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German Pages 578 [579] Year 2022
Theologische Akzente Veröffentlichungen der Augustana-Hochschule Neuendettelsau Band 10
Daniel Hoffmann / Tobias Jammerthal / Michael Pietsch / Johannes Weidemann (Hrsg.)
Theologische Aufbrüche Perspektiven für Theologie und Kirche im 21. Jahrhundert
Festschrift 75 Jahre Augustana-Hochschule
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042672-6 E-Book-Format: pdf: 978-3-17-042673-3 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt Inhalt
Inhalt
Vorwort und Einleitung ........................................................................................
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Aspekte aus kirchenleitender Sicht HEINRICH BEDFORD-STROHM Theologie, Kirche und Staat Zum Spannungsfeld öffentlicher Religion .........................................................
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BEATE HOFMANN Thesen zum Verhältnis von Theologie und Kirche(nleitung) von einer Seitenwechslerin ..................................................................................
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ANNEKATHRIN PREIDEL Theologische Geistesgegenwart in der Krise Gedanken zur Zukunft einer Hochschule der Kirche ......................................
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STEFAN REIMERS Kirchliche Interessen und ein selbstbewusstes Gegenüber Überlegungen zur Augustana-Hochschule in Zeiten des Umbruchs ............
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HANS-PETER HÜBNER Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Deutschland ..................................................
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Exegetische Aspekte MICHAEL PIETSCH „Menschlich muß man die Bibel lesen …“ Vom Nutzen der Kritik der ‚Heiligen Schrift(en)‘ für Theologie und Kirche
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CHRISTIAN ROSE Pastor narrans Überlegungen zum Rollenverständnis von Pfarrer:innen im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Theologie und kirchengemeindlichem Alltag ............................................................................. 117
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Inhalt
DANIEL HOFFMANN Exegese als gegenkulturelle Praxis Über den aktuellen und künftigen Nutzen einer klassischen theologischen Arbeitsweise ............................................................ 135 STEFAN SEILER Sprachwelten als Denkwelten Zur Rolle der hebräischen Sprache im Kontext des Theologiestudiums ..... 155 KATHY EHRENSPERGER Jüdische Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels zwischen Juden und Christen Forschungsgeschichtliche Aspekte ..................................................................... 175 WOLFGANG KRAUS „Das Neue Testament – jüdisch erklärt“ Zur deutschen Ausgabe des „Jewish Annotated New Testament“ ................ 187 MARKUS MÜLKE Auf ein „Wort“: Zu Joh 1,1 im frühchristlichen Latein Über das unverzichtbare Übersetzen des Evangeliums aus dem Griechischen ........................................................................................... 205 CLAUDIA JANSSEN „Die andere Frage stellen“ Eine intersektionale Perspektive auf den Brief an die Gemeinde in Rom .... 231 UTA SCHMIDT Was ist eigentlich normal? Eine kleine Geschichte der feministischen und gender-gerechten Exegese
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Historische Aspekte TOBIAS JAMMERTHAL / GURY SCHNEIDER-LUDORFF Warum eine kirchliche Hochschule? Beobachtungen zur Entstehung der Augustana-Hochschule ......................... 271 VOLKER LEPPIN Theologie zwischen Kirche und Universität Perspektiven aus der Vergangenheit und für die Gegenwart ........................ 289
Inhalt
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CHRISTOPH STROHM Kulturwirkungen des Christentums als Thema kirchengeschichtlicher Forschung im 21. Jahrhundert ............................................................................. 309
Systematisch-theologische und philosophische Aspekte CHRISTOPH ASMUTH Sinngebung des Sinnlosen Überlegungen zum Aufbruch der Philosophie in der Moderne ..................... 325 MARKUS BUNTFUß Zur theologischen Urteilskraft in der Mehrfachdauerkrise ........................... 337 JOHANNES WEIDEMANN „Ein Teil dieser Antworten würde das Kirchenvolk verunsichern“ Verunsicherung als Aufgabe von Theologie und Kirche ................................. 349 REIMER GRONEMEYER Abschied von der Kirche, wie wir sie kannten .................................................. 369 WOLFGANG SCHÜRGER Theologie im Zeitalter des Anthropozäns – brauchen wir eine ökologische Reformation? .................................................................................... 377
Praktisch-theologische Aspekte SONJA KELLER Kirche und Diakonie 2030 Sechs Thesen zu gemeinsamen Entwicklungsperspektiven ........................... 403 ANDREAS SCHMIDT „Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der Augustana-Hochschule ......................................................................................... 415 KONRAD MÜLLER Theologie – Kirche – Wissenschaft ..................................................................... 427 ARND GÖTZELMANN Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge ................................ 447
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Inhalt
REGINA FRITZ Drei Bildungsphasen – ein Pfarrberuf Zur Aufgabe theologischer Bildungsprozesse ................................................... 473 SABRINA WILKENSHOF Machen ist wie wollen – nur krasser .................................................................. 489 BARBARA STÄDTLER-MACH Evangelische Hochschule für angewandte Wissenschaft Aspekte zu einem eigenständigen Hochschultyp aus der Sicht einer Hochschulleitenden .................................................................................... 493 MATHIAS HARTMANN Theologie als Dialogpartnerin der Diakonie in Transformationsprozessen
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Interkulturelle und ökumenische Beiträge MARTIN KIRSCHNER / KONSTANTIN KAMP Ökumenische Theologie als gemeinsames Zeugnis der Hoffnung in den Brüchen der Zeit ........................................................................................ 525 KARLA ANN KOLL To Speak of the Reformation from Latin America Intercontextuality in the Sixteenth Century and Today ................................ 545 HEIKE WALZ „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“ Tanz als Embodiment-Spiritualität: Chance für interreligiöses Lernen ....... 553 Verzeichnis der Beitragenden ............................................................................. 575
Vorwort und Einleitung
Vorwort und Einleitung Vorwort und Einleitung
Die Augustana-Hochschule feiert im Jahr 2022 ihr 75-jähiges Bestehen. Das am 7. Mai 1947 von der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern beschlossene Kirchengesetz über die Errichtung einer Theologischen Hochschule in Neuendettelsau-Heilsbronn legte die Grundlage für den Aufbau und die offizielle Eröffnung der Augustana-Hochschule am 10. Dezember 1947.1 Obwohl Kirchliche Hochschulen in der Nachkriegszeit vornehmlich mit dem Interesse gegründet wurden, der Ausbildung an staatlichen Fakultäten ein kirchliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, führte die spätere Entwicklung dazu, dass sie sich selbst vor allem als wissenschaftliche Einrichtungen und nicht nur als kirchliche Institutionen verstanden. Von Anfang an wurde so auch an der Augustana-Hochschule wissenschaftliche Theologie betrieben. Entsprechend war und ist sie eine den staatlichen theologischen Fakultäten vollwertig gleichgestellte Einrichtung, die seit dem Jahr 1990 auf Beschluss des Bayerischen Landtags hin das volle Promotions- und Habilitationsrecht innehat und ausübt. Sie ist damit nicht nur eine Stätte zur Ausbildung künftiger Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern eine Einrichtung zur Bildung von selbstständigen, kritischen und kompetenten Theologinnen und Theologen, was durch die Akkreditierung des Studiengangs Evangelische Theologie (Kirchliches Examen) von 2015 und dessen Reakkreditierung von 2019 bestätigt wurde. Die Augustana-Hochschule hat mithin nicht die Aufgabe, eine „mundgerechte Theologie“ für die Bedürfnisse der Kirche bereitzustellen, sondern es verhält sich so, dass sie, gerade indem sie freie, kritische und wissenschaftliche Arbeit leistet, an der Bildungsfunktion und dem Bildungsauftrag der Kirche partizipiert. Dies schließt ein, dass das Leben und Lernen auf dem Campus in enger Beziehung zu Glaube, Spiritualität und kirchlicher Praxis geschieht. In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Augustana hat Fulbert Steffensky zu bedenken gegeben, dass das Studium der evangelischen Theologie an staatlichen Fakultäten in der Regel eine Wissenslandschaft biete, mehr jedoch nicht.2 Dieses „Mehr“ fordert er von einer kirchlichen Campus-Hochschule und 1
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Zur Geschichte der Hochschule vgl. den Beitrag von Gury Schneider-Ludorff und Tobias Jammerthal in diesem Band (S. 271–288) und die dort angegebene bisher erschienene Literatur. Vgl. FULBERT STEFFENSKY: Experiendo fit Theologus (M. Luther), in: Theologie auf dem Campus. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, hg. von JÖRG DITTMER im Auftrag der Gesellschaft der Freunde der Augustana-Hochschule, Neuendettelsau 1997, 100–106, 100.
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sieht es in folgenden drei Punkten realisiert: „Konvivalität, spirituelle Landschaft und Kirchenbezug der Theologie.“3 Das intensive Zusammenleben ist nach wie vor das Markenzeichen der Augustana. Meist sind es die (Ferien-) Sprachkurse4, die junge Menschen aufs mittelfränkische Land locken und in denen dann die Bande fürs theologische Leben geknüpft werden. Das gemeinsame Lernen in den Kursen, Vorlesungen und Seminaren, das Diskutieren in der Mensa beim gemeinsamen Mittagessen, die Gespräche zwischendurch in der Bibliothek, den Stockwerksküchen der Wohnheime oder auf dem Grün des Campus und natürlich das jeden Mittwochabend geöffnete Kommunikationszentrum Waldstraße (kurz: Bar) prägen die Konvivalität des Campus. Man lebt und lernt in Gemeinschaft. Die Schwelle zu Dozierenden und Professorinnen und Professoren ist niedrig. Man läuft sich nicht nur immer wieder über den Weg, sondern redet, lebt und feiert miteinander. Zum gemeinsamen Leben gehören die fest im Semesterkalender und im wöchentlichen Rhythmus verankerten Gottesdienste und Andachten wie der Hochschulgottesdienst am Sonntag in St. Laurentius, die Wochenspruchauslegung am Montagmittag und die Abendmahlsfeier am späten Donnerstagabend in der Kapelle auf dem Campus. Hinzu kommen weitere vor allem von Studierenden getragene Formate wie z. B. Lobpreisabende oder liturgische Abendgebete. Unvermeidlich und für die eigene spirituelle Praxis förderlich ist dabei, dass man an der Augustana auch mit jenen Formaten konfrontiert wird, die der eigenen Frömmigkeit nicht entsprechen. Man diskutiert und ringt darum, welche Abendmahlsform die richtige ist, welche Lobpreislieder theologisch vertretbar sind und wie viel Politik in der Predigt vorkommen darf. Aber nach allem Streiten und Ringen kommt man in der Kapelle zusammen und singt, betet und teilt Brot und Kelch.5 Neben Konvivalität und der spirituellen Landschaft fordert Steffensky schließlich noch die Kirchlichkeit der Theologie. Er meint damit eine Theologie, die „Optionen hat und Subjekte kennt, auf die hin sie denkt und ihre Theologie treibt“6. Er fährt fort: „Ich könnte mir den Campus mit seiner Theologie riskanter vorstellen als die Theologie der Universitäten, irrtumsfähiger, weil er sich einmischt, und zugleich wahrheitsfähiger, weil er sich einmischt. Ich wünsche, die Campustheologie wäre eine Laus im Pelz der Kirche. Ich wünsche nicht, daß sie ein Instrument der Kirche wird.“7 3 4
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Ebd. Vgl. zu den Sprachkursen JÖRG DITTMER: „Beim Zeus!“ – oder: Die Theologie und die alten Sprachen. Erfahrungen mit Griechisch und Latein an der Augustana-Hochschule, in: Augustana-Journal. Informationen aus Hochschule und Stiftung 2018/19, 22–27. Steffensky meint: „Zur Spiritualität gehört das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit“ (STEFFENSKY: Experiendo [s. Anm. 2], 105). Das wird an der Augustana sehr gut erfahrbar. A. a. O., 105f. A. a. O., 106.
Vorwort und Einleitung
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Bei aller Freiheit, die die Landeskirche der Augustana gewährt, und bei der engagierten Beteiligung der Studierenden am Campus-Leben, kommt dieser kritische Kirchenbezug immer wieder zum Tragen.8 Gleichwohl ist auch an der Augustana all das spürbar, was uns in Kirche und Theologie momentan beschäftigt. Die Corona-Pandemie hat den Umbruch, dem wir gegenwärtig ausgesetzt sind, noch verschärft. Seien es der Traditionsabbruch, der Rückgang von Kirchenmitgliedern und die zunehmende Selbstverständlichkeit der Konfessionslosigkeit – all das spiegelt sich auch an unserer Hochschule wider und hat gravierende Folgen für Leben, Studieren und Lehren in Neuendettelsau. Steffenskys zum 50-jährigen Jubiläum formulierte Wünsche und Ansprüche bleiben somit auch am 75. Geburtstag hochaktuell. Wir halten an unserem Geburtstag inne, denken nach und entwerfen Visionen von dem, wie das von Steffensky zu Recht geforderte „Mehr“ von Kirche und Theologie zukünftig aussehen könnte9 – an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, aber auch an anderen Orten theologischer Reflexion und Praxis. Dabei wissen wir uns gut vernetzt mit den anderen Theologischen Fakultäten und kirchlichen Institutionen. Der vorliegende Band ist insofern keine klassische Jubiläumsfestschrift, als dass die Augustana-Hochschule als Jubilarin nur in wenigen Beiträgen selbst zum Untersuchungsgegenstand wurde. Freilich nehmen wir damit eine in den Beginn der ‚Augustana-Memoria‘ reichende Tradition auf: Bereits die von Wilhelm Andersen herausgegebene Festgabe zum zehnten Jubiläum der Hochschule versammelte vor allem Beiträge, welche aus dem laufenden Betrieb dieser akademischen Einrichtung in kirchlicher Trägerschaft erwachsen waren und die Augustana als Ort theologischer Wissenschaft dadurch portraitierten, dass sie theologische Wissenschaft betrieben.10 Daran möchten wir mit der Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum anknüpfen – und zugleich den Blick weiten: Dass zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter anderer Fakultäten und Hochschulen innerhalb und außerhalb Bayerns den runden Geburtstag unserer Hochschule zum Anlass nehmen, um über theologische Aufbrüche nachzudenken, zeigt nicht zuletzt, wie selbstverständlich die Augustana inzwischen am interinstitutionellen und interfakultären Gespräch teilnimmt. Im Folgenden blicken wir deshalb gemeinsam mit unseren Gesprächspartnerinnen und Ge8
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Einen guten Eindruck vom aktuellen Leben an der Augustana-Hochschule vermitteln die Mitteilungen auf der Homepage der Hochschule (www.https://augustana.de/start.html [letzter Zugriff am 17.09.2022]), einen Eindruck vom Leben vor der Corona-Pandemie die Augustana-Journale (einsehbar unter: https://augustana.de/dokumenten-server/schrif ten-der-ahs.html [letzter Zugriff am 17.09.2022]). Vgl. dazu noch einmal Steffensky: „Ich glaube nicht, daß man hauptsächlich durch Denken ein Theologe oder eine Theologin wird. Man muß auch Optionen und Wünsche lernen. Man muß auch Räume kennenlernen, in denen man Optionen und Wünsche gestalten kann“ (STEFFENSKY: Experiendo [s. Anm. 2], 106). WILHELM ANDERSEN (Hg.): Das Wort Gottes in Geschichte und Gegenwart. Theologische Aufsätze von Mitarbeitern an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Herausgegeben anläßlich des 10. Jahrestages ihres Bestehens am 10. Dezember 1957, München 1957.
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Vorwort und Einleitung
sprächspartnern in Kirche und Theologie frohen Mutes in die Zukunft und suchen die theologischen Aufbrüche, die vor uns liegen und zu denen insbesondere die Augustana mit ihrem Jubiläum anregen will. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre instruktiven Beiträge und für die Verbundenheit mit der Augustana, die darin zum Ausdruck kommt. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung sind wir der AugustanaHochschulstiftung, den Freundinnen und Freunden der Augustana-Hochschule und der Sparkasse Ansbach sehr verbunden. Besonders zu Dank verpflichtet sind wir Andrea Töcker für die Erstellung der Druckvorlage. Ohne ihren scharfen Blick, ihre unermüdliche Arbeit und ihr beharrliches Drängen wäre die Festschrift nicht rechtzeitig und formvollendet fertig geworden. Schließlich sei Dr. Sebastian Weigert vom Kohlhammer Verlag für die gute und unkomplizierte Zusammenarbeit herzlich gedankt. Neuendettelsau zu Erntedank 2022 Daniel Hoffmann, Tobias Jammerthal, Michael Pietsch, Johannes Weidemann
Aspekte aus kirchenleitender Sicht
Theologie, Kirche und Staat
Theologie, Kirche und Staat
Zum Spannungsfeld öffentlicher Religion
HEINRICH BEDFORD-STROHM Heinrich Bedford-Strohm
1.
Vom Katheder zur Kanzel zum Rathaus
Eberhard Bethge hat einmal die Theologie seines Freundes Dietrich Bonhoeffer mit drei Begriffen charakterisiert: „Katheder, Kanzel und Rathaus“ – so Bethge – entdeckten in der Theologie Bonhoeffers „ihre unlösbare Beziehung“.1 Das Katheder, an dem Theologie an den Universitäten entwickelt und gelehrt wird, ist eine wichtige reflexive Grundlage für das Handeln der Kirche. Wer von der Kanzel her spricht, muss sich immer wieder der kritischen Reflexion dessen stellen, was er verkündet. Diese Reflexion hat ihren besonderen Ort an den Universitäten. Gleichzeitig entfaltet Theologie ihre eigentliche Wirksamkeit nicht in den damit verbundenen akademischen Diskursen, sondern mit der Kirche in einer Institution, die nicht nur über zwei Jahrtausende die Quellen, aus denen die Theologie schöpft, bis heute durch die Zeiten getragen hat, sondern ihre Reflexionserträge auch in der Gegenwart dort einbringt, wo sie in besonderer Weise zu konkreten Konsequenzen führen. Die Kirche kann dafür auf ein unvergleichliches weltweites Netzwerk von lokalen Gemeinschaften zurückgreifen, die alle miteinander im Horizont des Reiches Gottes zu leben versuchen. Und was noch viel wichtiger ist: Sie verankert das, was Theologie erarbeitet, nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen der Menschen, ja durch die Praxis der Frömmigkeit in den Tiefen der Seele. Der Weg vom Katheder zur Kanzel ist also von entscheidender Bedeutung. Wo der Weg aber vom Katheder zur Kanzel führt, da kann er gar nicht anders als sich fortzusetzen hin zum Rathaus. Wer Theologie im Herzen hat, der wird auf den Kanzeln und in den Gemeindehäusern davon sprechen, der wird aber auch mit Leidenschaftlichkeit und Sachlichkeit in die Rathäuser und Regierungsbüros gehen, er wird in die Mikrophone der Journalisten hineinsprechen und er wird davon erzählen, welche Kraft in der reichen Tradition des Christentums steckt und welch lebensfreundliche Orientierungen davon für die Welt von heute ausgehen. 1
EBERHARD BETHGE: Dietrich Bonhoeffer – Der Mensch und sein Zeugnis, in: DERS. (Hg.): Die Mündige Welt Bd. II, München 1956, 92–103, hier: 103.
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2.
Heinrich Bedford-Strohm
Theologie zwischen Kirche und Staat
Glaube, Theologie und globale Gesellschaft stehen in engem Zusammenhang zueinander. Natürlich muss Glaube theologisch verantwortet sein. Und natürlich hat Theologie, will sie nicht bloße Religions- oder Kulturwissenschaft sein, die Aufgabe, die innere Logik des Glaubens soweit mitzugehen, dass sie verstehbar und dann auch erst wirklich kritisch reflektierbar wird. Auch dass ein Zugang zu Glaube und Theologie nie ein provinzieller sein kann, sondern den globalen Horizont braucht, ist jedenfalls dann eine Selbstverständlichkeit, wenn wir wirklich von Gott als dem Schöpfer des Himmels und der Erden sprechen und nicht als einem Stammesgott, dessen Horizont nicht über den lokalen Kontext hinausreicht. Wer über den Zusammenhang der drei Begriffe auf dem Hintergrund heutiger Lebenswelten zwischen Staat, Kirche und Universität nachdenkt und dabei die eigene Lebenswelt in einen weltweiten Horizont einordnet, merkt schnell, wie wenig selbstverständlich die jeweilige Zuordnung der Begriffe zueinander ist. Was bedeutet es, dass theologische Fakultäten in Deutschland, anders als in den meisten Ländern der Welt, öffentlich finanziert werden? Heißt es, dass der Staat hier – letztlich in Verletzung seiner weltanschaulichen Neutralität – historisch gewachsene Privilegien einer Religionsgemeinschaft in lediglich etwas modernisierter Form aufrechterhält? Oder wird er genau dadurch dem Anspruch einer aufgeklärten weltanschaulichen Neutralität gerecht? Und muss er dann aber genau darauf achten, dass in einer öffentlichen Bildungseinrichtung auch wirklich Wissenschaft getrieben wird und nicht Kirche mit anderen Mitteln? Denn das Amt eines Professors an einer öffentlichen Universität steht ja für die universitas, für den wissenschaftlichen Diskurs ohne dogmatische Denkvorgaben, für die Suche nach der Wahrheit, die sich weder durch Bekenntnisvorgaben noch durch äußere religiöse Autoritäten einschränken lässt. Und dieses Amt steht im Dienste eines demokratischen Staates, der sich als Organisationsform einer pluralistischen Gesellschaft gerade nicht mehr auf bestimmte religiöse Bekenntnisse gründen kann. Umgekehrt kann man fragen, ob die Kirche sich überhaupt darauf einlassen soll, die Ausbildung ihres inhaltlich prägenden Personals einem Ort zu überlassen, der so weit weg von ihren eigenen formativen Gemeinschaftskontexten liegt. In den meisten Ländern der Welt wird diese Frage mit Nein beantwortet. Die seminaries, in denen die Theologinnen und Theologen ausgebildet werden, werden von den Kirchen selbst getragen und sind nur bedingt eingeordnet in das Selbstverständnis und die daraus erwachsende innere Logik öffentlicher Universitäten. Das gilt für Kirchliche Hochschulen wie die Augustana-Hochschule in Neuendettelsau grundsätzlich auch. Nicht aber gilt es für den wissenschaftlichen Anspruch. Mit guten Gründen bekommt die Augustana staatliche Förderung, denn selbstverständlich will sie sich ebenso an den Qualitätsmaß-
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stäben wissenschaftlicher Theologie messen lassen wie die Theologischen Fakultäten an den öffentlichen Universitäten. Die Frage, wie die Kirchen ihre theologische Ausbildung im Schnittfeld zwischen Staat und Kirche organisieren, hängt zum einen von dem Selbstverständnis der Kirchen ab. Viele Pfingstkirchen weltweit etwa würden es emphatisch ablehnen, ihre theologische Ausbildung an staatlichen Universitäten zu platzieren, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Denn sie müssten damit akademische Maßstäbe für sich gelten lassen, die ihrem Selbstverständnis weithin widersprechen. Aber auch in Deutschland ist, insbesondere im römisch-katholischen Bereich, unter dem Stichwort ‚Entweltlichung‘ die theologische Ausbildung an staatlichen Fakultäten unter Rechtfertigungsdruck geraten. In den Tiefendimensionen steckt hinter den damit verbundenen Anfragen auch ein bestimmtes Verständnis von kirchlichem Lehramt und seinem Verständnis von Vernunft. Die Existenz von Theologie an öffentlichen Universitäten ist aber natürlich auch von Politik und Gesellschaft aus unter Druck geraten. Je nachdem, welchen Ort man der Religion in Staat und Gesellschaft zumisst, kommt man zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Eine zivilreligiöse Begründung des Staates etwa würde nahelegen, dass Religion durchaus an öffentlichen Universitäten gelehrt wird, da Religion als wichtiger gesellschaftlicher Kitt gelten kann. Theologie aber würde in dieser Sicht keinen öffentlichen Ort beanspruchen können. Denn sie lässt sich ja, will sie wirklich Theologie sein, gerade nicht staatlich funktionalisieren. Vielmehr kann sie den staatlichen Akteuren – je nach inhaltlicher Frage – auch betont kritisch gegenüberstehen. In der Ziellinie eines zivilreligiösen Verständnisses liegen eher religionswissenschaftliche Fakultäten, wie sie etwa in den USA weit verbreitet sind. Ein Verständnis der Rolle von Religion als Grundlage einer Leitkultur, wie sie etwa in der jetzt wieder eine Renaissance erlebende Rede vom ‚Christlichen Abendland‘ zum Ausdruck kommt, würde nahelegen, dass eine bestimmte Religion, in diesem Fall die historisch kulturprägende christliche Religion, einen hervorgehobenen Ort an öffentlichen Fakultäten hat. Dass Theologie an staatlichen Universitäten gelehrt wird, wäre dann Ausdruck des Willens zur Stärkung der eigenen, zutiefst von der christlichen Religion geprägten kulturellen Grundlagen. Auch anderen Religionen einen ähnlichen Status zu geben, würde von einem solchen Verständnis her unter Verdacht geraten und jedenfalls eher defensiv, nicht aber offensiv unterstützt werden. Wir finden dieses Verständnis überall da, wo die Betonung der ‚christlichen Werte‘ und ihre Verortung im ‚christlichen Abendland‘ eine zentrale Rolle spielt. Charakteristisch für diesen Begründungsansatz ist, dass er, selbst da, wo er das Faktum des Pluralismus anerkennt, diesen Pluralismus auf homogene Kulturzusammenhänge gründet, deren Infragestellung als Bedrohung der Demokratie empfunden wird. Das Stichwort von der ‚christlichen Leitkultur‘, das seit Jahren für heftige Debatten sorgt, kann als Ausdruck eines solchen Verständnisses gesehen werden.
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Heinrich Bedford-Strohm
Ein Verständnis der Rolle von Religion als rein private Angelegenheit, die im Raum der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat, führt zu einem ganz anderen Ergebnis. Theologische Fakultäten an öffentlichen Universitäten gehören von einem solchen Modell her auf den Müllhaufen der Geschichte. Die Privatisierung der Religion, das Verdrängen der Religion aus der Öffentlichkeit ist das Ziel von laizistischen Modellen, die Religion in Spannung zum Diskurs der Vernunft sehen und sie daher in die Nischen ihrer jeweiligen religiösen Gemeinschaften abdrängen wollen. Prototyp dieses Modells ist die französische laicité. Vieles ist gegen dieses Modell einzuwenden. Indem ich die Einwände andeute, führe ich bereits hin zu dem Modell, das nach meiner Überzeugung nach wie vor das einleuchtendste ist. Religionsfreiheit gewährleistet ja, richtig verstanden, nicht das Recht, von der Religionsausübung anderer unberührt zu bleiben. Richtig ist, dass Religion eine höchstpersönliche Sache ist, nicht aber eine ‚Privatsache‘ in dem Sinne, dass man sie in das ‚stille Kämmerlein‘ verbannen dürfte. Es gibt schlicht und einfach überhaupt keinen vernünftigen Grund für den Staat, philosophisch begründete Weltanschauungen gegenüber religiösen Weltanschauungen zu bevorzugen. Der Staat, will er wirklich weltanschaulich neutral sein, muss beidem, im öffentlichen ebenso wie im privaten Leben, Raum geben. Dazu kommt ein Argument, das die Wirkungen auf die gesellschaftliche Kultur betrifft: die Privatisierung von Religion fördert nicht Toleranz und Offenheit für die Vielzahl verschiedener Konzeptionen des Guten in einer Gesellschaft, sondern sie hemmt sie oder verhindert sie möglicherweise sogar. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Religion fördert den reflektierten Umgang damit. Laizistische Modelle bieten deswegen keine Lösung für die Frage nach einem angemessenen Verhältnis von Religion und pluraler Demokratie. In dieser Hinsicht ist vom Modell der ‚Öffentlichen Religion‘ mehr zu erwarten. Es ist die aus meiner Sicht höchst bewährte Grundlage für die ausdrückliche Bejahung theologischer Fakultäten an öffentlichen Universitäten, wie wir sie in Deutschland kennen. Ich will deswegen näher darauf eingehen.
3.
‚Öffentliche Religion‘
Mit guten Gründen haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in Deutschland aus der weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht den Schluss gezogen, die Vermittlung und kritische Reflexion religiöser Traditionen aus dem öffentlichen Bildungsauftrag herauszunehmen. Grundlage der Verfassungsartikel, die den Stellenwert der Religionsgemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts regeln, war die Überzeugung, dass die rechtliche Verbannung religiöser Gehalte aus den öffentlichen Angelegenheiten ebenso wenig förderlich ist wie die in Deutschland bis 1918 geltende staatliche Privilegierung eines bestimmten religiösen Bekenntnisses.
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Dieses Verständnis von Religionsfreiheit als ‚positive Religionsfreiheit‘ gründete sich nicht zuletzt auf das Bewusstsein eines Sachverhaltes, den der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit einem geradezu berühmt gewordenen Satz beschrieben hat. Seit seiner Entstehung im Jahre 19672 hat dieser Satz eine Zitatkarriere gemacht, die ihresgleichen sucht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“3
Anders als der christliche Staat der früheren Jahrhunderte, so die Pointe dieses Zitats, kann der freiheitliche Staat nicht mehr eine bestimmte religiöse Basis definieren, deren Verinnerlichung die Bürger an ihren Staat bindet. Würde er das tun, verlöre er seine Freiheitlichkeit, denn er müsste die Exklusion derer hinnehmen, die diese religiösen Grundlagen nicht aus Freiheit mittragen könnten.4 So bleiben für den liberalen Staat nur zwei Möglichkeiten: Entweder er zehrt von den Traditionsbeständen, die sich in der Kultur, von der er herkommt, in den früheren Jahrhunderten aufgebaut haben. Die Begrenztheit dieser Möglichkeit wird spätestens dann deutlich, wenn sich der Vorrat an solchen Traditionsbeständen aus der Vergangenheit aufgezehrt hat.5 Oder er fördert Wege und 2
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Böckenförde formulierte diesen Satz erstmals in: ERNST-WOLFANG BÖCKENFÖRDE: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1967, 75–94. Vgl. dazu näher HEINRICH BEDFORD-STROHM: Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh 1999, 26f., Anm. 35. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit ist WOLFGANG HUBERs Hinweis auf die Verpflichtung des Staates „zum achtsamen Umgang mit den Voraussetzungen, auf die er selber angewiesen ist, ohne sie jedoch selbst hervorbringen zu können (Der christliche Glaube und die politische Kultur in Europa, in: HELMUT GOERLICH / WOLFGANG HUBER / KARL LEHMANN: Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse [ThLZ.F 14], Leipzig 2004, 45–60, hier: 56. FRIEDRICH-WILHELM GRAF ordnet den Hinweis, „dass ein freiheitliches Gemeinwesen auf Voraussetzungen basiert, die es nicht selbst zu erzeugen vermag“, den Güterethikern zu (Lob der Differenz. Die Bedeutung der Religion in der demokratischen Kultur, in: CHRISTOPH GESTRICH [Hg.]: Die herausgeforderte Demokratie. Recht, Religion, Politik [Beiheft 2003 zur BThZ], Berlin 2003, 14–29, hier: 22). VALENTIN ZSIFKOVITS sieht die Antwort auf das Böckenförde-Theorem in einem „demokratiegerechten politischen Ethos“, das er dann näher beschreibt (Demokratie braucht Werte, Münster 1998, 33–50). Böckenförde hat seine Aufsätze zum Verhältnis von Religion und modernem säkularen Staat jüngst in gesammelter Form veröffentlicht: ERNST-WOLFANG BÖCKENFÖRDE: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957–2002, Münster 2004. Auf diese Gefahr weist die Frage hin, die die amerikanische Politologin Jean Bethge Elshtain bei einer Tagung in Richmond in sachlicher Nähe zum Böckenförde-Theorem gestellt hat: „How long before the stream run dry?“ (zitiert bei JEFFREY STOUT: Democracy and Tradition, Princeton 2004, 307). Die Antwort, die Jeffrey Stout auf diese Frage gibt, liegt in der demokratischen Praxis, die sich immer wieder aus den intellektuellen und religiösen Res-
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Orte, an denen sich die Bindungsressourcen, auf denen er baut, regenerieren, ohne dass seine Freiheitlichkeit infrage gestellt wird. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind solche Orte. Dass ihr in den eigenen religiösen Traditionen gegründeter Wahrheitsanspruch keineswegs mit den Regeln eines in der pluralistischen Demokratie notwendigen öffentlichen Diskurses im Widerspruch stehen muss, hat der amerikanische Philosoph John Rawls mit seiner Idee des übergreifenden Konsenses gezeigt.6 In einer demokratischen Gesellschaft – so der Grundgedanke – kann von einer großen Vielfalt verschiedener Konzeptionen des guten Lebens ausgegangen werden. Die Vertreterinnen der jeweiligen Konzeptionen bringen ihre Ideen und Werte in die gesellschaftliche Gemeinschaft ein, indem sie öffentlich dafür eintreten.7 Keine dieser allgemeinen und umfassenden Konzeptionen des Guten kann sich selbst zur einzig legitimen erklären und gesetzlich verbindlich machen. Alle Konzeptionen teilen aber ein Minimum an fundamentalen Werten. Diese Werte sind in unterschiedlicher Weise in den religiösen, moralischen oder philosophischen Traditionen der jeweiligen Konzeptionen des Guten gegründet. Alle überschneiden sie sich aber im Hinblick auf bestimmte Grundannahmen über die Bedeutung des Menschseins, auch wenn die Interpretationen dieser Grundannahmen sich unterscheiden mögen. Rawls geht von dem historischen Kontext westlicher Demokratien aus und identifiziert vier Grundannahmen, die die Basis für demokratische Gesellschaften bilden: Menschliche Wesen sind frei, gleich, grundsätzlich fähig zum vernünftigen Denken und fähig zur Kooperation mit anderen. Im Hintergrund steht das Ideal einer öffentlichen, intersubjektiv verstandenen praktischen Vernunft.8 Ob die von Rawls genannten Elemente wirklich den übergreifenden Konsens in einer demokratischen Gesellschaft darstellen, mag umstritten sein. Für Rawls – das sei an dieser Stelle nur angemerkt – führt dieser Konsens, wenn er nur ernst genommen wird, zu einem nachdrücklichen Eintreten nicht nur für die
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sourcen speist, die die Demokratie prägen und damit zu einer eigenen Tradition werden lassen. Siehe insbesondere JOHN RAWLS: Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: DERS.: Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978–1989, Frankfurt a. M. 1992, 293–332. Eine der gängigsten kritischen Anfragen an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie geht von der Annahme aus, dass sein Gedanke des Vorrangs des Rechten vor dem Guten eine Privatisierung des Guten bedeute (vgl. dazu ERANCIS SCHÜSSLER FIORENZA: Politische Theologie und liberale Gerechtigkeits-Konzeptionen, in: EDWARD SCHILLEBEECKX, Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft. FS J. B. Metz, Mainz 1988, 105–117). Ich halte diese Kritik nicht für gerechtfertigt. Der Vorrang des Rechten vor dem Guten heißt nur, dass starke Konzeptionen des Guten nicht durch staatliche Machtmittel zwangssanktioniert werden dürfen. Nirgendwo bei Rawls lassen sich Anzeichen dafür finden, dass starke Konzeptionen des Guten auf den Bereich des Privaten verbannt bleiben sollen, anstatt in den öffentlichen Diskurs eingebracht zu werden. Vgl. dazu MIGUEL GIUSTI: Die liberalistische Suche nach einem „übergreifenden Konsens“, in: Philosphische Rundschau 41 (1994), 53–73.
Theologie, Kirche und Staat
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politischen Freiheitsrechte, sondern auch zu dem, was er das ‚Unterschiedsprinzip‘ nennt: Unterschiede in Einkommen, Vermögen und Macht in einer Gesellschaft können nur dann gerechtfertigt werden, wenn sie die Situation der am wenigsten bevorteilten Glieder einer Gesellschaft optimieren.9 Eine inhaltliche Näherbestimmung des ‚übergreifenden Konsenses‘ demokratischer Gesellschaften – so viel lässt sich aber sagen – kann nicht geleistet werden, ohne den Menschenrechten in ihren verschiedenen kodifizierten Formen zentralen Rang einzuräumen. Rawls selbst hat sich in einem Aufsatz in diesem Sinne geäußert.10 In den Menschenrechten kommt die Grundannahme der unverletzlichen Würde der menschlichen Person zum Ausdruck, über die sich die meisten Menschen verständigen können. Der öffentlichen Kommunikation kommt für die Regenerierung dieses Grundkonsenses zentrale Bedeutung zu. Die verschiedenen speziellen Konzeptionen des Guten dürfen nicht ausschließlich in den Raum der jeweiligen Binnengemeinschaft verbannt werden, sie müssen vielmehr als Quelle leidenschaftlicher Beiträge zur öffentlichen Kommunikation gedacht werden. Die Aufrechterhaltung und lebendige Weiterentwicklung eines übergreifenden Konsenses bedarf des öffentlichen Engagements der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die eine pluralistische Gesellschaft prägen. Es ist genau die Begründungsoffenheit der Grundorientierungen, von denen unser Staat lebt, die ihre Regeneration auch unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht. Weil der Staat in seiner Grundsubstanz von der Vitalität von Traditionen lebt, die seinen humanen Charakter über rechtliche Regelungen hinaus mit Leben füllen, deswegen ist es so weise, wenn er die öffentliche Rolle der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften ausdrücklich bejaht, wie das in unserem Grundgesetz der Fall ist. Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und öffentlich finanzierte Lehrstühle für christliche, jüdische und islamische Theologie sind genau die richtige Antwort auf die Frage, woraus die Werte einer Gesellschaft sich erneuern können. Dass fundamentalistische Formen von Tradition keine öffentliche Finanzierung verdienen, versteht sich von selbst, denn sie stärken nicht den übergreifenden Konsens, sondern sie sabotieren ihn. Wo der Staat durch die Anerkennung religiöser Bildung als Teil des öffentlichen Bildungsauftrags die Religionsgemeinschaften aus der Selbstabschottung herausholt, ermöglicht er ihnen, nötigt sie allerdings auch dazu, ihre religiösen Traditionen selbstkritisch zu hinterfragen. Wie zukunftsweisend diese Perspektive gerade im Hinblick auf die ge9
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Vgl. zu Rawls’ Unterschiedsprinzip genauer HEINRICH BEDFORD-STROHM: Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 213f.221f.261–273. JOHN RAWLS: Das Völkerrecht, in: STEPHEN SHUTE / SUSAN HURELY (Hg.): Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt 1996, 53–103.
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Heinrich Bedford-Strohm
genwärtigen Diskussionen um den Islam und seine fundamentalistische Unterwanderung ist, liegt auf der Hand.
4.
Theologie im Schnittfeld zwischen innerer und äußerer Geschichte
Der Ort der öffentlichen Universität tut der Theologie auch als Theologie gut. Denn er tut „der Sache mit Gott“ (Heinz Zahrnt) genau dadurch gut, dass er den Blick des Glaubens im Inneren immer wieder mit dem kritischen Blick von außen ins Gespräch bringt. Die an den öffentlichen Universitäten in besonderer Weise mögliche Interdisziplinarität braucht die Theologie um ihrer selbst willen. Der amerikanische Theologe H. Richard Niebuhr, sehr zu Unrecht weniger bekannt als sein Bruder Reinhold Niebuhr, hat in seinem Buch The Meaning of Revelation11 mit seiner Unterscheidung zwischen „internal and external history“ für das Verständnis dieses Zusammenhangs einen wichtigen Hinweis gegeben. Internal history ist von ihrem Charakter her persönlich12 und betrachtet das, was mit uns geschieht, durch unsere eigenen Augen. External history betrachtet dagegen die Geschichte von Menschen aus der Perspektive eines externen Beobachters. In Anlehnung an Martin Buber formuliert Niebuhr: „[…] in external history all relations are between an ‚I‘ and an ‚it‘, while in the other they are relations between ‚I‘ and ‚Thou‘ […].“13
Von einem Blinden, der sehend wird, könnten zwei Geschichten geschrieben werden: die external history würde beschreiben, was mit seinem Sehnerv geschehen ist, welche Technik der Operateur benutzte oder durch welches Medikament der Patient geheilt wurde. Die internal history dagegen würde diese Dinge vielleicht überhaupt nicht erwähnen, sondern würde erzählen, was einem Menschen, der bisher in Dunkelheit gelebt hat, widerfährt, wenn er erstmals wieder Bäume und den Sonnenaufgang, die Gesichter von Kindern und die Augen eines Freundes sähe (TMR 44).14 Beide Formen von history sind im Hinblick auf die Interpretation religiöser Phänomene klar voneinander zu unterscheiden. Eine objektive historische Untersuchung des Lebens Jesu (external history) führt nicht direkt in das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus (internal history). Nur eine Umkehr, eine eigene Glaubensentscheidung kann von der beobachteten zur gelebten Geschichte („from
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H. RICHARD NIEBUHR: The Meaning of Revelation, New York 1941. A. a. O., 47. A. a. O., 48. Vgl. a. a. O., 44.
Theologie, Kirche und Staat
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observed to lived history“15) führen. Dennoch kann auch die external history zum inneren Leben einer Gemeinschaft beitragen. Kritiker des Christentums etwa haben die Kirche gerade durch ihre Kritik immer wieder an ihre eigene Sache erinnert.16 Außerdem kann es kein inneres Leben ohne äußere Verkörperung geben. Das Gedächtnis des Selbst ist ebenso abhängig von seinem Nervensystem wie das Gedächtnis einer Gemeinschaft abhängig ist von Büchern oder Denkmälern. Die im Chalzedonense festgehaltene Erkenntnis, dass das Wort Fleisch wird, ist für Niebuhr ein Interpretament der Beziehung zwischen beiden Formen von history: „External history is the medium in which internal history exists and comes to life. Hence knowledge of its external history remains a duty of the church. In all this we have only repeated the paradox of Chalcedonian Christology.“17
Diese Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, wie wichtig die Integration der außertheologischen Wissenschaften in die theologische Wissenschaft ist.
5.
Theologie, Kirche und Staat im Gespräch
So komme ich zu dem Ergebnis, dass es nicht nur aus der Sicht von Staat und Gesellschaft eine hohe Plausibilität hat, dass Theologie Teil des öffentlichen Bildungsauftrags ist und deswegen an öffentlichen Universitäten gelehrt wird, sondern dass das dadurch geförderte Gespräch mit den Wissenschaften und der damit einhergehende Dialog mit der Gesellschaft auch für die Theologie selbst von zentraler Bedeutung ist. Die Gesellschaft braucht öffentliche Theologien. Die Kirche speist sich in ihrem Verkündigungsauftrag immer wieder von neuem aus der kritischen Prüfung durch die Theologie. Und die Theologie selbst braucht die Kirche als den sozialen Ort und die Institution, an dem und in der die Traditionen, auf die die Theologie sich gründet, durch die Jahrhunderte getragen werden. Ich wünsche mir, dass alle drei in intensivem Gespräch sind und sich genau dadurch wechselseitig fördern und befruchten. Denn wenn der Weg vom Katheder zur Kanzel führt, dann kann er gar nicht anders als sich fortzusetzen hin zum Rathaus.
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A. a. O., 61. A. a. O., 63. A. a. O., 66.
Thesen zum Verhältnis von Theologie und Kirche(nleitung) von einer Seitenwechslerin
Thesen zum Verhältnis von Theologie und Kirche(nleitung) Beate Hofmann
1.
BEATE HOFMANN
Einleitung
In das Konzert von Stimmen zum Verhältnis von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis in diesem Band möchte ich einige Gedanken zur wechselseitigen Bezogenheit von Theologie als Wissenschaft und Kirche, vor allem kirchlichem Handeln aus Leitungsperspektive, einspielen. Ich tue das als eine, die „die Seiten gewechselt hat“: Nach über 15 Jahren Tätigkeit als Theologie-Professorin bin ich vor drei Jahren Bischöfin geworden. War ich vorher als Professorin für Praktische Theologie mit der Reflexion kirchlichen Handelns vor allem in den Bereichen Bildung und Diakonie beschäftigt, so bin ich jetzt als Bischöfin für Entscheidungen verantwortlich, die dieses kirchliche Handeln ermöglichen, gestalten und orientieren. In meinem Selbstverständnis als wissenschaftlich arbeitende Praktische Theologin war mir der Bezug zur kirchlichen Praxis immer ein großes Anliegen. Ich wollte durch empirische Forschung religiöse Praxis und kirchliches Handeln in ihren vielfältigen Gestalten besser wahrnehmen und verstehen können und Impulse für diese Praxis entwickeln, damit das kirchliche Handeln so gestaltet wird, dass es menschengemäß und sachgemäß ist, also orientiert an den Lebenswelten, Fragen und Problemen der Menschen und orientiert am Evangelium.
2.
Warum sich Theologie und Kirche brauchen
Eine wissenschaftliche Theologie, die auf den Bezug zur Kirche verzichtet und sich als religionswissenschaftlicher Teil der Kulturwissenschaften versteht, würde aus meiner Sicht ihren Lebensnerv verlieren. Für diese These weiß ich mich in guter Gesellschaft mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und seinem Verständnis der Theologie. Aber auch die rechtliche Konstruktion der theologischen Lehrstühle an Universitäten lebt vom Bezug zur Kirche als einer
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Beate Hofmann
gesellschaftlichen Großinstitution und der Ausbildung zu einer der klassischen Professionen, dem Pfarrberuf.1 Wissenschaftliche Theologie ist nicht absichtslos, sondern sie verfolgt das Ziel der „besonnene[n] und gezielte[n] Einwirkung auf das Gegenwärtige, damit sein zukünftiger Zustand dem Begriff des Christentums eher und besser entspricht und das Wesen des Christentums besser, reiner und vollständiger zur Darstellung kommt“2.
Der Bezug zur Profession Pfarrer*in war und ist nach wie vor ein wichtiger Treiber für Menschen, die Theologie studieren.3 Durch das Lehramtsstudium und die Bolognareform hat sich Theologie vielfältig mit anderen Berufsbildern verknüpft, die mehr oder weniger eng mit der verfassten Kirche verbunden sind. Die Ausdifferenzierung der theologischen Disziplinen und ihre Erweiterung z. B. um Diakoniewissenschaft, interkulturelle Theologie oder Publizistik ist vor allem durch veränderte Anforderungsprofile bestimmt, die auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und sich in kirchlichen Prüfungsordnungen niederschlagen. Als wichtige Weiterentwicklung im Verhältnis von Kirche und Theologie habe ich die kirchliche Studienbegleitung wahrgenommen. Ich begrüße dieses Bemühen der Kirchen, ihre Studierenden im Studium auch spirituell zu begleiten, ausdrücklich, weil damit die Verknüpfung zwischen Person, Theologie und kirchlichem Amt, die für das Gelingen der pastoralen Praxis bedeutsam ist, angemessen gefördert wird. Kirche und Theologie stehen sich ja nicht einfach als Institutionen gegenüber, sondern ihr Verhältnis zueinander wird von Menschen gelebt und gestaltet, die zu beiden Institutionen gehören und in der Bezogenheit zu beiden denken und arbeiten. In der Begleitung von Theologiestudierenden und im Rückblick auf die eigene Studienerfahrung habe ich immer wieder beobachtet, dass es Studierenden schwerfiel, das erworbene theologische Wissen für den Umgang mit konkreten existenziellen Fragen oder Situationen angemessen zu aktivieren und Le1
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3
JOHANNES DITTMER / PETER STEINACKER: Christlicher Glaube ist „denkender Glaube“. Einige Bemerkungen zur Notwendigkeit Theologischer Fakultäten aus kirchenleitender Perspektive, in: STEFAN ALKIER / HANS-GÜNTER HEIMBROCK (Hg.): Evangelische Theologie an Staatlichen Universitäten, Göttingen 2010, 23–55. Die Ausbildung für das Lehramt an Gymnasium und anderen Schulen ist erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts hinzugekommen und bildet heute eine wichtige Säule für die Arbeit an theologischen Fakultäten. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, zitiert nach DITTMER/STEINACKER: Christlicher Glaube (s. Anm. 1), 32. Maximilian Baden hat in einer Untersuchung 600 Erstsemester-Studierende nach ihrer Studienmotivation und nach beruflichen Vorbildern gefragt. Die Antworten zeigen: Pfarrer*innen und Religionslehrer*innen spielen eine wesentliche Rolle bei der Studienwahl. MAXIMILIAN BADEN: Warum studierst du Theologie? Eine Untersuchung zur Motivation von Erstsemestern (APrTh 83), Leipzig 2020.
Thesen zum Verhältnis von Theologie und Kirche(nleitung)
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bensweltfragen und theologische Urteile zu verknüpfen. Die eigene theologische Urteilsbildung steht im Studium oft eher im Hintergrund, während sie in der pastoralen Praxis ständig gefordert ist. Orte der Vermittlung zwischen beiden Welten und Orte der persönlichen Reflexion zu schaffen, die diese Verknüpfung fördern und die Kompetenz stärken, theologische Reflexion mit konkreten Fragen der Lebenswelt zu verknüpfen, halte ich daher für sinnvoll und notwendig. Natürlich hat die zweite Ausbildungsphase hier einen Schwerpunkt, aber wenn die Verknüpfung und Korrelation im Studium nie eingeübt wurde, gelingt das im Vikariat nur mühsam. Daher wünsche ich mir von den theologischen Fakultäten eine vertiefte Förderung der existenziellen Reflexion, der theologischen Urteilsbildung und der theologischen Sprachfähigkeit der Studierenden im Horizont der notwendigen Verknüpfung von theologischer Reflexion und kirchlichem Handeln. Die kirchliche Studienbegleitung kann dieses Bemühen durch das Eröffnen von Erfahrungs- und Reflexionsräumen unterstützen, aber sie kann es nicht allein leisten.
3.
Theologie an staatlichen Fakultäten und in Kirchlichen Hochschulen
Auch die Umkehrung der These gilt: Eine Kirche, die den Bezug zur wissenschaftlich betriebenen Theologie aufgibt, wird selbstreferenziell und verliert die Chance zur kritischen Selbstreflexion und damit zur verantwortlichen Weiterentwicklung in Korrespondenz zum jeweiligen Kontext. Sie wäre ungehinderter religiösen oder kirchenpolitischen Strömungen ausgeliefert und würde einen wichtigen Bezugspunkt zur Überprüfung ihres kirchlichen Handelns und ihrer theologischen Leitung verlieren. Das Studium und auch die Tätigkeit als Gastprofessorin an amerikanischen Universitäten hat mir den Wert der deutschen Konstruktion wissenschaftlichtheologischer Fakultäten deutlich vor Augen geführt. In den USA habe ich Departments for Religious Studies an Universitäten erlebt, in denen Fragen der konkreten kirchlichen Arbeit als irrelevant betrachtet wurden und theologische Fragen als philosophische Probleme verhandelt wurden. Umgekehrt habe ich an den für die pastorale Ausbildung zuständigen theologischen Seminaries der verschiedenen Denominationen auch das Ringen um wissenschaftliche Denk- und Freiräume erlebt, z. B., als in den 80er Jahren die historisch-kritische Exegese aus den Ausbildungsstätten der Southern Baptists verbannt wurden, weil sie in den Augen der Verantwortlichen die ‚inerrancy of the bible‘, also die Irrtumslosigkeit der Bibel und ihre unmittelbare Offenbarungsqualität zu gefährden schien. Die starke Abhängigkeit der Ausbildungsstätten von den theologischen Strömungen, die in den jeweiligen Kirchen dominant waren, hat die Ideologieanfälligkeit der Studierenden gefördert und die Kompetenz zur eigenen theologi-
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Beate Hofmann
schen Urteilsfähigkeit geschwächt. Wenn die Qualität eines Pfarrers an der Zahl der (zahlenden) Gemeindemitglieder und der Größe des Parkplatzes vor dem Auditorium, in dem die Kirche Gottesdienst feiert, bemessen wird, wird das Evangelium zum Produkt, das möglichst gewinnbringend verkauft werden soll.4 Die Verortung der Theologie an staatlichen Universitäten und die Standards wissenschaftlichen Arbeitens und Forschens, die selbstverständlich auch an Kirchlichen Hochschulen in Deutschland gelten und durch die Akkreditierungen des Wissenschaftsrats gesichert werden, gewährleisten aus meiner Sicht diese Freiräume und garantieren ein gutes Niveau wissenschaftlichen Arbeitens. Das ist für mich selbstverständlich und unverzichtbar. Die immer wieder geäußerte Unterstellung, Kirchliche Hochschulen seien durch den kirchlichen Finanzierungsanteil in ihrer Freiheit von Wissenschaft und Forschung eingeschränkt und stärker abhängig von kirchlicher Beeinflussung, kann ich aus eigener Berufserfahrung an kirchlichen Hochschulen zurückweisen. Beide Fakultätstypen teilen mehr, als was sie unterscheidet. Beide haben besondere Vorzüge und Herausforderungen, die oft mehr mit der Größe der Organisation und der Infrastruktur als mit der Qualität der dort gelehrten Theologie zu tun haben: Durch die Arbeit als Praktische Theologie- und Diakoniewissenschaftlerin habe ich die interdisziplinäre Verknüpfung der Theologie z. B. mit Sozialwissenschaften und Ökonomie schätzen gelernt. Diese wissenschaftlichen Netzwerke müssen an Kirchlichen Hochschulen manchmal mühsamer geknüpft werden als an staatlichen Fakultäten; umgekehrt ist die Erschließung von Praxisfeldern für empirische Studien oder auch für Forschungsaufträge an kirchlichen Hochschulen manchmal einfacher. Auch die selbstverständliche Einbettung in universitäre Infrastruktur (Unterstützung bei Internationalisierung, Digitalisierung, Forschungsanträgen etc.) muss an kirchlichen Hochschulen durch gute Kooperationen oder entsprechende Investitionen gesichert werden, während die staatlichen Fakultäten hier selbstverständlicher Zugriff und Zugang haben. Umgekehrt schätzen Studierende an den Kirchlichen Hochschulen die persönliche Atmosphäre, das Campusleben, das Vernetzung und Diskurs unter den Studierenden und mit den Lehrenden fördert, und die engere Verknüpfung von Studium und Spiritualität. Die deutsche Studienkultur des häufigeren Hochschulwechsels ermöglicht es, im Studium das Beste von beiden Hochschultypen zu erleben und von beidem zu profitieren.
4
Vgl. dazu meine Beobachtungen in BEATE HOFMANN: Kirche XXL – Von der Megachurch zur Emerging Church. Religiöse Phänomene in der US-amerikanischen Kirchenlandschaft, in: DtPfrBl 107 (2007), 469–474.
Thesen zum Verhältnis von Theologie und Kirche(nleitung)
4.
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Zum Theologiebedarf in den Transformationsprozessen in Kirche und Gesellschaft
Über diese grundsätzliche Verhältnisbestimmung hinaus haben sich mir in den letzten drei Jahren durch meinen ‚Seitenwechsel‘ neue Perspektiven im Verhältnis von Theologie und Kirche erschlossen. Das möchte ich im Folgenden etwas auffächern. Die evangelischen Landeskirchen in Deutschland befinden sich mitten in einer gewaltigen Transformation. Angestoßen durch gesellschaftliche Entwicklungen wie Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung und Digitalisierung verändern sich Kommunikationsformate, Relevanzerfahrungen, Sozialformen und Organisationsstrukturen von Kirche. Dieser Transformationsprozess ist eine Reise ins Offene. Wir sehen deutlich den notwendigen Abschied von manchen bisherigen Formen von Volkskirche; wir wissen aber noch nicht, welche Formate und Gestalten von kirchlichen Orten sich in Zukunft als tragfähig und relevant für die Menschen erweisen werden. Diese Situation umfassender Veränderung braucht wissenschaftliche Begleitung, um sie halbwegs angemessen, d. h. orientiert an den Lebenswelten, Fragen und Problemen der Menschen und orientiert am Evangelium, gestalten zu können. Sie hat natürlich, das sei am Rande vermerkt, auch unmittelbare Auswirkungen auf die Rolle der Theologie an Universitäten. Je mehr die Relevanz von Kirche als Institution in Zweifel gezogen wird, desto prekärer wird die Situation der theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Die Entscheidungen in der katholischen Kirche zur Zukunft der Priesterausbildung mit der Konzentration auf drei Studienstandorte wird vermutlich den Druck der Wissenschaftsministerien auch auf die evangelischen Fakultäten erhöhen. Darum sollte es im unmittelbaren Interesse der Mitarbeitenden an theologischen Fakultäten liegen, die Bewältigung der Relevanzkrise der Kirchen mit ihrem Wissen und ihren Kompetenzen zu unterstützen. Diese Unterstützung kann vielfältige Formen haben. Ich will ein paar Beispiele geben: Studien zu sozialen Milieus5 und unterschiedlichen Formen der Kirchenbindung6 bewahren davor, sinkende Gottesdienstbesuchszahlen oder auch Austrittszahlen als persönliches Versagen des pastoralen Personals oder 5
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CLAUDIA SCHULZ u. a.: Milieus praktisch. Analysen und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2010; HEINZPETER HEMPELMANN u. a. (Hg.): Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche. Die SINUS-Studie „Evangelisch in Baden-Württemberg“ und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder, Göttingen 22019. Engagement und Indifferenz – Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014; HEINRICH BEDFORD-STROHM / VOLKER JUNG (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung, Gütersloh 2015.
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Beate Hofmann
der Gemeinden zu lesen und durch entsprechenden Aktivismus zu beantworten.7 Die sogenannte Freiburger Studie8 hat vielen Landeskirchen konkrete Impulse gegeben, strukturelle Reformprozesse anzugehen, solange das finanziell noch unterstützt und ermöglicht werden kann. Die wissenschaftliche Begleitung dieser Reformprozesse9 hilft gerade den verantwortlichen Steuerungsgremien, den eigenen Kurs immer wieder zu reflektieren und zu korrigieren. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass vielerorts die Begleitung dieser Prozesse eher durch kircheneigene Institutionen10 als durch Personal aus theologischen Fakultäten geleistet wird. Ein gutes Beispiel für die Kooperation zwischen kirchlichen und universitären Forschungseinrichtungen ist die wissenschaftliche Evaluation kirchlichen Handelns in der Pandemie,11 die in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck konkrete Impulse in der Weiterentwicklung digitaler Gottesdienstangebote, in der Wahrnehmung digitaler Seelsorge und in der Stärkung transparenter Kommunikation gesetzt hat. Ich wünsche mir mehr solcher Kooperationen zwischen Kirche und Universität in der Bewältigung aktueller Herausforderungen und in der Reflexion kirchlicher Krisenbewältigungsstrategien. Die letzten Jahre haben kirchenleitendes Handeln durch die massive Disruption des Bisherigen und die globalen Ausmaße der Krisen vor Aufgaben gestellt, die mit den bisherigen Bearbeitungsstrategien nicht zu bewältigen sind. Das braucht theologische und organisationale Konsequenzen. In diesem Zusammenhang lassen sich auch viele Forschungsfelder benennen, die in der wissenschaftlichen Theologie bisher ein Schattendasein führen, die aber für die kirchliche Praxis von eminenter Bedeutung sind. Dazu gehören z. B. das Ehrenamt und die Rolle der Kirche und ihrer Diakonie in Zivilgesellschaft und Sozialraum, dazu gehören die Themen diakonischer Theologie und diakonischer Organisation und der gesamte Bereich der kirchlichen Strukturen und ihrer Veränderung. Als Bischöfin stehe ich vor gewaltigen kybernetischen Aufgaben, bei deren Bewältigung mir Theorien und Modelle aus dem Diako7
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Die Studie von WILFRIED HÄRLE u. a.: Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärtsgeht, Leipzig 42012 hat vielen Pfarrer*innen Möglichkeiten der sinnvollen Entwicklung aufgezeigt, aber auch Druck aufgebaut. DAVID GUTMANN / FABIAN PETERS: #projektion2060 – Die Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer. Analysen – Chancen – Visionen, Neukirchen-Vluyn 2021. UTA POHL-PATALONG / EBERHARD HAUSCHILD: Kirche verstehen, Gütersloh 2016; UTA POHLPATALONG: Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2021. Beispielsweise das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI), das 2004 gegründet wurde. Zu den dort erforschten Themenfeldern gehören Gemeindeforschung, Kirchenentwicklung, Untersuchung zivilgesellschaftlicher Prozesse und Ökonomie, Ökologie und Soziales. Ein weiteres Beispiel sind kirchliche Einrichtungen wie die Gemeindeakademie in Rummelsberg oder die Ehrenamtsakademie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die von Stefan Bauer geleitet wird. Genannt sei hier dessen neueste Publikation: STEFFEN BAUER: Ermöglichen. Kirche im Jahr 2030, Waltrop 2020. Beispielhaft genannt sei hier das internationale ökumenische Forschungsprojekt Contoc (Churches Online in Times of Corona) genannt; siehe auch www.contoc.org.
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niemanagement und aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gute Dienste leisten. Ich verdanke sie dem multirationalen Zuschnitt der Diakoniewissenschaft und der Arbeit als praktischer Theologin. In meinem kirchenleitenden Amt hilft mir, dass ich mich intensiv mit Organisationen, ihrer Kultur, ihren Prozessen und Strukturen und ihrer Steuerung beschäftigt habe. Ich habe gelernt, Organisationen in ihrem Kontext ‚zu lesen‘. Das war mir in der Einarbeitung in eine neue Landeskirche und in der Gestaltung der täglichen Leitungsaufgaben sehr nützlich. In der Aufgabe, Kirche als Hybrid zwischen Institution, Organisation und Bewegung zu gestalten und in der Veränderung von einer ‚Verkündigungsbürokratie‘ hin zu agilen Netzwerkstrukturen zu begleiten, sind diese Kenntnisse und Kompetenzen sehr hilfreich, aber oft nur fragmentarisch. Es braucht daher wissenschaftlich begleitete und unterstützte Denk- und Innovationsräume, in denen Kirchenleitende ihre Fragen im Austausch mit wissenschaftlichen Perspektiven diskutieren können.
5.
Theologie als Resonanzraum in den Krisen unserer Zeit?
Nicht nur in den kybernetischen Herausforderungen unserer Zeit stellen sich neue Fragen, deren Begleitung durch die wissenschaftliche Theologie notwendig ist. Die letzten Jahre haben kirchenleitendes Handeln durch die massive Disruption des Bisherigen und die globalen Ausmaße der Krisen vor Aufgaben gestellt, die mit den bisherigen Bearbeitungsstrategien nicht zu bewältigen sind. So sehe ich eine Fülle von ethischen und dogmatischen Fragen, bei deren Reflexion ich mir Unterstützung von der wissenschaftlichen Theologie wünsche. Im kirchenleitenden Amt ist wenig Raum, intensiv über diese Fragen nachzudenken; gleichwohl erwartet die Öffentlichkeit von uns fundierte Stellungnahmen, die anregen und orientieren. Angesichts der Komplexität der Fragen ist das nur noch schwer und nicht in der Fülle der Themen zu leisten. Unsere bisherigen Wege der Verknüpfung von wissenschaftlicher Theologie und kirchlichem Handeln, z. B. durch Kammern, Kommissionen und Gutachten, haben sich bewährt; sie haben sich aber oft als zu langwierig in drängenden Entscheidungssituationen erwiesen. Ich hoffe hier auf neue Formate der Reflexion und Resonanz in Thinktanks, gemeinsamen Workshops oder digitalen Resonanzräumen, die auch ohne langen Vorlauf organisiert werden können, z. B. im ersten Lockdown oder zu Beginn des Ukrainekrieges. Ich will ein paar Fragen konkret benennen, bei denen ich mir solche Resonanzräume gewünscht habe oder sie mir weiter wünsche: Die Corona-Pandemie und damit die massivste Disruption kirchlichen Lebens in meiner bisherigen Lebenszeit hat einen großen Theologiebedarf erzeugt und immer wieder kirchenpolitische Entscheidungen erzwungen, die auch theo-
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logisch reflektiert sein mussten. Während der Ethikrat die großen ethischen Linien diskutiert hat, mussten Synoden und Kirchenvorstände vor Ort die organisationale Seite der Dilemmasituation bewältigen und kirchenleitende Gremien Orientierung durch Richtlinien oder Handlungsempfehlungen zu folgenden Fragen entwickeln: Wo positionieren wir uns in der Abwägung zwischen dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von vulnerablen Gruppen und Personal und der Wahrung der Selbstbestimmung und der sozialen Bedürfnisse der Menschen, z. B. in Kitas, in Pflegeeinrichtungen oder ambulanter Pflege, in Gottesdiensten etc.? Wie verhalten wir uns als Organisation zur Möglichkeit der Impfung? Bieten wir die Impfung für Mitarbeitende an? Verlangen wir die Impfung als Voraussetzung zum Zugang zu kirchlichen Angeboten? Wenn wir die Impfung unterstützen, wie begründen wir das theologisch? Gibt es eine christliche ‚Impftheologie‘? Oder ist das eine Überlegitimation kirchlichen Handelns?12 Wie positionieren wir uns als evangelische Kirche im ökumenischen Miteinander gegenüber dem Staat und seiner Regelungsverantwortung, wenn die katholischen Geschwister in einer Region mitten in einer Pandemiewelle an Weihnachtsgottesdiensten festhalten und die evangelischen Gremien für Absage votieren? Wie reagieren wir als Landeskirche, die sich über mehrere Bundesländer erstreckt, auf unterschiedliche staatliche Regelungen und sehr unterschiedliche Grundhaltungen im Umgang mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht? Als Bischöfin einer Landeskirche mit Gebieten im Westen und Osten Deutschlands beobachte ich, dass staatliches Handeln zum Gesundheitsschutz sehr unterschiedlich ausgerichtet war und in den Gemeinden verschieden interpretiert wurde und entsprechend auch das kirchliche Verhalten zu diesem staatlichen Handeln sehr unterschiedlich verstanden und akzeptiert wurde. Wo werden die staatskirchenrechtlichen Fragen weiterbearbeitet, die durch die Pandemie aufgeworfen wurden? Selten wurde in Pfarrkonferenzen so erbittert und auch so persönlich gestritten, weil die Frage der Befolgung von Coronaregeln und die Frage der Impfung unmittelbar in die alltägliche Lebensführung eingreifen. Wie bewältigen wir innerkirchlich, aber auch in den Betrieben, Vereinen und Familien die Gräben, die durch diese Diskurse entstanden sind?
