Westens darum, die Praxis allererst durch die wissenschaftlichen Methoden des Begreifens als Erkenntnisgegenstand zu konstituieren. In beiden Varianten des wissenschaftlichen Positivismus kommt Praxis als Praxis überhaupt nicht mehr vor, sondern nur als Gegenstand der Erkenntnis und der Manipulation. Weshalb bei ihnen auch die Anwendung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die »Praxis« – wie sie missverständlicherweise formulieren – sich auf sozialtechnologische Planungsstrategien reduzieren. Aber auch die sogenannten ›dialektischen‹ Varianten, die die Praxis und das Begreifen der Praxis nur äußerlich in einen wechselseitig sich bedingenden und bestimmenden Bezug setzen – verstehen sich diese nun als ›dialektische Selbstorganisationstheorie‹ oder als ›dialektische Soziologie der Praxis‹ oder als ›dialektische Verhältnistheorie‹ –, stehen in der Gefahr, die Praxis und das Begreifen lediglich als Prozessmomente, Erkenntnisgegenstände oder Verhältnisbestimmungen zu behandeln, d. h. sie allein theoretisch-wissenschaftlich zu 223 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Praxis und das Begreifen der Praxis
bestimmen. Dadurch wird Praxis von vornherein nicht mehr als sozial aufgegebene Praxis, als von uns zu vollbringendes Handeln bedacht. Um nun endlich auf den Kern des Problems zu kommen, gilt es herauszustellen, dass nur dort die Praxis und ihr Begreifen als praktische angesprochen bleiben, wo wir nicht vergessen, dass es hierbei um unsere Praxis und unser Selbstbegreifen geht, wo wir uns also bewusst bleiben, dass wir selber die Subjekte der Praxis und ihres Begreifens sind. Dies ist die Grundeinsicht der praktischen Philosophie seit Sokrates 2, erneuert in Kants Primat der praktischen Vernunft. Jedes wissenschaftliche Vergegenständlichen der Praxis und ihres Begreifens dagegen zertrennt die Einheit unseres praktischen Vollzugs und die Potenzen unserer Selbsterkenntnis in ein uns äußerlich entgegengestelltes und fremdbestimmendes Praxisgeschehen und uns als praktisch entmündigte, funktional-eingeplante Erkenntnissubjekte. In den folgenden Bemerkungen sollen an den Kerngedanken und am Grundmotiv der Thesen ad Feuerbach dargelegt werden, dass sich Marx nicht nur bewusst in die Tradition der praktischen Philosophie stellt, sondern diese sogar noch dialektisch überhöhend radikalisiert. Mit diesen erläuternden Bemerkungen soll umrissen werden, in welche Tradition auch wir uns zu stellen haben, wenn wir heute von einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis sprechen.
2.
Konturen einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
Gleich in der ersten These bestimmt Marx seinen praxisphilosophischen Standort in Abgrenzung gegenüber dem Materialismus in all seinen Varianten einerseits und dem Idealismus der dialektischen Philosophie andererseits: »1. Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht Wenn hier von Sokrates gesprochen wird, ist natürlich immer Platons Sokrates gemeint, wie er in Platons frühen Tugenddialogen vorgestellt wird. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (2008).
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Konturen einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher [wird] die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche [= wirkliche] Tätigkeit. Er betrachtet daher im ›Wesen des Christenthums‹ nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der ›revolutionären‹ der ›praktisch-kritischen‹ Tätigkeit!« (Marx 3: 5)
Es ist erstaunlich, dass nach dieser ersten These und ihrem ersten Satz – nicht ganz ohne Verschulden von Friedrich Engels und dessen Rezeption von Plechanow bis Stalin – die Marxsche Praxisphilosophie so rasch und gründlich in ihr ausdrückliches Gegenteil eines platten Weltanschauungsmaterialismus degenerieren konnte. Doch lassen wir am besten alles, was unter dem Namen Marxismus verbreitet wird, von Anfang an beiseite und versuchen wir, uns nur die prinzipiellen Aussagen von Marx zu vergegenwärtigen. Unter Materialismus rechnet Marx außer Feuerbach nicht nur den französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts eines La Mettrie und d’Holbach, sondern ebenso den angelsächsischen Empirismus und Sensualismus eines Hobbes und Locke, d. h. aber die ganze positivistische Wissenschaft der Neuzeit. Ihr hält er vor, dass sie die Wirklichkeit, die sie zu erkennen versucht, nicht als wirkliche zu fassen vermag, sondern »unter der Form des Objekts« verdinglicht und sich entgegenstellt. Dies schärfer fassend, sagt Marx in der Heiligen Familie: »In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an. […] In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanistischen oder mathematischen geopfert […]. Der Materialismus wird menschenfeindlich.« (Marx/Engels 2: 135 f.) Es ist das große Verdienst Feuerbachs, dass er sich mit seinem anthropologischen Materialismus dieser Entsinnlichung unserer Wirklichkeitserfahrung entgegenstemmt und versucht, nicht nur uns die erfahrbare Natur, in ihrem poetisch-sinnlichem Glanze zu erhalten, sondern uns damit auch unsere eigene naturhafte Sinnlich225 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Praxis und das Begreifen der Praxis
keit zurückzuerobern. Aber Feuerbach geht – wie Marx in der fünften These nochmals unterstreicht – nicht weit genug, er bleibt bei der Anschauung stehen: »5. Feuerbach, mit dem abstrakten Denken [der Wissenschaften] nicht zufrieden, will die Anschauung, aber er faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit.« (Marx 3: 6)
Der Einwand gegen alle Arten von Materialismus, vom positivistischen Empirismus bis zu seiner philosophisch bewusstesten Gestalt bei Feuerbach, ist also, dass in ihm die Wirklichkeit als Objekt dem erkennenden Subjekt entgegengestellt wird, ohne zu begreifen, dass uns damit die Wirklichkeit als wirkliche verlorengeht, denn diese können wir nur dort erfassen, wo wir uns mitsamt unserer Erkenntnis als wirklich praktischer Teil der zu erkennenden Wirklichkeit begreifen. Dies meint der erste Satz der ersten These, den ich daher nochmals zitiere: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.« Obwohl im Begriff der Wirklichkeit auch die ganze Naturproblematik mit angesprochen ist, wollen wir diese hier ausklammern und nur auf die Praxis und die menschliche Geschichte eingehen. Wer nun glaubt – wie oft in den diversen Marxismen – an die Stelle der Sinnlichkeit lediglich die Praxis setzen und diese weiterhin als einen wissenschaftlich zu analysierenden Erkenntnisgegenstand bzw. als ein wissenschaftlich abbildbares Prozessgeschehen behandeln zu können, der hat die Pointe der Marxschen Kritik von vornherein missverstanden. Denn Praxis – so wie Marx diesen Begriff hier einführt – kann nicht mehr als ein uns entgegengesetztes Erkenntnisobjekt begriffen werden, da wir selber die Subjekte dieser aus sich selbst zu erkennenden Praxis sind. Die Wirklichkeit der Praxis und der Geschichte ist unser eigener menschlicher Lebensprozess, den wir in seinem Wirklichsein nur subjektiv, d. h. in praktischer Selbsterkenntnis und Bewusstwerdung erfahren können. Mit dieser Grundaussage stellt sich Marx vom allerersten Satz seiner praxisphilosophischen Thesen in die seit Sokrates währende Tradition der praktischen Philosophie, die er aus ihrer individuellen Handlungsperspektive in den gesellschaftlichen Geschichtshorizont aufhebend radikal zu Ende denkt. 226 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Konturen einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
Der zweite Satz der ersten These setzt sich unmittelbar daran anknüpfend mit der Gegenseite der idealistischen Philosophie auseinander: »Daher [wird] die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.« Obwohl hierin der gesamte Deutsche Idealismus seit Kant angesprochen wird, ist doch vornehmlich Hegels Phänomenologie des Geistes gemeint. In Hegels Phänomenologie des Geistes wird der Bewusstwerdungsprozess, den das Bewusstsein an und für sich selber vollzieht und erfährt, entwickelt, d. h. hier wird bereits eingelöst, was Marx für die Erkenntnis der Praxis fordert, dass die menschliche Tätigkeit sich nicht äußerlich vergegenständlicht, sondern sich selbst aus ihrem Tätigsein heraus begreift. Allerdings – und das ist der kritische Einwand, den Marx gegen den dialektischen Idealismus vorträgt – wird in Hegels Phänomenologie nur die Arbeit des Geistes, des Bewusstseins, begriffen und nicht die ganze »wirkliche, sinnliche Tätigkeit«, wie sie uns als zu verwirklichende Praxis und Geschichte praktisch aufgegeben ist. In den kurz vorher geschriebenen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten führt Marx dazu erläuternd aus: »Das Große an der Hegelschen ›Phänomenologie‹ […] ist, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, […] daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift. […] Die Arbeit [allerdings], welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.« (Marx 40: 574) Aus diesen beiden negativen Abgrenzungen von Feuerbach und von Hegel, vom Materialismus und vom Idealismus, wird die Grundintention der Philosophie der Praxis von Marx klar erkennbar: Es geht Marx darum, die menschliche Praxis als einen geschichtlichen Werdeprozess zu begreifen, der sich nur aus sich selbst bewusst werden kann, wobei dieses Bewusstwerden selber wiederum richtungsgebend in die uns aufgegebene Praxis bewussten Menschseins eingeht. Was für uns als handelnde Individuen völlig selbstverständlich ist, dass wir uns nämlich in unserer existentiellen Praxis nicht äußerlich empirisch erkennen und bestimmen, sondern gleichsam nur von innen heraus unserer selbst bewusst werden können, das gilt – wie Marx unterstreicht – auch für die gesellschaftliche Praxis und für die Menschheit als Ganzes. Der Mensch ist Subjekt seiner Geschichte, 227 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Praxis und das Begreifen der Praxis
nicht der Mensch als einzelner, sondern die Menschen im Prozess ihrer sich selbst hervorbringenden und sich darin bewusstwerdenden Menschwerdung. Darauf verweist Marx in der sechsten, siebenten, neunten und zehnten These ad Feuerbach, die hier nun zusammengefasst wiedergegeben werden: »6. Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden. 7. Feuerbach sieht daher nicht, daß das ›religiöse Gemüt‹ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört. 9. Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, d. h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft. [d. h. der abstrakt allgemeinen Verknüpfung der Individuen]. 10. Der Standpunkt des alten Materialismus ist [daher] die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit.« (Marx 3: 6 f.)
Nur auf einen Punkt des für sich selbst sprechenden Textes möchte ich hier ausdrücklich eingehen. Einer der meist traktierten und verzerrten Sätze der Thesen ad Feuerbach ist der aus der sechsten These: »In seiner Wirklichkeit ist es [nämlich das menschliche Wesen] das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Man hat aus diesem Satz – und zwar sowohl von marxistischer als auch antimarxistischer Seite – herauslesen wollen, dass Marx das Individuum völlig in der Gesellschaft habe aufgehen lassen wollen, ja sogar, dass er die eigenständige subjektive Existenz der Individuen geleugnet habe. Das ist natürlich eine totale Verkennung und Verdrehung der Aussage von Marx, denn erstens bezieht sich der Satz gar nicht auf das Individuum, sondern auf das menschliche Wesen, worunter Marx – wie aus dem Kontext völlig eindeutig hervorgeht – den Menschen schlechthin, die gesellschaftliche Menschheit versteht, die er aber im 228 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Konturen einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
Gegensatz zu Feuerbach nicht »nur als ›Gattung‹«, d. h. als »natürliche […] Allgemeinheit« fasst, sondern als das in der Geschichte sich erst selber hervorbringende und darin bewusstwerdende Wesen begreift. So besagt der Satz also nichts anderes, als dass die Menschen in ihrer je konkreten Wirklichkeit das ensemble der von ihnen selbst geschichtlich hervorgebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen. Wobei zusätzlich daran zu erinnern ist, dass es sich hier gerade nicht um eine äußerlich-wissenschaftliche Fremdbestimmung handelt, also etwa um eine soziologische Aussage über die Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft, sondern um den ersten Grundgedanken unseres praktischen Selbstbegreifens als gesellschaftliche Wesen, an den sich – wie gleich noch zu zeigen sein wird – als zweiter Grundgedanke die zukunftsgerichtete Veränderung der Welt, bzw. Selbstveränderung als unsere praktische Aufgegebenheit anschließt. In den Anfangssätzen des 18. Brumaire des Louis Bonaparte hat Marx diesen ersten Grundgedanken auf eine klassische Formel gebracht: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« (Marx 8: 115) Aber noch viel entschiedener hat Marx immer wieder unterstrichen, dass es für ihn – im Gegensatz zu Hegel – keinen überindividuellen Weltgeist, und so auch keine überindividuelle Gesellschaft an sich gibt, sondern dass allein die Individuen, die gesellschaftlich handelnden Individuen, Träger und Subjekte, dessen sind, was wir Gesellschaft und Geschichte nennen. In den Pariser Manuskripten hebt Marx ausdrücklich hervor: »Es ist vor allem zu vermeiden, die ›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung […] ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.« (Marx 40: 538) Gerade deshalb gilt aber auch das, was Marx eine Seite vorher dialektisch so fasst: »Also ist der gesellschaftliche Charakter der allgemeine Charakter der ganzen Bewegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert.« (Marx 40: 537) Was also Marx hier unterstreicht, ist somit das genaue Gegenteil dessen, was der dogmatische Marxismus und Antimarxismus ihm anzudichten versucht. Für Marx sind allein die immer schon gesellschaftlich handelnden Individuen – denn abstrakt isolierte Individuen 229 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Praxis und das Begreifen der Praxis
gibt es nicht – Träger und Subjekte der gesellschaftlichen und geschichtlichen Praxis. Diese Grunderkenntnis ist von entscheidender Bedeutung für die ganze Marxsche Entfremdungs- und Revolutionstheorie, denn nur weil alle gesellschaftlichen Verhältnisse nichts an sich Gegebenes darstellen, sondern allesamt durch die gesellschaftliche Praxis der Individuen geschichtlich hervorgebracht sind, besteht die prinzipielle Möglichkeit und die berechtigte Hoffnung, dass die in blinder, naturwüchsiger Praxis erzeugten Entfremdungsverhältnisse, die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse aller Art, durch die bewusst und solidarisch handelnden Individuen wieder aufgehoben, d. h. revolutioniert werden können. Auch hier wird aus den wenigen Andeutungen klar, dass Entfremdungs- und Revolutionstheorie nur dann einen Sinn ergeben, wenn sie nicht als äußerliche Bestimmungen von Praxis und Geschichte gefasst, sondern als kritische Analyse unserer eigenen praktischen Lebensverhältnisse und unserer eigenen praktischen Aufgaben begriffen werden. Dies spricht Marx in der vierten These ad Feuerbach ausdrücklich an: »4. Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden. Also nachdem z. B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden.« (Marx 3: 6)
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Die revolutionäre Praxis als Aufgabe
Revolutionäre Praxis meint also hier bei Marx die zu beginnende und dann permanent fortzuführende Aufgabe, dass die Menschen sich nicht länger von den von ihnen selbst bewusstlos hervorgebrachten gesellschaftlichen Verhältnissen fremdbestimmen lassen, sondern bewusst und solidarisch die Gestaltung ihrer eigenen Lebenspraxis in die Hand nehmen und so zu den wirklich bewussten Subjekten ihrer eigenen Geschichte werden. Dass diese Umwälzung nicht über einen 230 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die revolutionäre Praxis als Aufgabe
nur äußerlichen Gewaltstreich oder durch die bloße Abschaffung von Eigentumsverhältnissen erreichbar ist, sondern einen langwierigen, die Menschen selbst verändernden Emanzipationsprozess impliziert, hat Marx in der dritten These zu Feuerbach ausdrücklich betont: »3. Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.« (Marx 3: 5 f.)
Nirgends in seinem ganzen Werk hat Marx die dialektische Komplexität und den praktischen Anspruch der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis so deutlich gefasst als in dieser dritten These ad Feuerbach. In ihr kommt zum Ausdruck, dass wir Menschen es selber sind, die selbst die Entfremdungsverhältnisse und Verblendungszusammenhänge erzeugen und die einer menschlichen, d. h. sittlichen Selbstverwirklichung der Menschen im Wege stehen. Zugleich macht diese These aber auch deutlich, dass es keine andere Befreiung aus unserer selbstverstellten Geschichte gibt als unsere aus dem Begreifen der entfremdeten Praxis erwachsende revolutionäre Praxis, die selbstverständlich niemand isoliert für sich zu vollbringen vermag, sondern die – wenn es je menschliche Selbstverwirklichung geben soll – nur die solidarische Aufgabe einer gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung sein kann. Von hier her können wir zusammenfassend das Theorie-PraxisVerhältnis behandeln, wie es in der zweiten These ad Feuerbach ausgeführt wird, woran sich die achte und elfte These anschließen. Die zweite These ad Feuerbach lautet: »2. Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche [= wirkliche] Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.« (Marx 3: 5)
Aus dem Zusammenhang gerissen und für sich genommen könnte man glauben, hierin eine Vorwegnahme der Wahrheits- und Wissenschaftstheorie des amerikanischen Pragmatismus vor sich zu haben, und schon Engels hat in vereinfachten Beispielen eine solche erkennt231 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Praxis und das Begreifen der Praxis
nistechnologische Deutung nahegelegt. Im Kontext der übrigen Thesen und ihrer Gesamtintention aber wird deutlich, dass Marx hier keine erkenntnistheoretische Aussage, bezogen auf die Einzelwissenschaften macht, sondern den Kantischen Primat der praktischen Vernunft zum Primat der menschlichen Praxis verschärft. Es ist also gerade nicht so, dass man, auf diese These sich berufend, sagen kann: die Wahrheit unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse sei durch das Funktionieren ihrer technischen Anwendung bewiesen, sondern ganz im Gegenteil können wir von ihr her feststellen, dass sich an den Widersprüchen innerhalb der gesellschaftlichen Praxis und gegenüber der Natur, an den globalen sozialen und ökologischen Krisenerscheinungen die Unwahrheit unserer wissenschaftlichen Rationalität ablesen lässt. Grundsätzlich gesprochen hebt diese zweite These hervor, dass es kein Denken, keine Erkenntnis, keine Wahrheit an sich gibt, sondern sie alle sind nur Momente einer Praxis der Bewusstwerdung und Selbstbewusstwerdung des Menschen in der Welt. Wobei es sich hier – was sich eigentlich von selbst versteht – um kein lineares Abhängigkeitsverhältnis der Theorie von der Praxis handelt, denn die Praxis ist selbst keine ontologische Gegebenheit an sich, sondern sie ist ein Prozess der Menschwerdung in der Geschichte. Dieser Prozess wäre jedoch ohne Bewusstsein nicht nur undenkbar und unmöglich, denn er ist ja kein Seinsgeschehen, sondern die gesellschaftliche Menschwerdung der Menschen erwächst aus dem Handeln der Menschen selbst und erfährt auch seine bestimmende Richtungsgebung erst aus dem Prozess ihrer menschlichen Bewusstwerdung. Aus diesem Zusammenhang ist nicht nur die mottogebende achte These zu verstehen – »Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis« –, sondern in ihm gründet auch die abschließende elfte These zu Feuerbach: »11. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.« (Marx 3: 7)
Diese elfte These bedeutet nicht nur eine Absage gegen alle Philosophie, die nur Weltinterpretation betreibt, sondern richtet sich auch gegen alle Theorie und Wissenschaft, die glaubt, isoliert von unserer Praxis des Menschseins, die Welt objektiv und an und für sich feststellen zu können. Sie ist somit radikale Kritik an der eindimensiona232 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die revolutionäre Praxis als Aufgabe
len Rationalität und Wissenschaftlichkeit. Demgegenüber fordert sie von uns ein weltveränderndes Eingreifen. Dies kann aber nicht als Aufforderung zu einer von außen kommenden sozialtechnologischen Manipulation verstanden werden, sondern bezieht sich gerade auf unsere Praxis und unser Begreifen dieser Praxis, deren Ziel in einer bewussten menschlichen Praxis liegt, die darin zugleich bewusste weltverändernde Praxis ist. Denn im letzten sind wir Menschen mit unserem unabgeschlossenen und von uns zu vollbringenden Menschwerdeprozess in den ebenfalls noch unabgeschlossenen Weltwerdeprozess eingebunden und eine bewusste Praxis unseres Menschseins ist daher letztlich nicht anders erfüllbar als in Allianz mit der lebendigen Natur, in die wir nicht nur praktisch hineingestellt sind, sondern für die wir auch praktische Verantwortung tragen. 3 Dies sind die Grundlinien und Perspektiven einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis, wie sie Marx in den Thesen ad Feuerbach 1845 skizziert hat. Sie liegen auch noch dem Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie zugrunde, obgleich diese nur einen Teilaspekt des praxisphilosophischen Gesamtanliegens verfolgt, nämlich in kritischer Analyse der Struktur- und Bewegungsgesetze des Kapitals aufzuzeigen, dass die kapitalistische Wertökonomie niemals den Menschen zum Menschen zu befreien vermag, sondern umgekehrt, ihn – ohne Rücksicht auf Mensch und Natur – in immer größere fremdbestimmte Abhängigkeiten und Bedrohung treibt. Dadurch versucht Marx uns die praktische Notwendigkeit bewusst zu machen, dass wir eine menschliche Emanzipation zu einem solidarischen Menschsein – wenn überhaupt – einzig und allein über eine revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Ökonomie zu erreichen vermögen. Durch gut 120 Jahre wurde Marx vom dogmatischen Marxismus und seinen Gegnern wissenschaftspositivistisch uminterpretiert. Das macht es so schwer, unverstellt an den praxisphilosophischen Kern des Denkens von Marx heranzukommen. Allerdings gibt es eine – wenn auch schmale, aber philosophisch beachtliche – Traditionslinie, die nicht nur immer wieder erneut das Marxsche Anliegen aus dogmatischen Verzerrungen herauslöste, sondern auch – gemäß den verSiehe Ernst Bloch, Experimentum mundi (1975: Umschlag): »Das Reale enthält in seinem Sein die Möglichkeit eines Seins wie Utopie, das es gewiß noch nicht gibt, doch es gibt den fundierten, fundierbaren Vorschein davon und dessen utopisch-prinzipiellen Begriff …«
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Die Praxis und das Begreifen der Praxis
änderten gesellschaftlichen Problemen – fortentwickelte, hier sei nur mit Georg Lukács und Henri Lefebvre an die bedeutendsten unter ihnen erinnert. 4 In diese Traditionslinie einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis haben wir uns zu stellen, um im begreifenden Bewältigen der heutigen gesellschaftlichen Praxisprobleme unsere praktischen Aufgaben zu erkennen.
4
Siehe hierzu den letzten Beitrag »Traditionslinien des ›westlichen Marxismus‹«.
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Systematische Darstellungen zur Praxisphilosophie
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Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation 1
Die Marxsche Philosophie ist von ihren ersten, aus der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel erwachsenen Anfängen an bis hin zum unvollendet gebliebenen Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie dem Ziel der menschlichen Emanzipation verpflichtet. Ich möchte daher meinen Thesen ein Zitat vom jungen Marx von 1843 als Motto voranstellen, da es gleichsam das treibende Motiv seines ganzen philosophischen und politischen Wirkens ausspricht. »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. […] Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« (Marx 1: 370)
I.
Die Zielperspektive der menschlichen Emanzipation
Marx tritt entschieden das Erbe der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der sie leitenden bürgerlich-emanzipativen Philosophie an, die sich seit dem Humanismus über die Aufklärung bis zum Idealismus schrittweise als Philosophie der menschlichen Freiheit und geschichtlichen Verantwortung entfaltete, eben dadurch, dass sie damit begann, »die menschliche Welt, die Verhältnisse, auf den Menschen selbst« zurückzuführen, den Individuen ihre gesellschaft1 Zuerst erschienen in: Gajo Petrović/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg), Die gegenwärtige Bedeutung des Marxschen Denkens. Marx-Symposion 1983 in Dubrovnik, Bochum 1985: 9 ff.
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Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
liche Praxis bewusst und dadurch verfügbar zu machen. Aber Marx tritt zugleich kritisch den Ergebnissen entgegen, bei denen die bürgerliche Emanzipationsbewegung nach Eroberung der politischen Macht Halt gemacht hat und die die bürgerliche Gesellschaftsphilosophie in ihrer reifsten Gestalt, der Staats- und Geschichtsphilosophie Hegels, als prinzipielles Ende der gesellschaftlichen Entwicklung legitimierte. In Hegels Philosophie offenbart sich die Begrenzung der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, die allein in der politischen Befreiung bereits ihre Erfüllung findet und die hierin zugleich ihre Unfähigkeit dokumentiert, die neu aufkommenden sozialen Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse zu bewältigen; an ihr zeigt sich, wie die bürgerliche Philosophie nach Erfüllung der politischen Forderungen des Bürgertums ihre kritisch-emanzipativen Ideale preisgibt und in Affirmation und Apologetik des Erreichten umschlägt, auch wenn dies offensichtlich auf Kosten einer neu aufkommenden, sozial benachteiligten Klasse geschieht, für die die Emanzipationsversprechen von einst keine Geltung mehr haben sollen. Hegel hat wie kein anderer bürgerlicher Philosoph vor oder nach ihm die innere Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft erkannt und ausgesprochen. Er hat nicht nur – wie er sagt – »die Abhängigkeit und Not der an [die] Arbeit gebundenen Klassen« (Hegel 7: 389) herausgearbeitet, sondern auch ausdrücklich hervorgehoben, »daß bei dem Übermaß des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist […] dem Übermaß der Armut und Erzeugung des Pöbels zu steuern« (Hegel 7: 390), da beides unaufhebbar durch die industrielle Produktionsweise ständig erneuert und in steigendem Ausmaß reproduziert wird. Obwohl nun Hegel diese grundsätzliche Widersprüchlichkeit in der ökonomischen Basis erkennt und ausdrücklich zugibt, dass auch der politische Staat diese Widersprüchlichkeit nur abmildern, niemals aber aufheben kann, verkündet er doch, dass der bürgerliche Staat die höchste Erfüllung menschlicher Sittlichkeit sei; denn hier gelange der individuelle und der allgemeine Wille zur gelebten Einheit; insofern die politische Freiheit der Individuen konstitutiv ist für die Verfassung der modernen Staaten, wie andererseits das Gemeinwohl in der vaterländischen Gesinnung tragend wird für das politische Denken und Handeln der Individuen. Marx macht in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegels 238 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Zielperspektive der menschlichen Emanzipation
Philosophie deutlich, dass Hegel hier nicht etwa nur eine Grenze seines eigenen Denkens, sondern die prinzipielle Begrenztheit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung selbst ausspricht. Diese war in ihren geistigen und politischen Kämpfen immer nur auf den Fortschritt im Bewusstsein der politischen, staatlich-verfassten Freiheit ausgerichtet, sie erkennt aber nicht, dass sie ihren Progress einer ökonomischen Entwicklung verdankt, der ökonomischen Selbständigwerdung der Bürger durch die kapitalistische Produktionsweise. So kann sie aber auch nicht sehen, dass eben derselbe Prozess, der die bürgerlichen Reichtümer und Freiheiten hervorbringt, zugleich eine neue Klasse sozial unterdrückter und ausgebeuteter, an die Arbeit gefesselter Menschen erzeugt, deren grundsätzliche Benachteiligung durch die kapitalistische Produktionsweise gerade nicht durch die politischen, die bürgerlichen Freiheiten behoben werden kann. Die emanzipative bürgerliche Philosophie, Politik und Pädagogik, war mit dem Versprechen der Befreiung und Selbstverwirklichung aller Individuen in einer von allen getragenen und verantworteten demokratischen Gesellschaft angetreten; und schrittweise hat die bürgerliche Emanzipationsbewegung auch die politische Freiheit der Individuen und die demokratische Verfasstheit der Staaten erkämpft und verwirklicht. 2 Da die bürgerliche Philosophie – von Hegel bis heute – jedoch nicht auf den Zusammenhang von politischer Emanzipation und ökonomischer Entwicklung reflektiert, erscheint ihr einerseits die kapitalistische oder industrielle Produktionsweise in ihrer der Emanzipation aller Menschen entgegenstehenden Widersprüchlichkeit als eine unüberwindbare Gegebenheit, die eben, so wie sie ist, hingenommen werden muss, und andererseits hält sie die erreichte politische Freiheit in den modernen bürgerlichen Staaten bereits für die Erfüllung aller möglichen Befreiung – gerade hierin liegt ihr Umschlagen von einer emanzipativen in eine apologetische Theorie begründet. Marx dagegen hält an der ursprünglich grundsätzlicher gemeinten Perspektive menschlicher Emanzipation fest; auch ihm geht es um die Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit in der »Einheit von individuellem und allgemeinem Willen«, doch sieht er diese keineswegs im modernen Staat bereits verwirklicht, sondern diese Einheit 2 Vgl. Marek J. Siemek, Von Marx zu Hegel. Zum sozialpolitischen Verständnis der Moderne (2002); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999).
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kann erst dort erreicht werden, wo die sozialen Widersprüche und die Klassengegensätze, die die kapitalistische Produktionsweise erzeugt, aufgehoben werden. Diese Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit ist also noch ausständig, sie muss erst durch die revolutionäre Bewegung der sozial Unterdrückten und Benachteiligten in einem Umsturz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erkämpft werden. Ziel dieser revolutionären Umwälzung ist die über die Begrenzungen der bürgerlich-politischen Emanzipation hinausgetriebene menschliche Emanzipation, die Errichtung einer solidarischen Gesellschaft freier Individuen, eine menschliche und menschheitliche Weltgesellschaft. Um die realen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen menschlichen Emanzipation konkret aufzuweisen, konzentriert Marx seine theoretische Arbeit seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 bis zum Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie 3 auf die kritische Analyse der grundsätzlich in der kapitalistischen Produktionsweise selbst steckenden Widersprüchlichkeit, um an den Bedingungen ihrer Entstehung und der Logik ihrer Entwicklungsgesetze die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Aufhebung herauszuarbeiten. Er zeigt dabei auf, dass die politische Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs eine anthropologische feststehende Gegebenheit ist, sondern vielmehr durch gesellschaftliche Praxis – wenn auch bewusstlos – hervorgebracht ist und daher auch grundsätzlich durch eine bewusste und solidarische Praxis der Individuen revolutioniert werden kann.
II.
Die Geschichtsphilosophische Grundlegung
Um den Selbstwiderspruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft analytisch fassen zu können, muss Marx tiefer und grundlegender ansetzen als die bürgerliche Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie vor ihm, die, da sie nur auf die politisch verfasste Freiheit 3 Unter der Bezeichnung Kritik der politischen Ökonomie fasse ich alle Schriften und Manuskripte zusammen, die Marx seit 1857 entweder unter diesem Ober- oder Untertitel – wie beispielsweise die erste Publikation aus diesem Umfeld Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) sowie den ersten Band Das Kapital (1967) – veröffentlicht bzw. in Entwürfen gesammelt hat – wie beispielsweise die sog. Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie (1858) oder den zweiten und dritten Band des Kapital (1885/1894) und unzählige Teilstudien zu diesem Mammutunternehmen.
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Die Geschichtsphilosophische Grundlegung
reflektiert, deren Zusammenhang mit der ökonomischen Basis nicht zu erkennen vermag. Der für die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx seit 1844 entscheidende Ausgangspunkt ist der der gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis. Von Anfang an ist die grundsätzliche Einheit dieser drei grundlegenden Bestimmungen der menschlichen Lebenserhaltung und -gestaltung zu betonen, denn wo die Bestimmungen von vornherein auseinandergerissen werden, so dass beispielsweise die arbeitende Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und die kommunikative Praxis der menschlichen Beziehungen als anthropologisch bedingte, getrennte Entwicklungslinien aufgefasst werden, da fällt man wieder auf das Niveau bürgerlicher Gesellschaftstheorien zurück und vermag nicht die grundlegende Widersprüchlichkeit unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erkennen und deshalb auch nicht die einzige Möglichkeit ihrer Überwindung aufzufinden. In seiner grundlegendsten Bedeutung besagt der Begriff der gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis, dass die Menschen selber die Produzenten ihres Verhältnisses zur Natur, ihrer sozialen Beziehung und ihrer Denkformen sind. Selbstverständlich gibt es naturgeschichtliche Voraussetzungen und naturhafte Bedingungen des Menschseins, die aber selbst einer fortwährenden geschichtlichen Überformung durch die gesellschaftliche Produktion unterliegen. So steht die gesellschaftliche Produktion zunächst im Zentrum der Dialektik von Mensch und Natur, insofern einerseits der Mensch als Gattung unabdingbar und unaufhebbar einbezogen ist in die Natur und nur in ständiger Auseinandersetzung mit ihr seine materielle Lebenserhaltung erarbeiten und sichern kann, es andererseits aber die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens selber ist, durch die das Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmt hervorgebracht und geschichtlich verändert wird. Weiterhin und vor allem ist die gesellschaftliche Produktion Basis und Motor dessen, was wir Geschichte nennen, denn es sind die Menschen selber, die, indem sie gesellschaftlich ihr Leben erhalten, zugleich ihr gesellschaftliches Leben gestalten in all seinen sozialen und kulturellen, praktischen und theoretischen Formen; so führt Marx in den Grundrissen (1858) aus: »In dem Akt der Reproduktion selbst verändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen, z. B. aus dem Dorf wird Stadt, aus der Wildnis gelichteter Acker etc., sondern die Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraussetzen, sich selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, 241 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
neue Kräfte, neue Vorstellungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue Sprache.« (Marx 42: 402) Die immer schon »in Gesellschaft produzierenden Individuen« – denn »die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft […] ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen« (Marx 42: 20) – bringen also selber in ihrer gesellschaftlichen Arbeit und Praxis die Verhältnisse in ihrer kulturellen Bestimmtheit hervor, in denen sie jeweils leben. Entscheidend ist, dass Marx hier von Anbeginn an über die Aporie der vorhergehenden politischen Philosophie zwischen Rousseaus Gesellschaftsvertrag der vereinzelten Individuen, die die Gesellschaft erst konstituieren sollen, und Hegels Willen der absoluten Vernunft, der das Gesellschaftlich-Allgemeine listig durch das Handeln der Individuen hindurch vorantreibt, hinaus ist, insofern in der gesellschaftlichen Produktion der Individuen überhaupt erst Gesellschaft und Individuen konstituiert werden; oder wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten formuliert: »wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert«. (Marx 40: 537) Somit erweist sich die gesellschaftliche Produktion der Individuen als die treibende Substanz aller Geschichte. Aber – und hiermit kommen wir auf das entscheidende Problem Marxscher Geschichtsdialektik – diese Produktion und Reproduktion ihrer Lebensverhältnisse durch die gesellschaftliche Arbeit und Praxis der Individuen vollzieht sich zunächst für diese völlig bewusstlos in ihren individuell motivierten Handlungen, so dass für die einzelnen Individuen die jeweiligen naturwüchsig, d. h. gesellschaftlich-bewusstlos produzierten Formen ihrer Arbeit und Praxis nicht als selber hervorgebrachte, sondern als – gottgewollte, naturbedingte, sachnotwendige – Gegebenheiten erscheinen, die das Handeln der Individuen bestimmen. So wirken die gesellschaftlich bewusstlos hervorgebrachten Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sowie deren ideologische Legitimation als fremde Mächte bestimmend auf die handelnden Individuen zurück, die eigentlich deren Produzenten sind: Dies ist es, was Marx mit dem Begriff Entfremdung bezeichnet und in den Grundrissen folgendermaßen umschreibt: »Sosehr uns das Ganze dieser Bewegung als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besonderen Zwecken der Individuen ausgehen, sosehr erscheint die 242 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Geschichtsphilosophische Grundlegung
Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eigens Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozeß und Gewalt. […] Die gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werden sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.« (Marx 42: 127) Eine solche Entfremdung und Verkehrung liegt allen bisherigen Gesellschaftsformationen zugrunde; von den archaischen Kulturen über die agrarischen Staaten bis hin zu unseren heutigen industriellen Gesellschaften. In all diesen Formationen naturwüchsiger Vergesellschaftung können sich »die in Gesellschaft produzierenden Individuen« gerade nicht als die Produzenten ihrer Lebensverhältnisse verwirklichen, sondern sie werden umgekehrt von den gesellschaftlich-bewusstlos hervorgebrachten Verhältnissen fremdbestimmt. Nun liegt aber gerade in der Aufdeckung dieser Entfremdung und Verkehrung – wie Marx unterstreicht – bereits der Aufweis der prinzipiellen Möglichkeit ihrer Aufhebung und Überwindung begründet. Denn da die Entfremdung selbst Produkt der – wenn auch bewusstlosen – gesellschaftlichen Praxis ist, kann sie grundsätzlich auch durch gesellschaftliche Praxis revolutionär aufgehoben werden, nämlich durch die vereinigte Macht der bewusstgewordenen Individuen als entschiedenen Trägern der gesellschaftlichen Lebensgestaltung. So formuliert Marx, die Logik seiner Geschichtsdialektik aufdeckend, in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844): »Wie, fragen wir nun, kömmt der Mensch dazu, seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet? Wir haben schon viel für die Lösung der Aufgabe gewonnen, indem wir die Frage nach dem Ursprung des Privateigentums [der kapitalistischen Produktionsverhältnisse] in die Frage nach dem Verhältnis der entäußerten Arbeit zum Entwicklungsgang der Menschheit verwandelt haben. Denn, wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man es mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben. Wenn man von der Arbeit spricht, so hat man es unmittelbar mit dem Menschen zu tun.
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Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
Diese neue Stellung der Frage ist inklusive schon ihre Lösung.« (Marx 40: 521 f.) Fassen wir also nochmals zusammen: Die gesellschaftliche Praxis der Individuen liegt der Substanz nach aller Geschichte zugrunde, aber solange diese Praxis naturwüchsig verläuft, d. h. die gesellschaftlichen Individuen sich der Gesellschaftlichkeit und der gesellschaftlichen Verantwortung ihres Tuns nicht bewusst sind, wird das, was sie gesellschaftlich hervorbrachten und hervorbringen, von ihnen als etwas erfahren, was naturhaft gegeben bzw. notwendig so geworden ist, und was sie daher zwangsläufig von außen bestimmt und beherrscht. Erst dort, wo die in Gesellschaft produzierenden Individuen sich ihrer Entfremdung bewusst werden, können sie in vereinigter Gewalt die sie entfremdeten Verhältnisse umwälzen und beginnen, die Produktion ihrer Lebensverhältnisse bewusst und gemeinsam selber in ihre Hände zu nehmen. Der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis, die selbst in der Potenz dieser Bewusstwerdung wurzelt, kommt hierbei die Aufgabe zu, diese Bewusstwerdung der Individuen als Träger der gesellschaftlichen Praxis anzuleiten. Die Stringenz dieser Geschichtsdialektik beruht darauf, dass Marx erkennt, dass die gesellschaftliche Produktion, Arbeit und Praxis sich (unbewusst) selber entfremdet; gerade daher aber ist sie – und nur sie – in der Lage, als bewusste gesellschaftliche Produktion, d. h. über die bewusstgewordenen und solidarisch handelnden Individuen, die (selbstverschuldete) Entfremdung aufzuheben. Erst in dieser Marxschen Konzeption wird die Dialektik eine geschichtliche und erfüllt das, was Hegel nur versichert hatte: die Subjektwerdung der Substanz, die aller Geschichte zugrunde liegt, wobei die Subjektwerdung nicht in einem nur theoretischen Begreifen liegt, sondern eben in einer bewusst geplanten gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis der vereinigten Subjekte; erst durch sie wird die »menschliche Emanzipation« vollbracht.
III. Die Kritik der politischen Ökonomie Auch das gesamte Spätwerk von Marx, das nie abgeschlossene Mammutunternehmen einer Kritik der politischen Ökonomie, ruht auf diesen geschichtsdialektischen Grundgedanken. Dies lässt sich aus den Texten der verschiedenen Entwürfe zu einer Kritik der politischen Ökonomie und so auch aus deren Teilstück Das Kapital be244 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Kritik der politischen Ökonomie
legen. Aber meist wird überlesen, dass Marx hier in kritischer Absicht die Logik der die bürgerliche Gesellschaft beherrschenden kapitalistischen Produktionsweise als eine Logik der Entfremdung aufzudecken versucht. Die Kritik der politischen Ökonomie ist eine negative Theorie; d. h. die Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise in der Logik ihrer eigenen Bewegungsgesetze erfolgt mit dem Ziel, an ihr selbst den Beweis zu erbringen, dass das Kapital an seiner eigenen konsequent logischen Entfaltung notwendig zugrunde gehen muss und damit die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben mit in den Abgrund zieht. Im Gesamtprojekt der Kritik der politischen Ökonomie geht es Marx nicht mehr wie in den Frühschriften um den dialektisch begründeten Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit der Entfremdung, der zugleich die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung sichtbar macht. Er setzt jedoch diesen Aufweis stillschweigend voraus, wenn er nun immanent der Logik des Kapitals folgend, deren grundsätzliche Widersprüchlichkeit herausarbeitet. Vom ersten Satz des Kapital (1867) an – »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹« (Marx 23: 49) – bis zur vorgezogenen Endperspektive der Kritik der politischen Ökonomie gegen Schluß des ersten Bandes des Kapital – »Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation« (Marx 23: 791) – bewegt sich die gesamte Kapitalanalyse ausschließlich in der immanenten Rekonstruktion der Logik des Kapitals, die eine Logik der Entfremdung und Verkehrung ist. Der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise liegt darin, dass sich hier die gesellschaftlich handelnden Individuen von der Logik des Kapitals bestimmen und beherrschen lassen; das Kapital ist aber nichts anderes als aufgehäufte vergegenständlichte Arbeit, die für sich tot ist, und die ihre ganze Kraft und Beweglichkeit allein aus der immer wieder erneuten Vereinnahmung und Manipulation lebendiger Arbeit bezieht. Dem Selbstverständnis ihrer Bewegungs- und Entwicklungsgesetze nach verhält sich das Kapital jedoch so, als wäre es allein aus sich selbst heraus begründet und selber produktiv, und es betreibt gerade dadurch die fortgesetzte und fortschreitende Negation der lebendigen Arbeit – und damit der lebendigen Individuen, die die eigentlichen Träger allen gesellschaftlichen Lebens sind. 245 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
Wird die Kritik der politischen Ökonomie nicht von ihrem Anliegen her verstanden, den negativen Erweis zu erbringen, dass das Kapital in der Entfaltung seiner Logik niemals die Erfüllung menschlicher Praxis zu ermöglichen vermag, so wird nicht nur ihr kritisch negativer Theoriecharakter von vornherein missdeutet, sondern auch übersehen, dass die Kritik der politischen Ökonomie gar nicht auf eine neue ökonomische Wissenschaft abzielt, sondern über sich hinaus auf eine »revolutionäre Praxis« verweist. Wer also das Kapital als ontologische Daseinsanalytik liest oder als Grundlegung einer neuen Ökonomie, der missversteht ihren theoretischen Ansatz genauso wie jene linken Kritiker, die beispielsweise im Kapital eine fundamentale Phänomenologie der menschlichen Arbeit sowie eine kritische Analyse der Fülle des menschlichen Lebens vermissen und Marx daher einen Ökonomismus vorwerfen. Sie zeigen nur, dass sie den Sinn der negativ demonstrierenden Kapitalanalyse von Marx nicht erfasst haben. Nicht Marx ist Ökonomist, sondern er deckt kritisch auf, dass unsere kapitalistische Welt von einem Ökonomismus beherrscht und gesteuert wird, der alle gesellschaftlichen Beziehungen destruiert. Gerade weil die Kritik der politischen Ökonomie nur negative Theorie zu sein beansprucht, kann in ihr auch nicht von der revolutionären Praxis positiv gesprochen werden. Zwar muss das Kapital an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen – das lässt sich an der Logik des Kapitals an ihrer sich steigernden Widersprüchlichkeit demonstrieren –, aber dass diese selbstzerstörerische Tendenz nicht in Chaos und Barbarei endet, sondern in einer die kapitalistische Produktionsweise aufhebenden solidarischen Gesellschaft mündet, ist nicht aus den Widersprüchen des Kapitals ableitbar, sondern wird allein Werk der sich der entfremdeten Logik des Kapitals bewusstgewordenen und der sich solidarisch gegen sie erhebenden Individuen sein. Von dieser revolutionären Praxis kann aber die negativ demonstrierende Kapitalanalyse nicht positiv handeln. So zeigt sich – wenn auch nur indirekt –, dass die bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aufgewiesene Geschichtsdialektik auch die theoretische Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie bildet, obwohl sie im Kapital nicht direkt thematisiert werden kann, da es hier allein um die Strukturgesetze der entfremdeten Formbestimmtheit der kapitalistischen Produktionsweise geht. Der Substanz nach liegt jedoch auch der durch das Kapital beherrschten Gesellschaft die gesellschaftliche Produktion der leben246 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Revolutionstheorie
digen Individuen zugrunde, und dies macht letztlich den für das Kapital unaufhebbaren Widerspruch aus. Denn je mehr sich das Kapital zum »automatischen Subjekt« der gesellschaftlichen Entwicklung aufschwingt, umso mehr entzieht es der eigentlichen gesellschaftlichen Arbeit und Praxis der handelnden Individuen die Bewegungskraft und Lebensgrundlage, auf die es gleichwohl selber angewiesen ist. Das Kapital in seiner Logik der Entfremdung muss – so oder so – an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen. Das »so oder so« hängt jedoch nicht vom Kapital, sondern von den sich ihrer gesellschaftlichen Praxis bewusstwerdenden Individuen und ihrer solidarischen Befreiungsbewegung ab, denn nur durch sie kann die der Substanz nach aller Geschichte zugrunde liegende gesellschaftliche Praxis zum Subjekt werden, d. h. nur so können die gesellschaftlich handelnden Individuen zu Subjekten ihrer eigenen gesellschaftlichen Praxis und Geschichte werden. Insofern verweist die Kritik der politischen Ökonomie, richtig aus der philosophisch begründeten Dialektik geschichtlicher Praxis verstanden, auf den dritten Pfeiler der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx: die Revolutionstheorie.
IV. Die Revolutionstheorie In dieser Eingliederung des gigantischen, nie abgeschlossenen Projekts der Kritik der politischen Ökonomie in den Zusammenhang seiner Geschichtsdialektik wird deutlich, dass die Kritik der politischen Ökonomie, die Marx seit 1857 bis zu seinem Tode mit immer ausschließlicherer Verbissenheit betrieben hat, selbst wenn er sie zu Ende gebracht hätte, nur die Konkretion eines – wenn auch grundlegenden – Teilausschnitts seiner geschichtsdialektischen Theorie repräsentiert. Die kritische Analyse der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit der bestehenden Gesellschaft und ihrer Entwicklungstendenzen ist ein unabdingbares Teilmoment der Konkretion der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis, das nicht nur der seitherigen gesellschaftlichen Entwicklung gemäß als Kritik der politischen Ökonomie, inklusive einer Kritik des Staates und der imperialistischen Weltwirtschaft fortgeschrieben, sondern auch nach innen und außen erweitert werden muss – beispielsweise zu einer Kritik des gesellschaftlichen Alltagslebens, die auch die gesellschaftliche Praxis in Familie und Erziehung umfasst, sowie zu einer Kritik 247 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
der politischen Ökologie, die auch Wissenschaft und Technik nicht ausspart. Aber selbst in einer solch umfassenden Erweiterung ist die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer das gesamte gesellschaftliche Leben durchherrschenden Logik der Widersprüchlichkeiten doch nur Fortführung der Teilaufgabe der Kritik der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer fortschreitenden Expansion und Destruktion. Ihr zur Seite muss als zweite Konkretionsarbeit die Weiterentwicklung der Revolutionstheorie treten. Bekanntlich hat Marx diesen zweiten Strang seiner Geschichtsdialektik, der, wie gezeigt, nicht in der Kritik der politischen Ökonomie behandelt werden kann, niemals über einige grundlegende Entwürfe hinaus entwickelt. Allerdings hat er sie auch niemals aufgegeben, wie manche behaupten, sondern in seinen politisch-historischen Schriften und politisch-praktischen Stellungnahmen bis zu seinem Tode weiterverfolgt. Die Konkretionslücke, die Marx hier hinterlassen hat, haben später Lenin, Trotzki, Luxemburg, Gramsci, Lukács, Reich, Marcuse, Lefebvre mit der Herausarbeitung der Frage nach der revolutionären Klasse, der Bildung des Klassenbewusstseins, der Organisation der revolutionären Bewegung usw. zu schließen versucht. 4 Doch versuchen wir hier, ohne diese Fortentwicklungen mit einzubeziehen, die Konturen der Marxschen Revolutionstheorie in ihrer allgemeinen Konstitution aufzuzeigen, denn nur über sie kann das Projekt der menschlichen Emanzipation erfüllt werden. Seit 1844 besteht für Marx kein Zweifel daran, dass das Proletariat die revolutionäre Klasse ist, die die menschliche Emanzipation erkämpfen wird, angeleitet durch die Kommunisten, d. h. durch jenen Bund von Proletariern und Intellektuellen, die sich der unabdingbaren praktischen Notwendigkeit der Revolutionierung der kapitalistischen Produktionsweise bewusst geworden sind und sich zum Aufbau einer revolutionären Bewegung solidarisch vereinigt haben. Dass die menschliche Emanzipation nur über eine Revolutionierung der entfremdeten Gesellschaftsverhältnisse durch die von der
Vgl. Paul Mattick u. a., Lenin. Revolution und Politik (1970); Rabehl, Bernd, Marx und Lenin. Widersprüche einer ideologischen Konstruktion des »Marxismus-Leninismus« (1973); Arno Münster, Trotzkis Theorie der »Permanenten Revolution« (1973); Claudio Pozzoli (Hg.), Rosa Luxemburg oder Die Bestimmung des Sozialismus (1974).
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Die Revolutionstheorie
Entfremdung Betroffenen, durch die eigentlichen Träger der gesellschaftlichen Produktion selbst vollzogen werden kann, ist bereits durch die philosophische Grundlegung der Geschichtsdialektik begründet und kann auch nur philosophisch begründet werden. Dass in der kapitalistischen Gesellschaft nur das Proletariat die revolutionäre Klasse sein kann, leitet Marx negativ aus seiner Kritik der politischen Ökonomie ab: das Proletariat, die Klasse der Lohnarbeiter, ist der eigentliche Träger der kapitalistischen Produktion, das Kapital lebt nur auf der Grundlage der Ausbeutung ihrer lebendigen Arbeit; je mehr sich das Kapital ausbreitet und das gesamte gesellschaftliche Leben ergreift, umso mehr Menschen werden zu vom Kapital abhängigen Lohnarbeitern. Die Selbstwidersprüche der kapitalistischen Entwicklung, die sich in wiederkehrenden und steigernden Krisen niederschlagen, treffen zunächst ganz existentiell die Lohnarbeiter; daher sind es die Lohnarbeiter – da sie die in Krisen sich entladenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise unmittelbar am eigenen Leibe erfahren –, die als erste an einer Aufhebung der bestehenden Verhältnisse existentiell interessiert sein müssen. Zugleich sind sie es, die nicht nur die Mehrheit des Volkes bilden, sondern auch die gesamte kapitalistische Produktion reell in ihren Händen haben; vereinigt haben sie faktisch jederzeit die Macht, den gesamten kapitalistischen Produktionsprozess stillzustellen. Natürlich bedarf es einer Anleitung der Mehrheit des Proletariats durch einen Bund von Kommunisten, von theoretisch gebildeten Proletariern und proletarisch gesinnten Intellektuellen. Weiter hat Marx seine Revolutionstheorie nicht ausgeführt, denn er war der Überzeugung, dass die zunehmenden und sich steigernden Krisen des Kapitalismus und die theoretische Stringenz seiner Kritik der politischen Ökonomie das rasch anwachsende Proletariat von alleine zur revolutionären Bewegung der Kommunisten drängen und sie von der praktischen Notwendigkeit des revolutionären Wegs zur menschlichen Emanzipation überzeugen werden. So schrieben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie: »In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktivkräfte mehr sind, sondern Destruktivkräfte (Maschinerie und Geld) – und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft heraus249 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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gedrängt, in dem entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann.« (Marx/Engels 3: 69) Die theoretische Schwäche der Marxschen Revolutionstheorie liegt darin, dass Marx allzu selbstverständlich davon ausgeht, dass die sich zuspitzenden Krisen der kapitalistischen Produktionsweise und das dadurch hervorgerufene Elend unter der arbeitenden Bevölkerung diese von sich aus zur revolutionären Bewegung treiben werde; wobei Marx meint, dass die eigentliche treibende Kraft die ausbrechende Revolution selbst darstellen werde: da »sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann.« (Marx/Engels 3: 70) Da Marx von diesen Grundannahmen ausgeht, versäumt er es, sich überhaupt mit Fragen der politischen und pädagogischen Arbeit zur Bildung eines revolutionären Klassenbewusstseins intensiver zu beschäftigen. Hierin liegt nicht nur eine Überschätzung der politischen Bewusstheit des Proletariats, sondern auch eine Unterschätzung der politischen und pädagogischen Integrationsmöglichkeiten der herrschenden Mächte. Angesichts der spontanen Entstehung der Arbeiterbewegung und ihrer raschen Erstarkung im 19. Jahrhundert ist diese theoretische Unklarheit in der Marxschen Revolutionstheorie vielleicht verstehbar, trotzdem liegen hierin die Wurzeln für die späteren dogmatischen und revisionistischen Umformungen des Marxismus, denn gerade dadurch konnte der Kern der Marxschen Dialektik, dass nur die bewusst und solidarisch handelnden Produzenten die bestehenden Produktionsverhältnisse umstürzen und die menschliche Emanzipation vollbringen können, in verschiedene mechanistische und evolutionäre Geschichtsprozesstheorien verkehrt worden. Dadurch, dass die verschiedenen Marxismen die »in Gesellschaft produzierenden Individuen« als die eigentlichen Subjekte der revolutionären Praxis aus den Augen verlieren, entschwindet ihnen auch das Ziel der menschlichen Emanzipation, die solidarische Gesellschaft, wie sie Marx noch 1875 in den Randglossen zum Programm 250 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Ausblick in die Gegenwart
der deutschen Arbeiterpartei umschrieben hat: »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter der Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen, erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (Marx 19: 2)
V.
Ausblick in die Gegenwart
Zusammenfassend und im Hinblick auf unsere heutigen Probleme sei abschließend in drei Punkten das Grundlegende und Bleibende der Marxschen Philosophie der menschlichen Emanzipation in angedeuteter Abhebung von Hegels Geschichtsphilosophie umrissen. 1. Gegen Hegels Verständnis der Weltgeschichte als eines »Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit«, der sich als »List der Vernunft« hinter dem Rücken der Individuen, aber durch deren subjektive Interessen hindurch, allein aus sich heraus durchsetzt, betont der junge Marx: »Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form. […] Aus diesem Konflikt mit sich selbst läßt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln.« (Marx 1: 345) Die der menschlichen Praxis selbst innewohnende Vernunft liegt aller Geschichte zugrunde, darin besteht völlige Übereinstimmung zwischen Marx und Hegel, aber – so fährt Marx gleich fort – sich selbst überlassen, treibt sie keineswegs naturwüchsig den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit voran, sondern erzeugt vielmehr, gerade weil sie nur naturwüchsig-bewusstlos wirkt, mannigfaltige Formen der Entfremdung, erzeugt sowohl Formen der Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen als auch der Zerstörung der Natur. Solange die Individuen in ihrer Praxis gerade nur ihren eigenen Interessen folgen, so dass sich die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung allein hinter ihrem Rücken als für sie fremde Macht und Gesetzlichkeit durchsetzt, solange wird sie keinen Schritt auf Freiheit und Sittlichkeit hin voran tun, sondern im Gegenteil, die 251 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
bewusstlos erzeugten Verhältnisse, die ökonomischen, technischen, staatsbürokratischen, kybernetischen Sachzwänge, werden mehr und mehr die sittlichen Entscheidungshorizonte der Subjekte einschränken und das Verhalten der Subjekte fremdsteuern. Gerade der heutige weltweit expandierende Industrialisierungsprozess zeigt uns, wie sehr wir eingebunden sind in einen sicherlich nicht nach sittlichen Maßstäben vorwärtstreibenden Mechanismus, dessen teilweise verheerenden Folgen für die Hungernden der Dritten Welt, für die Rohstoffreserven der künftigen Generationen, für den Erhalt der Kreisläufe der Biosphäre, die wir zwar sehr wohl durchschauen, aber selbst mit völkerrechtlichen Gegenmaßnahmen bisher nicht einmal abzubremsen vermochten. Und trotzdem besteht die grundsätzlichere Hoffnung, dass wir diese unheilvollen Entwicklungstendenzen anhalten und umwenden können; denn da alle diese ökonomischen, technischen, staatlichen, wissenschaftlichen Mechanismen letztlich – wenn auch bewusstlos – selbst hervorgebrachte Produkte menschlicher Praxis und nicht Naturgegebenheiten sind, können sie auch prinzipiell durch menschliche Praxis aufgehoben werden. Dies setzt allerdings Subjekte voraus, die sich ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und ihrer weltgeschichtlichen Verantwortung bewusst geworden sind und die daher bereit sind, je in ihren Bereichen, gemeinsam mit anderen dieses gefährliche Getriebe anzuhalten und auf ein sittliches Zusammenleben der Menschen hin umzuwenden – Marx nannte dies »revolutionäre Praxis«. 2. Dies erfordert nun aber auch grundsätzlich eine andere Philosophie, nicht mehr eine, die sich als die nachbegreifende Rechtfertigung der sich von selbst erfüllenden Bildungsprozesse begreift, wie dies Hegel in der berühmten Vorrede zur Rechtsphilosophie mit dem Bild der Eule der Minerva umschreibt, die »erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnt (Hegel 7: 28). Nein, nach Marx ist die Philosophie vielmehr vergleichbar mit dem »Schmettern des gallischen Hahns« in der Morgenröte eines anbrechenden und umbrechenden Zeitalters. Ihr Begreifen der bisherigen Geschichte und Gegenwart ist nicht nachbegreifender Abschluss, sondern bewusster, den weltgeschichtlichen Aufgaben der Menschheit zugewandter Neubeginn. In ihrer eigenen Möglichkeit des Bewusstwerdens und Bewusstmachens versteht sie sich selbst als praktisches Moment der offenen, der zur Entscheidung anstehenden Geschichte, daher begnügt sie sich auch nicht damit, nur zu erkennen, sondern sieht ihre 252 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Ausblick in die Gegenwart
Aufgabe gerade im Verjüngen. Diese Philosophie weiß, dass es nicht darauf ankommt, die zurückliegende Geschichte zu interpretieren, sondern vielmehr darauf, durch ihre Bewusstseinsarbeit verändernd zu wirken auf eine – wie Marx sagt – »menschliche Gesellschaft oder gesellschaftliche Menschheit« hin. Eine sich so in den Dienst der menschlichen Emanzipation stellende Philosophie wird zur Kritik, die nicht mehr die Geschichte von außen als sich selbst erfüllenden Prozess betrachtet, sondern die sich einmengt in die Auseinandersetzungen und Kämpfe der Gegenwart und die Partei ergreift für die unter den gegebenen Verhältnissen Leidenden – in West und Ost und sonst wo –, denn sie folgt, wie Marx sagt, »dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassendes, ein verächtliches Wesen ist.« (Marx 1: 385). Grundsätzlich begreift diese Philosophie Geschichte als noch nicht endgültig entschiedenen Prozess, der allerdings seiner blinden Naturwüchsigkeit überlassen, einer durch bewusstlose menschliche Praxis hervorgebrachten ruinösen Zukunft für Mensch und Natur zutreibt; aber noch ist es Zeit, dass sich der Mensch bewusst in den bewusstlos geführten Arm fällt. 5 Und hierin liegt die große geschichtliche Aufgabe der Philosophie, der es in ihrer philosophischen Analyse der geschichtlichen Situation der Menschen nicht um die Feststellung von Faktizitäten oder die Verkündung irgendwelcher Heilserwartungen, sondern – ganz im kantischen Sinne – um die Aufklärung der Betroffenen über ihre geschichtliche Lage und ihre geschichtliche Verantwortung geht. Denn einen Fortschritt in der Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit, also menschliche Emanzipation kann es nur aus Einsicht und im Kampf gegen entgegenstehende Mächte geben. 3. Daraus ergibt sich ein völlig anderes Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein. Nicht nur der künftige Fortschritt in der Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit hängt von der bewussten, solidarischen Praxis der in der Gegenwart Handelnden ab, sondern auch aller vorhergehender Fortschritt ist keineswegs hinterrücks aus der »List« einer anonymen Vernunft erwachsen; er ist das Ergebnis eines geschichtlichen Emanzipationsbewegung, nicht linear zwar – dazu waren die Gegenkräfte zu allen Zeiten viel zu stark – aber unter5 Vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals (1969).