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Im Diskurs mit Impfgegnern wurde gerade diese theologische Perspektive immer wieder eingeklagt und der Rekurs auf politische Maßnahmen und den gesunden Menschenverstand als ungenügend abgelehnt. Im Nachdenken zeigte sich, dass die Impffrage nicht nur eine Frage der Nächstenliebe ist, sondern Verknüpfungen mit anthropologischen und soteriologischen Fragestellungen hat, die gründlicher bearbeitet werden müssten.
Thesen zum Verhältnis von Theologie und Kirche(nleitung)
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Wie reagieren wir theologisch angemessen auf die Verknüpfung von Coronaprotesten mit rechtsextremen Gruppen und deren Gewaltpotenzial, das in Kurhessen-Waldeck nicht mehr zu übersehen ist?13 Neben den organisationalen, politischen und kommunikativen Fragen stehen die systematisch-theologischen: Wie rede ich von der Allmacht Gottes inmitten dieser Katastrophe? Was sagen wir eigentlich über die Qualität der Schöpfung? Ist so ein Virus von Gott gemacht? Oder ein Beispiel dafür, dass eben nicht alles „gut“ ist? Wie reden wir theologisch angemessen über Krankheit? Was hilft in unserer Tradition, mit Todesangst umzugehen, aber auch mit Schuldfragen rund um Infektionsketten? Nicht nur die Pandemie hat theologische Fragen verschärft und neue Fragen aufgeworfen. Der Ukrainekrieg hat uns gezwungen, die Frage des Umgangs mit gerechtem Frieden, mit rechtserhaltender Gewalt, mit Waffenlieferung neu zu bedenken und in wenigen Tagen hier fundierte Positionen auf Demonstrationen und in Interviews zu entwickeln. Die friedensethische Arbeit der FEST (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft) war dazu eine wichtige Stütze, die auch denen, die wenig vertraut mit diesem Diskurs waren, guten Zugriff auf zentrale Argumentationen ermöglicht hat. Der Klimawandel mit seinen immer spürbarer werdenden Folgen fordert nicht nur eine ökologische Transformation unseres Umgangs mit Ressourcen, sondern auch eine andere Schöpfungstheologie, die das Leiden der gesamten Kreatur und die Verbundenheit mit unserer Mitschöpfung durchdenkt und Hinweise für die Folgen in der religiösen Praxis, z. B. in Bildung und Gottesdienst, gibt. Die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche ist eine weitere tiefgreifende Erschütterung von Theologie und Kirche. Wie gestalten wir unsere Strukturen im Umgang mit Personal, aber auch unsere liturgische Sprache so, dass sie nicht als Schutz der Täter, sondern als Stärkung der Betroffenen wahrgenommen wird? Wie und wo kann die Aufarbeitung des Missbrauchs in ihren theologischen und kybernetischen Dimensionen angemessen geleistet und wissenschaftlich unterstützt werden? Die Fülle und Vielfalt der Themen, die immer kürzer werdenden Reaktionszeiten für Stellungnahmen und öffentliche Aussagen, auch die öffentliche Polarisierung bei vielen Themen, brauchen sorgfältige theologische Arbeit, die von den Kirchen allein nicht zu leisten ist, an manchen Punkten (Aufarbeitung sexualisierter Gewalt) auch gar nicht geleistet werden darf. Es braucht daher ein gut abgestimmtes Miteinander von Forschenden und theologisch Begleitenden in theologischen Fakultäten, Forschungsinstituten, kirchlichen Einrichtungen 13
Neben dem Mord an Halit Yozgat durch den NSU im Jahr 2006 haben vor allem die Morde am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke 2019 und das rassistische Attentat in Hanau 2020 die Menschen und die gesellschaftlichen Institutionen in dieser Region tief erschüttert.
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und Kirchenleitungen. Dabei geht es nicht um Bevormundung oder Kontrolle, sondern um kreative Denkräume, in denen auf Augenhöhe am theologischen und kirchlichen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit gearbeitet wird
6.
Fazit
Als praktische Theologin, der reflektierte Praxis ein großes Anliegen ist, erhoffe ich mir von den evangelischen theologischen Fakultäten an Universitäten wie an kirchlichen Hochschulen erstens, dass sie Studierende befähigen, Grundfragen des christlichen Glaubens im Licht der biblischen Botschaft sowie der theologischen Tradition und vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen zu reflektieren. Dazu gehört die Fähigkeit, Fragen zu identifizieren, mit theologischen Denkmustern in Beziehung zu setzen, Antwortversuche der Tradition auf aktuelle Fragen zu beziehen und eine eigene Position zu entwickeln. Angesichts sinkender religiöser Sozialisation bei den Studierenden und komplexer werdender Gegenwartsfragen ist das keine einfache, aber eine dringende Aufgabe. Als Bischöfin brauche ich zweitens Gesprächsformate und Denkräume, in denen aktuelle kirchliche Praxis und drängende gesellschaftliche Fragen kritisch reflektiert und denkend begleitet sowie durch innovative Impulse angeregt werden. Die Rolle der Kirche im Gegenüber zu theologischen Fakultäten beschreibe ich als – Abnehmerin der Absolvent*innen in den verschiedenen Studiengängen: nicht nur für das Pfarramt, sondern auch das Lehramt, Medien, Diakonie etc.; – Anbieterin von studienbegleitenden Formaten für die Reflexion existenzieller theologischer Fragen im Studium und für die Vernetzung in die kirchliche Praxis; – Auftraggeberin für Forschung und Begutachtung relevanter Fragestellungen, Beteiligung an Prüfungen und in kirchlichen Gremien; – Gegenüber und notwendiger Bezugspunkt in der Ausrichtung der Themen in Studium und Forschung, dazu gehört auch der Austausch über Strukturen und Inhalte theologischer Ausbildung und Prüfungsordnungen; – Gesprächspartnerin im Austausch über wesentliche gesellschaftliche Herausforderungen und Themen einer öffentlichen Theologie.
Theologische Geistesgegenwart in der Krise
Theologische Geistesgegenwart in der Krise
Gedanken zur Zukunft einer Hochschule der Kirche
Annekathrin Preidel
1.
ANNEKATHRIN PREIDEL
1945, 1946 und 1947 – Zwischen den Zeiten
Im Herbst 1945 wurde der Würzburger Dekan Georg Merz, Urgestein der Dialektischen Theologie und der Bekennenden Kirche, von der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern damit beauftragt, im neu eröffneten Pastoralkolleg in Neuendettelsau theologische Kurse für Pfarrer einzurichten, die aus dem Krieg heimkehrten. Die ersten Kurse fanden im April 1946 statt. Einige Monate später – im Dezember des gleichen Jahres – kamen Theologiestudenten, die aus der Kriegsgefangenschaft im italienischen Rimini entlassen worden waren, in Neuendettelsau an. Die Studenten wurden in der Diakonissenanstalt Neuendettelsau und im vormaligen Zisterzienserkloster Heilsbronn einquartiert. Am 7. Mai 1947 errichtete dann die Landessynode der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern per Kirchengesetz die Augustana-Hochschule Neuendettelsau-Heilsbronn. Synodalpräsident war damals der Jurist Dr. Hans Meinzolt. Gründungsrektor der Augustana war Georg Merz, der bis 1939 als Dozent für Praktische Theologie, Kirchen- und Konfessionskunde an der Theologischen Schule Bethel tätig war und zuvor als Cheflektor des Christian Kaiser Verlags in München das Publikationsorgan der Dialektischen Theologie um Karl Barth, die Zeitschrift Zwischen den Zeiten herausgab. Im Jahr 1949 siedelte die Augustana-Hochschule auf ein ehemaliges Kasernengelände über. Dort befindet sie sich noch heute. An seine Freunde, zu denen nicht zuletzt die beiden Schweizer Karl Barth und Eduard Thurneysen gehörten, schrieb Merz am 2. April 1946: „… man darf auf dieser Erde eben letztlich nicht nach den Regungen seiner Wünsche fragen, sondern so gut man es zu erkennen vermag, Gottes Willen zu gehorchen. Dass solcher Gehorsam mich nun ausgerechnet hier nach Neuendettelsau hin führte, ist schon recht verwunderlich, wenn ich mein bisheriges Leben bedenke. Ich finde es freilich aber auch wunderbar und bin bereit, das mir aufgetragene Werk hier zu erfüllen, dass mir bis zur Stunde eigentlich eitel Freude macht. Nach außen hin hat dieser Dienst wahrhaftig wenig Glanz, aber ich bin überzeugt, dass solch’ theologisches Lernen und Studieren mit den Pfarrern eine große Verheißung hat.“1 1
Zitiert aus dem persönlichen Briefnachlass von Georg Merz nach: GERHARD MONNINGER (Hg.): Eine Denkwerkstatt der Kirche. Augustana-Hochschule 1947–1987, München 1987, 43.
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Annekathrin Preidel
Kriegsgeschichten, fürwahr. Gründungsnarrative aus einer fernen Zeit, die so lange vergangen ist, dass das in ihr Geschehene leicht in Vergessenheit gerät. Umso wichtiger, dass anlässlich besonderer Jubiläen diese Narrative erneut vergegenwärtigt werden. Das fünfundsiebzigjährige Bestehen der Augustana-Hochschule ist ein solcher Anlass. Fünfundsiebzig Jahre, das sind drei Generationen. Fünfundsiebzig Jahre, das ist annähernd die durchschnittliche Dauer eines menschlichen Lebens. Fünfundsiebzig Jahre, das ist eine Zeitdifferenz zur Gegenwart, die erinnernder Rituale bedarf, um angesichts von immer weniger Zeitzeugen nicht aus dem kollektiven Gedächtnis zu entschwinden. Und selbst wenn das Langvergangene erinnert wird, hat es ja nicht ohne Weiteres etwas mit der Gegenwart zu tun, in der diese Erinnerung erfolgt. Geschweige denn mit der Zukunft dieser Gegenwart. Der soeben vorgenommene Blick in die Vergangenheit der Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet nicht schon von selbst Perspektiven für Theologie und Kirche im 21. Jahrhundert. Fünfundsiebzig Jahre sind andererseits ein günstiger Zeitraum, um Verklärungen zu entmythologisieren und nüchtern vom Heute aus auf dieses Damals zu blicken. Nach fünfundsiebzig Jahren kann sie ja vielleicht unbefangen, klarsichtig und illusionslos gestellt werden – die Frage, ob die gute alte AugustanaHochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ihre beste Zeit bereits hinter sich oder noch vor sich hat, ob also auch nach fünfundsiebzig Jahren noch – im Sinne des Titels dieser Festschrift – theologische Aufbrüche von der Augustana-Hochschule Neuendettelsau ausgehen können und ob sich aus der westmittelfränkischen Provinz neue Perspektiven für Theologie und Kirche im 21. Jahrhundert gewinnen lassen. Natürlich könnte es kein Festschriftbeitrag, der seinen Namen verdient und den man im Rahmen eines Jubiläums gerne liest, wagen, diese Frage mit einem „Nein!“ zu beantworten. In der Tat ist auch die Präsidentin der bayerischen Landessynode des Jahres 2022 ebenso wie die Mehrheit der Synodalen des fernen Jahres 1947 und wie Georg Merz davon überzeugt, dass das theologische Lernen und Studieren an der Augustana-Hochschule eine große Verheißung hat und dass die Zeit der Augustana-Hochschule keineswegs vorbei ist. Insbesondere deshalb, weil der Name der Zeitschrift ‚Zwischen den Zeiten‘, deren Mitbegründer Georg Merz war, nicht nur im Jahr 1947, sondern auch im Jahr 2022 überraschend aktuell ist. Es könnte sein, dass die Zeit unserer Gegenwart ebenso wie die Zeit des Jahres 1947 eine Zeit zwischen den Zeiten ist, genauer gesagt eine Zeit, in der etwas endet und in der etwas beginnt, in der sich also Paradigmenwechsel, Abschiede, Transformationen und Neuaufbrüche ereignen. Es fällt also überraschend leicht, die Brücke von 1947 zur Gegenwart des Jahres 2022 zu schlagen. Und es ist durchaus bemerkenswert, wie viele durchaus unheimliche und noch vor wenigen Jahren ungeahnte und unerwartete Ähnlichkeiten die durch siebeneinhalb Jahrzehnte getrennten Jahre 1947 und 2022 verbindet.
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2.
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2020, 2021 und 2022 – Einstürzende Selbstverständlichkeiten
Eine der Ähnlichkeiten der beiden Jahre 1947 und 2022 besteht in der Nähe eines Krieges. Es gab eine Zeit, in der einem der vor wenigen Absätzen geäußerte Begriff „Kriegsgeschichten“ in der Regel dann in den Sinn kam, wenn Menschen der Generation des Zweiten Weltkrieges von ihren Erlebnissen erzählten, die längst unwiederbringlich der Vergangenheit angehörten. Das hat sich geändert. Spätestens durch die Geflüchteten, die insbesondere seit dem Jahr 2015 zu uns nach Deutschland fanden, weil sie Kriege aus ihrer Heimat vertrieben. Vor allem aber seit dem 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Die Kriegsgeschichten der ‚Riminesen‘ der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts erscheinen bei diesem Augustana-Jubiläum viel weniger fern als bei den Jubiläen der Jahre 1987 und 1997. Der Krieg in Europa gehört im Augustana-Jubiläumsjahr 2022 nicht mehr nur der Vergangenheit, sondern der europäischen Gegenwart und vielleicht sogar – wovor uns Gott bewahren möge – der näheren deutschen Zukunft an. Und die rituelle Erinnerung an eine Zeit in der Nähe des Zweiten Weltkrieges versetzt uns mitnichten nur in eine Landschaft, deren zertrümmerte Städte unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Sie versetzt uns mitten in eine mögliche Gegenwart. Es ist sogar so, dass wir Heutigen gar nicht wissen, ob die gegenwärtige europäische Situation womöglich dem Jahr 1939 ähnelt und ob die eigentliche Katastrophe, die 1947 hinter den ersten Neuendettelsauer Theologiestudenten lag, nicht noch vor uns liegt. Eines allerdings wissen wir. Wir wissen, dass sich unsere Gegenwart – aus welcher Perspektive wir sie auch betrachten – als eine Zeit der multiplen Krisen beschreiben lässt. Die CoronaPandemie, die Zersplitterung der Gesellschaft, der globale Klimawandel, der Kollaps der Lieferketten, die nicht endenden Flucht- und Migrationsströme und der russische Angriffskrieg in Europa: Katastrophenszenarien erschüttern die Tektonik unseres Lebens. Sorgen und Verunsicherungen quälen immer mehr Menschen. Sie haben Angst, dass ihnen ihre vertraute Welt abhandenkommt. Sie haben Angst, ihren Besitz und ihren Status zu verlieren. Sie haben Angst vor der Zukunft, die sie zunehmend als Bedrohung empfinden. Auch die Kirche steckt tief in einer Krise. Das, wofür sie steht, sagt immer weniger Menschen etwas. Die Figur, die die Kirche macht, ist wenig attraktiv. Der besonders während der Corona-Pandemie oftmals geäußerte Wunsch, dass die Kirche selbst als Krisenmanagerin in Erscheinung treten könnte, also als Akteurin, die aus der Krise führt, erfüllt sich nicht. Was die Krisen unserer Zeit noch gravierender macht, ist die Tatsache, dass wir nicht wissen, ob diese Zeit der Krisen jemals der Vergangenheit angehören wird. Viele Selbstverständlichkeiten unserer jüngeren Gegenwart fallen zusammen wie Kartenhäuser, vielleicht sogar wie Dominosteine. Wir fragen uns, welches der nächste Dominostein sein wird, der zu Fall kommt.
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Denn während wir noch davon träumen, dass die Normalität zurückkehrt, ahnen wir, „dass unser altes Leben vorbei ist“ und wir „in den Ruinen der Fortschrittsutopien der Moderne leben“2 müssen, wie Peter Scherle vor einigen Monaten in einem lesenswerten zeitzeichen-Artikel konstatiert hat. Die spanische Wissenschaftsjournalistin Esther Paniagua beleuchtet in ihrem Buch Error 404 die potenziellen Folgen eines globalen Breakdowns aller Datennetze durch Naturkatastrophen, Cyberkriege, Stromausfälle oder Sabotagen.3 Don DeLillo führt uns in seiner Dystopie Die Stille an den Abgrund einer Welt im Ausnahmenzustand nach dem kompletten Zusammenbruch der Elektrizitätsversorgung.4 Beide, Don DeLillo und Esther Paniagua, sind Seismografen. Und sie sind nicht die Einzigen. Die aktuellen Krisen offenbaren, dass sich diejenigen geirrt haben, die auf dem Grunde ihres Herzens trotz aller Sensibilität für das, was in der Welt im Argen liegt, glaubten, man könne den Finger in die Wunden der Welt zumindest noch eine Weile lang aus der privilegierten Position mitteleuropäischer Verschontheit legen und es werde wenigstens in Mitteleuropa schon noch ein wenig so weitergehen. Die Erfahrung dieser Tage aber zeigt, dass die Transformation unserer Welt ungefragt, unbehaglich und vielleicht sogar unkontrollierbar ihren Lauf nimmt und dass damit die Normalität des gewohnten Lebens spürbar und unmittelbar auf dem Spiel steht. Vieles spricht also tatsächlich dafür, dass sich die abendländische Welt an einer Epochenschwelle befindet, weil uns nach 1918, nach 1945 und nach 1989 einmal mehr die Erkenntnis auf den Leib rückt, dass nicht einfach Zeit vergeht, sondern dass sich Geschichte ereignet, ohne dass sie gemacht und beherrscht werden könnte.
3.
Metanoia – Umdenken und Neudenken statt Hinterherdenken
Vor etwa einhundert Jahren, vor etwa fünfhundert Jahren und vor etwa zweitausend Jahren war die christliche Theologie Initiatorin, Mitinitiatorin, Deuterin und Mitgestalterin von Epochenschwellen und kulturellen Paradigmenwechseln. Jesus, der Rabbi aus Nazareth, Paulus, der Vordenker des christlichen Glaubens, Martin Luther, der Reformator, Karl Barth und Rudolf Otto, die theologischen Seismografen des Ersten Weltkrieges, Dietrich Bonhoeffer, der Mann in der Zelle von Tegel – sie alle transformierten Umbrüche in Aufbrüche. Sie alle 2
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PETER SCHERLE: Raus aus dem falschen Film! Wie die evangelische Kirche den gewaltigen Transformationen unserer Zeit begegnen sollte, online unter https://zeitzeichen.net/ node/9736, aufgerufen am 10. Mai 2022. ESTHER PANIAGUA: Error 404. Der Ausfall des Internets und seine Folgen für die Welt, Hamburg 2022. DON DELILLO: Die Stille, Köln 2020.
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lebten, dachten und glaubten so gegen Krisen an, dass es ihnen gelang, sie als Keimzellen visionärer theologischer Neuanfänge zu begreifen. Ihnen allen wuchs die Kraft der metanoia zu – also des Umdenkens des Gewohnten. Sie alle wurden auf ihre Weise zu Hebammen dessen, was die jeweiligen Krisen ihrer Zeit gebaren. Oder anders gesagt: sie alle waren Früchte, die in den heißen Phasen ihrer jeweiligen Gegenwart reiften. Oder noch anders gesagt: sie alle hatten als Kinder ihrer Zeit die Kraft, ihre Zeit in Ideen zu fassen und über sich hinaus zu treiben. Sie trugen gewissermaßen ihrer Zeit die Fackel voran, statt die Schleppe hinterdrein.5 Theologie wird in den Augenblicken interessant, in denen sie sich von den Krisen ihrer Zeit erschüttern lässt und inmitten von Brüchen und Trümmern die Mosaiksteine des Neuen zu suchen und zu sehen beginnt. Als amtierende Präsidentin der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern habe ich den Traum, dass die Augustana-Hochschule der Zukunft auf ihre Weise ein Ort sein und werden könnte, an dem genau dies geschieht – ein Ort, an dem Studierende und Dozierende der Theologie zu Seismografen und Detektoren der Erdbewegungen und Welterschütterungen ihrer Zeit werden und intellektuelle und spirituelle Technologien entwickeln, diese Erdbewegungen und Welterschütterungen und Transformationen des Glaubens und des Denkens umzumünzen. Ich träume davon – oder bescheidener gesagt: ich wünsche mir –, dass just an dem Ort, an dem nahe der Stunde Null des Krieges nach dem Willen der Synodalen des Jahres 1947 eine kirchliche theologische Hochschule aus der Taufe gehoben wurde, auch fünfundsiebzig Jahre später geistige und geistliche Neuaufbrüche im Angesicht ganz anderer Krisen eines ganz anderen Krieges und vielleicht sogar einer ganz anderen Stunde Null möglich sind – Neuaufbrüche, durch die in unserer Zeit zwischen den Zeiten wahr wird, was Georg Merz in einer anderen Zeit zwischen den Zeiten vor mehr als fünfundsiebzig Jahren prognostiziert hat: dass über dem Studium der evangelischen Theologie eine große Verheißung liegt. Aus meiner Sicht braucht die Kirche unserer Gegenwart eine neue theologische Geistesgegenwart. Unsere Kirche braucht Menschen – vor allem junge Menschen –, die zu Resonanzräumen des Heiligen Geistes werden, der ihren Geist inspiriert, transformiert und kreativ über sich hinausführt. Unsere Kirche braucht Menschen, die – wie es im Immatrikulationsspruch der AugustanaHochschule heißt – „mit Eifer die Heilige Schrift lesen“ und sich „in ihrem Verständnis üben“. Sie braucht aber auch Menschen, die aus der Perspektive des Evangeliums, also aus der Perspektive der Gegenwart des Geistes Gottes mit Eifer ihre eigene Gegenwart lesen und zu entziffern suchen. Und zwar so, dass darin etwas sichtbar wird, was ohne die theologische Brille auf der Nase, also unter 5
So JÜRGEN MOLTMANN: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie (Beiträge zur Evangelischen Theologie 38), München 1964, 14.
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Absehung von der Annahme, dass Gott im Raum steht, nicht so ohne Weiteres sichtbar wird. Unsere Kirche hat Theologie als Wissenschaft aus der Perspektive des Wortes Gottes bitter nötig. Das Studium der Theologie ist in der evangelischen Kirche durch nichts zu ersetzen – so sehr es natürlich auch stimmt, dass dieses Studium durch das Studium von vielem Anderen ergänzt werden kann und soll. Was Georg Merz 1946 schrieb, dass nämlich das theologische Lernen und Studieren an der Augustana-Hochschule ‚eine große Verheißung‘ hat, gilt im Jahr 2022 ebenso und vielleicht sogar noch mehr als im Jahr 1947. Es gilt vor allem deshalb, weil theologische Geistesgegenwart in der Krise unserer Gegenwart geistig Not tut und geistlich Not wendet. Wenn Geistesgegenwart und Pioniergeist Hand in Hand gehen und wenn beide gemeinsam in neue Räume aufbrechen, dann kann an vermeintlichen Nullpunkten Neues entstehen. Unsere Kirche braucht Pionierinnen und Pioniere. Sie braucht Entdeckerinnen und Entdecker, die hinausgehen – hinaus aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, hinaus aus den Kirchen und aus ihren Denk- und Gebetsräumen – hin zu den Suchenden und zu denen, die sich von der Kirche abgewendet haben. Unsere Kirche braucht Menschen mit Mut, die aus den Mustern der Gleichförmigkeit ausbrechen und an ungewöhnlichen Orten das Evangelium verkünden – nicht nur an Sonntagsorten, sondern auch an Alltagsorten, vielleicht sogar an den UnOrten unserer Zeit. Unsere Kirche braucht Botschafter und Botschafterinnen der Hoffnung aus dem Evangelium heraus. Sie braucht Botinnen und Boten, die verunsicherten Menschen Zuversicht vermitteln und ihnen die Zukunft als Verheißung und nicht als Bedrohung vor Augen stellen und in die Herzen pflanzen. Die Hoffnung, die ich meine, ist nicht das Prinzip eines blauäugigen Optimismus. Sie hat einen realistischen Grund. Und dieser Grund hat einen Namen: Jesus Christus. Die Geschichte seiner Zuwendung und seiner Zukunft zu erzählen und Menschen in dieser Erzählung zu beheimaten ist eine Kunst, die an einer Theologischen Hochschule erlernt werden sollte. Diese Kunst ermöglicht Transzendenzerfahrungen. Denn sie führt Menschen aus den alternativlosen Narrativen ihrer Gegenwart hinein in den weiten, wirklichkeitserschließenden Raum des Glaubens. Der Titel meines Beitrags für diese Festschrift, Theologische Geistesgegenwart in der Krise, ist natürlich absichtsvoll doppeldeutig. Ich befürchte manchmal, dass wir in einer Gegenwart leben, in der es – mit Verlaub! – womöglich doch mehr theologische Hinterherdenker als theologische Nachdenker, Vordenker und Umdenker gibt. Der Mainstream des Denkens und insbesondere der Mainstream der Normierung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist reißend. Und es ist nicht ungefährlich, gegen diesen Strom zu schwimmen. Die Propheten des Alten Testaments, Christus, Paulus, Luther, Bonhoeffer und viele Andere in vielen anderen Weltgegenden in zweitausend Jahren Christentumsgeschichte haben am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren, wie schnell mitreißende Menschen vom reißenden Strom dieses Mainstreams mitgerissen werden können. Aber es bleibt dabei: nur, wer gegen den Strom
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schwimmt, nur, wer um Argumente ringt und nur, wer seiner oder ihrer Gegenwart aus der Perspektive Gottes auf den Grund geht, wird dieser Gegenwart etwas zu sagen haben, das diese Gegenwart und ihre Ängste, Befürchtungen, Stereotypien, Normierungen und Narrative wirklich transzendiert und in ein anderes, heilsames Licht rückt.
4.
Denkgebot – Kritische Theologie auf Tuchfühlung mit der Kirche
Die Augustana-Hochschule ist eine Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Im Blick auf eine kirchliche Hochschule könnte die Erwartung insbesondere einer Präsidentin der Landessynode dieser Kirche aufkommen, hier müsse eine Form von Wissenschaft getrieben werden, die von vornherein so auf kirchliche Praxis zielt, dass sie gewissermaßen als angewandte Wissenschaft, also als Wissenschaft für die Praxis zu verstehen ist. Diese Erwartung ist so richtig, wie sie falsch ist. Richtig ist sie, weil Theologie tatsächlich eine Funktion der Kirche, genauer gesagt die theologische Praxis der Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich der Wahrheit ist. Indem die Kirche in unterschiedlichen Teildisziplinen Theologie treibt, prüft die Kirche auf unterschiedlichste Weise immer auch sich selbst, ob und inwiefern das, was sie glaubt, denkt, redet, tut, darstellt und veranstaltet, ihrem Wesen, also der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi für ihre jeweilige Gegenwart entspricht. Gerade an einer kirchlichen theologischen Hochschule begleiten der Kirchenbezug und die Kirchenverbundenheit die theologische Reflexion somit auf Schritt und Tritt. Es ist gut und sinnvoll, dass es kirchliche Hochschulen gibt, weil sie sichtbar machen, dass die Kirche und die Leitung der Kirche Interesse an kritischer Theologie haben, dass sie Theologie fordern und fördern und dass diese kirchlich erwünschte, geforderte und geförderte Theologie nicht im luftleeren und bezugslosen Raum, sondern auf Tuchfühlung mit der Kirche geschieht. Es ist gut und sinnvoll, wenn Dietrich Bonhoeffers Frage, wer Christus heute für uns ist,6 als Frage, was heute und morgen christliche, namentlich evangelische Kirche sein kann und sein soll, im Theologiestudium an einer kirchlichen Hochschule präsent ist. Man könnte diese Frage geradezu als heilsame Unruhe des Studiums an einer kirchlichen Hochschule bezeichnen. Und weil dem so ist, wäre es durchaus ungut, ja fatal, wenn der Theologie an einer kirchlichen Hochschule irgendwelche Denkverbote auferlegt oder Fesseln oder gar Maulkörbe angelegt würden und wenn Theologie aus Angst vor dem 6
DIETRICH BONHOEFFER: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 8, hg. v. CHRISTIAN GREMMELS, EBERHARD BETHGE und RENATE BETHGE in Zusammenarbeit mit ILSE TÖDT, Gütersloh 1998, 402.
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Phantasma der dräuenden Präsenz irgendeiner Kirchenleitung nur noch mit angezogener Handbremse oder mit der permanenten Frage nach ihrer Relevanz für eine so oder so gewünschte, ja erwartete kirchliche Praxis möglich wäre. Ich halte es vielmehr mit einem vielzitierten, in verschiedenen Versionen kursierenden Satz, der denn auch verschiedenen Autoren zugeschrieben wird: ‚Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.‘ Oder anders gesagt: ‚Die beste Praxis ist eine gute Theorie.‘ Und Theologie ist eine solche eminent praktische Theorie. Anders gesagt: Sie ist die gute kirchliche Praxis einer selbstkritischen Theorie der Kirche. Es geht also an einer kirchlichen Hochschule aus meiner Sicht keineswegs darum, das Denken auf Biegen und Brechen anwendungsfähig zu machen und theologische Bildung und Wissenschaftsfreiheit voreilig und vorschnell auf Ausbildung zurechtzustutzen. Es geht vielmehr darum, Menschen, deren berufliche Existenz sich später vielleicht im Raum der Kirche ereignet, zum selbstständigen Denken im Horizont der Frage nach dem Wesen und nach der Identität dieser Kirche und des Christseins in der Kirche zu ermutigen und zu befähigen. Eine theologische Hochschule der Kirche kann und soll, wie gesagt, eine Art Geburtshelferin, sozusagen eine Hebammenschule sein, die dabei hilft, Menschen theologisch zur Sprache, zur Welt und vielleicht auch zu Gott, zum Christsein und zur Kirche zu bringen. Der Künstler und Charismatiker Joseph Beuys soll nach einem erschöpfenden Seminartag bei der documenta 6 im Jahr 1977 in Kassel gesagt haben: „Wer nicht denken will, fliegt raus!“ Das klingt hart, schroff, unbarmherzig und eigensinnig. Aber es formuliert eben das heilsame und sinnvolle Gegenteil eines Denkverbots, nämlich ein Denkgebot. Auch und gerade für die Theologie und die Kirche unserer Zeit ist dieses Denkgebot notwendig und notwendend, genauer gesagt überlebensnotwendig. Die Theologinnen und Theologen unserer Kirche, die es hoffentlich in allen Berufsgruppen dieser Kirche gibt, müssen selbstständig denkende Theologinnen und Theologen sein. Und sie müssen ihr Denken immer wieder konfrontieren mit den widerständigen Realitäten von Kirche, Gesellschaft, Gott und Welt. Sie müssen es wagen, die Komfortzonen des schnellen und bequemen Anschlusses an dominierende Narrative, insbesondere an die unwiderstehlichen Narrative des Mainstreams und des sogenannten Zeitgeistes zu verlassen und ihren eigenen Weg des Denkens, Glaubens, Sprechens und Inspirierens entdecken. So kommen wünschenswerter- und idealerweise Menschen zur Welt, zu Gott, zum Glauben und zur Kirche, die aufhorchen lassen, die einen Unterschied machen und die die kirchliche Praxis und die theologische Theorie durch die Tiefenschärfe ihrer Wahrnehmung und durch ihre visionären Ideen geistesgegenwärtig verändern. Ich wünsche mir, dass es Menschen sind, die geistreich, selbstbewusst und furchtlos auch über die Frage der Systemrelevanz unserer Kirche nachdenken. Diese Frage wird ja nicht erst seit der Corona-Pandemie gestellt. Aber die Pandemie ist ein Brennglas, durch das diese Frage buchstäblich
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brennend wird. Könnte es sein, dass Theologie und Kirche gerade dann nicht relevant sind, wenn sie auf Gedeih und Verderb und um jeden Preis relevant werden wollen? Könnten die Zeiten der Verunsicherung, in denen wir leben, Theologinnen und Theologen dazu inspirieren, auf Tuchfühlung mit der Welt zu gehen, die allzu geläufige Sprache von Theologie und Kirche zu verlernen und zu Entdeckerinnen und Entdeckern einer „neuen Sprache“7 zu werden – einer Sprache, die auch und gerade einer zunehmend säkularen Welt glaubwürdig erscheint und daher von dieser Welt verstanden wird? Könnte die wissenschaftliche Theologie zum Laboratorium für diese neue Sprache und für neue Formen von Kirche werden? Und könnte vielleicht die wissenschaftliche Theologie zur Pionierin für andere Orte von Kirche werden, also zu einer explorativen Theologie, die ihren Ort am Schreibtisch, im Hörsaal und im Seminarraum verlässt und sich auf den Weg macht: hinaus auf die Straße und hinein in das reale Leben, um den Puls dieses Lebens zu spüren? Mir würde eine Kirche gefallen, die Sabrina Müller vom Zentrum für Kirchenentwicklung der Theologischen Fakultät der Universität Zürich folgt. In einem Vortrag anlässlich der Tagung der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland plädierte Sabrina Müller für eine Art, also für eine Kunst kirchlicher Biodiversität. Sie imaginiert in ihrem Impuls „kirchliche Hoffnungsgemeinschaften in Netzwerken, vor Ort, in Quartieren, in Cafés“. Denn, so Sabrina Müller, die Gemeinschaft von Menschen basiere mehr und mehr auf Erfahrungen und geteilten Interessen und deshalb müsse Kirche zu einem Begegnungsund Erfahrungsort werden, an dem Menschen Beziehungen knüpfen, sich um einander kümmern und Hoffnungen teilen können. „Kirchenentwicklung braucht ergänzend verschiedene Formen von Kirche, die zusammenspielen durch gemeinsame Werte – kleine Gemeinschaften, die einander tragen und unterstützen, eingebunden in ein größeres System von Gemeinden.“ Sabrina Müller spricht von „pioneering places“, die es bereits gibt und an denen verschiedene Gemeinschaftsformen ausprobiert werden können.8
5.
Campus Neuendettelsau – Die Welt in nuce
Theologische Existenz auf einem geradezu ländlichen, im besten Sinne provinziellen, ein wenig weltabgeschiedenen Campus muss für all das kein Hindernis sein. Im Gegenteil. Es kann vielmehr in ganz besonderer Weise dem theologischen Profil dienen, wenn man sich ein paar Semester in Klausur begibt, sich aufs Wesentliche konzentriert und das gemeinsame theologische Leben einübt – so lange man nur nicht versäumt, sich im Laufe des Studiums auch ein paar 7 8
A. a. O., 436. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=NrkZlmKcTo, zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2022.
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Semester lang in die weitere, um nicht zu sagen weite Welt anderer Universitäten zu begeben und nicht nur kirchliche, sondern auch weltliche Luft zu schnuppern, ja zu inhalieren. Apropos weite Welt! Neuendettelsau ist selbstverständlich mehr – viel mehr! – als die Augustana-Hochschule. Neuendettelsau – das ist auch Diakonie, und das ist auch ‚Mission EineWelt‘, also das Centrum für Partnerschaft, Entwicklung und Mission der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Neuendettelsau, das ist Interkulturalität. Neuendettelsau, das ist gewissermaßen die permanente Auseinandersetzung des christlichen Glaubens mit dem, was geschieht, wenn dieser christliche Glaube seine Geburtsorte verlässt und anderen Denkformen, Narrativen und Überzeugungen begegnet, mit ihnen zusammenlebt, Veränderung motiviert und sich dabei selbst verändert, ohne seine eigene Identität zu verlieren und ohne die Identität anderer Menschen an anderen Orten der Welt zu gefährden, ja zu manipulieren oder gar zu zerstören. Gerade die Beziehung zwischen dem Campus der Augustana-Hochschule und dem Campus von ‚Mission EineWelt‘ macht Neuendettelsau als Lern- und Lebensort so reizvoll, so wichtig und zu einem höchst zentralen Ort unserer Kirche. Durch das Miteinander von Augustana-Hochschule und ‚Mission EineWelt‘ an ein und demselben Ort wird die Begegnung von christlichem Selbstbewusstsein, christlicher Selbstkritik und christlicher Weltoffenheit geradezu zum Dauerthema – und zwar zu einem sehr fruchtbaren Dauerthema. Das Ineinander von theologischer Identitätssuche und interkultureller Auseinandersetzung mit anderen christlichen und nichtchristlichen Identitätsentwürfen in einer Welt vor ungeheuren globalen Herausforderungen lässt Neuendettelsau als Ort erscheinen, an dem geradezu die ganze Welt in nuce gegenwärtig ist. Es ist also keineswegs so, dass man nicht ‚draußen in der Welt‘ ist, wenn man in Neuendettelsau lebt und studiert. Aber natürlich ist jeder und jede, der oder die studiert, ohnehin „draußen in der Welt“. Getreu der Devise, dass Abenteuer und Transformationen zu allererst im Kopfe stattfinden, kann man die Welt auch in die Tiefe ihrer Geistesgeschichte hinein bereisen, ohne den eigenen Schreibtisch zu verlassen. Aber eben nur zu einem gewissen Grad. Abenteuer und Transformationen finden auch ‚draußen‘, in der echten, weder nur virtuellen noch nur intellektuellen Welt statt. Sagen wir es so: nicht alle Wege führen nach Neuendettelsau, aber viele Wege führen von Neuendettelsau in die Welt und ganz real über die Bahnhöfe Neuendettelsau und Wicklesgreuth, über den Albrecht-Dürer-Flughafen Nürnberg und den fränkisch-bayerischen Tellerrand hinaus. Und sie führen vielleicht sogar über die Krisen und Sackgassen unserer Gegenwart und der Gegenwart unserer Kirche, also auch über die drohende Ermüdung des gegenwärtigen europäischen Christentums und über die drohende Erlahmung seiner Geistesgegenwart hinaus. Ich wünsche mir und ich wünsche der Augustana-Hochschule in diesem beschriebenen Sinn, dass möglichst viele Wege aus der Krise in die Geistesgegenwart noch möglichst viele Jahre lang hier in Neuendettelsau begin-
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nen und dass die Geschichte der Augustana-Hochschule zu einer nicht enden wollenden Erfolgsgeschichte visionärer theologischer Geistesgegenwart wird – allen Krisen der Kirche, allen Krisen der Theologie, allen Krisen des Glaubens, allen Krisen der Gesellschaft und allen Krisen der Welt zum Trotz. Ad multos annos!
Kirchliche Interessen und ein selbstbewusstes Gegenüber
Kirchliche Interessen und ein selbstbewusstes Gegenüber
Überlegungen zur Augustana-Hochschule in Zeiten des Umbruchs
Stefan Reimers
STEFAN REIMERS
1.
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern als Trägerin der Augustana-Hochschule: Einblicke in die Situation
1.1
Die Herausforderung der Zahlen
Auf welche Weise wird Kirche in Zukunft im Leben der Menschen und der Gesellschaft wirksam sein? Werden diejenigen, die diese Kirche haupt- oder ehrenamtlich gestalten, mit sich verändernden Rahmenbedingungen auch ihre Gestaltungsvorstellungen verändern, anpassen oder sogar Neues angehen – oder werden viele von ihnen in einer Frustration verharren, die sich durch spürbare Abbrüche oder erfahrbares Desinteresse entwickelt? Diese Fragen beschäftigen Verantwortliche wie Gestaltende in der Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (ELKB) intensiv. Antworten werden nicht zuerst mit Hilfe von Strukturen oder mit Blick auf spezifische Organisationsformen gefunden werden, die überall in der Welt unterschiedlich sind, und gerade in Deutschland intensiv diskutiert werden. Aus meiner Sicht sind organisatorische und strukturelle Ausformungen von Kirche zwar für die individuelle Beheimatung sowie für die ehren- wie hauptamtliche Tätigkeit in Kirche auch zukünftig wichtig. Aber die Entscheidung darüber, ob und wie Kirche in meinem persönlichen Leben als geistlicher, spiritueller Kraft-Ort und als Heimat meines christlich motivierten Engagements eine Rolle spielt oder sogar gesellschaftlich Einfluss nehmen kann, um das gemeinschaftliche Leben durch Gottes Gnade und zum Frieden miteinander zu stärken, fällt nicht anhand starker oder über lange Zeit stabiler Strukturen. Sie fällt in der Auseinandersetzung und konkreten Begegnung mit Menschen. Anders ausgedrückt: Der hohe Verlust an Mitgliedern der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern (ELKB) 75 Jahre nach der Gründung der Augus-
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Stefan Reimers
tana-Hochschule in Neuendettelsau erzählt von der schwindenden Bindungskraft kirchlicher Organisation (nicht erst) in den Zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts. Einer bis ins letzte Detail ausgefeilten kirchlichen Struktur mit schier unendlichen individuellen Zugangs- und Ansprechmöglichkeiten gelingt es nicht (mehr), Zugang zu den Menschen zu gewährleisten und sie mitten in ihrem konkreten Leben individuell angemessen anzusprechen. Bis Mitte des Jahres 2022 haben insgesamt 24 566 Mitglieder die ELKB verlassen – so viele wie noch nie in der ersten Hälfte eines Jahres, und ungefähr genauso viele wie in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils insgesamt. In den Jahren 2012 bis 2021 sind insgesamt 266 368 Menschen aus der ELKB ausgetreten, ungefähr 80 % von ihnen sind als Kirchensteuerzahlende veranlagt gewesen – alles deutet darauf hin, dass dieser Trend nicht nur stabil ist, sondern sich in der aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lage eher noch verstärkt: Kirche kann trotz all ihrer Möglichkeiten viele ihrer Mitglieder nicht binden, und kann auch nur wenige Menschen als neue Mitglieder gewinnen. Für diejenigen, die in Kirche hoch engagiert arbeiten, bedeuten diese Entwicklungen häufig auch persönliche Verletzungen: Was mache ich / machen wir falsch? Warum interessiert es andere nicht, wofür unser Herz (noch immer) brennt? Vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Gesellschaft verstärkt dieser aktuelle und stabile Austrittstrend die sowieso zu erwartenden tiefgreifenden Veränderungen der kommenden Jahrzehnte: Mit der großen Welle der Ruhestandseintritte der ‚Baby-Boomer‘ in den kommenden 15 Jahren gehen nicht nur viele steuerzahlende Kirchenmitglieder, sondern auch viele Kirche gestaltende Mitarbeitende in den Ruhestand. Dies wird mittel- und langfristig drastisch zurückgehende finanzielle Ressourcen, aber auch (ebenso einschneidend) wesentlich weniger haupt- wie ehrenamtliche Mitarbeitende mit sich bringen. Aus finanzpolitischer Sicht passen diese beiden Trends kurz- bis mittelfristig sogar gut zusammen: Notwendige Einsparungen in beträchtlicher Höhe werden zu einem großen Teil durch zurückgehende Personalkosten quasi automatisch erbracht. Personalpolitisch wird die ELKB angesichts zurückgehender Finanzen trotzdem allen aktiven Mitarbeitenden weiterhin sichere Arbeitsplätze bis zum Ruhestand bieten können. Langfristig wird die ELKB dadurch aber zu einer viel kleineren Organisation werden, die die bisher gewohnten großen Kleider ablegen und in wesentlich enger gestrickte Rahmenbedingungen gestalten muss. Diese Notwendigkeit liegt auch nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern ist jetzt anzugehen, weil aktuell (noch) reichlich personelle und finanzielle Kraft im System vorhanden ist, um gestalterisch klug agieren zu können und nicht einfach auf sich verändernde Rahmenbedingungen zu warten. 75 Jahre nach Gründung der Augustana-Hochschule als theologischer Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sind damit die Rahmen-
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bedingungen und Herausforderungen theologischen Forschens und Lehrens vollkommen andere als zur Gründungszeit. Die Situation ist im Grunde paradox: Aktuell ist die ELKB eine hoch ausdifferenzierte und kraftvolle Organisation, die aber kontinuierlich und ohne erkennbare Möglichkeiten des schnellen Gegensteuerns Einfluss und Mitglieder verliert. Perspektivisch bedeutet dies in zehn bis 15 Jahren eine Gestaltungsherausforderung unter ganz anderen, wesentlich eingeschränkteren Rahmenbedingungen. Erlebbare Fülle und erwartbare Einschränkungen müssen aktuell miteinander verknüpft werden. Für eine Hochschule, die gerade mit Blick auf eine von staatlichem Einfluss unabhängige theologische Forschung und Lehre gegründet wurde, wird – aus einer scheinbar unantastbaren Beständigkeit heraus – nun der Blick auf gesellschaftliche und kirchlich sich rasant verändernde Rahmenbedingungen immer prägender und wichtiger werden. Weil sie nur mit diesem Blick nicht nur den (sich durch die Umstände verändernden) kirchlichen Interessen in der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern gerecht werden kann, sondern um auch Theologie neu, anders und intensiv im gesellschaftlichen Diskurs einbringen zu können. Vor allem aber auch, um mit den in Kirche aktuell wie zukünftig engagierten Menschen Grund, Ziel und Vision ihres Engagements zu klären.
1.2
Aktuelle Aufbrüche in der ELKB
Die ELKB reagiert auf diese Herausforderungen mit allen ihren Möglichkeiten und auf allen Ebenen, die ihr als großer Landeskirche zur Verfügung stehen. Diese Reaktion ist gekennzeichnet durch unterschiedliche und sich gleichzeitig ergänzende inhaltliche wie strukturorientierte Prozesse. Der PuK-Prozess (Profil und Konzentration) stellt in dieser ausdifferenzierten ‚Prozess-Landschaft‘ den inhaltlichen Horizont für verschiedene andere Prozesse dar. Dabei geht es um eine Sammlung unterschiedlichster inhaltlicher Perspektiven, innerhalb derer die Gestaltung der ELKB für die kommenden Jahre gedacht wird. Sie sollen zwar einerseits die Vielfalt inhaltlicher kirchlicher Arbeit widerspiegeln, aber innerhalb der Vielfalt angesichts zurückgehender Kräfte zu Konzentrationen führen, die den sich ändernden Bedürfnissen der Menschen und den Möglichkeiten der Kirche entsprechen. Der einfache Zugang zu Gott und zur Erfahrung der Liebe Gottes im eigenen Leben sowie in der Gemeinschaft der Christen steht dabei im Mittelpunkt des Nachdenkens und Arbeitens und soll – als quasi missionarischer Ansatz – dazu führen, dass Menschen sich (wieder) an Kirche binden, weil sie dort geistliche und spirituelle Heimat finden. An der Entwicklung und Umsetzung dieses Prozesses wird intensiv gearbeitet, daraus sind viele unterschiedliche Projekte entstanden (u. a. die MUT-Projekte), gerade auch die vier Organe der Kirchenleitung sind im Rahmen des PuK-Prozesses in engem inhaltlichen Austausch.
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Stefan Reimers
Im Sommer des Jubiläumsjahres der Gründung der Augustana-Hochschule hat ein sogenannter ‚Zukunftskongress‘ der vier kirchenleitenden Organe (Landesbischof, Landessynode, Landessynodalausschuss und Landeskirchenrat) an der nochmaligen Verdichtung der kirchlichen Schwerpunkte gearbeitet. Dabei wurden Perspektiven stark gemacht, die in der kirchlichen und kirchenleitenden Arbeit der Zukunft besonders betont werden sollen: Neben der Kommunikation mit den Mitgliedern auf allen analogen und digitalen Kanälen sind dies unter anderem Fragen der Personalpolitik und Personalentwicklung der Zukunft, Perspektiven einer sinnvollen und weiter zu treibenden Regionalisierung der ELKB mit allen inhaltlichen, strukturellen und hierarchischen Fragestellungen, sowie die Stärkung der spirituellen Orte, Inhalte und Kräfte kirchlicher Arbeit. Insgesamt zeichnet sich die Situation der ELKB durch sich stetig weiter entwickelnde inhaltliche Gestaltungsprozesse aus, die einerseits Richtungen benennen, andererseits immer wieder in Entwicklungen hineinführen, die auch Verunsicherungen über den gemeinsamen Weg mit sich bringen. Insofern ist die inhaltliche Entwicklung der ELKB in vollem Gang, ohne aber schon umwälzende Ergebnisse vorweisen zu können, aufgrund derer sich klare Schwerpunkte der Zukunft inhaltlich bzw. theologisch grundlegen ließen. Der entscheidende ‚Partnerprozess‘ zu PuK ist die Landesstellenplanung (LStPL 2020). Sie gründet alle Entscheidungen über die Verteilung und inhaltliche Gestaltung der zur Verfügung stehenden Stellen in der ELKB auf konzeptionellen Überlegungen. Damit stehen von PuK her begründete Überlegungen im Zentrum der durch den Rückgang an Mitarbeitenden umzusetzenden Stellenanpassungen (10 % Kürzung der Stellen im bayernweiten Schnitt) und der dadurch vorzunehmenden inhaltlichen Konzentrationen. Inhaltliche Überlegungen in den Kirchengemeinden, Dekanatsbezirken und Einrichtungen der ELKB, die von PuK her angestoßen werden, bilden die Grundlage der in der LStPl geforderten konkreten Entscheidungen. Schlichte Kürzungen nach dem sog. ‚Rasenmäherprinzip‘ sollen dadurch ausgeschlossen sein: Wo Kürzungen vorgenommen oder sogar Verstärkungen beschlossen werden, muss auf Grundlage inhaltlicher und gemeinsam erarbeiteter Prinzipien entschieden werden. Dieses Grundprinzip der LStPl wird ergänzt durch zwei weitere Grundlinien, die Inhalt und Struktur miteinander verknüpfen: Die Regionalisierung von Entscheidungsprozessen vor allem auf Ebene der Dekanatsbezirke einerseits, und das Denken in Erprobung andererseits. Hinter der Regionalisierung steht die klare Sicht, dass Kirche sich in der gegenwärtigen Situation in unterschiedlichen Regionen auch unterschiedlich entwickeln wird, und damit auch vor Ort entschieden werden muss, wie Inhalte und Strukturen miteinander zu verknüpfen sind. Diese Regionalisierung ist aber nicht ein billiges Abwälzen zentraler Verantwortlichkeiten auf regionale Ebene, sondern wird gleichzeitig verknüpft mit dem Verständnis von Kirche als einem gemeinsamen Lern-Raum, in dem Erfahrungen ausgetauscht und reflektiert werden, so dass alle von allen lernen kön-
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nen und die Entwicklung der Landeskirche mit den regionalen Entwicklungen innerhalb der Landeskirche eng verknüpft bleibt. Die dazu gehörende Grundhaltung von Kirchenentwicklung ist durch Erprobungen gekennzeichnet, also das Ausprobieren neuer Formen von gemeindlichem und kirchlichem Leben. Ausprobieren bedeutet ausdrücklich gerade nicht, Modelle von Kirchlichkeit jetzt zu entwickeln, die wiederum auf Jahrzehnte hin gelten sollen, sondern gerade kurzfristigere Perspektiven zu entwickeln, die auch schneller wieder weiterentwickelt bzw. durch andere Modelle ersetzt werden können. Allein dies bedeutet einen fundamentalen Wechsel im Selbstverständnis einer öffentlich-rechtlich verfassten Organisation: sich auf Veränderungen, Abbrüche und Aufbrüche also, sowie Erprobungen, Gelingen und Scheitern also, und die dadurch notwendigen andauernden Konsequenzen als Merkmal neuer kirchlicher Stabilität einzulassen. Konzeption und Struktur, Regionalisierung und Erprobung sind die Begriffe, mit denen sich ein Großteil der aktuellen Prozesse der ELKB beschreiben lassen, und die auch eine veränderte Kultur kirchlicher Lebensäußerungen im Angesicht der Herausforderungen und Rahmenbedingungen beschreiben. Darunter lassen sich auch viele weitere Prozesse wie das Miteinander der Berufsgruppen, Immobilien- und Verwaltungsprozesse, die Digitalisierung kirchlicher Kommunikation und Verwaltung oder der Prozess ‚Landeskirchenamt 2030‘ subsumieren. Insgesamt zeichnet sich die ELKB als Kirche aus, die auf allen Ebenen und in alle Strukturen und Inhalte hinein in dauerhaften Umbau- und Gestaltungsprozessen steckt, notwendig geworden durch extrem herausfordernde gesellschaftliche und individuelle Veränderungen, aber noch weitgehend offen in den Ergebnissen und gemeinsamen Zielperspektiven: eine extreme Herausforderung für alle Beteiligten, nicht nur inhaltlich oder strukturell, sondern auch die Motivation und Kraft des Gesamtsystems betreffend – und mit Sicherheit auch eine theologisch zu begleitende und zu bearbeitende Aufgabe.
1.3
Bleibende Herausforderung: Posterioritäten
Die Vielzahl an Prozessen bedeutet jedoch nicht, dass in der ELKB der Veränderungsdruck – und damit verbunden auch die Gestaltungsmöglichkeiten – überall schon erkannt worden sind. Vielmehr zeichnet sich die aktuelle Situation auch dadurch aus, dass aufbrechende wie beharrende Kräfte in Gleichzeitigkeit versuchen, die landeskirchlichen Entscheidungen zu beeinflussen, und darum ringen, zwischen dem Gewohnten und Geliebten einerseits und dem mutigen Aufbruch in Unbekanntes andererseits Wege zu gehen, auf denen möglichst viele aktuell Beteiligte mitgehen können. Beispielhaft kann dies an den ersten Erfahrungen der Umsetzung der LStPl 2020 deutlich gemacht werden: Einerseits wird verstärkt und intensiv über kooperatives Arbeiten zwischen Kirchengemeinden, Dekanatsbezirken und in Re-
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gionen nachgedacht und konzeptionell daran gearbeitet, diese Kooperationen auf klugen Entscheidungen zu gründen. Andererseits stoßen diese Überlegungen dann an Grenzen, wenn die eigene Identität als Kirchengemeinde, Dekanatsbezirk oder Einrichtung bedroht wird. Das ist nicht verwunderlich, führt aber zur größten Herausforderung der kommenden zehn bis 15 Jahre: konkrete und spürbare Einschränkungen des kirchlichen Lebens vornehmen zu müssen. Diese Kürzungen können auch dazu führen, dass Orte des Engagements und der bisherigen kirchlichen Heimat von Individuen und ganzen Gemeinden nicht mehr existieren werden. Sobald dies individuell und ganz konkret deutlich wird, beginnen die Schwierigkeiten für alle gestaltenden Prozesse. Damit wird deutlich, dass die aktuellen und zukünftigen Veränderungen den Kern kirchlicher Identität betreffen, die durch Stabilität und bleibend wichtige Werte bzw. konkrete Arbeit für die Menschen und mit ihnen gekennzeichnet ist. Diese identitätsprägende Stabilität wird durch konkrete Kürzungsprozesse bedroht: Wie können wir Kirche sein, obwohl wir kleiner werden, und zwar deutlich? Wie kann ich selbst überzeugt Christ sein, obwohl viele Menschen um mich herum, und in wachsender Zahl, überzeugt nicht (mehr) Christen sind? Diese grundlegenden Fragen in Zeiten konkret werdender Kürzungen werden dann besonders relevant, wenn sie sich verknüpfen mit den kirchlichen Skandalen der vergangenen und aktuellen Jahre: Hier stellt vor allem der kirchliche Umgang mit sexualisierter Gewalt alle Kirchen, ihre Mitglieder wie Mitarbeitende vor größte Herausforderungen: Wie können wir Kirche sein (und wie kann ich Mitglied einer solchen Kirche sein), wenn unglaubliche Taten sexualisierter Gewalt in Kirche (und Diakonie) überhaupt möglich sind? Und wenn diese Taten und ihre Täter dann systematisch über lange Zeit nicht angemessen bestraft oder verfolgt, sondern sogar noch geschützt werden, um das System Kirche nicht zu beschädigen? Kein anderes Thema führt in vergleichbarer Weise zum Abschied vieler Menschen aus Kirche wie dieses – oder gibt den letzten Ausschlag zum Austritt, der durch fehlende innere Bindung sowieso schon geplant war. Kirche wird kleiner und ihr Ansehen im Inneren wie nach außen schwindet, der verlässliche Zustand von Stabilität oder sogar wachsender Möglichkeiten endet in diesen Jahren. Er endet mit dem Bewusstsein der aktuellen und kommenden Entwicklungen – und stellt Kirche vor die größte Herausforderung: Wie können wir im Kleiner-Werden, in der schonungslosen Reflexion, im Sparen, im Abbauen, in der gewünschten Konzentration, … eine lebendige und den Menschen zugewandte Gemeinschaft und für Mitarbeitende erfüllende Aufgabe sein?
Kirchliche Interessen und ein selbstbewusstes Gegenüber
1.4
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Zwischenstand
In diesen wenigen Grundlinien lässt sich die Situation vieler Kirchen in Deutschland beschreiben, nicht umfassend und auch nicht angemessen alle Möglichkeiten und Chancen wahrnehmend, sondern bewusst die wichtigsten Herausforderungen in den Mittelpunkt stellend. Das ist meines Erachtens wichtig, um auch einen herausfordernden Blick auf die Augustana-Hochschule werfen zu können. Denn als kirchliche Theologische Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wird die Augustana von diesen enormen gesellschaftlichen und kirchlichen Umbrüchen nicht unberührt bleiben, sondern darauf theologisch und reflektiert reagieren müssen. Nur dann, in der Reaktion und den darauf aufbauenden theologischen Perspektiven, wird sie dem Interesse ihrer Kirche dienen, mitten in der Gesellschaft und mitten im individuellen Leben der Menschen Christus zu verkündigen und Gemeinschaft zu ermöglichen.
2.
Die ELKB und ihre Hochschule: Einige Perspektiven zum Jubiläum
Die ELKB, eine der an Mitgliedern, Kirchengemeinden, Einrichtungen, Finanzen, Immobilien und Personal größten bzw. ‚reichsten‘ Landeskirchen Deutschlands, trägt mit der Augustana-Hochschule eine eigene theologische Hochschule. Das ist nicht nur historisch, theologisch oder kirchenpolitisch begründbar. Viele der aktiven oder bereits im Ruhestand befindlichen Pfarrerinnen und Pfarrer der ELKB haben irgendwann einen Teil ihres Theologiestudiums an der Augustana absolviert – und meistens wird die Zeit des Studierens und Lehrens an der Augustana von den Ehemaligen hochgeschätzt. Nicht nur inhaltlich, oder wegen der besonderen Situation einer Campus-Hochschule, sondern häufig auch wegen der lebenslang gepflegten persönlichen Kontakte der ehemaligen Studierenden und eines professionell nicht unwichtigen Netzwerks an Beziehungen durch ein ganzes Berufsleben in der ELKB hindurch. Trotzdem wird von manchen infrage gestellt, ob eine solche, rein kirchliche Hochschule angesichts der inhaltlichen, strukturellen und finanziellen Herausforderungen der ELKB noch an der Zeit ist – und für die Antworten auf die Herausforderungen einen Beitrag leisten kann, der nicht auch an anderer Stelle, zum Beispiel an den theologischen Fakultäten bzw. Fachbereichen der staatlichen Universitäten, anders oder sogar besser geleistet werden könnte. Die Frage nach einer eigenen kirchlichen Hochschule hängt also eng mit den besonderen Möglichkeiten und der theologischen Qualität wissenschaftlicher Arbeit an der Augustana-Hochschule zusammen. Gleichzeitig benötigt eine Kirche in den unter 1. geschilderten Rahmenbedingungen nichts mehr als tiefgrei-
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fende, mutige und streitbare theologische Impulse für ihre eigene Weiterentwicklung und Orientierung in stürmischen Zeiten. Dies kann und muss nicht nur an einer kirchlichen Hochschule wie der Augustana passieren, kann und muss aber dort fraglos seinen Ort haben. Damit muss deutlich sein, dass eine kirchliche Hochschule wie die Augustana neben aller theologischen Wissenschaftlichkeit die sie tragende Landeskirche in ihrer Entwicklung kraftvoll befragen, begleiten und mit inhaltlichen Impulsen herausfordern und stärken muss. Wenn also eine Kirche wie die ELKB in den geschilderten Umständen sich eine eigene theologische Hochschule zur Forschung und Ausbildung ihres theologischen Nachwuchses leistet, wie muss dann der Focus theologischen Arbeitens und einer entsprechenden Ausbildung konkret aussehen?
2.1
Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse
Bisherige Selbstverständlichkeiten kommen an ihr Ende. Das gilt auch im Zusammenspiel von ELKB und Augustana: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich eine Landeskirche eine Hochschule leistet, die einerseits einen klaren kirchlichen Zweck der Nachwuchsausbildung erfüllt, andererseits in der theologischen Forschung und Lehre unabhängig ist, also wissenschaftlich frei – und damit gleichzeitig Gesprächspartnerin für die Institution Kirche und ihre Leitung. Die Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Gegenübersein zwischen Kirche und Hochschule zeichnet dieses Verhältnis aus. Darin liegt kein Widerspruch, sondern geradezu eine sinnstiftende inhaltliche Beziehung, der einen wie der anderen dienend in selbstbewusst geklärtem Gegenüber und Miteinander. Trotzdem: Selbstverständlich ist das nicht. Hinzu kommt, dass sich nicht nur die Kirche in ihrer gegenwärtigen Struktur in tiefen Veränderungs- und Umbruchsituationen befindet, sondern auch die Theologie in ihrer wissenschaftlichen Systematik sowie in ihrem Wert bzw. ihrer Rolle für die Gestaltung des kirchlichen (und gesellschaftlichen) Lebens durchaus hinterfragt wird. Es ist geradezu nicht selbstverständlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer, die ein erstes theologisches (!) Examen abgelegt haben, sich wirklich für Theologie interessieren – vielmehr scheint manchen die Theologie als ein notwendiges Übel auf dem Weg ins Pfarramt, während andere das Pfarramt eher scheuen und die Theologie als Flucht aus dem ernüchternden kirchlichen Alltag verstehen. Deutlich überzeichnet vielleicht, aber letztendlich ein realistischer Blick auf eine Kirche und eine Theologie, die nicht nur immer wieder nicht zusammenpassen, sondern gleichzeitig auch beide infrage stehen, auf ganz unterschiedliche Weise. Insofern ist die Augustana-Hochschule dann doch ein selbstverständlicher Ort, um Kirche und Theologie nicht nur in den sie verbindenden Herausforderungen zu verknüpfen, sondern um Theologie und Kirche auch füreinander fruchtbar zu machen im Sinne eines gemeinsamen Antwortens und eines einan-
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der provozierenden Diskurses über Gott und die Welt und ein gelingendes Christsein in all dem. Dieses Selbstverständnis auszubauen und damit auf verloren gegangene Selbstverständlichkeiten zu reagieren, wird eine Kernaufgabe der kommenden Jahre sein. Das betrifft nicht nur die Ausbildung der jungen Theologinnen und Theologen, Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern auch ein zu intensivierendes theologisches Gespräch zwischen der Kirchenleitung der ELKB und den Lehrenden wie den Studierenden an der Augustana. Dieser Dialog, der kirchlicherseits natürlich nicht nur mit der Augustana zu führen ist, sondern auch die weiteren theologischen Fakultäten, Fachbereiche und Lehrstühle bzw. Professuren einzubeziehen hat, muss die Entscheidungen von Kirche auf all ihren Ebenen und für alle, die an diesen Entscheidungen mitwirken, erleichtern und fördern. Gemeinsames theologisches Nachdenken muss in der ELKB wieder mehr zum Standard werden, und zwar auf eine gerade nicht nur für Theologinnen und Theologen verständliche Weise, sondern vor allem auch für ehrenamtlich Engagierte. Auch Mitglieder, die nicht an Gestaltung von Kirche aktiv teilhaben, müssen besser verstehen und im Gespräch durchdringen können, was theologische Erkenntnisse in ihrem christlichen Alltag für eine Rolle spielen können. Insofern wird es Aufgabe der Augustana als explizit kirchlicher Hochschule sein müssen, den theologisch-wissenschaftlichen Diskurs nicht nur auf hohem Niveau zu führen, sondern gleichzeitig in den Diskurs mit kirchlicher und gesellschaftlicher Öffentlichkeit einzubringen, und zwar viel intensiver als bisher. In diesem Sinne könnte man von der Herausforderung einer ‚öffentlichen‘, die Grenzen wissenschaftlicher Auseinandersetzung überschreitenden Theologie sprechen, die Eingang in die individuellen und kirchlichen Lebensvollzüge finden muss.
2.2
Theologie als kirchliche Kernkompetenz?