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Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
gründig wirkten beispielsweise die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit aus dem Kommunismus des Urchristentums über die frühprotestantische Bewegung bis in die bürgerliche Revolution und die sozialistische Bewegung hinein, aber sie lassen sich auch darin nicht einfrieren, sondern wirken darüber hinaus heute in mannigfaltigen sozialen Brennpunkten der Gegenwart fort. Diese Emanzipationsbewegungen sind auch im Grunde die eigentlichen Träger des Fortschritts im Bewusstsein und in der Verwirklichung von Freiheit und nicht die Vernunft der Staaten – wie Hegel meinte –, die bestenfalls das rechtlich kodifizieren, was jene für sie erkämpften. Damit aber wird klar, dass es nicht erst für uns eine weltgeschichtlich verantwortliche Praxis der Individuen geben muss, wenn wir überhaupt noch Hoffnung in die Geschichte haben wollen, sondern dass es immer schon eine solche geschichtlich motivierte Praxis gegeben hat. In dieser Identifikation des individuellen Befreiungswillens mit der antizipierten menschheitlichen Sittlichkeit, wie sie den Emanzipationsbewegungen zugrunde liegt, vollzieht sich das, was man – einen Hegelschen Begriff auf die praktische Füße stellend – die Subjektwerdung der substantiellen Vernunft der Geschichte nennen könnte. Auf die immer noch ausständige, aber erstrebte Einheit von individuellem und allgemeinem Willen in einer solidarischen Gesellschaft ausgerichtet, erfüllen diese Bewegungen bereits partiell jene Einheit und bringen so schrittweise den Verantwortungshorizont der Individuen für die Menschheit und die Weltgeschichte hervor. Dies ist nicht nur das leere Sollen einer Humanitätsidee, die durch die reale Macht der Staaten gebrochen wird – wie Hegel gegenüber Kants philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) polemisiert –, sondern umgekehrt, die in den konkreten Emanzipationsbewegungen erstrebte weltgeschichtliche Einheit ist stärker als jede vaterländische Gesinnung und jedes staatliche Gefüge, weil in ihnen die Substanz der Geschichte selbst in den für sie eintretenden Individuen praktisch Subjekt wird. Davon zeugen nicht nur die Märtyrer für eine humanere Welt, die allen Foltern standhielten, sondern auch die revolutionären Bewegungen, die selbst dort, wo sie scheiterten, den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« nachhaltiger voranbrachten als es die staatlichen Verfassungen je vermochten. Nicht parteipolitisch, sondern auf diesen weltgeschichtlichen Verantwortungshorizont hin hat eine Philosophie menschlicher Emanzipation, im Sinne von Karl Marx, Partei zu ergreifen. 254 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik 1
Vorbemerkung Diejenigen, die Marx für tot erklären, verwechseln ihn mit einem der diversen Marxismen, mit einem vermeintlich wissenschaftlichen Sozialismus oder mit einer Parteiideologie. Sie erkennen in Marx nicht den Philosophen und wissen auch nicht, dass Philosophen anders zu bedenken sind als Wissenschaftler oder Politiker, die man an ihren ertragreichen Erkenntnissen oder erfolgreichen Entscheidungen bemisst. Bei der Beurteilung von Philosophen geht es dagegen um die Begründung ihres Denkansatzes und die sittliche Perspektive ihres Anliegens – daran offenbart sich ihre bleibende Herausforderung. Weshalb sonst müssen wir – um der Findung unseres eigenen Standorts willen – immer wieder neu mit den großen Philosophen unserer Tradition ringen? Marx ist einer der bedeutendsten politischen Philosophen unserer abendländischen Tradition, wohl der bedeutendste seit Platon. Bewusst wird hier auf Platon verwiesen, denn auch dieser erste große politische Philosoph unserer Tradition ist ein bis heute missdeuteter Denker. So werden oftmals die ironisch vorgetragenen Gedankenexperimente, in denen Platon in der Politeia die politischen Verhältnisse seiner Zeit kritisch in Frage stellt, wörtlich genommen und als sein eigenes Staatsideal missverstanden. Dadurch wird die sittlich revolutionäre Stoßrichtung seines auf die Gerechtigkeit ausgerichteten politischen Denkens völlig auf den Kopf gestellt. 2 Nur wenige wie
In einer längeren Fassung zuerst erschienen in: Heinz Bude/Ralf M. Damitz/André Koch (Hg.), Marx. Ein toter Hund? Gesellschaftstheorie reloaded, Hamburg 2010: 89 ff. 2 Siehe hierzu als erschreckendes Beispiel totaler Verdrehung der jeweiligen Anliegen von Platon und von Marx den im Übrigen redlichen Denker: Karl Raimund Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. I: Der Zauber Platons; Bd. II: Hegel, Marx und die Folgen (1944). 1
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Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
Thomas Morus, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant haben die Brisanz von Platons revolutionärem Anliegen erkannt. Doch Marx geht noch entschieden über die von Platon bis Kant zielbestimmende sittliche Perspektive politischer Gerechtigkeit hinaus, indem er über die »politische« noch eine »menschliche Emanzipation« antizipiert, in der – auf einer sozial-ökologischen Oikonomia gründend – auch die soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden kann. Marx’ kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis dient der Aufklärung der arbeitenden Menschen über die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten, um dadurch deren Überwindung zu ermöglichen. Solange es noch soziale Ungerechtigkeiten gibt, und diese gründen heute in der herrschenden kapitalistischen Wertökonomie, kann auch die bleibende Herausforderung der Marxschen Praxisphilosophie nicht vergehen. Nicht nur historisch, sondern auch systematisch geht die philosophische Dialektik von Marx aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie und Dialektik hervor, daher sei im Folgenden zunächst der dialektische Kern der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx in drei Punkten umrissen, um so die sich daraus ergebenden Probleme und Perspektiven diskutieren zu können.
1.
Philosophie als eingreifende Kritik
Der erste und philosophisch grundlegendste Punkt ist Marx’ Rückbringung der politischen Philosophie in den Primat der Praxis. Unter diesem Primat hatte einst die Philosophie bei Platon begonnen, danach haben einzelne Denker seit der Renaissance die praktische Philosophie – Ethik, Pädagogik, Politik – ins Zentrum ihres Denkens gerückt und schließlich war es Kant, der den Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft wieder hervorkehrte, aber der mainstream der Philosophie von Aristoteles bis Hegel ging den anderen Weg: der Unterordnung der praktischen unter die theoretische Philosophie. Ausdrücklich unterstreicht Hegel in der Vorrede zu seine Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), dass es auch der Philosophie im gesellschaftlichen Bereich nur um ein Erkennen und Begreifen gehen dürfe: »So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den 256 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Philosophie als eingreifende Kritik
Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift, muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen«. (Hegel 7: 26) Ja, Hegel scheut sich nicht, die Philosophen an anderer Stelle als einen »isolierten Priesterstand« zu bezeichnen, der das »Besitztum der Wahrheit zu hüten« habe und sich nicht darum zu kümmern brauche, »wie sich die zeitlich, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde«. (Hegel 17: 344) Wörtlich fährt er dann in der Rechtsphilosophie fort: »Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen«. (Hegel 7: 26 f.) Hegels Philosophie des Begreifens der Welt, wie sie ist, setzt Marx eine Bestimmung der »Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht«, entgegen (Marx 1: 379). Ihre Aufgabe ist es gerade das »Kreuz der Gegenwart« schonungslos aufzudecken, um so den geschichtlich handelnden Menschen zu ermöglichen, sich aus diesem Kreuz zu befreien, um dadurch zu einer »menschlichen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Menschheit« vorzudringen. (Marx 3: 7) Für Marx hat die Philosophie – selbst eingebunden in die Menschheitsgeschichte als Aufgabe – Partei zu ergreifen für die »menschliche Emanzipation« aller Menschen. (Marx 1: 370) Eine solche Philosophie, die sich aus einem sittlichen Auftrag für die Menschheitsgeschichte versteht, wird zur »Kritik«, die sich dem »kategorischen Imperativ« verpflichtet weiß, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. (Marx 1: 385) Diese Kritik darf sich nicht scheuen, die bestehenden Widersprüche in den gesellschaftlichen Verhältnissen schonungslos aufzudecken, auch wenn sie sich dabei mit den herrschenden Mächten anlegt. Doch muss sie sich bewusst halten, dass sie als Philosophie die gesellschaftlichen Widersprüche nur aufzudecken, nicht aufzuheben vermag, denn Letzteres können nur die von den Widersprüchen selbst betroffenen Menschen in revolutionärer Praxis. Die Philosophie als Kritik dient nur der Aufklärung der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen, denn nur diese können – sich ihrer Unterdrückung und Ausbeutung bewusstwerdend und zur Gegenmacht vereinigt – deren Aufhebung vorantreiben. (Marx 1: 385) In diesem Sinne thematisiert Marx ausdrücklich das grundsätz257 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
lich dialektische Verhältnis der Theorie zur Praxis, der politischen Philosophie zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, denn es kann sich »die Philosophie nicht aufheben, ohne sich zu verwirklichen« und nicht »verwirklichen […] ohne sich aufzuheben«. (Marx 1: 384) Die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis hat sich als bloßes Nachbegreifen des Wirklichen aufzuheben, um sich als Kritik zu verwirklichen, einer Kritik, die sich nicht schon selbst für die Erfüllung hält, sondern die ihr Ziel in der solidarischen Praxis jener sieht, die sich aus den entfremdeten, verkehrten Verhältnissen befreien. Als Kritik »verläuft [sie] sich nicht […] in sich selbst, sondern in Aufgaben, zu deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis.« (Marx 1: 385) Daher ist die Philosophie nicht mehr – wie bei Hegel – der »Eule der Minerva« vergleichbar, die bei einbrechender Abenddämmerung ihren Flug des Begreifens beginnt, sondern ganz entschieden stellt Marx diesem Bild Hegels ein anderes entgegen: Die Philosophie der Praxis gleicht dem »Schmettern des gallischen Hahns«, durch das die Menschen beim Anbrechen der Morgenröte eines neuen Welttags geweckt werden, um ihre revolutionäre Praxis zu vollbringen. (Marx 1: 379) Dieses praxisphilosophische Selbstverständnis der politischen Philosophie ist grundlegend neu. Kein Denker vor Marx hat den Primat der Praxis, in den die praktische Philosophie selbst gestellt ist, so prägnant herausgearbeitet wie Marx und alle politische Philosophie nach Marx wird sich daran messen lassen müssen. Zugleich muss aber auch unterstrichen werden, dass nur wenige Denker, die sich auf Marx beriefen und berufen, diesen Grundzug des Marxschen Denkens verstanden und fortgeführt haben. Denn indem sie den Marxismus zu einer Wissenschaft oder zu einer Weltanschauung umstilisierten, gaben sie die praxisphilosophische Stoßrichtung der Marxschen Kritik als politische Aufklärung zur Solidarisierung der arbeitenden Menschen auf. Die diversen Marxismen wollten für sich und für die Massen, die sie führten, ein unumstößliches Weltgesetz haben, dem man sich unterwerfen muss, weil es sich gesetzmäßig von alleine erfüllt. Sie haben dadurch die Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie im Sinne von Marx nicht nur verhindert, sondern die auf Emanzipation und Solidarität der arbeitenden Menschen angelegte kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis ins Gegenteil verkehrt und damit gründlich desavouiert. Nur wenige Denker des »westlichen Marxismus« (Karl Korsch) 258 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Dialektik gesellschaftlicher Praxis
von Antonio Labriola und Antonio Gramsci bis Maurice MerleauPonty und Herbert Marcuse haben sich diesen Marxismen widersetzt und den praxisphilosophischen Grundcharakter des Marxschen Denkens durch das 20. Jahrhundert hindurch erhalten. Am entschiedensten haben jedoch wohl Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein und Henri Lefebvre in Metaphilosophie diesen Primat der Praxis herausgearbeitet. 3 Es gibt keine Emanzipation der arbeitenden Menschen ohne deren Selbstbefreiung und hierfür ist die philosophische Kritik als Aufklärung der Betroffenen über ihre geschichtliche Lage und Aufgabe unentbehrlich.
2.
Die Dialektik gesellschaftlicher Praxis
Bisher haben wir nur den praxisphilosophischen Charakter der Marxschen Dialektik im Verhältnis zur Hegelschen unterstrichen, wie ihn bereits der junge Marx ausgearbeitet und von da an beibehalten hat. Nun gilt es, auf den inhaltlichen Kern seiner Dialektik gesellschaftlicher Praxis einzugehen, wie ihn Marx in den berühmten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 (erstmals erschienen 1932) entworfen hat. Auch hier wählen wir, um das inhaltlich Neue der Marxschen Dialektik gesellschaftlicher Praxis herauszuarbeiten, die Konfrontation mit Hegels Dialektik der Sittlichkeit, da aus dem Kontrast die nicht mehr strukturelle, sondern geschichtliche Dialektik von Marx am deutlichsten greifbar wird. Die Abfolge der Gestalten der Sittlichkeit wird bei Hegel nicht in einer geschichtlichen Dialektik entfaltet, sondern als ein strukturelles Sich-Begreifen des sittlichen Geistes, der von der natürlichen Sittlichkeit in der Familie über die zerrissene Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft bis hin zur versöhnenden Sittlichkeit des Staates voranschreitet – die selbstverständlich ineinandergreifende, gleichzeitige Gestalten darstellen. In der »Liebe« zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern in der »Familie« wird die »natürliche« Basis und der Ursprung aller mitmenschlichen Sittlichkeit grundgelegt. Sie erfüllt sich und hebt sich grundsätzlich auf in das Erwerbsleben der bürgerGeorg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923); Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965); siehe dazu auch den Schlussbeitrag »Traditionslinien des ›westlichen Marxismus‹« in diesem Band.
3
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Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
lichen Gesellschaft, in der die familialen Liebesbande keine Geltung mehr besitzen. Die »bürgerliche Gesellschaft« ist demgegenüber die notwendig »entzweite« Gestalt der Sittlichkeit in der Ökonomie. Hier verfolgt jeder zunächst nur seine je eigenen Erwerbsinteressen für sich und seine Familie. Aber er kann dies nur, weil er eingebunden ist in die »allseitige Abhängigkeit« des Abstrakt-Allgemeinen des ökonomischen Ganzen, das wir heute ›freie Marktwirtschaft‹ nennen. Dieser immanente Widerspruch führt zu immer wieder neuen und gesteigerten Formen der Zerrissenheit der Gesellschaft – Anhäufung individuellen Reichtums auf der einen sowie Elend und Abhängigkeit der »an die Arbeit gefesselten Klasse« auf der anderen Seite. (Hegel 7: 385) Schon Hegel arbeitet die Dynamik der Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie ungeschminkt heraus, aber er hält sie aufgrund seiner strukturellen Dialektik und seiner Geschichtsauffassung für grundsätzlich unaufhebbar: »Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist […] dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.« (Hegel 7: 390) Zwar fordern die Formen gesteigerter Zerrissenheit auch gesteigerte Formen bürgerlicher Sittlichkeit heraus – wie Hegel, unverkennbar auf eine ›soziale Marktwirtschaft‹ verweisend, unterstreicht (Hegel 7: 393 ff.) –, aber der grundlegende Widerspruch zwischen den ökonomischen Eigeninteressen der Individuen und dem abstrakt-allgemeinen, blinden Marktmechanismus der bürgerlichen Ökonomie kann niemals überwunden werden. Daher bedarf es nach Hegel notwendig der dritten versöhnenden Gestalt der Sittlichkeit: des »Staates«. Der Staat, das Gemeinwesen in seiner politischen Verfasstheit, ist für Hegel die höchste Sphäre vollkommener Sittlichkeit, weil der moderne Staat – seit den bürgerlichen Revolutionen – strukturell auf der bewussten Versöhnung und Durchdringung von individuellem und allgemeinem Willen gründet. (Hegel 7: 407) Marx formt Hegels strukturelle Dialektik des Begreifens zu einer geschichtlichen Dialektik um, insofern es ihm nicht mehr um ein begreifendes Zu-sich-selber-Kommen des »absoluten Geistes« durch seine sittlichen Gestaltungen hindurch geht, sondern um den Prozess des Sich-Begreifens und Sich-Verwirklichens der Menschen in der Geschichte. In diese geschichtliche Dialektik ist – wie oben erläutert – die Philosophie als eingreifende Kritik selbst miteinbezogen. Konkret gesprochen: es ist für Marx nicht akzeptierbar, dass 260 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Dialektik gesellschaftlicher Praxis
die Zerrissenheit der bürgerlichen Ökonomie mit ihren strukturellen sozialen Ungerechtigkeiten geschichtlich unaufhebbar sein solle. Die soziale Zerrissenheit der kapitalistischen Ökonomie ist für ihn vielmehr ein geschichtlich gewordenes Phänomen, in das die Menschen »selbstverschuldet« durch ihre bisherige gesellschaftliche »Unmündigkeit« (Kant) hineingeraten sind und die deshalb auch in bewusster und revolutionärer Praxis der Menschen überwunden werden kann. (Marx 40: 520 ff.) Grundlegend für die Marxsche Geschichtsdialektik ist die Einsicht, dass nicht der »absolute Geist« – wie bei Hegel (3: 590 f.) – die Geschichte vorantreibt, sondern dass die Menschen selber ihre gesellschaftliche Geschichte – wenn auch zunächst gesellschaftlich bewusstlos – hervorbringen, so dass alle auftretenden Widersprüche grundsätzlich auch durch bewusste und solidarische gesellschaftliche Praxis aufhebbar, d. h. überwindbar sind. (Marx 40: 572 ff.) Da sich hier die Dialektik auf das Bewusstwerden der Menschen aus ihrer gesellschaftlichen Lebenspraxis in der Geschichte und für diese bezieht, kann sie – durchaus in Berufung auf Marx (3: 26 f.) – als geschichtsmaterialistische Dialektik bezeichnet werden. Die Menschen treiben ihre gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte selbst voran. Natürlich geht dieser menschlichen Entwicklungsgeschichte ein naturgeschichtlicher Evolutionsprozess voraus, und die Menschen bleiben auch notwendig auf die Allianz mit der Natur als ihrer Lebensgrundlage angewiesen – wie Marx mit Schelling und Feuerbach betont. 4 Aber durch die Fähigkeiten der Erkenntnis, der Arbeit und der Gestaltung sozialer Beziehungen beginnen die Menschen über den Evolutionsprozess hinaus einen neuen Prozess der Entwicklung ihrer eigenen Praxis zu entfalten. Das den Geschichtsprozess Vorantreibende liegt in der gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis, in der gesellschaftlichen Ausformung der produktiven geistigen und materiellen Kräfte der Menschen. Indem die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Produktion verändernd in die Welt eingreifen, verändern sie auch ihre sozialen Lebensverhältnisse und damit sich selbst. (Marx 40: 515 f.) Doch die Produktion und Reproduktion ihrer Lebensbedingun4 Vgl. Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung).
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Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
gen geschieht zunächst naturwüchsig, d. h. gesellschaftlich bewusstlos. Die Menschen bauen durch und in ihrer gesellschaftlichen Produktion – im weitesten Sinne dieses Wortes – Verhältnisse auf, die sie nicht als von ihnen hervorgebrachte, sondern als Naturgegebenheiten oder Systemzwänge erfahren und als solche hinnehmen. (Marx 42: 402) Solange sie dies nicht durchschauen, geraten sie durch die fortschreitende Entwicklung in eine zunehmende Entfremdung. Erst wo die arbeitenden Menschen die Entfremdetheit ihrer Lebensbedingungen begreifend erfassen, können sie – bewusst und vereinigt – in »revolutionärer Praxis« den sie knebelnden und bedrohenden gesellschaftlichen Verhältnissen entgegenzuwirken beginnen. Erst indem sie sich der Gesellschaftlichkeit ihrer Produktion und deren sozialen Folgen bewusst werden, können sie allererst beginnen, zu verantwortlichen und solidarischen Subjekten ihrer gesellschaftlichen Praxis und ihrer Geschichte zu werden: »In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.« (Marx/Engels 3: 424) 5 Dies ist die Kernproblematik der geschichtsmaterialistischen Dialektik, von der Marx spricht, die von einer basalen Bestimmung der gesellschaftlichen Praxis ausgeht und über die geschichtlich gewordene Entfremdung zu einer praktisch aufgegebenen Aufhebung der Entfremdung fortschreitet. Den philosophischen Kern dieses dialektischen Dreischritts finden wir schon bei Platon, Rousseau, Kant und Fichte angedeutet, durch Marx wird er jedoch auf die gesellschaftliche Arbeit bezogen menschheitsgeschichtlich ausformuliert. Völlig falsch wäre es, dem geschichtlichen Dreischritt starre Gesellschaftsformationen zu unterlegen, wie es vielfach im dogmatischen Marxismus geschehen ist, der meinte, die Menschheitsgeschichte verlaufe von einem Urkommunismus über bestimmte Formationen der Entfremdung zum realen Sozialismus/Kommunis-
Siehe das Kapitel III: »Die Kernstruktur der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis« in diesem Band.
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Die Dialektik gesellschaftlicher Praxis
mus gesetzmäßig voran. Doch bei Marx handelt es sich bei der geschichtsmaterialistischen Dialektik nicht um eine wissenschaftlich objektivierende Abbildung einer Entwicklungsgesetzmäßigkeit, die das Subjekt der wissenschaftlichen Erkenntnis methodologisch notwendig ausklammern muss, sondern um eine praxisphilosophische Standortbestimmung der Menschen in ihrer gesellschaftlichen Praxis, in die die Menschen – begreifend und verantwortlich – als aktive Handlungsträger mit einbezogen sind. 6 So ist unter der basalen Bestimmung der gesellschaftlichen Praxis nicht eine Urgesellschaft gemeint, sondern die grundlegende Angewiesenheit der Menschen auf ein soziales Zusammenwirken ihrer Kräfte – Marx spricht von der »Produktion im Allgemeinen«, dem »wirklich Gemeinsamen« aller Gesellschaften. (Marx 42: 7) Diese Bedingungen ermöglichen jegliches gesellschaftliche Leben – liegen also auch, wenngleich verdeckt und ignoriert, dem herrschenden Kapitalismus zugrunde. Alle bisherigen Gesellschaften waren und sind gegenüber dem basalen Ermöglichungsgrund entfremdet, wenn auch in unterschiedlichen Formen und Graden, insofern ihre gesellschaftliche Entwicklung bewusstlos erfolgt. Je mehr die allgemeine Vergesellschaftung naturwüchsig voranschreitet, umso entfremdeter, weil mächtiger werden die entfremdeten Verhältnisse. Demgegenüber beginnt die Aufhebung der Entfremdung mit der Bewusstwerdung und der revolutionären Vereinigung der arbeitenden Menschen: Insofern versteht Marx unter dem Kommunismus keinen endgültigen Gesellschaftszustand, sondern eine Bewegung, die auf eine immer bewusstere Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens durch die arbeitenden Menschen voranschreitet: »Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.« (Marx/Engels 3: 70)
Dies entschieden herausgearbeitet zu haben, ist das große Verdienst von Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923).
6
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Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
3.
Zur Kritik der politischen Ökonomie
Nun ergibt sich für die Beurteilung der Marxschen Dialektik ein schwerwiegendes Problem daraus, dass Marx, als er nach mehrjähriger erzwungener Pause 1857 seine wissenschaftliche Arbeit an einer Kritik der bürgerlichen Ökonomie wieder aufnimmt, zunächst mit einer »Einleitung« (1857) beginnt, die durchaus noch im Rahmen der oben skizzierten geschichtsmaterialistischen Dialektik argumentiert, dann aber in der anschließenden Materialsammlung der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1858) eine völlig andere strukturlogische Darstellungsmethode für seine Kritik einschlägt, die er von da ab für die Ausarbeitung seines gigantischen Spätwerks beibehält: der auf sechs Bände geplanten Kritik der politischen Ökonomie 7, von denen er jedoch selber nur das allererste Teilstück Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß der Kapitals 1867 veröffentlicht. Während es Marx in seinen ersten Pariser Entwürfen einer Kritik der bürgerlichen Ökonomie darum ging, philosophisch die geschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit der Entfremdung und damit die praktischen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung aufzuzeigen, versucht er nun in der Kritik der politischen Ökonomie, die Logik des Kapitals in ihrem strukturgesetzlichen Funktionieren kritisch zu rekonstruieren. Dass dieser Wandel in der Darstellungsmethode, die nicht mehr geschichtsdialektisch, sondern strukturdialektisch argumentiert, auf eine erneute Auseinandersetzung mit Hegels Wissenschaft der Logik im Jahre 1858 zurückgeht, hat Marx selber immer wieder in Briefen angedeutet. 8 Aber was dieser Wandel im Hinblick auf sein Gesamtwerk zu bedeuten hat, darüber ist seit Marxens Tod ein immer wieder hin und her wogender und tobender Streit entbrannt. Während bei»Das Ganze ist eingeteilt in 6 Bücher. 1. Vom Kapital (enthält einige Vorchapters). 2. Vom Grundeigentum. 3. Von der Lohnarbeit. 4. Vom Staat. 5. Internationaler Handel. 6. Weltmarkt« (Marx 29: 550 f.) 8 Marx an Engels (29: 260): »In der Methode des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich by mere acident – Freiligrath fand einige, ursprünglich dem Bakunin gehörige Bände Hegels und schickte sie mir als Präsent – Hegels ›Logik‹ wieder durchgeblättert hatte. Wenn je wieder Zeit für solche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die H[egel] entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen.« 7
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Zur Kritik der politischen Ökonomie
spielsweise Friedrich Engels 9 von Anfang an den Versuch unternimmt, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie durch eine historisierende Lektüre dem Gesamtprojekt des »Historischen Materialismus« einzufügen, pocht dagegen Louis Althusser 10 darauf, dass Marx mit seinem Spätwerk einen völlig neuen »Kontinent« strukturaler Analyse betritt, der gänzlich mit seinem philosophischen Frühwerk bricht. 11 Ohne Zweifel liegt hier ein radikaler Einschnitt vor, trotzdem halte ich daran fest, dass es nur einen Marx gibt, insofern sich Frühund Spätwerk auseinander begründen und gegenseitig konkretisieren. Auch das gigantische Werk der Kritik der politischen Ökonomie gründet in der geschichtsmaterialistischen Dialektik gesellschaftlicher Praxis und verfolgt das praxisphilosophische Anliegen der Aufklärung der arbeitenden Menschen, um ihnen eine konkrete Perspektive für ihre gemeinsam zu erkämpfende Emanzipation zu geben. Hierfür spricht einerseits, dass Marx auch in seinen letzten Lebensjahrzehnten parallel zur Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie in seinen historischen und ethnologischen Studien das geschichtsmaterialistische Konzept weiter fortgeführt sowie in seinen späteren politischen Schriften und Reden an seiner gemeinsam mit Engels im Kommunistischen Manifest (1848) entwickelten revolutionären Perspektive festhält. Und hierfür spricht andererseits auch, dass die Kritik der politischen Ökonomie ein Theoriestück ist, dass sich ohne die vorausgehende geschichtsmaterialistische Fundierung weder begründen lässt noch revolutionär über sich hinauszuweisen vermag. Allerdings ergeben sich aus einer Rückeinbettung der Kritik der politischen Ökonomie in das Gesamtanliegen einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis auch eine Reihe von Interpretationskonsequenzen, auf die nach einer kurzen allgemeinen Skizzierung des Anliegens der Kritik der politischen Ökonomie noch einzugehen sein wird. 12 9 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884, 21: 25 ff.) 10 Louis Althusser und Etienne Balibar, Das Kapital lesen (1968). 11 Engels und Althusser werden hier nur als besonders extrem entgegengesetzte Beispiele genannt, genauso gut könnten hier Antonio Labriola und Max Adler, Antonio Gramsci und Karl Korsch, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno einander gegenüberstellt werden. 12 Die folgenden fünf Absätze stellen eine geraffte, aber auch präzisierte Zusammenfassung des Kapitels »Die Kritik der politischen Ökonomie« aus dem vorherigen Bei-
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Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
Vom ersten Satz des Kapital an bis zur vorgezogenen Endperspektive der Kritik der politischen Ökonomie gegen Schluss des ersten Bandes (Marx 23: 791) bewegt sich die gesamte Kapitalanalyse ausschließlich in der immanenten Rekonstruktion der wertökonomischen Logik des Kapitals, die eine negative Logik der Entfremdung und der »Verkehrung« ist. Der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise liegt darin, dass sich hier die gesellschaftlich handelnden Individuen von der wertökonomischen Logik des Kapitals bestimmen und beherrschen lassen; das Kapital aber ist nichts anderes als aufgehäufte vergegenständlichte Arbeit, die für sich tot ist und die ihre ganze Kraft allein aus der »vampyrmäßigen« Aussaugung der lebendigen Arbeit der unmittelbaren Produzenten gewinnt. (Marx 23: 247) Das erneute Anknüpfen an Hegel ist insofern keine positive Aufnahme der Hegelschen Logik, wie vielfach unterstellt wurde, sondern setzt ganz im Gegenteil die grundsätzliche Kritik an der Hegelschen Logik als Logik der Entfremdung aus dem Jahre 1844 (Marx 40: 568 ff.) voraus. Das Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie »kokettiert« mit der Hegelschen Logik, da diese ebenfalls eine Logik der Entfremdung ist, um mit ihr die entfremdete Logik des Kapitals in ihrer Negation gegenüber den arbeitenden Menschen und der lebendigen Natur aufzudecken. (Marx 23: 27 f., 85 ff.) Dem Selbstverständnis ihrer wertökonomischen Bewegungsund Entwicklungsgesetze nach – und so wird das Kapital von der bürgerlichen Theorie der Politischen Ökonomie allein wahrgenommen – verhält sich das Kapital jedoch ganz so wie die Logik bei Hegel, als wäre es allein aus sich selbst begründet und aus sich selbst heraus produktiv. Gerade dadurch aber betreibt das Kapital die fortgesetzte und fortschreitende Negation der lebendigen Arbeit sowie der lebendigen Natur – und beschneidet und bedroht somit die Daseinsgrundlage der Menschen. (Marx 23: 170) Daher kommt es nicht nur zu einem sich perpetuierenden Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, sondern auch zu einem Selbstwiderspruch des Kapitals, denn »diese der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit« (Marx 23: 329) impliziert einen Selbstwidertrag »Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation« dar. Trotz einiger argumentativer Wiederholungen habe ich diese partiellen Überschneidungen beibehalten, da sonst der gedankliche Zusammenhang zerrissen worden wäre.