Im Rahmen der Gespräche der letzten Jahre ist das Verhältnis der Pfarrerschaft zu den anderen Berufsgruppen innerhalb der ELKB immer wieder problematisiert und bearbeitet worden. Eine weithin traditionell verbreitete Wahrnehmung der Kirche (auch der ELKB) als milieuverengte ‚Pfarrerkirche‘ verbindet sich mit konkreten kritischen Fragen zur Vergleichbarkeit der Qualifikationen und der daraus folgenden unterschiedlichen Besoldung bzw. Vergütung oder der Frage nach Verantwortung und Macht. Der gefühlte bzw. erlebte ‚Vorrang‘ der Pfarrerschaft wird immer wieder deutlich infrage gestellt – gleichzeitig sehen auch die Pfarrerinnen und Pfarrer sich in ihrem besonderen Einsatz, ihrer besonderen Qualifikation und der damit verbundenen Verantwortung bzw. in ihrer kirchenrechtlich hervorgehobenen Bedeutung zu Unrecht infrage gestellt. Im Rahmen des Miteinanders der Berufsgruppen sind insofern auch Trennungen des Miteinanders deutlich geworden, die
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durch die ELKB zu bearbeiten bzw. zu beantworten sind – und zwar nicht nur hinsichtlich historischer Rechts-Konstruktionen oder konkret erfahrener zwischenmenschlicher Verletzungen, sondern vor allem mit Blick auf theologische Grundlegungen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Berufe bzw. Qualifikationen sowie die gesamtkirchlichen Herausforderungen der Zukunft. Grundsätzlich spielt die Theologie als Kernkompetenz innerhalb der ELKB eine hervorgehobene Rolle. Der theologische Diskurs und darauf beruhende theologische Positionierungen sollen das gestaltende, verwaltende und leitende Handeln auf allen kirchlichen Ebenen orientieren, unabhängig von individuellen beruflichen Lebenswegen. Alles Handeln und die konkrete Gestaltung von Kirche sind (jenseits finanzieller oder juristischer Rahmenbedingungen) ohne theologische Grundlegung und Orientierung nicht vorzustellen. Dies unterscheidet die Theologie von allen anderen, für die Gesamtheit kirchlichen Lebens notwendigen Qualifikationen. Dies gibt per se den als Theologinnen und Theologen ausgebildeten Mitarbeitenden eine besondere Rolle und Funktion, unabhängig von ihrer jeweiligen konkreten Aufgabe und Verantwortung innerhalb kirchlicher Strukturen oder Hierarchien. Die ELKB steht deshalb zur universitären und wissenschaftlich geprägten Theologie als Kernqualifikation der Pfarrerschaft innerhalb des weiten Spektrums der für die ELKB nötigen beruflichen Qualifikationen. Sie wird im Regelfall im Theologiestudium erworben und im Vikariat vertieft (wobei ein geregelter ‚Seiteneinstieg‘ qualifizierter Persönlichkeiten auf hohem theologischen Niveau und in Verbindung mit anderen berufs-biographischen Qualifikationen ausdrücklich gewünscht ist). Führungsaufgaben auf allen Ebenen der ELKB, die mit wirtschaftlicher, finanzieller, pädagogischer, … Kompetenz ausgestattet sein müssen, können immer nur im Zusammenhang mit theologischer Kompetenz und Qualifikation gelingen. Dies bedeutet gerade nicht, dass alle Führungspersonen Theologinnen oder Theologen sein müssen – es bedeutet aber, dass alle Führungsaufgaben immer auch theologisch untermauert bzw. begleitet sein müssen. Wie dies konkret aussehen kann, zum Beispiel im Blick auf die sogenannten ‚Multiprofessionellen Teams‘, ist eine aktuell zu klärende bzw. zu erprobende Herausforderung. Diese Herausforderung muss wiederum theologisch fundiert einerseits und pragmatisch auf unterschiedliche Qualifikationen andererseits angegangen werden. Die Augustana als explizit kirchliche Hochschule wird hier eine besondere Rolle spielen müssen, um dem kirchlichen Interesse theologisch geklärter Beziehungen zwischen den Berufsgruppen einerseits und geklärter Zuordnungen unterschiedlicher Qualifikationen bzw. Kompetenzen (haupt- wie ehrenamtlich) gerecht zu werden. Interdisziplinarität in diesem Sinn wird auch theologisch ein viel wichtigerer Aspekt als bisher sein müssen.
Kirchliche Interessen und ein selbstbewusstes Gegenüber
2.3
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Drei kirchliche Hochschulen und die Theologie
Mit der Augustana-Hochschule, der Evangelischen Hochschule Nürnberg (EvHN) und der Hochschule für evangelische Kirchenmusik in Bayreuth trägt die ELKB drei unterschiedliche Ausbildungsstätten, die in ihrer Zielrichtung auf die Berufsgruppen zugeschnitten sind, die in der ELKB (aber auch in der Diakonie) die tragenden Rollen ausfüllen: Pfarrerinnen und Pfarrer an der Augustana; Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, Diakoninnen und Diakone, Erzieherinnen und Erzieher, Pflegekräfte etc. an der EvHN; Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker an der Hochschule in Bayreuth. Damit setzt die ELKB ein deutliches Zeichen sowohl im Blick auf Nachwuchsgewinnung und Qualifikation als auch im Blick auf die Vielfalt in der Kirche arbeitender Menschen und der durch sie einzubringenden Gaben und Kompetenzen. Dies ist als ein deutliches Zeichen der kirchlichen Personalpolitik zu verstehen, dass Kirche gerade keine ‚Pfarrerskirche‘ ist, sondern in unterschiedlichsten Lebensbezügen von Menschen relevant und erlebbar sein kann. Die kirchliche Personalpolitik, hier konkret im Blick auf die Ausbildungsperspektive, unterstützt damit kontinuierlich gesamtkirchliche Entwicklungsperspektiven, die auf den Sozialraum und auf die konkreten Lebensumstände der Menschen zielen, die unter anderem Gemeinde, die Lebenswelt Schule und die Diakonie eng miteinander verknüpfen und quasi ein Netzwerk von Professionalität zur Verfügung stellen, das unterschiedlichste und niedrigschwellige Zugänge zu Menschen und für Menschen ermöglicht. Gleichzeitig ist die ELKB durch ihre Hochschulen mit der gesamten Hochschul-Landschaft im Freistaat Bayern eng verknüpft, und spielt, gerade was den Bereich der Sozialberufe betrifft, eine wichtige und auch politisch anerkannte Rolle. Damit wird ein kirchlicher Anspruch eingelöst, der die Verkündigung des Evangeliums mit der konkreten Gestaltung der Lebensumstände der Menschen verknüpft und damit die Botschaft Christi in unterschiedlichsten Formen gesellschaftsrelevant und, an manchen Stellen, auch die Gesellschaft prägend werden lässt. Die Vernetzung von Kirche, Diakonie und Gesellschaft wird anhand der Hochschulen der ELKB beispielhaft deutlich, und ist für die zukünftige Entwicklung von Kirche und Gesellschaft nicht zu unterschätzen. Dieser vernetzende Ansatz, der im Prozess ‚Profil und Konzentration‘ (PuK) beispielhaft Ausdruck findet, muss auch mit Blick auf die theologische Arbeit an der Augustana-Hochschule zum Ausdruck kommen. Zum einen müssen die Studierenden (und künftigen Pfarrerinnen und Pfarrer der ELKB) von Anfang an eine leitende kirchliche Perspektive kennenlernen und kritisch diskutieren, die Kirche und Gemeinde immer nur in weiteren Zusammenhängen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens sieht – Kirche als offene, vernetzte, sich entwickelnde Größe im Leben der Menschen. Zum anderen muss die Chance dreier Hochschulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten aber auch dahingehend genutzt werden, dass die Theologie quasi als alle kirchliche und diakonische Arbeit
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orientierende Kraft für die beiden nicht theologischen Hochschulen noch besser integriert werden kann. Die Augustana, die EvHN und die Hochschule für evangelische Kirchenmusik werden deshalb in Zukunft enger zusammenarbeiten müssen, in der Verwaltung wie im inhaltlichen. Auch dadurch würde übrigens gewährleistet, dass auch Erzieherinnen oder Pfleger, die im Berufsleben nicht bei Kirche oder Diakonie unterkommen, trotzdem während ihrer Ausbildung mit theologischen Grundthemen und Haltungen (gerade auch im Blick auf theologisch begründete Ethik) in Auseinandersetzung gekommen sind und diese Erfahrungen in ihr Leben und Umfeld weiter mitnehmen. Das ist letztlich das Ziel aller theologischen Auseinandersetzungen: Menschen in eine reflektierende, vertiefende Auseinandersetzung mit den Quellen und Zielen ihres Lebens, mit ihrer Beziehung zu Gott und ihrer Gemeinschaft zu bringen, und damit ihre persönliche wie berufliche Lebensgestaltung auf ein anderes Niveau zu heben. Insofern muss es das Ziel kirchlicher Hochschulpolitik der ELKB in den kommenden Jahren sein, das Netzwerk ihrer drei Hochschulen zu verdichten und der Theologie, die ihren Ort vor allem an der AugustanaHochschule hat, noch intensivere Zugänge zu den anderen Hochschulen zu eröffnen. Das wird auch der Theologie selbst guttun, die noch intensiver mit den Glaubens-, Lebens- und Arbeitsvollzügen von Menschen in Kirche und Diakonie verknüpft wird, und erst so ihre Kern-Kompetenz vollständig einbringen kann.
2.4
Persönlichkeit und Institution
Aus personalpolitischer Sicht ist eines deutlich: Egal, welche Selbstverständlichkeiten für Kirche verloren gehen und welche Selbstverständnisse neu entwickelt werden müssen; ob und wie Theologie als innerer Taktgeber kirchlicher Arbeit verstanden wird oder wie Kirche und Diakonie in Netzwerken der Zukunft denken und sich entsprechend neu aufstellen – nicht zuerst in den Strukturen der Organisation Kirche oder in der Institutionalisierung von Recht, Inhalten oder Hierarchien liegt der Schlüssel für ein lebendiges Christentum. Ausschlaggebend sind vielmehr überzeugende Persönlichkeiten, die in ihrer Individualität und gleichzeitigen Offenheit für Vernetzung Menschen ansprechen, begeistern oder begleiten können. Das Studium der Theologie erfüllt seinen Sinn nicht, wenn es Pfarrerinnen und Pfarrer hervorbringt, die vor allem nach gesicherten Verhältnissen, verlässlichen Rahmenbedingungen und immer klaren Aufgabenprofilen suchen. Angesichts der laufenden und bevorstehenden Entwicklungen werden Pfarrerinnen und Pfarrer benötigt, die eigenständig gestalten, sich Kirche auch ganz anders vorstellen können und zuallererst in Chancen denken, entsprechende Impulse geben und umsetzen können, andere zur Mitarbeit einladen und Verantwortung delegieren können sowie vor allem kommunikativ in höchstem Maße geeignet
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sind, Menschen zu begleiten und Kirche in Netzwerken zu verankern. Diese Qualitäten sind nötig, um einer Kirche im Umbruch, die nicht mehr für selbstverständlich gehalten wird und die deshalb immer wieder neu ihren Platz finden und ihre Rolle definieren muss, zu tatsächlichen Aufbrüchen zu verhelfen. Theologe bzw. Theologin zu sein kann in diesem Rahmen nur bedeuten, die eigene Geschichte und die eigenen Erkenntnisse zu nutzen, um Bewegung zu verursachen. Es sind auf Dauer nicht Strukturen, die Menschen faszinieren, und es sind auch nicht mehr oder weniger klug gebaute Organisationen, die Menschen zur Mitwirkung bewegen. Am Ende sind es Geschichten gemeinsamer Erfahrungen oder das Spannende völlig auseinanderfallender Realitäten, mit denen Menschen sich gegenseitig bereichern können, die Gemeinschaft stiften. Deshalb wird zum Aufbruch in neue und andere Formen kirchlicher Gestaltung die Begegnung zwischen Menschen gehören, die unabhängig von Immobilien, Kirchenrecht, Hierarchien oder Gremienarbeit in der Direktheit der Zwischenmenschlichkeit und eines durchaus biblisch grundgelegten Interesses aneinander geschieht. Damit wird aus meiner Sicht die zwischenmenschliche Kompetenz des Theologischen zur Kommunikations- und Beziehungskompetenz der Theologinnen und Theologen, ohne die Kirche nicht sein wird. Insofern geht es auch in der Theologie nicht zuallererst um noch mehr Wissen und noch mehr Verstehen bis zum letzten Jota, sondern um die Kompetenz der Verständigung zwischen Menschen, die einander häufig nicht nur im Glauben, sondern auch in den Lebensvollzügen des Alltags immer fremder werden. Eine Theologie ohne diese konkrete, zwischenmenschliche und auf Beziehungen zwischen Menschen angelegten Perspektive, gehört in alte Elfenbeintürme der Wissenschaft, aber nicht an eine Hochschule der ELKB. Theologinnen und Theologen, die diese Weite des Menschlichen nicht mitbringen und mit ihrer Theologie der Kirche und unserer Welt kein anderes Antlitz ins Gesicht zaubern möchten, können in der ELKB keine Entwicklung voranbringen. Die zukünftige Gestaltung der ELKB und die darin mitverankerte Aufgabe ihrer theologischen Hochschule hängt also an kommunikativen, beziehungsfähigen Menschen, die den Glauben und das Leben in aller wachsenden Fremdheit einander immer wieder vertraut machen, und Menschen für diesen faszinierenden Weg durch ihre Weite und Klugheit gewinnen können. Es sind nicht zuerst die Partizipation in der Gremienarbeit oder das gepflegte Gemeindehaus, die Stetigkeit einer verlässlichen Verwaltung oder die wunderbaren Orte kirchlich gestalteter Kasualien, sondern es sind zuallererst Menschen, die Kompetenz mit Kommunikation, Frömmigkeit mit Sprachfähigkeit und Wissen mit eigener Tiefe verbinden können, und damit andere faszinieren. Die Augustana-Hochschule wird bei dieser Schwerpunktsetzung der Ausbildung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten durch ihre enge Verflochtenheit mit Wissenschaft und Kirchlichkeit einen wichtigen Beitrag leisten können und müssen.
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2.5
Stefan Reimers
Zwischenstand und Ausblick
Diese Ausführungen sind weder umfassend noch in die Tiefe gehend, aber sie werfen einen Blick auf die Situation, mögliche inhaltliche Perspektiven und die wichtigen Verknüpfungen von Kirche und Hochschule. Daraus ergeben sich meines Erachtens einige Leit-Fäden für die Augustana-Hochschule über ihr Jubiläum hinaus: Theologie wird mit Recht eine Kernkompetenz kirchlicher Gestaltung bleiben, deshalb trägt die ELKB auch in Zukunft mit gutem Recht eine eigene theologische Hochschule, und wird dadurch stärker. In der Verknüpfung mit den anderen kirchlichen Hochschulen und den mit ihnen verbundenen Berufsbildern vernetzt sich Kirche nach innen und außen schon in einer bewusst auf Anknüpfungspunkte angelegten Studien- und Ausbildungslandschaft. Und mit dem Schwerpunkt theologischen Nachdenkens auf das Selbstverständnis von Veränderungsgeschichten hin, in denen Gott und Mensch auf immer wieder neuen Wegen der Welt Frömmigkeit und Geistesgegenwart ins Antlitz zaubern, wird eine an der Augustana-Hochschule gepflegte theologische Arbeit in den Diskurs mit Parochie, Region, Landeskirche und Kirchenleitung ganz anders und viel intensiver eintreten können und müssen als bisher. Entscheidend aber ist in allem, dass Persönlichkeiten Kirche in Zukunft viel stärker prägen müssen in ihrer Kompetenz, ihrer Menschenfreundlichkeit, Gestaltungsfreiheit und Kommunikationsfähigkeit als bisher. Dies muss mit theologischem Wissen, der Kompetenz der Gegenwartswahrnehmung und theologischer Führungs- und Urteilsfähigkeit Hand in Hand gehen. Dies sind nur einige ausgewählte Aspekte der Nachdenklichkeit, mit denen wir auf die unter 1. beschriebenen, sich grundlegend verändernden Rahmenbedingungen reagieren können und müssen. Vieles davon ist auf dem Weg, und an der Augustana-Hochschule erst recht. Aber manches bleibt noch offen und wird eher mit Skepsis betrachtet: Muss das wirklich sein? Ist unsere Situation wirklich so revolutionär? Aus meiner Sicht werden die kommenden zehn Jahre in der Entwicklung der Zahlen und in den daraus folgenden und sich verschärfenden gesellschaftlichen Diskussionen zur Rolle der Kirchen in Deutschland und zur Sinnhaftigkeit einer bisher vereinbarten besonderen Rolle der Kirchen zeigen, dass wir für die Zukunft von anderen Realitäten und damit auch von sich wandelnden theologischen Schwerpunkten ausgehen müssen: Ja, der Ort von Kirche und Theologie im Leben der Menschen und der Gestaltung unserer Gesellschaft wird sich weiter und grundlegend ändern. Die ELKB hat für diese Herausforderung in der Augustana-Hochschule einen wunderbaren kirchlichen Ort und ein selbstbewusstes wissenschaftliches Gegenüber!
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Deutschland1
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht Hans-Peter Hübner
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HANS-PETER HÜBNER
Einführung
Für die Auswahl dieses Themas war der 50. Geburtstag der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern2 maßgeblich, welche am 1. Januar 1972 in Kraft getreten ist. Ihre Traditionslinien, ihre Neuansätze, ihren wesentlichen Inhalt und ihre umfassende Evaluierung in den 1990er Jahren, die 1999 zu einer umfangreichen Novellierung und einer Neubekanntmachung geführt hat,3 sind bereits bei der Tagung unserer Landessynode im November des vergangenen Jahres dargestellt worden.4 In diesem Zusammenhang soll aufgezeigt werden, wie sich seit der Jahrtausendwende das kirchliche Verfassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Deutschland allgemein weiterentwickelt hat (2. Teil) und welche Impulse sich daraus im Kontext der laufenden gesellschaftlichen und kirchlichen Transformationsprozesse nicht zuletzt auch für die Bewertung und Fortschreibung des Verfassungsrechts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) ergeben (3. Teil). Zu berücksichtigen sind dabei – abgesehen von der bayerischen Kirchenverfassung, die selbst seit 2000 immerhin zwölfmal punktuell geändert worden ist5 –, insbesondere 1
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Überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung als Honorarprofessor für Evangelisches Kirchenrecht beim Augustana-Tag am 24. Juni 2022. Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern i. d. Neufassung vom 6. Dezember 1999 (KABl ELKB 2000, 10), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 28. November 2019 (KABl ELKB 2020, 1). Dazu HANS-PETER HÜBNER: Neue Entwicklungen im Verfassungsrecht der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in: HEINRICH DE WALL / MICHAEL GERMANN (Hg.): Bürgerliche Freiheit und christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, Tübingen 2003, 89–110. HANS-PETER HÜBNER: Kirchenverfassung in guter Verfassung! 100 Jahre selbstbestimmte Verfassung und 50 Jahre geltende Kirchenverfassung – Impuls bei der Tagung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern am 23. November 2021, im Intranet abrufbar unter: www.bayern-evangelisch.de/Kirchenverfassung. Dazu HANS-PETER HÜBNER: Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München 2022, 43ff.
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Hans-Peter Hübner
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die durch Zusammenschlüsse von Landeskirchen notwendig gewordenen neuen Verfassungen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (2004),6 der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (2009)7 und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (2012),8 – die Neufassungen der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Baden (2008)9 und der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (2010),10 – die neue Verfassung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers (2019)11 und – der Entwurf einer neuen Verfassung für die Bremische Evangelische Kirche mit Stand vom April 202212 sowie – die Neuausrichtung des Mit- und Nebeneinanders von EKD, VELKD und der unierten Kirchen in den Verfassungsurkunden dieser gliedkirchlichen Zusammenschlüsse im Rahmen des „Verbindungsmodells“13; diese Neuausrichtung ist nicht zuletzt auch durch die Zusammenschlüsse konfessionsunterschiedlicher Kirchen zur mitteldeutschen bzw. zur Nordkirche ganz maßgeblich beflügelt worden. Änderungen des kirchlichen Verfassungsrechts zeigen sich aber nicht nur in dem gerade zitierten mit besonders qualifizierter Mehrheit von den Synoden verabschiedeten, als Verfassung, Grund- oder Kirchenordnung bezeichneten formellen Verfassungsrecht, sondern auch im materiellen Verfassungsrecht, also in einfachen Kirchengesetzen und Verordnungen, durch die in Umsetzung und Ausführung von formellem Verfassungsrecht einzelne Themenbereiche näher geregelt werden, wie z. B. das Kirchenmitgliedschaftsrecht, die Kirchengemeindeordnung und die Wahlordnungen für die Landessynode, das Bischofsamt oder für sonstige kirchenleitende Funktionen. 6
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ABl. EKD 2004, 61; dazu MARTIN RICHTER: Grundordnung und Neubildungsvertrag für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, in: ZevKR 49 (2004), 739– 762. ABl. EKD 2008, 389; dazu RUTH KALLENBACH: Die Verfassung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland – ein Praxisbericht, in: ZevKR 54 (2009), 399–416, und HANS-PETER HÜBNER: Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, in: ZRG.KAN. 100 (2014), 628–653. ABl. EKD 2012, 156; dazu PETER UNRUH: Kirchenbildung und Verfassungsgebung in Norddeutschland, in: ZevKR 57 (2012), 121–145. ABl. EKD 2007, 316; dazu JÖRG WINTER: Die Neufassung der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Baden, in: ZevKR 53 (2008), 174–183. ABl. Evang. Kirche Hessen und Nassau 2010, 118. ABl. EKD 2019, 279. Entwurf mit Stand vom 21. April 2022 abrufbar unter https://www.kirche-bremen.de. Dazu mit weiteren Nachweisen ANNE-RUTH WELLERT: Kirchliche Zusammenschlüsse, in: HANS ULRICH ANKE / HEINRICH DE WALL / HANS MICHAEL HEINIG (Hg.): Handbuch des evangelischen Kirchenrechts § 13, Tübingen 2016, 540–570, 563ff.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
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Diese Aufzählung verdeutlicht, dass bei dem Versuch, einen Überblick über die Entwicklungslinien und Tendenzen des kirchlichen Verfassungsrechts in den letzten gut zwanzig Jahren zu vermitteln, nicht bei allen Themen gleichermaßen tief gegraben, sondern manches nur holzschnittartig angesprochen werden kann. Methodisch bietet es sich an, dem in nahezu allen Verfassungen, Grund- und Kirchenordnungen evangelischer Landeskirchen üblich gewordenen Gliederungsschema zu folgen, wonach – auf eine Präambel bzw. einen Grundartikel und allgemeine Bestimmungen folgend – zunächst die Grundlagen des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts und der kirchlichen Ämter und Dienste, sodann die grundlegenden Rechtsverhältnisse der Kirchengemeinden, der mittleren körperschaftlichen Ebene und der kirchlichen Einrichtungen und Dienste sowie schließlich die Leitungsstruktur der Landeskirche, ihre Gesetzgebung, ihre Gerichtsbarkeit und ihre Vermögens- und Finanzverwaltung entfaltet werden.14
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Entwicklungen seit 2000
2.0
Grundartikel/Präambel
2.0.1
Bedeutung:
Der Grundartikel – bzw. die Präambel – einer Kirchenverfassung steht allen ihren Einzelartikeln voran. Traditionell wird darin auf der Grundlage der Hl. Schrift und des jeweils maßgeblichen Bekenntnisses das theologische Selbstverständnis entfaltet, auf dem die Kirchenverfassung und damit die Landeskirche mit allen, die ihr angehören, und mit allen ihren tatsächlichen, organisatorischen und rechtlichen Erscheinungsformen beruht.15 Es sind Aussagen, die sich jeder rechtlichen Beurteilung entziehen und deshalb eine völlig andere Qualität haben als die nachfolgenden Bestimmungen. Durch diese hervorgehobene und allen anderen Artikeln vorgeordnete Stellung des Grundartikels wird klargestellt, dass Schrift und Bekenntnis Grundlegung und unabdingbare Voraussetzung des kirchlichen Verfassungsrechts und damit des kirchlichen Rechts überhaupt sind. Insofern ist der Grundartikel mit seinen theologischen Grundaussagen Leitlinie, Interpretationshilfe und Interpretationsmaßstab für die nachfolgenden Abschnitte und Bestimmungen. Ob überhaupt und, wenn ja, in welchem Verfahren der Grundartikel einer Kirchenverfassung, soweit er deren Bekenntnisstand umschreibt, geändert wer14
15
So auch zur kirchlichen Verfassungsentwicklung bis 2012 ARNO SCHILBERG: Aktuelle Entwicklungen im evangelischen Kirchenverfassungsrecht, in: ZevKR 57 (2012), 429–442. WILHELM VON AMMON / REINHARD RUSAM: Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München 21985, 29; HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 47f.
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den kann, war Anfang der 1990er Jahre erstmals Gegenstand kirchenrechtlicher, sogar kirchengerichtlicher Klärung.16 Den Anlass dazu gab eine – von zwei Dekanatssynoden und einem Kirchenvorsteher angefochtene – Ergänzung des Grundartikels der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau mit folgendem Wortlaut: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie“ – also die genannte Landeskirche – „die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“
Spätestens seitdem ist deutlich: Da Bekenntnisaussagen nicht selbst Rechtsnormcharakter haben, sondern diesem vorgegeben sind, können sie auch nicht einfach im üblichen Gesetzgebungsverfahren geändert werden.17 Ausdrücklich bestimmt demgemäß Art. 73 der Verfassung der ELKB: „Das Bekenntnis ist nicht Gegenstand der Rechtsetzung.“ Soweit im Grundartikel enthaltene Bekenntnisaussagen substanziell ergänzt oder sonst verändert werden sollen, ist selbst ein mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenes Kirchengesetz nicht ausreichend. Dafür bedarf es vielmehr einer entsprechenden gesamtkirchlichen Meinungsbildung und Überzeugung im Sinne des magnus consensus (Art. 1 CA), den die Landessynode als kirchliches Gesetzgebungsorgan nach einem sorgfältigen Prozess der Konsensbildung nur deklaratorisch feststellen kann. An dem Prozess einer solchen Konsensbildung, die der deklaratorischen Feststellung vorausgeht, sind neben den kirchenleitenden Organen insbesondere die Kirchengemeinden, die Theologischen Fakultäten und Hochschulen sowie – jedenfalls bei einer Mitgliedskirche der VELKD – die VELKD zu beteiligen.18 Im Berichtszeitraum ist der Grundartikel der bayerischen Kirchenverfassung nicht nur erstmals, sondern sogar zweimal geändert worden. Eine substanzielle Änderung der Bekenntnisgrundlagen war damit allerdings nicht verbunden.
2.0.2
Verhältnis zum Volk Israel:
Die erste Änderung erfolgte 2012.19 Sie ist das Ergebnis eines 199820 begonnenen intensiven Vorbereitungs- und Beteiligungsprozesses der theologischen Neube16
17 18 19 20
Urteil des Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der EKHN vom 1. März 1993, abgedruckt in: ZevKR 39 (1994), 300–317. Dazu HEINRICH DE WALL: Die Änderung der Grundartikel evangelischer Kirchenverfassungen, in: ZevKR 39 (1994), 249–270. HEINRICH DE WALL / STEFAN MUCKEL: Kirchenrecht, München 62022, § 24 Rz. 25. HANS-PETER HÜBNER: Evangelisches Kirchenrecht in Bayern, München 2020, 79. Kirchengesetz zur Änderung der Kirchenverfassung vom 1. April 2012 (KABl, 214). Gemeinsame Erklärung der kirchenleitenden Organe der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zum Thema „Christen und Juden“ Herbsttagung der Landessynode 1998, Verhandlungen der Landessynode der ELKB vom November 1998 (Bd. 101), 208ff., sowie DIETER BREIT (Hg.): Schuld und Verantwortung – Ein Wort der Kirche zum Verhältnis von Christen und Juden, München 1999.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
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sinnung auf das Verhältnis der Kirche zum Volk Israel. Der Grundartikel wurde damals um folgenden neuen Absatz 2 ergänzt: „Mit der ganzen Kirche Jesu Christi ist sie“ – also die ELKB – „aus dem biblischen Gottesvolk Israel hervorgegangen und bezeugt mit der Heiligen Schrift dessen bleibende Erwählung.“
Mit dieser Ergänzung des Grundartikels soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das Verhältnis von Christen und Juden grundlegend ist für die Gestaltung des kirchlichen Lebens, für Theologie und Unterweisung und für die Begegnung mit Jüdinnen und Juden und dass sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern damit von einer antijüdischen Auslegungstradition abwendet, die lange Zeit das Denken prägte und unheilvolle Folgen hatte.21 Die zitierte Formulierung hat die Bekenntnisgrundlagen nicht inhaltlich verändert; vielmehr ist nur neu ins Licht gerückt worden, was diesen schon immanent bzw. durch die Heilige Schrift als norma normans im Übrigen sogar vorgegeben ist. Gleichwohl erfolgte wegen der grundsätzlichen Bedeutung und zur weiteren Bewusstmachung dieser Zusammenhänge – über die Befassung der verfassungsrechtlich zuständigen kirchenleitenden Organe hinaus – eine Information und Anhörung aller Kirchengemeinden, Dekanatsbezirke, Einrichtungen, Dienste und Werke sowie der theologischen Ausbildungsstätten in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Mit der Ergänzung des Grundartikels befindet sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der Mitgliedskirchen der EKD, die in ihren Verfassungen ebenfalls ihr Verhältnis zum Judentum bestimmt haben.22
2.0.3
Barmer Theologische Erklärung (BTE):
Entsprechendes gilt für die 2017 erfolgte zweite Änderung des Grundartikels, welche die ausdrückliche Inbezugnahme der Theologischen Erklärung der Barmer Bekenntnissynode vom 31. Mai 1934 (BTE) zum Inhalt hatte. Auf diese ist im Grundartikel ursprünglich nicht ausdrücklich verwiesen worden. Im Vorfeld der Kirchenverfassung von 1972 war zwar eine Erwähnung der Barmer Theologischen Erklärung, wie sie in manchen Verfassungen anderer Gliedkirchen der EKD bereits enthalten war, erwogen worden. Im Ergebnis war davon aber mit Rücksicht auf die vorhandene Bezugnahme in der Verfassung der VELKD (Art. 2) und in der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (Art. 1 Abs. 3) 21
22
Vgl. Gesetzesbegründung, in: Verhandlungen der Landessynode der ELKB März 2012 (Bd. 128), 213f. Allgemein zur Verhältnisbestimmung zum Volk Israel in den evangelischen Kirchenverfassungen HANS-PETER HÜBNER: Das Verhältnis zu Israel als Thema einer evangelischen Kirchenverfassung – Bestandsaufnahme und kirchenrechtliche Standortbestimmung, in: epd-Dokumentation 4/2008, 14–25.
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und die damit auch für die ELKB gegebene Verbindlichkeit abgesehen worden. Im Übrigen konnte auch ohne ausdrückliche Bezugnahme davon ausgegangen werden, dass die grundlegenden Entscheidungen der Kirchenverfassung von 1971 sich dem Geist von Barmen verpflichtet wissen.23 Im Ergebnis eines eingehenden Beratungs- und Beteiligungsprozesses, in den die Kirchengemeinden, Einrichtungen und Dienste, die Theologischen Fakultäten und die Augustana sowie die VELKD einbezogen waren, ist dann allerdings durch Verfassungsänderung vom 30. März 201724 die Barmer Theologische Erklärung als Glaubenszeugnis, in dem „die befreiende und verbindliche Kraft des Evangeliums Jesu Christi aufs Neue bekannt“ worden ist, im vierten Satz von Absatz 3 des Grundartikels auch ausdrücklich verankert worden.25 Die bayerische Landeskirche folgte insoweit der EKM und der Nordkirche; zwischenzeitlich hat auch die Hannoversche Kirche die Barmer Theologische Erklärung in ihrer Verfassung rezipiert. Für lutherische Kirchen war dies kein selbstverständlicher Vorgang, sondern nur unter folgenden von der VELKD bzw. ihrem Theologischen Ausschuss erarbeiteten drei Bedingungen und Kriterien möglich: – Erstens: Die Rezeption der BTE kann die Geltung der lutherischen Bekenntnisschriften nicht aufheben; vielmehr sind diese die hermeneutische Voraussetzung des Verständnisses der BTE. Barmen ist mit anderen Worten von den reformatorischen Bekenntnisschriften her zu lesen und nicht umgekehrt. – Zweitens: Die BTE ist im Unterschied zu den reformatorischen Bekenntnisschriften kein kirchenordnendes Lehrbekenntnis, sondern ein Zeugnis aktuellen Bekennens. – Drittens: es muss ein Mehrwert benannt werden können, der über das schon in den reformatorischen Bekenntnisschriften Gesagte hinausgeht.26 Der Mehrwert kann darin gesehen werden, dass die BTE als Zeugnis zu verstehen ist, das keineswegs nur im Kontext des „Kirchenkampfes“ während des Dritten Reiches relevant ist, sondern insofern eine bleibend normative Bedeutung hat, als sie „unverzichtbare Klärungen […] für die Lehre und das Leben der Kirche“
23
24 25
26
Vgl. GUSTAV-ADOLF VISCHER: Erläuterungen zum Vorentwurf des Verfassungsausschusses für eine neue Verfassung der ELKB, in: HEINRICH RIEDEL: Kirchenverfassung – Vorentwurf ELKB (Februar 1970), München 1970, 41–66, 43, und HANS-PETER HÜBNER: Die Barmer Theologische Erklärung aus kirchenverfassungsrechtlicher Perspektive, in: Nachrichten der ELKB 2014, 229–233, 231. KABl ELKB 2017, 217. Umfassend zum Prozess der Rezeption der BTE in der ELKB RALF FRISCH: Die Barmer Theologische Erklärung in die Kirchenverfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern?, in: KJ 2015, Gütersloh 2018, 78–94, und BERND OBERDORFER: Barmen in Bayern, in: KuD 67 (2021), 280–305. Zit. bei FRISCH: a. a. O., 92.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
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im Widerstreit der Kirche gegen alle „säkularen, religionsförmigen Totalitarismen“ vornimmt.27 Aus kirchenrechtlicher Perspektive lässt sich der Mehrwert der BTE am Beispiel ihrer III. These konkretisieren, wonach „die christliche Kirche […] mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung […] zu bezeugen“ hat, „dass sie allein […] Eigentum“ Jesu Christi ist. So richtig es im Sinne von Art. 15 CA bleibt, dass Ordnungen nicht heilsnotwendig sind, sondern zu den „Adiaphora“ gehören und grundsätzlich frei gestaltet werden können, so wichtig ist der klärende Impuls der BTE, dass die Gestaltung kirchlicher Ordnungen andererseits keineswegs beliebig ist, sondern der möglichst wirksamen Erfüllung des kirchlichen Verkündigungsauftrags verpflichtet ist. Auch und gerade heute ist – je intensiver eine Regelung im Kontext von Verkündigung und Leben der Kirche steht – bei der Transformation von Regelungsvorbildern aus dem Bereich des Staates ebenso wie zunehmend aus der Welt der Wirtschaft in das kirchliche Recht, z. B. im kirchlichen Dienstoder Haushaltsrecht, die Prüffrage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem kirchlichen Selbstverständnis und Auftrag zu stellen. Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass – anders als der Erlanger Fachbereich Theologie – die Münchner Theologische Fakultät und die Augustana-Hochschule in ihren Stellungnahmen die Rezeption der BTE durchaus kritisch beurteilt haben. Insbesondere wurde bezweifelt, dass die Barmer Theologische Erklärung ein angemessenes Dokument der Positionierung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern angesichts der religiösen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart des 21. Jahrhunderts darstellen könne.28
2.0.4
Sozialethische Aspekte:
Kennzeichnend gerade für die Grundartikel neuerer Kirchenverfassungen ist im Übrigen, dass dort – neben der Bekenntnisbindung – auch sozialethische Anliegen zur Sprache gebracht werden. So verpflichtet sich dort die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz dazu, für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einzutreten sowie die Geschlechtergerechtigkeit zu achten. Die Nordkirche unterstreicht in diesem Kontext ihr Bemühen, zum friedlichen Zusammenleben und zum Gespräch mit allen Menschen, gleich welcher Religion und Weltanschauung, beizutragen.
27
28
NOTGER SLENCZKA: Die Vereinbarkeit der Barmer Theologischen Erklärung mit Grundüberzeugungen der lutherischen Kirche und Theologie, in: KuD 57 (2011), 246–259. Im Einzelnen dazu FRISCH: Barmer Theologische Erklärung (s. Anm. 25), 85ff.
68
Hans-Peter Hübner
2.1
Allgemeine Bestimmungen
2.1.1
Auftrag und Aufgaben der Kirche:
In anderen Kirchenverfassungen finden sich solche sozialethischen Selbstverpflichtungen unter den allgemeinen Bestimmungen bei der Beschreibung von Auftrag und Aufgaben der Kirche. Als Beispiel sei Art. 2 der Verfassung der Nordkirche benannt: „(7) Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland tritt ein für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sowie für die Wahrung der in der Gottesebenbildlichkeit gründenden Menschenwürde und der Menschenrechte in der Welt. (8) Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland wendet sich gegen alle Formen der Diskriminierung und fördert ein von Gleichberechtigung bestimmtes Zusammenleben der Menschen.“
Ähnliche Formulierungen haben in die neue Verfassung Hannovers Eingang gefunden. Besonders bemerkenswert und beispielgebend ist, dass darin – soweit für mich ersichtlich– erstmalig in einer Kirchenverfassung die Kunst ganz im Sinne moderner kirchlicher Kunstkonzeptionen als Form der Kommunikation des Evangeliums29 ausdrückliche Erwähnung findet. „Art. 1 Auftrag der Kirche (1) Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers mit allen ihren Mitgliedern und Mitarbeitenden in den Kirchengemeinden und weiteren Körperschaften, Einrichtungen und anderen Formen kirchlichen Lebens trägt Verantwortung für die Erhaltung und Förderung der Verkündigung des Wortes Gottes und der Feier der Sakramente gemäß dem Evangelium. Durch das Evangelium ist sie berufen zum öffentlichen Zeugnis, zum Dienst der Nächstenliebe und zur Gemeinschaft der Kirche. (2) Das Evangelium wird verkündigt und bezeugt vor allem durch Gottesdienst, Gebet, Kirchenmusik, Mission, Seelsorge, Diakonie, Bildung und Kunst sowie durch die Wahrnehmung der kirchlichen Mitverantwortung für Gesellschaft und öffentliches Leben. (3) Verkündigung, Zeugnis und Dienst erfolgen in Gemeinschaft mit anderen christlichen Kirchen und im Zeichen der Treue Gottes zum jüdischen Volk.“
2.1.2
Gliederung und Strukturen der Kirche:
Von zentraler Bedeutung für die Rechtsgestalt einer Kirche ist die Verhältnisbestimmung von kirchengemeindlicher und landeskirchlicher Ebene sowie der anderen kirchlichen Handlungsformen, Einrichtungen und Dienste. Unsere Kirchenverfassung definiert diese wie folgt in Art. 2 KVerf ELKB: 29
Dazu CHRISTIAN GRETHLEIN: Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin 2018, 246.274ff.
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„Landeskirche, Kirchengemeinden und Dekanatsbezirke […] sowie ihre Einrichtungen und Dienste bilden eine innere und äußere Einheit. In dieser Einheit haben sie die zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben notwendige Eigenverantwortung und Freiheit, die durch die kirchlichen Ordnungen gesichert und begrenzt ist.“
Dazu zu lesen ist Art. 1 Abs. 2: „Alle Kirchenmitglieder und die kirchlichen Rechtsträger tragen die Verantwortung für die rechte Lehre und für die zeit- und sachgemäße Erfüllung des Auftrages der Kirche.“
Danach bestimmen weder Zentralismus noch Kongregationalismus, sondern Eigenverantwortung – indes in gemeinsamer Bindung an und Verantwortung für den der ganzen, universellen Kirche gegebenen einen Auftrag – das Nebenund Miteinander der verschiedenen kirchlichen Ebenen und Dienste. Immer wieder einmal muss allzu ortskirchlich fokussiertem Kirchturmdenken entgegengehalten werden, dass die hier gemeinte Eigenverantwortung zu unterscheiden ist von dem Selbstverwaltungsrecht kommunaler Körperschaften. Denn auf allen kirchlichen Ebenen und in allen kirchlichen Organisationseinheiten geht es nicht um Eigenrechte einer Körperschaft, die im Gegensatz zu anderen Ebenen wahrzunehmen sind, sondern um den Beitrag, den eine örtlich bzw. regional oder funktional bestimmte kirchliche Gliederung oder Organisationseinheit – entsprechend dem neutestamentlichen Bild vom Leib und seinen Gliedern (1Kor 12,12ff.) – zur Erfüllung des der Kirche insgesamt gegebenen Auftrags zu erbringen hat.30 Dem entsprechend hat auch das Verfassungs- und Verwaltungsgericht der VELKD in einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 hervorgehoben: „Das Verhältnis zwischen Landeskirche und kirchlichen Körperschaften ist geprägt vom Wesen und geistlichen Auftrag der Kirche. Deshalb ist die Selbstverwaltungskompetenz der Kirchengemeinden nicht mit derjenigen kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften gleichzusetzen.“31
Die neuen Verfassungen Mitteldeutschlands, der Nordkirche und Hannovers unterstreichen diese Zusammenhänge in sehr erfreulicher Klarheit, indem sie die „innere und äußere Einheit“ der kirchlichen Ebenen und Dienste ausdrücklich durch drei Aspekte konkretisieren: a) Die „innere und äußere Einheit“ der kirchlichen Ebenen und Dienste wird ausdrücklich mit dem Begriff der zwischen ihnen bestehenden „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ erläutert (Art. 3 Abs. 1 KVerf EKM; Art. 3 Abs. 2 KVerf Nordkirche). Daraus wird ebenfalls ausdrücklich 30 31
HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 58f. Beschluss des Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der VELKD vom 22. Dezember 2010 – RVG 4/2010/RVG 5/2010 –, Rechtsprechungsbeilage ABl. EKD 2011, 25–27.
70
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b) das die Eigenverantwortung begrenzende Prinzip der innerkirchlichen Solidarität abgeleitet (Art. 5 Abs. 2 Nordkirche). In der Sache ist das auch für die bayerische Landeskirche nichts Neues. Denn z. B. auch in der Kirchengemeindeordnung der ELKB ist schon von jeher bestimmt, dass die Kirchengemeinde sich an den Aufgaben und Lasten der ELKB und darüber hinaus für die kirchlichen Zusammenschlüsse und die weltweiten Aufgaben der Kirche Jesu Christi eintreten soll. c) Schließlich ist es sehr zu begrüßen, dass die genannten Kirchenverfassungen als Maßstab für die Aufgaben- und Funktionsteilung zwischen den kirchlichen Ebenen und Diensten im Rahmen der Dienst- und Zeugnisgemeinschaft ausdrücklich oder umschreibend das Prinzip der Subsidiarität zitieren. So heißt es etwa in Art. 53 Abs. 2 der mitteldeutschen Kirchenverfassung: „Die Landeskirche […] erfüllt Aufgaben, die von den einzelnen Kirchengemeinden und Kirchenkreisen nicht ausreichend erfüllt werden können und daher besser in der Gemeinschaft der Landeskirche wahrzunehmen sind.“
Tatsächlich gibt dieser Grundsatz – unbeschadet seiner Herkunft aus der katholischen Staats- und Soziallehre – für die Austarierung des Mit- und Nebeneinanders der kirchlichen Ebenen wertvolle Orientierung. Er darf allerdings keinesfalls als allein maßgebliches starres Prinzip verstanden werden. Vielmehr kann die Übernahme gerade von besonders komplexen Verwaltungs-, Rechts- und ITAufgaben durch die mittlere oder die landeskirchliche Ebene bzw. ihre (Verwaltungs-)Einrichtungen aus Gründen der Effizienz und Nachhaltigkeit der Aufgabenerfüllung geradezu geboten sein, selbst wenn sie auch auf ortskirchlicher Ebene machbar wären.32
2.1.3
Gemeinschaft mit anderen Kirchen:
Die allgemeinen Bestimmungen der Kirchenverfassungen gehen nicht zuletzt auch auf die deutschland- und weltweit ökumenische Kirchengemeinschaft ein. So ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die 1949 als Bund von lutherischen, reformierten und unierten Kirchen gegründete und seit 1991 als Gemeinschaft ihrer Mitgliedskirchen definierte EKD seit September 2019 aufgrund Änderung ihrer Grundordnung (Art. 1 Abs. 1) und Zustimmung der Gliedkirchen nicht mehr nur nominell, sondern auch theologisch geklärt und rechtswirksam vollzogen den Status einer Kirche hat: „Die Evangelische Kirche in Deutschland ist die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen. Sie versteht sich als Teil der einen Kirche Jesu Christi. Sie achtet die Bekenntnisgrundlage der Gliedkirchen und Gemeinden und
32
Vgl. auch HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 60.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
71
setzt voraus, dass sie ihr Bekenntnis in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche wirksam werden lassen. Sie ist als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen Kirche.“33
Für diese grundlegende Änderung war die vorherige Zustimmung aller Gliedkirchen erforderlich; die Zustimmung der ELKB ist mit Beschluss der Landessynode vom 21. April 201634 erfolgt. Diese Änderung war aufgrund ebenfalls erfolgter Zustimmung aller Gliedkirchen der EKD zur Leuenberger Konkordie vom 16. März 1973,35 wodurch zwischen diesen die volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft hergestellt worden ist, gewiss konsequent. Möglich geworden ist sie indes erst durch einen theologischen Perspektivwechsel, der sich bei der VELKD vollzogen hatte. Während diese über lange Zeit die Überzeugung geltend gemacht hatte, dass eine Kirche nur dann Kirche sein könne, wenn sie eine explizite Bindung an ein Bekenntnis oder mehrere Bekenntnisse entwickelt habe, wird dies unter Hinweis auf die besondere ekklesiale Funktion der EKD jetzt nicht mehr für sachgemäß gehalten. Da nämlich die ekklesiale Funktion der EKD gerade darin bestehe, dass sie – „aufgrund der gewonnenen Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums“ (Leuenberger Konkordie 29) – für die Einheit in der bleibenden Vielfalt der Bekenntnisse einsteht, könne sie diese Aufgabe nachgerade nur dann überzeugend realisieren, wenn sie nicht eines dieser Bekenntnisse zu ihrer Bekenntnisgrundlage erklärt. Festzuhalten ist, dass von dieser Grundordnungsänderung die in der Grundordnung der EKD und im Verhältnis zu den Gliedkirchen bewährte Kompetenzordnung unberührt geblieben ist. Weiterhin kann also die EKD ein neues Kirchengesetz mit Wirkung für ihre Gliedkirchen nach Maßgabe von Art. 10 a ihrer Grundordnung nur dann erlassen, wenn die Gliedkirchen diesem ihre Zustimmung erteilen. Die VELKD hat ihre Verfassung geändert, um der EKM als Rechtsnachfolgerin der Evang.-Luth. Kirche in Thüringen und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen die Fortführung der ehedem thüringischen Mitgliedschaft zu ermöglichen. Nach dem neuen Art. 1 Abs. 6 Verfassung VELKD kann eine Kirche, die durch den Zusammenschluss mit einer anderen Kirche gebildet wurde, auf Antrag die Mitgliedschaft in der VELKD fortsetzen, wenn sie sich in ihrer Verkündigung und Sakramentsverwaltung wie auch in ihrer Ordnung, Leitung und Verwaltung sowie im gesamten Handeln der Kirche an das vornehmlich in der Confessio Augustana und im Kleinen Katechismus Martin Luthers überlieferte Bekenntnis bindet.36 33
34 35
36
Art. 1 Abs. 1 Grundordnung EKD in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 11. November 2015 (ABl. EKD S. 311). Verhandlungen der Landessynode der ELKB vom April 2016, 151f. Auszugsweise abgedruckt im Evangelischen Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, unter Nr. 908 (S. 1581ff). Änderung der Verfassung der VELKD vom 14. Oktober 2008 (Amtsblatt VELKD Bd. VII, 291).
72
Hans-Peter Hübner
2.1.4
Kirche in Staat und Gesellschaft:
Während sich in der Verfassung der ELKB die Bestimmung über das Verhältnis zum Staat auf die Feststellung beschränkt, dass dieses durch vertragliche Vereinbarungen geregelt werden kann (Art. 7), wird die Stellung der Kirche in Staat und Gesellschaft in Art. 5 der neuen Hannoverschen Kirchenverfassung unter Bezugnahme auf den aus der These V der Barmer Theologischen Erklärung abzuleitenden Öffentlichkeitsauftrag37 in beeindruckend umfassender und selbstbewusster, aber auch selbstverpflichtender Weise skizziert: „(1) Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers erkennt eine staatliche Ordnung als Voraussetzung für ein friedliches, gerechtes und die Schöpfung bewahrendes Zusammenleben in einer offenen und solidarischen Gesellschaft an. Einer solchen Ordnung entspricht ein auf der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte gründender freiheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat, dessen Verfassung die Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gewährleistet. Auf dieser Grundlage entscheidet und verantwortet die Landeskirche ihre Angelegenheiten selbständig im Rahmen der allgemeinen Gesetze. (2) Entsprechend ihrem Öffentlichkeitsauftrag nimmt die Landeskirche Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens wahr und beteiligt sich in diesem Rahmen am politischen Diskurs. 2 Dabei orientiert sie sich am Gemeinwohl. Als Christinnen und Christen übernehmen ihre Mitglieder Mitverantwortung für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens. Sie wirken an der öffentlichen Willensbildung mit und engagieren sich zivilgesellschaftlich. (3) Einzelne kirchliche Aufgaben nimmt die Landeskirche im Zusammenwirken mit dem Staat wahr. Das gilt insbesondere für den Religionsunterricht, die Seelsorge in staatlichen Einrichtungen, die theologische Wissenschaft und die wissenschaftliche Ausbildung für kirchliche Berufe. (4) Die Landeskirche und die ihr zugeordneten diakonischen Einrichtungen nehmen im Rahmen des sozialstaatlichen Subsidiaritätsprinzips eigenständig diakonische und pädagogische Aufgaben wahr.“
2.2
Mitgliedschaft
2.2.1
(Geistliche) Gliedschaft in der Kirche Jesu Christi und (rechtlich geordnete) Mitgliedschaft in einer Partikularkirche
Im Abschnitt zur Mitgliedschaft wird üblicherweise die Unterscheidung zwischen der geistlichen, durch die Taufe begründeten und auch durch einen Kirchenaustritt unauflöslichen Gliedschaft in der Kirche Jesu Christi und der rechtlich geordneten, an Taufe, Bekenntnis und Wohnsitz anknüpfenden Mitglied37
Vgl. dazu HÜBNER: Evangelisches Kirchenrecht (s. Anm. 18), 109f.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
73
schaft in einer Partikularkirche artikuliert; außerdem wird die Rechtstellung der Kirchenmitglieder beschrieben.
2.2.2
Allgemeines Priestertum der Getauften
An den Formulierungen der neueren Kirchenverfassungen fällt auf, dass nun auch, was vorher schlichtweg inzident vorausgesetzt war, ausdrücklich auf das allgemeine Priestertum der Getauften als „Grundlage der Rechte und Pflichten der Kirchenmitglieder“ (Entwurf der Verfassung Evangelische Kirche in Bremen 2022) Bezug genommen wird. M. E. kann es unter der Zielstellung der Plausibilisierung der Kirchenmitgliedschaft und der Stärkung der Mitgliederbeziehung nur gut tun, wenn dieser zentrale Impuls lutherischer Reformation, der die unendliche Würde und Verantwortung jedes und jeder Getauften und die daraus folgende Berechtigung und Erwartung zu aktiver Beteiligung am Auftrag und Leben von Gemeinde und Kirche konstatiert, immer wieder neu pointiert, nicht zuletzt auch in Rechtstexten vermittelt wird. „Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amtes halber […]. Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht […]. Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht ist, obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben.“38
Wer diesen Leitgedanken Martin Luthers einmal verinnerlicht hat, wird nicht im Entferntesten auf die Idee kommen, begrüßenswerte Bemühungen um eine Intensivierung der Mitgliederkontakte unter die selbstsäkularisierende, Kirchenmitgliedschaft entwertende Überschrift eines „customer relation management“ zu setzen.
2.2.3
Einladende Kirche an nicht Getaufte bzw. allgemein
a) Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit (ungetauften) Zugezogenen aus der ehemaligen DDR und in Anknüpfung an den Status der Katechumenen in der frühen Christenheit ist bereits 1999 in Art. 9 Abs. 3 der bayerischen Kirchenverfassung die Bestimmung getroffen worden: „Bestimmte Teilnahmerechte und Mitwirkungsmöglichkeiten am kirchlichen Leben kann auch erhalten, wer sich auf dem Weg zur Taufe befindet.“
Im Ausführungsgesetz der ELKB zum EKD-Mitgliedschaftsgesetz (Art. 6 b Abs. 3) ist dieser Impuls wie folgt konkretisiert worden: „Religionsmündige Ungetaufte, die sich am Gemeindeleben beteiligen wollen, sind zu Verkündigung und Unterricht sowie zu allen öffentlichen Veranstaltungen der 38
MARTIN LUTHER, An den christlichen Adel deutscher Nation 1520: WA 6, 407f.
74
Hans-Peter Hübner Kirche eingeladen. Sie können den Dienst der Kirche in Seelsorge und Diakonie in Anspruch nehmen und sich mit Wünschen und Anregungen, die das kirchliche Leben fördern, an die kirchlichen Leitungsorgane wenden. Diejenigen, die sich auf dem Weg zur Taufe befinden, werden ermutigt, den Dienst der Kirche durch ihre Bereitschaft zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten nach Maßgaben der kirchlichen Ordnungen in der Kirchengemeinde und durch ihre Gaben mitzutragen.“
Eine entsprechende Bestimmung findet sich in der Verfassung der EKM. Weiterführend ist, weil sie auch Getaufte anderer Kirchen und die kirchliche Verantwortung für Ausgetretene in den Blick nimmt, die Formulierung in Art. 10 der Kirchenverfassung Hannovers: „Alle Menschen sind eingeladen, das Evangelium zu hören, am kirchlichen Leben teilzunehmen und christliche Gemeinschaft zu erfahren. Nicht Getaufte werden begleitet und zur Taufe ermutigt. Ausgetretene bleiben eingeladen, wieder Mitglied der Kirche zu werden.“
b) Über diese Regelungen hinausgehend, wird immer wieder diskutiert, ob für Menschen, die sich erkennbar für die Kirche interessieren und engagieren, aber sich (noch) nicht zur Taufe entschließen können, rechtsförmlich ein zumindest mitgliedschaftsähnlicher Status oder eine Mitgliedschaft auf Probe („Schnuppermitgliedschaft“) eröffnet werden kann.39 Bedarf und Sinnhaftigkeit solcher zusätzlicher Regelungen sind jedoch zweifelhaft. Denn durch die ausdrückliche Einladung, wie sie in den zitierten Bestimmungen ausgesprochen wird, wird bereits sehr weitgehende Beteiligung am gemeindlichen kirchlichen Leben in einem, den spezifischen Vorstellungen und Interessen der Betroffenen gerecht werdenden Umfang möglich, wie z. B. die Mitwirkung in den verschiedensten Gruppen und Kreisen oder die Übernahme selbst von Leitungsaufgaben in einem kirchengemeindlichen Förder- oder Kirchbauverein. Abgesehen davon lassen die Leitlinien kirchlichen Lebens bei Menschen auf dem Weg zur Taufe regelmäßig die kirchliche Trauung oder Bestattung zu. Andere Mitgliedschaftsrechte bleiben allerdings an die Taufe gebunden; so setzen die Zulassung zum Abendmahl, das Patenamt oder das kirchliche Wahlrecht die Taufe voraus.40 Insoweit gilt es zu beachten, dass die Grenzen zur „Vollmitgliedschaft“ nicht verwischt werden dürfen.41
39
40 41
Vgl. z. B. ILSE JUNKERMANN / MICHAEL GERMANN: pro und kontra: Kirchenmitgliedschaft light?, 49ff. WOLFGANG HUBER; Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998, 246ff. In diesem Sinne auch DE WALL / MUCKEL: Kirchenrecht (s. Anm. 17), 276; ANNE-RUTH WELLERT, Neue Entwicklungen im Kirchenmitgliedschaftsrecht, in: PrTh 43 (2008), 176–224, 181f.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
2.3
Amt und Dienste – Miteinander der Berufsgruppen
2.3.1
Bayern
75
a) Rezeption von „Ordnungsgemäß berufen“ (VELKD 2006) Für die bayerische Landeskirche ist zunächst daran zu erinnern, dass in Aufnahme der Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD „Ordnungsgemäß berufen“ vom November 200642 und aufgrund intensiver theologischer Grundsatzklärung in einem „gemischten Ausschuss“ mit Änderung des Art. 13 der Kirchenverfassung vom April 2012 eine für alle zur Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung haupt- und ehrenamtlich berufenen Personen gleichermaßen geltende Begrifflichkeit und Systematik eingeführt worden ist. Im Sinne eines einheitlichen Verständnisses des ordinierenden Handelns der Kirche ist „Berufung“ nunmehr der gemeinsame Oberbegriff für die Übertragung des Rechts der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung im Sinne von Art. 14 des Augsburgischen Bekenntnisses. Bei Pfarrern und Pfarrerinnen wird diese Berufung als „Ordination“, bei allen anderen beruflichen Mitarbeitenden und bei ehrenamtlichen Prädikanten und Prädikantinnen als Beauftragung bezeichnet. Zwischen Ordination und Beauftragung besteht indes kein qualitativer Unterschied. Sowohl die Beauftragung als auch die Ordination ist einmalig und unbefristet; sie werden unter Handauflegung, Segnung und Sendung in einem besonderen Gottesdienst zugesprochen. Allerdings ergeben sich auf dieser gemeinsamen Grundlage für den konkret übertragenen Dienstauftrag unterschiedliche Arbeitsfelder und Schwerpunkte. b) Prozess „Miteinander der Berufsgruppen“ (2016–2019) Ob die Erkenntnisse des Prozesses „Miteinander der Berufsgruppen“43 auch eine Anpassung des Verfassungsabschnittes zum „Amt der Kirche“ nahelegen oder jedenfalls sinnvoll erscheinen lassen, bedarf einer bisher noch nicht erfolgten, eingehenden Reflexion. Nach meiner persönlichen Einschätzung drängt sich eine Neufassung andererseits aber auch nicht unbedingt auf, da unsere Kirchenverfassung in Art. 12 schon von jeher von einem in verschiedene Dienste gegliederten Amt der Kirche ausgeht und die Erwartung zum Ausdruck bringt, dass die in diese Dienste Berufenen der verschiedenen Berufsgruppen unserer Kirche gut, gerne und wohlbehalten so zusammenarbeiten, dass jede und jeder seinen bzw. ihren Beitrag zur Erfüllung des Auftrags der Kirche erbringen kann: „Das der Kirche von Jesus Christus anvertraute Amt gliedert sich in verschiedene Dienste. Die in diese Dienste Berufenen arbeiten in der Erfüllung des kirchlichen Auftrages zusammen.“
42 43
Texte aus der VELKD 136/2006. Vgl. Abschlussbericht vom März 2019 (www.berufsgruppen-miteinander.de).
76
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Zunehmend wird indes – nicht zuletzt aufgrund der unter bestimmten Voraussetzungen möglich gewordenen berufsübergreifende Besetzung von Pfarrstellen – deutlich, dass dem gewollten guten „Miteinander der Berufsgruppen“ an anderen Stellen unserer kirchlichen Ordnungen stärker Rechnung getragen werden sollte, z. B. bei der Zusammensetzung der Leitungsorgane der kirchlichen Körperschaften (Kirchenvorstand, Dekanatssynode und -ausschuss, Landessynode44) oder im Hinblick auf Funktion und Zusammensetzung des Pfarrkapitels.
2.3.2
Neuere Kirchenverfassungen anderer Landeskirchen
a) Verantwortung/Berufung aller Kirchenmitglieder zu Zeugnis und Dienst Beim Blick in die neueren Kirchenverfassungen anderer Landeskirchen fällt auf, dass dort auch in den das kirchliche Amt und die kirchlichen Dienste betreffenden Abschnitten zunächst auf die gemeinsame Grundlage jeglicher Mitarbeit in der Kirche rekurriert wird, nämlich auf die durch die Taufe begründete und mit dem Leitbild des allgemeinen Priestertums zum Ausdruck gebrachte Verantwortung bzw. Berufung aller Kirchenmitglieder zu Zeugnis und Dienst,45 welche deren aller Teilhabe an den Aufgaben des Auftrages bzw. Amtes der Kirche begründet (vgl. Art. 14 KVerf EKM; Art. 11 Abs. 1 KVerf Hannover) und diese zur christlichen Dienstgemeinschaft formiert. Auch rechtssystematisch ist es sehr vorbildlich, dass die Hannoversche Kirchenverfassung (Art. 11 Abs. 5) – unbeschadet dessen – klarstellend hervorhebt, dass die Übernahme „bestimmter Dienste“ durch Nichtkirchenmitglieder dadurch nicht ausgeschlossen ist: „Bestimmte Dienste können im Rahmen einer kirchengesetzlichen Regelung auch Personen übertragen werden, die nicht Mitglied der Landeskirche oder einer anderen christlichen Kirche sind.“
Denn angesichts der Grundsätzlichkeit dieser Thematik erscheint eine solche auf nähere kirchengesetzliche Ausgestaltung verweisende Feststellung unmittelbar in der Kirchenverfassung als sehr angemessen. Jedenfalls halte ich es rechtssystematisch für unbefriedigend, wenn demgegenüber – wie in Bayern – die Möglichkeit durchaus sinnvoller Ausnahmen von der sog. AcK-Klausel lediglich in einer indes mit Zustimmung von Landeskirchenrat, Landessynodalausschuss und Diakonischem Rat von der Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossenen „Arbeitsrechtsregelung über die berufliche Mitarbeit“46 geregelt wird; bei dieser 44
45
46
Vgl. dazu die Eingabe Nr. 40 der Dekanatssynode München vom 2. Februar 2022 zur Zusammensetzung der Landessynode. Vgl. dazu auch § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 Pfarrdienstgesetz.EKD (Rechtssammlung der ELKB Nr. 500). ARR vom 5. Dezember 2000 (KABl ELKB 2001, 5), geändert durch ARK-Beschluss vom 28. April 2017 (KABl, 260); Rechtssammlung der ELKB, 840.
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Fragestellung geht es um mehr als die bloße „Ordnung und Fortentwicklung der Arbeitsbedingungen“ der Beschäftigten, wozu die Arbeitsrechtliche Kommission im Wege kirchengesetzlicher Delegation durch die Landessynode nach Maßgabe des Arbeitsrechtsregelungsgesetzes47 berufen worden ist. b) Gemeinschaft der verschiedenen Dienste Des Weiteren wird z. B. in Art. 14 Abs. 2 der Nordkirchen-Verfassung die grundsätzliche Gleichwertigkeit und Aufeinanderbezogenheit beruflicher und ehrenamtlicher Dienste hervorgehoben. c) Rahmenregelungen für „besonders geordnete Dienste“ Schließlich enthalten, wie bereits die Verfassung der ELKB, auch die neueren Kirchenverfassungen Rahmenregelungen für „besonders geordnete Dienste“, einschließlich des Verkündigungsdienstes, und für die rechtliche Ausgestaltung der beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeit. Als bemerkenswert erscheint, dass im Unterschied zu Art. 17 der Verfassung der ELKB und zu Art. 18 der mitteldeutschen Kirchenverfassung das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis als regelmäßige Rechtsform der Anstellung von Pfarrern und Pfarrerinnen in den Verfassungen der Nordkirche und Hannovers nicht mehr vorgegeben wird; allerdings ist dieser Grundsatz mittlerweile in dem auch für diese Landeskirchen geltenden Pfarrdienstgesetz der EKD (§ 2 Abs. 148) allgemein verbindlich gemacht.
2.4
Kirchengemeinde und andere Gemeindeformen
Die Kirchengemeinde begegnet in allen betrachteten Kirchenverfassungen weiterhin als körperschaftlich verfasste „Grundeinheit des kirchlichen Lebens der Kirchenverfassung“49. Allerdings zeigen sich zwei, diese Grundstruktur modifizierende und ergänzende Entwicklungslinien.
2.4.1
Erwartung der regionalen Zusammenarbeit:
In Konsequenz der Dienst- und Zeugnisgemeinschaft aller Kirchengemeinden, kirchlichen Ebenen und Dienste wird angesichts der sich verändernden strukturrelevanten Rahmenbedingungen die deutliche Erwartung zu verbindlicher Zusammenarbeit formuliert, die insbesondere im Rahmen der aus dem Kommunalrecht bekannten Rechtsformen der Arbeitsgemeinschaft, der Aufgabendelegation bzw. Zweckvereinbarung und kirchlicher Zweckverbände gestaltet wer47 48 49
Vgl. § 2 Abs. 1 Arbeitsrechtsregelungsgesetz der ELKB (Rechtssammlung ELKB Nr. 770). Rechtssammlung der ELKB Nr. 500. DE WALL / MUCKEL: Kirchenrecht (s. Anm. 17), § 27 Rz. 3ff.
78
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den kann. Beispielhaft seien die Bestimmungen in den Kirchenverfassungen der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Hannover zitiert: Artikel 32 KVerfEKM: „Formen der Zusammenarbeit. (1) Kirchengemeinden sind unbeschadet ihrer Eigenständigkeit zur Zusammenarbeit mit benachbarten Kirchengemeinden und im Kirchenkreis verpflichtet. Dies gilt insbesondere, wenn Aufgaben sonst nicht ausreichend erfüllt werden können und daher besser in der Gemeinschaft mehrerer Kirchengemeinden wahrzunehmen sind. (2) Im Sinne von Absatz 1 können Kirchengemeinden 1. Kirchengemeindeverbände bilden, 2. zur Erfüllung einzelner Aufgaben, insbesondere zur Schaffung gemeinsamer Einrichtungen, Zweckverbände bilden oder 3. die regionale Zusammenarbeit durch Vereinbarungen regeln. Die Vereinigung von Kirchengemeinden bleibt unberührt.“ Artikel 20 KVerf Hannover: „Regionale Zusammenarbeit. Kirchengemeinden stehen in der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft des Kirchenkreises und der Landeskirche. Sie arbeiten mit anderen Kirchengemeinden zusammen und entwickeln geeignete Formen regionaler Zusammenarbeit.“
2.4.2
Andere Gemeindeformen
Zunehmende Bedeutung wird – wie auch der 7. der von der EKD-Synode im November 2020 beschlossenen „Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“50 unterstreicht – anderen und neuen Formen gemeindlichen Lebens beigemessen. Wie das in einer Kirchenverfassung zum Ausdruck gebracht werden kann, ist m. E. besonders anschaulich und umfassend in Art. 3 Abs. 3 KVerfEKM nachzulesen: „Gemeindliches Leben geschieht auch in verschiedenen Bereichen der Bildung, im Zusammenhang besonderer Berufs- und Lebenssituationen, in geistlichen Zentren und in Gruppen mit besonderer Prägung von Frömmigkeit und Engagement sowie in Gemeinden auf Zeit. Diese besonderen Formen von Gemeinde ergänzen das Leben der kirchlichen Körperschaften […]. Sie sind nach Maßgabe der kirchlichen Ordnung in die Zeugnis- und Dienstgemeinschaft eingebunden.“
Diese Bestimmung hat gewissermaßen auch als Vorbild für das im November 2010 von der Landessynode beschlossene Gemeindeformengesetz der ELKB51 gedient. Der dadurch neu gefasste Art. 37 der Kirchenverfassung und der zusätzliche Art. 37a haben folgenden Wortlaut:
50
51
„Hinaus ins Weite – Kirche auf gutem Grund“ – Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche, Beschluss der Synode der EKD vom 9. November 2020, ABl EKD, 252. Kirchengesetz über besondere Gemeindeformen und anerkannte Gemeinschaften vom 8. Dezember 2010 (KABl ELKB 2011, 12).
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„Art. 37 Begriff Dem Auftrag der Kirche Jesu Christi dienen auch besondere Gemeindeformen, Gemeinschaften besonderer Frömmigkeitsprägung, Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sowie Einrichtungen und Dienste. Art. 37a Besondere Gemeindeformen Besondere Gemeindeformen bestehen insbesondere als personale Seelsorgebereiche kirchlicher Körperschaften oder bei diakonischen Einrichtungen. Das Nähere wird in der Kirchengemeindeordnung geregelt.“
Darin (§§–§§ 8, 9, 9 a KGO) finden sich die kirchengesetzlichen Grundlagen u. a. für die 2016 errichtete gebärdensprachliche Kirchengemeinde als einzige körperschaftlich verfasste, landeskirchenweit tätige Personalkirchengemeinde und für die diakonische (Einrichtungs-)Kirchengemeinde Rummelsberg.
2.5
Die mittlere Ebene (Dekanatsbezirk)
Im neueren Kirchenverfassungsrecht bestätigt sich und setzt sich erkennbar fort die seit den 1960er Jahren entwickelte und in den 1990er Jahren konsequent verstärkte strategische Linie, den Dekanatsbezirk nicht mehr nur als Addierung von Kirchengemeinden oder als bloßen Verwaltungsbezirk der Landeskirche wahrzunehmen, sondern ihm als „Schnittpunkt regionaler und funktionaler Dienste“ eigenständige Bedeutung und Aufgabenstellung zuzuweisen und „zu einer eigenständigen geistlichen und organisatorischen Aktionseinheit“ auszugestalten (VELKD 1967: 36 Thesen zur Kirchenreform).52 In der ELKB hat die Zielsetzung der Stärkung der mittleren Ebene u. a. im 1995 eingeführten alternierenden Dekanswahlverfahren,53 in den dem Dekanatsbezirk nun zugewiesenen verstärkten Kompetenzen bei der Umsetzung der Landesstellenplanung54 und der Entwicklung regionaler Gebäudekonzeptionen v. a. für die Pfarrhaus- und Gemeindehausbedarfsplanung55 und in der Trägerschaft von Verwaltungseinrichtungen, deren Dienstleistungen von den Kirchengemeinden nunmehr verbindlich in Anspruch zu nehmen sind,56 ihren Niederschlag gefunden. Auch gibt es mit dem Instrument der Ergänzungszuweisung, die im Sinne des Solidaritätsprinzips dem Ausgleich von Besonderheiten oder besonderen Belastungen einzelner Kirchengemeinden im Dekanatsbezirk und der
52
53 54 55
56
Verh. der Generalsynode der VELKD 1967, 379–392 (389f.); auch abgedruckt in: Lutherische Monatshefte 1967, 292–297. Vgl. §§ 20ff Pfarrstellenbesetzungsordnung ELKB (Rechtssammlung der ELKB Nr. 510). § 26 Abs. 3 Buchst. b Dekanatsbezirksordnung ELKB (Rechtssammlung ELKB Nr. 310). § 3 Abs. 3 i. V. m. § 6 f Kirchengemeinde-Bauverordnung ELKB (Rechtssammlung ELKB Nr. 360). § 3 Abs. 2 Verwaltungsdienstleistungsgesetz der ELKB (RS 317).
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Förderung ihrer Zusammenarbeit dienen soll,57 im System des innerkirchlichen Finanzausgleichs erste Ansätze, dem Dekanatsbezirk auch stärkere wirtschaftliche Finanzverantwortung zuzuweisen. Insoweit ist freilich zu konstatieren, dass sich solche Ansätze doch noch recht bescheiden ausnehmen im Vergleich zur Finanzverfassung insbesondere in Mitteldeutschland und in der Nordkirche und zunehmend auch in Hannover. In der Nordkirche ist nicht – wie in den meisten Gliedkirchen der EKD – die Landeskirche unmittelbare Empfangsberechtigte der Kirchenumlagen; vielmehr sind dies dort die als „Kirchenkreise“ bezeichneten Dekanatsbezirke. In Mitteldeutschland und in Hannover erhält die „mittlere Ebene“ Gesamtzuweisungen der Landeskirche, die nicht nur den Sachbedarf, sondern umfänglich auch den Personalbedarf und zwar auch für das landeskirchlich angestellte theologischpädagogische Personal einschließen.
2.6
Anerkannte Gemeinschaften, Einrichtungen und Dienste
Mit dem bereits erwähnten verfassungsändernden Kirchengesetz über besondere Gemeindeformen von 2010 wurde in Bayern nicht nur die Grundlage gelegt für besondere, auch dekanats- und landeskirchenweite Gemeindeformen, sondern auch für die Anerkennung von Gemeinschaften besonderer Frömmigkeitsprägung, insbesondere die landeskirchlichen Gemeinschaftsverbände z. B. von Puschendorf, der Hensoltshöhe und von Bad Liebenzell. Nicht zuletzt sind dadurch erstmalig die Kommunitäten wie z. B. auf dem Schwanberg und in Selbitz und geistliche Gemeinschaften wie z. B. der Heilsbronner Konvent und die Rummelsberger Diakonen- und Diakoninnengemeinschaften ausdrücklich auch für unsere Kirche als „vierte Grundgestalt der Kirche“58 gewürdigt worden. Ein nicht unerhebliches Regelungsdefizit, das aufgrund ganz selbstverständlichen konstruktiven Zusammenwirkens im praktischen Leben bisher offenbar überhaupt nicht aufgefallen ist, wird indes im Vergleich mit den Kirchenverfassungen von Baden, der EKM, Hannovers und der Nordkirche in Bezug auf die Theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten und die kirchlichen Hochschulen deutlich. Dort nämlich wird der außerordentlich gewichtige, unverzichtbare und möglicherweise noch wachsende Beitrag, den die Theologischen Fakultäten und kirchlichen Hochschulen als Kompetenzzentren theologischer Ausbildung, Lehre und Forschung, lebenslangen Lernens und in der Bera57
58
§ 26 Abs. 3 Buchst. p) Dekanatsbezirksordnung ELKB (Rechtssammlung ELKB Nr. 310) i. V. m. § 4 Abs. 4 Finanzausgleichsverordnung ELKB (Rechtssammlung ELKB Nr. 439). Vgl. HANS DOMBOIS: Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht II, Bielefeld 1974, 35– 51, und KIRCHENAMT DER EKD (Hg.): Verbindlich leben – Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 88 (2007).
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81
tung der kirchenleitenden Organe leisten, eigens dargelegt. Als besonders gelungen erscheint die Formulierung in der Kirchenverfassung der mitteldeutschen Kirche: Art. 79 KVerfEKM „Zusammenarbeit mit den Theologischen Fakultäten. (1) Die Evangelisch-Theologischen Fakultäten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Friedrich-Schiller-Universität Jena wirken als Stätten theologischer Forschung, Lehre und Ausbildung mit den Leitungsorganen der Landeskirche zusammen, indem 1. sich ihre Mitglieder nach Maßgabe der kirchlichen Prüfungsordnungen an der Durchführung der theologischen Prüfungen beteiligen, 2. sie die kirchlichen Leitungsorgane durch theologische Gutachten beraten, 3. sie je eines ihrer der Theologischen Prüfungskommission angehörenden Mitglieder in die Landessynode entsenden, 4. ihre Mitglieder nach Maßgabe des kirchlichen Rechts bei Lehrbeanstandungsverfahren mitwirken. (2) Zum Austausch über grundsätzliche Fragen der Theologie, der kirchlichen Lehre, der theologischen Ausbildung und des kirchlichen Lebens kommen Vertreter des Landeskirchenrates und der Theologischen Fakultäten mindestens einmal im Jahr zusammen.“
2.7
Leitung der (Landes-)Kirche
In Bezug auf die landeskirchlichen Leitungsstrukturen wird – bei fortbestehenden Unterschieden in Einzelheiten – eine deutliche Annäherung der Regelungen sichtbar.59 Zwei wesentliche Kernsätze der Verfassung der ELKB, wonach Leitung der Kirche einerseits „zugleich geistlicher und rechtlicher Dienst“ ist (Art. 5) und andererseits „in arbeitsteiliger Gemeinschaft und gegenseitiger Verantwortung“ mehrerer Organe (Art. 41) geschieht, haben nun auch Eingang in die Verfassungen der mitteldeutschen Kirche, der Nordkirche und Hannovers gefunden.
2.7.1
Leitungsmodell
a) Dienstcharakter kirchlicher Leitung auf allen Ebenen Die Formel, wonach Leitung der Kirche übrigens auf allen ihren Ebenen zugleich geistlicher und rechtlicher, d. h. äußerer und damit auch Finanz-, Organisationsund IT-Fragen einschließender Dienst ist, ist inspiriert von den Thesen 3 und 4 der Barmer Theologischen Erklärung, indem sie auf den untrennbaren Zusammenhang von Botschaft und Ordnung, welcher eine Scheidung der äußeren Ordnung vom Bekenntnis nicht zulässt, und darauf aufmerksam macht, dass die verschiedenen Ämter in der Kirche keine Herrschaft der einen über die anderen 59
So bereits SCHILBERG: Aktuelle Entwicklungen (s. Anm. 14), 429; einen umfassenden Überblick über Entwicklung und Regelungen gibt CHRISTIAN HECKEL: Die Verfassung der evangelischen Landeskirchen, in: ANKE / DE WALL / HEINIG (Hg.): Handbuch (s. Anm. 13), § 11, 437– 514, 446ff.
82
Hans-Peter Hübner
begründen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.60 b) Miteinander und Gegenüber Ganz überwiegend in den Gliedkirchen der EKD und ausschließlich in den neuen Kirchenverfassungen ist das sog. Trennungssystem – im Unterschied zum reformierten Einheitssystem Rheinlands und Westfalens61 – und damit nicht synodale Monokratie, sondern kirchliche Funktionstrennung verwirklicht, die in Analogie zu staatlicher Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) ausgestaltet ist. Dabei besteht kein oberstes Leitungsorgan. Vielmehr sind die synodalen Organe, der bischöfliche Dienst und das schwerpunktmäßig mit der Exekutive betraute hauptamtliche Leitungskollegium – in Bayern der Landeskirchenrat – einander gleichgestellt und gleichberechtigt, wobei jedes Organ seinen eigenen, klar beschriebenen Funktionsbereich hat, welcher in Koordination mit den jeweils anderen kirchenleitenden Organen wahrzunehmen ist. Im Sinne einer solchen Funktionsteilung liegt der Aufgabenschwerpunkt der Landessynode bei der Legislative, der Feststellung des Haushalts und der Bischofswahl. Dem Landeskirchenrat als hauptamtliches Kollegialorgan obliegen schwerpunktmäßig die Exekutive und die rechtliche Vertretung der Landeskirche; er ist insofern gewissermaßen auch der „Motor der Landeskirche“62, als er proaktiv und systematisch kirchliche und gesellschaftliche Entwicklungen auszuwerten und entsprechende Initiativen nicht nur im Rahmen der Gesetzgebung zu ergreifen hat. Das Amt des Landesbischofs bzw. der Landesbischöfin als Pfarrer bzw. Pfarrerin für den Bereich der ganzen Landeskirche und gewissermaßen ihr „Gesicht“, ist geprägt durch die geistlich-theologische Leitung der Landeskirche, ihre Vertretung in der Öffentlichkeit – eine Aufgabe, die zunehmend bedeutsamer geworden ist und sich vielfältig ausdifferenziert hat – sowie durch den Vorsitz im Landeskirchenrat. Der Landessynodalausschuss ist zunächst die ständige Vertretung der Landessynode. Er ist das am wenigsten öffentlichkeitswirksame Leitungsorgan. Im Zusammenspiel von Landessynode einerseits und Landesbischof bzw. Landesbischöfin und Landeskirchenrat nimmt er indes in der ständigen Vermittlung 60
61
62
Vgl. HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 7 und 71ff.; vertiefend WOLFGANG HUBER: „Geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit“ – Ordnung der Kirche in theologischer Perspektive, in: ZevKR 63 (2018), 1–13, und HENDRIK MUSONIUS: „… geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit“. Das Leitungsdogma als Pathosformel, in: ZevKR 64 (2019), 47–67, 49ff. Vgl. HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 181 mit weiteren Nachweisen, grundlegend insbesondere MARTIN HECKEL: Kirchenreformfragen im Verfassungssystem. Zur Befristung von Leitungsämtern in einer lutherischen Landeskirche, in: ZevKR 40 (1995), 280–319, 302ff., auch in: DERS.: Gesammelte Schriften Bd. III (Jus Eccl. 58), Tübingen 1997, 553–594, 576ff. GERHARD GRETHLEIN: Arbeitsteilige Kirchenleitung in einer lutherischen Kirche, in: „Wägen und Wahren“ – Festschrift für Werner Hofmann zum 50. Geburtstag, München 1981, 67– 100, 80.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
83
zwischen diesen anderen Leitungsorganen eine unverzichtbare Rolle in der landeskirchlichen Binnenkommunikation, indem er ganz maßgeblich Inhalte und Atmosphäre prägt und dadurch die gegenseitige Verantwortung der kirchenleitenden Organe laufend aktualisiert. „Gegenseitige Verantwortung“ bedeutet, dass unbeschadet der Federführung und primären Handlungsobliegenheit des jeweiligen Organs die anderen Leitungsorgane zu einem dafür angemessen frühzeitigen Zeitpunkt einzubeziehen sind, umso grundsätzlicher und strategisch bedeutsamer eine Angelegenheit für unsere Kirche ist. Gewiss ist die gleichgeordnete „arbeitsteilige Gemeinschaft und gegenseitige Verantwortung“ der kirchenleitenden Organe in der Praxis mitunter eine Herausforderung, die Chance dieses – in der Sache in den allermeisten Gliedkirchen der EKD geltenden – Modells, das ständiges gegenseitiges Aufeinanderhören, Ernstnehmen und Abstimmen erfordert, liegt aber darin, dass auf diese Weise im Interesse der Einheit der Kirche bestmöglicher Konsens hergestellt werden kann. c) Überwiegend (zusätzliches) „kirchenleitendes Konkordanzorgan“ Zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem Leitungsgefüge unserer Landeskirche und demjenigen der meisten anderen Gliedkirchen der EKD bestehen darin, dass – einerseits dort die Leitungsverantwortlichen in regionalbischöflicher Funktion nicht dem hauptamtlichen Kollegialorgan angehören und diese stattdessen einen eigens institutionalisierten Bischofsrat oder Propstkonvent bilden63 und – andererseits ein weiteres – meist als „Kirchenleitung“ bezeichnetes – Leitungsorgan („kirchenleitendes Konkordanzorgan“64) besteht, das sich zum Zwecke der gegenseitigen Vernetzung und strukturierten Abstimmung aus Mitgliedern der anderen Leitungsorgane (einschließlich des Bischofsrats) zusammensetzt. So gesehen verfügt die bayerische Landeskirche über eine vergleichsweise schlanke und konzentrierte Leitungsstruktur.
63
64
Die in Bayern 1999 eingeführte Bezeichnung „Regionalbischof“ bzw. „Regionalbischöfin“, die streng genommen nur im jeweiligen Kirchenkreis verwendet werden darf (Art. 64 Abs. 1 Satz 2 KVerf ELKB), ist mittlerweile auch in der EKBO, in der EKM und in Hannover aufgegriffen worden. Vgl. HECKEL: Verfassung der evangelischen Landeskirchen (s. Anm. 59), 509.
84
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2.7.2
Landessynode
a) Mittelbare Wahl der Landessynode Mit Ausnahme von Württemberg, wo eine sog. „Urwahl“ unmittelbar durch die Kirchenmitglieder stattfindet,65 wird die Landessynode mittelbar durch die Kirchenvorstände gewählt. 2005 und 2017 hat sich die Landessynode der ELKB eingehend mit der Frage befasst, ob auch in Bayern eine Direktwahl unter dem Gesichtspunkt der Verbreiterung der Basis der Wahlberechtigten vorzugswürdig sei, hat dies aber im Ergebnis ebenso – wie offensichtlich z. B. auch die Synoden der Landeskirchen, die sich neue Verfassungen gegeben haben – verneint.66 b) Ordinierte und berufliche Mitarbeitende in der Landessynode Der gewachsenen Bedeutung anderer beruflicher Mitarbeitergruppen an der Gestaltung des kirchlichen Lebens und andererseits der Gewährleistung eines festen Proporzes „echter“ Ehrenamtlicher in der Landessynode, würde es entsprechen, wenn bei der Zusammensetzung der Landessynode nicht – wie bisher jedenfalls in der bayerischen Kirchenverfassung – nur zwischen ordinierten und nicht ordinierten Synodalen unterschieden würde. Diese Unterscheidung kann aber keineswegs einfach durch das Begriffspaar „beruflich und ehrenamtlich“, wie es in einer Eingabe der Dekanatssynode München an die Landessynode67 gefordert worden war, ersetzt werden. Denn mit einer solchen Formulierung wäre das Erfordernis hinreichender Teilhabe des ordinationsgebundenen Amtes nicht transparent und verbindlich genug abgebildet. Demgegenüber bietet auch insoweit die Verfassung der Hannoverschen Kirche eine adäquate Lösung an: Art. 46 Abs. 2 KVerf. Hannover: „Der Landessynode gehören Nichtordinierte, Ordinierte und beruflich Mitarbeitende an. Ihr dürfen nicht mehrheitlich Ordinierte und beruflich Mitarbeitende angehören.“
c) Jugenddelegierte bzw. Jugendsynodale 2017 und damit, bevor es auf der Ebene der EKD und der VELKD und mancher ihrer Mitgliedskirchen zu einer gleichberechtigten Beteiligung junger Menschen an synodalen Mitwirkungs- und Entscheidungsprozessen gekommen ist, haben die 2001 in der ELKB eingeführten, bisherigen drei Jugenddelegierten mit dem Stimmrecht – nun als Jugendsynodale – den vollen Mitgliedsstatus in der Landessynode erhalten. 65
66
67
Ausführlich dazu NIKOLAUS NÄRGER: Das Synodalwahlsystem in den deutschen evangelischen Landeskirchen im 19. und 20. Jahrhundert (Jus. Eccl. 36), Tübingen 1988, 218–252, und MARTIN DAUR: Probleme des Synodalwahlrechts in Württemberg, in: ZevKR 21 (1976), 1–18. Vgl. dazu Verhandlungen der Landessynode der ELKB November 2005 (Bd. 115), 105ff. 174ff.303ff., sowie November 2017 (Bd. 139), 160. Eingabe Nr. 40 vom 2. Februar 2022.
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d) Inkompatibilität als Regel In der Regel ist das oben bereits erwähnte Trennungsprinzip mit dem Grundsatz der Inkompatibilität verbunden, d. h., der Landesbischof bzw. die Landesbischöfin und die Mitglieder des Landeskirchenrates können nicht der Landessynode angehören und umgekehrt. Eine interessante, durch die Verfassungstraditionen der in ihr vereinten ehemaligen Thüringischen Landeskirche und der ehemaligen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen68 findet sich in der Verfassung der mitteldeutschen Kirche: dort gehören der Landesbischof bzw. die Landesbischöfin, seine bzw. ihre zwingend aus dem Kreis der Regionalbischöfe und -bischöfinnen zu bestimmende Stellvertretung und die Leitung des Landeskirchenamtes der Landessynode an, um die gemeinsame kirchenleitende Willensbildung zu symbolisieren.
2.7.3
Amtszeitbegrenzung für Bischofsamt und hauptamtliche Mitglieder der Kirchenleitung
Während für überwiegend reformiert geprägte Kirchen sich Amtszeitbegrenzungen schon aufgrund der Wahlzyklen der Synode auch für die aus ihr unmittelbar hervorgehenden anderen Leitungsorgane und -personen ergeben, sind in lutherischen Kirchen Amtszeitbegrenzungen für hauptamtliche Leitungsfunktionen nicht systemimmanent vorgegeben.69 Als in Bayern im Zuge der Verfassungsnovelle von 1999 für die Mitglieder des Landeskirchenrates eine zehnjährige Amtszeit mit Wiederwahl und für das Bischofsamt eine zwölfjährige Amtszeit eingeführt worden ist, für dieses aber ohne Wiederwahlmöglichkeit, was im Interesse seiner Unabhängigkeit und in Analogie zur für Bundesverfassungsrichter geltenden Regelung begründet worden ist, spielte die bayerische Landeskirche insoweit eine Vorreiterrolle; denn vorher gab es im Bereich der Mitgliedskirchen der VELKD Amtszeitbegrenzungen nur für das Bischofsamt in Mecklenburg und in Nordelbien. Demgegenüber ist heute – mit Ausnahme von Braunschweig und Schaumburg-Lippe – das Bischofsamt auch in allen Kirchen der VELKD befristet, in der Regel sind dies die Leitungsfunktionen in den Landeskirchenämtern. In Hannover, Mitteldeutschland und der Nordkirche erfolgt die Bischofswahl auf zehn Jahre, in Sachsen auf 12 Jahre jeweils mit der Möglichkeit der Wiederwahl bzw. einer (einmaligen) Verlängerung des Dienstes bis zum Ruhestand. Zur Frühjahrstagung 2022 der Landessynode der bayerischen Landeskirche ist eine Gesetzesinitiative zur Änderung der Kirchenverfassung eingebracht worden, die eine Reduzierung des Wahlzeitraums für das Amt des Landes68
69
Dazu ausführlich HANS-PETER HÜBNER: Die Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland, in: ZevKR 51 (2006), 3–48, 26f. m. w. N. Grundlegend dazu HECKEL: Kirchenreformfragen (s. Anm. 61), 312ff. bzw. 587ff.; HECKEL: Verfassung der evangelischen Landeskirchen (s. Anm. 59), 449.
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bischofs bzw. der Landesbischöfin auf sechs Jahre bei gleichzeitiger Zulassung einer einmaligen Wiederwahl vorsah. Diese Änderung ist einerseits im Interesse stärkerer „Rückbindung des Amtes an die Synode“, andererseits damit begründet worden, dadurch „individuellen biographischen Möglichkeiten“ zur Übernahme dieses Amtes besser Rechnung tragen zu können. Da die Umsetzung dieses Vorschlags insbesondere die Unabhängigkeit des Bischofsamtes im Gegenüber zur Landessynode und seine Wirksamkeit z. B. in der EKD nicht unerheblich tangieren und zudem die Stellung des Landesbischofs bzw. der Landesbischöfin im Kollegium des Landeskirchenrates, dessen weitere Mitglieder auf zehn Jahre berufen werden, deutlich schwächen würde, wurde er von der Landessynode mit großer Mehrheit abgelehnt.70
2.8
Kirchliche Rechtsetzung
Eine wesentliche Neuerung im kirchlichen Verfassungsrecht stellen die im Abschnitt über die kirchliche Rechtssetzung eingefügten Erprobungsklauseln dar, mit denen die Wirkungsweise neuer Regelungen vor ihrer endgültigen Fixierung erst einmal ausgetestet werden sollen. Ihnen kommt unter der Zielstellung einer Flexibilisierung der kirchlichen Organisation zunehmende Bedeutung zu. Art. 76 KVerf ELKB: „(1) Zur Erprobung oder zur Einführung neuer Arbeits- und Organisationsstrukturen können durch Kirchengesetz Abweichungen von den Bestimmungen dieser Kirchenverfassung ohne Änderung des Verfassungstextes für die Dauer von bis zu zehn Jahren zugelassen werden. (2) Das Kirchengesetz muss die Artikel der Kirchenverfassung benennen, von denen abgewichen wird.“
Auf dieser Grundlage wurden zuletzt bis zu einer endgültigen Regelung unmittelbar in der Kirchenverfassung selbst digitale Tagungen der Landessynode und von den üblichen Organisationsstrukturen des Landeskirchenamtes abweichende Regelungen für die nun zentrale Organisationseinheit der Informationstechnologie ermöglicht.71 Soweit der Wortlaut der Kirchenverfassung nicht betroffen ist, können – unabhängig von der zitierten Regelung – befristete Erprobungen aber auch nach Maßgabe eines speziellen Kirchengesetzes bzw. einer
70
71
Es wurde allerdings eine aus Mitgliedern der Landessynode und des Landeskirchenrates gebildete Arbeitsgruppe mit dem Auftrag eingesetzt, die geltenden Amtszeitregelungen für kirchliche Leitungsfunktionen insgesamt zu überprüfen. Vgl. Kirchengesetz zur Erprobung besonderer Arbeitsformen in Landessynode und Landessynodalausschuss (LS-Erprobungsgesetz) vom 14. September 2020 (KABl ELKB, 285), geändert durch KG vom 4. April 2022 (KABl ELKB 2022, 134).
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Verordnung zugelassen werden, wie z. B. das Erprobungsgesetz zur Umsetzung der Landesstellenplanung 2020.72 Darüber hinausgehend wird der synodale Gesetzgeber z. B. durch Art. 77 der Kirchenverfassung Hannovers ermuntert, zur Erprobung neuer Strukturen in einzelnen Bereichen ein Kirchengesetz zu beschließen, das allgemein Erprobungsregelungen ermöglicht, die für befristete Zeit von einzelnen Vorschriften der Verfassung, der Kirchengesetze und der Rechtsverordnungen abweichen.73
2.9
Gerichtsbarkeit
Alle neueren Kirchenverfassungen enthalten – wie die bayerische Kirchenverfassung – einen eigenen Abschnitt zu den Grundlagen einer unabhängigen, kirchlichen Judikative insbesondere für Verfassungs-, Verwaltungs-, Disziplinar- und Mitarbeitervertretungsangelegenheiten. Auf der Grundlage und im Rahmen des staatsverfassungsrechtlichen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV) ergänzt der kirchliche Rechtsschutz die staatlichen Rechtswege.74
2.10
Vermögens- und Finanzverwaltung, Rechnungsprüfung
Last but not least, zu den Verfassungsabschnitten zur Vermögens- und Finanzverwaltung, einschließlich der Rechnungsprüfung, gibt es Berichtenswertes.
2.10.1 Einführung der kirchlichen Doppik als Paradigmenwechsel Verfassungsrelevanz hat insbesondere die von der Mehrzahl der Gliedkirchen in den 2010er Jahren vollzogene Umstellung des Finanz- und Rechnungswesens von der bis dahin bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften üblichen Kameralistik auf das kaufmännische Rechnungswesen in der Ausformung der sog. Doppik – das Kunstwort „Doppik“ bedeutet doppelte Buchführung in Konten bzw. in Körperschaften. Jedenfalls war die Begrifflichkeit der einschlägigen Bestimmungen in der Kirchenverfassung der ELKB (Art. 83 und 84) an diesen Systemwechsel 72 73
74
KABl ELKB 2021, 146. Vgl. auch Erprobungsgesetz der Evang. Kirche im Rheinland vom 12. Januar 2018 (KABl. EKiR, 48) und Strukturerprobungsgesetz der Evang. Landeskirche in Württemberg vom 8. Juli 1999 (KABl. Württemberg Bd. 58, 261), zuletzt geändert am 5. Juli 2012 (KABl. Württemberg Bd. 65, 135). Dazu CHRISTIAN HECKEL, Die Verfassung der evangelischen Landeskirchen (s. Anm. 59), 450. Vgl. die Übersicht bei MICHAEL GERMANN: Kirchliche Gerichtsbarkeit, in: ANKE / DE WALL / HEINIG (Hg.): Handbuch (s. Anm. 13), § 31, 1060–1127, 1075ff.
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Hans-Peter Hübner
anzupassen.75 So spricht man in der Doppik z. B. anstelle von „Einnahmen und Ausgaben“ von „Erträgen und Aufwendungen“. Klaus Raschzok hat in einem grundlegenden Beitrag aus praktisch-theologischer Perspektive die Auswirkungen dieser Umstellung a) auf das Verständnis von Leitung in der Kirche, das sich insoweit stärker an hierarchisch geprägten Modellen aus der freien Wirtschaft orientiert, b) auf die sich verändernde Rolle von Juristen wie von Theologen in Kirchenleitung und -verwaltung und die dort gewachsene Bedeutung der Betriebswirtschaft, sowie c) angesichts gestiegener finanztechnischer Anforderungen auf das Ehrenamt herausgearbeitet und auf das weithin noch bestehende Desiderat eines geordneten Dialogs zwischen Doppik und Kirchentheorie mit dem Ziel der gemeinsamen Entwicklung einer Kirchenbetriebslehre aufmerksam gemacht.76 Keinesfalls dürfe sich die Ökonomik „unter der Hand unabhängig von Theologie und Rechtswissenschaft zur alleinigen Steuerungsinstanz der Kirche erheben“77. Eine diesbezügliche konkrete Gefahrenlage kann ich zwar nicht erkennen, allerdings muss gleichermaßen wie für das Recht so auch für das Finanzwesen und die ITOrganisation unabdingbar gelten, dass sie zu nichts anderem da sind, als die Erfüllung des kirchlichen Auftrags zu unterstützen; keinesfalls dürfen sie die Erfüllung des kirchlichen Auftrags behindern oder gar in eine dieser zentralen Anforderung widersprechende Richtung manipulieren.
2.10.2 Innerkirchlicher Finanzausgleich als anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe Im Rahmen der Finanzverfassung einer Landeskirche ist die Ausgestaltung des innerkirchlichen Finanzausgleichs, d. h. die Beteiligung der kirchlichen Körperschaften auf der örtlichen und der mittleren Ebene an den von der Landeskirche vereinnahmten Kirchenumlagen und deren horizontale Verteilung auf der regionalen und ortskirchlichen Ebene, eine anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe. Diese ist dem Umstand geschuldet, dass die Kirchengemeinden, abgesehen vom Kirchgeld – anders als früher, in Bayern bis 1934, als es neben der Landeskirchensteuer eine Ortskirchenumlage gab –, nicht mehr selbst Gläubigerinnen der Kirchenumlagen sind.78 Die bayerische Kirchenverfassung stellt dazu nur lapidar ohne nähere Qualifizierung fest, dass zwischen den Kirchengemeinden, Gesamt75
76
77 78
Für die ELKB als eigene Körperschaft erfolgte die Umstellung mit Wirkung für das Haushaltsjahr 2012. Für den Gemeindebereich soll sie schrittweise bis 2030 abgeschlossen sein; bereits vollzogen ist sie in den Dekanatsbezirken des Kirchenkreises Augsburg (Pilotregion) und im Dekanatsbezirk München. KLAUS RASCHZOK: Die kirchliche Doppik: Implizite Ekklesiologien in der kirchlichen Verwaltung?, in: Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 12, Leipzig 2020, 165–187, 177ff. RASCHZOK: a. a. O. (s. Anm. 76), 185. HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 286.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
89
kirchengemeinden und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ein innerkirchlicher Finanzausgleich durchgeführt wird (Art. 82 Abs. 3 KVerf). Zur Frage, welche Kriterien bei der Ausgestaltung des innerkirchlichen Finanzausgleichs zu beachten sind, gibt eine bereits erwähnte Entscheidung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der VELKD vom Dezember 2010 hilfreiche Orientierung: Danach soll der innerkirchliche Finanzausgleich eine solidarische, proportionale und dem gemeinsamen Zweck entsprechende Mittelverteilung gewährleisten.79 Er soll also erstens ein Mindestmaß an vertikaler und horizontaler Binnengerechtigkeit aufweisen und dem innerkirchlichen Solidarprinzip dienen, sich zweitens an den jeweiligen Aufgaben der kirchlichen Körperschaften orientieren und drittens auf den gemeinsamen Auftrag dieser Körperschaften ausgerichtet sein, die Erfüllung des kirchlichen Verkündigungsauftrags auf den verschiedenen kirchlichen Handlungsfeldern zu fördern.80 In Art. 83 Abs. 2 der neuen Kirchenverfassung sind diese Grundsätze ausdrücklich rezipiert worden.
2.11
Zwischenbilanz
Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden: a) In den letzten gut 20 Jahren ist ganz außerordentlich viel Bewegung in das vorher lange Zeit eher ruhige Fahrwasser des kirchlichen Verfassungsrechts gekommen. b) Es hat sich – unbeschadet von Unterschieden im Detail – in hohem Maße eine über ursprüngliche konfessionelle Prägungen hinweggehende Rechtsangleichung in wesentlichen inhaltlichen und strukturellen Fragen vollzogen. c) In den Grundsatzartikeln und allgemeinen Bestimmungen neuerer Kirchenverfassungen werden zunehmend Anliegen öffentlicher Theologie sichtbar. d) Für die Verfassungsrechtsentwicklung in der bayerischen Landeskirche in den letzten gut 20 Jahren sind mehrere Prozesse theologischer Grundsatzklärungen prägend gewesen, an denen gerade die Vertreter der Augustana-Hochschule – namentlich die Professoren Wolfgang Stegemann, Helmut Utzschneider, Klaus Raschzok und Stefan Ark Nitsche – maßgeblichen Anteil hatten. e) Der Vergleich der Verfassung unserer Landeskirche mit den neuen Verfassungen anderer Landeskirchen bestätigt meine vor der Landessynode im November letzten Jahres zum Ausdruck gebrachte Feststellung, dass unsere Kirchenverfassung in guter Verfassung ist, weil sie fortlaufend aktuelle Themen aufgegriffen hat und somit auf der Höhe der Zeit ist, in ihrer Beschränkung auf 79
80
Beschluss des Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der VELKD vom 22. Dezember 2010 – RVG 4/2010/RVG 5/2010 –, Rechtsprechungsbeilage ABl. EKD 2011, 25 (27). RAINER MAINUSCH: Der rechtliche Rahmen einer Kirche im Transformationsprozess, in: ZevKR 65 (2020), 349–406, 388.
90
Hans-Peter Hübner
das Notwendige, Wesentliche und Zentrale aber auch weiterhin elastisch und flexibel genug ist für aktuelle Herausforderungen und künftige Entwicklungen. Andererseits geben die neueren Kirchenverfassungen wertvolle Impulse zur Präzisierung, Ergänzung und Fortschreibung, welche zu gegebener Zeit aufgegriffen werden sollten. Derzeit ist indes kein geeigneter Zeitpunkt für eine umfassende Verfassungsreform. Vielmehr sollte jetzt vorrangig erst einmal der 2017 in der ELKB initiierte Kirchenentwicklungsprozess „Profil & Konzentration“ (PuK)81 strukturiert und zielstrebig fortgeführt und für konkrete strategische Weichenstellungen ausgewertet werden. Erst auf dieser Grundlage könnte sich ein aussagekräftiges Gesamtbild auch für eine neue Kirchenverfassung ergeben.
3.
Perspektiven der Kirchenverfassung
Damit ist zum zweiten Hauptteil übergeleitet, in dem über die weiteren Entwicklungsperspektiven des kirchlichen Verfassungsrechts nachgedacht werden soll.
3.1
Kirche im Wandel und im Umbruch
Dieses Nachdenken erfordert zunächst ein Wahrnehmen der Situation und der Perspektiven der Entwicklung der Kirche selbst. Zweifellos befindet sich die Kirche in einem fortschreitenden grundlegenden Wandel, der schon in den 1960er Jahren begonnen hat. Es handelt sich also nicht um einen revolutionären Umbruch wie 1918, sondern um eine evolutionäre Entwicklung, die indes zunehmend an Dynamik gewinnt. Die Ursachen und Aspekte dieses Wandels können nur stichwortartig aufgerufen werden. Zunächst sind allgemeine Entwicklungen in Staat und Gesellschaft zu benennen: – Individualisierung und Mobilität; – Globalisierung und kulturelle Pluralisierung; – Relevanzverlust der Institutionen; – zunehmende Komplexität und Verdichtung staatlicher und europäischer Rechtsetzung und Rechtsprechung. Speziell für den Bereich der Kirche zeigen sich demographische Veränderungen, die sich sowohl auf ihre Mitglieder82 und ihr Personal auswirken, der Wandel der Kirchenmitgliedschaft von einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit zu 81
82
Vgl. Verhandlungen der Landessynode der ELKB vom März 2017 (Bd. 138), 74ff.118ff. Der strategische Hauptleitsatz von PuK wird zitiert bei HÜBNER: Verfassung (s. Anm. 5), 56. Dazu EKD (Hg.): Kirche im Umbruch. Zwischen demographischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit, Mai 2019, im Internet abrufbar unter www.ekd.de.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
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einer bloßen Option, und die dadurch absehbare Veränderung der finanziellen Spielräume. Weltweit sind zu berücksichtigen: – die Veränderung der Kommunikationswege und die keineswegs nur technischen und organisatorischen Herausforderungen der Digitalisierung – u. a. verlieren dadurch Botschaften von Institutionen und Organisationen an Relevanz, während Positionierungen von Individuen überwältigende Aufmerksamkeit erlangen können; – nicht zuletzt der dramatische Klimawandel und die global mittel- und langfristig spürbaren Auswirkungen „regionaler“ Kriege. Wie entwickeln sich vor diesem Hintergrund die für die Kirche maßgeblichen Rahmenbedingungen weiter? Manches hat sich schon verändert oder zeichnet sich ganz konkret ab. Über anderes, wie z. B. über die Zukunft mancher Aspekte des nicht nur begrifflich zum Religionsverfassungsrecht mutierten deutschen Staatskirchenrechts,83 kann gegenwärtig nur spekuliert werden. Die allgemeinen Grundsätze der Religionsfreiheit und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, der Neutralität des Staates und der grundsätzlichen Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 4 GG und Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 und 3 WRV) sind von den angesprochenen Entwicklungen nicht tangiert. Der grundsätzlich allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen zugängliche öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus mit den damit verbundenen Gestaltungsoptionen insbesondere der Steuererhebung und zur Begründung öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse (Art. 140 GG i. v. m. Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV) wird staatlicherseits nicht infrage gestellt. Abgesehen von der zwischen Staat und Kirchen konsensfähigen Ablösung der Staatsleistungen (Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 WRV) und den durch die neuere Rechtsprechung formulierten, gestiegenen Anforderungen an Spezifika des kirchlichen Arbeitsrechts,84 zeichnet sich aber – bedingt durch die Pluralisierung der religiösen Landschaft und den kirchlichen Mitgliederschwund – Bewegung ab im Hinblick auf Stellenwert und Ausgestaltung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen (Art. 7 GG), aber auch 83
84
Bezeichnend ist, dass nun auch das traditionsreiche Studienbuch von Axel von Campenhausen und Heinrich de Wall zum Staatskirchenrecht mit der 5. Auflage von 2022 den Haupttitel „Religionsverfassungsrecht“ übernommen hat. Vgl. die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 17. April 2018; Rs C-414/16 (Egenberger) und des Bundesarbeitsgerichts vom 25. Oktober 2018 (Az.: 8 AZR 501/14) zum Spannungsfeld von Antidiskriminierung und kirchlicher Selbstbestimmung im kirchlichen Arbeitsrecht. Dazu knapp informierend HÜBNER: Evangelisches Kirchenrecht (s. Anm. 18), 213ff., und grundlegend PETER UNRUH: Zur Dekonstruktion des Religionsverfassungsrechts durch den EuGH im Kontext des kirchlichen Arbeitsrechts, in: ZevKR 64 (2019), 188– 215, und HANS ULRICH ANKE: Diakonischer Republikanismus? Reflexive Loyalität? Atheistische Oberkirchenräte? Eine Kursbestimmung zu den Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in Kirche und Diakonie, in: ZevKR 64 (2019), 406–423.
92
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für die Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten (Art. 150 Abs. 2 Bayerische Verfassung); zumindest wird berichtet, dass der Wissenschaftsrat schon 2010 „eine Neustrukturierung des Feldes der Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften“ eingefordert habe, um „auf die Herausforderungen einer religiös pluralisierten Welt“ zu reagieren.85 Kircheneigene Hochschulen gewinnen vor diesem Hintergrund zusätzliche Bedeutung. Frei nach dem bekannten Adventslied von Georg Weissel (Evangelisches Gesangbuch Nr. 1) ist deshalb festzustellen: O wohl der Kirch’, o wohl der Stadt, so eine Augustana hat!
3.2
Der Beitrag des Kirchenrechts für den Umbau
Gerade die reformatorischen Kirchen sollten für den durch die Änderung der Verhältnisse bedingten Umbau ihrer Organisation bestens gerüstet sein. Reiner Preul weist zumindest auf folgenden Zusammenhang hin: „Die außerordentliche kybernetische Leistungsfähigkeit des reformatorischen Kirchenbegriffs besteht darin, dass er geistliche Identität mit einem Höchstmaß an Freiheit in der Gestaltung von Ämtern, Organisationen, Ordnungen und Veranstaltungsformen zu verbinden in der Lage ist.“86
Begründet ist dies durch die in CA Art. 7 vorgegebene Konzentration auf die ordnungsgemäße Evangeliumsverkündigung und Darreichung der Sakramente als alleinige notae ecclesiae. Demzufolge sind nach evangelischem Verständnis – mit Ausnahme der Einsetzung des öffentlichen Predigtamtes, das als einzige Institution auf göttlichem Recht beruht – kirchliche Ordnungen nicht heilsnotwendig, sondern Menschenwerk. Sie sind aber gleichwohl „um der Liebe und des Friedens willen“ erforderlich und einzuhalten, soweit sie „nicht wider das Evangelium“ (Art. 28 CA) sind. Ihre Ausgestaltung ist indes keineswegs beliebig, sondern muss darauf ausgerichtet sein, die Erfüllung des kirchlichen Auftrages, nämlich die Kommunikation des Evangeliums zu unterstützen87 – so wie dies auch im Grundartikel der bayerischen Kirchenverfassung formuliert ist: „[…] Diesem Auftrag haben auch ihr Recht und ihre Ordnungen zu dienen.“ Die Modalitäten dieses Unterstützungsdienstes des Rechts und der Ordnungen, zu denen auch die Finanzwirtschaft mit dem doppischen Rechnungswesen und die IT-Organisation gehören, sind durchaus vielfältig. So darf sich Unterstützung keinesfalls nur auf bloßes Parieren und Reagieren beschränken, sondern muss vielmehr 85 86
87
Näheres bei GRETHLEIN: Kirchentheorie (s. Anm. 29), 159f. m. w. N. RAINER PREUL: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin 1997, 87. Vgl. z. B. MICHAEL GERMANN: Wem dient das kirchliche Recht? Überlegungen zur Funktion des Kirchenrechts für das Handeln in der evangelischen Kirche, in: PrTh 43 (2008), 215– 225, 219, und CHRISTIAN GRETHLEIN: Evangelisches Kirchenrecht, Leipzig 2014, 64f.
Neuere Entwicklungen und Perspektiven im Verfassungsrecht
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auch kautelarisch und proaktiv sein, kann aber auch – indes immer in Bindung an den Auftrag des Herrn der Kirche – impulsgebend oder steuernd geschehen. Und was als rechtliches Instrumentarium zur Unterstützung der Erfüllung des kirchlichen Auftrags benötigt wird, kann entsprechend den jeweils maßgeblichen Verhältnissen in Zeit und Raum sehr unterschiedlich sein. Deshalb darf bzw. muss es sogar bei wesentlichen Veränderungen der Verhältnisse in sachgemäßer Weise angepasst bzw. verändert werden. Insofern „fordert, fördert und formt“ das Kirchenrecht selbst die Reform der Kirche.88
3.3
Gestaltung der Transformation
3.3.1
Spiritualität: geistliche Haltung bewahren und zeigen
Die Veränderungsfähigkeit evangelischer Kirche einschließlich ihres Rechts, die theoretisch klar ist, ist im praktischen Leben noch lange nicht selbstverständlich, sondern bedarf einer entsprechenden Kultur und Haltung. In den Veränderungsprozessen unserer Zeit helfen weder Resignation und Selbstbeklagung noch Aktionismus, Hektik und Panik weiter. Vielmehr bedarf es einer Haltung, die sich etwa in dem bekannten Gebet des Theologen Reinhold Niebuhr (1892– 1971) ausdrückt: „HERR, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu verändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
In dieser Haltung kann authentisch vorgezeigt und vorgelebt werden, weswegen Glaubende Begnadete und Gesegnete sind, nämlich, weil sie im Vertrauen und in der Zuversicht auf Gottes Gegenwart und Führung bis an der Welt Ende mit sich verändernden, sogar sich nachteilig verändernden Verhältnissen getroster zurechtkommen. Diese Haltung befähigt aber auch dazu, weiterhin engagiert, umsichtig und beharrlich in verschiedensten Kontexten Apfelbäumchen zu pflanzen, Überkommenes, das in seiner Zeit gut und wichtig war, sich aber überlebt hat und nachrangig geworden ist, als die Beweglichkeit einschränkenden Ballast abzuwerfen und als „wanderndes Gottesvolk“ weiterzuziehen und Neues zu wagen.
3.3.2
Erkenntnisse der Kirchentheorie
Im Zusammenhang kirchenleitender Strategieentwicklung ist es anzuraten, den Dialog gerade mit der Praktischen Theologie zu suchen und grundlegende Erkenntnisse der Kirchentheorie zu nutzen, insbesondere den Impuls Ernst Lan88
HENDRIK MUSONIUS: Kirchenrecht in der Kirchenreform, in: ZevKR 66 (2021), 60–69, 69.
94
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ges, anstelle begrifflich von der Verkündigung des Evangeliums von der Kommunikation des Evangeliums zu sprechen,89 weil dadurch das Dialogische des Lehrens und Lernens, des gemeinschaftlichen Feierns und des Helfens zum Leben deutlicher zur Geltung gebracht werde. Außerdem gilt es, sich in der heute vorherrschenden Medienwelt und Eventkultur mit der Relevanz als Zentralbegriff kirchlicher Arbeit90 und „Nadelöhr“ jeglicher Kommunikation auseinanderzusetzen und schließlich erscheint es klärend, im Sinne von Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong Kirche als Hybrid von nicht verfügbar vorgegebener Institution, nach menschlichem Ermessen zu gestaltender Organisation und freier, agiler Bewegung mit deren unterschiedlichen Handlungslogiken91 wahrzunehmen.
3.3.3
(Pro-)aktive Programm- und Konzeptionsentwicklung als kirchenleitende Aufgabe
Kirchenleitung steht in der Verantwortung, auf Veränderungen nicht nur zu reagieren, sondern den dadurch nötigen Umbau auch aktiv und proaktiv zu begleiten und zu gestalten. Gemäß der Verfassung der ELKB obliegt es speziell dem Landeskirchenrat, Programme zu entwickeln und Modelle anzuregen (Art. 66 Abs. 2 Nr. 1 KVerf). Aktuell geschieht dies vor allem im Rahmen der Konkretisierung und Fortschreibung des Kirchenentwicklungsprozesses „Profil & Konzentration“ (PuK), dessen zentrale Perspektive darin besteht, vom Auftrag der Kirche und den Menschen her die kirchliche Organisation zu gestalten. Leitend sind die fünf Grundaufgaben: – Christus verkündigen und geistliche Gemeinschaft leben; – Lebensfragen klären und Lebensphasen seelsorgerlich begleiten; – Not von Menschen sichtbar machen und Notleidenden helfen; – christliche und soziale Bildung ermöglichen; – nachhaltig und gerecht wirtschaften. Demzufolge hat sich der Landeskirchenrat auf den Weg gemacht, die auf dieser Grundlage bisher definierten einzelnen Maßnahmenvorschläge92 für den unvermeidbaren Umbau der Kirche auf allen ihren Ebenen operationabel zu machen. So sollen für die Bestimmung von Vor- und Nachrangigkeiten fünf Kriterien leitend sein: – das Verhältnis von Aufwand und Ertrag: Resonanz bzw. Relevanz einer Aktivität;
89
90 91 92
ERNST LANGE: Kirche für andere. Dietrich Bonhoeffers Beitrag zur Frage einer verantworteten Gestalt der Kirche in der Gegenwart, in: EvTh 27 (1987), 513–546, 546. EBERHARD HAUSCHILDT / UTA POHL-PATALONG: Kirche, Gütersloh 22018, 110ff. A. a. O., 138–219. Vgl. Beschlussvorlage zur Frühjahrstagung der Landessynode 2019, abrufbar im Internet unter: https://puk.bayern-evangelisch.de.
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95
–
die Stärkung von Kontaktflächen unter Berücksichtigung ihrer quantitativen und qualitativen Wirksamkeit; – der missionale Charakter einer Aktivität, inwiefern dadurch die persönliche Erfahrbarkeit der Kirche in Notlagen und in der Gesellschaft erreicht werden kann; – die Stärkung von Kooperationen und Synergien, nicht nur, aber auch in der Regionalität; – was können wir besonders gut oder was können wir anderen, die das besser können, überlassen? Demgemäß sind drei zentrale Schwerpunkte definiert worden, denen vorrangige Aufmerksamkeit gelten soll. Diese sind: – Spiritualität als Spezifikum kirchlicher Identität und maßgebliche Ressource in der Transformation; – Kommunikation analog und digital mit den Mitgliedern und im Sozialraum, die, anstelle bisher überwiegend einseitig, möglichst dialogisch gestaltet werden soll; – Freiräume und Eigenverantwortung in der Region als Gestaltungsraum ermöglichen und unterstützen auf der Grundlage klarer und verlässlicher gesamtkirchlicher Rahmensetzung.
3.4
Ableitungen für die Fortentwicklung des kirchlichen Verfassungsrechts
Aus alledem kann folgendes für die Fortentwicklung des kirchlichen Verfassungsrechts abgeleitet werden: 3.4.1 Zumal angesichts des Wandels der Verhältnisse sollte sich eine Verfassung als Ordnungsrahmen für Recht und Organisation der Kirche auch weiterhin und gegebenenfalls noch viel mehr auf das wirklich Wesentliche beschränken. Klarheit und Verlässlichkeit sind geboten, es bedarf aber zugleich auch der Offenheit und Flexibilität für weitere Entwicklungen. Deshalb sollte tunlichst auf die Regelung von Details z. B. der Wahl und der Geschäftsabläufe kirchlicher Leitungsorgane verzichtet werden. 3.4.2 Jedenfalls nach meiner Überzeugung besteht kein Anlass, die historisch überkommenen, staatsanalogen Handlungsmöglichkeiten, wie sie vor allem mit dem staatsverfassungsrechtlich gewährleisteten, grundsätzlich auch anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zugänglichen Status einer Körperschaft des öffentlich-rechtlichen Rechts verbunden sind, infrage zu stellen.93 93
Ebenso MAINUSCH: Transformationsprozess (s. Anm. 80), 373f.; grundlegend anders GRETHLEIN: Kirchentheorie (s. Anm. 29), 229ff.
96
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Dieser Status erleichtert nach wie vor die Kommunikation mit staatlichen und kommunalen Stellen und die automatische mitgliedschaftsrechtliche Zuordnung und trägt zu einer über den Kreis der eigenen Mitglieder hinausgehenden gesellschaftlichen und öffentlichen Wirksamkeit bei. 3.4.3 Als zentrale Leitplanken evangelischen Kirchenverfassungsrechts sollten noch stärker als bisher Beachtung finden und ausgeformt werden: a) das Leitbild einer auf das allgemeine Priestertum der Getauften gegründeten Beteiligungskirche; b) das selbstverständliche Mit- und Nebeneinander von verfasst körperschaftlichen und anderen Gemeindeformen; c) die Zeugnis-, Dienst- und Solidargemeinschaft und zwar aa) sowohl aller beruflichen und ehrenamtlichen kirchlichen Dienste, unbeschadet der unabdingbaren besonderen Verantwortung des ordinationsgebundenen Amtes „für die Einheit der Gemeinde und der Kirche in Lehre und Leben (Art. 16 KVerf ELKB) als auch bb) der unterschiedlichen kirchlichen Ebenen, Einrichtungen und Dienste; d) die Grundsätze der Eigenverantwortung und Subsidiarität, welche zugleich verlässliche wie flexible gesamtkirchliche Rahmensetzungen bedingen nach dem Leitsatz: „So viele Vorgaben wie für die innere und äußere Einheit der Kirche nötig, so wenig Vorgaben wie im Interesse der Beweglichkeit möglich“; e) die an alle kirchlichen Körperschaften, Einrichtungen und Dienste gerichtete Erwartung zu strukturierter Kooperation und zur Vernetzung im Sozialraum; f) die Ermöglichung von Erprobungen und ihre laufende und sorgfältige Evaluation als Ausdruck einer lernenden Organisation und sich ständig erneuernden Kirche. Insgesamt möge eine Kirchenverfassung sich als Visitenkarte einer der Kommunikation des Evangeliums wirksam dienenden und kirchliches Leben in vielfältigen Formen ermöglichenden und unterstützenden Rechtskultur darstellen.
Exegetische Aspekte
„Menschlich muß man die Bibel lesen …“
„Menschlich muß man die Bibel lesen …“
Vom Nutzen der Kritik der ‚Heiligen Schrift(en)‘ für Theologie und Kirche
Michael Pietsch
MICHAEL PIETSCH
„Es bleibt dabei, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel, und das beste Lesen dieses göttlichen Buches ist menschlich.“1 Mit diesem programmatischen Satz eröffnet Johann Gottfried Herder (1744–1803) seine Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780/81),2 in denen er Anregungen zu einer selbsttätigen und selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den Traditionsbeständen der christlichen Religion auf der Grundlage des protestantischen Schriftprinzips zu geben versucht. Die Briefe verfolgen dabei eine doppelte Absicht: sie wenden sich zum einen gegen eine kritische Aushöhlung der Bibel seitens der Aufklärungstheologie und zum anderen gegen eine dogmatische Schriftauslegung in lutherisch-orthodoxer Tradition, wie sie nicht zuletzt in verschiedenen kirchenleitenden Institutionen der Zeit vorherrschte. Das Mittel, mit dem Herder sein Publikum3 zum eigenständigen theologischen Nachdenken anregen will, ist nicht nur der geschichtsphilosophische Rekurs auf das biblische Narrativ als Ausdruck einer ursprünglichen religiösen Erfahrung des Menschen, sondern die mit ihm zugleich gegebene Notwendigkeit einer kritischen Interpretation dieser Tradition. Anders gesagt, weil die Bibel ein historisches Dokument ist, in dem sich die religiöse Deutung konkreter geschichtlicher Erfahrungen niedergeschlagen hat, muss sie ‚menschlich‘, d. h. geschichtlich gelesen und verstanden werden.
1
2
3
JOHANN GOTTFRIED HERDER: Theologische Schriften, Werke, Bd. 9/1, hg. v. CHRISTOPH BULTMANN / THOMAS ZIPPERT (Bibliothek deutscher Klassiker 106), Frankfurt a. M. 1994, 145,1–3 Hervorhebung im Original). JOHANN GOTTFRIED HERDER: Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 2 Bde., Weimar 1780/81 (21785/86). Obwohl der Adressatenkreis der Briefe nicht auf Studierende der Theologie beschränkt ist, standen ihm bei der Abfassung des Textes nicht zuletzt seine Erfahrungen mit Kandidaten des Predigtamtes als Generalsuperintendent des Herzogtums Weimar vor Augen, die er brieflich gegenüber Johann Georg Hamann schildert (vgl. HERDER: Theologische Schriften [s. Anm. 1], 970f.).
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Michael Pietsch „Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben: menschlich ist die Sprache, menschlich die äußern Hülfsmittel, mit denen sie geschrieben und aufbehalten ist; menschlich endlich ist ja der Sinn, mit dem sie gefaßt werden kann, jedes Hülfsmittel, das sie erläutert, so wie der ganze Zweck und Nutzen, zu dem sie angewandt werden soll.“4
Ihre menschliche Herkunft und Zweckbestimmung teilt die Bibel mit allen anderen Schriftdenkmälern, und daraus folgt, dass sie nach den gleichen wissenschaftlichen Kriterien wie diese beurteilt werden muss.5 Das betrifft für Herder vorrangig ihre sprachliche Gestalt und Überlieferung. Aus der Vielzahl der belegten textlichen Varianten müsse jeweils die beste (und älteste) Lesart mittels eines kritischen Verfahrens bestimmt und erklärt werden. Dieser Aufgabe, die zu Herders Zeit (vor allem mit Blick auf das Alte Testament) nur unbefriedigend oder noch gar nicht bearbeitet war,6 sollte sich jeder Theologe im Idealfall selbst stellen.7 Aber die Notwendigkeit der Kritik bleibt nicht auf die Konstitution der biblischen Textgestalt beschränkt. Sie ist auf die Kenntnis der literarischen Formen auszuweiten, deren poetologische Gesetzmäßigkeiten die Eigenart der biblischen Erzählungen zutiefst bestimmen. Nur wer den Geist der ebräischen Poesie,8 die kommunikative Pragmatik der Dichtungen und ihre Formensprache, recht aufzufassen vermag, ist in der Lage, die in ihnen ausgesprochenen Erfahrungen und ihre religiöse Symbolisierung angemessen, d. h. geschichtlich, zu verstehen. Dazu bedarf es neben einer gründlichen Kenntnis der biblischen 4 5
6 7
8
A. a. O., 145,7–13. „Verbannen Sie jeden letzten Sauerteig der Meinung, als sei dies Buch in seiner äußern Gestalt und in seinen Materialien kein Buch, wie andre Bücher, in ihm könne es z. E. keine verschiedne Lesarten geben, weil es ein göttliches Buch sei. Es gibt in ihm verschiedne Lesarten, (und Eine Lesart kann doch nur die rechte sein) dies ist Tatsache, keine Meinung. Mithin muß man sich um diese bemühen, mithin zwischen ihnen unterscheiden und wählen, mithin gibt’s eine Wissenschaft über diese Wahl und Unterscheidung, wie bei jedem andern menschlichen Buche“ (a. a. O., 146,19–28; Hervorhebung im Original). Vgl. a. a. O., 262,27–263,17. Herder rät seinen Adressaten statt der Lektüre wissenschaftlicher Kommentare oder gar Paraphrasen der biblischen Bücher, die zu seiner Zeit weit verbreitet waren, zu ihrem tieferen Verständnis eine eigene Übersetzung anzufertigen: „[…] ja ich wollte behaupten, daß jeder gute Theolog sich seine Bibel selbst müßte übersetzt haben. […] gewiß lernte man dadurch mehr Theologie als durch große Kommentare. In jedem neuen Jahrzehend Ihres Lebens werden Sie diese alte Jugendübersetzung mit Freuden lesen und wenn Sie derselben Ihre weiteren Bemerkungen jedesmal still hinzufügen; o Freund, so bekämen Sie damit eine bessere Theologia viatoris als die Ihnen im Kompendium der Dogmatik schwarz auf weiß bleibet“ (a. a. O., 357,32–358,6). Vgl. JOHANN GOTTFRIED HERDER: Vom Geist der ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes, 2 Bde., Dessau 1782/83. Unter dem Begriff des ‚Geistes‘ firmiert bei Herder die jeweilige Intention der Autorperson eines Werkes, ihr kommunikatives Interesse, das sich in der Eigenart ihrer Sprache und ihres Stils ausdrückt und das die Leserschaft aufnehmen, empfinden und verstehen kann. Mit Blick auf das biblische Narrativ, in dem sich der göttliche Geist in natürlicher Gestalt ausspricht, erscheint die Rede vom ‚Geist‘ daher eigentümlich verdoppelt.
„Menschlich muß man die Bibel lesen …“
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Sprachen (und Literatur) die Fähigkeit zum selbstständigen Gebrauch der einschlägigen philologischen und historischen Hilfsmittel, die Herder seinen Adressaten nachdrücklich ans Herz legt.9 Der doppelte Bezug auf die Geschichte, der dem biblischen Narrativ eignet, insofern in ihm konkrete Ereignisse und Erfahrungen erinnert und vor dem Hintergrund bestimmter, kulturell geprägter literarischer und symbolischer Konventionen bearbeitet (und reproduziert) werden, findet einen Widerhall in der Zweckbestimmung dieser Überlieferung. Sie zielt auf die Anregung und tätige Aneignung der in ihr reflektierten Erfahrungen unter veränderten geschichtlichen Voraussetzungen. Mit anderen Worten, die Bibel ist von Menschen für Menschen geschrieben, die ihre geschichtlichen Erfahrungen im Lichte der biblischen Überlieferung ‚lesen‘ und deuten können und sollen.10 Dies schließt eine kritische Prüfung und Auslegung eigener religiöser (oder konfessioneller) Symbolsysteme ein.11 Damit dies gelingen kann, ist eine kritische, auf die Eigensprachlichkeit und den Eigensinn der Texte gerichtete Betrachtung der Bibel unverzichtbar. „Weil nach Herders Verständnis die biblische Tradition an den Ursprung der Menschheitsgeschichte führt, kommt in ihr die Wahrheit der Religion zu klarem Ausdruck. Die Beziehung des Menschen zu Gott ereignet sich von der Zeit der Schöpfung an in der Geschichte und steht auch in der Gegenwart in diesem einen geschichtlichen Zusammenhang. Der Verstehenshorizont von Religion ist so einerseits die Universalität der Geschichte der Menschheit, andererseits die Intensität jeder einzelnen menschlichen Situation.“12
Zwar bedürfen Herders sprach- und geschichtsphilosophische Prämissen heute einer grundlegenden Revision, doch seine Einsichten in die biblische Überlieferungsbildung als eines dynamischen Prozesses religiöser Selbstdeutung und -vergewisserung des Menschen angesichts konkreter existenzieller Erfahrungen und im Horizont zeitgenössischer Diskurse und Symbolsysteme bleiben gültig. Die Bibel ist ein menschliches Buch wie jedes andere, das menschlich gelesen werden muss. Von ihrer Göttlichkeit kann daher nur unter den Bedingungen des Menschen, im Spiegel gedeuteter menschlicher Erfahrung und d. h. geschichtlich gesprochen werden. Unter dieser Voraussetzung eröffnet die wissenschaftliche Kritik die Möglichkeit, die Vielfalt geschichtlicher Erfahrungen und ihrer diskursiven Bearbeitung(en) in der biblischen Literatur präziser zu bestimmen, um sie in einem zweiten Schritt mit den Herausforderungen der eigenen Zeit in Beziehung setzen zu können. 9 10
11
12
Vgl. HERDER: Theologische Schriften (s. Anm. 1), 148,7–149,17. „Der ‚Geist‘ der Schriften der biblischen Überlieferung will in seiner Herkunft verstanden und jetzt lebendig anerkannt und angewendet werden“ (a. a. O., 980). Dogmatische Topoi werden von Herder vor allem im dritten Teil der Briefe (Nr. 25–37) behandelt. HERDER: Theologische Schriften (s. Anm. 1), 978 (Hervorhebung vom Verfasser).
102
Michael Pietsch
1.