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Zur Kritik der politischen Ökonomie
spruch, der auf eine Selbstzerstörung des Kapitals zutreibt. (Marx 42: 600 f.) Nicht direkt – denn die Kritik der politischen Ökonomie ist ja nur immanente Aufdeckung der widersprüchlichen Logik der kapitalistischen Produktionsweise – aber indirekt endet also die Kritik der politischen Ökonomie in der Sichtbarmachung der praktischen Notwendigkeit, dass die arbeitenden Menschen bei Strafe ihres Untergangs nicht umhinkommen, in bewusster gemeinsamer Aktion die »Despotie des Kapitals« (Marx 23: 669), dieses »Machwerk [ihrer] eigenen Hand« (Marx 23: 649), umzuwälzen, um die weitere Geschichte in gemeinsamer Verantwortung fortführen zu können. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist ihrer dialektischen Struktur nach eine negative Theorie, die das, was sie analysiert, die kapitalistische Wertökonomie, in ihrer grundsätzlichen Negativität aufdeckt und bloßstellt. Sie ist also – wenn auch nur als Theorie – Negation der Negation, und als solche gründet sie in etwas und intendiert sie etwas, was sie selbst als Theorie nicht darzulegen vermag. Als Kritik gründet sie in der gesellschaftlichen Arbeit und Praxis, die durch die kapitalistische Ökonomie negiert wird, und sie intendiert deren revolutionäre Überwindung, ohne dass sie dies in ihrer immanenten Rekonstruktion der Negativität der kapitalistischen Ökonomie direkt thematisieren kann. Nur indirekt an ihren Rändern kommt ihr positives Fundament in der gesellschaftlichen Arbeit und Praxis zum Vorschein (Marx 23: 192) und schimmert ihre Zielperspektive einer revolutionären Praxis durch. (Marx 23: 791) Es galt diesen besonderen philosophischen Charakter der Kritik der politischen Ökonomie als einer negativen Theorie hervorzuheben, da viele Marxisten und Antimarxisten völlig übersehen haben, das die Kritik der politischen Ökonomie nur als entlarvende Kritik der verkehrten Logik des Kapitals und als gesellschaftspolitische Aufklärung verstehbar ist. Oder anders gesagt: die Kritik der politischen Ökonomie kann weder zur Grundlegung der Ökonomie als Wissenschaft im Allgemeinen noch einer sozialistischen Ökonomie im Besondern herangezogen werden – sie ist eben »nur« grundlegende Kritik der Wertlogik des Kapitals, um dadurch die praktische Notwendigkeit ihrer revolutionären Überwindung sichtbar zu machen. Dieses Dilemma, in das die geraten, die die Kritik der politischen Ökonomie als wissenschaftliche Ökonomie verstehen und nicht als radikale Kritik der kapitalistischen Ökonomie, wird immer wieder 267 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
neu sichtbar. So eignet sich die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ausgezeichnet dafür die gegenwärtige sog. »Finanzkrise« aufzuhellen, man kann sogar sagen, Marx habe sie bereits bis ins Details hinein im dritten Band des Kapital analysiert – oder wie oftmals etwas paradox formuliert wird: er habe sie »vorausgesagt« –, aber es wäre absurd, von Marx her Vorschläge zu deren Überwindung zu erwarten. Denn jeder Versuch die Finanzkrise innerhalb des Kapitalismus zu überwinden, zielt darauf ab, das Gleichgewicht der Kapitalien wieder herzustellen, d. h. den Kapitalismus insgesamt zu erhalten. Doch auch alle Versuche, von der Kritik der politischen Ökonomie her eine sozialistische Ökonomie aufzubauen, die, abgeleitet von der Marxschen »Arbeitswertlehre«, eine Umstrukturierung der Wertverteilung vom Privateigentum auf das staatlich verwaltete Gesellschaftseigentum intendieren, müssen notgedrungen fehlschlagen, da eine solche Umverteilung an der von Marx radikal in Frage gestellten Wertökonomie festhält, also das zu einem staatlich gesteuerten Positivum erhebt, was für Marx die grundlegende Verkehrung der herrschenden politischen Ökonomie ausmacht und daher überwunden werden muss. Will man eine über den Kapitalismus hinausweisende sozialistische oder sozial-ökologische Oikonomia antizipieren, so darf man nicht bei der negativen Theorie der Kritik der politischen Ökonomie ansetzen, sondern muss geschichtsmaterialistisch zum positiven Fundament der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit und Praxis zurückgehen 13 und von hier her eine Emanzipationstheorie oder Theorie »revolutionärer Praxis« entwerfen, wie sie von Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) sowie in seinen späteren politischen Reden und Abhandlungen bis hin zu den Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875) antizipiert worden ist. Eine solche Emanzipationstheorie darf nicht erst bei der Lohnarbeit im Kapitalismus beginnen, sondern muss alle Bereiche der gesellschaftlichen Arbeit und Praxis mit einbeziehen, die zur Reproduktion und Regeneration einer jeden Gesellschaft erforderlich sind. Es gilt, den Blick auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion zu richten – natürlich unter Einschluss der Güterproduktion, aber auch unter Berücksichtigung der Tätigkeits-
13
Siehe Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie (1962).
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Zur Kritik der politischen Ökonomie
bereiche der familialen Regeneration sowie der sozial-politischen Bereiche der Erhaltung und Erneuerung einer Gesellschaft. 14 Das Ziel der »menschliche Emanzipation«, wie Marx dieses ethische Ziel schon 1843 benennt (Marx 1: 370), richtet sich einerseits auf die sozial gerechte Verteilung der »notwendigen Arbeit« auf alle, um so jedem Individuum größtmögliche Zeit zur Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Das »Reich der Notwendigkeit«, die gesellschaftlich notwendigen Arbeiten, und das »Reich der Freiheit«, die Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung, dürfen nicht auf verschiedene Klassen verteilt werden, sondern müssen aufeinander bezogen verwirklicht werden, dann schließen sie einander nicht aus. (Marx 25: 828) Wenn alle für die gesellschaftlich notwendigen Arbeit mit herangezogen werden, dann wird einem jedem Individuum eine größtmögliche Zeit zur eigen Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft ermöglicht. Um dieses Ziel zu erreichen bedarf es einer tiefgreifenden Revolutionierung des Alltagslebens, deren grundlegende Voraussetzung jedoch in einer Überwindung der wertbestimmten kapitalistischen Produktionsweise liegt. Ein Gelingen einer solchen Umwälzung ist – obwohl grundsätzlich möglich – durch keinerlei ökonomisches Gesetz garantiert, sondern es liegt allein in der Hand derer, die von der Verkehrtheit der gegenwärtigen Verhältnisse benachteiligt sind und die praktische Notwendigkeit der Überwindung dieser Verkehrtheit für die Menschheit erkennen. 15 Ich breche hier ab, denn es galt an dieser Stelle, lediglich auf das Dilemma mit der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam zu machen, das dann entsteht, wenn man von ihr mehr als eine kritische Analyse der grundsätzlichen Negativität der kapitalistischen Wertökonomie erhofft. Sie ist nur negative Theorie, die lediglich dazu taugt, die Logik des Kapitals in ihrer negativen Stoßkraft gegenüber Siehe Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit (1972); Henri Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse (1973); Claude Meillassoux, »Die wilden Früchte der Frau«. Über häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft (1975); Johannes Gröll, Erziehung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß (1975); Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts (1976); Horst Müller, Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert (2016). 15 Vgl. Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens (1947 ff.); Lucien Goldmann, Dialektische Untersuchungen (1959); Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion (1970); Heinz-Joachim Heydorn, Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs (1972); Johannes Ernst Seiffert, Pädagogik der Sensitivierung (1975); Friedrich Voßkühler, Subjekt und Selbstbewusstsein (2010). 14
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Die bleibende Herausforderung der Marxschen Dialektik
der lebendigen Arbeit und der lebendigen Natur aufzuzeigen, weder ist sie das Fundament einer Ökonomie als Wissenschaft noch lassen sich von ihr sozialistische Alternativen ableiten. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass die Kritik der politischen Ökonomie eine unentbehrliche Korrespondenztheorie für die unabhängig von ihr zu entwickelnde Emanzipationstheorie oder Theorie der »revolutionären Praxis« darstellt, denn ohne die radikale Kritik der Wertökonomie fest im Blick zu behalten, wird jede Emanzipationstheorie einerseits zu einer unerfüllbaren Utopie, da sie die Macht der bestehenden Verhältnisse unterschätzt, und andererseits – gerade deshalb – über kurz oder lang von der Ideologie der werttheoretischen Systemzwänge vereinnahmt, wie alle sozialistischen Bewegungen vor ihr. Auch wenn sie unabhängig voneinander zu entfalten sind, bleiben die sich auf Marx berufende revolutionäre Emanzipationstheorie und die Kritik der politischen Ökonomie unabdingbar aufeinander verwiesen, nur so kann die Hoffnung weitergetragen werden, dass das Ziel einer solidarischen und ökologischen Menschheitsgesellschaft jemals erreicht werden kann. 16
16 Siehe Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965); Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959); Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung (1969); Shingo Shibata, Revolution in der Philosophie. Der praktische Materialismus und seine Aufhebung (1970).
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Ausblickgebende Perspektiven zur Weiterführung
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Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis 1
Anders als die Soziologie, der es um die wissenschaftliche Aufhellung und Erklärung von gesellschaftlichen Zusammenhängen in ihrem Beziehungsgeflecht und ihren Prozessverläufen geht, versteht sich die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis grundsätzlich als Teilstück praktischer Philosophie, und das bedeutet, dass sie Aufklärung der Menschen über ihr gesellschaftliches Sein zur praktischen Orientierung ihres gesellschaftlichen Handelns zu sein versucht. Solche Aufklärung und Orientierung kann der Philosophie gesellschaftlicher Praxis nur gelingen, wenn sie sich selbst aus dem Horizont der handelnden Subjekte versteht oder, anders gesagt, wenn die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis sich prinzipiell auf die praktische Selbstbestimmung der handelnden Subjekte bezogen weiß, zu denen das philosophierende Subjekt grundsätzlich mit hinzugehört, so dass also Philosophie und Handelnde eine Dialoggemeinschaft menschlicher Selbstfindung in praktischer Absicht bilden. Die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis versteht sich selbst als ein Teilmoment des großen praktischen Projekts der Menschen sich zu selbstbestimmter und solidarischer Praxis zu emanzipieren und zu bilden. Tritt die Philosophie gesellschaftlicher Praxis aus dieser praktischen Dialoggemeinschaft und Zielorientierung auf die Selbstbestimmung und Mitverantwortung der handelnden Subjekte heraus, so wird sie zur Ideologie, die dann vermeint, den Menschen von außen ihr Sein bestimmen und ihr Tun vorschreiben zu können, die glaubt, wissenschaftlich begründete Weltanschauung zu sein, von der her das geschichtliche Sein der Menschen sozialtechnologisch reguliert werden kann. Solche Ideologisierungen der Philosophie gesellschaftlicher Praxis hat es immer wieder gegeben, denn sie entlasten die Nachfol1 Zuerst erschienen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Johannes Weiß (Hg.) Aufklärung und Ideologie. Die Rolle von Philosophie und Soziologie im gesellschaftlichen Umbruch der ›realsozialistischen‹ Staaten, Kassel 1992: 1 ff.
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Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
ger – im doppelten Wortsinn: von Epigonen und Anhängern –, selber ihr Menschsein praxisphilosophisch bedenken und verantworten zu müssen. Die Anhänger vertrauen sich einer Ideologie an, deren objektive Wahrheit sie nur zu glauben und deren Anweisungen sie nur zu befolgen brauchen. Was für die Nachfolger eine Entlastung ist, wird gegen die Nicht-Glaubenden und Nicht-Gehorchenden zu einem System der Unterdrückung und Verfolgung. Gegen solche Ideologisierungen der Philosophie gesellschaftlicher Praxis, die deren ursprüngliche Intention, die Menschen zu ihrer Selbstbestimmung und Mitverantwortung zu befreien, in ihr Gegenteil verkehrt, gibt es keinerlei Absicherungen, sondern nur die Möglichkeit der Praxisphilosophie selbst, ihren dialogischen Versuch der Aufklärung und Orientierung immer wieder erneut zu beginnen. Zu diesem Neubeginn gehört ganz wesentlich auch die Wiedervergegenwärtigung der von ihrem ideologischen Ballast befreiten früheren Ansätze kritisch praktischer Gesellschaftsphilosophie, um in ihrem Weiterdenken die gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemstellungen und Handlungshorizonte bestimmen zu können. Zu den bedeutendsten Konzeptionen kritisch praktischer Gesellschaftsphilosophie, die zugleich am schlimmsten und nachhaltigsten missdeutet und missbraucht worden sind, gehören die Ansätze von Platon und Marx. Sie gilt es wenigstens in Stichworten für unsere Weiterarbeit an einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis zu vergegenwärtigen.
1.
Zu Platon
Schon Aristoteles, der unmittelbare Schüler Platons, hat das praxisphilosophische Anliegen der Politeia seines Lehrers gründlich missdeutet, wenn er in seiner Politik-Vorlesung die Platonische Kommunismus-Diskussion als einen sozialtechnologischen Vorschlag zu widerlegen versucht und dementgegen – fast schon in der Sprache der Ideologen der heutigen Marktwirtschaft – die Unentbehrlichkeit von Privateigentum und Privatinitiative für die pragmatische Konstitution eines funktionierenden Gemeinwesens unterstreicht. Und so haben viele andere, Gegner und Nachfolger, die Absicht nicht verstanden, mit der Platon seinen fiktiven Entwurf verfolgt. Denn Platon stellt hier kein Modell vor, dass es zu verwirklichen gelte, sondern er versucht mit ihm kritisch die Grundübel – Ehrgeiz, 274 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Zu Platon
Habsucht, Egoismus und Machtgier – anzuprangern, die die bestehenden politischen Staaten in den Verfassungsformen der Aristokratie, der Oligarchie, der Demokratie und der Tyrannis beherrschen, und die daher der Konstitution einer gerechten Polisgemeinschaft im Wege stehen. Gleichzeitig dient Platon die ironische Überzeichnung des Bildes eines despotischen Kommunismus, in dem auch die Dichter zur ideologischen Lobpreisung verpflichtet werden, gerade zur Warnung, sein Gemälde ja nicht als sozialtechnologisches Modell zu nehmen. Diesen von den ideologischen Vereinfachern übersehenen Punkt spricht Platon selbst dort an, wo er gerade im Zentrum der Politeia die Frage, wie denn solche Vorstellungen zu verwirklichen seien, ausdrücklich abwehrt und fortfährt, dass es allein auf einen einzigen Punkt ankomme, nämlich dass sittliche Menschen, Männer und Frauen, die selber in sich die Umkehr (periagogé) von Ehrgeiz, Habsucht, Egoismus und Machtgier zur Idee des Guten hin vollzogen haben – und diese sittlichen Menschen nennt Platon Philosophen –, dass also diese sittliche Menschen die politische Arbeit der Einrichtung und Lenkung der Polis in ihre Hände nehmen: »Durch eine einzige Veränderung nun, sprach ich, glaube ich zeigen zu können, daß er sich dazu umwandeln werde, freilich durch keine kleine, auch nicht leichte, aber doch mögliche. […] Wenn nicht, sprach ich, entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, […] eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten […] und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht«. (Platon, Politeia 473 c/d) Damit spricht Platon zu Beginn unserer Tradition die konkrete Utopie der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie in die sittlich-politische Praxis der Menschen aus, wie sie auch heute noch Zielhorizont jeder kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis zu sein hat. Doch noch etwas ganz Entscheidendes am Dialog Politeia wurde von den Ideologen übersehen, nämlich dass es sich um einen Dialog handelt, und zwar grundsätzlich. D. h. Platon verfasst keinen Traktat über die Gerechtigkeit, ja er hütet sich sogar in der Politeia, anders als in hinweisenden Gleichnissen zu sagen, was denn Gerechtigkeit im Staat oder gerechtes-sittliches Handeln des einzelnen sei, denn jedes Aussprechen würde die sittliche Praxis, um die es hier geht, instrumentalisierbar erscheinen lassen. Es handelt sich aber 275 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
um eine sittliche Praxis, die die handelnden Subjekte nur aus sich selbst heraus in Besinnung auf die »Idee des Guten« zu finden und zu verantworten vermögen. Die Praxis des Dialogs – nicht des dargestellten, sondern des mit dem Hörer oder Leser aufgenommenen Dialogs – kann nur aufklärend die sittliche Verantwortung der politisch Handelnden zu wecken versuchen. Daher verbietet sich Platon jede abschließende Aussage über sittliche Praxis, denn diese kann nur praktisch von den handelnden Subjekten selber erfüllt werden. 2
2.
Zu Marx
Auch der praxisphilosophische Ansatz von Karl Marx ist bereits von seinem intimsten Freund und politischen Weggefährten Friedrich Engels im Kern missverstanden und in verhängnisvoller Weise zum »Sozialismus als Wissenschaft« uminterpretiert worden. Dabei wollte Engels mit seinen Popularisierungen nur die Lehre von Marx der breiteren Mehrheit der Arbeiter verstehbar machen – und er hat damit auch große Erfolge und Verdienste erworben. Und doch wurde dadurch ein Weg eröffnet, der die Marxsche Praxisphilosophie zur Ideologie verkehrte. Andere folgten ihm und setzten diesen Weg bis zur vollständigen Dogmatisierung der Lehre fort, die sich dann unter Stalin zur grauenhaften Verfolgung und Liquidierung der sozialistischen Denker und kommunistischen Revolutionäre steigerte sowie Millionen weiterer Menschen das Leben kostete. Heute, da der auf diesem Dogmatismus errichtete reale Sozialismus zusammengebrochen ist, verbindet die Mehrheit der Bevölkerung in den osteuropäischen Ländern mit den Begriffen Sozialismus und Kommunismus nur noch Unterdrückung, und der Name Marx steht ihnen für die gigantische ökonomische Fehlplanung, durch die die arbeitenden Menschen in Abhängigkeit und Armut gehalten wurden. Kann man es diesen Menschen verdenken, dass sie nun nur noch in der Marktwirtschaft, wie man heute den Kapitalismus zu nennen pflegt, eine Wohlstand und Freiheit verheißende Rettung zu erblicken vermögen? Versuchen wir, in vier Thesen den praxisphilosophischen Kern Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999) – darin: »Platon – Die Idee des Guten«.
2
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Zu Marx
der Marxschen Kritik gesellschaftlicher Praxis in Erinnerung zu rufen. (1) Marx tritt entschieden das Erbe der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der sie leitenden Praxisphilosophie an, die sich seit dem Humanismus über die Aufklärung bis zum Idealismus schrittweise als Philosophie der menschlichen Freiheit und geschichtlichen Verantwortung entfaltete. Aber Marx tritt zugleich kritisch den Ergebnissen entgegen, bei denen die bürgerliche Emanzipationsbewegung nach Eroberung der politischen Freiheit stehen geblieben war. Die bürgerliche Praxisphilosophie ist grundsätzlich eine affirmative Theorie, weil sie davon ausgeht, dass der menschlichen Praxis immer schon eine vorwärtstreibende sittliche Vernunft innewohne, über die die Individuen nur aufzuklären seien, um sie mit Bewusstheit erfüllen zu können. Kritisch weist Marx demgegenüber darauf hin, dass in der gesellschaftlich bewusstlosen, »naturwüchsigen« geschichtlichen Praxis sich keineswegs nur »listig« die Vernunft – wie Hegel meint – realisiert, sondern zugleich auch ihr Widerspruch in Form von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen erwächst. Wenn aber die gesellschaftliche Praxis nicht als ein aus sich selbst bestimmter Progress zu Freiheit und Versittlichung verstanden werden kann, so darf auch die Praxisphilosophie sich nicht darauf beschränken, die vorgängige Praxis zu affirmieren, sondern sie hat die bestehenden Entfremdungen und Widersprüche kritisch aufzudecken und als praktisch aufzuhebende sichtbar zu machen. Diese Kritik versteht sich selbst als aufklärendes Moment für die praktische Aufhebung und Überwindung der bestehenden Widersprüche auf eine – dann erst möglich werdende – freie und solidarische gesellschaftliche Praxis hin. (2) Um den Selbstwiderspruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft analytisch fassen zu können, muss Marx tiefer und grundlegender ansetzen als die bürgerliche Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie vor ihm. Der für Marx entscheidende Ausgangspunkt ist der der gesellschaftlichen Produktion. In seiner grundlegendsten Bedeutung besagt der Begriff der gesellschaftlichen Produktion, dass die Menschen selber die Produzenten ihres Verhältnisses zur Natur, ihrer sozialen Beziehung und ihrer Denkformen sind. Die immer schon »in Gesellschaft produzierenden Individuen« bringen also selber die gesellschaftlichen Verhältnisse hervor, in denen sie jeweils leben. Aber – und hiermit kommen wir auf das entscheidende Problem 277 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
der Marxschen Geschichtsdialektik – diese Produktion und Reproduktion ihrer Lebensverhältnisse durch die gesellschaftliche Arbeit und Praxis vollzieht sich zunächst für die Individuen völlig bewusstlos, so dass für diese die jeweiligen gesellschaftlich produzierten Formen nicht als selber hervorgebrachte, sondern als – gottgewollte, naturbedingte, sachnotwendige – Gegebenheiten erscheinen, die das Handeln der Individuen fremdbestimmen. So wirken die gesellschaftlich bewusstlos hervorgebrachten Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sowie deren ideologische Legitimation als fremde Mächte bestimmend auf die handelnden Individuen zurück, die eigentlich ihre Produzenten sind. Nun liegt aber gerade in der Aufdeckung dieser Entfremdung und Verkehrung bereits der Aufweis der prinzipiellen Möglichkeit ihrer Aufhebung und Überwindung begründet. Denn da die Entfremdung selbst Produkt der – wenn auch bewusstlosen – gesellschaftlichen Praxis ist, kann sie grundsätzlich auch durch gesellschaftliche Praxis aufgehoben werden, nämlich durch die vereinigte revolutionäre Macht der sich ihrer Abhängigkeit und Ausbeutung bewusstgewordenen Produzenten. (3) Auch das gesamte Spätwerk von Marx, das nie abgeschlossene Mammutunternehmen einer Kritik der politischen Ökonomie, ruht auf diesem geschichtsdialektischen Grundgedanken, denn nur so ist sie als Kritik begründet. Aber meist wird diese Fundierung der Kritik der politischen Ökonomie in den praxisphilosophischen Frühschriften übersehen. So wird nicht erkannt, dass Marx mit der Kritik der politischen Ökonomie die Logik der Wertgesetze, die die kapitalistische Produktionsweise fundiert und beherrscht, in kritischer Absicht als Logik der Entfremdung aufzudecken versucht. Die Kritik der politischen Ökonomie ist also eine negative Theorie. D. h. die Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise in der Logik ihrer werttheoretischen Bewegungsgesetze erfolgt mit dem Ziel, an ihr selbst den Erweis zu erbringen, dass das Kapital grundsätzlich die Widersprüche nicht zu lösen vermag, die es selbst erzeugt. Diese Widersprüche treiben das Kapital immer wieder in neue und gesteigerte Krisen, die die arbeitenden Menschen in existentielle Notlagen stürzen. Wird die Kritik der politischen Ökonomie nicht von ihrem Anliegen her verstanden, den negativen Erweis zu erbringen, dass das Kapital in der Entfaltung seiner Logik notwendig von der Ausbeutung der lebendigen Arbeit und auch der Ausplünderung der Natur lebt, so wird nicht nur ihr negativ-kritischer Theoriecharakter von 278 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Zu Marx
vornherein missverstanden, sondern auch übersehen, dass sie gar nicht auf eine neue ökonomische Wissenschaft abzielt, sondern auf die radikale revolutionäre Aufhebung des Kapitals mitsamt der sie tragenden werttheoretischen Logik. (4) Dass die »menschliche Emanzipation« nur über eine Revolutionierung der entfremdeten Gesellschaftsverhältnisse durch die von der Entfremdung Betroffenen, die eigentlichen Träger der gesellschaftlichen Produktion, selbst vollzogen werden kann, ist bereits durch die philosophische Grundlegung der Geschichtsdialektik begründet. Durch die Kritik der politischen Ökonomie wird darüber hinaus die praktische Notwendigkeit demonstriert, dass nur die radikale und totale Umwälzung der werttheoretischen Logik des Kapitals durch die von ihr ausgebeuteten, sie gleichwohl tragenden Produzenten eine solidarische Neukonstitution der gesellschaftlichen Praxis ermöglichen kann. Wenn wir den Zielhorizont einer solchen gesellschaftlichen Neukonstitution solidarischen und ökologischen Sozialismus nennen, so hat ein solcher Sozialismus grundsätzlich nicht mehr vom Wertgesetz auszugehen, sondern von einer qualitativen Neubewertung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit – also beispielsweise auch der nicht »wertheckenden« Familien- und Erziehungsarbeit – sowie der qualitativen Neubewertung des ökologischen Verhältnisses der gesellschaftlichen Produktion zur Natur. Die Zielperspektive eines solchen solidarischen und ökologischen Sozialismus ist die von den Menschen – Männern und Frauen – selbstbestimmt und gemeinsam geplante und geregelte gesellschaftliche Lebensgestaltung, die nicht nur die eigene Lebensqualität und die freie sittliche Entfaltung der gegenwärtigen Gesellschaften im Auge behalten muss, sondern auch den Erhalt, ja sogar die Erweiterung dieser Lebensqualität für die kommenden Generationen. Und dazu gehört auch ganz wesentlich die Erhaltung der Natur als die Lebensgrundlage des Menschengeschlechts, wie dies Marx im dritten Band des Kapital ausgeführt hat: »Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer und haben sie als boni partres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« (Marx 25: 784) 3
Siehe Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die ›Kritik der politischen Ökonomie‹ (1984/2011) sowie
3
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Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
3.
Abschlussbemerkung
Die Stringenz und Schärfe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie bewahrheitet sich vor unseren Augen in geradezu beängstigender Präzision. Immer ungeschminkter verkündet der globalisierte Kapitalismus, dem kein Widerpart mehr entgegensteht, dass er nur ein Ziel kennt: die eigene Wertsteigerung, deren Nutznießer wenige Kapitaleigner und deren Manager sind. Und in nie zuvor dagewesener Brutalität wird dieses Ziel der Profitmaximierung weltweit ohne Rücksicht auf die natürlichen Lebensgrundlagen und die sozialen Lebensbedingungen der gegenwärtig lebenden Menschen sowie der kommenden Generationen durchgesetzt. 1. Zwar scheint es, als wären wir in den reichen Industrienationen durch die »soziale Marktwirtschaft« den ärgsten Widersprüchen der kapitalistischen Wertökonomie enthoben. Aber wir haben vergessen, wem wir die bei uns noch bestehenden sozialen Absicherungen verdanken und ahnen daher kaum, wie gefährdet diese sozialen Netze aufgrund des globalen Drucks bereits sind. Sicherlich verdanken wir den sozialen Frieden und den Nutzen daraus nicht einem Kapitalismus, der von sich aus menschlicher geworden ist, sondern erstens dem gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Kampf der Arbeiterbewegung; zweitens der bis vor einiger Zeit noch bestehenden Konkurrenzsituation mit dem realen Sozialismus sowie drittens und vor allem der partiellen Mitbeteiligung der arbeitenden Bevölkerung aller westlichen Industrienationen an den Extraprofiten durch die forcierte Ausbeutung der Dritten Welt sowie an der beschleunigten wissenschaftlich-technischen Ausplünderung der Natur. Doch auch an den bescheidenen Errungenschaften der »sozialen Marktwirtschaft« nagt bereits der global verschärfte tendenzielle Fall der Profitrate. So stehen wir beispielsweise in den fortgeschrittensten Industrienationen durch die immer stärkere Einbeziehung der intellektuellen Arbeit in den Verwertungsprozess und die gigantische Steigerung der wissenschaftlich-technischen Produktivkraft vor einer anhaltenden strukturellen Arbeitslosigkeit von nie zuvor gekanntem Ausmaß. Damit aber wird deutlich, dass die »soziale Marktwirtschaft« keineswegs den von Marx aufgewiesenen Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise aufgehoben hat oder auch nur Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung).