Die historische Methode in der Theologie
1.1
‚Auslegen‘ und ‚Erklären‘ als Aufgabe Biblischer Theologie bei Johann P. Gabler
Bereits Herders jüngerer Zeitgenosse Johann Philipp Gabler (1753–1826) hatte in seiner berühmten Antrittsrede als ordentlicher Professor der Theologie der Universität Altdorf, an der er von 1785 bis 1804 lehrte, auf eine konsequente Trennung der ‚Biblischen Theologie‘ von der Dogmatik insistiert. Jene sei als historische Disziplin von dieser unabhängig und ihr hermeneutisch vorzuordnen. Der ‚Biblischen Theologie‘ komme die Aufgabe zu, in den biblischen Überlieferungen zwischen den zeitbedingten Einkleidungen und den darin eingeschlossenen „reinen Vorstellungen“ (notiones puras) zu unterscheiden, die allein die Grundlage der religiösen Betrachtung bilden sollen. „[…] atque secretis iis, quae in libris sacris proxime ad illa tempora, illosque homines spectent, eas modo notiones puras, quas prouidentia diuina omnium locorum et temporum esse voluit, philosophiae nostrae super religione fundamenti loco substernamus.“ „[…] dass wir nach Ausscheidung von dem, was in den heiligen Schriften allernächst an jene Zeiten und jene Menschen gerichtet ist, nur diese reinen Vorstellungen unserer philosophischen Betrachtung über die Religion zugrunde legen, welche die göttliche Vorsehung für alle Orte und Zeiten gelten lassen wollte.“13
Gabler ordnet den Bibelwissenschaften und der Dogmatik unterschiedliche Aufgabenstellungen zu, denen jeweils ein eigenständiges methodisches Verfahren zugewiesen wird. Die biblische Exegese ist einem philologisch-historischen Paradigma verpflichtet, das von jeder dogmatischen Bevormundung freizuhalten sei.14 Erst im Vollzug einer historischen Betrachtung der Bibel könnten ihre normativen Aussagen bestimmt werden, die als zeitlos gültige religiöse Überzeugungen die Grundlage für die dogmatische Vermittlungs- bzw. Übersetzungsarbeit angesichts einer sich stets im geschichtlich bedingten Wandel befindlichen Welt bilden sollen. ‚Biblische Theologie‘ und Dogmatik bleiben also aufeinander bezogen, und die Aufgabe der Exeget:innen erschöpft sich nicht in einer grammatischen ‚Auslegung‘, die auf die Bestimmung des ‚wahren‘ Sinnes eines Schriftstellers, d. h. des Wortsinnes, beschränkt ist, sondern zielt auf eine 13
14
JOHANN PHILIPP GABLER: De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus [Altdorf 1787], in: KARL-WILHELM NIEBUHR / CHRISTFRIED BÖTTRICH (Hg.): Johann Philipp Gabler (1753–1826) zum 250. Geburtstag, Leipzig 2003, 15–41, 24f. (Hervorhebung vom Verfasser). „Dogmatik muß von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen“ (Johann Gottfried Eichhorns Urgeschichte. Erster Theil, hg. v. JOHANN PHILIPP GABLER, Altdorf/Nürnberg 1790, XV).
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theologische ‚Erklärung‘ der Texte ab, d. h. auf die Bestimmung ihrer „reinen Vorstellungen“ als Norm jeder theologischen Lehrbildung.15 Hier setzt für Gabler im Unterschied zu Herder die eigentliche Aufgabe der historischen und philosophischen Kritik ein. „Allein damit ist in unsern Tagen noch sehr wenig gewonnen, wenn man nur den grammatischen Sinn einer biblischen Stelle kennt. Nun kommt erst die Reihe an die historische und philosophische Kritik, welche einen solchen biblischen Abschnitt ihrer scharfen Prüfung unterwirft. […] Beides zusammen vollendet erst das Geschäft des Bibelerklärers. Man kann daher in der That einen gegründeten Unterschied zwischen Auslegen und Erklären machen: zu dem ersten gehört nur die Erforschung des Sinnes; zu dem letztern hingegen die Aufklärung der Sache selbst.“16
Wie stark eine solche kritische Funktionsbestimmung der ‚Biblischen Theologie‘ ihrerseits von dogmatischen bzw. religionsphilosophischen Voraussetzungen geprägt ist, bedarf keines eigenen Nachweises. Die Unterscheidung zwischen einer ‚wahren‘, den grammatischen Sinn der Texte erschließenden, und einer ‚reinen‘, ihren normativen religiösen Gehalt erhebenden, ‚Biblischen Theologie‘ im Sinne Gablers überschreitet die Grenzen, die einer historischen Analyse der biblischen Überlieferung gesetzt sind, und schlägt die Brücke zu den Diskursen über ihre normativen Deutungsansprüche, die in der Dogmatik und Homiletik verhandelt werden.
1.2
‚Historische‘ und ‚dogmatische‘ Methode bei Ernst Troeltsch
War spätestens seit Gabler die historische Methode in den Bibelwissenschaften fest etabliert, blieb ihr Gebrauch doch für längere Zeit auf die im engeren Sinne ‚historischen‘ Disziplinen der wissenschaftlichen Theologie beschränkt. Das Nebeneinander von ‚historischer‘ und ‚dogmatischer‘ Methode in der Theologie, das schon bei Gabler zu beobachten war, setzte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fort. Erst mit dem Auftreten der sogenannten ‚Religionsgeschichtli-
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„Ueberhaupt hat man in der Exegese das verschiedene Interesse des Philologen und des Theologen nicht zu übersehen: den Philologen interessirt nur die Auslegung [sc. der Sinn des Schriftstellers]; den Theologen hingegen hauptsächlich die Erklärung [sc. die zeitlose Wahrheit einer Erzählung] der Bibel. Der ächte Exegete verbindet beides; von Auslegung geht er aus, und Erklärung ist sein Ziel“ (JOHANN PHILIPP GABLER: Ueber den Unterschied zwischen Auslegung und Erklärung, erläutert durch die verschiedene Behandlungsart der Versuchungsgeschichte Jesu, in: DERS.: Kleinere Theologische Schriften, Bd. 1, hg. v. THEODOR AUGUST GABLER / JOHANN GOTTFRIED GABLER, Ulm 1831, 201–214, 214; Hervorhebung im Original). A. a. O., 203 (Hervorhebung im Original).
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chen Schule‘17, die mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit jeder Form von Religion Ernst machte, wurde die Forderung laut, die historische Methode zur Grundlage des gesamten wissenschaftlich-theologischen Denkens zu erheben. „Die historische Methode muß in der Theologie mit voller, unbefangener Konsequenz durchgeführt werden. Es entsteht also die Forderung eines Aufbaus der Theologie auf historischer, universalgeschichtlicher Methode, und da es sich hierbei um das Christentum als Religion und Ethik handelt, auf religionsgeschichtlicher Methode.“18
Ernst Troeltsch (1865–1923), von dem diese Sätze stammen, hat mehrfach betont, dass die historische Methode nicht allein auf einzelne historische Sachverhalte oder Problemlagen angewandt werden dürfe, sondern gleich einem „Sauerteig […] alles verwandelt und […] schließlich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt“19. Ein doppelter Geschichtsbegriff, der zwischen einer ‚Heilsgeschichte‘, die sich nur dem christlichen religiösen Bewusstsein erschließt, und der gewöhnlichen, profanen Geschichte unterscheidet, die der kritischen Prüfung unterzogen werden kann und muss, verwischt die kategorialen Unterschiede zwischen historischer und ‚dogmatischer‘, auf der Autorität des Wunders20 beruhender Methode und ist aufzugeben. Der christliche Glaube kann nicht unmittelbar auf einzelne, historische Tatsachen gegründet werden, sondern steht mit diesen nur mittelbar in Verbindung, insofern sie über einen größeren historischen Zusammenhang hinweg auf ihn einwirken. Dieser Zusammenhang ist aber nicht isoliert zu betrachten, sondern als ein konstitutiver Bestandteil des universalgeschichtlichen Gesamtlebens. Als die drei Hauptmerkmale der historischen Methode hat Troeltsch bekanntlich die historische Kritik, das Prinzip der Analogie und „die zwischen allen historischen Vorgängen stattfindende Korrelation“21 oder Wechselwirkung 17
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21
Vgl. GERD LÜDEMANN (Hg.): Die „Religionsgeschichtliche Schule“. Facetten eines theologischen Umbruchs, Frankfurt a. M. / New York 1996; DERS. / ALF ÖZEN, Art. Religionsgeschichtliche Schule, TRE 28 (1997), 618–624 (Lit.). ERNST TROELTSCH: Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: DERS.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 729–753, 738. A. a. O., 730. Vgl. zu den verschiedenen Äußerungen Troeltschs zur Sache FRIEDEMANN VOIGT: Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer theologischen Standortepistemologie, in: FRIEDRICH WILHELM GRAF (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien N. F. 1), Gütersloh 2006, 155–173, bes. 157–161. „Das Wunder ist in Wahrheit entscheidend, und, da das bloß psychologische Wunder keine sichere Abgrenzung gegen das allgemeine geschichtliche Seelenleben gewährt, so wird das zarte psychologische Wunder doch immer erst brauchbar, wenn man aus ihm das massive physikalische deduzieren kann“ (TROELTSCH: Ueber historische und dogmatische Methode [s. Anm. 18], 742). A. a. O., 731.
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identifiziert. Die Aufgabe der Kritik beschränkt sich dabei nicht auf die kritische Bearbeitung der religiösen Überlieferung, d. h. der biblischen (und christlichen) Tradition, sondern schließt die historische Beurteilung der überlieferten Gegenstände und Ereignisse ein. Sie hat insgesamt eine destruierende, Alles und Jedes relativierende Wirkung, „und das immer mit dem Ergebnis einer nur wahrscheinlichen Richtigkeit“.22 Ihr Mittel ist die Analogie. „Die Analogie des vor unseren Augen Geschehenden und in uns sich Begebenden ist der Schlüssel zur Kritik. […] Die Beobachtung von Analogien zwischen gleichartigen Vorgängen der Vergangenheit gibt die Möglichkeit, ihnen Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben und das Unbekannte des einen aus dem Bekannten des anderen zu deuten. Diese Allmacht der Analogie schließt aber die prinzipielle Gleichartigkeit alles historischen Geschehens ein, die freilich keine Gleichheit ist, sondern den Unterschieden allen möglichen Raum läßt, im übrigen aber jedesmal einen Kern gemeinsamer Gleichartigkeit voraussetzt, von dem aus die Unterschiede begriffen und nachgefühlt werden können.“23
Das Prinzip der Analogie erlaubt es, sowohl das Gewöhnliche als auch das Eigentümliche im Gang der Geschichte zu bestimmen, und sie vermag dies „auf Grund der Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit des menschlichen Geistes und seiner geschichtlichen Betätigungen überhaupt“24. Diese stehen jedoch in einer fortdauernden Wechselwirkung zueinander, so dass „Alles und Jedes zusammenhängt und jeder Vorgang in Relation zu anderen steht“25. Vor diesem Hintergrund ist die Aussonderung einer ‚Heilsgeschichte‘ aus dem korrelativen Gesamtzusammenhang der Geschichte methodisch unmöglich geworden. „Die historische Methode führt durch Kritik, Analogie und Korrelation ganz von selbst mit unaufhaltsamer Notwendigkeit zur Herstellung eines solchen sich gegenseitig bedingenden Geflechtes von Betätigungen des menschlichen Geistes, die an keinem Punkte isoliert und absolut sind, sondern überall in Verbindung stehen und ebendeshalb nur im Zusammenhang eines möglichst alles umfassenden Ganzen verstanden werden können.“26
Damit tritt jedoch neben die nivellierende und destruktive Wirkung der Kritik eine synthetisch-konstruktive Funktion, die ihr Anwendungsgebiet über die philologisch-historische Analyse der biblischen Überlieferung auf deren lange und verzweigte Wirkungsgeschichte ausweitet, die in der jüngeren Diskussion unter 22 23 24 25 26
Ebd. A. a. O., 732. A. a. O., 733. Ebd. A. a. O., 734. – Zur Unterscheidung zwischen „naiver“ und „wissenschaftlicher“ Absolutheit bei Troeltsch vgl. ERNST TROELTSCH: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hg. v. TRUTZ RENDTORFF / STEFAN PAUTLER (KGA 5), Berlin / New York 1998, 210–244, und VOIGT: Die historische Methode der Theologie (s. Anm. 19), 161–165.
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Aufnahme rezeptionsästhetischer Fragestellungen verstärkte Aufmerksamkeit gefunden hat. Wie schon Gabler, bezieht auch Troeltsch die normativen Fragen mit in die historische Analyse und Beschreibung der Religion ein, wenn er die historische Entwicklung der Religion(en) in ein Verhältnis zur eigenen religiösen Standortbestimmung setzt, die den Maßstab für religiöse oder ethische Werturteile an die Hand gibt. „Nur an einem Punkte hat er [sc. der Gottesglaube] diese Schranke [sc. der Naturgebundenheit des menschlichen Geistes] durchbrochen, aber an einem Punkte, der im Mittelpunkt großer umgebender und entgegenkommender religiöser Entwicklungen liegt, in der Religion der Propheten Israels und in der Person Jesu, wo der naturunterschiedene Gott die naturüberlegene Persönlichkeit mit ihren ewig transzendenten Zielen und ihrer gegen die Welt wirkenden Willenskraft hervorbringt. Hierin bezeugt sich eine religiöse Kraft, die dem sie innerlich Nachempfindenden als der Abschluß der übrigen religiösen Bewegungen sich darstellt und den Ausgangspunkt einer neuen Phase der Religionsgeschichte bildet, in der bisher nichts neues und höheres hervorgetreten ist und in der ein solches auch für uns heute nicht denkbar ist, so vielfache neue Formen und Verbindungen dieser rein innerliche und persönliche Glaube an Gott noch eingehen möge.“27
Friedemann Voigt hat in diesem Zusammenhang von einer „theologischen Standortepistemologie“ gesprochen, die das Verfahren der historisch-phänomenologischen Beschreibung überschreitet, sich dabei aber der geschichtlichen Bedingtheit (und Begrenzung) des eigenen Urteils bewusst bleibt.28 Die Verwurzelung dieses Standpunktes in den Protestantismustheorien des Deutschen Idealismus ist dabei mit Händen zu greifen und wird auch von Troeltsch selbst ausdrücklich benannt.29 Wenn das Geflecht universaler historischer Bezüge jeweils von der eigenen theologischen Standortbestimmung aus analysiert und beurteilt werden muss, stellt sich jedoch das Problem, inwieweit diese Selbstpositionierung ihrerseits kritisch hinterfragt werden kann, wie dies in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise durch historische Studien in postkolonialer Perspektive geschieht. Unbeschadet dieser bleibenden Fragen sollte das historische Paradigma in der Theologie im Anschluss an die Überlegungen Troeltschs nicht als ein überkommenes (und überholtes) Erbe des 18. und 19. Jahrhunderts verstanden werden. Vielmehr beruht es auf der unhintergehbaren Einsicht in die Geschichtlichkeit aller religiösen Praxis und der sie begleitenden theologischen Reflexion. Mit 27 28 29
TROELTSCH: Ueber historische und dogmatische Methode (s. Anm. 18), 748. Vgl. VOIGT: Die historische Methode der Theologie (s. Anm. 19), 168f. Vgl. TROELTSCH: Ueber historische und dogmatische Methode (s. Anm. 18), 748. – Zu den Protestantismustheorien des Deutschen Idealismus vgl. GÜNTER MECKENSTOCK: Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus, in: ARNULF VON SCHELIHA / MARKUS SCHRÖDER (Hg.): Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart 1998, 39–54.
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dieser Einsicht geht aber die Notwendigkeit einher, die religiösen und kulturellen Transformationsprozesse, die in der Geschichte der biblischen Überlieferung und ihren religions- und kulturgeschichtlichen Wirkungen sichtbar werden, mit den Mitteln der historischen Kritik zu erhellen, um nach ihrer (potenziellen) Bedeutung für die Gegenwart zu fragen.
2.
Die Aufgabe der Kritik
2.1
Hermeneutik und Kritik bei Friedrich D. E. Schleiermacher
Die Kritik bereitet der Hermeneutik den Grund. Der Zusammenhang von Hermeneutik und Kritik ist von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) systematisch analysiert und beschrieben worden. In seinen Vorlesungen zur Hermeneutik, die er in Halle und Berlin regelmäßig vortrug, hat er den Ausführungen zur Hermeneutik seit dem Wintersemester 1826/27 einen eigenständigen zweiten Teil zur Seite gestellt, der die Kritik behandelt.30 Auslöser für die kritische Operation ist jeweils eine ‚Störung‘ des sprachlichen und/oder gedanklichen Zusammenhangs einer mündlichen oder schriftlichen ‚Rede‘, den das hermeneutische Verfahren nachzubilden versucht. Die Aufgabe und Notwendigkeit der Kritik ergibt sich mithin aus dem hermeneutischen Prozess selbst und wird von ihm inauguriert. „Nehmlich man ist zweifelhaft über eine Stelle in einer Schrift, und es soll entschieden werden, ob der Verfasser dies wirklich geschrieben hat. Dasselbe gilt von der Rede wenn entschieden werden soll, ob ein Mensch dies wirklich hat sagen wollen. […] Wenn wir nun sagen, die Kritik soll entscheiden, wiefern etwas in einer Schrift wirklich vom Verfasser herrührt oder nicht, so hätten wir eine vorläufige allgemeine Vorstellung, bei der wir stehn bleiben können, um zu sehen, wie es mit der Sache steht. Es handelt sich hier um das Verhältniß zwischen dem Willen eine Rede zusammenzubringen, und ihrer Erscheinung für das Ohr oder Auge. Hier giebt es 2erlei; eine vollkommene Übereinstimmung, wo die ist, hat die Kritik nichts zu thun; sie fängt erst an, wo ein Bedenken ist, ob das könne im Akt des Willens gewesen sein oder nicht. […] Wir werden deshalb betrachten müßen, wie die That des Willens, eine Rede zu Stande zu bringen, zur Erscheinung gelangt. Wir mögen auf den mündlichen Vortrag oder auf die Schrift sehn, so werden wir darauf kommen, daß das letzte ein Mechanisches ist, das Erste etwas rein freies. Die Composition ist das Intellektuelle, das wirkliche Sprechen und Schreiben etwas Mechanisches. Beides ist also nicht dasselbe. […] Erst wenn beide gleich sind, ist die Übereinstimmung da.“31 30
31
Vgl. FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg. v. WOLFGANG VIRMOND unter Mitwirkung von HERMANN PATSCH (KGA II/4), Berlin / Boston 2012, XXX–XXXV. A. a. O., 624,3–625,2 (NS Braune 1826/27).
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Den Ausgangspunkt der Kritik, die Schleiermacher hier vornehmlich als philologische oder „bibliographische“32 Kritik bestimmt, bildet der hermeneutische Verdacht, der sich auf die Kenntnis des jeweiligen Autors bzw. der Zeit und der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs eines Autors gründet und als dessen Organ das kritische Gefühl des Lesers gelten kann. Damit kommt bei Schleiermacher der Leserschaft und ihrer Leseerwartung eine wichtige Rolle bei der Sinnkonstitution eines Textes zu. Das gemeinsame Ziel des kritischen Verfahrens, das sich in ‚niedere‘ und ‚höhere‘ Kritik untergliedert,33 liegt in der Wiederherstellung einer Schrift (oder Rede) in ihrem ursprünglichen Zustand, der selbst wiederum Gegenstand der hermeneutischen Bemühungen ist.34 Die Kritik arbeitet der Hermeneutik zu, und ihr gesamtes Geschäft ist dieser ein- und untergeordnet. „[…] in der Hermeneutik haben wir zuletzt die Aufgabe behandelt, den GedankenGang des Schriftstellers in seiner Rede so genau als möglich nachzubilden; finden wir da etwas Fremdes und Störendes, so giebt das einen Aufenthalt. Gehn wir rein hermeneutisch zu Werk, so müßen wir entweder unsre Prämissen ändern, der Mensch geht anders zu Werk als wir glaubten, oder wir müßen es in etwas anderm suchen. Wenn aber die Sache die Wendung nimmt, wer weiß ob der Mensch dies geschrieben, ob ihm das nicht ist eingeschoben worden, so wird die Sache eine kritische. […] Die Kritik wird also der Hermeneutik den Boden säubern […].“35
Unter Kritik versteht Schleiermacher allgemein ein regelgeleitetes Verfahren zur Aussonderung eines Einzelnen aus einem Ganzen, das sich auf alle menschlichen Handlungsfelder erstreckt.36 Näherhin besteht dieses Verfahren aus zwei Operationen: der Vergleich und die Beurteilung. „Fassen wir den Ausdruck etymologisch, so kommt zweierlei vor Augen, das Eine, daß Kritik in irgend einem Sinne ein Gericht ist, das Andre, daß es eine Vergleichung sei, beides fällt zuweilen zusammen, wie es zuweilen mehr auseinandergeht.“37 Diese allgemeinen Bestimmungen finden auch auf die philologische Kritik Anwendung:
32 33
34 35 36 37
A. a. O., 623,32f. (NS Braune 1826/27). Schleiermacher übernimmt hier eine etablierte Einteilung und Nomenklatur, fasst sie jedoch inhaltlich neu, insofern er beide nicht dem Umfang oder der Verfahrensweise nach unterscheidet, sondern nach der Ursache der Abweichung, die zu der fehlerhaften Überlieferung geführt hat. War die ‚niedere Kritik‘ herkömmlich auf den Ursprung einzelner Worte oder Wendungen beschränkt, hatte es die ‚höhere Kritik‘ mit der Frage nach der Echtheit längerer Abschnitte oder ganzer Schriften zu tun. Schleiermacher hält dagegen fest, dass diese Unterscheidung kein geregeltes kritisches Verfahren erlaubt, und favorisiert eine Unterteilung in eine Kritik der mechanischen Fehler (niedere Kritik), die im Vorgang des Abschreibens entstehen, und eine Kritik solcher Fehler, die durch einen freien Willensakt (höhere Kritik) hervorgerufen wurden (vgl. a. a. O., 625,30–626,29 [NS Braune 1826/27]). Vgl. a. a. O., 625,15f. (NS Braune 1826/27). A. a. O., 627,23–628,3 (NS Braune 1826/27). Vgl. a. a. O., 623,13–24 (NS Braune 1826/27). A. a. O., 1004,19–23 (NS Calow 1832/33).
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„Zur philologischen Kritik gehört also, wo uns in demselben Werke Verschiedenheiten aufstoßen, die nicht mit einander bestehn können, das Richtige sollen wir wählen, das Unrichtige ausstoßen, und aus den verschiedenen Arten, wie die Schrift erscheint, die ursprüngliche Gestalt möglichst ausmitteln, und eine Schrift in ihren ursprünglichen Lebenszusammenhang stellen, also entscheiden, ob sie eine That Dieses oder Jenes sei, oder eine That von Diesem oder nicht von Diesem, und in dem Falle wo von dem Verfasser nicht die Rede doch von der Zeit; dieses wird das Aggregat machen, das der philologischen Kritik angehört.“38
Die philologische Kritik ist jedoch nicht gesondert zu betrachten, sondern sie steht sowohl mit der „doctrinalen“ (oder „recensirenden“) Kritik als auch mit der historischen Kritik in einer unlöslichen Verbindung. Zwar hat es die „doctrinale Kritik“ vorrangig mit der Beurteilung eines Werkes gemessen an seiner ‚Idee‘ zu tun und unterscheidet sich in ihrer Verfahrensweise von der philologischen Kritik.39 Wenn Schleiermacher aber die Aufgabe der ‚höheren Kritik‘ in seiner Kurze(n) Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811, 21830) in der fortlaufenden Bestimmung des Kanons erblickt,40 dann setzt dies die Vorstellung einer „Idee des Kanon“ als der „normale(n) Darstellung des Christenthums“ voraus,41 die den Maßstab für die kritische Beurtei lung einzelner Stellen oder Schriften abgibt. Dies gilt noch in weit stärkerem Ausmaß für das Verhältnis der philologischen zur historischen Kritik, die darauf abzielt, „aus Relationen die Thatsachen zu construiren und also zu bestimmen, wie sich Relation zur Thatsache verhalte“42. Wie die historische Kritik aus verschiedenen Erzählungen, deren narratologische Repräsentationen des Geschehens von diesem selbst immer durch Verdichtung und Perspektivierung unterschieden sind, den tatsächlichen Hergang der Ereignisse zu ermitteln sucht, fragt die philologische Kritik nach dem Verhältnis einer beurkundeten sprachlichen (wie gedanklichen) Erscheinung zu ihrem Ursprung und fällt somit (teilweise) in das Gebiet der historischen Kritik.43 38 39 40
41 42
43
A. a. O., 1007,24–33 (NS Calow 1832/33). Vgl. a. a. O., 1007,33–1009,31 (NS Calow 1832/33). „In wiefern der Kanon seiner Idee rein entsprechen soll, muß die Kirche noch immer im Bestimmen desselben begriffen sein, weil die vollständige Congruenz nie mit Gewißheit zu erkennen ist. Es bleibt also in sofern immer ein Gegenstand für beide Aufgaben der höheren Kritik, sowol Unerkanntes zur Anerkennung zu bringen, als Verdächtiges auszustoßen“ (KD1 II 1, § 10–11; FRIEDRICH SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen [1811/1830], hg. v. DIRK SCHMID, Berlin / New York 2002, 87,11–17). A. a. O., 86,2–4 (KD1 II 1, § 2). SCHLEIERMACHER: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik (s. Anm. 30), 1005,3f. (NS Calow 1832/33). Vgl. a. a. O., 1010,7–1016,31 (NS Calow 1832/33). – Die historische Kritik fragt über die philologische Kritik hinaus nach der Genese der einzelnen Schriften bzw. ihrer Vorlagen, „[…] denn die philologische Kritik geht nicht über das Dasein einer Schrift hinaus“ (a. a. O., 1123,4f.). Für das Neue Testament bedeutet dies, dass die philologische Kritik auf die Geschichte des Kanons beschränkt bleibt, während die Geschichte der einzelnen Schriften in
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Ohne gründliche Kenntnisse der Geschichte, Literatur und Sprache einer Epoche oder Kultur bliebe überdies jedes hermeneutische Bemühen um ein angemessenes, d. h. geschichtliches Verständnis eines Autors bzw. einer Schrift vergeblich. Die Bestimmung der Aufgabe der Kritik im Rahmen der Hermeneutik kann daher nicht auf die philologische Kritik enggeführt werden, sondern muss das In- und Nebeneinander der verschiedenen kritischen Verfahrensweisen berücksichtigen.
2.2
Vom Nutzen der Kritik für Theologie und Kirche
Was leistet die biblische Kritik für die Theologie insgesamt? Hierzu hat Schleiermacher in seiner Kurze(n) Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen einige weiterführende Hinweise gegeben. Schleiermacher versteht die Theologie bekanntlich als eine „positive Wissenschaft“, die auf das kirchenleitende Handeln gerichtet ist.44 Ihre Aufgabe liegt in der geschichtlichen Erhaltung und Vervollkommnung der Kirche.45 Dazu bedarf sie einer Vorstellung vom ursprünglichen Wesen der christlichen Religion, die ihr als kritischer Maßstab für die Unterscheidung von „Wesentlichem“ und „Zufälligem“ im jeweiligen geschichtlichen Zustand der Kirche dient. Sie hat mithin eine kritische Funktion, die destruktive (polemische) wie konstruktive (apologetische) Elemente in sich schließt.46
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das Gebiet der ‚Einleitung des Neuen Testaments‘ gehört: „Die philologische Kritik führt uns zurük bis auf das anerkannte öffentliche Dasein dieser Schrift, so weit sie kann, kann uns eigentlich aber nicht zurükführen auf das abgesonderte Dasein einzelner Schriften, denn von da an ist keine vollständige Geschichte der Zusammenfassung derselben in das N[eue] T[estament], sondern es sind nur Fragmente der Geschichte mit bedeutenden Lüken, das Resultat fehlt ganz, denn wir haben wohl die Sammlung, wissen aber nicht wie sie entstanden […]“ (a. a. O., 1123,16–22). Der erste Paragraf der Einleitung formuliert programmatisch: „Die Theologie ist eine positive Wissenschaft, deren verschiedene Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch die gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Religion; die der christlichen also auf das Christenthum“ (KD1 Einl., § 1; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums [s. Anm. 40], 63,3–6). Paragraf drei fährt fort: „Die Theologie eignet nicht Allen, welche und sofern sie zur Kirche gehören, sondern nur welchen und sofern sie die Kirche leiten“ (KD1 Einl., § 3; a. a. O., 63,13f.). „[…] die Tendenz der Theologie ist nichts andres als die geschichtliche Erhaltung der Kirche“ (FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie, hg. v. MARTIN RÖSSLER / DIRK SCHMID [KGA II/2], Berlin / Boston 2019, 27,16f. [NS Jonas 1816/17]). An anderer Stelle kann Schleiermacher „die Vervollkommnung der christlichen Kirche“ als „den Zwek aller Theologie“ bezeichnen (a. a. O., 108,26–28). Die Tätigkeit der Theologie ist einerseits nach Außen gerichtet, auf die Ausbreitung des Christentums, und andererseits nach Innen, auf dessen Reinigung (vgl. a. a. O., 33,6–28). „Aller Thätigkeit [sc. des Theologen] und allen Regeln dieser Thätigkeit muß also zum Grunde liegen diese leitende Idee von dem Wesen des Christenthums und der Differenz
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Die ‚normale Darstellung des Christentums‘ spiegelt sich in der Idee des Kanons wider, die jedoch von dessen überlieferter Gestalt zu unterscheiden ist.47 Die ‚reine Idee‘ des Christentums, die Schleiermacher auf religionsphilosophischem Wege bestimmt, hat ihren geschichtlichen Ursprung im religiösen Selbstbewusstsein Jesu gehabt, ist jedoch im literarischen Zeugnis von ihm bereits mit Einflüssen „natürliche(r) Unvollkommenheit“ vermischt worden, so dass sich in den neutestamentlichen Schriften vielfach Zufälliges oder Irriges finde.48 Daher kann die Bestimmung des Kanons, d. h. die Unterscheidung zwischen ‚Kanonischem‘, das der Idee des Kanons entspricht, und nicht ‚Kanonischem‘ innerhalb (und außerhalb) des Kanons, als höchste Aufgabe der exegetischen Theologie gelten.49 Sie bereitet damit den Boden für eine kritische Beurteilung des jeweils gegenwärtigen Zustands der Kirche und ihre künftige Weiterentwicklung. „Der eigentliche Werth des Canon in Beziehung auf die Fortbildung der Kirche ist: sodaß man von jedem einzelnen gegebenen Punct aus unmittelbar zurükgehen kann an das Ursprüngliche und Reine, um zu erkennen, was darin positiv und was negativ in Beziehung auf das Christenthum.“50
In der Hermeneutik (einschließlich der Kritik!) als Kunstlehre der Auslegung erkennt Schleiermacher den „eigentliche(n) Mittelpunkt der exegetischen Theologie“. Ihre Kenntnis und die Fähigkeit zu ihrer praktischen Anwendung sind für jedes kirchenleitende Handeln unverzichtbar, soll es seinen Zweck nicht verfeh-
47
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des Wesentlichen und Zufälligen darin“ (a. a. O., 33,3–5 [NS Jonas 1816/17]). – Die Bestimmung des Wesens des Christentums gewinnt Schleiermacher mit Hilfe der ‚Philosophischen Theologie‘, die sich in einen apologetischen und einen polemischen Teil untergliedert. „Die Idee des Kanon ist, daß er die Sammlung derjenigen Documente bildet, welche die ursprüngliche absolut reine und deshalb für alle Zeiten normale Darstellung des Christenthums enthalten“ (KD1 II 1, § 2; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums [s. Anm. 40], 86,2–4). „[…] wobei zu bemerken, daß es nicht einerlei ist, die Idee des Canon aufzustellen, oder das aufzustellen was in den Canon gehört oder nicht“ (SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie [s. Anm. 45], 133,9–11 [NS Jonas 1816/17]). – Es liegt im Wesen dieses Kanonbegriffs, dass das Alte Testament für Schleiermacher keine kanonische Dignität beanspruchen kann: „Die hier aufgestellte Idee des Canon ist auf das Alte Testament gar nicht anwendbar. Der ganze Zwek, den wir ihr gegeben haben, kann auch nicht auf das Alte Testament gehen, denn wir können nicht sagen, daß es die ersten Ideen des Christenthums enthält“ (a. a. O., 133,28–134,2). Vgl. KD2 § 108; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (s. Anm. 40), 181,6–15. „Die protestantische Kirche muß Anspruch darauf machen in der genaueren Bestimmung des Kanon noch immer begriffen zu sein; und dies ist die höchste exegetisch-theologische Aufgabe für die höhere Kritik“ (KD2 § 110; a. a. O., 181,24–182,2). SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 45), 137,1–5 (NS Jonas 1816/17).
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len.51 Dies gilt nicht zuletzt angesichts des Umstands, dass ein vollständiges Verstehen des Kanons unerreichbar ist. Die Aufgabe der Auslegung, des VerstehenWollens, und die Bestimmung des Kanons bleiben daher stets unabgeschlossen und fordern die Kirche(n) jeder Zeit aufs Neue heraus. „Das Verständniß des Canon, das Resultat der aus den besonderen Verhältnissen des Neuen Testaments näher bestimmten Regeln der Auslegungskunst, dann das Resultat aus den Untersuchungen der höheren und niederen Kritik und wie wir immer voraussetzen können, daß uns viele Bedingungen des vollkommenen Verstehens fehlen, das ganze Verständniß des Canon kann niemals vollendet werden. Es ist ein Verfahren was durchaus seiner Natur nach nur approximativ seyn kann und wenn auch alle Puncte richtig sind, so fehlt doch immer apodictische Gewißheit. Das eigentliche Ziel der Auslegung (§ 31.) nemlich die genaue Nachconstruction des Zustandes, in welchem der Schreibende gewesen[,] ist etwas was wir nie als völlig abgeschlossen ansehn können beim Neuen Testament. Die Neu Testamentische Auslegung ist also etwas, woran alle Theologen aller Zeiten immer noch etwas zu bessern haben werden.“52
3.
Zurück in die Zukunft? Die Kritik der ‚Heiligen Schrift(en)‘ im 21. Jahrhundert
In den bisherigen Überlegungen klang bereits an, dass die Einsichten in die Notwendigkeit einer kritischen Bibelauslegung, die in den hermeneutischen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts gewonnen worden sind, für die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen, vor die sich Theologie und Kirche gestellt
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„Die Auslegungskunst ist der Mittelpunkt der exegetischen Theologie, und in Absicht auf sie findet kein Unterschied Statt zwischen allgemeinem Besiz und besonderer Virtuosität. Auch da, wo man die Sprachkenntniß nur als Notiz hat, muß doch die Auslegung eigen sein“ (KD1 II 1, § 26; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums [s. Anm. 40], 89,25–28). – Die Notwendigkeit philologischer Kenntnisse für ein theologisches Verständnis des Kanons hält Schleiermacher seinen Studierenden in den abschließenden Bemerkungen zur Exegetischen Theologie deutlich vor Augen: „Das religiöse Interesse bedarf nun, wenn es zu seinem Ziele gelangen soll, des philologischen Geistes und um so nothwendiger, je größer die Schwierigkeiten sind, Schwierigkeiten, bei denen, weil die Ausbeute so klein ist für die Philologie, die Philologie nie aushalten würde ohne lebendig religiöses Interesse und mit dem religiösen Interesse und wenn es auch das allerhöchste ist, kann man ohne philologischen Geist nichts thun in dieser Wissenschaft. Ohne den wissenschaftlichen Geist kann alle Beschäftigung mit dem Canon nur asketische seyn, die subjective Erbauung kann befördert werden, aber was der Canon objectiv wirken soll, das kann er ohne philologisches Interesse nicht. Durch das Zurükziehen also des philologischen Interesses geht das wahrhaft Theologische verloren und durch das Zurükziehen des religiösen Interesses das wahre Christenthum“ (SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie [s. Anm. 45], 174,18–175,9 [NS Jonas 1816/17]). A. a. O., 172,12–25 (NS Jonas 1816/17).
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sehen, bleibende Gültigkeit besitzen. Wenn die Kritik im Anschluss an Schleiermacher als notwendige Voraussetzung der hermeneutischen Aufgabe bestimmt werden muss und der ‚Kanon‘ (bzw. die Idee des Kanons) als Referenzpunkt für die theologische Urteilsbildung und das kirchenleitende Handeln anzusehen ist, dann kann es keine kirchliche Praxis geben, die auf eine kritische Schriftauslegung verzichtet, ohne dass sie Gefahr liefe, ihr Eigenstes zu verfehlen. Dies gilt selbst unter der Voraussetzung, dass die ‚Idee des Kanons‘ oder das ‚Wesen des Christentums‘ nicht unmittelbar aus der biblischen Überlieferung gewonnen werden können, sondern aus einer religionsphilosophischen, spekulativen Analyse erwachsen, wie dies bei Schleiermacher geschieht. Denn die ‚Philosophische Theologie‘ kann ihre leitenden Prinzipien oder Ideen nur im Rückgriff auf die konkreten, geschichtlichen Erscheinungsformen dieser Ideen entwickeln,53 wie sie für die christliche Theologie und Kirche in ihrer ursprünglichen, ‚reinen‘ Form in den neutestamentlichen Schriften zutage treten. Die Bestimmung der ‚Idee des Kanons‘ (und mit ihm der christlichen Religion) und seine kritische Interpretation bleiben also wechselseitig aufeinander bezogen.
Da die hermeneutische Aufgabe, eine Rede oder Schrift vollständig zu verstehen, es notwendig macht, dass die Ausleger:innen sich eine möglichst genaue Kenntnis der historischen Situation verschaffen, d. h. der sprachlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen, in die das kommunikative Geschehen eingebettet ist,54 kann die ‚Heilige Schrift‘ nur geschichtlich oder mit den Worten Herders „menschlich“ gelesen und verstanden werden. Die hierfür unverzichtbaren philologischen, historischen und hermeneutischen Kenntnisse müssen im Studium der Theologie erlernt und eingeübt werden.55
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Vgl. KD1 Einl., §25; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (s. Anm. 40), 67,5–7. – „Die allgemeine Idee von Religion und Kirche die wird aus der Ethik genommen, aber wie kann diese Entwikelung des Specifischen des Christenthums daraus zu Stande kommen? Das Besondere läßt sich nicht aus dem Allgemeinen construiren, es muß also anders wo hergenommen seyn und wenn wir gleich gesagt haben, die empirische Vorstellung hilft nicht, so müssen wir doch darauf zurükgehen und das Christenthum muß uns gegeben seyn, das Empirische ist also auch conditio sine qua non“ (SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie [s. Anm. 45], 32,1–8 [NS Jonas 1816/17]). Schleiermacher hat diesen Sachverhalt auf die Formel gebracht, dass die Ausleger:innen sich den ursprünglichen Adressat:innen bzw. den Autor:innen selbst nach Möglichkeit gleichstellen müssen (vgl. SCHLEIERMACHER: Vorlesungen zur Hermeneutik [s. Anm. 30], 129,9–15 [Hermeneutik (1819), § 19]). Dies ist angesichts der immer wieder geführten kontroversen Debatte über die Notwendigkeit der klassischen Sprachen für das Theologiestudium nachdrücklich zu betonen. „Ohne philologischen Geist kann die Beschäftigung mit dem Kanon nur asketisch sein, oder sie wird ins Pseudo-dogmatische ausarten“ (KD1 II 1, § 50; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums [s. Anm. 40], 93,9f.; vgl. SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie [s. Anm. 45], 148,22–149,8 [NS Jonas 1816/17]). Über den notwendigen Grad der Sprachkenntnis und den Modus des Spracherwerbs kann (und muss) hingegen konstruktiv nachgedacht werden.
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In Anlehnung an Schleiermachers Überlegungen zur Interdependenz philologischer, historischer und philosophischer Kritik bei der praktischen Durchführung der hermeneutischen Aufgabe ist der Hinweis wichtig, dass das kritische Verfahren über die ihm innewohnende destruktive Tendenz hinaus, die Troeltsch betont hat, vor allem ein konstruktives, sinnstiftendes Potenzial besitzt, das auf das ‚Verstehen-Wollen‘ einer Rede oder Schrift abzielt. Gerade die Eigenart der Bibel (bzw. der in ihr gesammelten Schriften) als ein Buch, das von Menschen für Menschen geschrieben worden ist, wie es Herder formuliert hat,56 verlangt nach einer konsequent kritischen, d. h. geschichtlichen, Interpretation ihrer Texte. Diese muss aber über die im engeren Sinne textgeschichtliche bzw. textgenetische Frage nach dem ursprünglichen Wortlaut und der historischen Abfassungszeit (bzw. Autorschaft) der Texte hinaus, die in der Aufklärungstheologie im Mittelpunkt des Interesses standen,57 die literarischen Formen und die gemeinsamen kulturellen Wissensbestände berücksichtigen, die maßgeblich auf die ‚individuellen‘ Aussagen bzw. argumentativen Konzeptionen eingewirkt haben, wie sie in den biblischen Narrativen begegnen. Erst wenn die einzelnen Schriften oder die verschiedenen ‚Stimmen‘ respektive Bearbeitungen, die in sie eingeschrieben wurden, in ihrer geschichtlichen Eigenart gewürdigt und verstanden werden, können sie als Beiträge in einem größeren kulturellen und religiösen Diskursgeschehen erkannt und interpretiert werden. Die Erschließung dieser Diskurse und ihrer späteren Nachwirkungen, die in verschiedenen medialen Gestalten bis in die Gegenwart fortdauern, ermöglicht ein Gespräch mit der eigenen Tradition, dass Theologie und Kirche zu jeder Zeit innovative und kritische Impulse zu geben vermag. Dies gilt nicht zuletzt in Anbetracht der stetigen Unabgeschlossenheit der hermeneutischen Aufgabe, die kirchenleitendes Handeln und theologische Urteilsfähigkeit immer wieder neu in die diskursive Auseinandersetzung mit der biblischen Literatur einweist.58 An dieser Stelle muss wenigstens ein kurzes Wort zum Begriff und zur Genese des biblischen Kanons gesagt werden. Schleiermacher hatte den Kanon, wie oben angemerkt, bekanntlich auf die neutestamentlichen Schriften bzw. die in ihm inhärente ‚Idee des Christentums‘ reduziert, weil dem Alten Testament lediglich Hinweise auf das Christentum entnommen werden könnten, es selbst jedoch dem Geist und der Religion des Judentums angehöre.59 Diese Beobachtung ist unstrittig, was jedoch nicht für die daraus gezogenen hermeneutischen und kirchlichen Konsequenzen 56 57
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Siehe oben Anm. 4. Vgl. dazu die Beiträge von Ulrich Barth, Hans Hübner, Giuseppe d’Alessandro und Andreas Arndt in dem von Manfred Beetz und Giuseppe Cacciatore herausgegebenen Tagungsband Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung (Collegium Hermeneuticum 3, Köln u. a. 2000). Vgl. KD1 II 1, § 47; SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (s. Anm. 40), 92,26–28. „Es wird zwar auf das Christenthum darin [sc. im Alten Testament] hingewiesen, aber so daß das Eigenthümliche des Christenthums darin ganz latitirt“ (SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie [s. Anm. 45], 136,34f. [NS Jonas 1816/17]).
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gilt.60 Für Schleiermacher verdankt sich der Rückbezug des frühen Christentums auf die Hebräische Bibel vor allem dem judenchristlichen Einfluss, der in Jesus den Messias Israels erkennt und in ihm den Abschluss der alttestamentlichen Verheißung erblickt.61 Mit der christlichen Religion, als deren ‚Stifter‘ Jesus gelten könne, trete aber eine neue Religion in der Geschichte zutage, die keine Fortsetzung des Judentums sei und von diesem kategorial unterschieden werden müsse. Zwar übernehme die christliche Kirche vielfach terminologische Begrifflichkeiten und gedankliche Vorstellungsmuster aus dem Judentum, transformiere jedoch deren Sinngehalt und adaptiere sie der eigenen religiösen ‚Idee‘. Sofern sie trotzdem an der Kanonizität des Alten Testaments festhielte, liefe der theologische (und kirchliche) Gebrauch des Kanons Gefahr, fremde und widerstreitende Vorstellungen in die christliche Religion einzutragen, die dessen ‚Reinheit‘ verwischen würden (wie zum Beispiel die Anthropomorphismen in der Rede von Gott).62 Nun ist die Geschichte des christlichen Kanons fraglos höchst komplex und vor allem mit Blick auf das Alte Testament durch eine Pluralität kanonischer Sammlungen bestimmt, die bis heute besteht und eine ‚kanonplurale‘ Auslegungspraxis erfordert.63 Gerade eine solche Praxis macht jedoch darauf aufmerksam, wie tiefgreifend alttestamentliche Denk- und Handlungsräume die Rede von Gott und vom Menschen im frühen Christentum geprägt und den Resonanzkörper für dessen Selbstauslegung und -verständnis gebildet haben.64 Dieser Prozess kann (und sollte) nicht auf eine abgegrenzte Epoche (das frühe Christentum) oder eine bloß oberflächliche Übernahme sprachlicher Ausdrucksformen beschränkt werden, sondern er gehört zur Eigenart und zum ‚Wesen‘ der christlichen Religion, die ihre bleibenden Wurzeln im Judentum hat.65 Das Alte Testament nötigt die christliche Auslegungsgemeinschaft fortwährend zu einer kritischen Selbstreflexion, die ihr Verständnis von Gott, dem Menschen und der Welt infrage stellt und Impulse zu dessen Reformulierung und Neuinterpretation bietet, denen gerade in ihrer ‚Diesseitigkeit‘ zukunftserschließendes Potenzial eignet.
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Vgl. NOTGER SLENCZKA: Die Kirche und das Alte Testament, in: ELISABETH GRÄB-SCHMIDT / REINER PREUL (Hg.): Das Alte Testament in der Theologie (MJTh 25), Leipzig 2013, 83–119, und die kritische Diskussion seiner Thesen bei FRIEDHELM HARTENSTEIN: Zur Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, ThLZ 140 (2015), 738–751. Vgl. SCHLEIERMACHER: Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 45), 135,7– 136,22 (NS Jonas 1816/17). Vgl. a. a. O., 137,1–34 (NS Jonas 1816/17). Die Komplexität der Geschichte des christlichen Kanons und seiner theologischen Interpretation vor allem mit Blick auf das Alte Testament haben zuletzt MARTIN ARNETH: Zur „Kanonisierung“ der Hebräischen Bibel, VuF 60 (2015), 42–51, und FRIEDHELM HARTENSTEIN: Kanongeschichte(n) und Geltungsfragen. Ein alttestamentlicher Beitrag zum „Primat der Praxis“ für eine Theologie der Schrift, in: ELISABETH GRÄB-SCHMIDT / VOLKER LEPPIN (Hg.): Kanon (MJTh 31), Leipzig 2019, 1–35, kritisch diskutiert. Vgl. FRANK CRÜSEMANN: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. Vgl. MICHAEL PIETSCH: Der fremde Gott. Das Alte Testament und das Wesen des Christentums, KuI 31 (2016), 3–22.
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Die konsequente Anwendung der ‚historischen Methode‘, wie sie Troeltsch gefordert hat, schließt eine kritische Reflexion der eigenen theologischen und hermeneutischen Prinzipien ein, die nicht nur die geschichtliche Bedingtheit (und subjektive Begrenztheit) des je eigenen Standpunkts der Ausleger:innen im Interpretationsprozess bedenkt, sondern im Sinne einer ‚Hermeneutik der Korrelation‘ die theologischen und ethischen Diskurse, die sich in den biblischen Schriften niedergeschlagen haben, mit gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Diskursen ins Gespräch bringt.66 Dazu ist eine kritische und präzise Analyse der jeweiligen Diskursbeiträge und ihrer historischen Kontextualisierung(en) unverzichtbar, bevor diese zueinander in Beziehung gesetzt werden können, ohne dass von vornherein ein asymmetrisches Gefälle zwischen beiden Diskursfeldern konstruiert wird. Historische und dogmatische (oder besser: kritische und theologische) Interpretation sollten nicht gegeneinander, sondern miteinander betrieben werden. Theologie und Kirche können weder das Eine dispensieren noch das Andere absolut setzen, wollen sie nicht die Geschichtlichkeit der Religion und ihrer Selbstauslegung ignorieren. Die Selbsterschließung des biblischen Gottes ereignet sich in der Geschichte des Menschen, in der wechselseitigen Interpretation von eigener Erfahrung und überlieferter Tradition. In einem solchen offenen Auslegungsprozess hat sich die Eigenart der christlichen Religion seit ihren Anfängen ausgeformt und in ihrer Geschichte verschiedene Gestalten angenommen. Dieser Prozess bleibt wesenhaft unabgeschlossen, solange das Christentum als ‚positive (= geschichtliche) Religion‘ besteht. Die Geschichte ist der Ort der Begegnung Gottes mit dem Menschen, und sie ist dies gerade in ihrer Ambiguität und Opazität. Die Aufgabe der Kritik der ‚Heiligen Schrift(en)‘ ist es, diese Ortsbestimmung der (christlichen) Religion gegenwärtig zu halten und das diskursive und handlungsorientierende Potenzial der biblischen Überlieferung stets neu zu erschließen. Damit leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag für Theologie und Kirche im 21. Jahrhundert.
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Vgl. FRIEDHELM HARTENSTEIN: Nicht nur der Dekalog. Zur Bedeutung des Alten Testaments für die theologisch-ethische Urteilsbildung, in: CHRISTOF LANDMESSER / DOROTHEE SCHLENKE (Hg.): Nachdenken über Gott. Theologie im Spiel der Disziplinen, Leipzig 2021, 65–84, 82– 84, der dem biblischen Reden von Gott, Mensch und Welt im Anschluss an Immanuel Kant die Funktion „regulativer Ideen“ zuschreibt, die in den ethischen Diskursen der Gegenwart Sinn- und Handlungsräume markieren können.
Pastor narrans
Pastor narrans
Überlegungen zum Rollenverständnis von Pfarrer:innen im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Theologie und kirchengemeindlichem Alltag
Christian Rose
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Einleitende Überlegungen
„Was bin ich?“ Diese Frage stellen sich Studierende der Evangelischen Theologie im Grund- und im Hauptstudium, Theolog:innen in der Zeit nach dem Examen und im Vikariat, Pfarrer:innen in den ersten Amtsjahren, im pfarramtlichen Alltag und häufig noch einmal auf der Schwelle zur Pensionierung. Dass für den Weg ins Pfarramt zunächst ein wissenschaftliches Studium zu absolvieren ist, ist für Abiturient:innen nicht selten die erste Irritation. Dieses Studium fordert heraus, weil es thematisch breit und tief angelegt ist und einen existenziellen Bezug hat; das zeigt sich nicht erst, aber insbesondere in der Examensvorbereitung. In diesen Jahren stellt sich die Frage nach der eigenen – auch akademischen – Identität. Im Vikariat ist dann oft vom ‚Praxisschock‘ die Rede, die zweite Irritation, weil die Studieninhalte mit den Anforderungen des pfarramtlichen Alltags scheinbar wenig zu tun haben. Jetzt fordern vor allem organisatorische Fragen heraus – die Arbeitsbelastung, die Gestaltung des (Familien-)Lebens in der Dienstwohnung, die Work-Life-Balance. Damit verbunden ist die Frage nach der pastoralen Identität, und diese Frage stellt sich – unter anderem je nach Arbeitsumfeld und -zufriedenheit – im Laufe der Berufsbiographie immer wieder und mit wechselnder Dringlichkeit. In meiner alltäglichen Arbeit begegnen mir beide Fragenkomplexe. Als Assistent im Fach „Altes Testament“ forsche und unterrichte ich – und bin häufig damit konfrontiert, dass das Fach unter Studierenden aufgrund seiner thematischen Breite eher unbeliebt ist –, und als DGSv-Supervisor bin ich unter anderem Gesprächspartner und -gegenüber von Vikar:innen und Pfarrer:innen als Menschen, die berufsrollenbezogene Fragen für sich klären möchten. In dieser Doppelrolle habe ich in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass sich für Theolog:innen die Themenfelder der wissenschaftlichen Theologie von den Handlungsfeldern des kirchlich-gemeindlichen Alltags immer weiter entfernen. Fast sieht es so aus, als führte der immer höhere Spezialisierungsgrad hier in die
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eine, der immer größere Elementarisierungsbedarf dort in die entgegengesetzte Richtung, und als könnte selbst innerhalb der Fächer der Theologie kaum noch das Ganze wahrgenommen und innerhalb der Kirche kaum noch alles an RollenErwartungen erfüllt werden. Dieser Wahrnehmung möchte ich im Folgenden nachgehen. Dafür untersuche ich zunächst eine Gedankenfigur, die mir gelegentlich begegnet (→ 2.), und sehe unter dem Stichwort Komplexitätssteigerung exkursartig auf ausgewählte Forschungsfelder im Fach „Altes Testament“ (→ 3.); im Anschluss setze ich mich mit einem Vortrag von Michael Herbst zur Lebens- und Arbeitssituation von Pfarrer:innen in der Gegenwart auseinander und gehe zweien seiner Hinweise auf pastoraltheologische Konzepte von Albrecht Grözinger und Alexander Deeg nach (→ 4.). Vor diesem Hintergrund schlage ich ein Rollenmodell vor, das versucht, der aktuellen Forschungslage ebenso gerecht zu werden wie den veränderten Anforderungen in den kirchlichen Arbeitsfeldern (→ 5.) und das auch Anknüpfungspunkte für das seelsorglich-beratende Handeln bietet (→ 6.); dabei ist nicht das Ziel, ein vollständiges pastoraltheologisches Konzept zu entwickeln, sondern einen Teil der pfarramtlichen Rolle zu betonen, der sich gut wissenschaftlich-theologisch absichern lässt. Schließlich (→ 7.) frage ich rückkoppelnd danach, was dieses Rollenmodell für das Studium des Faches „Altes Testament“ bedeutet und worauf im Studium – von Lehrenden wie Lernenden – ein größeres Gewicht gelegt werden könnte.
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Wissenschaftlicher Fortschritt in Phasen? Eine Denkfigur mit Ausstrahlung „Noch vor einer Generation war das Fach ‚Altes Testament‘ überschaubar. Man kannte sich in der Bibel aus, konnte Hebräisch, las die Geschichte Israels von Herbert Donner, die Einführung in das Alte Testament mit dem Pentateuchmodell von Werner H. Schmidt, die Theologie von Gerhard von Rad und die Einleitung von Otto Kaiser – lieber die einbändige als die dreibändige –, wusste, dass das Jesajabuch laut Bernhard Duhm aus drei Teilen besteht, dass man bei Klaus Koch Profeten mit ‚f‘ schreibt und dass man die Psalmen von der Formgeschichte Hermann Gunkels her liest. Das war einfach; und wie kompliziert ist es dagegen heute!“
Diese oder relativ ähnliche Denkfiguren begegnen mir gelegentlich – bei Pfarrer:innen, die ihr Wissen von damals auffrischen und aktualisieren wollen, und bei Studierenden, die in der Examensvorbereitung stecken und nicht ohne Neid auf das schauen, was die Altvorderen zu lernen hatten. Ich frage mich dann: Stimmt es, dass der Kanon an Wissen und Kompetenzen in der letzten Generation klarer und besser überschaubar war? Wenn ich genau hinsehe, merke ich: Das sagt sich so und liest sich so, als sei mit diesen Namen und Werken die Alttestamentliche Wissenschaft – gleichsam repräsentativ oder einem Denkmal ähnlich – abgebildet, als sei sie zu einem vorübergehenden Ergebnis, fast schon
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zu einem Abschluss gekommen, der erst in der Gegenwart wieder aufgebrochen wurde und in dem Verfestigtes wieder verflüssigt werden musste. Diese Annahme aber hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Die einzelnen Teilbereiche, aus denen das Fach besteht – Ägyptologie, Altorientalistik, Archäologie, Exegese, Geschichtsforschung, Hebraistik, Hermeneutik, Ikonographie, Judaistik, Linguistik, Religionsgeschichte, Religionswissenschaft, Theologie und viele mehr –, waren und sind immer in Bewegung. Jede Neuerscheinung wird – früher oder später – einer kritischen Auseinandersetzung unterzogen; das geschieht in der Gegenwart andauernd, und das muss so sein, damit Wissen vermehrt wird. Die Denkfigur zeigt dennoch etwas Wichtiges. Ihre Trägergruppe besteht weitestgehend aus Menschen, die nach dem Examen den Fortgang der wissenschaftlichen Diskussion nicht weiter verfolgen (können), etwa weil im Berufsalltag keine Zeit dafür ist und die nächste Fachbibliothek nicht am Ort. So gaben und geben die benannten Werke Orientierung, weil sie das, was man zur Zeit ihrer Abfassung mit relativer Sicherheit sagen konnte, zusammenzufassen versuchen und also tatsächlich einen Forschungsstand abbilden – wenn auch lediglich im Sinne einer Momentaufnahme. Von vielen gelesen, von vielen gelernt und von vielen wegen mangelnder Gelegenheit zur Aktualisierung bewahrt und gleichsam kodifiziert, können sie das Gefühl entstehen lassen, als Theolog:in Teil einer Wissensgemeinschaft zu sein, in der das Gelesene, Gelernte und Bewahrte etwas Verbindendes hat. Wer nach dem Examen ein eigenes Forschungsprojekt beginnt und tiefer in die Themen einsteigt, merkt, dass die Dinge komplexer sind als in den Lehrbüchern dargestellt und dass das, was als relativ sicher sagbar galt, bei genauerem Hinsehen doch nicht so sicher ist. Insofern machen die benannten Werke bei allem Bemühen darum, verantwortbar Wesentliches auszusagen, immer auch den Versuch, Komplexität zu Gunsten von Lesbarkeit zu reduzieren und den Eintritt in eine Diskussion für diejenigen, die nicht voll am stetigen und zuletzt durch digitale Publikationen deutlich beschleunigten Puls der Zeit sind, überhaupt erst zu ermöglichen. So ist einerseits klar, dass die vielen Lehrbücher und Einleitungen in der Gegenwart im wissenschaftlichen Diskurs – von Ausnahmen abgesehen – eher am Rande behandelt werden. Andererseits sind es vor allem sie, die in kirchlichen Kontexten rezipiert werden – und das hat Bedeutung für die Frage, die ich hier bedenke, weil von den Lehrbüchern und Einleitungen in der Regel eine viel stärkere Breitenwirkung ausgeht als von einzelnen Aufsätzen oder Spezialmonographien.
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Komplexitätssteigerung in der Alttestamentlichen Wissenschaft der Gegenwart
Die obige Denkfigur aufgreifend, zeichne ich im Folgenden exkursartig und in Umrissen aktuelle Entwicklungen in ausgewählten Forschungsfeldern nach und benenne eine Reihe von Problemen, die sich im Zusammenhang mit dem Komplexitätszuwachs in der Gegenwart ergeben. a) Das Biblisch-Hebräische Verbalsystem galt über viele Jahrhunderte hinweg als rätselhaft, da es so aussah, als müsste aus zwei bzw. vier flektierten Verbformen ein System herausgelesen werden, mit dem sich die Realität aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abbilden lässt. Weder Versuche, das hebräische waw als waw conversivum zu lesen, führten hier zu plausiblen Ergebnissen noch der Gedanke, die Verbformen eher als Aspekt- denn als Tempusformen zu verstehen.1 1982 legte Rüdiger Bartelmus im Rahmen seiner Habilitationsschrift die These vor, das Verbalsystem sei als Relatives Zeitstufen- / Tempussystem zu lesen, wobei das Partizip aktiv als dritte bzw. fünfte Form hinzukommt.2 Mit diesem Modell lassen sich die Texte – vor allem Erzähltexte, aber auch wörtliche Rede – im Blick auf ihre Tempusstruktur klarer deuten als in der Vergangenheit. 1994 fand es im Rahmen seiner Einführung in das Biblische Hebräisch den Weg in eine breitere Öffentlichkeit und von da aus auch in die späteren Methodenbücher zur Exegese des Alten Testaments.3 Damit ist das Rätsel um das BiblischHebräische Verbalsystem nicht gelöst, das System aber im deutsch- und englischsprachigen Bereich erstmals plausibler verständlich gemacht als zuvor. Gleichwohl geht die Aspektdebatte weiter, wird inzwischen aber eher im Zusammenhang mit der Frage nach der Tempusbedeutung der Verbformen gesehen, als davon getrennt. Daneben spielt nun auch – wie in anderen Sprachen – Modalität als Analysekategorie eine Rolle,4 und seit wenigen Jahren werden BiblischHebräische Verben auch auf ihre Aktionsarten – eine Analysekategorie aus der
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Zu den älteren Versuchen vgl. LESLIE MCFALL: The Enigma of the Hebrew Verbal System. Solutions from Ewald to the Present Day (HTIBS 2), Sheffield 1982, und BRUCE K. WALTKE / MICHAEL P. O’CONNOR: An Introduction to Biblical Hebrew Syntax, Winona Lake / Indiana 1990. RÜDIGER BARTELMUS: HYH. Bedeutung und Funktion eines hebräischen „Allerweltswortes“ – zugleich ein Beitrag zur Frage des hebräischen Tempussystems (ATSAT 17), St. Ottilien 1982. RÜDIGER BARTELMUS: Einführung in das Biblische Hebräisch – ausgehend von der grammatischen und (text-)syntaktischen Interpretation des althebräischen Konsonantentexts des Alten Testaments durch die tiberische Masoreten-Schule des Ben-Ascher – mit einem Anhang: Biblisches Aramäisch für Kenner und Könner des Biblischen Hebräisch, Zürich (11994) 22009. Vgl. etwa HOLGER GZELLA: Hebräische Verbformen mit modaler Bedeutung im Spiegel der alten Bibelübersetzungen, KUSATU 5 (2004), 67–101.
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Linguistik – untersucht;5 die Sicht darauf erlaubt es, mit den Verben generierte Tempusaussagen auch über deren Semantik zu erheben und also die einzelnen Verbalaussagen noch genauer zu untersuchen als vorher. b) Das Reizvolle und – wie ich finde: bis heute – Lesenswerte an der Geschichte Israels und Judas von Herbert Donner6 liegt darin, dass Donner Geschichte reflektiert und im Blick auf die Einzelfragen kritisch und mit Mut zur Lücke erzählt, und mir scheint, dass genau dieses Moment, nämlich dass Geschichte erzählt wird, essenziell ist und etwas, das mit Geschichte immer und überall getan wurde. Methodisch geht das mit einer Grundentscheidung einher, denn wie es eigentlich gewesen und was seinerzeit wirklich geschehen ist, kann Geschichtsschreibung und Geschichtserzählung nicht abbilden.7 Hier wird Geschichte im strengen Sinne nicht rekonstruiert, sondern konstruiert, und Geschichtskonstruktion in diesem Sinne ist abhängig von Text-, Bild- und Ökobzw. Artefaktquellen, von Quellen also, die im Wesentlichen durch die Archäologie zu Tage gefördert werden. Nun ist bemerkenswert, dass die Befunde, die aufgrund der Quellen erhoben werden können, nicht immer eindeutig und auch oft nicht widerspruchsfrei sind. Bekannt ist, dass insbesondere die biblischen Texte gelegentlich ein anderes Bild von der Geschichte Israels und Judas zeichnen als übrige Quellen. Es ist umstritten, wie mit dieser Situation umzugehen ist, ob etwa die biblische Überlieferung einen besonderen Wert hat, so dass nur im Ausnahmefall Korrekturen am Erzählten vorgenommen werden dürfen, oder ob die biblische Überlieferung nur dort als zuverlässig gelten kann, wo sie durch den Befund anderer Quellen bestätigt wird. Noch komplexer wird dieser Streit durch die Tatsache, dass die Geschichte Israels und Judas sowohl eine historische als auch eine theologische Disziplin ist, dass also eine Entscheidung in dem einen Bereich immer auch Konsequenzen für den anderen Bereich zu haben scheint. Vor allem unter Studierenden ist gegenwärtig eine gewisse Ratlosigkeit zu spüren. Donners Geschichte Israels und Judas gilt vielen als zu alt und zu umfangreich, und die Abrisse zur Geschichte Israels und Judas in den Lehrbüchern und Einleitungen sind zu dicht und zu konzentriert geschrieben, als dass man damit gut arbeiten könnte. Sehnlich erwartet war deshalb die Geschichte Israels von Christian Frevel,8 doch stellt Frevel die Einzelbefunde dar, die aufgrund der Quellen zu erheben sind – und lässt sie weitgehend unverbunden nebeneinander 5
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Vgl. STUART A. CREASON: Semantic Classes of Hebrew Verbs. A Study of Aktionsart in the Hebrew Verbal System, Chicago 1995, und vor allem ERNST JENNI: Aktionsarten und Stammformen im Althebräischen: das Pi‘el in verbesserter Sicht, in: DERS.: Studien zur Sprachwelt des Alten Testaments II, hg. v. JÜRG LUCHSINGER / HANS-PETER MATHYS / MARKUS SAUR, Stuttgart 2005, 77–106 (= ZAH 13 [2000], 67–90). Zuletzt erschienen als HERBERT DONNER: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen (GAT = ATD.E 4), Göttingen 42007. Vgl. dazu MICHAEL PIETSCH: Art. Geschichte Israels. Methodik, WiBiLex (https://www.bibel wissenschaft.de/stichwort/21946/, zuletzt abgerufen am 07.01.2022). CHRISTIAN FREVEL: Geschichte Israels (KStTh 2), Stuttgart (12016) 22018.