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Abschlussbemerkung
zu bändigen vermag – die Krisen werden bloß in andere Bereiche und Regionen verlagert. 2. Weit dramatischer ist der kapitalistische Ausverkauf der Dritten Welt bei gleichzeitigem gigantischem Bevölkerungsanstieg gerade in diesen Ländern. Trotz der von den Industrienationen geleisteten Entwicklungshilfe – teilweise auch gerade durch sie – laufen die Reichtumsströme sogar in anschwellendem Maße von den Ländern der Dritten Welt in die kapitalistischen Industrienationen. Da die Dritt-Welt-Staaten nichts haben als ihre Arbeitskräfte und die natürlichen Rohstoffquellen ihrer Länder, müssen sie, von der Weltwirtschaft abhängig gemacht, um ihres Überlebens willen, sich der Ausbeutung und Ausplünderung durch die kapitalistischen Industrienationen preisgeben. Von diesem Reichtumszustrom profitieren – wenn auch unterschiedlich verteilt – alle Klassen in der Ersten Welt. Denn längst gehört auch die Arbeiterschaft in den kapitalistischen Industrienationen zur »Bourgeoisie der Weltwirtschaft«, und sie baut daher gerne – durch den Konkurrenzdruck des Lohndumpings verstärkt – an den Schutzwällen mit, die hier gegenüber den möglichen Ansturm der verarmten Massen aus den ausgeplünderten Dritt-Welt-Staaten errichtet werden. Hier brauen sich globale menschheitsgeschichtliche Überlebenskämpfe und Verteilungskriege zusammen, die das, was Europa in zwei Weltkriegen erlebt hat, weit in den Schatten stellen könnten. Da diese Konflikte sicherlich nicht mehr einzelstaatlich und wohl kaum auf der Basis von UNO-Verträgen geregelt werden können, wird bereits heute der Ruf nach neuen totalitären, ja sogar faschistischen Lösungen immer lauter. 3. Aber was sind diese sozialen Weltkonflikte schon gegenüber der seit einigen Jahrzehnten möglich gewordenen Selbstvernichtung der Menschheit, für die der englische Historiker und Politikwissenschaftler Edward P. Thompson den Begriff des Exterminismus geprägt hat. 4 Nicht nur mit den bestehenden Vernichtungswaffen kann sich die Menschheit selbst auslöschen, sondern auch der auf der Grundlage des kapitalistischen Wertgesetzes voranschreitende Industrialisierungsprozess selbst betreibt immer rasanter die Zerstörung Siehe Edward P. Thompson, »Der Exterminismus als letztes Stadium der Zivilisation«, in: Das Argument 127 (1981: 326 ff.); vgl. Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation (1972). 4
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Aufgaben einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis
der Natur als unserer Lebensgrundlage. Wir sind drauf und dran, die Biosphäre, d. h. die natürlichen Lebenskreisläufe, durch die giftigen Abfallprodukte der industriellen Produktion, die wir bedenkenlos der Luft, dem Wasser und der Erde übereignen, irreversibel zu zerstören. Wir wissen schon heute, dass wir unseren Kindern und Kindeskindern verschlechterte natürliche Lebensbedingungen hinterlassen und dass – wenn diesem wertgetriebenen Industrialisierungsprozess nicht Einhalt geboten wird – es bereits in geschichtlich absehbarer Zeit zu unumkehrbaren Katastrophen kommen kann. Nur eine radikale Revolutionierung des durch die kapitalistische Wertökonomie vorangetriebenen Industrialisierungsprozesses vermag sich der Selbstvernichtung der Menschheit und der Destruktion der Erde noch entgegenzustellen. So erweist sich die »konkrete Utopie« (Ernst Bloch), dass es den Menschen durch eine radikale Umwälzung der Verhältnisse möglich ist, zu einer menschlichen und menschheitlichen Gesellschaft zu gelangen, als der einzige Hoffnungshorizont für den Fortbestand der Menschheit. 5 Wo, wenn nicht in der Marxschen kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis und ihrer Fortschreibung auf unsere heutigen Probleme hin durch den »westlichen Marxismus« (Karl Korsch), gibt es Anknüpfungspunkte für eine politische Philosophie, die diese weltweiten, menschheitsgeschichtlichen Krisenprobleme kritisch analysieren könnte, um dadurch den politischen Widerstand gegen sie zu mobilisieren. Zielperspektive des kritischen Denkens von Marx ist – wie bereits von Platon antizipiert – die konkrete Utopie einer menschlichen Gestaltung von Gesellschaft und Geschichte. Sie versteht sich aus dem Projekt des Menschseins (Henri Lefebvre), das grundsätzlich auf den möglichen Erfüllungshorizont von Menschlichkeit bezogen ist. Auf diesen hin versucht sie, die handelnden Subjekte über ihre menschheitliche Lage und die diesem Projekt entgegenstehenden Mächte aufzuklären, um sie dadurch zu geschichtlich-verantwortlichen Subjekten zu befreien. Ob dieses Projekt gelingen wird, dafür Zur Problematik der wertökonomischen Naturzerstörung siehe: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung) sowie Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die Kritik der politischen Ökonomie (1984/2011).
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Abschlussbemerkung
gibt es keine Gewissheit, ja wir können sogar sagen, dass es heute ungewisser denn je scheint, dass die Menschen mit den selbst erzeugten menschheitsbedrohenden Problemen menschlich fertig zu werden vermögen. Aber da dieses Projekt menschlichen Menschseins menschenmöglich ist und da von ihm sogar der Fortbestand der Menschheit abhängt, muss der Einsatz dafür der kategorische Imperativ einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis bleiben.
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus« 1
Vorbemerkung Es gibt für die Marxsche Theorie und ihre Fortführung keine einheitliche inhaltliche Umschreibung. Die auf Friedrich Engels zurückgehende Bezeichnung »Historischer Materialismus« und die daran anknüpfende Benennung »Dialektischer Materialismus« von Georgi W. Plechanow stehen allzusehr in der Gefahr, mit dem von Marx selber immer bekämpften vulgären Materialismus in einen Topf geworfen zu werden. Und sie wurden in diesem Sinne auch innerhalb des dogmatischen Marxismus, insbesondere durch Joseph W. Stalin vulgarisiert und dogmatisiert, so dass diese Bezeichnungen so sehr belastet sind, dass sie außerhalb der ehemaligen Einflusssphäre des Sowjetmarxismus fast nur noch pejorativ gebracht werden können. Die beiden in Westeuropa geprägten Umschreibungen: »Philosophie der Praxis« und »kritische Theorie« heben jeweils nur ein Moment der von Marx inaugurierten kritischen Gesellschaftsanalyse in revolutionärer Absicht treffend hervor. Der ältere Begriff »Philosophie der Praxis« wurde zuerst Ende des vorigen Jahrhunderts von Antonio Labriola zur Kennzeichnung des praxisverändernden Anliegens der Marxschen Theorie geprägt. Ihn nahm dann Antonio Gramsci in den 30er Jahren in seinen Gefängnis Heften (1929–36) auf – wobei es ihm mit dieser UmschreiDer hier um den auf Karl Marx bezogenen ersten Teil gekürzte Handbuchartikel »Kritische Philosophie der gesellschaftlichen Praxis. Die Marxsche Theorie und ihre Weiterentwicklung bis in die Gegenwart« erschien zuerst in: Herbert Stachowiak (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. III: Allgemeine philosophische Pragmatik, Hamburg 1989: 144 ff. Vgl. auch »Karl Marx und die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis am Vorabend des 21. Jahrhunderts«, in: Heinz Eidam/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis. Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Würzburg 1995.
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Vorbemerkung
bung zugleich auch um eine Tarnung gegenüber der Gefängniszensur der Faschisten ging. Aber was Antonio Gramsci auf vielen kleinen Notizblättern entwarf, war die weite Perspektive einer politisch-revolutionären, praxisverändernden Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie, die sich nicht nur kritisch abhebt von der bisherigen bürgerlichen Philosophie, sondern ebenso entschieden auch von der vulgärmaterialistischen Weltanschauung des Sowjetmarxismus. Fast zur gleichen Zeit nahmen Max Horkheimer und die Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung zunächst in Frankfurt, dann in Paris und schließlich in New York den Begriff »kritische Theorie« zur Kennzeichnung der Marxschen Theorie als kritischer Gesellschaftsanalyse auf, die sie auf wissenschaftlich erweiterter Basis fortzuführen beabsichtigten. Allerdings distanzierten sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – in den 50er Jahren nach Frankfurt zurückgekehrt – unter Beibehaltung des Etiketts einer »Kritischen Theorie« so entschieden von der Marxschen Theorie, dass man kaum mehr von einer Fortsetzung des ursprünglichen Anliegens sprechen kann. Vollends tritt dieser Bruch mit dem Marxschen Theorieansatz bei Jürgen Habermas zutage, der sich erst in den 60er Jahren der »Frankfurter Schule« anschloss, deren Schulbildung heute als »kritische Theorie« innerhalb der Sozialwissenschaften großen Einfluss genießt. Aber unabhängig davon, dass somit der Begriff »kritische Theorie« zur Kennzeichnung des Marxschen Anliegens nicht mehr zur Verfügung steht, eignet sich als inhaltliche Umschreibung der Marxschen Theorie am besten die Bezeichnung: Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis, da dadurch beide Momente, die kritische Gesellschaftsanalyse und die revolutionäre Geschichtsperspektive, in ihrer dialektischen Verschränkung angesprochen werden. Diese Kennzeichnung kann heute wie keine andere zur Sammlung aller nicht-dogmatischen philosophischen Ansätze in der Nachfolge von Karl Marx dienen. Sie umfasst nicht nur die an die früheren Traditionslinien anknüpfenden marxistischen Philosophen in Westeuropa – wie Georg Lukács, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Henri Lefebvre und Jean Paul Sartre –, sondern bezieht auch all jene Denker aus osteuropäischen Ländern ein, die sich nicht in den verordneten Dogmatismus einzwängen ließen – so die jugoslawischen Philosophen der »Praxis«-Gruppe, wie Gajo Petrović, Mahailo Marković u. a., den tschechischen Philosophen Karel Kosík, die emigrierte ungarische Gruppe um Agnes Heller, György Márkus u. a. 285 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
Im Folgenden sollen auf das Theorie-Praxis-Problem fokussiert die systematischen Hauptlinien der kritischen Philosophie der gesellschaftlichen Praxis in ihrer Fortentwicklung durch ein Jahrhundert bis zur Gegenwart nachgezeichnet und damit in ihren zukunftsweisenden Problemstellungen ins 21. Jahrhundert hinein aufgezeigt werden.
1.
Die Verfallsgeschichte der Marxschen Theorie zum Marxismus
Immer wieder wurden die Lehren großer Denker von ihren Anhängern und ihren Kritikern verformt und umgedeutet, aber ganz besonders hat dies die Marxsche Theorie in den letzten hundertfünfzig Jahre getroffen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Marx nicht von einem Katheder aus und durch eine Reihe von in sich abgerundeten Buchveröffentlichungen eine geschlossene Lehre verbreitete, sondern aus dem Londoner Exil, unterstützt durch Engels, vor allem durch seine internationale Korrespondenz auf die Heranbildung international vernetzter nationaler Arbeiterparteien wirkte, von seinen Schriften waren lediglich das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) und das Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) weiteren Kreisen der Arbeiterbewegung bekannt. Der erste Band des Kapital (1867) war für philosophisch ungeschulte Leser viel zu komplex, so dass ihn nur wenige je ganz gelesen und noch viel weniger verstanden haben. Um die Kluft zwischen der Marxschen Theorie und der sich organisierenden Arbeiterbewegung zu überbrücken, verfasste Friedrich Engels popularisierende Darlegungen zur materialistischen Geschichtsauffassung. Seine Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882) wurde neben dem Kommunistischen Manifest (1848) zur meist verbreiteten Schrift der »Väter des Marxismus«. Aber gerade diese popularisierenden Darstellungen vermischten für die Mehrheit der Arbeiter die theoretischen Unterschiede zwischen der Marxschen Theorie und den Ansätzen der übrigen Theoretiker des Sozialismus; ja es zeichnet sich sogar Ende des 19. Jahrhunderts die groteske Situation ab, dass gerade diejenigen sozialistischen Intellektuellen, die sich betont auf Marx beriefen – in Unkenntnis der philosophischen Fundamente der Marxschen Theorie – ein extrem ökonomistisches Geschichts- und positivistisches Wissenschaftsverständnis vertraten, während die ethisch-humanisti286 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Die Verfallsgeschichte der Marxschen Theorie zum Marxismus
schen Ziele des Sozialismus und Kommunismus, um die es Marx Zeit seines Lebens ging, gerade durch Anhänger nicht-marxistischer Fraktionen der Arbeiterbewegung propagiert wurden. Bereits kurz nach Marx’ Tod versuchte Friedrich Engels dieser Tendenz mit seiner Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886) entgegenzuwirken, indem er nochmals die philosophischen Wurzeln ihrer materialistischen Geschichtsauffassung herausarbeitete. Aber schon Karl Kautsky (1854– 1938) und Eduard Bernstein (1850–1932), die selbst noch in unmittelbarstem Kontakt mit Marx und Engels gearbeitet hatten und nach Engels Tod als die besten Kenner von deren Schriften nicht nur die Nachlassverwalter, sondern zugleich die theoretischen Führer des »wissenschaftlichen Sozialismus« wurden, hatten so wenig Ahnung von der eigenständig philosophischen Grundlage der Marxschen Theorie, dass sie meinten – sich dabei gegenseitig im berühmten »Revisionismusstreit« bekämpfend –, den kritisch-ökonomischen Schriften von Marx jeweils ihre eigene Weltanschauung unterlegen zu müssen. Während Kautsky die Marxsche Theorie zu einem wissenschaftlichen Materialismus des objektiven Geschichtsprozesses festklopfte, gleichwohl aber an der Revolutionsthese festhielt, glaubte Bernstein die Revolutionstheorie fallenlassen zu können und der Marxschen Theorie eine pragmatisch-reformerische Zielperspektive hinzufügen zu müssen. Noch drastischer klafft die Rezeptionsdifferenz zwischen dem russischen Gelehrten und Revolutionär Georgi W. Plechanow (1856–1918), der die Marxsche Position stärker in die Entwicklungslinien des Materialismus des 18. Jahrhunderts einbettete, und den französischen Sozialisten wie Paul Lafargue (1842–1911), dem Schwiegersohn von Marx, und Georges Sorel (1847–1922), die weit mehr spontaneistischen und syndikalistischen Revolutionshoffnungen anhingen. Aber alle diese ersten Rezeptionen sind noch nichts gegen die Erstarrungen in den dogmatischen Marxismen einerseits und den Reformismus der Sozialdemokratie anderseits in den nachfolgenden Jahrzehnten bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Wir können hier keine umfassende Geschichte des Marxismus entwickeln, vor allem müssen wir hier ganz darauf verzichten, die großen Linien der politischen Marx-Nachfolge – W. I. Lenin, Leo Trotzki, Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek u. v. a. – darzulegen 2, 2 Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, 2 Bde. (1961/1971); Iring Fetscher (Hg.), Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, 3 Bde. (1976 f.).
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
vielmehr wollen wir uns darauf beschränken, in groben Zügen die Versuche der Wiedergewinnung des philosophischen Kerns der Marxschen Theorie nachzuzeichnen, die zugleich Ansätze der Fortentwicklung einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis darstellen. Auch hierbei können wir nicht auf alle Denker und Strömungen eingehen, sondern wollen uns im Wesentlichen auf drei Hauptlinien beschränken: die Philosophie der revolutionären Praxis (Labriola, Gramsci, Sartre, Merleau-Ponty), die kritische Gesellschaftsanalyse (Adler, Horkheimer, Adorno, Marcuse) und deren Vermittlung in einer dialektischen Praxisphilosophie (Korsch, Lukács, Bloch, Lefebvre).
2.
Philosophie der Praxis als revolutionäre Geschichtstheorie
2.1 Antonio Labriola und Antonio Gramsci In dem Versuch, den »kritischen Kommunismus« aus seinem »philosophischen Kern« von Marx her wieder zu erneuern und gegen die sich damals schon abzeichnenden dogmatischen und revisionistischen Umdeutungstendenzen abzugrenzen, prägte Antonio Labriola (1843– 1904) erstmals Mitte der 90er Jahre den Begriff »Philosophie der Praxis« für die revolutionäre Geschichtstheorie von Marx. Drei Jahrzehnte später nahm der von den Faschisten von 1926 bis 1936 eingekerkerte Führer der Kommunistischen Partei Italiens Antonio Gramsci (1891–1937) diese Umschreibung der Marxschen Theorie in seinen Gefängnisnotizen bewusst wieder auf, und zwar nicht nur aus Gründen der Tarnung gegenüber der Gefängniszensur, sondern um damit in ausdrücklicher Berufung auf Labriola den revolutionären Charakter der von Marx begründeten Geschichtsphilosophie zu unterstreichen. Bereits in seiner ersten marxistischen Schrift Zum Gedächtnis des Kommunistischen Manifestes (1895) unterstreicht Labriola das sittlich-revolutionäre Grundanliegen der Marxschen Geschichtsauffassung: »Der Nerv, das Wesen, der entscheidende Charakter dieses Werkes sind ganz in der neuen Geschichtsauffassung enthalten. […] Dank dieser Auffassung hörte der Kommunismus auf, eine Hoffnung, eine Sehnsucht […] eine Vermutung […] zu sein und fand zum ersten Male seinen angemessenen Ausdruck in dem Bewußt288 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Philosophie der Praxis als revolutionäre Geschichtstheorie
sein seiner Notwendigkeit, d. h. in dem Bewußtsein, daß er das Ende oder die Lösung der gegenwärtigen Klassenkämpfe sei. […] Der kritische Kommunismus entsteht erst in dem Augenblick, wo die proletarische Bewegung nicht nur ein Ergebnis der sozialen Verhältnisse ist, sondern wo sie schon Kraft genug hat, zu erkennen, daß die Verhältnisse sich ändern lassen« und dass »die Mittel dieser Änderung« allein in ihrer revolutionären Praxis selbst liegen. (Labriola 1895/ 1974: 80, 89) 3 Das Entscheidende der Marxschen Geschichtsauffassung ist, dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihren Widersprüchen und Klassengegensätzen nicht als etwas unabdingbar Gegebenes hinnimmt, sondern als etwas durch gesellschaftliche Praxis – wenn auch bewusstlos – Hervorgebrachtes erkennt, was prinzipiell durch eine bewusste gesellschaftliche Praxis grundlegend verändert werden kann. Dabei kann die Umwälzung der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse nicht vom Kapital selbst oder von der aus ihnen Nutzen ziehenden Bourgeoisie erwartet werden, sondern kann nur die bewusste und gemeinsame Praxis der von diesen Verhältnissen unterdrückten und ausgebeuteten Proletarier sein. Diese neue revolutionäre Geschichtsauffassung gilt es nicht nur gegen die bürgerliche Geschichtsbetrachtung abzugrenzen, sondern auch vor Missdeutungen aus den eigenen Reihen zu bewahren: Zum einen – wie Labriola in seiner theoretischen Hauptschrift Über den historischen Materialismus (1896) ausführt – gegen den Rückfall in einen vulgären Materialismus mit seinem mechanistischen Verständnis von ökonomischer Basis und diesen widerspiegelnden politischen Überbau sowie seiner schematisierenden Objektivierung des Geschichtsprozesses (Labriola 1896/1974: 155, 172), wie er sich damals schon in den Arbeiten von Georgi W. Plechanow abzeichnete, die großen Einfluss auf die russischen Revolutionäre erlangten. Zum andern – wie Labriola in einer dritten grundlegenden Schrift Sozialismus und Philosophie. Briefe an G. Sorel (1897) darlegt – gegenüber dem vor allem in Frankreich aufkommenden »Neo-Utopismus« mit seinem voluntaristischen und syndikalistischen Revolutionspathos. Während der Vulgärmaterialismus durch sein mechanisti-
3 Vgl. Ljudmila Aleksandrovna Nikitic, Antonio Labriola. Biographie eines italienischen Revolutionärs (1983); Franco Sbarberi, Der historische Materialismus Antonio Labriolas (1988).
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
sches und deterministisches Geschichtsverständnis im Grunde leugnet, dass es die Menschen sind, die die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringen und daher auch verändern können, glauben die »NeoUtopisten« – in Unterschätzung der ökonomischen Zwänge und Entwicklungsgesetze der bestehenden Verhältnisse –, dass es allein auf den Willensakt der mit ihrer Lage unzufriedenen Arbeiter ankomme, um mit der Revolution und der Errichtung des Sozialismus zu beginnen. Demgegenüber betont Antonio Labriola, dass nur dort die Marxsche Theorie fortentwickelt werden könne, wo sie aus ihrem philosophischen Kern heraus als kritische Aufklärung der Proletarier über den grundsätzlich unterdrückenden Charakter der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die allein ihnen zufallende Möglichkeit der Selbstbefreiung verstanden wird: »Und damit sind wir wieder bei der Philosophie der Praxis, dem Kernpunkt des historischen Materialismus […]: in der Entwicklung der Praxis liegt […] die geschichtliche Entwicklung des Menschen […], denn die Geschichte ist […] die Geschichte der Arbeit […] [in ihrer] unbedingt gesellschaftlichen Form. […] So wie nun […] die Philosophie der Praxis durch die Erfassung des geschichtlichen und gesellschaftlichen Menschen in seiner Ganzheit jede Form von Idealismus aufhebt, […] genauso bedeutet [sie] auch das Ende des naturalistischen Materialismus im herkömmlichen Sinn.« (Labriola 1897/1974: 302, 318 f.) Nur als Philosophie der Praxis wird die Marxsche Theorie die theoretische Grundlage einer revolutionären Praxis darstellen können, die zu einem »Sozialismus, [der] die Frucht der vollendeten Zivilisation« ist, zu führen vermag. (Labriola 1897/1974: 404) Auch Antonio Gramsci setzt sich ganz entschieden vom mechanistisch-ökonomistischen Marx-Verständnis ab, wie dieses damals in Nikolai Bucharins Theorie des historischen Materialismus (1921) vorlag, dem ideologischen Standardwerk des Sowjetmarxismus, das später durch Stalins Über dialektischen und historischen Materialismus (1938), dem Gipfel vulgärmaterialistischer Dogmatik, noch übertrumpft wurde. Bucharins »gemeinverständliches Lehrbuch« ist – wie Gramsci herausarbeitet – zu einer »Philosophie der Nichtphilosophen geworden« zu einem »evolutionistischen Positivismus«, der »versucht, historische und politische Tatsachen […] nach dem Modell der Naturwissenschaften […] zu beschreiben und zu klassifizieren«. (Gramsci 1967: 211). Dadurch wird aber die Marxsche Theorie auf »eine Weltanschauung, eine mechanische Formelsammlung redu290 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Philosophie der Praxis als revolutionäre Geschichtstheorie
ziert« (Gramsci 1967: 212), die gerade die bewusst emanzipative Praxis der unterdrückten Massen verhindert. 4 Es gibt aber noch eine zweite nicht minder folgenreiche Umformung der Marxschen Theorie, nämlich ihre stillschweigende Vereinnahmung durch »idealistische Strömungen« der fortgeschrittenen bürgerlichen Philosophie. Gramsci denkt hier vor allem an Benedetto Croce, den abtrünnigen früheren Mitarbeiter Labriolas, der inzwischen als liberaler Hegelianer zum einflussreichsten Philosophen Italiens geworden war; nennt aber auch Giovanni Gentile, Georges Sorel, Henri Bergson und den Pragmatismus. Die Gefährlichkeit dieser bürgerlichen Philosophie – die selbst als praktische Geschichtsphilosophie auftritt – besteht darin, dass sie die politisch-ökonomischen Klassenkonflikte herunterzuspielen versucht und von der »ethischpolitischen« Integration der Individuen in den Staat als gemeinsamer Aufgabe spricht, wodurch die hegemoniale Bevormundung der »subalternen Klassen« gefestigt wird. (Gramsci 1967: 280) Die Philosophie der Praxis ist dagegen – wie Gramsci betont – unabdingbar eine revolutionäre Geschichtstheorie, der es darum geht, die wirklichen »inneren, die Gesellschaft zerfleischenden Widersprüche« (Gramsci 1967: 197) und Klassengegensätze aufzudecken, um so den »subalternen Klassen« ihre wahre Lage sichtbar zu machen, um sie dadurch zur »historischen Subjektivität« ihrer revolutionären geschichtlichen Aufgabe zu befähigen. (Gramsci 1967: 257) Indem Gramsci die Philosophie der Praxis auf die konkrete Strategie der Emanzipationsbewegung hin politisch zuspitzt, geht er einem entscheidenden Schritt über Labriola hinaus, und hierbei bezieht er sich ausdrücklich auch auf Wladimir I. Lenin als politischen Philosophen der Revolution. Allerdings – so fährt Gramsci fort – verlangen die völlig anderen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Westeuropa eine völlig andere revolutionäre Strategie als sie von Lenin und Trotzki für Russland entwickelt worden war. Es reicht also nicht aus, den politischen Machtapparat des Staates (Regierung, Militär, Polizei) zu erobern, da hier in Westeuropa die bürgerliche Gesellschaft mit ihren etablierten Institutionen (Schule und Hochschule, Parteien und Vereinigungen, Verbänden und Gewerkschaften etc.) bis in das alltägliche kulturelle Leben hinein ihre Hegemonie über das 4 Vgl. Christian Riechers, Antonio Gramsci. Marxismus in Italien (1970); Wolfgang Fritz Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci (1996); Armin Bernhard, Antonio Gramscis Politische Pädagogik (2005).
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
Bewusstsein auch der subalternen Klassen ausübt. Daher kann – wie Gramsci das Problem in militärischen Bildern umschreibt – die revolutionäre Strategie nicht in einem »Bewegungskrieg« bestehen, der auf Machteroberung aus ist, sondern sie muss sich als langwieriger »Stellungskrieg« durchsetzen, bei dem es um die Eroberung des Bewusstseins der Massen geht. (Gramsci 1967: 356) Das bedeutet aber, dass die Philosophie der Praxis über die kritische Analyse der ökonomischen Produktionsverhältnisse (Marx) und die politischen Kräfteverhältnisse (Lenin) hinaus auch noch die ideologischen Verhältnisse kultureller Hegemonie berücksichtigen und in ihre revolutionäre Strategie mit einbeziehen muss. (Gramsci 1967: 252) Aus diesem anderen Verständnis der proletarischen Revolution ergibt sich auch ein grundsätzlich anderes Partei-Konzept als das von der Kommunistischen Internationale propagierte und ebenso eine andere Perspektive der Aufgaben der Intellektuellen innerhalb der emanzipativen Bewegung des Proletariats: Ziel der Partei und der Intellektuellen muss es immer sein, den unterdrückten und beherrschten Individuen der »subalternen Klassen« dazu zu verhelfen, politisch-praktisch zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte zu werden. Von daher ist es ganz selbstverständlich, dass sich für Gramsci jegliche Form von »bürokratischem Zentralismus« verbietet. Die politisch-pädagogische Arbeit von Intellektuellen hat vielmehr darin zu bestehen, die Abhängigen und Beherrschten zu sich selber zu emanzipieren, d. h. sie zu befähigen, selber ihre Lage im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu erkennen, um ihnen dadurch zu ermöglichen, über ihre politische Zukunft mitzuentscheiden; nur so können die Unterdrückten zu Subjekten ihrer Geschichte und zu Gestaltern einer neuen menschlicheren Kultur werden: »Die Philosophie der Praxis muß den Kampf für eine neue Kultur, also einen neuen Humanismus« führen (Gramsci 1967: 418), aber nicht dadurch, dass sie den »subalternen Klassen« die Perspektive einer neuen Kultur verordnet, sondern dadurch, dass sie mit ihnen gemeinsam beginnt, für die solidarische Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens praktisch einzustehen. 5
Siehe hierzu auch Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten (1970). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Theorie und revolutionäre Praxis (1988: 266 ff.).
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Philosophie der Praxis als revolutionäre Geschichtstheorie
2.2 Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty Nachdem wir in groben Konturen die revolutionäre Perspektive der Philosophie der Praxis bei Labriola und Gramsci nachgezeichnet haben, gilt es nun, umrisshaft noch ihre Grenzen zu skizzieren. Nichts eignet sich dazu besser als der kontroverse Disput der beiden Freunde Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty aus den 40er und 50er Jahren, bei dem Sartre die Philosophie der Praxis – in die Tradition Georges Sorels einschwenkend – zur Philosophie der Revolution radikalisiert und Merleau-Ponty gerade diese radikalisierte Form von einer kritischen Philosophie der Geschichte her in ihre Schranken ruft – und damit hinüber verweist auf die beiden noch zu behandelnden Traditionslinien. In diesem Disput werden zwar systematische Eckpunkte gesetzt, aber mit ihm endet keineswegs die Traditionslinie der Philosophie der Praxis. Diese entwickelt sich vielmehr mit unterschiedlichen Akzentsetzungen auch in den nächsten Jahrzehnten weiter: in Frankreich (Claude Lefort, André Gorz), in Italien (Lelio Basso, Rossana Rossanda), in Jugoslawien (Gajo Petrović, Mihailo Marković) sowie in verschiedenen kritischen Ansätzen Osteuropas: Adam Schaff (Polen), Karel Kosík (Tschechoslowakei), Agnes Heller, György Márkus (Ungarn) 6, um nur einige der profiliertesten Vertreter zu nennen. Der Disput beginnt bereits Mitte der 40er Jahre mit Sartres Materialismus und Revolution (1946) und Merleau-Pontys Humanismus und Terror (1946/47) und erfährt seinen Höhepunkt in Merleau-Pontys Buch Abenteuer der Dialektik (1955) sowie Sartres Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik (1957) als Einführung zu seinem theoretischen Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft (1960), auf das Merleau-Ponty nicht mehr antworten konnte, da er bereits 1961 verstarb. In Materialismus und Revolution geht es Sartre darum, das Anliegen der Marxschen Theorie als Philosophie der Revolution zu retten und von der Weltanschauung des Materialismus, wie sie im Sowjetmarxismus und von den Kommunistischen Parteien Westeuropas
Siehe Georg Lukács/Agnes Heller/Ferenc Fehér u. a., Individuum und Praxis. Positionen der ›Budapester Schule‹ (1975). Im Gegensatz zu György Márkus hat sich Agnes Heller später gänzlich von der Traditionslinie der Philosophie der Praxis verabschiedet: Agnes Heller, Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches (2014).
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
vertreten wird, zu befreien. 7 Der Materialismus ist eine positivistische Welterklärung, die im letzten die menschliche Geschichte wie ein objektives Prozessgeschehen naturwissenschaftlich vorausbestimmen will, damit aber die Freiheit menschlicher Praxis und somit letztlich auch die Revolution als aus bestehenden Zwängen befreiende Tat des Proletariats negiert. Was Marx begonnen hat, ist jedoch gerade nicht ein Materialismus, sondern eine Philosophie der Revolution, und die gründet wesentlich auf der Freiheit des »Überschreitens« der jeweils bestehenden Lage und kann aus dieser gerade nicht abgeleitet werden. Es geht hier nicht mehr um eine individualistische Freiheitstheorie, wie sie Sartre vorher in seiner rein existentialistischen Phase vertreten hat, sondern um eine Theorie der revolutionären Befreiung der unterdrückten Klasse des Proletariats. »Die revolutionäre Philosophie muß vor allem die Möglichkeit dieser Bewegung des Überschreitens erklären […], das ist genau was man Freiheit nennt. […] Will der Revolutionär handeln, so darf er die geschichtlichen Begebenheiten nicht als Ergebnis von gesetzlosen Zufälligkeiten betrachten […]. Was der Revolutionär beansprucht, ist, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, sein ihm eigenes Gesetz zu erfinden. Dies ist die Grundlage seines Humanismus und seines Sozialismus.« (Sartre 1946/1975: 101, 105),) Nun verteidigt Merleau-Ponty keineswegs den Materialismus als Weltanschauung, und er stellt auch überhaupt nicht die menschliche Freiheit als Grundlage jeder revolutionären Perspektive in Frage, um die er vielmehr ebenso wie Sartre ringt, sondern er wirft Sartre vor, ins andere Extrem eines totalen Voluntarismus und Freiheitsaktionismus zu verfallen, da sich bei ihm die »Geschichte auf Handlungen von Personen« reduziert. »Während die kommunistischen Philosophen, beispielsweise Lukács […] am Prinzip einer historischen Dialektik festhalten […], begründet Sartre dagegen die kommunistische Aktion gerade dadurch, daß er der Geschichte jede Produktivität abspricht, indem er aus ihr, insoweit ihr Erkennbarkeit eignet, das unmittelbare Resultat unserer Willensakte macht und den Rest eine schlechte undurchdringliche Größe sein läßt.« (MerleauPonty 1955/1968: 117) Geschichte wird nicht aus den Handlungen der Individuen, auch nicht der Klassen konstituiert, sondern umge7 Vgl. Mohamed Turki, Freiheit und Befreiung. Zur Dialektik philosophischer Praxis bei Jean-Paul Sartre (1986); Martin Suhr, Sartre zur Einführung (2012).
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Philosophie der Praxis als revolutionäre Geschichtstheorie
kehrt, das Handeln der Menschen ist in der Geschichte situiert, dieses gilt es als Dialektik der Geschichte zu begreifen: »Wenn das Subjekt sich in der Geschichte wiedererkennt und in sich die Geschichte, herrscht es nicht über das Ganze […], aber es ist zumindest mit einer Aufgabe der Totalisierung befaßt.« (Merleau-Ponty 1955/1968: 40) 8 Hierauf antwortet Sartre in Marxismus und Existentialismus (1957) fast trotzig und in deutlicher Anlehnung an die frühen Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx: »Es sind aber dennoch die Menschen und nicht die vorgefundenen Verhältnisse, die die Geschichte machen, denn sonst wären die Menschen bloße Vehikel unmenschlicher Gewalten, die durch sie die gesellschaftliche Welt regierten. […] Der Mensch macht also die Geschichte: das besagt, er objektiviert und entfremdet sich darin; in diesem Sinne erscheint die Geschichte, die das reine Werk der Gesamttätigkeit aller Menschen ist, ihnen als fremde Macht, und zwar in dem Maße, in dem sie den Sinn ihrer Untersuchungen im gegenständlichen Gesamtergebnis nicht wiedererkennt. Der Marxismus des 19. Jahrhunderts ist der gigantische Versuch, nicht nur die Geschichte zu machen, sondern sich ihrer praktisch und theoretisch durch Einigung der Arbeiterbewegung und durch Erhellung der Aktion des Proletariats vermittels der Erkenntnis des kapitalistischen Prozesses und der objektiven Realität der Arbeiter zu bemächtigen. Das Proletariat wird damit, daß es Bewußtsein seiner selbst gewinnt, Subjekt der Geschichte, d. h. es kann sich in ihr wiedererkennen.« (Sartre 1957/1964: 72 f.) Aber Sartre wird trotz aller Annäherung der Marxschen Geschichtsdialektik nicht ganz gerecht, zum einen, weil er die Eigengesetzlichkeit verdinglichter gesellschaftlicher Verhältnisse unterschätzt – z. B. die der kapitalistischen Produktionsweise und deren Macht über Denken und Handeln der Individuen bis in die revolutionäre Bewegung hinein – und zum andern, weil er auch jetzt noch nicht das Problem der Geschichte dialektisch denkt, sondern – wie Merleau-Ponty es ihm vorhält – einem »ultra-bolschewistischen« Mythos der Revolution absoluter Befreiung, die zugleich das Ende der Geschichte wäre, anhängt. »An die proletarische Revolution glauben, heißt willkürlich behaupten, die Geschichte trage in sich selbst ihr Heilmittel und werde uns damit überraschen.« (Merleau-Ponty 8 Vgl. Wolfgang Faust, Abenteuer der Phänomenologie. Philosophie und Politik bei Maurice Merleau-Ponty (2007); Stephan Günzel, Maurice Merleau-Ponty. Werk und Wirkung. Eine Einführung (2007).
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1955/1968: 267) Es kann aber grundsätzlich keine absolut befreiende Revolution geben, die nicht schon im Versuch sie zu verwirklichen in erneute Unterdrückung von Menschen umschlüge – wie alle bisherigen Revolutionen es uns bewiesen haben. Will man angesichts dieser geschichtsphilosophischen Erkenntnis – auch gegen überzogene Hoffnungen bei Marx selbst – am Marxschen Anliegen revolutionärer Geschichtsphilosophie festhalten, so darf man nicht auf eine einmalige Revolution und Umgestaltung der Welt von Grund auf setzen, sondern muss in »permanenter Revolutionierung« gegen alle unterdrückenden und ausbeutenden Verhältnisse, die sich immer wieder aus dem Handeln der Menschen ergeben werden, anzukämpfen beginnen. So muss die »marxistische Kritik« – wie Merleau-Ponty betont – von einer »nicht-kommunistischen Linken« wieder aufgenommen, völlig neu entwickelt und verallgemeinert werden, und zwar aus dem »Doppelentschluß« heraus, die Geschichte als revolutionär befreienden »Kampf zu begreifen«, zugleich aber jede Hoffnung auf die erlösende Rolle der »Diktatur des Proletariats abzulehnen« (Merleau-Ponty 1955/1968: 280, 273), denn mit ihr würden wir die revolutionäre Perspektive des Humanismus als geschichtliche Aufgabe verraten.
3.
Kritische Theorie als Gesellschaftsanalyse
3.1 Max Adler und Max Horkheimer Der Begriff »kritische Theorie« zur Kennzeichnung des Marxschen Anliegens wurde zwar erst 1937 von Max Horkheimer geprägt, aber die 30 Jahre vorher einsetzenden theoretischen Arbeiten von Max Adler (1873–1937) in Wien weisen bereits in diese Richtung. Für Max Adler ist die Marxsche Theorie ausdrücklich keine Philosophie oder Weltanschauung, sondern allein »Gesellschaftswissenschaft« oder »Theorie von der Gesellschaft«, der es – gemäß der 8. These ad Feuerbach von Marx – um das »Begreifen der gesellschaftlichen Praxis« geht. 9 Diese neue wissenschaftliche Theorie von der Gesellschaft kann auch als »Kritik« verstanden werden, aber »nicht etwa im Sinne des Kritisierens einzelner Lehren der Nationalökonomie […], sondern in dem tieferen Sinn, wie [sie] auch bei Kant […] vorkommt. 9
Max Adler, Soziologie des Marxismus, 3 Bde. (1930/1964).
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Kritische Theorie als Gesellschaftsanalyse
D. h. also, die Kritik, die hier geübt wird, bezieht sich nicht bloß als Teilinhalte der Nationalökonomie, sondern auf ihren ganzen Umfang und Bestand« der Gesellschaft selbst. (Adler 1930/1964, I: 27) 10 Aber auch mit der aktiven proletarischen Politik darf die Marxsche Theorie nicht einfach gleichgesetzt werden. »Der Marxismus beginnt also keinesfalls mit der Politik, sondern mit der Theorie. Aber diese führt zu einer bestimmten Politik, zur Politik des revolutionären Proletariats, die nicht anderes als ihre Konsequenz ist.« (Adler 1930/1964, I: 24) Das Wesentliche der Marxschen Theorie ist für Adler also, dass sie »Wissenschaft von den sozialen Gesetzmäßigkeiten« ist, denn gerade dadurch, dass sie die Gesetze »der gesellschaftlichen Entwicklung« herauszuarbeiten vermag, ist sie »die Soziologie« schlechthin (Adler 1930/1964, I: 36, 38 f.). Dabei kommt es Adler darauf an, dass die Wissenschaft des Gesellschaftlichen die Marxsche Neuentdeckung ist, die sich in Inhalt und Methode sowohl von den Naturwissenschaften als auch von der Psychologie als Wissenschaft vom individuellen menschlichen Verhalten abhebt. Allerdings ist auch nicht das Gesellschaftliche oder die Gesellschaft dasjenige, wovon Marx ausgeht, sondern es sind die »vergesellschafteten Menschen« in ihren »notwendigen Verflochtenheiten der Lebensbetätigungen« und in der »Verbundenheit aller dieser menschlichen Tätigkeitssphären« (Adler 1930/1964, I: 181). Gerade dadurch, dass Marx begonnen hat, den Gesamtbereich der gesellschaftlichen Praxis kritisch zu erforschen, wozu die ökonomischen Verhältnisse genauso gehören wie die politischen Auseinandersetzungen als auch die geistigen Dimensionen des kulturellen Lebens, hat er den Grundstein gelegt für die proletarische Befreiungsbewegung; denn die kritisch-wissenschaftliche Analyse der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse macht den Proletariern erst mit letzter Gewissheit deutlich, dass durch jene mit Notwendigkeit die Klassengegensätze erzeugt werden, deren Leidtragende sie sind, und dass es nur eine Möglichkeit und nur »ein Mittel zur Überwindung des Klassenkampfes« gibt: den »proletarisch-revolutionären Klassenkampf selbst und seinen Sieg« (Adler 1964, III: 106). So wird dem Proletariat durch die wissenschaftliche Gesellschaftskritik erkennbar, dass es für den ihm durch die VerhältVgl. Heintel, Peter, System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der Philosophie Max Adlers (1967); Alfred Pfabigan, Max Adler. Eine politische Biographie (1982).
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nisse aufgezwungenen Klassenkampf keine andere Alternative geben kann als den bewusst siegreich zu Ende geführten Klassenkampf selbst, denn erst über seinen Sieg kann es zu einer »Beseitigung der Ursachen der Klassenspaltung überhaupt« kommen (Adler 1964, III: 109). Auf dieses letzte ethisch-humanistische Ziel der Errichtung einer alle Menschen umfassenden »solidarischen Gesellschaft« ist alle »revolutionäre Klassenpolitik« ausgerichtet. Über die Berufung von Carl Grünberg (1861–1940), dem Spiritus Rector der austromarxistischen Schule, zum Gründungsdirektor des Instituts für Sozialforschung 1923 sammelten sich eine Reihe herausragender jungen marxistischen Forscher – u. a. Henryk Grossmann, Friedrich Pollock, Karl August Wittfogel – in Frankfurt am Main. Doch bereits vier Jahre später musste Carl Grünberg nach einem Schlaganfall die Leitung des Instituts für Sozialforschung wieder abgeben. 1931 wurde sodann Max Horkheimer (1895–1973) zum Direktor berufen, von ihm und Herbert Marcuse (1898–1979) stammen die beiden bereits im Exil verfassten grundlegenden Studien, die namengebend und richtungsweisend werden für diese Traditionslinie marxistischer Gesellschaftswissenschaft: Max Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie« (1937) und Herbert Marcuse, »Philosophie und kritische Theorie« (1937). 11 Während das traditionelle Wissenschaftsverständnis zwar nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wohl aber die Wissenschaft selbst als etwas für sich Objektives und zeitlos Gültiges hält, lässt sich sozialwissenschaftlich unschwer zeigen, dass »der Gelehrte und seine Wissenschaft […] in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt [sind], ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen« (Horkheimer 1937/1968, II: 145). Wissenschaft kann daher »nicht als selbständig und unabhängig« angesehen werden, sondern ist ein Teilmoment der gesellschaftlichen Praxis, resultiert aus der »Gesamtarbeit« der gesellschaftlich tätigen Menschen und wirkt bestimmend auf das gesamte »Leben der Gesellschaft« zurück (Horkheimer 1937/1968, II: 146, 149).
Max Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie« in: Zeitschrift für Sozialforschung VI/2 (1937) und Herbert Marcuse, »Philosophie und kritische Theorie«, in: Zeitschrift für Sozialforschung VI/3 (1937). Vgl. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923– 1950 (1973).
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Eine Wissenschaft nun, der es um »die Selbsterkenntnis des Menschen in der Gesellschaft« geht, ja mehr noch, »die vom Interesse an vernünftigen Zuständen« menschlichen Zusammenlebens getragen ist (Horkheimer 1937/1968, II: 147), muss diesen dialektischen Begründungszusammenhang, in den sie selbst mit einbezogen ist, sowohl kritisch an ihrem Gegenstand der gesellschaftlichen Praxis als auch selbstkritisch an sich als der Praxis selbst zugehöriges Begreifen der Praxis aufzuhellen versuchen. 12 In dieser Weise ist die dem Marxschen Denken verpflichtete »kritische Theorie« für Max Horkheimer letztlich doch, ohne dabei aufzuhören, konkrete Wissenschaft und Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit zu sein, in einer praktischen und dialektischen Philosophie fundiert (Horkheimer 1937/1968, II: 193), d. h. an der Selbstaufklärung der Menschen im praktischen Horizont ihres Lebens in der Gesellschaft orientiert. Daran wird aber auch klar, dass der Gegensatz der kritischen Theorie zum traditionellen Verständnis von Theorie »überhaupt nicht so sehr aus einer Verschiedenheit der Gegenstände als der Subjekte [entspringt]. Den Trägern dieses [kritischen] Verhaltens sind die Tatsachen, wie sie aus der Arbeit in der Gesellschaft hervorgehen, nicht im gleichen Maße äußerlich wie dem [traditionellen] Gelehrten« (Horkheimer 1937/ 1968, II: 158), weil sie Momente der Selbsterkenntnis ihrer Lebenspraxis sind. Die so im Anliegen der Selbsterkenntnis der Menschen in der Gesellschaft begründete kritische Theorie entdeckt zum einen die gesellschaftlich tätigen Individuen als die wirklichen Träger allen gesellschaftlichen Lebens, muss aber zum anderen feststellen, wie sehr diese in Abhängigkeit von blinden Mechanismen »gegebener Arbeitsteilung und […] Klassenunterschiede« gerade innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise geraten sind, die es ihnen verwehrt, Subjekte ihrer gesellschaftlichen Praxis zu sein: »Die Menschen gelangen im geschichtlichen Gang zur Erkenntnis ihres Tuns und begreifen damit den Widerspruch in ihrer Existenz.« Gerade aber diese Selbsterkenntnis ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit gehört »als kritisches, vorwärtstreibendes Element mit zu ihrer Entwicklung« (Horkheimer 1937/1968, II: 161, 163). Vgl. Alfred Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie. Elemente der Philosophie Max Horkheimers (1974); Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie (1978); Zvi Rosen, Max Horkheimer (1995). 12
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
Damit zeigt sich, dass die kritische Theorie der Gesellschaft nicht einfach wie die traditionelle Theorie die vorhandene gesellschaftliche Wirklichkeit wissenschaftlich abzubilden versucht, sondern ganz im Gegenteil sich als kritisches Moment einer die blinden und unheilvollen Mechanismen aufzuhebenden Praxis versteht, denn »das alte Prinzip [blinder gesellschaftlicher Entwicklung] treibt die Menschheit in Katastrophen hinein« (Horkheimer 1937/1968, II: 197), dem nur bewusste gesellschaftliche Praxis entgegenzuwirken vermag. Wenn die kritische Theorie aber bestrebt ist, den negativen Unheilszusammenhang der gesellschaftlichen Gegenwart wissenschaftlich aufzuklären, dann müssen bereits alle ihre Begriffe kritische sein: »Die Marxschen Kategorien Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit […] sind Momente eines begrifflichen Ganzen, dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen ist.« (Horkheimer 1937/1968, II: 167) Es kann keine Theorie der Gesellschaft geben – auch wenn sie dies vor sich selbst zu verheimlichen sucht –, »die nicht politische Interessen mit einschlösse« (Horkheimer 1937/1968, II: 171). Die »kritische Gesellschaftstheorie« steht ausdrücklich offen dafür ein – wie dies Marx schon betont hatte –, dass »jeder ihrer Teile […] die Kritik und den Kampf gegen das Bestehende« voraussetzt, dass all ihre wissenschaftliche Arbeit dem »Streben nach einem Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung« verpflichtet ist (Horkheimer 1937/1968, II: 178, 189), gerade in dieser Parteilichkeit für eine »Gesellschaft ohne Unterdrückung« bewahrt sie ihre dialektische Begründung. Wiewohl Max Horkheimer in der »kritischen Theorie« die Grundmotive des Marxschen Denkens in seinem dialektischen Kern treffend herausarbeitet, so hebt er sich doch in einem Punkt entschieden von Marx und den beiden anderen hier skizzierten Traditionslinien ab: Für Horkheimer ist erklärtermaßen nicht mehr das Proletariat das alleinige Subjekt der geschichtlich anstehenden Emanzipation, sondern alle tätigen und einsichtigen Menschen. »Die kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand.« (Horkheimer 1937/1968, II: 192) Das Proletariat ist zwar die von der kapitalistischen Produktionsweise in besonderer Weise ausgebeutete Klasse, aber das »bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis« als Grundvoraussetzung für ihre ge300 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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schichtliche Mission. (Horkheimer 1937/1968, II: 162) Ja, es kann gar kein Zweifel bestehen, dass die kritische Theorie in ihrem Bemühen, das dialektische und praxisphilosophische Erbe des Marxschen Denkens zu bewahren, sich »im Gegensatz zu Ansichten befindet, die beim Proletariat gerade vorherrschen« (Horkheimer 1937/1968, II: 170), womit natürlich damals 1937 in erster Linie der verordnete Stalinismus gemeint war. Da es so für Max Horkheimer und die meisten seiner Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in den Emigrationsjahren keine Klasse gibt, der allein aus ihrer gesellschaftlichen Stellung heraus die Rolle der »menschlichen Emanzipation« (Marx) zufallen könnte, kommt der die Menschen zu einem emanzipativen Bewusstsein bringenden Theorie eine Promotorrolle zu, ohne dass damit jedoch die revolutionäre Praxis hätte vorweggenommen werden können: »Die Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die Entwicklung gegenwärtig hemmen, ist in der Tat das nächste historische Ziel. Aufhebung ist jedoch ein dialektischer Begriff. […] Solange das Denken nicht endgültig gesiegt hat, kann es sich nie im Schatten einer Macht geborgen fühlen. Es erfordert Unabhängigkeit. [… Aber] die Theorie verschafft ihren Trägern nicht das Heil. […] Die Erfüllung der Möglichkeit hängt von geschichtlichen Kämpfen ab.« (Horkheimer 1937/1968, II: 196, 199)
3.2 Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse Durch das Institut für Sozialforschung, das junge, dem Marxschen Denken nahestehende Wissenschaftler zu Forschungsarbeiten heranziehen konnte, wurde die kritische Theorie wohl die einflussreichste Richtung im westlichen Marxismus. Zum Mitarbeiterkreis oder ihm nahestehend gehörten u. a. Wissenschaftler wie Franz Borkenau, Leo Löwenthal, Erich Fromm, Walter Benjamin, Alfred Sohn-Rethel. In der Emigration des Instituts in den USA wandelte sich jedoch die Stoßrichtung der kritischen Theorie, einmal aufgrund der weltgeschichtlichen Lage in den 40er Jahren, die jegliche Hoffnung auf eine revolutionäre Befreiung zunichtemachte, zum andern aufgrund des Legitimationsdruckes ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit im fortgeschrittensten kapitalistischen Land der Welt. Wir können hier nicht auf die Breite der Forschungsarbeiten, die
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aus dem Institut für Sozialforschung hervorgingen, eingehen 13 und auch nicht annähernd angemessen das Werk der beiden bedeutendsten Denker der kritischen Theorie darstellen, sondern es geht uns im Folgenden nur um eine Andeutung, in welche gegensätzliche Richtungen die kritische Theorie von Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse fortgeführt wurde, wobei wir das Verhältnis der Theorie zur Praxis ins Zentrum der Überlegung rücken wollen. Für beide sind die unausdenkbare Barbarei der Nazi-Herrschaft in Deutschland und der Terror Stalins gegen die revolutionäre Bewegung die entscheidenden Erfahrungshintergründe für ihre spätere Fassung der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno (1903–1969) hat daraus eine resignative geschichtsphilosophische Konsequenz gezogen. 14 Entschieden gegen Hegels Wort, dass die Weltgeschichte den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« darstelle, unterstreicht Adorno in seinem philosophischen Hauptwerk Negative Dialektik (1966): »Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und in Aussicht der künftigen zynisch. […] Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. […] Die Einheit der Weltgeschichte, welche die Philosophie animiert, sie als Bahn des Weltgeistes nachzuzeichnen, ist die Einheit des Überrollenden, des Schreckens, der Antagonismus unmittelbar.« (Adorno 1966: 333) Nun steht Adorno, gerade in dieser sowohl gegen die bürgerliche als auch gegen vulgärmarxistische Fortschrittsgläubigkeit gewendeten Kritik, durchaus in der Tradition von Marx, dessen Kritik der politischen Ökonomie ebenfalls die unabwendbar in den Entwicklungsgesetzen des Kapitals implizierten Destruktionstendenzen herausgearbeitet hat. Adorno beruft sich in diesem Punkt auch ganz ausdrücklich auf die Marxsche Kapital-Kritik: »Die Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben, sondern durch ihn; Profitinteresse und damit das Klassenverhältnis sind objektiv der Motor des Produktionsvorgangs, an dem das Leben aller hängt
Axel Honneth/Albrecht Wellmer (Hg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen (1985). 14 Vgl. Über Theodor W. Adorno. Mit Beiträgen von Kurt Oppens, Hans Kudszus, Jürgen Habermas, Bernard Willms, Hermann Schweppenhäuser und Ulrich Sonnemann (1968); Rolf Wiggershaus, Theodor W. Adorno (1987); Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno zur Einführung (2009). 13
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und dessen Primat seinen Fluchtpunkt hat im Tod aller.« (Adorno 1966: 312) Was Adorno von Marx unterscheidet, ist also nicht die radikale Kritik des Unheilzusammenhangs der in der Geschichte fortdauernden, Menschen unterdrückenden und mordenden Herrschaftsverhältnisse, sondern seine resignative Perspektive. Während Marx seine Kritik so radikal bis in die letzten negativen Konsequenzen zu Ende führt, um dadurch den von diesen Verhältnissen unmittelbar betroffenen Proletariern die unabdingbare Notwendigkeit ihrer radikalen revolutionären Befreiung deutlich zu machen, meint Adorno angesichts der geschichtlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, solche Revolutionshoffnungen nicht nur nicht für die nächste Zeit, sondern prinzipiell aufgeben zu müssen. Denn es hat sich nicht nur in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften gezeigt, dass das Kapital in der Lage ist, das Proletariat als seinen Widerpart erfolgreich zu integrieren, sondern gravierender noch ist die Erfahrung, dass selbst dort, wo siegreich Revolutionen im Namen des Proletariats geführt wurden, neue, ja teilweise schlimmere Unterdrückungsverhältnisse errichtet worden sind. Nicht Marx und Engels ist dies vorzuwerfen, »sie konnten nicht ahnen, was dann im Mißlingen der Revolution auch dort, wo sie gelang, hervortrat: daß Herrschaft die Planwirtschaft, welche die beiden freilich nicht mit Staatskapitalismus verwechselt hatten, zu überdauern vermag« (Adorno 1966: 314), sondern wir haben nach diesen Erfahrungen, die Konsequenz daraus zu ziehen, dass mit keiner revolutionären Klasse gerechnet werden darf, die uns aus dem Unheilzusammenhang zu befreien vermag. Nur die »kritische Theorie« allein »setzt Widerstand«, d. h. nur eine Theorie, die die Negativität der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen zu durchschauen vermag, bietet durch ihren radikalen »Widerspruch die Chance […] fruchtbar zu werden« (Adorno 1969, 190). »Theorie vermag die unmäßige Last der historischen Nezessität zu bewegen allein, wenn diese als der zur Wirklichkeit gewordene Schein erkannt ist […] Durch Erfahrung und Konsequenz ist das Individuum einer Wahrheit des Allgemeinen fähig, die dieses, als blind sich durchsetzende Macht, sich selbst und den anderen verhüllt […] [So ist die] erste Bedingung von Widerstand, daß der Geist das an ihr durchschaut und nennt, ein bescheidener Anfang von Praxis.« (Adorno 1966: 335) Da für Adorno die Praxis – nicht nur die blind bestehende, son303 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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dern auch die revolutionäre – immer ein um die Menschen gelegter, dumpfer, bornierter, geistloser Bann ist (Adorno 1969: 173), so vermag er nur in der Theorie ein aus dem Bann Befreiendes zu sehen. »Das nicht Bornierte wird von Theorie vertreten. Trotz all ihrer Unfreiheit ist sie im Unfreien Statthalter der Freiheit.« (Adorno 1969: 173) Hierin aber unterscheidet er sich von Marx radikal, denn für Marx hat sich Theorie unter den Primat der Praxis der bewusst handelnden Individuen zu stellen, und gerade daher ist revolutionäre Praxis, so sie wirklich statthat, nicht blind, denn sie selbst ist von kritischem Denken getragen. 15 Demgegenüber führt Herbert Marcuse (1898–1978) die kritische Theorie wieder deutlicher an das Marxsche Anliegen einer revolutionären Praxis heran. Zwar ist auch er äußerst skeptisch, was die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung betrifft, nachdem der Sozialismus in den Staaten des Ostens gescheitert und in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften des Westens fast die totale Integration aller kritischen Potenzen in den wissenschaftlich-technischen Systemzusammenhang gelungen ist, wie Marcuse in seinem Buch Der eindimensionale Mensch (1964) herausarbeitet. »Die Welt tendiert dazu, zum Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter verschlingt. Das Gewebe der Herrschaft ist zum Gewebe der Vernunft selbst geworden, und diese Gesellschaft ist verhängnisvoll darein verstrickt.« (Marcuse 1964/1970: 183) 16 Auf allen Ebenen ist es dem Kapitalismus in den fortgeschrittenen Industrienationen gelungen, das Proletariat als ihren kritischen Widerpart in den eigenen Systemzusammenhang zu integrieren, es praktisch und ideologisch einzubinden. Auch das wissenschaftliche Denken wird mehr und mehr in den Funktionszusammenhang des Systems einbezogen und dadurch der positivistischen Rationalität angepasst. Trotzdem ist kritische Theorie noch möglich und mehr denn je nötig, denn das eindimensional geschlossene System verspricht Vgl. dagegen Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals (1969) sowie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »›Spontaneität, die denkend in der Geschichte handelt‹. Eine Skizze zum Denkweg von Ulrich Sonnemann« in: Claus-Volker Klenke u. a. (Hg.), Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann (1999). 16 Vgl. Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Herbert Marcuse – Eros und Emanzipation (1989); Hauke Brunkhorst/Gertrud Koch, Herbert Marcuse. Eine Einführung (1997); Roger Behrens, Übersetzungen, Studien zu Herbert Marcuse. Konkrete Philosophie, Praxis und kritische Theorie (2000). 15
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keine Lösung der anstehenden gesellschaftlichen und weltgeschichtlichen Probleme, sondern steuert blind auf katastrophale Weltkonflikte und Destruktionen in der gesamten Lebenswelt von nie dagewesenem Ausmaß zu. »Die Vereinigung von anwachsender Produktivität und anwachsender Zerstörung, das Hasardspiel mit der Vernichtung, die Auslieferung des Denkens, Hoffens und Fürchtens an die Entscheidungen der bestehenden Mächte, die Erhaltung des Elends angesichts eines beispiellosen Reichtums enthalten in sich die unparteiische Anklage.« (Marcuse 1964/1970: 15) Anders aber als Adorno hält Marcuse daran fest, dass eine kritische Theorie nur Sinn macht, wenn ihre Perspektive auf eine revolutionäre Praxis bezogen bleibt, denn nicht die Theorie, sondern nur die bewusste Praxis der Befreiung kann die blinde Praxis des Unheilzusammenhangs brechen: »Freilich transzendiert der dialektische Begriff die gegebenen Tatsachen, indem er sie begreift. […] Er bestimmt die geschichtlichen Möglichkeiten, ja Notwendigkeiten; deren Verwirklichung aber kann nur durch diejenige Praxis erfolgen, die der Theorie entspricht […]. Ohne den Aufweis solcher Kräfte [der Praxis] wäre die Gesellschaftskritik zwar noch gültig und rational, aber außerstande, ihre Rationalität in die Begriffe der geschichtlichen Praxis zu übersetzen.« (Marcuse 1964/1970: 263 ff.) Obwohl Marcuse am Begriff des Proletariats festhält, den er allerdings wesentlich differenziert und erweitert, hofft er doch keineswegs auf dessen naturwüchsiges revolutionäres Erwachen und Erstarken; insofern stellt die kritische Theorie eine unabdingbare Voraussetzung für das Bewusstwerden der revolutionären Kräfte dar, die die immer dichter werdenden Systemzwänge durchbrechen könnten. »Als geschichtlicher Prozeß schließt der dialektische Prozeß Bewußtsein ein: dass die befreienden Potentialitäten erkannt und erfaßt werden. Damit schließt er Freiheit ein. […] Die bestimmte Negation des Kapitalismus tritt ein, wofern und wenn das Proletariat seiner selbst und der Bedingungen und Prozesse bewußt geworden ist, die seine Gesellschaft ausmachen. Dieses Bewußtsein ist ebenso die Voraussetzung wie ein Element der negierenden Praxis.« (Marcuse 1964/1970: 234) Nirgends aber in den fortgeschrittenen Industrienationen scheinen diese Voraussetzungen eines revolutionären Bewusstseins in der Arbeiterklasse gegeben zu sein, im Gegenteil, diese erweist sich als einer der bestfunktionierenden Faktoren der Wachstumsideologie des Kapitalismus. Insofern muss heute – so unterstreicht Marcuse – 305 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
»aus theoretischen wie empirischen Gründen […] der dialektische Begriff seine eigene Hoffnungslosigkeit« aussprechen. (Marcuse 1964/1970: 264) Und doch führt dieses Eingeständnis Marcuse nicht zur Resignation, denn er setzt auf die Kräfte der Menschen, nicht nur des kritischen Denkens, sondern auch auf die der Sinnlichkeit, die sich nicht total ins System integrieren lassen und sich daher immer wieder widerständig dagegen auflehnen werden, wie es die Studentenbewegung demonstriert hat. (Marcuse, Versuch über die Befreiung, 1969) Nicht dass die Studentenrevolte eine revolutionäre Bewegung ersetzen könnte, wohl aber kann von ihr und anderen Alternativbewegungen ein Funke des Bewusstwerdens überspringen und eine revolutionäre Befreiung der Menschen aus den unheilvollen und zerstörerischen Systemzwängen auslösen: »Aber es besteht die Chance, dass die geschichtlichen Extreme in dieser Periode wieder zusammentreffen: das fortgeschrittenste Bewusstsein der Menschheit und ihre ausgebeutetste Kraft. Aber das ist nichts als eine Chance. Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keine Erfolge zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.« (Marcuse 1964/1970: 268)
4.