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stehen. Es steht Geschichte Israels auf dem Buchdeckel, doch gerade Geschichtserzählung findet nicht statt. So entsteht kein historisches Gesamtbild, so lässt sich Geschichte nur schwer lernen und so lässt sich historisches Wissen kaum mit den Texten in Korrelation bringen. c) Nach wie vor groß sind weiterhin die Bemühungen um die Erforschung des Pentateuch und seiner Entstehung. Noch in den 1990er Jahren schien Werner H. Schmidt vielen als einer der Hauptvertreter der ‚Neueren Urkundenhypothese‘ zu gelten, dem oft sogenannten ‚Vier-Quellen-Modell‘.9 Das ist bemerkenswert, hat Schmidt doch im Blick auf viele Detailprobleme dieses Modells eher Fragen gestellt, als Dinge thetisch zu behaupten, und er hat eigentlich nicht das eine Entstehungsmodell präsentiert, sondern deutlich gemacht, dass die Redaktionen auch in einer anderen Reihenfolge abgelaufen sein könnten – mit erheblichen Folgen für die Deutung der theologischen Entwicklung des Pentateuch wie des Alten Testaments überhaupt; vor allem letzteres ist nach meiner Wahrnehmung zu wenig rezipiert worden. Zu dieser Zeit galt der Quellencharakter des ‚Elohisten‘ (Quelle E) schon lange als zweifelhaft,10 und auch die Einheitlichkeit des ‚Jahwisten‘ (Quelle J) wurde so stark bestritten,11 dass das Erscheinen eines Sammelbandes mit dem Titel Abschied vom Jahwisten Anfang der 2000er Jahre folgerichtig war.12 Als hochkomplex stellt sich des Weiteren alles dar, was mit dem Deuteronomium zu tun hat – die Fragen zur Entstehungsgeschichte des Buches selbst sowie nach wie vor die Diskussion darüber, ob auf den Spuren der These von Martin Noth von einem ‚Deuteronomistischen Geschichtswerk‘ gesprochen werden kann, und auch die Forschungslandschaft zu diesen
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Vgl. WERNER H. SCHMID: Einführung in das Alte Testament, Berlin / New York 51995, 47–59. Danach besteht der Pentateuch aus den vier Quellen J (Jahwist, um 950 v. Chr.), E (Elohist, um 800 v. Chr.), D (Deuteronomium, um 622 v. Chr.) und P (Priesterschrift, um 550 v. Chr.), die im Zuge von drei großen Redaktionen miteinander verbunden wurden (JE nach 722 v. Chr., JED nach 586 v. Chr. und JEDP um 400 v. Chr.; oder JE nach 722 v. Chr., JEP nach 550 v. Chr. und JEPD um 400 v. Chr.). Vgl. aber die eingehende und gründliche Untersuchung von AXEL GRAUPNER: Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn 2002, die „im Resultat zu einer Art ‚Auferstehung einer Quellenschrift‘“ führt, wie Manfred Oeming in seiner Rezension in der Theologischen Literaturzeitung (130 [2005], 757–759, 757) meinte – oder hätte führen können. Auch das war schon früh der Fall. RUDOLF SMEND (sen.): Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht, Berlin u. a. 1912, etwa sah J aus J1 und J2 zusammengesetzt, OTTO EIßFELDT: Einleitung in das Alte Testament unter Einschluß der Apokryphen und Pseudepigraphen. Entstehungsgeschichte des Alten Testaments (NTG), Tübingen 1934, unterschied in J eine Laienquelle L und den Jahwisten J, und GEORG FOHRER: Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg 101965, identifizierte in J den Jahwisten J und eine jüngere Nomadenquelle N. JAN CHRISTIAN GERTZ / KONRAD SCHMID / MARKUS WITTE (Hg.): Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin / New York 2002.
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Fragen ist stark verzweigt und von einem Konsensansatz weit entfernt.13 Inzwischen haben die Zweifel am Quellencharakter sowie an der literarischen Integrität und Reichweite auch die sogenannte ‚Priesterschrift‘ ergriffen; das zeigt etwa der Sammelband Abschied von der Priesterschrift?,14 wenngleich das Fragezeichen im Titel auf die noch laufende Debatte hinweist. Und aktuell haben neuere Pentateuchmodelle das ‚Vier-Quellen-Modell‘ abgelöst. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Erich Zenger / Peter Weimar, Erhard Blum, Eckart Otto und Reinhard Gregor Kratz;15 sie greifen die Grundannahmen älterer Modelle (Erzählkranz- / Fragmentenhypothese, Grundschrift- / Ergänzungshypothese, Quellen- / Urkundenhypothese) auf und gewichten die einzelnen Anteile unterschiedlich. Auch in diesem Bereich ist ein Konsens derzeit nicht in Sicht. Die Fragen verknüpfen sich aktuell mit Fragen zur Methodik der Exegese des Alten Testaments, dem also, was klassischerweise im Alttestamentlichen Proseminar erlernt wird. Konnte lange Zeit der Eindruck entstanden sein, das Ziel der historisch-kritischen Arbeit sei erreicht, wenn der Text in seine Entstehungsstufen ‚zerlegt‘ war, so ist aktuell der Endtext mit seiner Dynamik wieder stärker in den Blick getreten. Dabei haben Arbeitsmethoden aus der Literaturwissenschaft deutlich an Einfluss gewonnen, zumal das tendenziell subtrahierende Verfahren der literarkritischen Methode nicht zu Ergebnissen geführt hat, die auf breiterer Ebene überzeugen konnten. Nach einer sehr grundsätzlichen Arbeit von Benjamin Ziemer zur Kritik des Wachstumsmodells könnte sich aktuell eine neue Methodendiskussion entwickeln, die ich für dringend wünschenswert halte.16 In je eigener Weise spiegeln sich die hier benannten Aspekte auch in den neueren Kommentaren. So liest etwa Georg Fischer den Text der Genesis, „wie er sich darbietet, als Ganzes, in seiner Abfolge und mit seinen Einzelheiten. Die Orientierung am vorliegenden biblischen Wort“ bekommt bei ihm „Priorität gegenüber einem Herangehen an es mit bereits bestehenden Theorien und Interpretationen […]“17. Jan Christian Gertz unterscheidet in der ‚Urgeschichte‘ (Gen 1– 11) ‚P‘ (im Druck halbfett) und Fortschreibungen (halbfett in petit), einen „weis13
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Vgl. dazu vor allem CHRISTIAN FREVEL: Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke? Die These Martin Noths zwischen Tetrateuch, Hexateuch und Enneateuch, in: UDO RÜTERSWÖRDEN (Hg.): Martin Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung (BThSt 58), Neukirchen-Vluyn 2004, 60–95, und GEORG BRAULIK: Theorien über das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) im Wandel der Forschung, in: E. ZENGER u. a.: Einleitung in das Alte Testament, hg. v. CHRISTIAN FREVEL (KStTh 1,1), Stuttgart 92016, 233–254. FRIEDHELM HARTENSTEIN / KONRAD SCHMID (Hg.): Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Pentateuchdebatte (VWGTh 40), Leipzig 2015. So sehr übersichtlich in ERICH ZENGER U.A.: Einleitung in das Alte Testament, hg. v. CHRISTIAN FREVEL (KStTh 1,1), Stuttgart 82012, 119–147. In der 9. Auflage (s. Anm. 13) wird nur noch das eigene Modell vorgestellt. BENJAMIN ZIEMER: Kritik des Wachstumsmodells. Die Grenzen alttestamentlicher Redaktionsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz (VT.S 182), Leiden 2020. GEORG FISCHER: Genesis 1–11 (HThKAT), Freiburg 2018, 44.
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heitlichen Erzähler“ (kursiv) und Fortschreibungen (kursiv in petit) und daneben redaktionelle Zusätze (mager).18 Andreas Schüle differenziert zwischen ‚P‘ als Quellenschrift und Komposition und ‚Nicht-P‘, sieht ‚Nicht-P‘ aber nicht als „unabhängige Sammlung oder Quellenschrift“, geht also nicht von einer eigenen jahwistischen Quelle (‚J‘) oder -Komposition aus.19 Auch David M. Carr unterscheidet ‚P‘ und ‚non-P‘ – beide „composed separately before they were combined“ –, wobei ‚non-P‘ nach seiner Analyse zuvor aus „two overall layers“ bestand, einer frühen Fassung ohne die Fluterzählung und einer späteren Erweiterung mit der Fluterzählung und anderen Texten; daneben habe ein ‚ToledotBuch‘ gestanden.20 Thomas B. Dozeman geht bei seiner Auslegung des Exodusbuches grundsätzlich von den „independant ‚sources‘“ ‚J‘, ‚E‘ und ‚P‘ aus, doch spielt ‚E‘ nach seiner Analyse im Exodusbuch keine Rolle; im Durchgang unterscheidet er deshalb „Non-P History“ und „P History“.21 Helmut Utzschneider und Wolfgang Oswald sehen für das Exodusbuch eine fünfstufige Literargeschichte, nämlich eine ältere Exoduserzählung, eine ‚Exodus-Gottesberg-Erzählung‘, das ‚Deuteronomistische Geschichtswerk‘, die priesterliche Komposition und eine ‚Tora-Komposition‘ – Werke, die sich dann auch einzeln beschreiben lassen; gemäß dem Basiskonzept der Reihe Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament (IEKAT) verfolgen Utzschneider und Oswald aber bei der Textauslegung das Ziel, „synchrone und diachrone Perspektiven zu berücksichtigen und möglichst zu verbinden […]“22. Christoph Dohmen fokussiert bei seiner Arbeit am Exodusbuch übergreifende Textzusammenhänge und blickt im Kontext neuerer Literaturwissenschaft auf den Endtext; damit wird auf die Rückfrage hinter die Letztgestalt des Textes absichtlich verzichtet.23 d) Der Prophetenforschung war es im 20. Jahrhundert scheinbar gelungen, bei allen Unsicherheiten und offenen Fragen zumindest einen Sachverhalt feststellen zu können: Die ‚So-spricht-Jahwe-Formel‘ ist eine ‚Botenformel‘. Das hieß: Propheten sind Boten, nämlich Boten Gottes. Wenngleich nicht unwidersprochen, setzte sich diese Annahme weitestgehend durch, und noch heute steht das in den meisten Einleitungen und Lehrbüchern. 2004 erhob Andreas Wagner gegen diese vor allem von Claus Westermann vertretene Gleichsetzung von Propheten als Boten Widerspruch.24 Aufgrund der Analyse des Formelfeldes konnte 18
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23 24
JAN CHRISTIAN GERTZ: Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11 (ATD 1), Göttingen 2018, XI. ANDREAS SCHÜLE: Die Urgeschichte (Gen 1–11) (ZBK.AT NF 1,1), Zürich 22020, 19f. DAVID M. CARR: Genesis 1–11 (IECOT), Stuttgart 2021, 28–31. THOMAS B. DOZEMAN: Exodus (ECCo), Grand Rapids / Cambridge 2009, 35.48–51. HELMUT UTZSCHNEIDER / WOLFGANG OSWALD: Exodus 1–15 (IEKAT), Stuttgart 2013, 17; zu den literarhistorischen Stufen vgl. a. a. O., 41f. Vgl. CHRISTOPH DOHMEN: Exodus 1–18 (HThKAT), Freiburg 2015. ANDREAS WAGNER: Prophetie als Theologie. Die so spricht Jahwe-Formeln und das Grundverständnis alttestamentlicher Prophetie (FRLANT 207), Göttingen 2004.
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Wagner zeigen, dass es ‚So-spricht-Formeln‘ mit menschlichem Subjekt und solche mit göttlichem Subjekt gibt und dass im Blick auf die Formeln mit göttlichem Subjekt fünf unterschiedliche Formeltypen (FT) unterschieden werden können (FT 2: „Denn so hat Jahwe gesprochen“; FT 3: „So spricht Jahwe“; FT 4: „So hat Jahwe gesprochen“; FT 5: „Daher – so spricht Jahwe“; FT 6: „So hat“ bzw. „Denn so hat Jahwe zu mir gesprochen“). Auch hier also sind die Dinge im Zuge der neuesten Forschungsbemühungen komplexer geworden. Mit dieser Unterscheidung allerdings wird die Rolle der Propheten genauer beschreibbar. Propheten können tatsächlich als Boten auftreten (FT 4). Sie zeigen sich aber auch als Theologen, die zuvor von Jahwe Gesprochenes auf die aktuelle Situation beziehen (FT 2), die im Zuge einer freien Äußerung das Wort Jahwes einspielen (FT 3), die aus dem Gesagten oder der Geschichte die Konsequenzen ableiten, die Jahwe zieht (FT 5), oder die auf ein eigenes Offenbarungserlebnis rekurrieren (FT 6). In der Folge ist das natürlich theologisch relevant, weil das ‚Wort Gottes‘ in mehr und anderen Zusammenhängen zu sehen ist als im Botenverkehr und weil das ‚Wort Gottes‘ nicht nur auftragsweise in bestimmte Situationen hinein ergeht, sondern auch von den Propheten eigenständig eingebracht werden kann. e) Es ist klar, dass sich die Psalmenforschung heute nicht mehr ausschließlich auf den Spuren von Hermann Gunkel und Joachim Begrich bewegt. Gleichwohl spielen gattungsgeschichtliche Fragen hier immer noch eine wesentliche Rolle, zumal sich die Unterteilung der Psalmen in Hauptgattungen, die Gunkel vorgenommen hatte, als tragfähig erweisen konnte. Die grundsätzlichen Einwände von Claus Westermann25 und die Präzisierungen von Frank Crüsemann26 haben gerade im Bereich der ‚Hymnen‘ zu genaueren Beschreibungen beigetragen. Gleichzeitig wird gegenwärtig die Möglichkeit einer Rekonstruktion der Entwicklung von Gattungen zurückhaltender beurteilt; das betrifft insbesondere die Rückführung auf ideale Urformen. Auch wird Gunkels Frage nach dem ‚Sitz im Leben‘, also nach der sozialen Entstehungssituation der Gattungen, aktuell zurückhaltender gestellt; zum einen dürften die Texte keine eindeutigen Rückschlüsse darauf erlauben, zum anderen sind offenbar mehr Texte, als Gunkel annahm, für ihren literarischen Kontext geschaffen worden und also ohne konkreten Bezug zu einer lebensweltlichen Situation zu sehen. Gegenwärtig stehen die einzelnen Psalmen stärker im Fokus von Untersuchungen,27 wenngleich häufig auch die Frage nach Psalmenclustern diskutiert wird.28 Auch in die Psalmenforschung hat die Sprechakttheorie in der Nachfolge von John L. Austin und John 25 26
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Vgl. CLAUS WESTERMANN: Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 51977. Vgl. FRANK CRÜSEMANN: Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen-Vluyn 1969. Ähnlich KENNETH J. KUNTZ: Continuing the Engagement. Psalms Research Since the Early 1990s, CBR 10 (2012), 321–378, 322. Vgl. FRANK-LOTHAR HOSSFELD / ERICH ZENGER: Die Psalmen, Bd. 1: Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg 1993; Bd. 2: Psalm 51–100 (NEB.AT 40) 2002; Bd. 3: Psalm 101–150 (NEB.AT 41) 2012.
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R. Searle Einzug gehalten.29 Nach wie vor interessiert die Figur des David in den Überschriften vieler Psalmen die Exeget:innen.30 Und Bernd Janowski und Friedhelm Hartenstein haben mit ihrer monumentalen Auslegung von Psalm 1–2 eine Basis für die Psalmenauslegung gelegt, die stärker als bisher auch anthropologische Fragen und die altorientalische Bildwelt berücksichtigt.31 Angesichts der neueren Entwicklungen ist es bedauerlich, dass Forschungsergebnisse derzeit häufig nicht über Sprachgrenzen hinweg rezipiert werden. Was etwa zur Hebraistik auf Ivrit oder in Fernost erscheint, spielt in der kontinentaleuropäischen Diskussion häufig keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle. Nur graduell anders ist das im Blick auf englischsprachige Beiträge, wobei in vielen deutschsprachigen Publikationen englischsprachige Arbeiten häufig eher flankierend zitiert werden, Substanzielles aber vor allem aus dem eigenen Sprachraum verarbeitet wird. Ehrlicherweise muss man gleichzeitig einräumen, dass allein die Menge an Publikationen inzwischen von keinem einzelnen Menschen mehr verarbeitet werden kann; die Zahl der Beiträge zum Themenfeld ‚Tempus-Aspekt-Aktionsart‘ etwa ist beispielsweise zwischen 1900 und 2000 auf rund 6600 Arbeiten angewachsen, und dabei sind Arbeiten auf Ivrit oder aus Fernost noch nicht mitgezählt. Gleichzeitig ist auch hier die inhaltliche Komplexitätssteigerung enorm.32
4.
Wahrnehmungen und Impulse von Albrecht Grözinger, Alexander Deeg und Michael Herbst
In dem Maße, in dem die Komplexität in der Wissenschaft steigt, besteht gegenwärtig in den Arbeitsfeldern des Gemeindepfarramts wie auch vieler Sonderpfarrämter die Notwendigkeit zur Komplexitätsreduktion. Das liegt zum einen in der Lebens- und Arbeitssituation von Pfarrer:innen begründet, die nach meiner Beobachtung stärker als früher auf der Suche nach ihrem Rollenprofil sind, weil sich die Erwartungen vonseiten der Gemeindeglieder wie der kirchenleitenden Ebenen verändern, zum anderen darin, dass sich kirchliche Veranstaltungs-
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Vgl. HERBERT J. LEVINE: Sing Unto God a New Song. A Contemporary Reading of the Psalms (SiBL), Bloomington 1995. Vgl. etwa ROLF RENDTORFF: The Psalms of David. David in the Psalms, in: PETER W. FLINT / PATRICK D. MILLER (Hg.): The Book of Psalms. Composition & Reception (VT.S 99), Leiden u. a. 2005. FRIEDHELM HARTENSTEIN / BERND JANOWSKI: Psalmen (BKAT 15,1), Neukirchen-Vluyn / Göttingen 2012ff. Vgl. ROBERT L. BINNICK: A Bibliography of Tense, Verbal Aspect, Aktionsart, and Related Areas: 6600 Works, Scarborough 2001 (http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download? doi=10.1.1.471.8160& rep=rep1&type=pdf; zuletzt abgerufen am 29.09.2019).
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und Deutungsangebote gegenwärtig einer immer breiteren Konkurrenz ausgesetzt sehen.33 Ich kann hier nur den ersten Aspekt weiter verfolgen. Im Jahr 1998 hat Albrecht Grözinger dafür plädiert, das Pfarramt als „Amt der Erinnerung“ zu begreifen; darin konvergieren nach seiner Einschätzung „gegenwärtige gesellschaftliche Notwendigkeiten, theologisch-biblische Perspektiven sowie die konkreten Anforderungen an das Profil der pfarramtlichen Praxis“34. Weil die Postmoderne Traditionen zerfallen lasse und zugleich nach ihnen lechze, könne eine Aufgabe des Amtes darin gesehen werden, den biblischchristlichen Traditionsbestand zu erhalten.35 Gleichwohl sieht Grözinger einen Unterschied zu Ernst Langes Rede von der „Kommunikation des Evangeliums“, weil ‚Kommunikation‘ bei Lange „ein christologischer Begriff“ gewesen sei;36 Menschen suchten gegenwärtig „nicht den großen Kommunikator, sondern den Interpreten, die Interpretin der biblisch-christlichen Tradition in jeweils bestimmten lebensgeschichtlichen Kontexten“37. Das Pfarramt der Zukunft könne dann „in seiner Struktur ähnlich dem Rabbinat in der jüdischen Gemeinde“ sein.38 Im Jahr 2004 hat Alexander Deeg das Stichwort vom Rabbinat aufgegriffen.39 Er verfolgte die Rolle des Rabbiners zwischen der Lebensform des Weisen („Chacham“) und dem Beruf des Predigers durch die jüdische Literatur und beschrieb ihn vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion als „Rabbi legens et docens“.40 Daraus könne ein Leitbild für das evangelische Pfarramt werden, in dem „der Pastor legens als professioneller homo legens, lesender Christenmensch“ erscheine.41 Er könne sich als solcher auf die „schöpferischen Quellen“42 konzentrieren und mit „Lust am Text“43 leben und seinen Beruf ausüben. Für Deeg imaginiert das Leitbild vom Pastor legens „Pfarrerinnen und Pfarrer, die lesend der Diffusion fliehen, mit der Gemeinde lesend in der Welt unterwegs sind und im Lesen des Wortes Leben finden“44. 33
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40 41 42
43 44
Vgl. dazu schon in den 1990er Jahren sehr umsichtig – unter Bezugnahme auf das sogenannte Kruzifixurteil – HEIKE SCHMOLL: Was von der Kirche erwartet wird, FAZ vom 29.12.1995. ALBRECHT GRÖZINGER: Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 1998, 136. Vgl. a. a. O., 137. A. a. O., 138. A. a. O., 139. A. a. O., 141. Zu den Reaktionen, die die Arbeit von Grözinger bis dahin erzeugt hatte, vgl. ALEXANDER DEEG: Pastor legens. Das Rabbinat als Impulsgeber für ein Leitbild evangelischen Pfarramts, PTh 93 (2004), 411–427, 413. A. a. O., 418. A. a. O., 423. Mit ANNE M. STEINMEIER: Schöpfungsräume. Auf dem Weg einer praktischen Theologie als Kunst der Hoffnung, Gütersloh 2003, 91. So programmatisch ROLAND BARTHES: Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1974. DEEG: Pastor legens (s. Anm. 39), 427.
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Im Jahr 2010 hat Michael Herbst unter Bezugnahme auf das EKD-Reformpapier Kirche der Freiheit45 von 2006 schlaglichtartig die Lebens- und Arbeitssituation von evangelischen Pfarrer:innen beschrieben.46 Herbst sieht sie zwischen „Überforderung und Einengung“, weil der Alltag „eine massive Herausforderung in den verschiedenen pfarramtlichen Berufsfeldern“ sei – „in der Gemeinde sicher, aber auch in den Schulen, Gefängnissen, Krankenhäusern und Pflegeheimen“47. Ähnlich hatte schon 2002 Klaus Raschzok Pfarrer als „Virtuosen, Moderatoren, Manager, Entertainer, Spirituale, Experten oder […] exemplarische Gemeindeglieder, […] Therapeuten, Motoren, Begleiter, Anbieter, Vermittler, Erklärer oder Kommentatoren“ beschrieben.48 Die 2008 durchgeführte Befragung unter Pfarrer:innen habe nach der Deutung von Herbst gezeigt, dass das, was am meisten Mühe mache, „Überforderung, mangelhafte Führung und Rollenunsicherheit“ sei.49 Herbst hält die pastoraltheologischen Ansätze seit den 1980er Jahren „nur sehr bedingt“ für überzeugend.50 Sie seien „unterbestimmt, wenn es um das Verhältnis des Pfarrers zur Gemeinde geht“, „überbestimmt, wenn es um die Aufgabenkataloge geht“.51 Insgesamt „retten [sie] nicht aus der ungesunden Pfarrzentrierung“, sondern „verstärken tendenziell den Druck auf den Pfarrer und damit die drohende Erschöpfung“52. Er rät deshalb zur Konzentration auf den Auftrag, nämlich „lebenslang, öffentlich und regelmäßig Wort und Sakrament zugänglich zu machen“ und „teilzuhaben an der geistlichen Leitung der Gemeinde“; letzteres sei das „Amt der Einheit“, das eine „spezifische, aber nicht exklusive Funktion in der geistlichen Leitung der Gemeinde“ habe.53 Überforderung, mangelhafte Führung und Rollenunsicherheit – was Herbst benennt, deckt sich mit meinen Beobachtungen; die in Kontraktgesprächen von Supervisand:innen aus dem Pfarramt annoncierten Themen gehören fast ausschließlich in diese Bereiche. Ich greife im Folgenden die Vorschläge von Grözinger und Deeg auf, auf die Herbst rekurriert, die er aber letztlich verwirft, und bringe sie modifiziert neu zu Gehör. Ich tue das, weil sie in mir als Exeget und Supervisor, der mit Menschen auf der Suche nach deren Rollenbildern ist, Resonanz machen und weil ich denke, dass in den Vorschlägen von Grözinger und Deeg eine Chance liegen kann, das eigene Rollenprofil zu schärfen und 45
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47 48
49 50 51 52 53
KIRCHENAMT DER EKD (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006. MICHAEL HERBST: „Was bin ich?“ Pfarrerinnen und Pfarrer zwischen Zuspruch und Zumutung, in: VELKD (Hg.): Texte aus der VELKD 155, Hannover 2010, 36–51. A. a. O., 39. KLAUS RASCHZOK: Ordination als Berufung und Lebensarbeit. Zu einem vernachlässigten Aspekt gelebter Spiritualität im Pfarrberuf, ThBeitr 33 (2002), 138–154, 139. HERBST: „Was bin ich?“ (s. Anm. 46), 39. A. a. O., 42. Ebd. (Hervorhebung im Original). A. a. O., 43. A. a. O., 48.
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gleichzeitig als konzentriert und theologisch erkennbar zu werden, was sowohl für die Bildungs- und Verkündigungsarbeit als auch für die Seelsorge ein Gewinn sein kann.
5.
Pfarrer:innen als pastores narrantes
Erinnern im Sinne Grözingers und Lesen im Sinne Deegs verstehe ich als Haltungen, die Pfarrer:innen einnehmen können. Diese Haltungen sind dadurch miteinander verbunden, dass sie sich auf Literatur beziehen – und zwar in erster Linie auf die Bibel als von der Tradition vorgegebene Literatur und bis heute theologisch wichtigste Quelle. In ihr gilt es zu lesen, aus ihr gilt es zu schöpfen, ihre Inhalte gilt es zu kommunizieren, und das geht im Blick auf die Rezipient:innen in theologisch geprägten Kontexten am besten dadurch, dass aus ihr erzählt wird. Erzählen ist eine für das Leben in Beziehung essenzielle Kommunikationsform und kann wohl als eine Art Grundkonstante des Lebens gelten, die in jedem Lebensalter wesentlich ist. Schon früh dürften deshalb auch die großen Erzählungen im Alten Orient – ich denke etwa an den Schöpfungsmythos Enuma Elisch, das Gilgamesch-Epos und den Atra(m)hasis-Mythos – in den damaligen Kulturen tragende Rollen gespielt haben. Sie beinhalten Motive, die sich später in den Erzählungen des Alten Testaments wiederfinden. Innerhalb der alttestamentlichen Zeit waren es unter anderem die Prophet:innen, die in unterschiedlicher Weise das ‚Wort Gottes‘ ins Spiel gebracht, die Vergangenheit gedeutet und Aussagen über die Zukunft gemacht haben. Weil aus dem, was sie getan und gesagt haben, Gott erkennbar wird, waren sie im Sinne des Wortes Theolog:innen. Auf dieser Linie gedacht, sind sie narrantes dei und spielen als solche eine wesentliche Rolle in der wechselhaften Geschichte Israels und Judas. Jesus als ‚Sohn Gottes‘ begegnete dann später als der neutestamentliche ‚Erzähler Gottes‘ in einer herausgehobenen Position. Er zeigte – etwa in seinen Wundertaten –, wie sich das künftige Gottesreich anfühlen wird und verkündigte es regelmäßig in deren Kontext.54 Pfarrer:innen könnten sich – auch unter Auslassung von Wundertaten – in diese Erzähltradition stellen. Als Träger:innen des ‚Amtes der Erinnerung‘ und in ihrer Arbeit wesenhaft als pastores legentes können sie in den verschiedenen Situationen, in denen sie agieren, am besten und möglicherweise am stimmigsten sichtbar werden als pastores narrantes. Das wäre ein Rollenbild, das für mich neben der kulturgeschichtlichen und biblischen Bedeutung des Erzählens einen pfarramtlichen Erfahrungsbezug aufweist. 54
Vgl. dazu eingehend CHRISTIAN ROSE: Theologie als Erzählung im Markusevangelium. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Untersuchung zu Mk 1,1–15 (WUNT II, 236), Tübingen 2007.
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Nach meiner Wahrnehmung machen die alt- und neutestamentlichen Berichte von den Auftritten und der Verkündigung besonderer Menschen deutlich, dass in aller Regel das Event am Anfang stand und die Aussagen über die Bedeutung, die darin liegt, folgten. Als Beispiele seien dafür die Zeichenhandlungen des Propheten Ezechiel (Ez 4f.) und die ersten Wunderheilungen Jesu (Mk 1,21– 28; 2,1–12) benannt. Erst das Event, dann die Inhalte – das ist in ähnlicher Weise bis heute so. Das zeigen heute Gespräche mit Kindern: „Was war heute im Kindergarten los?“ – „Die Pfarrerin war da.“ Das zeigen Gespräche mit Jugendlichen: „Was habt ihr auf der Konfirmandenfreizeit gemacht?“ – „Wir haben mit dem Pfarrer eine Nachtwanderung gemacht.“ Das zeigen auch Gespräche mit Erwachsenen: „Wie war die erste Predigt der neuen Vikarin?“ – „Sie hat schön laut gesprochen.“ Oder: „Wie ist der neue Pfarrer?“ – „Oh, er kann gut singen!“ Oder: „Wie war die Taufe?“ – „Die Pfarrerin hat das ganz locker gemacht und nicht so ernst wie der alte.“ Solche Berichte über ihr Tun sind für Pfarrer:innen häufig enttäuschend, weil gerade die Inhalte – im Kindergarten, auf der Konfirmandenfreizeit, im Gottesdienst – nicht erwähnt werden, obwohl für sie selbst darauf das Hauptgewicht, darin die größte Bedeutung liegt. Allerdings steht dahinter die Erinnerung von Menschen an eine Sozialform, und das ist ein guter Anfang. Wenn diese Sozialform erinnert wird, gilt es im ersten Schritt, sie der jeweiligen Situation angemessen zu wählen oder zu entwickeln. Was stimmen muss, ist der ‚Sitz im Leben‘. Erst dann wird der Weg frei sein für Inhalte, und um die geht es im zweiten Schritt, denn Inhalte, Traditionen und Erzählungen sind es, die Menschen bis in die Gegenwart hinein immer neu und immer wieder suchen. Nach meiner Wahrnehmung führt der Weg über die Sozialform zu den Inhalten, und auf der Grundlage der Beurteilung, ob beides für sich und beides miteinander stimmig ist, entscheiden Menschen in der Gegenwart, ob sie sich auf Themenwelten einlassen oder nicht. Dabei spielen Fragen nach historischen Zusammenhängen zunächst nur eine nach- und untergeordnete Rolle. Wichtiger scheint mir, dass Erzählungen den Blick auf die in ihnen liegende Wahrheit jenseits von historischen Fragen öffnen können. Statt also beispielsweise mit Konfirmand:innen extensive Bibellektüre zu veranstalten, halte ich es für sinnvoller, Inhalte in angenehmer und von den Jugendlichen mitgetragener Atmosphäre anzusehen – und dann nicht vorzulesen, sondern zu erzählen. Auf dem Boden im Altarraum der Kirche um eine von der Gruppe gestaltete Erzählkerze sitzend, die natürlich reihum von den Jugendlichen selbst angezündet werden durfte, habe ich in einem Konfirmandenjahrgang in über 60 Sitzungen zu je 15 Minuten ausgewählte Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament erzählt. Das ist ein im Blick auf das Äußere enthaltsames Format, das sich sehr eingeprägt hat und den Blick auf die Inhalte öffnen konnte. Ähnliches habe ich im Grundschulunterricht erlebt, und dass das mit Erwachsenen und Senior:innen auch funktioniert, ist selbstverständlich.
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So ein Durchgang lässt Raum zum Experimentieren mit verschiedenen Erzählstilen und unterschiedlichen Erzählperspektiven. Die Resonanz war für mich überraschend. Nachdem sich die Jugendlichen an das Format gewöhnt hatten, fragten Sie auf inhaltlicher Ebene nach, fingen an, das Verhalten der Erzväter und anderer Erzählfiguren zu diskutieren, und auch Eltern gaben von sich aus Rückmeldungen von Gesprächen am Abendbrottisch, bei denen es sogar um Erzählinhalte ging. Da ist etwas angekommen, und das war eine Erfahrung mit Ausstrahlung, die ich bald wiederholt habe. Am besten funktionierten für mich lebensnahe Erzählungen, die zur Identifikation einladen, gegenwärtige Sprache verwenden und die Inhalte altersgerecht theologisierend einspielen. Diese Arbeit ist anfangs aufwändig, weil sie Zeit für die Vorbereitung braucht. Sie schafft dann aber auch Raum für Konzentration auf die eine Quelle und bietet so Entlastung. Die pastores narrantes fangen an, in ihrem Kerngebiet tätig zu werden – und brauchen nicht dauernd auf der Suche nach geeigneten Geschichten zu sein und in Sinnspruchbüchern oder Tageszeitungen nach Material zu jagen; sie tun nach gründlicher Vorbereitung das, was sie wirklich können, nämlich in guter biblischer Tradition stehend mit dem Traditionsgut umgehen, es weitergeben und so im eigentlichen Sinne theologisch wirken.
6.
Auch ein Impuls für die Seelsorge
Die Rolle als pastor narrans bietet darüber hinaus auch Anknüpfungspunkte für Seelsorge- bzw. kirchliche Beratungskonzepte. Joachim Scharfenberg und Horst Kämpfer haben bereits 1980 unter dem Titel Mit Symbolen leben und nach theologischer Grundlegung einer Theorie des religiösen Symbols den „Symbolhunger“ des Menschen untersucht und Ansätze zu einer Didaktik der Symbole entwickelt.55 Die Arbeit mit Symbolen zielt nach ihrem Ansatz nicht „auf die Konstruktion einer Gegenwirklichkeit“; sie „will vielmehr eine Gegenerfahrung […] in konkreter Alltagswirklichkeit“ ermöglichen.56 Vor dem Hintergrund von Fallvignetten fragen sie, wie das jeweils Geschilderte aus der Sicht des symbolischen Aktionismus, der Psychoanalyse und der praktisch-theologischen Symboltheorie gedeutet werden kann. Dabei spielen vor allem auch biblische Symbole eine Rolle – Motive, Erzählungen, Zitate aus dem Alten wie dem Neuen Testament –, denn sie einzubeziehen kann „neue Dimensionen der Wirklichkeit“ erschließen.57 Ich könnte mir vorstellen, dass der pastor narrans genau an dieser Stelle eine seiner stärksten Wirkungen entfalten kann, weil er vor dem Hintergrund seiner biblisch-theologischen Bildung in der Lage ist, nach gutem Zuhören pass55
56 57
JOACHIM SCHARFENBERG / HORST KÄMPFER: Mit Symbolen leben. Soziologische, psychologische und religiöse Konfliktbearbeitung, Olten / Freiburg i. Br. 1980, 123–169. A. a. O., 210. A. a. O., 229f.; vgl. auch a. a. O., 228f.
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genaue biblische Symbole bzw. Symbolerzählungen auszuwählen, sie in das Gespräch einzuspielen, sie mit dem Gegenüber in ihrer Bedeutungstiefe auszuloten und so die Gegenerfahrung zu ermöglichen, auf die Scharfenberg und Kämpfer zielen.
7.
Rückkoppelung: Impulse für das Studium des Faches ‚Altes Testament‘
Was bedeuten diese Gedanken für das Studium, vor allem für die Auseinandersetzung mit dem Alten Testament? Ich denke, dass hinter dem angedachten Konzept Arbeit steht, die theologisch anspruchsvoll ist. Genau da liegt für mich der Anknüpfungspunkt an das, was wissenschaftlich erarbeitet und an theologischer Bildung vermittelt werden kann. Die pastores narrantes bedürfen für ihre Arbeit mit der biblischen Tradition eines breiten Spektrums an theologischer Bildung, und das heißt: Fähigkeiten, nicht Fertigkeiten. Die pastores narrantes müssen Inhalte verantwortet aufbereiten und auf die Zielgruppen hin elementarisieren und konzentriert – möglichst in Form des freien Vortrags – kommunizieren können.58 Das ist Arbeit, die oft eine Gratwanderung zwischen „zu schwer“ und „zu einfach“ ist. Wenn etwa während der Sintfluterzählung bei den Hörer:innen zwischen 4 und 104 Jahren das Gefühl eines Tierparkbesuchs aufkommt, dürfte die Erzählung unangemessen vereinfacht sein, weil sie die Vernichtungsansage am Anfang und das die Erzählung von Grund auf prägende pessimistische Menschenbild unterschlägt oder nicht deutlich genug herausarbeitet. Die Basis für diese die biblische Tradition aufarbeitende und sich aneignende Arbeit ist eine bibelkundliche Kenntnis, die sehr schnell über die anfangs gelernten Grobgliederungen hinausgeht, die einzelnen Texte ansieht und durchdringt und den roten Fäden der Erzählungen nachspürt. Das kann geschehen über das Nachverfolgen von Erzählmotiven – und über die Suche nach der dezidiert theologischen Bedeutung von biblisch-hebräischem Vokabular. Dann können Erzählkränze bzw. -zyklen greifbar werden, lassen sich die „Biographien“ biblischer Figuren erzählen und auch große Zusammenhänge in den Blick nehmen. Während beispielsweise im ersten Zuge im Hebräischunterricht gelernt wird, dass יצאhi. „hinausführen“ heißt, gilt es, im zweiten Zuge zu lernen, dass mit dieser Wurzel in diesem Stamm geprägtes Exodusvokabular begegnet, das neben den über 100 Belegen in den Büchern Exodus bis Josua auch zehnmal im Jesajabuch verwendet wird – und hier erst ab Jes 40, also ab dem Teil, der spä-
58
Zum Pfarr- als Kommunikationsberuf vgl. etwa MICHAEL KLESSMANN: Seelsorgeausbildung im Theologiestudium!?, WzM 66 (2014), 346–360, 354–356.
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testens seit Beginn des 20. Jahrhunderts ‚Deuterojesaja‘ genannt wird.59 Dieser Zusammenhang kann den Blick öffnen für die inneralttestamentlichen Textbezüge einerseits und die Tiefendimension von Texten andererseits. Was hier getrieben wird, heißt in den Methodenbüchern der Exegese ‚Motiv- und Traditionsgeschichte‘. Die Arbeit daran ermöglicht es, Texte wirklich theologisch zum Sprechen zu bringen – und möglicherweise liegt hier die Kernkompetenz der pastores narrantes, mit der sie spezifisch als diejenigen erkennbar werden, die mit dem Traditionsgut arbeiten und es passgenau in jeweils angemessene Situationen einspielen.
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Einen Überblick über die Forschungsgeschichte – von den ersten Zweifeln an der jesajanischen Verfasserschaft von Jes 40–66 bei Abraham Ibn Esra (ca. 1086–1164) bis zu den Arbeiten von Johann Benjamin Koppe, Johann Christoph Döderlein und Johann Gottfried Eichhorn – bietet CHRISTIAN MOSER: Umstrittene Prophetie. Die exegetisch-theologische Diskussion um die Inhomogenität des Jesajabuches von 1780 bis 1900 (BThSt 128), Neukirchen-Vluyn 2012, 10–88.
Exegese als gegenkulturelle Praxis
Exegese als gegenkulturelle Praxis
Über den aktuellen und künftigen Nutzen einer klassischen theologischen Arbeitsweise
Daniel Hoffmann
DANIEL HOFFMANN
Am Anfang hatte der Christusglaube einen Nutzen. „Denn – zu Paulus’ Zeiten, d. h. im Bewusstsein seiner Gemeinden – ist es absolut von Vorteil, getaufter Christ zu sein. Nicht nur deshalb, weil man sehr große Chancen hat, dem endzeitlichen Vernichtungsgericht zu entgehen, sondern weil es mitten in dieser Welt einen sozialen Wandel gibt, aber eben nur innerhalb der christlichen Häuser, die eine neue Gesellschaftsordnung experimentell umzusetzen versuchen. Deshalb ist es von ausgesprochenem Vorteil, sich einer solchen Ekklesia anzuschließen.“1
Martin Ebner hebt in der Auswertung seines Kommentars zum Brief des Paulus an Philemon den Nutzen des Christusglaubens für antike Menschen hervor und beschreibt eindrücklich das gewaltige, hoffnungsvolle Potenzial, das von diesem Glauben ausging.2 Am Ende wendet er sich durchaus kritisch der Gegenwart zu, wenn er schreibt: „2000 Jahre später darf man sehr wohl die Frage stellen, warum dieser Optimismus verblasst ist.“3 Welchen Nutzen hat es heute, Christ*in zu sein? Diese pragmatische Frage4 schwingt im Hintergrund mit, wenn ich im Folgenden den Nutzen der Exegese aufzeigen will.5 Zugegebenermaßen steht die 1
2 3 4
5
MARTIN EBNER: Der Brief an Philemon (EKK XVIII), Ostfildern/Göttingen 2017, 147f. Vgl. daneben auch HERMANN LICHTENBERGER: Das Spottkruzifix vom Palatin und die Inattraktivität des Christentums in der hellenistisch-römischen Welt, in: LOREN T. STUCKENBRUCK u. a. (Hg.): „Make Disciples of All Nations“. The Appeal and Authority of Christian Faith in Hellenistic-Roman Times (WUNT 2 482) Tübingen 2019, 173–188, 184–188; BENJAMIN SCHLIESSER: Vom Jordan an den Tiber. Wie die Jesusbewegung in den Städten des Römischen Reiches ankam, in: ZThK 116 (2019), 1–45, 11–40. Vgl. EBNER: Philemon (s. Anm. 1), 143–148. A. a. O., 148. Zum Pragmatismus als wacher Gegenhaltung einer dumpfen Vernunft vgl. REBEKKA REINHARD: Wach denken. Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch, Hamburg 2020, 16f. Vgl. dazu STEFAN ALKIER: Das Neue Testament im Kreis der theologischen Fächer. Neutestamentliche Wissenschaft als Beitrag zur Erschließung eines evangelischen Wirklichkeitsverständnisses, in: MARKUS BUNTFUSS / MARTIN FRITZ (Hg.): Fremde unter einem Dach? Die
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Frage nach dem Nutzen der Exegese auf einem anderen, kleineren Blatt als der Nutzen des Christusglaubens bzw. des Christentums. Doch wer Ebners Kommentar genau liest, merkt schnell, dass das Eine mit dem Anderen untrennbar verbunden ist und dass der exegetische Blick in die Vergangenheit die Gegenwart nicht nur befruchten, sondern auch konstruktiv infrage stellen kann. Ausgehend von der ausführlichen Darstellung aktueller Analysen und Wahrnehmungen unserer Gesellschaft und Gegenwartskultur6 soll gezeigt werden, dass die biblische Exegese nach wir vor einen großen Nutzen hat und ohne sie die Zukunft von Kirche und Theologie nicht vorstellbar ist.7
1.
Genaues Lesen als Voraussetzung liminaler Identität
Der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer hat mit seiner ‚CassandraMethode‘ gezeigt, wie sich über die intensive Lektüre und Sichtung von Literatur Konflikte und anbahnende militärische Auseinandersetzungen schon längerfristig vorab erkennen lassen.8 Noch bevor der von Russland geführte Krieg in der Ukraine eskalierte, warnte Wertheimer mit seinem Team vor der militärischen Eskalation.9 Ausgangspunkt seiner Warnungen ist das Lesen von Literatur. Wertheimer nimmt kritisch wahr, dass es uns im digitalen Zeitalter nicht an Daten und Informationen fehle, wohl aber daran, die Daten zu lesen und zu interpre-
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theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (TBT 163), Berlin/Boston 2014, 43–67, 66f. Wolfgang Riedel sagt zum Blick auf die eigene Gegenwart: „Die Perspektive des aktiv oder passiv Beteiligten kann nicht verlassen werden und ebenso wenig die sektorale, eingeschränkte Sicht in akute Problemlagen“ (WOLFGANG RIEDEL: Ästhetische Distanz. Auch über Sublimierungsverluste in den Literaturwissenschaften. Abschiedsvorlesung, Würzburg 2019, 27). Dem schließe ich mich an. Mit diesem Vorgehen setze ich ein Verständnis Evangelischer Theologie voraus, das in der Nachfolge Friedrich D. E. Schleiermachers steht und evangelische Theologie als „eine Funktion der Kirchenleitung im Kontext gesellschaftlicher Aufgaben und Realitäten [begreift]“ (ALKIER: Neutestamentliche Wissenschaft [s. Anm. 5], 45; vgl. dazu und den problematischen Aspekten an Schleiermachers Enzyklopädie a. a. O., 43–57). Vor allem im Blick habe ich im Folgenden die neutestamentliche Exegese, wobei vieles ebenso für die alttestamentliche Textauslegung gilt. Vgl. JÜRGEN WERTHEIMER: Sorry Cassandra! Warum wir unbelehrbar sind, Tübingen 2021, 161–182. Vgl. a. a. O., 64 sowie JÜRGEN WERTHEIMER im Interview mit CHRISTA SIGG: Bomben fallen zuerst in Büchern. Literaturwissenschaft. „Nicht Fakten, sondern Fiktionen bestimmen unsere Wirklichkeit“, sagt JÜRGEN WERTHEIMER, in: Fränkische Landeszeitung. Ansbacher Tageblatt 95 (26.4.2022), 7.
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tieren und von da aus zu Handlungen zu kommen.10 Damit seine ‚CassandraMethode‘ funktionieren kann, mahnt er: „Wir alle müssen wieder lernen zu lesen, genau zu lesen, und gegebenenfalls schnell zu reagieren, immer ein paar Denkschritte voraus zu sein.“11 „Fiktion ist die verbalisierte Hellsichtigkeit.“12 Mittels genauen Lesens kommen wir dem ‚kulturellen Genom‘ auf die Spur, an das Unausgesprochene, Verborgene und die unter der Oberfläche versteckten Zeichen heran.13 Wie Wertheimer fordert auch der Lektor Sascha Michel gegenwärtig ein genaueres Lesen, um wieder neu die ‚Unruhe der Bücher‘ zu entdecken.14 Michel versteht wie Wertheimer das Lesen nicht als eine „kontemplative Quelle der Ruhe und Entschleunigung“, sondern als „Herd der Unruhe und Kontingenz“15. Der Literatur geht es wie der Kunst immer wieder darum, unsere Wahrnehmung zu entautomatisieren, ins Stolpern zu bringen, Brüche zu erzeugen, uns infrage zu stellen, und die Kontingenz von allem deutlich zu machen.16 „Genau dafür brauchen wir die Bücher: damit uns immer wieder schockartig bewusst wird, wie viel größer das Universum ist, als wir zu denken gewohnt sind; damit wir die uns begrenzenden Paradigmen überhaupt erst einmal als solche wahrnehmen, innerhalb derer wir uns immer schon bewegen, um dann probeweise beim Lesen in ein anderes, ebenso mögliches Paradigma wechseln zu können.“17
Das genaue Lesen, das Michel über Bücher hinaus auch auf Bilder, Filme und Serien ausdehnt, ermöglicht uns, unseren eigenen kontingenten Standpunkt zu erkennen, über den wir nicht hinauskommen, sowie unsere beschränkte Perspektive auf die Wirklichkeit, auf die es keinen neutralen Beobachtungspunkt außer-
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Vgl. WERTHEIMER: Sorry Cassandra (s. Anm. 8), 8f.11–19.164f. ANDREAS RECKWITZ: Kleine Genealogie des Lesens als kulturelle Praxis, in: Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von KATHARINA RAABE und FRANK WEGNER (Bibliothek Suhrkamp), Berlin 2020, 31–45, 39 weist darauf hin, dass im Zeitalter der digitalen Revolution „anders gelesen wird, das heißt, dass sich das Lesen als Praktik und damit auch deren Subjektivierungseffekte wandeln. Vereinfacht gesagt, verläuft der Wandel vom deep reading zum hyper reading.“ „In der digitalen Welt ist die Grundkonstellation […] jene einer Überfülle von Reizen und Offerten, die um die Aufmerksamkeit des Users wetteifern“ (a. a. O., 40). Dem hyper reading geht es im Unterschied zum deep reading „nicht mehr um die Immersion in einen Text, sondern um den zügigen Erwerb von Informationen. Texte werden daher nicht nur äußerst schnell gelesen, sondern häufig ‚quergelesen‘“ (a. a. O., 41). WERTHEIMER im Interview mit SIGG (s. Anm. 9), 7. Ebd. Vgl. auch WERTHEIMER: Sorry Cassandra (s. Anm. 8), 170.173. Vgl. a. a. O., 165f. Vgl. SASCHA MICHEL: Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht (Was bedeutet das alles? / Reclams Universal-Bibliothek 19669), Ditzingen 22020, 56f. Beide Zitate a. a. O., 11. Vgl. a. a. O., 22f.44–46; ferner auch WERTHEIMER: Sorry Cassandra (s. Anm. 8), 150. MICHEL: Unruhe (s. Anm. 14), 47.
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halb ihrer selbst gibt.18 Es schult unsere Aufmerksamkeit (gerade auch für Menschen, Gefühle, Dinge, die wir nicht wahrnehmen [wollen]).19 Genaues Lesen schützt somit vor gefährlichen Ideologien!20 Lesen kann entsprechend dieser entlarvenden Dimension durchaus eine Zumutung sein, allerdings bewirkt diese beunruhigende Zumutung im besten Fall eine veränderte Wahrnehmung und ein alternatives Handeln.21 Wertheimers und Michels Appelle sind in Folge der digitalen Revolution in einen kulturellen Umbruch der Lesepraxis einzubetten, den der Soziologe Andreas Reckwitz wie folgt beschreibt: „Es findet eine Veralltäglichung und zugleich Ausdünnung des Lesens statt. Das hyper reading wird zur neuen dominanten kulturellen Praxis. Die offene Frage ist, inwiefern sich das deep reading gewissermaßen als eine neue gegenkulturelle Praxis positionieren lässt.“22
Michel und Wertheimer konturieren auf je eigene Weise das genaue Lesen, das deep reading als gegenkulturelle und unaufgebbare Praxis.23 Wilhelm Egger und Peter Wick verstehen in genau diesem Sinn die Aufgabe neutestamentlicher Exegese: Der Exegese mit ihren Methoden geht es um ein strukturiertes Lesen der biblischen Texte.24 Neutestamentliche Exegese wird 18
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Vgl. a. a. O., 67–73; ferner WERTHEIMER: Sorry Cassandra (s. Anm. 8), 111.115; RECKWITZ: Genealogie (s. Anm. 10), 36.38f. Vgl. MICHEL: Unruhe (s. Anm. 14), 76f. Dabei ist zu beachten, „dass uns das Lesen nicht per se zu besseren Menschen macht“ (a. a. O., 79). Literatur kann neben dem bereits Genannten auch zur „existenzielle[n] Erfahrung der Unzuverlässigkeit und Ungewissheit der Zeichen“ (a. a. O., 83; vgl. a. a. O., 82f.) führen. Voraussetzung für diese und andere Erfahrungen ist allerdings die „Fähigkeit, sich bestimmen zu lassen von einem fremden Text“ (a. a. O., 85). Vgl. a. a. O., 73f. RECKWITZ: Genealogie (s. Anm. 10), 33. So wird einerseits im heutigen Alltag von so vielen Menschen wie wohl niemals zuvor gelesen (und geschrieben; die Lesenden im digitalen Raum sind heute immer zugleich auch User*innen, also aktive Subjekte, die auf das Gelesene reagieren [müssen]; vgl. a. a. O., 40f.). Andererseits ist das im digitalen Raum vorherrschende hyper reading „‚flacher‘ und auf schnelle Informationen aus, die Aufmerksamkeit flüchtiger“ (a. a. O., 42). A. a. O., 36 weist er darauf hin, dass in der Moderne „als amphatische[r], auf dem Lesen beruhende[r] Bildungskultur“ (a. a. O., 32) es mit dem stillen Lesen zu einer Aufmerksamkeitsfokussierung kam, die er als deep reading bezeichnet, und die auch noch mit dem Aufkommen der audiovisuellen Massenmedien beherrschend blieb (da man sich auch auf Kinofilme oder Rundfunkübertragungen konzentrieren muss; vgl. a. a. O., 38f.). Reckwitz merkt a. a. O., 45 Anm. 15 (= 336 Anm. 15) kritisch an, dass es sich beim deep reading, „um Praktiken der neuen Mittelklasse mit hohem kulturellen Kapital“ handle, so dass für unsere digitale Gesellschaft ein „reading divide charakteristisch werden [könnte]: zwischen jenen, die allein hyper reading betreiben, und jenen, die auch deep reading einsetzen“ (ebd.). Vgl. WILHELM EGGER / PETER WICK: Methodenlehre zum Neuen Testament. Biblische Texte selbstständig auslegen. Unter Mitarbeit von DOMINIQUE WAGNER (Grundlagen Theologie),
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hier also literaturwissenschaftlich verortet.25 Gerade bei biblischen Texten, bei deren Lektüre immer schon eine lange und reiche Verstehenstradition mitschwingt, braucht es das genaue Lesen als „Kunst des ‚Stolperns‘“26. Beim wissenschaftlichen Lesen kommt dann eine zusätzliche Distanz hinzu, die „die Fremdheit des Textes anerkennt“27. Der Text soll so zum Sprechen gebracht und nicht vorschnell vereinnahmt werden.28 Zudem geschieht das wissenschaftliche Lesen mittels Methoden, die „die Überprüfbarkeit der gemachten Aussagen, also die faire Auseinandersetzung“29 gewährleisten sollen. Egger und Wick merken allerdings einschränkend zur Praxis der Exegese an: „Das Wichtigste bei der Interpretation bleibt trotz allem die Bescheidenheit. Niemand kann ‚alles‘ wissen. […] Trotz all der reichen Forschung der vergangenen Jahrhunderte wissen wir letztlich viel zu wenig über die Zeit des Neuen (und Alten) Testamentes. Das Wissen um die Endlichkeit und Zeitlichkeit des eigenen Wissens ist deshalb Grundvoraussetzung für das Forschen und bewahrt einen vor Fehlinterpretationen und Fundamentalismen.“30
Sie heben mithin die Kontingenz hervor, die der Unruhe der Bücher nach Michel entspringt, die uns infrage stellt und bei aller exegetischen Arbeit immer wieder deutlich macht, dass christliche Identität eine ‚liminale Identität‘ auf der Schwelle ist.31 Ihren Ausgangspunkt nimmt diese liminale Identität bei der Kontingenz der Offenbarung Gottes in der Geschichte seines Volkes und im Leben
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Freiburg i. Br. 62011, 18–42 (§ 1 Methodenlehre als Anleitung zum strukturierten Lesen). A. a. O., 111–114 fordern sie als ersten Auslegungsschritt der synchronen Auslegung das ‚close reading‘. Vgl. a. a. O., 13f.; dem entspricht eine prinzipielle Vorordnung synchroner Auslegungsschritte vor diachronen (vgl. dazu die Teile 3 und 4 der Methodenlehre, a. a. O., 106–268). Vgl. daneben ALKIER: Neutestamentliche Wissenschaft (s. Anm. 5), 58f.63; MATTHIAS HOPF: Der exegetische und didaktische Mehrwert literaturwissenschaftlichen Arbeitens. Dargestellt anhand eines Vergleichs alttestamentlicher Methodenwerke, in: Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an 1,2 (2016), 7–25 (Plädoyer für ein literaturwissenschaftliches Verständnis alttestamentlicher Exegese); WERNER KAHL: Bibelverständnisse und Bibelinterpretationen im globalen Christentum – gegenwärtige Tendenzen, in: ÖR 70 (2021), 5–15 (im Blick auf das globale Christentum dominieren literaturwissenschaftliche Zugänge). EGGER/WICK: Methodenlehre (s. Anm. 24), 22. Vgl. dazu ebd. A. a. O., 23. Vgl. dazu unten Abschn. 2.; sowie HANS WEDER: Zum Problem einer „christlichen Exegese“. Ein Versuch, einige methodologische und hermeneutische Anfragen zu formulieren, in: DERS.: Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 9–30, 10. EGGER/WICK: Methodenlehre (s. Anm. 24), 28. A. a. O., 25. Vgl. CHRISTIAN STRECKER: Identität im frühen Christentum? Der Identitätsdiskurs und die neutestamentliche Forschung, in: MARKUS ÖHLER (Hg.): Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 142), Neukirchen-Vluyn 2013, 113–167, 158–167; CHRISTIAN STRECKER: Das liminale Subjekt.
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Jesu, die die biblischen Schriften bezeugen und die die Exegese gerade als historisch ausgerichtete Disziplin scharf in den Blick bekommt, wie Hans Weder im Rückgriff auf die analytische Geschichtsphilosophie herausgestellt hat.32 Wenn Exegese als genaue und methodisch geleitete Lesepraxis immer wieder neu an diese Kontingenzen erinnert und das infrage stellende Potenzial biblischer Texte neu entfaltet, ist damit im Rahmen der gegenwärtigen und zukünftigen Identitätsdiskurse in Kirche und Christentum viel gewonnen.33
2.
Distanzgewinn und dialogische Streitkultur
Der Germanist Wolfgang Riedel und der Kunstgeschichtler Horst Brederkamp erkennen in unserer gegenwärtigen Kultur einen eklatanten Verlust von Distanz.34 W. Riedel zeigt am Werk Friedrich Schillers und Aby Warburgs, dass der Distanzgewinn für beide einen „zivilisatorische[n] Grundakt“ darstellt.35 Erst durch Distanz zu den eigenen Affekten emanzipiert sich der Mensch von seiner Natur und wird zum Kulturwesen.36 H. Brederkamp sieht vor allem durch das Internet eine „Dimension der Plötzlichkeit“37 Einzug halten, die durch permanente Erregungssteigerung einen radikalen Präsentismus zur Folge hat, dem Distanz immer mehr abhandenkommt.38 Gegenbilder sind in einer solchen Kultur nicht mehr zulässig.39 Debatten werden nur noch affektbezogen geführt und Gegenmeinungen nicht mehr zugelassen.40 Man verweilt – wie W. Riedel selbstkritisch einwendet, auch und gerade im akademischen Kontext – in Komfortzonen und akzeptiert „ein bloßes Nebeneinander mehr oder weniger geschlos-
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Modelle der Subjektivierung im Neuen Testament, in: ECKART REINMUTH (Hg.): Subjekt werden. Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie (TBT 162), Berlin/Boston 2013, 97–123, 112–115.122f.; ULRIKE WAGNER-RAU: Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009, 119–136. Vgl. WEDER: Problem (s. Anm. 28), 12–18.20f.; daneben ECKART REINMUTH: Offenbarung als Literatur? Bibelinterpretation zwischen Geschichte und Geltung, in: DERS.: Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 43–59, 46–48. Vgl. dazu auch STRECKER: Identität (s. Anm. 31), 167. Vgl. RIEDEL: Ästhetische Distanz (s. Anm. 6); HORST BREDERKAMP: Bild, Recht, Zeit. Ein Plädoyer für die Neugewinnung von Distanz (Themen 108), München 2021. Vgl. RIEDEL: Ästhetische Distanz (s. Anm. 6), 24f.; Zitat a. a. O., 25. Vgl. a. a. O., 9–18 (im Rekurs auf Schiller).19–26 (im Rekurs auf Warburg). BREDERKAMP: Bild (s. Anm. 34), 54. Vgl. a. a. O., 50f.60f. Brederkamp verweist a. a. O., 54 auf das Sprengen von Relikten der Vergangenheit durch Jihadisten 2012 in Timbuktu und die Zerstörung Palmyras durch den IS 2015. Riedel verdeutlicht dies an der öffentliche Debatte über das Gedicht avenidas Eugen Gomringers, das an der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule für soziale Berufe stand und auf Antrag des AStA und nach der dadurch ausgelösten Debatte in den Jahren 2017/18 schließlich entfernt wurde (vgl. RIEDEL: Ästhetische Distanz [s. Anm. 6], 28–38).
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sener Echokammern von Gleichgesinnten […], die sich vor Fremdmeinungen durch Kommunikationsvermeidung abschotten“41. Unter Rekurs auf W. Riedel schreibt H. Brederkamp am Ende seines Essays im Hinblick auf menschliche Gemeinschaften: „Sie [= menschliche Gemeinschaften, D. H.] werden ihre Innenbindungen verlieren, wenn es nicht gelingt, der Gegenwartsfixierung die Gültigkeit der Dauer entgegenzustellen und gegenüber dem Verlust der Distanzen die Spannung von privat und öffentlich und damit jene ‚ästhetische Distanz‘ zurückzugewinnen, ohne die keine Deutung möglich ist, die über die Stärkung des schon Gegebenen hinausreicht. Es geht darum, der Entgrenzung zu begegnen, nicht um eine Welt der Puppenstuben zu erzeugen, sondern um jene Bindungsräume zu schaffen, in denen belastbare Zonen der Autonomie gehalten werden können.“42
Nun ist für wissenschaftliches Lesen nach der oben bereits angeführten ExegeseAuffassung W. Eggers und P. Wicks gerade die Distanz zum Text ganz wesentlich.43 Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux macht darauf aufmerksam, dass das Lesen generell trennt und verbindet.44 Durch eine grundsätzliche Trennung vom eigenen Ich wird die Leserin mit den Charakteren eines Buches verbunden und schließlich nach der Lektüre wieder sich selbst überlassen, nun aber als eine andere. Die beim Lesen gewonnene Distanz führt dazu, dass man zu sich selbst in Distanz treten kann, indem man auch sich selbst lesen kann. Was Ernaux ausdrückt ist eine für das christliche Identitätsverständnis grundlegende Erfahrung.45 Die Existenz der Glaubenden hat, so Eberhard Jüngel, „eine ausgesprochen ek-zentrische Struktur“46. Er schreibt: „Glauben heißt: sich selbst ganz und gar auf Gott verlassen, und zwar so, dass man aus sich herausgehen und sich selber wirklich verlassen kann. Glaubend findet die
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A. a. O., 43; vgl. dazu a. a. O., 43f. BREDERKAMP: Bild (s. Anm. 34), 62. Ähnlich auch OTTO KAISER: Die alttestamentliche Exegese, in: GOTTFRIED ADAM u. a.: Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 2000, 13–70, 14f. Vgl. dazu und dem Folgenden ANNIE ERNAUX: Trennen, Verbinden. Aus dem Französischen von SONJA FINCK, in: Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von KATHARINA RAABE und FRANK WEGNER (Bibliothek Suhrkamp), Berlin 2020, 79–88, 85f. Vgl. dazu die Belege oben in den Anm. 31 und 33. EBERHARD JÜNGEL: Hoffnung für das Alter, in: FRIEDRICH WILHELM GRAF (Hg.): Über Glück und Unglück des Alters. Ein Projekt der Stiftung Augustinum, der Diakonie Neuendettelsau und der Rummelsberger Dienste für Menschen, München 2010, 111–129, 119. Henning Luther hat unter Bezug auf die Philosophie Emmanuel Levinas’ diese ‚ek-zentrische‘ Glaubensexistenz subjekttheoretisch durchdacht und daraus weitreichende und radikale Forderungen für die (Praktische) Theologie gezogen (vgl. HENNING LUTHER: „Ich ist ein Anderer“. Zur Subjektfrage in der Praktischen Theologie, in: DERS.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 62–87, insbes. 74–87).
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Daniel Hoffmann menschliche Existenz außerhalb ihrer selbst ihren sie begründenden und festmachenden Grund in Gott.“47
Gottes- bzw. Christuserkenntnis anstelle der Icherkenntnis führen dazu, dass die Christin in Distanz zu sich und anderen treten kann. Die Exegese führt eine solche Distanzbewegung für die Kirche durch, indem sie die christliche Kirche immer wieder an die biblischen, kanonischen Schriften als ihr kritisches Gegenüber erinnert, dem sie sich als Kirche letztlich verdankt.48 Die Forderungen nach neuer ‚Gültigkeit der Dauer‘, neuen konkreten, begrenzten Bindungsräumen (H. Brederkamp) und nach einem neuen, wirklich dialogischen Diskurs jenseits der Echokammern (W. Riedel) verleihen dem biblischen Kanon eine ganz neue Aktualität und Dignität. Dem Kanon geht es nach Jürgen Ebach um ‚verbindliche Vielfalt‘49. Was sich aus logischer Perspektive auszuschließen scheint, das gehört in theologischer Perspektive zusammen und prägt den biblischen Kanon: Freiheit und Bindung, Tradition und Erneuerung, Widerspruch und Treue.50 „Eine Exegese, die in ihren Wahrnehmungen und Auslegungen dieser Dialektik von Treue und Widerspruch folgt, vermag gegen fundamentalistische Reduktion mancher Bibellektüren ebenso zu streiten wie gegen die technische Reduktion mancher Exegese.“51
Der Kanon kann eine dialogische, wissenschaftliche Streitkultur allerdings nur dann begründen und wiederbeleben, wenn eingesehen und theologisch ernst genommen wird, dass die christliche Bibel zweigeteilt ist und „ihr erster Teil zuvor und zugleich heilige Schrift der jüdischen Gemeinschaft war und ist – und so selbstverständlich auch heilige Schrift derjenigen, die die im Neuen Testament gesammelten Schriften verfasst haben“52. Das Erste bzw. Alte Testament darf 47
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JÜNGEL: Hoffnung (s. Anm. 46), 119. Ähnlich auch im Ausgang von Paulus und in Abgrenzung zur antiken Philosophie und Lebenskunst CHRISTIAN STRECKER: Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? Gedanken zur frühchristlichen Lebenskunst im Corpus Paulinum, in: ZNT 34 (2014), 2–14, 11. Vgl. ECKART REINMUTH: Sola scriptura. Eine neutestamentliche Anmerkung, in: ZNT 39/40 (2017), 159–172, 160: „Kirche sein bedeutet, sich verbindlich auf die Entscheidung für den Kanon zu beziehen und diese Entscheidung andauernd interpretierend zu vollziehen. […] Kirche sein heißt, sich interpretierend auf den biblischen Kanon zu beziehen. Kirche existiert in diesem ständigen Interpretationsprozess. Er ist ihr Kraftquell. Er ist ihre einzige gesellschaftliche Legitimation.“ Vorausgesetzt ist dabei und den folgenden Überlegungen das oben in Anm. 7 skizzierte Verständnis von Theologie als positiver Wissenschaft. Vgl. JÜRGEN EBACH: Verbindliche Vielfalt. Über die „Schrift“ als Kanon, in: KuI 20 (2005), 109–119. Vgl. a. a. O., 116f.; sowie REINMUTH: Sola scriptura (s. Anm. 48), 160. EBACH: Verbindliche Vielfalt (s. Anm. 49), 119. KLAUS WENGST: Geschichte(n) und Wahrheit. Anmerkungen zum biblischen Wirklichkeitsverständnis, in: EvTh 68 (2008), 178–192, 192. Zum Dialog-Begriff, wie ich ihn verstehe, vgl. EMMANUEL LEVINAS: Dialog, in: CGG 1 (1981), 61–85. „Der Dialog ist die Nicht-Gleichgültigkeit
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also nicht nostrifiziert werden, sondern muss als Heilige Schrift einer anderen als der eigenen Religion anerkannt und die permanent von ihm ausgehende Infragestellung ausgehalten werden.53 Exegese als historisch-kritische Bibelauslegung54 trägt dem Rechnung, ermöglicht mit dem distanzierten Blick in die Vergangenheit immer wieder neu Distanz zur Gegenwart und hält so die christliche Identität in ihrer liminalen Existenz wach.