Dialektische Praxisphilosophie
4.1 Karl Korsch und Georg Lukács Die dritte Traditionslinie, die wohl am problembewusstesten der Marxschen Dialektik folgt, setzt gleichsam schlagartig mit dem Erscheinen der beiden Bücher Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) von Georg Lukács und Marxismus und Philosophie (1923) von Karl Korsch ein. Korsch greift seinerseits auf Antonio Labriola zurück, während sich Lukács kritisch auf Max Adler bezieht, beide haben ihrerseits nachhaltig auf die Weiterentwicklung der Philosophie der Praxis und die kritische Theorie gewirkt, so dass sich zwischen allen drei Richtungen mannigfaltige Querverbindungen ergeben, auf die wir hier nicht eingehen können. Dass wir erst jetzt auf diese zentralste Traditionslinie des »westlichen Marxismus« 306 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Dialektische Praxisphilosophie
(Korsch) 17 zu sprechen kommen, liegt daran, dass ihre Interpretation und Fortführung der Marxschen Dialektik von Theorie und Praxis, zugleich auch die dialektische Verschränkung der Philosophie der Praxis und der kritischen Theorie impliziert, was durch deren vorhergehende Behandlung nun prägnanter deutlich gemacht werden kann. Was Karl Korsch (1886–1961) zunächst in Marxismus und Philosophie (1923) fordert, ist, dass sich die »materialistische Geschichtsauffassung« dialektisch durch sich selbst begreifen müsse 18: »Die einzige, wirkliche ›materialistische daher wissenschaftliche Methode‹ (Marx) einer solchen Untersuchung besteht vielmehr darin, dass wir den von Hegel und Marx in die Geschichtsbetrachtung eingeführten dialektischen Gesichtspunkt, den wir bisher nur auf die Philosophie des deutschen Idealismus und die aus ihr hervorgehende marxistische Theorie angewandt haben, jetzt auch auf deren weitere Entwicklung bis zur Gegenwart anwenden. D. h. wir müssen sämtliche formellen und inhaltlichen Um-, Weiter- und Rückbildungen dieser marxistischen Theorie seit ihrer ursprünglichen Entstehung aus der Philosophie des deutschen Idealismus als notwendige Produkte ihrer Zeit zu begreifen suchen (Hegel) oder, genauer gesprochen, sie begreifen in ihrer Bedingtheit durch die Totalität desjenigen geschichtlichen Prozesses, dessen allgemeinen Ausdruck sie bilden (Marx).« (Korsch 1923/1966: 97) Wie die Philosophie des Deutschen Idealismus den »theoretische [n] Ausdruck der revolutionären Bewegung der bürgerlichen Klasse« darstellt, so ist das Marxsche Denken »der theoretische Ausdruck der revolutionären Bewegung der proletarischen Klasse« (Korsch 1923/ 1966: 87). Dies bedeutet aber, dass »die wirklichen Ursachen des Verfalls der marxistischen Theorie zum Vulgärmarxismus«, ebenso wie ihr revolutionäres Wiederaufblühen nicht etwa aus theoretischen Entwicklungen zu verstehen, sondern nur aus dem Kontext der praktischen Kämpfe der Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse zu begreifen sind. Diese von Korsch geprägte Kampfansage »westlicher Marxismus« gegen den »Vulgrämarxismus« oder östlichen Sowjetmarxismus wurde später von Maurice MerleauPonty, Die Abenteuer der Dialektik (1955) und Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus (1976) übernommen. 18 Vgl. Erich Gerlach, »Die Entwicklung des Marxismus von der revolutionären Philosophie zur wissenschaftlichen Theorie proletarischen Handelns bei Karl Korsch« (1966); Wolfgang Zimmermann, Korsch zur Einführung (1978); Michael Buckmiller (Hg.), Zur Aktualität von Karl Korsch (1981). 17
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
Dies ist nicht als ein lineares Ableitungsverhältnis gemeint, wie es oft im dogmatischen Vulgärmarxismus als Abhängigkeit des ideologischen Überbaus von der ökonomischen Basis dargestellt wird. Ganz im Gegenteil, denn abgesehen davon, »daß es Marx und Engels nie eingefallen ist, das gesellschaftliche Bewußtsein, den geistigen Lebensprozeß, schlechthin als eine Ideologie zu bezeichnen« (Korsch 1923/1966: 122), wird durch die Abbild- oder Widerspiegelungstheorie etwas auseinandergerissen, was erst in seinem wechselseitigen Durchdringen die gesellschaftliche Gesamtwirklichkeit ausmacht, zu der die »geistige Struktur« sogar als aktives Zentrum ganz wesentlich mit hinzugehört. Schon Hegel erkannte, dass wirkliche Philosophie »ihre Zeit in Gedanken faßt«, aber er sprach – hierin selbst ganz Sohn seiner bürgerlichen Welt – hierbei der Philosophie nur eine nachbegreifende Aufgabe zu. Das wirklich Neue der Marxschen Dialektik liegt aber darin, dass sie, indem sie Kritik der gegenwärtigen Welt in ihren Widersprüchen ist, sich selbst in die revolutionäre Bewegung einreiht, die angetreten ist, diese gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben, so dass hier »theoretische Kritik und praktische Umwälzung […] als untrennbar zusammenhängende Aktionen begriffen« werden (Korsch 1923/1966: 133). Nicht äußerlich also, sondern prinzipiell wird so das Marxsche Denken zur revolutionären Philosophie des Proletariats, das zu seiner Befreiung die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse aufheben muss. Der Philosophie kommt damit innerhalb der revolutionären Bewegung eine selbst revolutionäre Rolle zu, sie wird dadurch zu einer »revolutionären Philosophie, die ihre Aufgabe als Philosophie darin sieht, dem in allen Sphären der gesellschaftlichen Wirklichkeit […] geführten revolutionären Kampf in einer bestimmten Sphäre dieser Wirklichkeit, in der Philosophie, wirklich zu führen, um auf diese Weise am Ende, zugleich mit der Aufhebung der gesamten bisherigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch die Philosophie, die dieser Wirklichkeit mit angehört, wirklich aufzuheben« (Korsch 1923/1966: 116). Dies ist es, was Marx meint, wenn er sagt: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen […] [, aber ebensowenig] verwirklichen […], ohne sie aufzuheben.« (Marx 1: 384) War schon Karl Korschs Marxismus und Philosophie eine Erneuerung des Marxschen Denkens aus dem philosophischen Kern seiner Dialektik, so erreicht im Werk Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) von Georg Lukács (1885–1971) der Marxismus vollends 308 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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wieder das Niveau der großen Philosophie, das es bei Marx bereits besaß; es ist nicht nur zweifellos die grundlegendste philosophische Arbeit innerhalb der marxistischen Tradition nach Marx, sondern diese Arbeit gehört auch zu den bedeutendsten philosophischen Schriften des frühen 20. Jahrhunderts – wie dies schon Walter Benjamin in den 20er Jahren anmerkte. Bei unserer Konzentration auf die Dialektik des Verhältnisses von Theorie und Praxis wollen und können wir uns hier nur auf die Grundgedanken des Anfangskapitels »Was ist orthodoxer Marxismus?« beschränken. 19 Was ermöglicht es der Marxschen Theorie, »revolutionäre Dialektik« zu sein? Dies ist die philosophische Frage nach den letzten Begründungszusammenhängen des durch Marx neuartig aufgeworfenen Anspruchs einer aus der Praxis erwachsenden und zugleich in die Praxis eingreifenden Theorie: »Es müssen vielmehr sowohl in der Theorie, wie in der Art der Ergreifung der Massen jene Momente, jene Bestimmungen aufgefunden werden, die die Theorie, die dialektische Methode zum Vehikel der Revolution machen; es muß das praktische Wesen der Theorie aus ihr und ihrer Beziehung zu ihrem Gegenstand entwickelt werden.« (Lukács 1923/1970: 53) Die den Naturwissenschaften nachgebildeten positivistischen Sozialwissenschaften sind von ihrer Wissenschaftsmethodologie her sicherlich nicht in der Lage, das Ganze der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen oder gar nach Handlungsperspektiven im Hinblick auf den Sinnhorizont menschlicher Geschichte zu fragen. Sie weisen vielmehr eine eigentümliche Affinität zur Logik des Kapitals auf, insofern auch sie die Gegenstände ihrer Erkenntnis zu Einzeltatsachen verdinglichen, die nur in einem äußeren, von der wissenschaftlichen Methodologie hergestellten Gesetzes- und Systemzusammenhangs stehen. »Das auf den ersten Anblick Bestechende einer solchen Methode liegt darin, daß die kapitalistische Entwicklung selbst die Tendenz hat, eine Struktur der Gesellschaft hervorzubringen, die solchen Betrachtungsweisen sehr weit entgegenkommt. Aber wir bedürfen gerade hier und gerade deshalb der dialektischen Methode, um dem so produzierten gesellschaftlichen Vgl. Frank Benseler (Hg.), Georg Lukács. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag (1965); Istvan Mészáros, (Hg.), Aspekte von Geschichte und Klassenbewußtsein (1972); Jörg Kammler, Politische Theorie von Georg Lukács (1974); Gvodzen Flego/ Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Georg Lukács – Ersehnte Totalität (1986); Rüdiger Dannemann, Das Prinzip Verdinglichung. Studie zur Philosophie Georg Lukács’ (1987) sowie Georg Lukács zur Einführung (1997).
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Schein nicht zu erliegen, um hinter diesem Schein doch das Wesen erblicken zu können.« (Lukács 1923/1970: 65) Die Gesellschafts- und Geschichtstheorie von Marx setzt gerade nicht bei den methodisch isolierten Einzeltatsachen an, sondern sie fragt nach der »konkreten Totalität« menschlicher Praxis, d. h. sie bedenkt Geschichte und »Wirklichkeit als gesellschaftliches Geschehen«. Dadurch werden alle Kategorien ihrer Gesellschafts- und Geschichtsanalyse auf das »wirkliche Substrat« der gesellschaftlich kooperierenden und geschichtlich handelnden Menschen in ihren gelebten Beziehungen zurückgeführt. »Denn dadurch, daß in jeder ökonomischen Kategorie eine bestimmte Beziehung zwischen den Menschen auf einer bestimmten Stufe ihrer gesellschaftlichen Entwicklung zum Vorschein kommt, bewußt gemacht und auf ihren Begriff gebracht wird, kann erst die Bewegung der menschlichen Gesellschaft selbst in ihrer inneren Gesetzlichkeit, zugleich als Produkt der Menschen selbst und von Kräften, die aus ihren Beziehungen entstanden, sich ihrer Kontrolle entwunden haben, begriffen werden.« (Lukács 1923/1970: 179) Bereits Hegel hatte herausgearbeitet, dass das Begreifen der Geschichte ein Selbstbewusstwerden der durch die Geschichte vorandrängenden Praxis sei. Aber bei Hegel bleibt dieses Selbstbewusstsein der menschlichen Geschichte ein nachträgliches, das niemals soweit gelangen kann, bewusst in die Geschichte einzugreifen. »Hegel vermochte nicht zu den wirklich treibenden Kräften der Geschichte durchzudringen.« (Lukács 1923/1970: 83) Gerade aber hierin führt Marx die Hegelsche Dialektik praktisch zu Ende, die dadurch eine revolutionäre wird, denn indem die Menschen sich selbst geschichtlich in der Totalität menschlicher Geschichte begreifen, ist dies nicht mehr nur ein Nachverstehen ihrer Gewordenheit aus der Geschichte, sondern zugleich ein Gewahrwerden der Geschichte als praktischer Aufgabe ihrer gegenwärtigen Praxis. Dies »bedeutet ein Bewußtwerden des Menschen über sich als Gesellschaftswesen, über den Menschen als – gleichzeitiges – Subjekt und Objekt des gesellschaftlichgeschichtlichen Geschehens«. (Lukács 1923/1970: 86). Dieses Selbstbewusstwerden des Menschen in ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis setzt jedoch einen vorausgehenden Geschichtsprozess voraus, der sowohl die materiellen Bedingungen für eine bewusste gesellschaftliche Lebensgestaltung hervorgebracht hat als auch die subjektive Einsicht in die Notwendigkeit einer bewussten gesellschaftlichen Lebensgestaltung reifen lässt, da der bisherige na310 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Dialektische Praxisphilosophie
turwüchsige gesellschaftliche Entwicklungsprozess in immer unlösbarere gesellschaftliche Konflikte hineinführt. So ist ein solches Bewusstwerden der Menschen als Subjekte ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis – wie Lukács betont – erst »auf dem Boden des Kapitalismus« möglich, und hier ist wiederum nur eine Klasse fähig »als geschichtlicher Träger diese Umwälzung« der Bewusstwerdung zu vollbringen: das Proletariat. »Erst mit dem Auftreten des Proletariats vollendet sich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sie vollendet sich eben, indem im Klassenstandpunkt des Proletariats der Punkt gefunden ist, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird […]. Die Einheit von Theorie und Praxis ist also nur die andere Seite der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage des Proletariats, daß von seinem Standpunkt Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammenfallen, daß es zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis ist.« (Lukács 1923/1970: 87) Damit ist keineswegs gesagt – das hebt Lukács ausdrücklich hervor –, dass »dem Proletariat als Klasse« diese Einsicht »unmittelbar und natürlich gegeben wäre«, vielmehr setzt auch dies eine Bewusstwerdungsgeschichte voraus, in der sich Theorie und Praxis gegenseitig durchdringen müssen. »Auch das Bewußtsein über die gesellschaftliche Wirklichkeit, über die eigene Klassenlage und die aus ihr entspringende historische Berufenheit, die Methode der materialistischen Geschichtsauffassung sind Produkte desselben Entwicklungsprozesses, den der historische Materialismus – zum erstenmal in der Geschichte – adäquat und in seiner Wirklichkeit erkennt.« (Lukács 1923/1970: 89) Damit sind wir klärend und fundierend bei der Beantwortung der Ausgangsfrage angelangt: Die Dialektik der Marxschen Philosophie versteht sich als Moment der Bewusstwerdung gesellschaftlichgeschichtlicher Praxis im revolutionären Umschlagpunkt aus der Bewusstlosigkeit bisheriger Gesellschaftsgeschichte heraus auf eine bewusste gesellschaftliche Verantwortung für die Geschichte hin. Da diese Umwälzung aber nur von den wirklichen Trägern gesellschaftlicher Produktion praktisch vollbracht werden kann, begreift sich die Theorie als revolutionäre Dialektik der proletarischen Emanzipationsbewegung. »Erst wenn das Bewußtwerden den entscheidenden Schritt bedeutet, den der Geschichtsprozeß seinem eigenen, sich aus Menschenwillen zusammensetzenden, aber nicht von menschlicher Willkür abhängigen, nicht vom menschlichen Geiste erfundenem Ziele entgegen tun muß; wenn die geschichtliche Funktion der Theo311 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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rie darin besteht, diesen Schritt praktisch möglich zu machen; wenn eine geschichtliche Situation gegeben ist, in der die richtige Erkenntnis der Gesellschaft für eine Klasse zur unmittelbaren Bedingung ihrer Selbstbehauptung im Kampfe wird; wenn für diese Klasse ihre Selbsterkenntnis zugleich eine richtige Erkenntnis der ganzen Gesellschaft bedeutet; wenn demzufolge für eine solche Erkenntnis diese Klasse zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist und auf diese Weise Theorie unmittelbar und adäquat in den Umwälzungsprozeß der Gesellschaft eingreift: wird die Einheit von Theorie und Praxis, die Voraussetzung der revolutionären Funktion der Theorie möglich.« (Lukács 1923/1970: 60)
4.2 Ernst Bloch und Henri Lefebvre Ernst Bloch (1885–1977) ist einer der großen, neue Impulse setzenden Philosophen des 20. Jahrhunderts, und er war Marxist und Sozialist in seiner Grundüberzeugung. Man kann aber eigentlich nicht sagen, dass er die Marxsche Theorie in ihrem Zentrum der Kritik der politischen Ökonomie aufgenommen und weiterentwickelt hat. Wenn wir ihn hier doch und so zentral aufnehmen, so deshalb, weil sein Denken zum einen in der dialektischen Praxisphilosophie zentriert ist 20, und zum andern, weil er in zwei Richtungen grundlegend über die dialektische Geschichtsphilosophie seines Jugendfreundes Georg Lukács hinausgeht; auf diese Bereicherung wollen wir kurz verweisen, ohne den Gesamtzusammenhang seiner Philosophie hier nachzeichnen zu können. 21 Im Gegensatz zu Lukács, der ausdrücklich die Natur aus dem Zusammenhang dialektischer Geschichtsphilosophie ausklammert und damit der verdinglichten Rationalität der Naturwissenschaften Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, darin vor allem »Weltveränderung oder die Elf Thesen von Marx über Feuerbach« (1959/1967): 288 ff. 21 Vgl. Helmut Reinicke, Materie und Revolution. Eine materialistisch-erkenntnistheoretische Untersuchung zur Philosophie von Ernst Bloch (1974); Hans Heinz Holz, Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt (1975); Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Ernst Bloch – Utopische Ontologie (1986); Manfred Riedel, Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung (1994), Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999) – darin: »Bloch – Suche nach uns selbst ins Utopische«; Rainer Zimmermann, Subjekt und Existenz. Zur Systematik Blochscher Philosophie (2001). 20
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Dialektische Praxisphilosophie
überlässt, bezieht Bloch – hierin Andeutungen des jungen Marx aufgreifend und Friedrich Engels Dialektik der Natur fortführend – die Natur zentral in seine dialektische Philosophie mit ein. 22 Weder ist die gesellschaftlich-geschichtliche Praxis etwas, was jenseits des Naturzusammenhangs denkbar wäre, noch ist unser menschliches Bewusstwerden in der Welt vollständig, wenn wir die Natur aus dem Weltwerdungsprozess ausschließen. Die Totalität der Geschichte wird erst dort vollkommen bedacht, wo sie die Totalität der Natur mit umfasst, ebenso wie erst die Totalität der Natur dort ganz befragt wird, wo sie die Geschichte mit umgreift; denn weder hört der Naturprozess mit der menschlichen Geschichte auf, noch kann sich Geschichte erfüllen, wenn sie im Widerspruch mit der Natur steht. Vielmehr ist die Produktivität der gesellschaftlichen Praxis, wie schon Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten betont (Marx 40, 577), nur aus dem Kontext der Produktivität der Natur zu begreifen. »Die Welt ist eine einzige noch unablässige Frage nach ihrem herauszuschaffenden Sinn, worin allein der Hunger zu stillen ist, mit offenem Puls und noch ausstehendem Ultimum in objektiv-realer Möglichkeit. […] Der erkennende Mensch darin hat hierbei gerade mit der Selbsterkenntnis als der Realfrage der Welt nach sich selber genau die Funktion, daß er, eben an der Front des Weltprozesses stehend, dessen Realfrage immer qualitativ verstärkt.« (Bloch 1975: 248, 246) Daraus erwächst aber auch der menschlichen Praxis eine Verantwortung für ihren Umgang mit der Natur. Dort, wo sich die gesellschaftliche Praxis allein aus sich selbst begründet glaubt und die Natur als bloßes Material ihrer Erfüllung behandelt, gerät sie in einen Gegensatz zur Natur, der im letzten negativ auf sie selber zurückfällt – wie dies Schelling schon herausgearbeitet hat, und Marx ist ihm darin gefolgt. 23 Solchen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Natur gilt es ebenso in revolutionärer Praxis aufzuheben wie den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Im geschichtlichen Horizont einer sozialistischen Gesellschaft liegt somit auch die AlliVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Natur«, in: Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Ernst Bloch – Utopische Ontologie (1986). 23 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996) sowie Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx (1984 – erw. Neuauflage in Vorbereitung). 22
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anz mit der lebendigen Produktivität der Natur: »Die echte TheoriePraxis entnimmt methodisch die Ziele des Handelns einer Analyse der jeweils zu verändernden Umwelt, und Sozialismus ist dieser Praxis die condition sine qua non zum Endziel. Derartige Praxis kann sich nicht darauf beschränken, das Verhältnis des Menschen zum Menschen in einer klassenlosen Gesellschaft von Entfremdung zu befreien; sie geht weiter verändernd in das Verhältnis des Menschen zur Natur hinein. So daß der Mensch in der Natur nicht mehr zu stehen braucht wie im Feindesland, mit dem technischen Unfall als ständiger Drohung […]. Ein anderes nicht ausbeutendes Verhalten zur Natur wurde schon der objektiv-realen Möglichkeit nach bedeutet als befreundete, konkrete Allianztechnik […]. Das wird um so notwendiger, als sich der Unfall ja längst ausgewachsen hat zu drohender Selbstausrottung des Menschen, gründlicher Zerstörung seiner natürlichen Existenzbedingungen durch Mißachtung der Ökologie.« (Bloch 1975: 251) Aber Bloch erweitert die dialektische Geschichtsphilosophie von Lukács nicht nur um die Dimension der Natur, sondern auch dahin, dass er die anstehende Umwälzung des unheilvollen Systemzusammenhangs der kapitalistischen Welt stärker von der Zielperspektive einer solidarischen und ökologischen Gesellschaft her denkt. Nun widersprechen sich hierin Bloch und Lukács keineswegs, doch während Lukács den Akzent auf die Aufgabe des Proletariats legt, die Not für sich und die Menschheit zu wenden, betont Bloch das konkret-utopisch sichtbar werdende Ziel, auf das hin die Emanzipation in revolutionärer Wendung gewagt werden muss. Dieser konkret-utopische Zielhorizont, dieser »Traum nach vorwärts«, auf den uns Karl Marx hingewiesen hat, ist die »Menschlichkeit«, wie Bloch im letzten Kapitel seines Hauptwerks Das Prinzip Hoffnung (1959) ausführt: »Eben die Menschlichkeit selber ist der Entmenschlichung ihr geborener Feind, ja indem Marxismus überhaupt nichts anders ist als Kampf gegen die kapitalistisch kulminierende Entmenschlichung bis zu ihrer völligen Aufhebung, ergibt sich auch e contrario, daß echter Marxismus seinem Antrieb wie Klassenkampf, wie Zielinhalt nach nichts anderes ist, sein kann, sein wird, als Beförderung der Menschlichkeit. […] Nur er [der Marxismus] ist noch Erbe dessen, was im früheren, revolutionären Bürgertum an Humanum intendiert war. […] Das Erzhumanistische sozialer Revolution hebt die Decke der Selbstentfremdung von der gesamten Menschheit schließlich weg.« (Bloch 1959/1967: 1607) 314 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Dialektische Praxisphilosophie
Nach Ernst Bloch hat der Marxismus das Erbe der ganzen abendländischen Philosophie angetreten, indem er sie als in die Praxis gewendeten gesellschaftlichen und geschichtlichen Auftrag begreift; trotzdem wird dadurch der Marxismus auch durch diese Erblast geprägt und nimmt bei Bloch auch am stärksten wieder die Gestalt der bisherigen Philosophie an. Ganz anders stellt sich diesem Problem Henri Lefebvre (1905– 1991), der wohl bedeutendste marxistische Denker nach Georg Lukács, der wohl wie kein anderer die Philosophie der Praxis und die kritische Theorie in sich vereinigt. 24 In seinem Buch Metaphilosophie (1965) versucht er das Marxsche Diktum von der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie einzulösen. Marx kritisierte die Philosophie, insbesondere die Philosophie Hegels, die er gleichzeitig als den höchsten Ausdruck dialektischen Zu-sich-Kommens der Philosophie schätzt, da sie die Welt doch nur in Gedanken aufhebt und verwirklicht. Er fordert dagegen die Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie in die Praxis der gesellschaftlich und geschichtlich handelnden Menschen. »Die Schriften des jungen Marx, die allzu oft als ›philosophische Werke‹ gegolten haben und gelten, enthalten genau diese radikale Kritik. Die Philosophie muß sich aufheben; sie verwirklicht sich, indem sie sich aufhebt, und sie hebt sich auf, indem sie sich verwirklicht. Das Philosophisch-Werden der Welt gibt Raum für ein Weltlich-Werden der Philosophie, für die revolutionäre Verwirklichung und Aufhebung der Philosophie als solcher. […] Die unabhängige (spekulative) Philosophie verliert ihre Existenzbedingungen und macht Platz für die Erforschung der wirklichen Praxis sowie für den transparenten (nicht ideologischen) Reflex der revolutionären Praxis.« (Lefebvre 1965/1975: 25 ff.) Unter Aufhebung der Philosophie ist jedoch keineswegs ihre schlichte Abschaffung zu verstehen, sondern eher eine Transformation in bewusste Praxis. Deshalb spricht Lefebvre auch in einem Kapitel von der »Suche nach den Erben« angesichts der »Krisis der Philosophie«, die sich überlebt, aber noch keine Nachfolger gefunden hat, die sie in die Praxis menschlichen Handelns aufgehoben hätten.
Vgl. Helmut Fahrenbach, »Henri Lefebvres ›Metaphilosophie‹ der Praxis« (1982); Ulrich Müller-Schöll, Das System und der Rest. Kritische Theorie in der Perspektive Henri Lefebvres (1999); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Kritische Philosophie im Primat gesellschaftlicher Praxis«, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Bild und Gedanke (2016).
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Ausdrücklich können dies – nach Lefebvre – nicht die Proletarier allein sein, jedenfalls nicht einfach als Klasse der Lohnarbeiter. Vielmehr können alle Menschen, insofern sie an der gesellschaftlichen Praxis teilnehmen, potentiell zu Erben der Philosophie werden, indem sie ihre Verwirklichung betreiben. Zunächst aber sind die meisten Menschen – die Proletarier nicht minder als alle anderen – in ihren Berufen, in ihren Freizeitbeschäftigungen, in ihren Lebensstrategien eingebunden in die entfremdeten Systemzwänge des Kapitalismus, der Industrie, der Wissenschaft, des Kulturbetriebs, die die Menschen fremdbestimmen. Entfremdung meint bei Marx die Fremdbestimmung der Menschen durch die verselbständigten Produkte ihrer eigenen gesellschaftlichen Praxis. Es ist klar, dass Entfremdung bereits ein kritischer Begriff ist, d. h. eine die Entfremdung des gesellschaftlichen Lebens in ihren mannigfaltigen Formen aufdeckende Gesellschaftsanalyse ist kritisch interessiert an den Möglichkeiten und Potenzen ihrer Aufhebung. Heute ist die Frage nach der Möglichkeit der Aufhebung und Überwindung der Entfremdung umso dringlicher geworden, so betont Lefebvre, »als wir inzwischen in das Stadium der Entfremdung zweiten Grades eingetreten sind: der Entfremdung nicht nur durch die Sache, sondern durch den Blick auf die Sache, […] nicht mehr bloß durch die subjektive Illusion über die Objektivität, sondern durch die Subjektivität selbst«. (Lefebvre 1965/1975: 68). Trotzdem kann die Entfremdung nie total und absolut sein, denn eine solche wäre der Tod der Menschen, der Gesellschaft und somit natürlich auch der Systeme, die ja alle nur von den wirklichen Kräften der Menschen und der Natur leben. Überall gibt es »Residuen« des menschlichen Lebens, Denkens und Handelns, die sich nie ganz den Systemzwängen unterwerfen lassen. Sie können zu Potenzen der Kritik und des Widerstandes gegen die Systemzwänge werden. Von ihnen her erwachsen die bewusstseins- und praxisverändernden Proteste der Proletarier, der Frauen, der Jugendlichen, der Minderheiten. Hier hat das »metaphilosophische« Denken – ein Denken, das die Philosophie in sich aufgehoben hat und im praktischen Leben zu verwirklichen versucht – anzuknüpfen, um an dem großen Projekt bewussten solidarischen Menschseins weiterzubauen, deren Teilstücke die Protest- und Emanzipationsbewegungen sind. »Es ist die Aufgabe des metaphilosophischen Denkens, neue Formen zu ersinnen und vorzuschlagen – oder eher noch einen Stil, der sich praktisch erschaffen läßt und der das philosophische Projekt verwirklicht, 316 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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indem er die Alltäglichkeit verwandelt. Aufhebung der Philosophie, Verknüpfung dieser Themen mit Veränderung in der Praxis […] – dies ist ein erster Sinn des Ausdrucks Metaphilosophie. Das Projekt einer radikalen Veränderung der Alltäglichkeit ist nicht abtrennbar von der Aufhebung der Philosophie und ihrer Verwirklichung.« (Lefebvre 1965/1975: 125 f.) Die Marxsche Philosophie ist zunächst dadurch Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie in die Praxis, insofern sie zur radikalen Kritik wird, denn indem sie sich praktisch in die wirklichen Kämpfe der Gegenwart einmischt, versteht sie sich als Teil dieser praktischen Auseinandersetzungen und greift auch wirklich in sie ein. Dieser Kritikansatz muss – so betont Lefebvre – über Marx hinaus ausgeweitet werden: »Zur radikalen Negativität gelangt man erst wieder und nur durch die radikale Kritik der Alltäglichkeit. […] Die Alltäglichkeit und ihre Ablehnung stellen die Gesamtheit der modernen Welt Stück um Stück radikal in Frage: die Kultur, den Staat, die Technik, die Institutionen, die Strukturen, die konstituierenden Gruppen, das analytische und operationale Denken, die Trennungen, auf denen alles beruht usw. Die derart privilegierte Kritik macht Schluß mit der Fragmentierung des Ganzen; sie rekonstruiert es zu einer neuen Gesamtheit. Dabei inkriminiert sie den bestehenden Kapitalismus und auch (wenngleich nicht in derselben Weise) den bestehenden Sozialismus, also die (gebrochene) Totalität insgesamt.« (Lefebvre 1965/1975: 330 f.) Indem nun aber die Kritik alle gesellschaftlichen Bereiche, globalen Konflikte und auch das Verhältnis der Industrie zur Natur in ihren Widersprüchen zu erfassen versucht, begegnen ihr nicht nur die bereits praktisch hervorgetretenen Protest- und Emanzipationsbewegungen, sondern ihre kritische Analyse ist selbst Teil der Bewusstwerdung dieser Bewegungen – und insofern ist die Kritik bereits metaphilosophisches Denken und Selbstbewusstwerdung der diese Bewegung tragenden Menschen. Bisher aber flackern alle diese aus den verschiedensten Bereichen residualen Widerstands erstehenden Protestbewegungen in geschichtlicher Ungleichzeitigkeit auf, daher sind sie auch schnell wieder ins System integrierbar – dies gelang mit der Arbeiterbewegung, mit der Studentenrevolte, und es scheint auch mit der Ökologiebewegung zu gelingen. Daher ist eine ganz große Aufgabe des metaphilosophischen Denkens die Versammlung und Vernetzung dieser Widerstandspotentiale und ihre gemeinsame Orientierung auf das große 317 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
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Projekt bewussten Menschseins: »Unsere Residuen-Methode enthält mehrere Schritte: Man spürt die Residuen auf, man setzt auf sie, man enthüllt ihre kostbare Essenz, man faßt sie zusammen, man organisiert ihre Revolte und totalisiert ist. Jedes Residuum ist ein Nichtreduzierbares, das man sich anzueignen hat. Poiesis geht, hier und jetzt, vom Residualen aus. […] Die Residuen versammeln und zusammenbündeln – das ist ein revolutionärer Gedanke, ein handelndes Denken. […] Die metaphilosophische Meditation als handelndes Denken erneuert die philosophische Reflexion über die Freiheit. Der geschichtliche Kampf um die Freiheit und die erkämpfte Freiheit in der Geschichte gewinnen in ihr einen neuen Sinn«. (Lefebvre 1965/ 1975: 334 ff.) In Henri Lefebvres Fortentwicklung der Marxschen Philosophie universalisiert sich die revolutionäre Praxis als der nie abschließbare, immer aufgegebene Horizont des totalen Projekts des menschlichen Überlebens der Menschen in solidarischer Gemeinschaft miteinander und in Allianz mit der Natur. Wir haben keine Gewissheit, ob es uns gelingen wird, aber wenn es nicht gelingt, dann scheitert das Projekt der Menschheitsgeschichte insgesamt. »Das metaphilosophische Denken umfaßt die fragmentierte und gebrochene Totalität, die sich auf dem Wege zu etwas anderem befindet: zu einer neuen, einer planetarischen Totalität. […] Der Mensch ist total. Sein und Denken, oder, wenn man so will, Natur und Praxis werden einander erkennen und zusammenfinden in ihrer gegenseitigen Zugehörigkeit und wechselseitigen Aneignung; nicht ohne Konflikte. […] Was wir mit unserem Schema vorschlagen, ist nur ein Projekt, ein ›Modell‹. Seine Möglichkeit ist eine Gewißheit, nicht aber seine Verwirklichung. Wir können die Hypothese eines kolossalen Abortus der menschlichen Geschichte, einer Katastrophe in planetarischem Maßstab nicht ausschließen. […] Weder der totale Fehlschlag der Menschheitsgeschichte noch die nukleare Vernichtung des Planeten lassen sich aus der Liste der Möglichkeiten streichen. […] Die Theorie der nahezu totalen, aber nie als Totalität vollendeten Entfremdung bleibt nach wie vor das Gegenstück zur Theorie des totalen Menschen, d. h. des aus der Entfremdung befreiten und durch den Kampf gegen Entfremdung sich realisierenden Menschen. […] Wir stehen gleichsam vor einer Wende – vor einer Wende des Handelns.« (Lefebvre 1965/1975: 341, 345 f., 347, 349)
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französischer Sozialismus
Bakunin
Sorel
Gramsci
Labriola
Proudhon
MerleauPonty
deutsche Philosophie
(Engels) Marx
Korsch
Lukács
Bloch
Lefebvre
englische Nationalökonomie
Lassalle
Kautsky
Adorno
Vulgärmaterialismus d. 18. Jh.
Stalin Bucharin SowjetMarxismus
Althusser Della Volpe Zelený – KapitalAnalyseGruppen in Westdeutschland
Kritische Theorie
Horkheimer
Plechanow
Marcuse
Moses Hess
Adler
dialektische Praxisphilosophie
Stammbaum kritischer Philosophie gesellschaftlicher Praxis. Die Pfeile deuten die im Text behandelten Weiterentwicklungen der Marxschen Theorie an; Doppelpfeile verweisen auf Wechselwirkungen. Die oben am linken und rechten Rand genannten, jedoch im Text nicht eigens behandelten Richtungen zeigen eigentlich die in den Betrachterraum hineinragende dritte Dimension an.
christlichkommunistische Bewegungen
Kropotkin
Anarchismus Syndikalismus
Praxis-Gruppen in Ungarn, Jugoslawien, Polen und in der Tschechoslowakei
Sartre
Philosophie der Praxis
Schautafel
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
Zusammenfassung und Erläuterung des Schaubildes Die Weiterentwicklung der Marxschen Theorie lässt sich als ein Baum darstellen, der, je weiter er in die Höhe wächst, sich gleichzeitig auch in seiner Krone nach allen Seiten hin ausbreitet. Die Wurzel dieses Baumes – dies wurde immer wieder als Bild gebracht – greifen in den französischen Frühsozialismus, die englische Ökonomie und die deutsche Philosophie zurück. Natürlich darf man auch nicht die Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten vergessen, die gemeinsam mit Marx zur Herausbildung der Theorie des Sozialismus als einer revolutionären Geschichtsphilosophie beigetragen haben: so Pierre Joseph Proudhon, Moses Hess, Michail Bakunin, Wilhelm Weitling, Ferdinand Lassalle und schließlich Friedrich Engels, der intimste Freund und Förderer von Marx. Wir haben uns hier in Darstellung und Skizze allein auf das theoretische Zentrum der Weiterentwicklung der »kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis« beschränkt. Daher haben wir die stärker politisch motivierten Strategie-Debatten innerhalb der jungen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende völlig ausgeklammert, obwohl ganz sicher die großen politischen Köpfe der revolutionären Emanzipationsbewegung wie Wladimir I. Lenin, Leo Trotzki, Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek auch wesentliche Denkimpulse zur Wiederbelebung und Weiterentwicklung der Marxschen Theorie beigesteuert haben. Ganz ausgeblendet blieb auch der dogmatische (Vulgär-)Marxismus, der in seiner theoretischen Verfallslinie, bei Georgi W. Plechanow ansetzend, über Nikolaj Bucharin zu Josef W. Stalin führt und hier immer nur als Negativbild ins Gesichtsfeld tritt, insofern sich der philosophische Marxismus Westeuropas von dessen mechanistisch-deterministischen Gesellschafts- und Geschichtsverständnis entschieden abhebt. Ebenso blieb auf der anderen Seite eine eingehendere Diskussion der anarchistisch-syndikalistischen Ansätze ausgespart, also all jene Richtungen, die ausgehend von Georges Sorel und Peter Kropotkin über den Spanischen Bürgerkrieg der 30er Jahre nicht unbedeutend in die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt hinein weiterwirken. 25 Bei unserer Darstellung und Skizze des Stammbaums der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis geht es uns darum, die Vgl. Jan Hoff, Befreiung heute. Emanzipationstheoretisches Denken und historische Hintergründe (2016).
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Zusammenfassung und Erläuterung des Schaubildes
Fortentwicklung der Marxschen Theorie aus ihrem philosophischen Kern heraus deutlich zu machen. Dabei streben die Traditionslinie der Philosophie der Praxis, die sich an der geschichtlichen Perspektive einer revolutionären Praxis orientiert, und die der kritischen Theorie, die sich auf die Kritik der Gesellschaftsverhältnisse konzentriert, in entgegengesetzte Richtungen auseinander – wie man an den Extrempositionen von Sartre und Adorno sehen kann. Sie werden aber immer wieder auch auf das Zentrum dialektischer Praxisphilosophie, das selbst eine eigene Traditionslinie bildet, zurückgeführt – wie die Positionen von Merleau-Ponty und Marcuse zeigen. Allerdings haben wir in unserer Darstellung und Skizze, um diese nicht noch mehr zu komplizieren, zwei weitere Traditionslinien nur am Rande erwähnt, die sich ebenfalls nach zwei unterschiedlichen Richtungen vom Zentrum wegspreizen, gleichsam die Skizze in die dritte Dimension ausweitend. Es sind dies zum einen die der Philosophie der Praxis nahestehenden Ansätze eines kritischen Marxismus in den Staaten Osteuropas, beginnend mit der Gruppe um die Zeitschrift Praxis im ehemaligen Jugoslawien (Gajo Petrović, Mihailo Marković), sodann Adam Schaff in Polen, Karel Kosík in der Tschechoslowakei und schließlich die ungarische Praxis-Gruppe um György Márkus und Agnes Heller in ihren frühen Jahren; sie alle verfolgen eine anthropologisch-existentialontologische Fundierung der Praxisphilosophie. Ihnen gegenüber stehen die KapitalAnalytiker, denen es um eine strukturalistische Fortschreibung der Kritik der politischen Ökonomie angesichts des weiterentwickelten Spätkapitalismus geht; den wohl profiliertesten Ansatz in diese Richtung vertreten Louis Althusser und seine Schüler (Nicos Poulantzas, Etienne Balibar), aber auch die italienische Schule um Galvano Della Volpe muss hier verortet werden und ebenso die Arbeiten des Tschechen Jindřich Zelený sowie die verschiedenen KapitalLektüre-Gruppen in Westdeutschland seit den 70er Jahren 26 und
Heute fortgeführt unter der Bezeichnung »neue Marx-Lektüre«: Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx (1970); Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik (1997); Projektgruppe Entwicklung des Marxschen Systems, Der 4. Band des »Kapital«? (1975); Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition (1991); Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik (2010).
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Traditionslinien des »westlichen Marxismus«
weltweit. 27 Wir konnten jedoch insofern auf diese zusätzlichen Differenzierungen verzichten, als die philosophischen Grundprobleme der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis bereits an der Gegenüberstellung der Philosophie der Praxis und der kritischen Theorie sowie ihrer dialektischen Verschränkung deutlich werden. Mit unserem Baum-Bild möchten wir gerade nicht behaupten, dass nur die dialektische Praxisphilosophie die einzig authentische Fortentwicklung der Marxschen Theorie darstellt, obwohl sie wohl die philosophisch reflektierteste Traditionslinie und das dialektische Orientierungszentrum darstellt, vielmehr meinen wir, dass alle drei behandelten und die beiden eben noch erwähnten Entwicklungslinien zur Entfaltung der Marxschen Theorie in die Gegenwart hinein entscheidend beitragen. Das Ausweiten der Krone nach oben und in alle vier Himmelsrichtungen zeugt vielmehr von der Lebendigkeit dieses Baumes, denn es kann einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis nicht um ein starres Festhalten an Aussagen des Theoriegründers gehen, sondern es muss ihr darum zu tun sein, die sich wandelnden gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart mit Blick auf ein praktisch zu erkämpfendes menschlicheres Zusammenleben der Menschen untereinander und im Einklang mit der Natur als ihrer Lebensgrundlage konkret zu bewältigen. Es gibt gegenwärtig wohl keinen philosophischen oder wissenschaftlichen Ansatz, der differenzierter und konkreter auf die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart zu antworten vermag als die von Karl Marx inaugurierte kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis. Zu ihrer philosophischen Diskussion und praktischen Weiterführung will die vorliegende Studie beitragen.
Vgl. zur weltweiten Diskussion der Kritik der politischen Ökonomie: Jan Hoff, Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965 (2009).
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Zitiert wird im Text und in den Anmerkungen mit Angabe des Autorennamens, des Ersterscheinungsjahres, des Erscheinungsjahres der vorliegenden Ausgabe und Seitenangaben. Bei den vorangestellten Philosophen wird nach den Werkausgaben mit Autorenname, Bandziffer und Seitenangabe zitiert. Marx wird aus der Ausgabe MarxEngels-Werke in 43 Bdn. (MEW) zitiert, jedoch jeweils mit dem oder den Autorennamen (als z. B. Marx 23: 49, oder Engel 20: 311 oder Marx/Engels 3: 13). Kant, Immanuel Werke in 6 Bdn., Wiesbaden 1956 ff. (mit Seitenangaben der Erstausgaben A oder B). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Ausgewählte Werke in 10 Bdn., Darmstadt 1957 ff. (mit Band- und Seitenangabe der Sämtlichen Werke, Stuttgart 1856 ff.). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Werke in 20 Bdn., Frankfurt a. M. 1970. Vorlesungen über Platon (1825–1826), hg. u. eingel. von Jean-Louis VieillardBaron, Frankfurt/Berlin/Wien 1979. Feuerbach, Ludwig Werke in 6 Bdn., Frankfurt a. M. 1975 ff. Marx, Karl/Engels, Friedrich Werke in 43 Bdn. (MEW), Berlin 1956 ff. Kritik der bürgerlichen Ökonomie. Neues Manuskript von Marx und Rede von Engels über F. List, Berlin 1972. Marx, Karl Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt a. M. 1969. Die ethnologischen Exzerpthefte, hg. von Lawrence Krader, Frankfurt a. M. 1976.
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Personenregister
Die kursiv gesetzten Seitenzahlen verweisen auf wörtliche Zitate. Abosch, Heinz 19 Adler, Max 19, 22, 137, 139, 150, 265, 288, 296–298, 306 219 Adorno, Theodor W. 20, 29, 30, 265, 285, 288, 301, 302–304, 305, 319, 321 Ahrweiler, Georg 61 Alexander 39 Althusser, Louis 15, 21, 24, 26, 62, 63, 84, 87, 99, 110, 169, 265, 319, 321 Anders, Günther 281 Anderson, Perry 22, 307 Arendt, Hannah 76 Aristoteles 29 38, 39, 274 Arndt, Andreas 14, 31 Auerbach, Berthold 32 Avineri, Shlomo 44, 56 Axelos, Kostas 165 Backhaus, Hans-Georg 24, 321 Bahr, Hans-Dieter 104, 14 Bahro, Rudolf 104, 144 Bakunin, Michail 43, 319, 320 Balibar, Etienne 21, 24, 99, 110, 265, 321 Basso, Lelio 293 Bauer, Bruno 32, 52, 66, 194 Behrens, Roger 304 Benjamin, Walter 301, 309 Benner, Dietrich 34 Benseler, Frank 309 Bergson, Henri 291 Bernhard, Armin 291 Bernstein, Eduard 18, 287 Bischoff, Joachim 24
Bloch, Ernst 19–22, 36, 47, 50, 134, 149, 152, 165–167, 175, 179, 233, 261, 265, 270, 282, 285, 288, 312– 315, 319 Bloch, Joseph 103, 132 Blumenberg, Werner 32, 69 Böhme, Harald 90 Borkenau, Franz 301 Brinkmann, Heinrich 169 Brunkhorst, Hauke 304 Buckmiller, Michael 307 Bucharin, Nikolai 19, 126, 133, 290, 320 Bude, Heinz 255 Buhr, Manfred 131, 147 Cekić, Miodrag 169 Cerroni, Umberto 64 Chruschtschow, Nikita S. 22 Cieszkowski, Graf August 44, 45 Colletti, Lucio 168 Comte, Auguste 124 Croce, Benedetto 291 Damitz, Ralf M. 255 Dangelmayr, Siegfried 171 Dannemann, Rüdiger 309 Deborin, Abram 126 Demokrit 38, 39 Derbolav, Josef 60 Deutscher, Isaac 19 Dietzgen, Joseph 18 Döbert, Rainer 23 Dubiel, Helmut 299 Dühring, Eugen 92
347 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Personenregister Eberle, Friedrich 115 Eder, Klaus 23 Eidam, Heinz 13 Elbe, Ingo 24, 99, 321 Engels, Friedrich 17, 18, 43, 69, 7679, 82–84, 87, 90, 92–95, 96, 101–103, 110, 124, 125–127, 128, 129, 131– 133, 136–142, 146, 147, 149, 150, 156, 163, 169–172, 183, 184, 186– 188, 190, 194, 207, 208, 222, 225, 250, 262, 263, 265, 276, 284, 286, 287, 303, 308, 313, 319, 320 Erdmann, Johann Eduard 32 Euchner, Walter 72, 99 Fahrenbach, Helmut 315 Fehér, Ferenc 293 Feuerbach, Ludwig 11, 18, 32, 43, 51, 52, 59, 62, 63, 85, 157, 173, 175, 176, 178, 189, 190, 192–195, 205, 211, 212, 214, 217, 222, 225–227, 229, 230, 261 Fetscher, Iring 17, 287 Flechtheim Ossip K. 19 Flego, Gvozden 304, 309, 312 Fleischer, Helmut 14, 23, 26, 50, 171 Fogarasi, Béla 177 Fräntzki, Ekkehard 24, 85, 90 Frank, Manfred 31, 178, 195 Freire, Paulo 125, 292 Fromm, Erich 85, 137, 301 Fulda, Hans Friedrich 109 Garaudy, Roger 157 Gans, Eduard 32 Geiss, Immanuel 127 Gentile, Giovanni 291 Glucksmann, André 19 Godelier, Maurice 99, 129 Goldmann, Lucien 269 Gorz, André 157, 293 Gramsci, Antonio 20, 126, 133, 134, 135, 148, 248, 259, 265, 284, 285, 288, 290–292, 293, 319 Grauer, Michael 222 Grebing, Helga 22
Gröll, Johannes 269 Grossmann, Henryk 298 Grünberg, Carl 298 Günzel, Stephan 295 Habermas, Jürgen 22, 23, 76, 78, 80, 81, 92, 152, 154, 285, 302 Hahn, Erich 81 Hampicke, Ulrich 164 Hartkopf, Werner 151 Hartmann, Klaus 25, 95 Hassenpflug, Dieter 164 Haug, Wolfgang Fritz 14, 25, 99, 135, 171, 291 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 12, 15, 20, 25, 26, 31–36, 37, 38, 39– 40, 41, 42, 43–45, 47, 48, 53, 54–57, 58, 59, 60, 61–63, 65–69, 70–73, 74, 77, 78–80, 83–90, 95, 100, 108, 109, 118, 124, 128, 134, 148, 149, 168, 170, 173, 174–179, 183, 185–193, 194, 195, 196, 197–204, 205, 212– 214, 217, 227, 229, 237, 238, 239, 242, 244, 251, 252, 245, 256–258, 259, 260, 261, 264, 266, 277, 302, 307, 308, 310, 315 Heidegger, Martin 165 Heine, Heinrich 32, 43 Heinemann, Gottfried 222 Heinrich, Michael 24, 99, 321 Heintel, Erich 145, 148, 149, 164, 165 Heintel, Peter 297 Heller, Agnes 24, 137, 269, 285, 293, 321 Hermenau, Frank 166 Hess, Moses 32, 43, 45, 52, 319, 320 Heydorn, Heinz Joachim 141, 142, 269, 322 Hillmann, Günther 31 Hinrichs, Hermann W. 32 Hobbes, Thomas 55, 225 Hoernle, Edwin 137 Hörz, Herbert 147 Hoff, Jan 320, 322 Holz, Hans Heinz 152, 166, 169, 312 d’Holbach, Paul Henri Thiry 225 d’Hondt, Jacques 46, 332
348 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Personenregister Honneth, Axel 22, 302 Horkheimer, Max 20, 30, 285, 288, 296, 298–301, 319 Horster, Detlef 109 Hülsmann, Heinz 171 Hülsewede, Manfred 39 Hyppolite, Jean 57 Ilting, Karl-Heinz 57 Immler, Hans 28, 279, 282 Israel, Joachim 89 Jaeggi, Urs 22 Janke, Wolfgang 220 Jay, Martin 298 Jungnickel, Jürgen 102, 160 Kammler, Jörg 309 Kanitz, Otto Felix 137 Kant, Immanuel 11, 29, 55, 220, 224, 232, 253, 254, 256, 262 Karsz, Saül 169 Kautsky, Karl 18, 102, 124, 146, 287, 319 Kimmerle, Heinz 109 Klaus, Georg 131, 147 Klenke, Claus-Volker 304 Kluge, Alexander 137, 269 Koch, André 255 Koch, Gertrud 304 Koeppen, Carl Friedrich 32 Kofler, Leo 24 Kolakowski, Leszek 17 Konersmann, Ralf 12 Korsch, Karl 14, 19, 21, 22, 53, 68, 98, 258, 265, 282, 288, 306, 307–308, 319 Kosik, Karel 24, 78, 285, 293, 321 Krader, Lawrence 128, 129 Krahl, Hans Jürgen 120 Kramer, Annegret 135 Kropotkin, Peter A. 319, 320 Kudszus, Hans 302 Kugelmann, Ludwig 102, 128 Labriola, Antonio 18, 19, 22, 26, 259, 265, 284, 288–290, 293, 306, 319
Lafargue, Paul 287 La Mettrie, Julien Offroy de 225 Lange, Friedrich Albert 128 Lassalle, Ferdinand 18, 319, 320 Lefebvre, Henri 19, 20–21, 29, 50, 76, 87, 97, 118, 134, 137, 143, 149, 167, 172, 179, 234, 248, 259, 269, 270, 282, 285, 288, 312, 315–318, 319 Lefort, Claude 293 Lehmann, Johann Georg 304 Lenin, Wladimir I. 18, 21, 22, 109, 146, 248, 287, 291, 320 Lessing, Gotthold Ephraim 32 Lichtblau, Klaus 71, 89 Locke, John 225 Löbig, Michael 73 Löwenstein, Julius I. 22 Löwenthal, Leo 301 Löwith, Karl 40 Lukács, Georg 19, 20, 22, 23, 26, 31, 52, 78, 90, 91, 148, 154, 234, 248, 259, 263, 285, 288, 294, 306, 308– 312, 314, 315, 319 Luporini, Cesare 168 Luxemburg, Rosa 18, 21, 118, 248, 287, 320 Mader, Johann 31, 40 Mandel, Ernest 74, 99, 101, 111, 117, 118, 268 Mao Tse-Tung 124 Marcuse, Herbert 19, 20–22, 24, 53, 56, 90, 149, 165, 248, 259, 270, 285, 288, 298, 301, 302, 304–306, 319, 320 Marković, Mihailo 23, 285, 293, 321 Márkus, György 24, 285, 293, 321 Marx, Karl (nur wörtliche Zitate) 11, 26, 30, 31, 34–38, 40–42, 44–54, 56, 58–68, 74, 75, 76–93, 97, 100–102, 105–108, 110–117, 119, 120, 121– 130, 134–143, 147, 150–157, 159, 160–163, 167, 169–178, 184193, 194–204, 205–216, 218–220, 222, 224–232, 237, 241–245, 250–253, 257, 258, 261–264, 266, 267, 269, 279, 308, 319
349 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Personenregister Mattick, Paul 248, 336 Mehring, Franz 103 Mehringer, Hartmut 18, 132 Meillassoux, Claude 269 Mercier-Josa, Solange 45 Mergner, Gottfried 18, 132 Merleau-Ponty, Maurice 19, 20, 149, 259, 288, 293–296, 307, 319, 320 Mészáros, Istvan 89, 309 Methe, Wolfgang 157 Michelet, Carl Ludwig 32 Mill, John Stuart 69 Morgan, Lewis H. 128 Morus, Thomas 256 Müller, A. M. Klaus 165 Müller, Horst 14, 26, 269 Müller, Manfred 101 Müller-Schöll, Ulrich 315 Münster, Arno 248 Negt, Oskar 19, 124, 126, 137, 146, 269 Nikitic, Ljudmila Aleksandrovna 289 Oppens, Kurt 302, 244 Pannekoek, Anton 146, 287, 320 Petrović, Gajo 23, 237, 285, 293, 321 Pfabigan, Alfred 297 Platon 38, 224, 255, 256, 262, 274– 276, 282 Plechanow, Georgi W. 18, 225, 284, 287, 289, 319, 320 Pohrt, Wolfgang 111, 269 Popitz, Heinrich 85 Popper, Karl Raimund 255 Post, Werner 52 Pozzoli, Claudio 248 Proudhon, Pierre Joseph 69, 87, 319, 320 Rabehl, Bernd 23, 146, 248 Rancière, Jacques 26 Reich, Wilhelm (Parell, Ernst) 21, 137, Reichelt, Helmut 24, 99, 321 Reinicke, Helmut 120, 152, 312
Reitter, Karl 24 Ricardo, David 69 Richter, Helmut 43 Riechers, Christian 291 Riedel, Manfred 34, 57, 71, 312 Ritter, Joachim 54 Röd, Wolfgang 104 Romøren, Elisabet 157 Romøren, Tor Inge 157 Rosdolsky, Roman 20, 101 Rosen, Zvi 45, 52, 299 Rosenkranz, Johann Karl 32 Rosenthal, M. M. 99 Rosenzweig, Franz 56 Rossanda, Rossana 293 Rousseau, Jean-Jacques 32, 55, 61, 256, 262 Rubel, Maximilian 18, 32 Ruben, Peter 24 Rubin, Isaak Iljitsch 99 Rühle, Otto 21, 137 Ruge, Arnold 32, 43, 45, 47, 52 Rutenberg, Adolf 31, 32 Sandkühler, Hans-Jörg 22, 146, 147 Sartre, Jean Paul 20, 137, 148, 285, 288, 293–296, 319, 321 Say, Jean-Baptist 69 Sbarberi, Franco 289 Schaff, Adam 293, 321 Schafstedde, Maria 304 Schelling, Friedrich, Wilhelm Joseph 11, 15, 31, 34, 41, 149, 151, 166, 178, 195, 261, 313 Schiller, Friedrich 220 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 81 Schmidt, Alfred 24, 99, 148, 157, 158, 161, 299 Schmied-Kowarzik, Anatol 9 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Publikationsverweise) 12–15, 22, 28, 31, 34, 50, 81, 87, 89, 98, 125, 129, 136, 137, 145, 149, 151, 152, 157, 165, 171, 178, 183, 184, 184, 195, 220, 222, 224, 237, 239, 255,
350 https://doi.org/10.5771/9783495817469 .
Personenregister 261, 273, 276, 279, 280, 282, 284, 292, 304, 309, 312, 313, 315 Schneider, Elke 12 Schweppenhäuser, Gerhard 302, 315 Schweppenhäuser, Hermann 302 Seiffert, Johannes Ernst 269 Shibata, Shingo 26, 270 Siemek, Marek J. 239 Smith, Adam 69 Sobotka, Milan 46 Sohn-Rethel, Alfred 21, 22, 96, 109, 154, 165, 301 Sokrates 38, 224 Sonnemann, Ulrich 253, 302, 304 Sorel, Georges 18, 287, 289, 291, 319, 320 Stachowiak, Herbert 284 Stalin, W. I. 19, 20, 124, 127, 225, 276, 284, 290, 302, 319, 320 Stederoth, Dirk 166 Stein, Lorenz 72, 73, 95 Stiehler, Gottfried 12 Stirner, Max 32, 140 Strauß, David 194 Suhr, Martin 294 Theunissen, Michael 34 Thompson, Edward P. 281 Thomson, George 124 Tomberg, Friedrich 158, 159, 161 Trabert, Lukas 16 Trotzki, Leo 18, 19, 21, 248, 287, 291, 320
Tuchscheerer, Walter 74 Turki, Mohamed 294 Ullrich, Otto 165 Vieillard-Baron, Jean-Louis 38 Volpe, Galvano della 20, 21, 24, 319, 321, 344 Voltaire (Aronet, François-Marie) 32 Voßkühler, Friedrich 269 Vranicki, Predrag 17, 23, 24, 287 Vrtačič, Ludvik 24 Wagner, Adolph 103 Warsitz, Rolf Peter 304 Weber, Gerda 19 Weber, Hermann 19 Weitling, Wilhelm 69 Weiß, Johannes 273 Wellmer, Albrecht 23, 152, 302 Wewel, Meinolf 11 Wiggershaus, Rolf 302 Willms, Bernhard 302 Wittfogel, Karl August 21, 150, 298 Woesler, Christine 154 Wolf, Dieter 25, 31, 99, 109 Wolf, Frieder Otto 25 Wygodski, Witali S. 101 Zelený, Jindřich 21, 24, 99, 319, 321 Zimmermann, Rainer 312 Zimmermann, Rolf 169 Zimmermann, Wolfgang 307
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