3.
Ambiguitäten und Nichtverstehen aushalten
Die Philosophin Rebekka Reinhard diagnostiziert in unserer digitalen Gesellschaft eine „Verblödung der Vernunft“55. „Die Vernunft verblödet, wenn sie genau so operiert wie das Smartphone ihres Trägers: schnell, neu, lösungsorientiert, zweifelsfrei. Im Unterschied zur reinen Dummheit schließt verblödete Vernunft Rationalität nicht aus. Sie enthält allerdings nur noch deren Basismodule. Der eigentlich interessante Rest – Selbstreflexion, kritisches Hinterfragen, relevante Zweifel, begründete Einsprüche, experimentelles Überprüfen von Hypothesen – landet auf dem Wertstoffhof. Innehalten? Geht gar nicht. Effizienz über alles!“56
Zentral für diese verblödete Vernunft ist ein rein binäres Denken, für das es nur ein Entweder – Oder gibt, das Reinhard ‚Computer-Logik‘ nennt.57 Dieses auf permanente Eindeutigkeit ausgerichtete Denken führt dazu, dass als wahr nur noch das anerkannt wird, was gegenwärtig subjektiv innerhalb des Rudels, der eigenen Echokammer erlebt wird.58 Mit der Computer-Logik einher geht ein ‚Erfolgsheroismus‘, der nur eine ‚Ideologie der Zahlen‘ gelten und über Erfolg und Miss-
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des Du für das Ich, ein unselbstsüchtiges Gefühl“ (a. a. O., 78). Es geht um die „Tatsache, daß in der Begegnung der andere zählt“ (ebd.), um „ein Denken des Ungleichen […], das über das Gegebene hinausdenkt“ (a. a. O., 83). Vgl. dazu KLAUS WENGST: „Ehrfurcht vor dem Wort“, das nicht Besitz wird. Warum „die Schrift“ anders gelesen werden sollte, als Luther sie gelesen hat, in: MICHA BRUMLIK (Hg.): Luther, Rosenzweig und die Schrift. Ein deutsch-jüdischer Dialog. Essays. Mit einem Geleitwort von MARGOT KÄßMANN, Hamburg 2017, 103–125, insbes. 118–121; sowie unten Abschn. 5. Vgl. KAISER: Exegese (s. Anm. 43), 13–15; sowie die Verweise unten in Anm. 78–80 und 112. R. REINHARD: Wach denken (s. Anm. 4), 10. A. a. O., 10f. Vgl. a. a. O., 11f.25–28.36. Als Fundamente der Computer-Logik macht sie aus: „1. das Prinzip der Zweiwertigkeit (‚entweder wahr oder falsch‘), 2. den Satz vom Widerspruch (‚Es ist unmöglich, dass etwas der Fall ist und zugleich nicht der Fall ist‘), 3. den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur)“ (a. a. O., 93). Sie gesteht allerdings ein, dass wir ohne Abstrahierungen und Vereindeutigen nicht leben könnten, mahnt jedoch an, dass eine Übervereindeutigung uns letztlich unserer Menschlichkeit beraubt (vgl. a. a. O., 14f.). Ähnlich auch Riedel, vgl. dazu oben das Zitat bei und den Verweis in Anm. 41. Vgl. REINHARD: Wach denken (s. Anm. 4), 36f.; zu Rudel und Echokammer oben Anm. 41.
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erfolg bestimmen lässt,59 und der männlich geprägt ist.60 Der binären, dumpfen Computer-Logik stellt sie eine pragmatische, wache Haltung entgegen, die spielerisch, fantasievoll und künstlerisch „die Lust am Leben wachhält“61. Für sie ist die „Fragestellkompetenz […] die wichtigste Fähigkeit des 21. Jahrhunderts“62. Dem Fragen tritt der Zweifel an die Seite und die Fähigkeit, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten auszuhalten und ihr kreatives Potenzial zu entdecken.63 Reinhards Beobachtungen schließen gut an die „Vereindeutigung der Welt“ und dem mit ihr einhergehenden „Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ an, die der Islamwissenschaftler Thomas Bauer bereits zwei Jahre zuvor ausgemacht hatte.64 Bauer hebt die Ambiguität (verstanden als „Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden“65) als unvermeidbares Wesensmerkmal unserer Welt hervor und sieht sie insbesondere in der (religiösen) Literatur bewusst eingesetzt.66 Da Menschen aber „nur beschränkt ambiguitätstolerant sind“67, geht es stets darum, die Ambiguität auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.68 „In unserer heutigen Welt scheint mir vor allem eine zu geringe Ambiguitätstoleranz das Problem zu sein.“69 Damit einhergeht, dass einerseits traditionelle Religiosität abnimmt, während gleichzeitig fundamentalistische und politisierte Formen von Religion zunehmen.70 Bauer hebt am Beispiel der Gegenwartskunst hervor, dass Ambiguität „ein graduelles Phänomen“ ist und, sofern 59
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Vgl. REINHARD: Wach denken (s. Anm. 4), 42–46. Auch kirchlich ist diese Zahlen-Logik längst zur alles dominierenden Logik geworden: Man denke nur an die Mitgliederstatistik, die intern wie extern seit Jahren stets nach dem Muster Mitgliederschwund = Scheitern bzw. Misserfolg gelesen wird. Vgl. a. a. O., 72–86. Damit verfestigt er die alte starre Geschlechterordnung. A. a. O., 17. Vgl. a. a. O., 16f. A. a. O., 17. Reinhard führt das auf vielerlei Weisen aus, u. a. anhand der Angstlust als ambivalenter Emotion (vgl. a. a. O., 94–98), dem von asiatischer Philosophie inspirierten ‚weichen‘ Heldentum (vgl. a. a. O., 110–113), dem Zweifel (vgl. a. a. O., 118–120) oder dem Absurden (vgl. a. a. O., 120–126). Vgl. THOMAS BAUER: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (Was bedeutet das alles? / Reclams Universal-Bibliothek 19492), Ditzingen 6 2018. Zitate aus (Unter-)Titel. A. a. O., 13. Vgl. a. a. O., 12–16.35. A. a. O., 16. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. auch a. a. O., 30. Vgl. a. a. O., 33. „Wenn Ambiguitätstoleranz schwindet, dann verliert die Religion ihre Mitte, also den durch Zweifel domestizierten Glauben an etwas Transzendentes im Bewusstsein, dass Glauben kein sicheres Wissen vermittelt. Und dann verliert Religion auch die Gewissheit, dass religiöse Texte interpretiert werden müssen, um Antworten zu finden, die aber immer nur Wahrscheinlichkeit und vorübergehende Gültigkeit für sich beanspruchen können, nie jedoch absolute Wahrheit“ (a. a. O., 37f.).
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sie bereichern soll, „nur zwischen den Polen Eindeutigkeit und unendliche vielen Bedeutungen statt[findet]“71. Die wachsende Tendenz der Vereindeutigung zeigt sich u. a. im Authentizitäts- und Identitätswahn sowie in einem Erklärungsund Verstehenswahn, in dem die gesamte Wirklichkeit eindeutig erschlossen wird und der Vielfalt letztlich der Garaus gemacht wird.72 Am Ende seiner Wahrnehmungen empfiehlt Bauer, dass sich Kunst, Religion, Wissenschaft, Politik und Natur wieder auf ihren Eigenwert besinnen müssten, „anstatt auf die verführerische Eindeutigkeit ihres Marktwertes reduziert zu werden, die sie letztlich zu völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt“73. Neutestamentliche Exegese ist ein äußerst ambiges Geschäft und hilft, der Computer-Logik zu widerstehen. Eckart Reinmuth meint: „Die Vielstimmigkeit des Neuen Testaments, […] die Konfliktivität seiner Schriften und Texte, gehört zu den unhintergehbaren Voraussetzungen seiner Interpretation.“74 Die Exegese kann diese Widersprüche nicht einebnen, „nein, es geht vielmehr darum, diese Vielstimmigkeit auch in ihrer Widersprüchlichkeit, als Spannungsreichtum, zu verstehen und diese Konfliktivität als integrierendes Element des sola scriptura zu würdigen“75 . Dazu gehört es, in aller Bescheidenheit auch das Nichtverstehen anzunehmen und es nicht immer vorschnell in neues Verstehen überführen zu wollen.76 Der kanonische Schriftenkorpus, dem die Exegese sich widmet, bezeugt somit eine (durch den Raum des Kanons begrenzte) Ambiguität, auf die Exegese wieder und wieder verwiesen ist und die sie als kritisches Potenzial immer wieder gegenüber Kirche und Gesellschaft in Erinnerung zu rufen hat.77 Andererseits ist diese vom Kanon ausgehende Spannung auch der wissenschaftlichen Methodik eingezeichnet, die sowohl streng historisch als auch theologisch orientiert ist.78 71 72
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Beide Zitate a. a. O., 50. Vgl. auch a. a. O., 61. Vgl. a. a. O., 62–71.87f. Eine Folge des Erklärungs- und Verstehenswahns ist, dass vorausgesetzt wird, immer und zu allem eine Meinung zu haben. Bauer merkt kritisch an, wie das möglich sein soll und wieso, gesetzt den Fall, man könnte zu allem eine Meinung haben, es überhaupt noch Wissenschaft braucht (vgl. a. a. O., 89). A. a. O., 95. REINMUTH: Sola scriptura (s. Anm. 48), 168. Ebd. Vgl. a. a. O., 171f. Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Kanon oben in Abschn. 2. Vgl. zu dieser Aufgabe a. a. O., 160f. und das Zitat oben in Anm. 48. Vgl. dazu WERNER GEORG KÜMMEL: Die neutestamentliche Exegese. Durchgesehen und ergänzt von OTTO MERK, in: GOTTFRIED ADAM u. a.: Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 2000, 73–111, 73f.; PAUL-GERHARD KLUMBIES: Exegese in theologischer Perspektive, in: MARKUS WRIEDT / RAPHAEL ZAGER (Hg.): Notwendiges Umdenken. Festschrift für Werner Zager zum 60. Geburtstag, Leipzig 2019, 13–24, 22, der im Rekurs auf den Glauben von einer theologisch bewussten Exegese fordert, „das ihrem Gegenstand inhärente Spannungsverhältnis zu wahren“ (ebd.). Außerdem fordert er: „Anstelle der einseitigen Ausrichtung an historischen, philologischen, narratologischen, psychologischen und soziologischen Ansprüchen und der Konzentration auf die Außenseite der Theologie ist die Bemühung um den Gottesbezug als der Innenseite theologischer Arbeit zu intensivieren“
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Was einander auf den ersten Blick auszuschließen scheint und unter der gegenwärtig starken Tendenz der Vereindeutigung vielleicht nur zu gern eindeutig gemacht werden würde, gehört untrennbar zusammen. Neutestamentliche Wissenschaft, so Cilliers Breytenbach, ist deshalb eine hybride Disziplin.79 Sie kommt nicht umhin, den Kanon als heteronome Größe vorauszusetzen und gleichzeitig streng historisch zu arbeiten unter Absehung vom Kanonisierungsvorgang (‚Dekanonisierung‘).80 In dieser exegetischen Grundspannung realisiert sich eine – in der Vergangenheit u. a. im Ausgang der Kulturanthropologie geforderte – Offenheit „für das Andere, das noch nicht Bekannte und Gewusste“81, die für Kirche und Theologie in einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft zur entscheidenden Grundhaltung werden dürfte. Exegese kultiviert in ihrem praktischen Vollzug der Textinterpretation diese Haltung und übt sie ein.
4.
Gebildete Aufmerksamkeit für den Präsenzraum Gottes
Die einstige Allmacht der Kirche ist heute längst von der Allmacht der großen IT-Konzerne Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft abgelöst worden. Vom Silicon Valley aus, so der Journalist und Philosoph Joachim Köhler, stellen „sie die größtmögliche Öffentlichkeit für alle her und kontrollieren sie zugleich. Doch sie selbst halten sich bedeckt“82. Ihr großes Projekt sieht Köhler in der „Verfügbarmachung der Welt“83. Sie treten stets mit einem Weltverbesserungsoptimismus auf.84 „Ständig wird betont, wie sehr für sie [= die IT-Konzerne; D. H.] der Mensch im Mittelpunkt stehe. Das höchste Ziel sei es, immer mehr Menschen die Freiheit zu schen-
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(a. a. O., 24). Ausführlich entfaltet, sowie instruktiv historisch und systematisch begründet, wird seine Forderung in PAUL-GERHARD KLUMBIES: Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015. Vgl. CILLIERS BREYTENBACH: Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament? Randbemerkungen zu einer hybriden Disziplin, in: MICHAEL LABAHN (Hg.): Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament. Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle (FRLANT 271), Göttingen 2017, 17–29, 26–29. Vgl. a. a. O., 29; zur Dekanonisierung ODA WISCHMEYER: Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen/Basel 2004, 75–80.204f. WOLFGANG STEGEMANN: „Was wird aus der ‚wirklichen‘ Geschichte?“, in: EVE-MARIE BECKER (Hg.): Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie (UTB 2475), Tübingen/Basel 2003, 255–268, 268. Vgl. dazu auch a. a. O., 261f. JOACHIM KÖHLER: Verloren im Cyberspace. Auf dem Weg zur posthumanen Gesellschaft, Leipzig 2021, 35. Vgl. zum im vorherigen Satz Gesagten ebd.; zum Ganzen a. a. O., 35–41. A. a. O., 32. Vgl. a. a. O., 39.
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ken, sich in freundschaftlichen Austausch miteinander zu bringen. Für Mark Zuckerberg verdient sein Unternehmen Facebook wegen dieses hehren Ziels geradezu den Ehrentitel einer ‚Kirche‘: Kirche der Freiheit, des Humanismus, der Völkerfreundschaft, der Weltenharmonie.“85
Eigentlich, so Köhler im Anschluss an den Journalisten Jan Heidtmann, wäre es längst an der Zeit, das Internet abzuschalten, weil mittlerweile einfach alles an und in ihm hängt.86 Das Internet frisst uns auf und am Ende bleibt nichts Eigenes mehr von uns übrig. S. Michel weist im Zusammenhang des Lesens von physischen Büchern im Vergleich zu digitaler Literatur auf einen ganz ähnlichen Sachverhalt hin. Er schreibt: „Ich werde beim Lesen gedruckter Bücher nicht zeitgleich selbst gelesen, und ich werde nicht durch irgendwelche Algorithmen im Hintergrund zu weiteren Aktionen animiert, durch die ich die Relevanz der Plattformen kostenlos zu optimieren helfe. Ich selbst darf dann ausnahmsweise einfach nur Leser und Empfänger sein und muss endlich mal – entgegen der emanzipatorisch gedachten Radio-Theorie von Bertold Brecht – nichts senden. Dennoch bleibt man auch beim gedruckten Buch verbunden mit der Unruhe der Welt.“87
Lesen als „die freiste kulturelle Tätigkeit, die es gibt“88, wird im digitalen Netz Teil der Unfreiheit, in die wir uns selbst begeben.89 Es trägt in seiner digitalen, entmaterialisierten Form dazu bei, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr posthumane Züge annimmt.90 Es wird seiner Dauer beraubt, wenn der E-BookReader mir genau sagt, wie lang ich dieses Buch bereits gelesen habe und wie viel restliche Zeit noch verbleibt oder wenn im Internet permanent neue Meldungen erscheinen, Links zu anderen Seiten führen oder blinkende Werbebanner meine Augen beanspruchen.91 Der Mensch verliert damit die Fähigkeit der Fokussierung und der Aufmerksamkeit, „weil er ständig abgelenkt wird. Das Internet entkonzentriert das Bewusstsein.“92 Das „Smartphone fordert vom Nutzer […] eine ständige Aufmerksamkeitsspannung, weil jederzeit das Unverhoffte ge-
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Ebd. Vielfältige religiöse Ansprüche in der totalitären Infokratie identifiziert auch BYUNGCHUL HAN: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie (Fröhliche Wissenschaft 184), Berlin 2021, 16.45.48–50.54.75. Vgl. KÖHLER: Cyberspace (s. Anm. 82), 47f. MICHEL: Unruhe (s. Anm. 14), 29. Ähnlich auch ERNAUX: Trennen, Verbinden (s. Anm. 44), 86f.; sowie KÖHLER: Cyberspace (s. Anm. 82), 52f.58f.95f. ERNAUX: Trennen, Verbinden (s. Anm. 44), 87. KÖHLER: Cyberspace (s. Anm. 82), 104 konstatiert, dass die Cyberwelt den Menschen zum User degradiert. Vgl. a. a. O., 104–107. Vgl. a. a. O., 118f.; sowie die oben in Anm. 10 zitierte Literatur. KÖHLER: Cyberspace (s. Anm. 82), 115. Vgl. a. a. O., 115f.181f.211.
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schehen kann“93. Das hat gravierende Folgen für die Bildung des Menschen94 sowie die soziale Interaktion.95 Der Philosoph Byung-Chul Han diagnostiziert zum Beispiel, dass heute mehr und mehr die Fähigkeit des Zuhörens verlernt wird – trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass wir uns zu Tode kommunizieren.96 Exegese widmet sich dem intensiven und genauen Zuhören gegenüber den stummen biblischen Texten.97 Charakteristisch für das exegetische Zuhören ist eine geformte und gebildete Aufmerksamkeit, die nach Fulbert Steffensky das Wesensmerkmal von Spiritualität ist:98 „Spiritualität ist eine Lesekunst. Es ist die Fähigkeit, das zweite Gesicht der Dinge wahrzunehmen: die Augen Christi in den Augen des Kindes; das Augenzwinkern Gottes im Glanz der Dinge.“99 Steffensky führt dann weiter aus, dass Spiritualität ein Handwerk ist, das mit Hilfe von Regeln und Methoden gelernt werden kann und wie alle Bildungsvorgänge als langfristiges Unternehmen aufgefasst werden muss.100 Johannes Fischer hat in seiner Konzeption einer evangelischen Ethik an dieses Spiritualitätskonzept angeknüpft101 und ihren Gegenstand in der Wahrnehmung bzw. Einstellung auf unsere Lebenswirklichkeit gesehen, die im Kontext einer Praxis entsteht.102 Die Bedeutung der Bibel liegt für Fischer darin, dass sich in ihren Texten, insbesondere den Erzählungen, „die Eigenart des Glaubens als eine bestimmte Weise der Wahrnehmung von Lebenswirklichkeit“103 manifestiere. Fischer verweist dann auf das protestantische Schriftprinzip, das er bestimmt als „ein bestimmtes Schriftverständnis, wonach die Wirklichkeit sub specie Dei, d. h. wie sie von Gott intendiert und gemeint ist, nirgends anders als in der Heiligen Schrift zu finden ist, was bedeutet, dass der Mensch seinen Blick auf die Lebensphänomene von dorther einstellen lassen muss.“104
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A. a. O., 135. Vgl. a. a. O., 117f.300–302. Köhler verweist a. a. O., 138 auf Brain Drain (Gehirnauslaugung) als Folge der permanenten Fixiertheit auf das Smartphone. Vgl. BYUNG-CHUL HAN: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, Frankfurt a. M. 22016, 93–102; DERS.: Infokratie (s. Anm. 85), 28f.; ferner KÖHLER: Cyberspace (s. Anm. 82), 144.155f. Vgl. KÜMMEL: Exegese (s. Anm. 78), 74: „Denn der antike Text ist an sich stumm“. Vgl. FULBERT STEFFENSKY: Die große Sehnsucht. Suche nach spiritueller Erfahrung, in: DERS.: Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2010, 9–23, 17. A. a. O., 19. Vgl. a. a. O., 20f. Vgl. JOHANNES FISCHER u. a.: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 22008, 363–365. Vgl. a. a. O., 366f. A. a. O., 346. Vgl. dazu ebd.: „So begriffen liegt die Bedeutung der Bibel für die evangelischtheologische Ethik darin, dass sie die Quelle dieser Wahrnehmung ist, aus der das christliche Ethos resultiert.“ A. a. O., 348.
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Diese soteriologische Wirklichkeit Gottes, die in den biblischen Schriften bezeugt wird,105 stellt eine Gegenperspektive zu den religiösen Allmachtsfantasien der Cyberwelt und IT-Konzerne dar. Die zweigeteilte Schrift Alten und Neuen Testaments gibt Zeugnis von der Gottes-Geschichte, einmal in der Perspektive seines auserwählten Volkes Israel (AT) und dann in der Perspektive der JesusChristus-Geschichte (NT).106 In menschlichen Worten, in aller Partikularität bezeugen die biblischen Texte die „Präsenz des Ewigen im Zeitlichen“107. Mit ihren vielfältigen Methodenschritten bemüht sich die Exegese darum, den im jeweiligen Bibeltext zum Ausdruck kommenden Präsenzraum Gottes bzw. die Perspektive seiner heilvollen Wirklichkeit in ihrer vergangenen wie gegenwärtigen Dimension zu verstehen und für heutiges Sprechen von Gottes Gegenwart fruchtbar zu machen.108 Angesichts der gegenwärtigen und sich in der Zukunft wohl noch verschärfenden Aufmerksamkeitsknappheit und Entkonzentration stellt die Exegese eine gegenkulturelle Praxis dar, für die im Unterschied zur Gegenwartskultur das aktive Zuhören und die geformte Aufmerksamkeit elementar sind.109 Dabei ist zu beachten, dass Exegese als Praxis analog zur Spiritualität der wiederholten, rhythmisierten und letztlich ritualisierten Einübung bedarf.110 Das ist einzig und allein in Form einer festen Reihenfolge von Methodenschritten vorstellbar, die
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Vgl. PAUL-GERHARD KLUMBIES: Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, in: ThLZ 143 (2018), 859–872, insbes. 859f. Vgl. ECKART REINMUTH: Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002, 11–16; KAISER: Exegese (s. Anm. 43), 13; WENGST: Geschichte(n) (s. Anm. 52). Vgl. JOHANNES FISCHER: Was ist Religion? Über die Präsenz des Ewigen im Zeitlichen und das Verhältnis von religiöser und säkularer Wirklichkeitsauffassung, in: DERS.: Präsenz und Faktizität. Über Moral und Religion, Tübingen 2019, 181–239, 198–219 („Religion und Lebenswirklichkeit: Die Präsenz des Ewigen im Zeitlichen“); daneben zur Partikularität auch WENGST: Geschichte(n) (s. Anm. 52). Den gegenwärtigen Aspekt hebt angesichts des bislang dominierenden historischen Paradigmas KLUMBIES: Herkunft (s. Anm. 78), 148–155 hervor. Eingebettet ist ein solches Exegeseverständnis in ein hermeneutisches Theologieverständnis (vgl. FISCHER u. a.: Ethik [s. Anm. 101], 287–291; ferner JEAN-MARC TÉTAZ / MARTIN LEINER: Für eine neue hermeneutische Theologie, in: EvTh 81 [2021], 166–187) sowie ein Verständnis von Theologie als Prinzipienwissenschaft (vgl. KLUMBIES: Herkunft [s. Anm. 78], 160–164). Vgl. dazu das Zitat von A. Reckwitz oben bei Anm. 22. Exegese hat damit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Ausbildung von spiritueller und poimenischer Kompetenz (‚aktives Zuhören‘). Vgl. zur Bedeutung der Rituale für eine vertiefte Aufmerksamkeit auch BYUNG-CHUL HAN: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 2019, 15–18. Für die Durchführung der Schritte in einer festen Reihenfolge votieren auch EGGER / WICK: Methodenlehre (s. Anm. 24), 33.
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dann nach eingehender Verinnerlichung freilich variiert, gekürzt, erweitert und mit eigenen Schwerpunkten versehen werden können.111 All das scheint mir der bis hierher von mir selbstverständlich gebrauchte Terminus ‚Exegese‘ (verstanden als historisch-kritisch- und theologisch-ausgerichtete, hybride Bibeltextauslegung) besser mit einzuschließen als der stattdessen verschiedentlich geforderte und eingeführte Begriff ‚Interpretation‘.112
5.
Falschen Sicherheiten widerstehen
Der Philosoph und Jurist Michel Friedmann und der Soziologe Harald Welzer machen eine Zeitenwende in unserer (deutschen) Gesellschaft aus.113 M. Friedmann meint: 111
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Eine solche feste ritualisierte Abfolge bieten neben EGGER / WICK: Methodenlehre (s. Anm. 24) z. B. MARTIN EBNER / BERNHARD HEININGER: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn u. a. 42018; UDO SCHNELLE: Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB), Göttingen/Bristol (CT) 82014. SÖNKE FINNERN / JAN RÜGGEMEIER: Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 4212), Tübingen 2016 suggerieren mittels ihres Merkwortes B-E-S-E-N („Text-Bestimmung, Text-Entstehung, Text-Struktur, Text-Erklärung und Text-Nachwirkung“ [a. a. O., 7; kursiv Gesetztes im Original fett gedruckt]) und der Kapitelzählung zwar eine solche feste Reihenfolge, verstehen ihr Methodenbuch und die konkreten Schritte jedoch dezidiert als ‚Werkzeugkasten‘ (vgl. a. a. O., 5f. sowie die Übersicht, die keine feste Reihenfolge vorgibt, a. a. O., 9.), so dass „kein starres Schema, sondern ein breites, sortiertes Angebot“ (a. a. O., 6) geboten wird. Nicht bestritten werden sollen mit meiner Kritik die Innovativität und Angemessenheit der gebotenen Methoden (insbes. die Analyse von Erzähltexten in Kapitel 11 [a. a. O., 173–235] und die Analyse der Textnachwirkung in Kapitel 12 [a. a. O., 236–258] sind exzellent!) sowie eine grundsätzliche methodische Vielfalt für eine zeitgemäße neutestamentliche Exegese. Für den Gebrauch von ‚Interpretation‘ votieren KLUMBIES: Herkunft (s. Anm. 78), 69f.; WISCHMERYER: Hermeneutik (s. Anm. 80), 117–125; ECKART REINMUTH: In der Vielfalt der Bedeutungen. Notizen zur Interpretationsaufgabe neutestamentlicher Wissenschaft, in: DERS.: Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 13–27, 13.17f. Für die Beibehaltung des Terminus ‚Exegese‘ votieren MELANIE KÖHLMOOS: Altes Testament (UTB 3460 / UTB Basics), Tübingen/ Basel 2011, 26f.; EVE-MARIE BECKER: Art. Exegese II. Neutestamentlich, in: LBH (2009), 169f.; KARLA POLLMANN: Art. Exegese. Einführung, in: LBH (2009), 166f., 167. Selbstverständlich verwendet aber nicht näher definiert oder problematisiert wird ‚Exegese‘ von KAISER: Exegese (s. Anm. 43), insbes. 13–26; KÜMMEL: Exegese (s. Anm. 78), insbes. 73f.; SCHNELLE: Einführung (s. Anm. 111), insbes. 11–15; EBNER / HEININGER: Exegese (s. Anm. 111), insbes. 19–21; FINNERN / RÜGGEMEIER: Methoden (s. Anm. 111), insbes. 4–6 und interessanterweise auch von KLUMBIES: Exegese (s. Anm. 78); vgl. allein den Titel sowie insbes. a. a. O., 24. Eher gemieden wird der Terminus von EGGER / WICK: Methodenlehre (s. Anm. 24), 13–42. Vgl. MICHEL FRIEDMANN / HARALD WELZER: Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde, Köln 2020. Es handelt sich dabei um ein Gespräch, in dem jeweils gekennzeichnet ist, vom wem welcher Beitrag stammt. Im Folgenden gebe ich dies am Ende des Verweises in Klammern an.
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„Das alltägliche Erleben von geistiger, verbaler wie tatsächlicher Brandstiftung hat sich, weil die realen Situationen deutlich andere sind, brutal gesteigert. Diese Entwicklung zeigt eine desaströse Konstanz. Der Hass ist noch alltäglicher, noch salonfähiger geworden.“114
Damit einher geht ein wachsender Rassismus und Antisemitismus, den Friedmann als strukturell und systemisch in Deutschland verankert sieht.115 Die Grundlage des Hasses in den Hassenden macht er im Anschluss an Carolin Encke in einer großen Sicherheit, ja in einer absoluten Gewissheit aus.116 Natürlich geht er dabei darauf ein, dass das Christentum in der Vergangenheit Brutstätte und Kultivierungsort des Judenhasses war und der Hass von dort aus „in das kulturelle Gedächtnis der europäischen Kultur und Identität übergegangen [ist]“117. H. Welzer kritisiert später einen „protestantischen Moralismus […], bei dem in jeder Silbe die zweifellose Gewissheit mitschwingt: Ich habe ja so recht!“118 Welzer und Friedmann weisen dabei immer wieder auf die Macht, aber auch das Gift hin, das in Worten und Erzählungen steckt.119 Stefan Alkier hat darauf hingewiesen, dass ein in der Nachfolge von Schleiermachers Enzyklopädie stehendes Verständnis neutestamentlicher Wissenschaft als historischer Disziplin, der es um Kenntnis des Urchristentums geht, „unauflösbar verbunden [ist] mit der Diffamierung des Fremden als Störung des Eigenen, wie sie sich skandalös in der Abwertung des Alten Testaments unverblümten Ausdruck verleiht“120. Stattdessen sollte es seiner Meinung nach um die Förderung einer Pluralität der Lesarten im Rahmen des Möglichen gehen.121 Entsprechend bestimmt er die Aufgabe der Exegese: 114 115 116 117 118
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A. a. O., 236 (FRIEDMANN). Vgl. a. a. O., 110; zum Themenbereich Antisemitismus/Rassismus a. a. O., 79–113. Vgl. a. a. O., 86 (FRIEDMANN); sowie zu protestantischen Belegen dafür unten Anm. 118. A. a. O., 88 (FRIEDMANN); vgl. daneben a. a. O., 104f. A. a. O., 253 (WELZER). Die Aussage erfolgt im Zusammenhang einer Kritik am Buch über Toleranz von Joachim Gauck (vgl. a. a. O., 252f.). Wengst zeigt, wie diese protestantische Haltung Martin Luthers Blick auf das Alte Testament, die Bibel insgesamt und das Judentum bestimmt (vgl. WENGST: „Ehrfurcht vor dem Wort“ [s. Anm. 53], 104f.108f.115). Die zwar erst beim späten Luther offen zu Tage tretende Judenfeindschaft ist bereits in der Exklusivität des Heils durch Christus bzw. der Rechtfertigungslehre grundgelegt und lässt sich davon nicht trennen (vgl. a. a. O., 105–118). Alkier bemerkt, dass sich diese Haltung in veränderter Gestalt ebenso bei F.D.E. Schleiermacher findet und auch bei ihm die Abwertung des AT kein Adiaphoron ist, sondern sich aus seinem identitätsontologischen Ursprungskonzept ergibt (vgl. ALKIER: Neutestamentliche Wissenschaft [s. Anm. 5], 45.49– 57). Vgl. FRIEDMANN / WELZER: Zeitenwende (s. Anm. 113), 37.42.91.108.137.144.243. ALKIER: Neutestamentliche Wissenschaft (s. Anm. 5), 57. Vgl. dazu a. a. O., 49–57. Noch heute kann, wer danach sucht, die Folgen dessen in nicht wenigen Veröffentlichungen, Bibelauslegungen oder Predigten lesen bzw. hören. Vgl. a. a. O., 57: Es geht darum, „einen qualitativen, also kritischen Pluralismus zu befördern. Schleiermachers dem organologischen Ursprungsdenken verpflichteter enzyklopädischer Ansatz ist mit dieser Aufgabe überfordert.“
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Daniel Hoffmann „Die Aufgabe wissenschaftlicher Exegese, die sich am Leitfaden von sola scriptura orientiert, heißt Ermutigung zur Wahrheit suchenden, kritischen Schriftauslegung jedes Einzelnen innerhalb und außerhalb der Universität in Kirche, Schule und Gesellschaft. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, sachlich zu informieren und hermeneutisch wie theologisch über die Unhintergehbarkeit der Interpretation aufzuklären.“122
Dabei weiß die Exegese um die Wirkung und die Macht der Worte, da sie sich ihnen in ihrer Untersuchung widmet. Klaus Wengst sagt dazu: „Wir haben nichts als Worte. Aber was für Worte! Worte dessen – wie es in der rabbinischen Tradition außerordentlich häufig heißt –, ‚der sprach, und es ward die Welt‘. ‚Am Anfang war das Wort‘ (Joh 1,1). […] Mit dem biblischen Kanon sind mir Texte als heilige Schriften vorgegeben, die beanspruchen, dass in ihren Worten Gott zu Wort kommt. Er kommt zu Wort und damit zur Wirkung, indem diese Texte gehört und ausgelegt und befolgt werden.“123
Die Exegetin weiß um die Macht der Worte. Sie erfährt in ihrer exegetischen Praxis stets aufs Neue, dass „das Wort Gottes nicht anders als in den Wörtern zu haben ist und dem Wort Gottes nur auf die Spur zu kommen ist, wenn man die Wörter studiert!“124 Erfahren wird das freilich nur dann, wenn die Exegetin genau lesen und in Distanz zu ihren eigenen Einstellungen und Vorstellungen treten kann, wenn sie die Ambivalenz des Kanons auszuhalten und eine durch Methodenschritte geformte Aufmerksamkeit herzustellen vermag. Mit ihrer Sensibilität für die Worte kann sie Gegenworte finden in einer Kultur, in der spätestens seit Twitter ‚Hyperkommunikation‘ und ‚Kommunikationslärm‘125 den Alltag bestimmen. Vor Hass und falschen Gewissheiten bleibt die Exegetin dabei durch die partikulare Vielfalt der Schriften des Kanons bewahrt. Die theologische Bedeutung des Kanons liegt genau darin: Stetig erinnert er die Exegesierenden daran, dass die Ewige nicht anders als im Zeitlich-Partikularen erfahren werden kann. Das intensive Lesen der Schrift(en) kann dann dazu führen, Gott auch in anderen Partikularitäten des Lebens zu entdecken. Am Anfang hatte das Christentum einen Nutzen. Er bestand nach M. Ebner darin, dass es eine mit dem Christusglauben einhergehende Praxis schuf, mit der eine „subversive Veränderung der Gesellschaft angestoßen [wurde]“126. Die heutige exegetische Praxis kann diesen frühchristlichen Grundzug aufnehmen, indem sie in der digitalen Welt Alternativen und Gegenpraktiken kultiviert und zur 122
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STEFAN ALKIER: Die Zumutung der Schriftauslegung. Sola scriptura als ihr Grund legendes hermeneutisches und methodisches Prinzip, in: ZNT 39/40 (2017), 7–24, 17. WENGST: Geschichte(n) (s. Anm. 52), 190. Überschrieben ist der Abschnitt mit dem Lutherwort: „Gott wirkt durchs Wort oder überhaupt nicht“ (vgl. ebd.). EBNER / HEININGER: Exegese (s. Anm. 111), 127. Vgl. zu beiden Begriffen HAN: Austreibung (s. Anm. 96), 82f. EBNER: Philemon (s. Anm. 1), 145; vgl. ferner auch SCHLIESSER: Jordan (s. Anm. 1), 36–42.
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Verfügung stellt. Sie stellt damit der immer totaler werdenden Cyberwelt eine Gegenpräsenz entgegen, die in den biblischen Texten bezeugt wird – nicht nur als eine vergangene Wirklichkeit, sondern als eine auch gegenwärtig wirkende. Sofern es der Kirche mit ihrer ‚Kommunikation des Evangeliums‘ auch in Zukunft um diese biblisch bezeugte Wirklichkeit Gottes geht, ist sie gut beraten, die Praxis der Exegese in der universitären theologischen Ausbildung wie im pfarramtlichen Dienst zu hegen und zu pflegen.127
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INGOLF U. DALFERTH: Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, hat eine Reform des Theologiestudiums, ausgehend vom Programmbegriff Ernst Langes, gefordert (a. a. O., 443–446; vgl. zu Lange, den Dalferth merkwürdigerweise nicht erwähnt, CHRISTIAN GRETHLEIN: Praktische Theologie, Berlin/Boston 2012, 139f.). Im Reformvorschlag spielen die exegetischen Disziplinen – zusammengezogen zu einer biblischen Disziplin – keine zentrale Rolle mehr (die Exegese in theologischer Absicht bestimmt das 2. Studienjahr gemeinsam mit Dogmatik, Ethik & Kirchenkunde; vgl. a. a. O., 445). Ohne Dalferths eindrücklichen Entwurf genauer diskutieren zu können, seien nur zwei kurze Anmerkungen gemacht: 1. Was wird eigentlich kommuniziert, wenn man das Evangelium kommuniziert? Vgl. dazu die kritischen Wahrnehmungen zur ‚Hyperkommunikation‘ und zum ‚Kommunikationslärm‘ B.-C. Hans (s. o. Anm. 125). 2. Dass Dalferth die zweigeteilte jüdisch-christliche Bibel, der die zweigeteilte Bibelwissenschaft entspricht, zu einem Wahrheitsraum zusammenfügen will (vgl. DALFERTH: Wort [s. o. in dieser Anm.], 440f.), führt wieder einmal zur Nostrifizierung des AT und damit in der Folge Luthers und Schleiermachers zur Diffamierung und Ablehnung des Fremden (s. o.). Der Verdacht liegt nahe, dass hier wie schon öfters in der Geschichte des Christentums das kritische Potenzial der Bibel (insbesondere des AT) eliminiert werden soll (vgl. dazu FRANK CRÜSEMANN: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, 31–90 [insbes. 69–78]; sowie DALFERTH: Wort [s. o. in dieser Anm.], 442f., wo er den biblischen Texten zwar ein kritisches Potenzial zugesteht, es jedoch zweifelhaft bleibt, inwiefern diese kritische Funktion tatsächlich fundamental und prinzipiell gedacht ist).
Sprachwelten als Denkwelten
Sprachwelten als Denkwelten
Zur Rolle der hebräischen Sprache im Kontext des Theologiestudiums
Stefan Seiler
STEFAN SEILER
Dass das Studium des Faches Evangelische Theologie grundlegende Kenntnisse der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache voraussetzt,1 ist nicht unumstritten – sowohl was die Anzahl als auch den Umfang der zu erlernenden Sprachen betrifft. Bereits in der Debatte über die Reform des Theologiestudiums in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dessen zunehmende Fülle – vor allem an historischen Inhalten – moniert, die eine eigenständige Urteilsbildung der Studierenden erschwere. Daher wurde u. a. vorgeschlagen, die Sprachanforderungen zu reduzieren und Hebräisch nur noch als Wahlfach anzubieten. Im Gegenzug sollte den Fächern Pädagogik, Psychologie und Sozialwissenschaften mehr Raum gegeben und größeres Gewicht auf hermeneutische Fragestellungen gelegt werden.2 Bis heute wird das Erlernen der Alten Sprachen von etlichen Studierenden als ‚Hürde‘ betrachtet, wie aus einer Erhebung hervorgeht, die in den Jahren 2016–2018 unter ca. 600 Theologiestudierenden im ersten Semester deutschlandweit durchgeführt wurde.3
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Nach der bisherigen Konzeption des Theologiestudiums sind die Alten Sprachen formal nicht Bestandteil des Studiums selbst, sondern gehören zu dessen Voraussetzungen, die studienbegleitend nachgeholt werden können; VOLKER H. DRECOLL: Die alten Sprachen im Theologiestudium: Bemerkungen zu ihrem Erwerb, in: Pfarrer oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bildung in Studium, Vikariat und Fortbildung (VWGTh 61), Leipzig 2020, 367–378, 367. JAN HERMELINK: Die Spiritualität der Studienreform. Einige Beobachtungen zum historischen Horizont der Debatte um ‚Spiritualität‘ im Theologiestudium, in: Theologische Ausbildung und Spiritualität (Wiener Forum für Theologie und Wissenschaft; 12), hg. v. SABINE HERMISSON und MARTIN ROTHGANGEL, Göttingen 2016, 25–43, 35 mit Anm. 38. MAXIMILIAN BADEN: Warum studierst Du Theologie? Eine Untersuchung zur Motivation von Erstsemestern (APrTh 83), Leipzig 2021, 32f., 372, 440.
156
1.
Stefan Seiler
Argumente für eine Reduzierung der Sprachanforderungen
Hatten die Studienanfänger*innen in der Vergangenheit vielfach das Latinum bereits am Gymnasium erworben, vermindert sich deren Zahl stetig, so dass etliche von ihnen alle drei Alten Sprachen nachlernen müssen. Entsprechend der Rahmenordnung für den Studiengang Evangelische Theologie (Pfarramt / Diplom / Mag. theol.) erstreckt sich das Studium über zehn Semester, wobei (max.) zwei zusätzliche Semester für das Erlernen der Sprachen vorgesehen sind, was sich freilich in der Praxis oft als nicht ausreichend erweist. Rechnet man das Vikariat als zweite Ausbildungsphase hinzu, die je nach Landeskirche etwa zwei Jahre in Anspruch nimmt, so ergibt sich für die Ausbildung zum Pfarrberuf ein Zeitraum von mindestens acht Jahren, der aber nicht selten überschritten wird. Die Aussicht auf eine solch lange Ausbildungszeit lässt potenzielle Interessenten davor zurückschrecken, ein Studium der evangelischen Theologie aufzunehmen.4 Nun besteht in allen Gliedkirchen der EKD die Sorge, dass es in naher Zukunft zu einem Mangel an Pfarrer*innen kommen könnte. Insbesondere wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen werden, sind Vakanzen zu befürchten. Dem versuchen die Landeskirchen mit Werbeprogrammen für das Theologiestudium entgegenzuwirken, woran sich auch die Augustana-Hochschule mit ihrem jährlichen ‚Schnupper-Wochenende‘ beteiligt. Ob solche Maßnahmen freilich auf längere Sicht ausreichen werden, dem Personalproblem zu begegnen, ist fraglich. Daher wird vorgeschlagen, die Attraktivität des Theologiestudiums dadurch zu erhöhen, dass die Prüfungsanforderungen im Bereich der Alten Sprachen reduziert werden – oder gar auf eine dieser Sprachen verzichtet wird, wobei immer wieder das Lateinische zur Disposition gestellt wird.5 Dass auch die Anforderungen im Blick auf Hebräisch und Griechisch, die für die exegetische Arbeit eine zentrale Rolle spielen, gesenkt werden sollen, wird mit dem Hinweis auf bereits vorhandene gute Übersetzungen und die Kommentarliteratur begründet.6 Gerade die Perspektive der weltweiten Ökumene führe auch andere Konzeptionen eines Theologiestudiums vor Augen, denen man akademische Relevanz und kirchlich-theologische Angemessenheit nicht absprechen dürfe. So gelte auch für die Ausbildung der künftigen Pfarrer*innen: „ecclesia semper reformanda“.7 4 5
6
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A. a. O., 21. KLAUS NEUMEIER: Die Relevanz alter und neuer Sprachen in der Pfarrpraxis: eine repräsentative Befragung der Pfarrschaft der EKHN, in: DtPfrBl 118 (2018), 560–565, 560. ENOCH OKODE: A Case for Biblical Languages: Are Hebrew and Greek Optional or Indispensable?, in: AJET 29 (2010), 91–106, 91. KLAUS NEUMEIER: Tempora mutantur: die Zeiten ändern sich, in: DtPfrBl 118 (2018), 565– 568, 565f.
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157
Hinzu kommt, wie sich bereits an der oben erwähnten Debatte Mitte des 20. Jahrhunderts abgezeichnet hat, der Hinweis, dass sich theologische Wissenschaft im interdisziplinären Diskurs mit sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Modellen, Cultural studies, pädagogisch-erziehungswissenschaftlichen oder psychotherapeutischen Ansätzen zu beschäftigen habe, so dass die Fülle zentraler Themen und Fragestellungen im Blick auf den Umfang des Theologiestudiums an anderer Stelle notwendige Begrenzungen erfordere. Schließlich wird nicht selten die Relevanz der Alten Sprachen auch hinsichtlich ihrer tatsächlichen Verwendung im Pfarrberuf in Zweifel gezogen. Die damit verbundenen vielfältigen Verpflichtungen erlaubten es kaum, in der Praxis der Predigtvorbereitung Texte in den Ursprachen zu lesen.8 In diesem Zusammenhang räumen viele Pfarrer*innen ein, dass sie nur noch über wenige oder gar keine Sprachkenntnisse mehr verfügen, die manche von ihnen freilich gerne ‚reaktivieren‘ würden.9 Die angeführten Argumente sind ausgesprochen ernst zu nehmen; man darf sich ihrer nicht durch den Hinweis auf alte Traditionen entledigen, zumal dann die Frage gestellt werden könnte, ob hier nicht an einem überkommenen bürgerlichen Bildungsideal festgehalten wird.10
2.
Theologie als ‚Übersetzungsprozess‘
Die bisherigen Überlegungen lassen bereits erkennen, dass die Frage nach der Relevanz der Alten Sprachen im Theologiestudium eine sehr grundsätzliche Thematik berührt, nämlich die Frage nach dessen Zielsetzungen und Konzeptionen sowie – untrennbar damit verbunden – die nach den Erfordernissen des Pfarrberufs. Historisch betrachtet ist dieser in der evangelischen Kirche rein funktional bestimmt. Nach Art. V der Confessio Augustana bezieht sich das ‚ministerium ecclesiasticum‘ auf den Dienst der Lehre des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente („ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta“), die der Förderung des Glaubens dienen sollen; nach Art. XIV setzt die öffentliche Lehre („publice docere“) noch den ordentlichen Ruf („rite vocatus“) 8
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10
CORJA MENKEN-BEKIUS: Machen Sie es nicht zu schwierig?, in: Alles Qatal – oder was? Beiträge zur Didaktik des Hebräischunterrichts, hg. v. HANS-CHRISTOPH GOßMANN und WOLFGANG SCHNEIDER, Münster / New York 1994, 13–17, 14; BADEN: Theologie (s. Anm. 3), 21. WALTER LÜCK: Leicht zu lernen – Noch leichter zu vergessen? Gedanken zum hebräischen Sprach-Lehr-Gang, in: Alles Qatal – oder was? Beiträge zur Didaktik des Hebräischunterrichts, hg. v. HANS-CHRISTOPH GOßMANN und WOLFGANG SCHNEIDER, Münster / New York 1994, 21–28, 21. INA WILLI-PLEIN: Heilige Schrift oder Heilige Übersetzung – Zur theologischen Relevanz hebraistischer Forschung und Lehre, in: DIES., Sprache als Schlüssel. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, hg. v. MICHAEL PIETSCH und TILMANN PRÄCKEL, Neukirchen-Vluyn 2002, 1–10, 2.
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voraus, wobei ‚Öffentlichkeit‘ hier qualitativ auf die kirchliche Gemeinschaft verweist.11 Martin Luther hat im Jahr 1544 in einer Predigt über 1 Kor 12,1–11 erläutert, welche Begabungen bei denjenigen vorauszusetzen sind, die ein solches Amt bekleiden: Sie sollten geschickt sein, die Schrift zu verstehen und auszulegen; ferner werde erwartet, dass sie ‚der Sprachen kundig‘ und redebegabt seien.12 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass dem Pfarrberuf eine kommunikative wie eine hermeneutische Dimension eignet.13 Modern gesprochen kommt Pfarrer*innen eine ‚Übersetzungsaufgabe‘ zu, indem sie das Evangelium im umfassenden Sinne unter den Voraussetzungen der Gegenwart und unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Adressat*innen in den verschiedensten Kontexten wie Predigt, Unterricht und Seelsorge verständlich und nachvollziehbar zur Sprache bringen.14 Sie bekunden die durch den Begriff des Evangeliums implizierte Vorstellung der Freiheit, was zugleich eine kritische Distanznahme gegenüber kirchlichen Traditionen in sich schließen kann. Um dieser anspruchsvollen Aufgabe gerecht zu werden, bedürfen sie fundierter Kenntnisse bezüglich der Basisdokumente des Glaubens, der Geschichte des Christentums sowie seiner philosophischen und systematisch-theologischen Grundlagen.15 In diesem Rahmen lernen Theologiestudierende wissenschaftliche, d. h. vernünftig reflektierende Rede von Gott.16 Dabei sollte freilich nicht nur die ‚theologische Ausbildung‘, sondern auch die ‚theologische Bildung‘ und persönliche Orientierung der Einzelnen im Blick sein.17 Der beschriebenen ‚Übersetzungsaufgabe‘ müssen sich zunächst diejenigen individuell stellen, die sie später öffentlich übernehmen werden, was nicht zuletzt zur ‚Authentizität‘ jener Theolog*innen beiträgt.
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Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (Göttinger theologische Lehrbücher), Göttingen 91982, 58, 69; CHRISTIAN GRETHLEIN: Nachwuchs für den Pfarrberuf. Probleme und Herausforderungen, in: DtPfrBl 116 (2016), 192–197, 193. WA 22, 184, 1–5; vgl. hierzu auch GRETHLEIN: Nachwuchs (s. Anm. 11), 196. A. a. O. „Die evangelischen Geistlichen […] haben das Amt des Dolmetschens, des die Gemeinde zum Verstehen der frohen Botschaft von Gottes Barmherzigkeit Anleitenden und Hinführenden aufgetragen bekommen.“ JÜRGEN CHRISTIAN MAHRENHOLZ: Messer des Geistes. Sprachkenntnisse waren für Luther Voraussetzung, ein Pfarramt bekleiden zu können, in: Zeitzeichen 7 (2006), 43–44, 44. MARTIN ARNETH: Hebräisch: Ein Semester im Studium der evangelischen Theologie, in: Heilige Sprachen? Zur Debatte um die Sprachen der Bibel im Studium der Theologie, hg. v. DIETRICH KORSCH und JOHANNES SCHILLING, Leipzig 2019, 53–81, 57. MARTIN H. JUNG: Einführung in die Theologie, Darmstadt 2004, 15. GÜNTHER WARTENBERG: Aufgaben, Gestalt und Zukunft Theologischer Fakultäten – Erfahrungen, Erwartungen, Perspektiven, in: Aufgaben, Gestalt und Zukunft Theologischer Fakultäten, hg. v. FRIEDRICH SCHWEITZER und CHRISTOPH SCHWÖBEL (VWGTh 31), Gütersloh 2007, 9–14, 13.
Sprachwelten als Denkwelten
3.
159
Sprachkenntnisse als Voraussetzung von Kritikfähigkeit
Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, sind der eigenständige Umgang mit der Bibel sowie die Kritikfähigkeit gegenüber deren unterschiedlichen Auslegungen und Traditionen von fundamentaler Bedeutung für die theologische Ausbildung und den pfarramtlichen Dienst. Die je eigene Deutungshoheit der Geistlichen unter Bezugnahme auf das biblische Zeugnis war eine der wesentlichen Grundlagen der Reformatoren und berührt somit den Kern evangelischer Theologie. Wenn nach diesem Verständnis die Bibel Alten und Neuen Testaments als entscheidende Referenzgröße vorausgesetzt wird, so muss diese – gerade um jenen kritischen Grundimpuls zu wahren – mit wissenschaftlichen Methoden exegesiert und kompetent interpretiert werden. Hierfür ist das Erlernen der biblischen Sprachen unverzichtbare Voraussetzung. Insofern zielt die Ausbildung protestantischer Kritikfähigkeit letztlich auf das reformatorische Prinzip ‚sola scriptura‘.18 Dies scheint auch der Argumentation Martin Luthers zu entsprechen, der sich in seiner Schrift An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen (1524) ausführlich zur Bedeutung der Sprachen geäußert hat.19 In diesem Zusammenhang setzt er beim Evangelium an, das allein durch den Heiligen Geist gekommen sei und täglich komme – freilich durch das Mittel der Sprachen. Die Bedeutung des Evangeliums verbindet der Reformator dabei mit der Hochschätzung des Hebräischen und Griechischen. Er stellt fest, dass dieses ohne Kenntnis der beiden Sprachen nicht erhalten werden könne. Darauf folgt das bekannte Diktum: „Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt.“20 Die Formulierung ‚dieses (!) Messer des Geistes‘ kann sich nur – möglicherweise in Anspielung auf Hebr 4,12 – auf das zuvor erwähnte Evangelium, das von der ‚sprachlichen Scheide‘ des Schwertes umgeben ist, beziehen. Nicht menschliche ‚Geistesschärfe‘ ist hier also im Blick, sondern die durch den göttlichen Geist gewirkte Botschaft des Evangeliums. Dies bestätigt auch die Fortsetzung: „Sie (sc. die Sprachen) sind der Schrein, darinnen man dies Kleinod trägt. Sie sind das Gefäß, darinnen man diesen Trank fasset. Sie sind die Kemenate, darinnen diese Speise liegt […].“21 Unter 18 19
20 21
DRECOLL: Sprachen (s. Anm. 1), 370. JOHANNES SCHILLING: Sprachen – Schrein für das Kleinod des Evangeliums. Ein historischer Spaziergang, in: Heilige Sprachen? Zur Debatte um die Sprachen der Bibel im Studium der Theologie, hg. v. DEMS. und DIETRICH KORSCH, Leipzig 2019, 12–34, 18. WA 15, 38, 8–9. Vgl. WA 15, 38, 9–11. Durch den Verzicht auf das Erlernen der hebräischen und griechischen Sprache würde nach Luther auch der Gebrauch des Lateinischen und Deutschen Schaden leiden (WA 15, 38, 15). Dass der Unterricht in den Alten Sprachen umgekehrt auch die Kompetenz im Umgang mit der eigenen Muttersprache fördert, ist ein Aspekt, der bei der hier zu behandelnden Thematik mit zu bedenken ist. In diesem Zusammenhang wird
160
Stefan Seiler
Berufung auf 1 Kor 14,27ff. führt Luther im weiteren Verlauf seiner Schrift aus, dass die Christenheit dazu aufgerufen sei, alle Lehre zu beurteilen. Dazu sei es freilich erforderlich, die biblischen Ursprachen zu beherrschen.22 Somit verbindet der Reformator selbst an dieser Stelle Kritikfähigkeit untrennbar mit der Kenntnis des Hebräischen und Griechischen.
4.
Kulturelle ‚Grenzüberschreitungen‘
Durch jede Beschäftigung mit Texten, die in einer fremden Sprache abgefasst sind, wird ein Schritt in eine andere Kultur hinein vollzogen, die von besonderen Begrifflichkeiten und Vorstellungen, von spezifischen Denkgewohnheiten und -horizonten geprägt ist, die sich von den eigenen oft grundlegend unterscheiden. Deshalb müssen alle, die sich mit derartigen Dokumenten befassen, nicht nur mit dem Vokabular und den grammatischen Strukturen jener Sprachwelt vertraut sein, sondern auch mit den dahinterstehenden Ideen und Anschauungen, Metaphern und Bildern. Idealerweise sollte man über eine intime Kenntnis der gesamten Kultur verfügen, um Anspielungen bzw. intertextuelle Bezugnahmen zu erkennen und angemessen ‚übersetzen‘ zu können.23 Reflektiertes Verstehen setzt somit Sprach-, Literatur- und Kulturkompetenz voraus.24 Umgekehrt muss der Unterricht in den Alten Sprachen einen lebendigen Eindruck von solchen ‚Vorstellungs- und Denkuniversen‘ vermitteln und darf sich nicht auf grammatische Phänomene beschränken. Entsprechend eröffnet auch das Erlernen der biblisch-hebräischen Sprache einen ersten Zugang zum alttestamentlichen Welt- und Gottesverständnis. Insofern befindet man sich hier bereits ‚mitten‘ im eigentlichen Studium der Theologie und nicht in einem Propädeuticum.
4.1
‚(Er-)Lösung‘ als Soziomorphem
Um einen Eindruck solch kultureller Grenzüberschreitungen zu geben, sollen zwei Beispiele angeführt werden, die zeigen, welche Vorstellungswelten bei der
22 23
24
darauf verwiesen, dass insbesondere Lateinkenntnisse einen zielgenaueren Umgang mit Grammatik, Syntax, Wortwahl und Stilebenen ermöglichen; DRECOLL: Sprachen (s. Anm. 1), 375. WA 15, 42, 1–3. JORG CHRISTIAN SALZMANN: Lutherische Pfarrerausbildung heute. Sprachanforderungen, in: LuThK 28 (2004), 101–114, 105. ULRIKE ROSIN: Klassisches Griechisch. Schlüssel zum tieferen Verständnis neutestamentlicher Texte, in: Heilige Sprachen? Zur Debatte um die Sprachen der Bibel im Studium der Theologie, hg. v. DIETRICH KORSCH und JOHANNES SCHILLING, Leipzig 2019, 83–93, 89.
Sprachwelten als Denkwelten
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Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten eingespielt werden und für die Leser*innen entsprechender Texte mitzubedenken sind. Aus der kirchlichen Praxis ist vielen ein im zweiten Teil des Jesajabuches überlieferter Text vertraut, der in der Lutherübersetzung (2017) lautet: „Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1). Durch den Erlösungsbegriff, den Luther bereits in seiner Übersetzung von 1528 an dieser Stelle verwendet,25 stellt der Reformator einen intertextuellen Bezug zu neutestamentlichen soteriologischen Aussagen her, die auf Christus bezogen sind (Röm 3,24; Tit 2,14; Hebr 9,12.15).26 Im Hebräischen wird im Rahmen dieses Heilsorakels das Verbum gā’al verwendet, das eine besondere Konnotation aufweist, die sich in der deutschen Sprache nicht adäquat wiedergeben lässt. Der Begriff entstammt dem Familienrecht:27 Das Part. Akt. gō’ēl bezeichnet eine Person, deren Pflicht es war, für den jeweils nächsten Verwandten einzutreten und dessen Rechte zu wahren. Dies bezieht sich zunächst auf den Rückkauf von Besitz (Haus/Grundstück), der in einer Notlage hatte veräußert werden müssen (Lev 25,25–34; Jer 32,6–15); auf diese Weise sollte das Eigentum der Sippe ‚wiederhergestellt‘ werden (was als mögliche Grundbedeutung des Verbums gā’al erwogen wird).28 Zum anderen betraf der Loskauf Familienmitglieder, die sich aufgrund wirtschaftlicher Notlagen in Schuldsklaverei hatten begeben müssen (Lev 25,47–54). Hier scheint ein Bruch des Volksganzen vorausgesetzt zu sein, der geheilt werden musste. Rechtliche Kategorien schwingen mit, wenn JHWH als gō’ēl der Waisen bezeichnet wird (Spr 23,11) oder als Beistand, der das Leben des Beters erlöst (Klgl 3,58). Dies kann auch das gesamte Volk betreffen: Nach Ps 74,2 hat JHWH seine Gemeinde erworben, erlöst (→ gā’al) und zu seinem Erbteil gemacht. Bei Deuterojesaja bezieht sich die Wurzel auf die Befreiung aus dem babylonischen Exil, die dort als ‚zweiter Exodus‘ verstanden wird (Jes 48,20; vgl. 51,10). Von einem wiederhergestellten Eigentumsverhältnis ist auch in dem oben angeführten Text Jes 43,1 die Rede.29 Dies impliziert, dass JHWH sich als Israels ‚nächster Verwandter‘ versteht, der sich zu dessen Auslösung verpflichtet hat.30 Dem entspricht, dass die Israeliten in Jes 43,6 als dessen ‚Söhne und
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27 28
29 30
WA.DB 11/2, 130. Auch in der Übersetzung des Neuen Testaments von 1522 gebraucht Luther hier die Terminologie der Erlösung; WA.DB 7, 38.288.364. JÖRG JEREMIAS: Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015, 263, 265. HELMER RINGGREN: Art. גָּאַ ל, in: ThWAT I, hg. v. GERHARD JOHANNES BOTTERWECK und DEMS., Stuttgart u. a. 1973, 884–890, 885f. A. a. O., 886f., 889; vgl. hierzu auch OKODE: Case (s. Anm. 6), 100. JEREMIAS: Theologie (s. Anm. 27), 265. Die enge Zugehörigkeit Israels zu JHWH wird in V. 1 auch durch den kurzen hebräischen Nominalsatz ‚mir gehörst du‘ in betonter Schlussposition unterstrichen.
162
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Töchter‘ qualifiziert werden, womit das Gottesverhältnis in familiaren Kategorien beschrieben wird.31 Wenn in Jes 43,3f. verschiedene Völker genannt werden, die als ‚Lösegeld‘ dienen, so soll durch dieses Bild, das die universale Dimension des göttlichen Handelns zum Ausdruck bringt, deutlich gemacht werden, wie wertvoll Gott die in Knechtschaft Geratenen sind.32 Dies wird in V. 4a mit dem Hinweis auf dessen Liebe zu seinem Volk unterstrichen, in dem ein rechtlicher Ton im Sinne der Loyalität mitschwingen kann, der aber vor allem die persönliche Bindung JHWHs an sein Volk hervorhebt.33 Solche Zusammenhänge werden erst dann verständlich, wenn man sich den (familien-)rechtlichen Hintergrund des Soziomorphems der Auslösung vor Augen hält.34 Die oben angedeuteten intertextuellen Bezugnahmen, die in der Lutherübersetzung vorgenommen werden, entsprechen nicht der genuinen Vorstellungswelt, in der dieser Begriff beheimatet ist.
4.2
Zeitvorstellungen
Unter den verschiedenen Zeitbegriffen, die sich im Alten Testament finden,35 soll hier exemplarisch auf das Substantiv qǣdæm eingegangen werden, das eine Fülle von Vorstellungen in sich vereint, die kaum mit einem angemessenen deutschen Äquivalent wiedergegeben werden können. Etymologisch lässt sich das Lexem mit einer gemeinsemitischen Wurzel in Verbindung bringen, die eine nach vorne ausgerichtete Bewegung umschreibt. Auffallend ist, dass es einerseits eine räumliche, andererseits eine zeitliche Konnotation besitzt, da es sich sowohl auf den ‚Osten‘ als auch auf die ‚Vorzeit‘ bzw. ‚Urzeit‘ beziehen kann. Das lokale Verständnis hängt damit zusammen, dass man sich im westsemitischen Bereich generell in östlicher Richtung ‚orientierte‘, was mit dem Ort des Sonnenaufgangs in Verbindung zu bringen ist (Ex 27,13; Num 2,3; Jos 19,12). Doch scheinen die Grenzen zwischen Raum und Zeit semantisch durchaus fließend zu sein, da die Vergangenheit als der Bereich angesehen wird, dem man sich ‚zu31 32 33 34 35
KLAUS BALTZER: Deutero-Jesaja (KAT 10,2), Gütersloh 1999, 214. JEREMIAS: Theologie (s. Anm. 27), 265. BALTZER: Deutero-Jesaja (s. Anm. 31), 213. A. a. O., 211. ‘ēt als konkreter Zeitpunkt (Gen 8,11; Dan 9,21), aber auch als ‚rechte Zeit‘ (Koh 3,1–8), mō‘ēd als ‚verabredete, festgesetzte Zeit‘ – besonders im Kontext gottesdienstlicher Feste (Ex 13,10; Lev 23,2), jōm als der durch ein konkretes Geschehen gefüllte Tag (Gen 2,4; Jes 9,3), nǣṣaḥ als unbegrenzte Zeit (Jes 13,20; Ps 52,7); HORST DIETRICH PREUß: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1: JHWHs erwählendes und verpflichtendes Handeln, Stuttgart u. a. 1991, 252; KLAUS KOCH: Qädäm. Heilsgeschichte als mythische Urzeit im Alten (und Neuen) Testament, in: DERS., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie, Ges. Aufsätze, Bd. 1, hg. v. BERND JANOWSKI und MARTIN KRAUSE, NeukirchenVluyn 1991, 248–280, 255.
Sprachwelten als Denkwelten
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wendet‘.36 Die künftige Zeit kann im Hebräischen u. a. als ’aḥarīt bezeichnet werden, was umgekehrt die Vorstellung eines hinter dem Betrachter liegenden Raumes impliziert (Jer 29,11; Ps 37,37f.).37 Dies steht zumindest teilweise in Widerspruch zu modernen Denkgewohnheiten, wonach die Zukunft bevorsteht und die Vergangenheit hinter einem liegt. Untersucht man nun den temporalen Gebrauch des Begriffes, so zeigen sich spezifische Bezüge, die als Referenzrahmen stets mitgedacht werden müssen. Dazu soll zunächst das Volksklagelied Ps 74 herangezogen werden, das vor dem Hintergrund des zerstörten Heiligtums in Jerusalem zu verstehen und somit in seinem Grundbestand vermutlich in der Exilszeit anzusetzen ist:38 „Denke an deine Gemeinde, (die) du in (der) Vorzeit (→ qǣdæm) erworben, (die) du als den Stamm deines Erbteils ausgelöst hast, an den Berg Zion, auf den du Wohnung genommen hast!“ (Ps 74,2).
Die ‚Aus-lösung‘ (→ gā’al!) dürfte sich hier auf den Exodus beziehen, der Hinweis auf das Erbteil erinnert an die Landnahme, die freilich erst dann ihr Ziel erreicht, nachdem sich JHWH auf dem Zion niedergelassen hat. Offenbar hat der Psalmist die für die Gemeinde grundlegende Rettungsgeschichte im Blick, an die er Gott in der Hoffnung auf dessen Beistand erinnert. Gleichzeitig greift der Begriff qǣdæm in diesem Psalm sehr viel weiter zurück. In V. 12f. heißt es: „12Gott aber ist mein König seit (der) Urzeit (qǣdæm). Er vollbringt Heilstaten mitten auf der Erde. 13Du hast durch deine Kraft (das) Meer aufgewühlt, hast (die) Köpfe (der) Chaosdrachen über dem Wasser zerschmettert.“
In der Fortsetzung wird an die Schöpfung erinnert, in der der Rhythmus von Tag und Nacht, die Gestirne, die Völkergrenzen und Jahreszeiten festgesetzt wurden (V. 16f.). Hier erhält der qǣdæm-Begriff in Verbindung mit dem urzeitlichen Chaosdrachenkampf einen protologischen Charakter. In ähnlicher Form überschneiden sich geschichtliche Reminiszenzen und mythische Vorzeit in Jes 51,9f.: ‚9Wach auf, wach auf! Kleide dich mit Stärke, du Arm JHWHs! Wach auf39 wie in den Tagen (der) Vorzeit (→ qǣdæm), (wie) in Generationen ferner Zeiten! Bist du es nicht, der Rahab zerschlug, (den) Chaosdrachen durchbohrte? 10Bist du es nicht, der (das) Meer trockenlegte, (das) Wasser (der) großen Urflut, der in (den) Tiefen (des) Meeres einen Weg bahnte, damit (die) Losgekauften (→ gā’al!) hindurchziehen konnten?‘ 36
37 38 39
TRYGGVE KRONHOLM: Art. קֶ דֶ ם, in: ThWAT VI, hg. v. GERHARD JOHANNES BOTTERWECK und HELMER RINGGREN, Stuttgart u. a. 1989, 1163–1169, 1164f. PREUß: Theologie (s. Anm. 35), 252. KLAUS SEYBOLD: Die Psalmen (HAT 1/15), Tübingen 1996, 287. Die Anrede bezieht sich auch im Folgenden jeweils auf den ‚Arm‘ JHWHs (im Hebr. hier fem.).
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Ganz offensichtlich bezieht sich qǣdæm hier einerseits auf das Exodusgeschehen (vgl. V. 10), zum anderen aber auch wie in Ps 74,13 auf dem Chaosdrachenkampf zu Beginn der Schöpfung. Klaus Koch spricht hier von einer ‚gedoppelte[n] Urzeit‘, die sich auf den Anfang der Welt ebenso wie auf die Anfänge Israels bezieht.40 Die spezifische mehrdimensionale Prägung des untersuchten Lexems, die auch theologische Implikationen für das Verständnis alttestamentlicher Texte hat, lässt sich nur dann annähernd erfassen, wenn man sich in die (ur)sprachliche Welt der Hebräischen Bibel vertieft.
5.
Multiperspektivisches Denken
Bei den bisher behandelten Beispielen, die zeigen, dass hebräische Begrifflichkeiten mit verschiedenen Vorstellungen und Gedankenwelten verbunden sind, deutet sich bereits an, dass diese ein wesentlich breiteres Bedeutungsspektrum als in anderen Sprachen aufweisen können. Eine einlinige Übersetzung mit einem deutschen Synonym ist daher oftmals nur schwer oder gar nicht möglich, weil dann Inhalte und Bezüge, die in der Ursprache mitschwingen und für das Verständnis und die Auslegung von Texten unerlässlich sind, verlorengehen. Die semantische Bandbreite hebräischer Lexeme, die wiederum von einem besonderen ‚Weltbild‘ zeugt, soll nun anhand zweier grundlegender anthropologischer Begriffe entfaltet werden, deren gängige Übersetzungen oft nur einen Ausschnitt ihres Sinngehalts benennen und teilweise sogar unzutreffende Vorstellungen evozieren.
5.1
nǣfæš – der ‚verlangende‘ Mensch
Das oft mit ‚Seele‘ wiedergegebene Substantiv nǣfæš hat von seiner Grundbedeutung her einen körperlich-organischen Bezug und bezeichnet zunächst die ‚Kehle‘, den ‚Rachen‘ oder die ‚Gurgel‘. In diesem konkreten Sinn ist es allerdings nur selten belegt; so ist etwa in Hab 2,5 davon die Rede, dass ein anmaßender Mann seinen ‚Schlund‘ weit aufsperrt wie das Totenreich. Mit der Bewegung der Kehle hängt der Vorgang des Atmens zusammen. Wenn beim Eintritt des Todes die nǣfæš den Menschen verlässt (Gen 35,18), so bedeutet dies, dass der Atem und mit ihm zusammen das Leben entweicht. Eine Leib-Seele-Dichotomie wird hier also nicht vorausgesetzt.41 40 41
KOCH: Qädäm (s. Anm. 35), 262f.; zum Vorangehenden vgl. a. a. O., 255f., 262. WERNER H. SCHMIDT: Anthropologische Begriffe im Alten Testament. Anmerkungen zum hebräischen Denken, in: Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens, Bd. 2: Psalmen und Weisheit, Theologische Anthropologie und Jeremia, Theologie des Alten Testaments,
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Die Funktionen der Kehle – das Verschlingen und Atmen – wirken noch in der Bedeutung ‚Gier/Begierde‘ nach. So kann nǣfæš zunächst den bloßen Hunger bezeichnen (Dtn 23,25; Hos 9,4), dann aber auch das sich aus unerfüllten Bedürfnissen ergebende Verlangen, das den ganzen Menschen erfasst. Nach Hld 1,3 kann es sich auf das Verhältnis zweier Liebender beziehen, nach Ex 15,9 auf den Rachedurst der Feinde (vgl. Ps 27,12). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Aussage in Ex 23,9, in der mit nǣfæš die Gesamtheit der Nöte und Bedürfnisse eines Fremden zum Ausdruck gebracht werden: „Und einen Fremdling sollst du nicht bedrücken! Ihr wisst doch, wie dem Fremdling zumute ist42 (→ und ihr kennt die nǣfæš des Fremdlings), denn Fremdlinge seid ihr im Land Ägypten gewesen.“
Jenes Sehnen kann auch auf Gott bzw. dessen Weisungen (Ps 42,2f.; 63,2;43 119,20.81) oder auf die Vorhöfe seines Hauses (Ps 84,3) gerichtet sein. Wenn nǣfæš den Menschen als ein Wesen umschreibt, das ‚auf etwas aus ist‘, so ergibt sich daraus, dass der Begriff auch die sprudelnde Lebensenergie, die Vitalität und Lebenskraft bis hin zur Leidenschaftlichkeit zum Ausdruck bringt (1 Sam 20,17; Ps 23,3; 107,9), was wiederum auch auf JHWH bezogen sein kann (Dtn 6,5; 10,12; 13,4; Klgl 3,25). Mit der Konnotation des ‚Begehrens‘ steht in Verbindung, dass das Lexem auch das Lebensgefühl bzw. die Stimmungen eines Menschen beschreibt: Wer ‚kurz an nǣfæš‘ ist, beweist Ungeduld (Num 21,4), die nǣfæš kann unruhig (Ps 42,6.12), verbittert (1 Sam 1,10) oder auch fröhlich sein (Ps 35,9). Entscheidende Bedeutung kommt der Tatsache zu, dass nǣfæš das individuelle Leben des Einzelwesens bezeichnen kann. In der nicht-priesterschriftlichen Schöpfungserzählung wird in Gen 2,7 berichtet, dass JHWH-Gott den Menschen (hā-’ādām) aus Staub vom Erdboden (hā-’adāmā) bildete und Lebensatem
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hg. v. AXEL GRAUPNER u. a., Neukirchen-Vluyn 1995, 77–91, 80f.; BERND JANOWSKI: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 53; HORST SEEBASS: Art. ֶנפֶשׁ, in: ThWAT V, hg. v. GERHARD JOHANNES BOTTERWECK u. a., Stuttgart u. a. 1986, 531–555, 538. Wolff versteht die Verbindung zwischen der Bezeichnung eines Körperteils und dessen Funktion (was wiederum den ganzen Menschen kennzeichnet) als „synthetisches Denken“, das für die semitische Vorstellungswelt charakteristisch sei; HANS WALTER WOLFF: Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 72002, 21, 23, 26. Müller betrachtet den Zusammenhang „Körperteil für Funktion“ als „konzeptuelle Metonymie“; sie hebt hervor, dass dieses Phänomen kulturübergreifend sei und es sich hierbei somit nicht um ein exklusives Wesensmerkmal des semitischen Sprachraums handle; KATRIN MÜLLER: Lobe den Herrn, meine „Seele“. Eine kognitiv-linguistische Studie zur næfæš des Menschen im Alten Testament (BWANT 215), Stuttgart 2018, 113f., 306. So die Wiedergabe von RAINER ALBERTZ: Exodus, Bd. II: Ex 19–40 (ZBK.AT 2.2) Zürich 2015, 105; vgl. zum Vorangehenden JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 54; SEEBASS: Art. ( ֶנפֶשׁs. Anm. 41), 539; MÜLLER: Herrn (s. Anm. 41), 153f. In Ps 42,3; 63,2 ist der Anklang an den physischen Sinngehalt des Wortes insofern erkennbar, als hier davon die Rede ist, dass die nǣfæš nach Gott ‚dürstet‘.
166
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in seine Nase einhauchte. Daraufhin wird festgestellt: „Und der Mensch wurde zu einer lebendigen nǣfæš.“ Hier ist nicht davon die Rede, dass dieser eine nǣfæš hat, sondern zu einer solchen wird. Daraus ergibt sich, dass bei dessen Erschaffung nicht im Sinne eines dichotomischen Weltbilds zwischen Körper und Seele unterschieden wird. In den Belegen des Begriffes ist auch sonst kein derartiges vom Körper getrenntes bzw. unsterbliches Element im Blick. Vielmehr wird der Mensch in der Hebräischen Bibel als psychosomatische Einheit begriffen. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass nǣfæš – mit Suffixen verbunden – auch ein Personalpronomen ersetzen kann, da der Begriff das ‚Ich‘ des Menschen umschreibt.44 In der Priesterschrift wird die Vorstellung von der individuellen Lebendigkeit insofern erweitert, als sich der Begriff auf alle Lebewesen – Mensch und Tier – beziehen kann (Gen 9,9f.). In Gen 9,4; Dtn 12,23 wird nǣfæš mit dem Blut gleichgesetzt. Diese Überlegungen lassen erkennen, dass die oft verwendete Übersetzung des Begriffs mit „Seele“ problematisch ist, da sich hiermit, wie bereits angedeutet, der Gedanke an einen immateriellen unsterblichen Teil des Menschen nahelegen könnte; manchmal wird dies auch mit Reinkarnationsvorstellungen verbunden.45 Insofern trägt diese Wiedergabe ein inadäquates Konzept in das Alte Testament hinein und sollte möglichst vermieden werden.46 Die beschriebene Bedeutungsbreite des Lexems wird sich Bibelleser*innen ohne entsprechende philologische Kenntnisse nicht erschließen.
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Wenn dies in Übersetzungen durchaus sachgerecht geschieht, lässt sich freilich der ursprüngliche Zusammenhang anhand einer deutschen Wiedergabe des Textes nicht mehr nachvollziehen; zum Vorangehenden vgl. SCHMIDT: Begriffe (s. Anm. 41), 83f.; JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 54f.; SEEBASS: Art. ( ֶנ ֶפשׁs. Anm. 41), 539, 542–545; MÜLLER: Herrn (s. Anm. 41), 173, 178, 186, 198; MARTIN RÖSEL: Die Geburt der Seele in der Übersetzung: Von der hebräischen näfäsch über die psyche der LXX zur deutschen Seele, in: Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (FRLANT 232), hg. v. ANDREAS WAGNER, Göttingen 2009, 151–170, 153. JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 55ff.; MÜLLER: Herrn (s. Anm. 41), 197f.; RÖSEL: Geburt (s. Anm. 44), 168. Die LXX gibt nǣfæš fast durchgehend mit psychē wieder, wobei die mit diesem Begriff verbundenen alten vorplatonischen Vorstellungen durchaus dem nahekommen, was die Hebräische Bibel darunter versteht. Im späten 5. Jh. v. Chr. taucht dann die Opposition ‚Körper versus Seele‘ auf. Verschiedene Texte innerhalb der LXX – etwa in den Büchern Genesis und Proverbien – könnten zumindest in diesem Sinne interpretiert werden. So wird in Gen 1,20f.LXX vorausgesetzt, dass die Lebewesen Seelen ‚haben‘, welche von Gott geschaffen wurden (vgl. den Gen. Plur. in Gen 1,20LXX: „Kriechtiere [mit] lebendigen Seelen“). In Prov 10,3 wird aus der ‚Lebenskraft eines Gerechten‘ im hebräischen Text in der Septuaginta eine ‚gerechte Seele‘; RÖSEL: Geburt (s. Anm. 44), 154, 160f., 163f., 166; JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 57; SEEBASS: Art. ( ֶנ ֶפשׁs. Anm. 41), 537. MÜLLER: Herrn (s. Anm. 41), 203. Müller bemerkt einschränkend, dass der Begriff der ‚Seele‘ allenfalls bei Bibelübersetzungen im gottesdienstlichen Gebrauch aufgrund der Bekanntheit bestimmter Formulierungen (z. B. Gott „von ganzem Herzen und von ganzer Seele lieben“; Dtn 6,5) beibehalten werden könnte: a. a. O., 204.
Sprachwelten als Denkwelten
5.2
167
lēb/lēbāb – der empfindende, denkende und entscheidende Mensch
Wie beim Begriff nǣfæš scheint auch bei dem gewöhnlich mit ‚Herz‘ wiedergegebenen Substantiv lēb bzw. lēbāb die Entwicklung vom entsprechenden Körperorgan auszugehen. So durchbohrt nach 2 Kön 9,24 ein von Jehu abgeschossener Pfeil das Herz des (nord-)israelitischen Königs Joram. In dieser Bedeutung findet sich der Begriff allerdings selten im Alten Testament. Entscheidend ist, dass er in der Regel einerseits die vegetative Schicht der Personstruktur eines Menschen bezeichnen und insofern als Ort affektiver Zustände verstanden werden kann, zum andern als Sitz des Denkens, der Urteilsfähigkeit und der planerischen Intention betrachtet wird. Es handelt sich hierbei also um eine ‚Zentralinstanz‘ des Menschen, die dessen Fühlen, Wahrnehmen, Wollen und Entscheiden umschließt. Diese Funktionen repräsentieren allerdings nicht gegeneinander abgegrenzte Eigenschaften, vielmehr haben sie im ‚Herzen‘ ihren gemeinsamen Fixpunkt. Besonders die Topologie der Klage weist im erst genannten Sinne auf geradezu angiöse Beschwerden und Angstzustände hin, die hier lokalisiert sind. So beschreibt der leidende Beter in Ps 38,11 seinen beklagenswerten Zustand in der Weise, dass sein Herz ‚pocht‘. Genauer müsste man das Verb mit ‚sich heftig hinund her bewegen‘ wiedergeben, womit ein beklemmendes, Panik erregendes Angstgefühl zum Ausdruck gebracht wird.47 Nach Psalm 39,4 wird das ‚Herz‘ des Klagenden heiß, bei seinem Seufzen verspürt er ein Feuer in seinem Innern, in Ps 22,15 äußert sich der kraftlose Zustand in der Weise, dass das ‚Herz‘ des Beters in dessen Leib wie Wachs zerschmolzen ist. Deutlich berühren sich bei solchen Beschreibungen psychisches und physisches Leiden.48 Von hier ausgehend sind dann die verschiedensten emotionalen Empfindungen wie Trauer und Kummer (Ps 13,3; Spr 12,25), Furcht und Schrecken (Dtn 1,28; 1 Sam 28,549), Wut und Zorn (Dtn 19,6; Spr 19,3), aber auch Freude (Jer 15,16; Ps 16,9), Liebe und Sympathie 47
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HANS-JOACHIM KRAUS: Psalmen, 1. Teilbd.: Psalmen 1–59 (BKAT XV/1), Neukirchen-Vluyn 5 1978, 448; zum Vorangehenden vgl. SCHMIDT: Begriffe (s. Anm. 41), 86f.; HEINZ-JOSEF FABRY: Art. לֵב, in: ThWAT IV, hg. v. GERHARD JOHANNES BOTTERWECK u. a., Stuttgart u. a. 1984, 413– 451, 425–427; JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 148. FRANK-LOTHAR HOSSFELD / ERICH ZENGER: Die Psalmen I: Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg 1993, 250. Umgekehrt kann nach Jes 60,5 das Herz vor Freude ‚beben‘ und ‚weit werden‘, wenn die Völkerschaften im Rahmen ihrer ‚Wallfahrt‘ die in der Gola Zerstreuten zum Zion zurückführen und ihren Reichtum (entsprechend den aus der altorientalischen Umwelt bekannten Tributleistungen) dorthin bringen werden. Auch hier äußert sich die ‚freudige Aufregung‘ in Gestalt von physischen Reaktionen; BURKHARD M. ZAPFF: Jesaja 56–66 (NEB. AT 37), Würzburg 2006, 383. FABRY; Art. ( לֵבs. Anm. 47), 428. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Vertrauensaussage, dass sich der lēb bzw. lēbāb aufgrund des göttlichen Beistands nicht zu fürchten braucht oder hierzu aufgefordert wird (Dtn 20,3; Ps 27,3).
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Stefan Seiler
(Ri 16,15; 2 Sam 14,1) im lēb bzw. lēbāb verortet. An einigen Stellen findet sich die Wendung ‚zum lēb reden‘, der eine Trost- bzw. Ermunterungsfunktion zukommt (Gen 50,21; 2 Sam 19,8; Jes 40,2).50 Darüber hinaus hat der Begriff eine kognitive bzw. rational-noetische Dimension. Dies betrifft zunächst die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen im Blick auf dessen Sensorik und Erinnerungsvermögen. So soll der Prophet nach Ez 3,10 die an ihn gerichteten Worte hören und sie in sein lēbāb aufnehmen. Dass man eines Geschehens ‚gedenkt‘, kann in Parallele zu Formulierungen stehen, die mit diesem Lexem gebildet werden (Jes 46,8; 47,7). Das ‚Herz‘ gilt auch als Sitz der Einsicht bzw. der Urteilsfähigkeit des Menschen. In der Weisheit ist es der Ort, an dem der Verständige Erkenntnis erwirbt (Spr 15,14; 18,15). Entsprechend wird in Ps 90,12 darum gebeten, Gott möge die Psalmsänger lehren, ihre (Lebens-)Tage zu zählen, damit sie ‚ein Herz von Weisheit‘ erlangen. Vor diesem Hintergrund ist auch der Wunsch Salomos verständlich, den er im Rahmen einer Traumoffenbarung an JHWH richtet: „Und gib deinem Knecht einen hörenden lēb, damit er dein Volk richten (sowie) zwischen Gutem und Bösem unterscheiden kann, denn wer vermag dieses dein (so) zahlreiches Volk zu richten?“ (1 Kön 3,9). Via negationis zielt der an Jesaja ergehende sog. ‚Verstockungsauftrag‘ darauf, dass die Israeliten nicht mehr in ihrem ‚Herzen‘ Einsicht zeigen und zu JHWH umkehren (Jes 6,10). Dies unterstreicht, dass der Begriff auch für den religiös-ethischen Bereich relevant ist. Entsprechend gilt er als Sitz der Gottesfurcht (Dtn 5,29; Prov 23,17). Dort hat ebenso das voluntative Agieren, das Planen und Entscheiden seinen Ort; lēb bzw. lēbāb stellen die Triebfeder menschlichen Handelns dar. Hier formen sich die Gedanken, hier richten sie sich auf ein bestimmtes Ziel aus, ohne dass damit allerdings schon die Tat selbst impliziert wäre. Von daher sind die Aussagen in Gen 6,5; 8,21 zu verstehen, dass alles Sinnen und Streben des menschlichen lēb allezeit nur böse war.51 Ließ sich also im Blick auf den Begriff nǣfæš feststellen, dass dieser den ganzen Menschen bezeichnet, sofern er ‚auf etwas aus ist‘, beschreibt lēb bzw. lēbāb diesen ebenfalls als Einheit von seiner affektiv-vegetativen, rational-noetischen und voluntativen Seite her, sofern er empfindet, denkt und entscheidet.52 Auch dieses Bedeutungsspektrum ist Leser*innen, denen lediglich die Übersetzung ‚Herz‘ vorliegt, ohne vertiefte Kenntnisse des hebräischen Sprachgebrauchs nicht zugänglich.
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A. a. O., 427; JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 149. SCHMIDT: Begriffe (s. Anm. 41), 87f., 90; JANOWSKI: Anthropologie (s. Anm. 41), 150–153; FABRY: Art. ( לֵבs. Anm. 47), 432–435, 437f., 441, 446. An mehreren Stellen wird der Begriff lēb bzw. lēbāb von der LXX mit ‚diánoia‘ wiedergegeben, was ‚Denken/Gesinnung‘ bedeutet (vgl. Gen 17,17; Dtn 4,39; Jes 35,4). Damit wird das einheitliche Bild vom Menschen, das die Hebräische Bibel prägt, aufgegeben und ein Abstraktum verwendet, für das es dort keine Parallele gibt; RÖSEL: Geburt (s. Anm. 44), 169. SCHMIDT: Begriffe (s. Anm. 41), 90; FABRY; Art. ( לֵבs. Anm. 47), 425.
Sprachwelten als Denkwelten
6.
169
Sprachliche Stilmittel, syntaktische Strukturen
Nicht nur die hinter einzelnen Lexemen stehenden Vorstellungen und die Bandbreite ihrer Sinngehalte sind für die Exegese hebräischer Texte essenziell, sondern auch die Untersuchung besonderer literarischer Strukturen, da sich Form und Inhalt nicht voneinander trennen lassen.53 Hierzu gehören sprachliche Stilmittel wie Parallelismen, Chiasmen, Reime, Akrostichoi, Wortspiele, Leitbegriffe, aber auch Auffälligkeiten bezüglich der Syntax,54 die die Aufmerksamkeit der Leser*innen auf zentrale Aussagen lenken, für das Textverständnis – etwa hinsichtlich der Zeitbezüge – eine wichtige Rolle spielen und zugleich einen eigenen ästhetischen Wert haben, somit also von der Kreativität einer Komposition zeugen. Dies wiederum bedeutet, dass die Formgesetze hebräischer Syntax und Stilistik unmittelbar theologische Relevanz besitzen. In der Regel lassen sich solche Besonderheiten nur aus dem sog. Urtext erschließen.55 Dies soll anhand zweier markanter Beispiele erläutert werden.
6.1
Wortassonanz
Die Berufung des Propheten Jeremia ist in ihrer jetzigen Endgestalt mit zwei Visionsberichten verbunden, die jeweils zugehörige Deuteworte enthalten (Jer 1,4–19). Beide Visionen sind parallel gestaltet:56 Sie setzen mit der sog. ‚Wortereignisformel‘ ein: „Und es erging das Wort JHWHs an mich“ (V. 11aα; V. 13aα57). Dann folgt fast gleichlautend die göttliche Frage: „Was siehst du, (Jeremia)?“ (V. 11aβ; V. 13aβ58). Daraufhin antwortet der Prophet in Ich-Rede: „Und ich sagte: ‚Einen Zweig eines Mandelbaums sehe ich‘“ (V. 11b) bzw. „Und
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WILLI-PLEIN: Schrift (s. Anm. 10), 8. Bezüglich der Syntax soll hier auf die typisch hebräische Satzstruktur verwiesen werden, wobei der Hauptnachdruck gewöhnlich auf dem vorangestellten Verb – und somit auf der Handlung – liegt. Demgegenüber kann bei ‚invertierten Verbalsätzen‘ das Subjekt besonders hervorgehoben werden (Gen 3,13; Ijob 1,21). In den meisten Fällen beschreibt diese Konstruktion aber einen Zustand, wodurch sie sich dem Charakter von Nominalsätzen annähert. Hier wird auf ein längst abgeschlossenes Faktum zurückverwiesen (Ri 1,16; 1 Sam 9,15) oder eine mit den Hauptereignissen gleichzeitige bzw. als deren Ergebnis beschriebene Tatsache zum Ausdruck gebracht (Gen 13,12; 2 Sam 13,21); WILHELM GESENIUS (EMIL KAUTZSCH): Hebräische Grammatik, Hildesheim u. a. 1985 (5. Nachdr. aufl. der 28. Aufl. 1909, Leipzig), § 142a. OKODE: Case (s. Anm. 6), 101; WILLI-PLEIN: Schrift (s. Anm. 10), 8. SIEGFRIED HERRMANN: Jeremia (1,1–19), BKAT XII/1, Neukirchen-Vluyn 1986, 47, 54. Ihr Grundbestand, der nachträglich erweitert wurde, dürfte Jer 1,11f. und Jeremia 1,13f. umfassen; a. a. O., 54. In V. 13aα ist lediglich noch die Angabe ‚zum zweiten Mal‘ eingefügt. In V. 13aβ fehlt die persönliche Anrede.
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ich sagte: ‚Einen Topf, (unter dem Feuer) angefacht ist, sehe ich; und seine Vorderseite (neigt sich) von Norden her (auf mich zu)‘“ (V. 13b). Dann folgt ein Deutewort, das jeweils mit der Formulierung ‚Und JHWH sagte zu mir‘ eingeleitet wird (V. 12aα.14a): „Du hast richtig gesehen, denn ich wache über mein Wort, dass ich es ausführe“ (V. 12aβb) bzw. „Von Norden her wird das Unheil losgelassen werden über alle Bewohner des Landes“ (V. 14b).59 Die zweite Vision und ihre Deutung lässt sich noch anhand deutscher Übersetzungen nachvollziehen. Im Rahmen der Erklärung wird die Formulierung ‚von Norden‘ in V. 14b an den Satzanfang gestellt, womit der Himmelsrichtung entscheidende Bedeutung zukommt: Seit Ende des 2. vorchristlichen Jahrtausends erwies sich der Norden als Gefahrenherd für das syrisch-palästinische Gebiet, angefangen bei den Hethitern über die Assyrer bis hin zu den Babyloniern.60 Der Hinweis auf das Unheil aus dem Norden weckte also Assoziationen an das gewaltsame Vorgehen fremder Völker. Als schwieriger erweist sich dagegen das Verständnis der ersten visionären Schau und ihrer Interpretation. Hier liegt eine sog. ‚Wortassonanzvision‘ vor, deren Sinn sich erst aus dem Gleichklang einer Gegenstandsbezeichnung mit einem anderen Wort erschließt. Entscheidende Bedeutung kommt dabei dem Begriff des ‚Mandelbaums‘ zu, der im Hebräischen šāqēd lautet (V. 11b). Das damit bezeichnete Gewächs (Amygdalus communis L.) beginnt noch vor Ende des Winters zu blühen, kündigt also den bald anbrechenden Frühling in Israel an und weist somit symbolisch auch auf zeitliche Nähe oder Eile hin. Der Konsonantenbestand des entsprechenden Begriffes šqd findet sich nun auch im Deutewort, nämlich in der Formulierung: „Ich wache“ (šōqēd ’anī; V. 12b). Die Wurzel šqd, die hier als Part. Akt. verwendet wird, hat die Bedeutung ‚wachsam sein‘ im konkreten wie im übertragenen Sinn (‚auf etwas bedacht sein / für etwas Sorge tragen‘). Sie weist also auf den Mandelbaum zurück und vermittelt dem Propheten die Gewissheit, dass JHWH sein Wort auf jeden Fall ausführen wird, dessen Verkündigung also nicht vergeblich ist.61 Betrachtet man im jetzt vorliegenden Kontext beide Visionen zusammen und bringt sie mit dem zuvor geschilderten Berufungsgeschehen in Verbindung, so zeigt sich, wie sehr im ‚Prolog‘ des Jeremiabuches die Unausweichlichkeit und der Ernst der Verkündigung des Propheten hervorgehoben werden.62 Hier bestätigt sich, dass das durch diesen ergehende Wort unwiderruflich und unausweichlich ist; JHWH
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HERRMANN: Jeremia (s. Anm. 56), 38, 41, 47. Einen vergleichbaren Aufbau weisen die Visionen in Am 7,7f.; 8,1f.; Sach 5,1–4 auf; WOLFGANG WERNER: Das Buch Jeremia: Kapitel 1–25 (NSK.AT 19/1), Stuttgart 1997, 40. HERRMANN: Jeremia (s. Anm. 56), 75. Mit der Schilderung des durch die Babylonier verursachten Untergangs Jerusalems endet das Jeremiabuch in Kap. 52; WERNER: Jeremia (s. Anm. 59), 40f. HERRMANN: Jeremia (s. Anm. 56), 72–74. GUNTHER WANKE: Jeremia, Teilbd. 1: Jeremia 1,1–25,14 (ZBK.AT 20.1), Zürich 1995, 31.
Sprachwelten als Denkwelten
171
selbst trägt dafür Sorge, dass es eintreten wird.63 Diese theologischen Zusammenhänge erschließen sich freilich erst vor dem Hintergrund einer Untersuchung des hebräischen Textes.64
6.2
Wurzelidentität
Ein signifikantes und theologisch bedeutsames Wortspiel findet sich innerhalb des Abschnitts Jes 7,2–9, der zu dem oft als ‚Jesaja-Denkschrift‘ bezeichneten Textkomplex gehört (Jes 6,1–8,18), wobei auffällt, dass Kap. 6; 8 als ‚Fremdbericht‘, Kap. 7 als ‚Ich-Bericht‘ formuliert sind.65 Diese Verse setzen in ihrer Endgestalt die Ereignisse des sog. ‚syrisch-ephraimitischen Krieges‘ voraus. Dabei versuchten der aramäische König Rezin von Damaskus (ca. 750–732 v. Chr.) und der nordisraelitische, in Samaria residierende König Pekach (735–733/32 v. Chr.) Ahas von Juda (741–725 v. Chr.) in eine antiassyrische Koalition hineinzuziehen, die gegen Tiglat-Pileser III. (745–727 v. Chr.) gerichtet war. Dem entzog sich Ahas wohl auch deshalb, weil er gegenüber dem Norden seine politische Souveränität behaupten wollte. So versuchten Rezin und Pekach, diesen gewaltsam abzusetzen. Nach 2 Kön 16,7f. bat Ahas Tiglat-Pileser um Militärhilfe, was mit (zusätzlichen) freiwilligen Tributleistungen verbunden war. In einer Strafexpedition zog dieser ab 733 v. Chr. gegen die Koalitionäre, beschnitt Israels Territorium im Norden erheblich und eroberte 732 v. Chr. Damaskus. Historisch umstritten ist zum einen, ob es einen derartigen Hilferuf vonseiten des judäischen Königs gab oder Tiglat-Pileser nicht doch aus eigener Initiative in Palästina einfiel, zum anderen, wieweit die militärischen Unternehmungen der Koalitionäre tatsächlich reichten (2 Kön 16,5f.) und ob es zu einem Gegenangriff Judas kam (Hos 5,5–14).66 Der Abschnitt Jes 7,2–9 berichtet nun, dass Jesaja den König davon abhalten will, sich um assyrische Militärhilfe zu bemühen. Dies geschieht bei einer Begegnung zwischen dem Propheten und Ahas, bei dem dieser zunächst im Rahmen eines Heilsorakels aufgefordert wird, sich vor seinen beiden Gegnern nicht zu fürchten, da diese nur noch „rauchende Brandscheit-Stummel“ seien (Jes 7,4). Ihr Plan, nach Juda zu ziehen, werde nicht zustande kommen (Jes 7,7), zumal sie nur menschliche Oberhäupter seien, die sich anmaßten, die Geschicke anderer zu lenken. Dann folgt in Jes 7,9b eine Aussage, die unterstreicht, dass hier nicht 63 64
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WERNER: Jeremia (s. Anm. 59), 40. Die gelegentlich verwendete Hilfsübersetzung, die šāqēd in Jer 1,11b mit ‚Wacholderzweig‘ wiedergibt und auf diese Weise das Wortspiel mit dem Part. Akt. šōqēd in Jer 1,12b nachzuahmen sucht, ist für Leser*innen schwer erkennbar und führt zudem eine etymologisch wie botanisch unzutreffende Bedeutung für šāqēd ein; HERRMANN: Jeremia (s. Anm. 56), 73. UWE BECKER: Jesaja – von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen 1997, 21f.; WILLEM A. M. BEUKEN: Jesaja 1–12 (HThKAT), Freiburg u. a. 2003, 189. CHRISTIAN FREVEL: Geschichte Israels (KStTh), Stuttgart 22016, 271f., 274; BEUKEN: Jesaja (s. Anm. 65), 192.
172
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politisch, sondern theologisch argumentiert wird:67 „Wenn ihr nicht vertrauen werdet, so werdet ihr keinen Bestand haben.“ Im Hebräischen wird bei den Verben beide Male die Wurzel ’āman gebraucht, die in zwei unterschiedlichen Stammesmodifikationen (Hifil: ‚vertrauen‘, Nifal: ‚Bestand haben‘) Verwendung findet. Dabei ist zu beachten, dass die Nifal-Form auch in der sog. ‚Natanverheißung‘ an David in 2 Sam 7 vorkommt: „Und dein Haus und dein Königtum werden vor dir für immer Bestand haben (→ ’āman Nifal), dein Thron wird für immer feststehen“ (2 Sam 7,16); vgl. 1 Sam 25,28; Ps 89,37f.68 Wenn in Jes 7,9b die Zusage des dauerhaften Bestandes des davidischen Königtums mitschwingt, so fällt auf, dass hier die zuvor erfolgte göttliche Zusage in ein bedingtes Heilsorakel übergeht, das syntaktisch als Konditionalsatz formuliert ist; somit enthält die Botschaft Zuspruch und Mahnung zugleich.69 Als Voraussetzung für den Bestand der Dynastie wird das ‚Vertrauen‘ genannt, das der Prophet von König Ahas und seinem Hof einfordert. Vermutlich hatte die Redaktion des Buches – ausgehend von der hier verwendeten 2. Pers. Plur. – auch alle späteren Hörer*innen und Leser*innen im Blick. Der Gebrauch derselben Wurzel innerhalb dieser geradezu formelhaft klingenden, deshalb aber auch sehr eingängigen Aussage stellt einen inneren Zusammenhang her, der die Verbindung von ‚Glauben‘ – der im Verzicht auf die Anforderung assyrischer Militärhilfe seinen konkreten Ausdruck findet – und ‚Stabilität‘ des Königtums mit sprachlichen Mitteln eindrucksvoll unterstreicht. Dabei fällt auf, dass ’āman Hifil (‚vertrauen‘) in diesem Halbvers absolut, d. h. ohne äußeres Objekt, verwendet wird. Man könnte dies als ‚innerlich faktitiven Aspekt‘ der Stammesmodifikation betrachten, wonach die Daseinsverfassung, in die sich das Objekt durch eine Handlung selbst versetzt, als ‚inneres Objekt‘ anvisiert wäre. Dann ließe sich der Sinngehalt der Aussage folgendermaßen verstehen: ‚Wenn ihr euch nicht in Festigkeit versetzen werdet, dann werdet ihr nicht festbleiben.‘70 Auch hier wird erkennbar, dass moderne Übersetzungen an ihre Grenzen stoßen und man den hebräischen Urtext – auch im Blick auf die oben angedeuteten intertextuellen Vernetzungen – zugrunde legen muss.
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BECKER: Jesaja (s. Anm. 65), 49; GEORG FOHRER: Jesaja 1–23 (ZBK.AT 19.1), Zürich 31991, 107, 109. BECKER: Jesaja (s. Anm. 65), 49; ALFRED JEPSEN: Art. אָ מַ ן, in: ThWAT I, hg. v. GERHARD JOHANNES BOTTERWECK und HELMER RINGGREN, Stuttgart u. a. 1973, 313–348, 318. BECKER: Jesaja (s. Anm. 65), 49. BEUKEN: Jesaja (s. Anm. 65), 199f.
Sprachwelten als Denkwelten
7.
173
Ergebnisse, Ausblick
Wie die behandelten Beispiele gezeigt haben, lässt sich der Aussagegehalt alttestamentlicher Texte nur dann angemessen erfassen, wenn man auf ihre hebräische Sprachform rekurriert. Eine „sach-gemäße“ Exegese, die, wie eingangs beschrieben, für die protestantische Theologie grundlegende Bedeutung hat, ist ohne Bezug auf den sog. Urtext nicht denkbar und wird auch dem wissenschaftlichen Anspruch des Studiums nicht gerecht. Erst das Erlernen der hebräischen Sprache ermöglicht einen fachkompetenten Umgang mit einem der zentralen Basisdokumente des Glaubens und der Theologie.71 Solche sprachlichen Kenntnisse öffnen auch den Blick für Semitismen griechischer Texte innerhalb des Neuen Testaments72 und sind darüber hinaus für den adäquaten Dialog mit dem Judentum unerlässlich.73 Im Blick auf die exegetische Arbeit ist zu bedenken, dass ein wesentliches Ziel der Schriftauslegung darin besteht, die zu untersuchenden Abschnitte in ihrer Fremdartigkeit wahrzunehmen, was letztlich zu deren vertieftem Verständnis beiträgt. In diesem Sinne gilt der Grundsatz: „Die Bekanntheit eines Textes ist die Feindin der Exegese.“74 Okode spricht hier vom ‚defamiliarization principle‘, das es für die Auslegung ebenso wie für die Predigtvorbereitung fruchtbar zu machen gilt.75 Die mit einzelnen Begriffen verbundenen ‚Vorstellungswelten‘, die sich, wie dargelegt, von denen unserer Sprache deutlich unterscheiden können, aber auch Widersprüche und Spannungen innerhalb der Texte sind dabei herauszuarbeiten. Gerade moderne Übersetzungen bergen die Gefahr in sich, solche Spannungen zu glätten und zu harmonisieren sowie textinterne ‚Anstöße‘ zu entfernen.76 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass über die Vermittlung hebräischer Grundkenntnisse hinaus fakultative Aufbaukurse beworben werden sollten, die vertiefte Einblicke in die Sprache ermöglichen. Die Basisangebote wären sinnvoll in die Studieneingangsphase zu implementieren, nicht zuletzt um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass erst danach das ‚eigentliche‘ Theologiestudium 71
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MELANIE KÖHLMOOS: Ad Fontes. Aber wie? Zur Lage der Alten Sprachen im Studium der Evangelischen Theologie, in: Biblische Sprachen im Theologiestudium (Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an; 3), hg. v. STEFAN FISCHER u. a., Tübingen 2018, 25–39, 26. BERNHARD DRESSLER: Die ‚alten Sprachen‘: Welche Kenntnisse sind für evangelische Religionslehrkräfte erforderlich?, in: Heilige Sprachen? Zur Debatte um die Sprachen der Bibel im Studium der Theologie, hg. v. DIETRICH KORSCH und JOHANNES SCHILLING, Leipzig 2019, 113–131, 130. WOLFGANG KRAUS: Urtext lesen – Kultur verstehen. Ein offener Brief, in: Korrespondenzblatt (hg. v. Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern) 137 (2022), 10f., 10. WILLI-PLEIN: Schrift (s. Anm. 10), 6. OKODE: Case (s. Anm. 6), 103. WILLI-PLEIN: Schrift (s. Anm. 10), 10.
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Stefan Seiler
beginnt.77 Die Studierenden sollten bereits in diesem Rahmen zumindest exemplarisch mit den Inhalten alttestamentlicher Wissenschaft bekannt gemacht werden. Parallel angebotene Lehrveranstaltungen, die in die Theologie und Anthropologie der Hebräischen Bibel einführen, könnten wechselseitige Synergien freisetzen. Dabei gilt es, nicht nur in der ‚Sprachkursphase‘, sondern während des gesamten Theologiestudiums die enge Verflechtung von Sprache und Kultur, die hier an einigen Beispielen entfaltet wurde, im Bewusstsein zu halten: „[I]n fact, it is through language that we understand any culture since language reflects culture.“78
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JÖRG DITTMER: ‚Beim Zeus!‘ – oder: Die Theologie und die alten Sprachen: Erfahrungen mit Griechisch und Latein an der Augustana-Hochschule, in: Augustana-Journal 4 (2018/19), 22–27, 24; HANS-CHRISTOPH GOßMANN: Der Hebräischunterricht – eine Einführung in das Alte Testament? Zur Stellung des Hebräischunterrichtes innerhalb des Theologiestudiums, in: Alles Qatal – oder was? Beiträge zur Didaktik des Hebräischunterrichts, hg. v. DEMS. und WOLFGANG SCHNEIDER, Münster / New York 1994, 5–8, 5. OKODE: Case (s. Anm. 6), 100.
Jüdische Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels zwischen Juden und Christen
Jüdische Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels
Forschungsgeschichtliche Aspekte
Kathy Ehrensperger
KATHY EHRENSPERGER
Seit den grundlegenden Änderungen, die mit der Tübinger Schule und F. C. Baur verbunden sind und mit der Durchsetzung der historisch-kritischen Methode im 19. Jahrhundert, wurde der deutschsprachige Raum für die Erforschung der Zeit des Zweiten Tempels und der neutestamentlichen Schriften international als maßgeblich angesehen und dominierte den wissenschaftlichen Diskurs weitgehend. Die Situation hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und insbesondere seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts jedoch verändert. Zunehmend hat sich die innovativ die Forschung beeinflussende Diskussion, mit wenigen Ausnahmen, in den englischsprachigen Raum verlagert. Die Impulse, die von entsprechenden Forschungsansätzen ausgingen, haben in der Zwischenzeit auch im deutschsprachigen Raum Resonanz gefunden und werden in kreativer Aufnahme vertiefend ausgelotet. Die Verlagerung des Schwerpunktes der Diskussion in den englischsprachigen Raum hat z. T. damit zu tun, dass zunehmend jüdische Forscherinnen und Forscher als Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe von christlichen Forscher*innen wahr- und ernstgenommen werden. Das hat auch mit der institutionellen Situation im Vereinigten Königreich, den USA und Israel zu tun, wo jüdische Forscher*innen an nicht christlich gebundenen Departments of Religious Studies oder in von direktem christlichem Einfluss unabhängigen jüdischen Institutionen arbeiten. Damit sind Voraussetzungen für eine eigenständige Entwicklung der Erforschung jüdischer Traditionen der Antike aus jüdischer Perspektive gegeben, die nicht von den hermeneutischen Voraussetzungen und christlichen Interessen konfessionell gebundener Institutionen und Forscher*innen vorgeprägt sind. Entsprechende institutionelle Voraussetzungen gab es an Universitäten im deutschsprachigen Bereich bis 2013 nicht. Zwar gab es seit Mitte des 19. Jahrhunderts Bemühungen, das Fach Jüdische Theologie an Universitäten zu etablieren. Die 1872 in Berlin eröffnete Hochschule für die Wissenschaft des Judentums folgte dem Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, das 1854 dank maßgeblicher Initiative von Abraham Geiger gegründet worden war und als dessen erster Direktor Zacharias Frankel ernannt wurde. Diese Institutionen waren, wie auch die 1893 in Wien gegründete Israeli-
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tisch-Theologische Lehranstalt, privatrechtlich organisiert, da aus staatsrechtlichen und vor allem religiösen Gründen eine entsprechende universitäre Einbindung Jüdischer Theologie, wie sie von Abraham Geiger schon 1836 gefordert worden war, im Deutschen Reich grundsätzlich abgelehnt wurde. Nur leicht anders war die Situation in Österreich-Ungarn, hier erhielt die Lehranstalt in Wien eine bescheidene staatliche Unterstützung.1 Die Seminare widmeten sich vorab der Ausbildung von Rabbinern. Diese unterstand in Österreich-Ungarn (wie auch im Russischen Reich) imperialer Oberaufsicht. Demgegenüber war es das erklärte Ziel der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, die unabhängige, keiner Richtung verpflichtete Erforschung jüdischer Geschichte, Literatur, Kultur und jüdischen Denkens zu fördern. Institutionell betrachtet bot sie deshalb einen wesentlichen Bezugspunkt für die zahlreichen freischaffenden Gelehrten, die trotz der ihnen feindlich gesinnten Universitätsdisziplinen weitgespannte Netzwerke wissenschaftlicher Kommunikation etabliert hatten.2 Die Gründungsmitglieder der Berliner Hochschule waren Teil dieser Netzwerke, so u. a. Abraham Geiger, Ludwig Philippson und Salomon Neumann. Namhafte jüdische Forscher*innen wie Leo Baeck, Hermann Cohen und Ismar Elbogen unterrichteten bis 1942 an der Hochschule, an der u. a. Emil Fackenheim, Abraham J. Heschel, Regina Jonas und Ernst Ludwig Ehrlich studierten. Vertreter der Universitätsdisziplinen standen der Wissenschaft des Judentums jedoch weitgehend ablehnend gegenüber und staatliche Institutionen waren darauf bedacht zu verhindern, dass die Hochschule in Berlin auch nur annähernd in Analogie zu universitären Einrichtungen gesehen werden konnte.3 So wurden die jüdischen Wissenschaftler*innen von ihren christlichen Kollegen,4 die an konfessionell gebundenen protestantischen oder katholischen Fakultäten arbeiteten, weitgehend ignoriert, so dass ein gegenseitig inspirierender Forschungsdiskurs auf Augenhöhe in keiner der theologischen Disziplinen entstehen konnte, auch nicht in Bezug auf jüdische Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels.5 Zwar wurde 1923 während der Weimarer Republik an der Frankfurter Stiftungsuniversität der erste deutsche Lehrstuhl für Jüdische Religion und Ethik eingerichtet, mit Martin Buber als erstem Inhaber dieser Professur. Diese 1
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Vgl. MIRJAM THULIN: Wissenschaft des Judentums und Institution. Die modernen Rabbinerseminare als gelehrte Netzwerke, in: HANS-JOACHIM HAHN u. a. (Hg.): Kommunikationsräume des Europäischen – Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 8), Leipzig 2010, 43–60. Vgl. a. a. O., 57. Vgl. CHRISTIAN WIESE: Art. Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: DAN DINER (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, 2011–2015, http://dx.doi.org/10.11 63/2468-2845_ejgk_COM_0319 (letzter Zugriff am 12.08.2022). Bis weit ins 20. Jahrhundert waren die Lehrstühle ausschließlich von Männern besetzt und die wissenschaftlichen Diskurse von dieser Perspektive dominiert. Vgl. dazu CHRISTIAN WIESE: Challenging Colonial Discourse. Jewish Studies and Protestant Theology in Wilhelmine Germany. Translated from the German by BARBARA HARSHAV and CHRISTIAN WIESE (SEJ 10), Leiden 2005.
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positive Entwicklung, die Ausdruck eines Versuchs zu einem Neuansatz war, kam aber 1933 zu einem abrupten Ende. Nach 1945 entstanden Institute für Judaistik, die an christlich-theologischen Fakultäten und Instituten angesiedelt waren und deren Lehrstühle weitestgehend von protestantischen oder katholischen Theologen besetzt waren; hinzu kamen säkular orientierte Institute für Jüdische Studien, die historisch und kulturwissenschaftlich arbeiteten. Einzig in Heidelberg entstand 1973 die private, staatlich anerkannte, vom Zentralrat der Juden in Deutschland getragene und von Bund und Ländern finanzierte Hochschule für Jüdische Studien.6 Sie steht Bewerber*innen unabhängig von Konfession und Weltanschauung offen. Sie will ihren jüdischen und nichtjüdischen Studierenden die „Vielschichtigkeit und Faszination des Judentums“ vermitteln und wissenschaftliche Akzente setzen. Eine akademische Rabbiner*innenausbildung mit dem Ziel der Ordination durch die Hochschule findet aber nicht statt. U. a. wird ein BA-Studiengang Gemeindearbeit und der Studiengang Staatsexamen für Jüdische Religion angeboten. In Kooperation mit der Fachhochschule Erfurt und der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) werden Weiterbildungen für ehrenamtliche Mitarbeiter*innen jüdischer Gemeinden angeboten. Erst im Jahr 2013 wurde mit der School of Jewish Theology der Universität Potsdam erstmals in Europa Jüdische Theologie als universitäres Fach gleichberechtigt mit den protestantischen und katholischen Fakultäten und Instituten etabliert. Das Studium steht allen Interessierten offen, insbesondere absolvieren dort aber zukünftige Rabbiner*innen und Kantor*innen, verbunden mit ihrer Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg oder am Zacharias Frankel College, ihr Hochschulstudium. Damit ist institutionell erstmals im deutschsprachigen Bereich die Forderung, die von Rabbiner Abraham Geiger erhoben worden war, Realität geworden.7 Diese institutionellen Veränderungen bilden zwar nicht die ausschließliche, aber doch eine wesentliche Basis für eine veränderte Wahrnehmung von Wissenschaftler*innen mit unterschiedlichen hermeneutischen Voraussetzungen 6
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Bis im Jahr 1999 mit dem Abraham Geiger Kolleg ein jüdisches Institut für die Ausbildung von Rabbinerinnen und Rabbiner in Potsdam gegründet wurde, mussten Studierende eine entsprechende Ausbildung, die zudem oft nur Männern offenstand, im Ausland, d. h. in den USA oder in Großbritannien, absolvieren. Geiger hatte bereits 1830 als Student geschrieben: „Wenn doch einst ein jüdisches Seminar an einer Universität errichtet würde, wo Exegese, Homiletik und für jetzt noch Talmud und jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste vorgetragen würden; es wäre die fruchtbarste und belehrendste Anstalt!“ (LUDWIG GEIGER [Hg.]: Abraham Geiger’s nachgelassene Schriften, Bd. 5, Breslau 1885, 27). Einige Jahre später vertrat er das Anliegen in der von ihm gegründeten ‚Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie‘ (vgl. ABRAHAM GEIGER: Die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät. Ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit, in: WZJT 2 [1836], 1–21; vgl. dazu WALTER HOMOLKA: Der lange Weg zur Errichtung des Fachs Jüdische Theologie an einer deutschen Universität, in: WALTER HOMOLKA / HANSGERT PÖTTERING [Hg.]: Theologie[n] an der Universität. Akademische Herausforderung im säkularen Umfeld, Berlin 2013, 53–77).
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und Interessen, die an der Erforschung jüdischer Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels arbeiten. Das ist einer der grundlegenden Unterschiede zu den Diskursen vor dem Zweiten Weltkrieg, als sich, wie erwähnt, zaghafte Ansätze von Gesprächen in der Zeit der Weimarer Republik gebildet hatten, die aber seit 1933 zunehmend verunmöglicht worden waren und viele jüdische Forscher*innen ins Exil zwangen. Die institutionellen und geschichtlich bedingten Umstände erklären teilweise, weshalb die Forschung gerade in diesem Bereich wesentlich im englischsprachigen Raum und später auch in Israel zu Neuansätzen und zu Vertiefungen des Verständnisses dieser Zeitperiode in ihrer Relevanz für die Entstehung der Traditionen führte, die dann als rabbinisches Judentum und Christentum als zwei voneinander verschiedene religiöse Traditionen wahrgenommen wurden.8 Auf diese Forschung wird nachfolgend eingegangen werden. Zunächst soll der Blick aber auf die Entwicklung im deutschsprachigen Raum gelenkt werden. Nach den Verirrungen der nationalsozialistisch motivierten Erforschung jüdischer Tradition, z. B. an der ‚Forschungsabteilung zur Judenfrage‘ der Ev.-Theol. Fakultät in Tübingen und am ‚Institut zur Erforschung der Judenfrage‘ der Universität Frankfurt,9 war die Erforschung jüdischer Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin wesentlich vom Interesse geleitet, den sogenannten Hintergrund der neutestamentlichen Schriften zu verstehen, erstaunlicherweise z. T. durch Lehrstuhlinhaber, die entsprechende Forschung unter antisemitischen Vorzeichen während des Nationalsozialismus durchgeführt hatten.10 Das Interesse am Judentum der Antike als Hintergrund der Schriften des Neuen Testaments ist selbstverständlich verankert in den Entwicklungen neutestamentlicher Forschung des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts11 und erklärt sich einerseits aus der institutionellen Verankerung des Fachs Jüdische Studien respektive Judaistik an protestantischen oder 8
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Da sich nach 1945 die größte und intellektuell vitalste jüdische Gemeinschaft in den USA etabliert hatte, hat das Fach Jüdische Theologie und entsprechende Forschung gerade dort in einem für Europa unvorstellbaren Maße floriert. Die Entwicklungen in den USA sind aber nicht unwesentlich mitgeprägt von den intellektuellen und historischen Verbindungen zu Europa. Vgl. dazu WALTER HOMOLKA: Jüdische Theologie. Zur Institutionalisierung eines Fachs im Haus der Wissenschaft, in: ThLZ 140 (2011), 163–181. Vgl. HORST JUNGINGER: Judenforschung in Tübingen, in: Jahrbuch des Simon-DubnowInstituts 5 (2006), 375–398. Vgl. a. a. O. zu Karl Georg Kuhn, dem Inhaber des ersten Lehrstuhls zum Studium der Judenfrage und späteren apl. Professor für Neues Testament und Judaistik an der Universität Göttingen (1949) und ordentlicher Professor für Neues Testament an der Universität Heidelberg (1954) sowie Leiter der dort 1957 eingerichteten Qumran-Forschungsstelle. Das gilt für die Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule. Der Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Paul Billerbeck und Hermann Strack ist ein Beispiel entsprechender Ansätze. Obschon dezidiert nicht antisemitische Intentionen für das Werk wegleitend waren, war es der christliche Überlegenheits- und Absolutheitsanspruch, der durchweg prägend war. Damit erwies es sich als geeignetes Hilfsmittel in den Händen
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katholischen Fakultäten, aber ebenso aus der Tatsache, dass die meisten Wissenschaftler*innen nicht jüdisch waren, sondern aus eben ihrer Perspektive und ihrem Interesse als protestantische oder katholische Neutestamentler*innen sich mit jüdischen Texten und Inschriften wenn nicht polemisch, so doch in Abgrenzung zu christlichen Traditionen befassten.12 Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich aber zunehmend die Einsicht durchzusetzen begonnen, dass jüdische Traditionen nicht einfach eine der dem Christentum vorausgehenden Traditionen unter anderen, sondern ihm inhärent waren, ja, dass neutestamentliche Texte als Teil der jüdischen Geschichte und Traditionen des zweiten Tempels anzusehen sind. Ein langer Weg hat hierhin geführt, und wenn die im 19. Jahrhundert initiierten Anfänge einer Erforschung jüdischer Tradition nach der Antike christlicherseits letztlich weitgehend vom Interesse der Judenmission geleitet waren13, so haben die entsprechenden Institute gegen Ende des letzten Jahrhunderts wie auch die Kirchen der Judenmission grundlegend eine Absage erteilt.14 Die gegenwärtigen Forschungen im deutschsprachigen Raum bauen auf Ansätzen der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts auf und sind methodisch geprägt von der Diversifizierung, die nach der Infragestellung der Objektivität historisch-kritischer Ansätze in den 70er Jahren einsetzte.15 Die religionsgeschichtliche Schule, Form- und Literarkritik waren hier wegbereitend, wurden jedoch maßgeblich erweitert durch sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Ansätze ebenso wie Rezeptionsästhetik und feministische Ansätze.16 Diese methodische Diversität etablierte die Frage der hermeneutischen Voraussetzungen jeglicher Interpretation als wesentlich auch in diesem Forschungsbereich. In Bezug auf die Quellen haben die Funde von Qumran selbstverständlich auch im deutschsprachigen Raum einen prägenden Einfluss ausgeübt, und entsprechende Forschungsstellen
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antisemitischer Auslegung, z. B. von Walter Grundmann. Vgl. BERND SCHALLER: Paul Billerbecks „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“. Wege und Abwege, Leistung und Fehlleistung christlicher Judaistik, in: LUTZ DOERING u. a. (Hg.): Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte, Grenzen, Beziehungen, Göttingen 2008, 61–84. So z. B. Joachim Jeremias. Vgl. die differenzierte Analyse seiner Arbeiten zum antiken Judentum durch LUTZ DOERING: Joachim Jeremias’ Beitrag zur Erforschung des antiken Judentums, in: ZNW 112 (2021), 268–294. Wie z. B. das Institutum Judaicum Delitzschianum der ev.-theol. Fakultät der Universität Münster. Die vielen Stellungnahmen katholischer und protestantischer Institutionen und Kommittees können hier nicht aufgeführt werden. Siehe u. a. die Beiträge in KuI 35.1 (2020) zum 40-jährigen Jubiläum des Synodalbeschlusses der Evang. Kirche im Rheinland. Vgl. z. B. PHILIPP SARASIN: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1639), Frankfurt a. M. 2014. Paradigmenleitend waren hier die Arbeiten von Elisabeth Schüssler Fiorenza und Luise Schottroff. Vgl. dazu CLAUDIA JANSSEN: Aktuelle Entwicklungen im Bereich Feministischer Bibelauslegung und Feministischer Hermeneutik. Forschungsüberblick mit dem Schwerpunkt: Paulusforschung, in: ThR 83 (2018), 189–216.
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und Schwerpunkte wurden eingerichtet. Diese Funde sind neben der frühen rabbinischen Literatur, der in syrischer, aramäischer und griechischer Sprache verfassten Literatur der Zeit des Zweiten Tempels seither Thema und Grundlage vertiefter Forschung und lassen ein Bild wesentlich größerer Diversität jüdischer Traditionen vor unseren Augen entstehen, als das in den Jahrzehnten vor und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen wurde. Die Forschungen von z. B. Martin Hengel machten zudem deutlich, dass die früher angenommenen Trennungslinien zwischen einem palästinischen und einem sogenannten hellenistischen Judentum nicht haltbar sind.17 Aus heutiger Perspektive sind viele von Hengels Schlussfolgerungen hinterfragbar, aber es ist sein Verdienst, damit einen Weg aufgezeigt zu haben, dass die griechisch verfassten jüdischen Schriften und damit auch die Schriften des Neuen Testaments nicht als Randerscheinungen jüdischer Tradition zu verstehen sind und dass die sich in griechischer Sprache ausdrückenden jüdischen Traditionen auch keine Verwässerung jüdischen Selbstverständnisses bedeuteten.18 Aber Hengels Interpretationen waren eben doch von seiner protestantischen Perspektive geprägt und seine Arbeiten z. B. zum Zelotentum von christlichen Vorverständnissen abhängig.19 Über die entsprechenden Forschungen, die von Hengels Ansatz geprägt sind, haben sich eine Reihe von weiteren Forschungsschwerpunkten etabliert und grundlegende Forschungsprojekte und -publikationen sind entstanden, die die jüdische Tradition in ihrer Bedeutung für neutestamentliche Forschung ernstnehmen. Zu erwähnen sind hier z. B. das Projekt ‚Transkulturelle Verflechtungen und Entflechtungen in der jüdischen Apokalyptik‘ unter Leitung von Lutz Doering in Münster und in Kooperation mit der Hebrew University of Jerusalem, das Projekt ‚Septuaginta Deutsch‘ unter Leitung von Wolfgang Kraus und Martin Karrer im Saarland und Wuppertal, das nebst einer neuen Übersetzung der LXX bereits eine signifikante Anzahl von Publikationen zur Bedeutung der LXX hervorgebracht hat. Weitere Projekte an einzelnen Lehrstühlen wären hier zu erwähnen, was aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Diese Ansätze sind, wie erwähnt, geprägt von interdisziplinärer Methodenvielfalt und nehmen sowohl historische wie auch kulturwissenschaftliche, soziologische nebst den traditionellen linguistischen und formkritischen Aspekten allgemein antiker Forschung auf. Die Forschungsansätze sind bemüht, jüdische Traditionen im Unterschied 17
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Vgl. MARTIN HENGEL: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus (WUNT 10), Tübingen 1969. Vgl. dazu auch TESSA RAJAK: Translation and Survival. The Greek Bible of the Ancient Diaspora, Oxford 2009. Vgl. meine kritische Diskussion in KATHY EHRENSPERGER: Paul at the Crossroads of Cultures. Theologizing in the Space-Between, London / New York 2013, 27–29. Hengels Arbeiten und die seiner zahlreichen Schülerinnen und Schüler haben einen breiten Einfluss auf den Diskurs und die Forschungslandschaft im deutschsprachigen Raum.
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zu früheren Ansätzen in ihrer Eigenwahrnehmung wahr und ernst zu nehmen. Im Bereich der Antike sind es aber nach wie vor vor allem Forschende christlich konfessionell geprägter Institutionen, die diese vorantreiben, zunehmend auch in internationaler Kooperation mit Kolleg*innen und Institutionen u. a. in Israel und den USA.20 Das weist auf ein immer noch bestehendes Ungleichgewicht in der deutschsprachigen Forschungslandschaft hin, da es nur wenige von jüdischen Wissenschaftler*innen besetzte Lehrstühle in diesem Bereich gibt. Diese immer noch bestehende institutionelle Beschränkung hat auch Einfluss auf die Forschungsagenda, da das Interesse am Verstehen der Entstehung christlicher Tradition mehr oder weniger forschungsleitend bleibt. Das ist zwar verständlich, doch bleibt damit eigenständige Forschung aus jüdischer Perspektive im deutschsprachigen Raum zumindest für Geschichte, Kultur und Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels weitgehend ein Desideratum. Die gegenwärtige deutschsprachige Forschung kommt deshalb nicht umhin, die internationale und vor allem englischsprachige Forschung zu rezipieren, die zurückgreifend auf Ansätze von vor 1945 wie im deutschsprachigen Raum auch wesentlich in den Jahrzehnten danach grundlegende Veränderungen erfahren hat. So publizierte der walisische Neutestamentler William D. Davies, der an der Duke University in den USA lehrte, 1948 die Monographie Paul and Rabbinic Judaism, in der er einen positiven Bezug von Paulus zu seiner jüdischen Tradition feststellte.21 Zwar verhallte dieser Ansatz wieder, auch auf Grund der zu linear postulieren Vergleiche zwischen paulinischen und rabbinischen Aussagen, aber sein Schüler Ed Parish Sanders veränderte mit seinem 1977 publizierten Band Paul and Palestinian Judaism die Forschung der Zeit des Zweiten Tempels grundlegend.22 Diese detaillierte Studie zeigt auf, dass das Bild jüdischer Tradition als einer legalistischen Gesetzesreligion eine verzerrte Karikatur war, die in den theologischen Gegensatz von Gesetz und Evangelium der Reformation des 16. Jahrhunderts, d. h. letztlich in den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus, eingezeichnet war. Demgegenüber wies Sanders auf, dass jüdische Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels in ihrer Diversität sich auf die gemeinsamen Grundlagen von Gottes Erwählung und des von ihm gestifteten Bundes bezogen und das Beachten der Gebote als Antwort auf Gottes vorlaufende Gnade zu verstehen sei. Sanders prägte dafür den Begriff ‚Covenantal Nomism‘, der
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Eine Ausnahme war der Lehrstuhl für Judaistik an der Freien Universität Berlin, den Tal Ilan innehatte, und ist jetzt der Lehrstuhl am Institut für Kirche und Judentum an der Humboldt Universität Berlin, jedoch mit dem Schwerpunkt jüdisch-christliche Beziehungen der Neuzeit, deren Inhaberin seit 2020 Karma Ben Joachnan ist. Vgl. WILLIAM DAVID DAVIES: Paul and Rabbinic Judaism. Some Rabbinic Elements in Pauline Theology, Mifflintown (PA) 1998 (50th anniversary edition). Vgl. ED PARISH SANDERS: Paul and Palestinian Judaism. A Comparsion of Patterns of Religion, Philadelphia 1977.
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einem ‚Common Judaism‘ gemeinsam gewesen sei.23 Obschon der bereits erwähnte W. D. Davies, später Krister Stendahl und vor ihnen Albert Schweitzer24 in unterschiedlicher Weise auf die Verzerrung des Bildes des Judentums in christlicher Wahrnehmung hingewiesen hatten, hat eine eigentliche und grundlegende Veränderung in neutestamentlicher Wissenschaft hin zu einer Überwindung dieser Verzerrung erst mit Sanders’ Publikation eingesetzt und seither die Forschung maßgeblich geprägt. Das ist unabhängig davon, ob gewisse Details von Sanders Ausführungen zutreffend sind. Auch sein Ansatz, Religion als eine Kategorie der Antike zu verstehen und der jüdischen Tradition eine eigenständige paulinische Religion gegenüberzustellen, ist grundlegend zu hinterfragen.25 Darüber wird kontrovers und z. T. auch heftig debattiert. Aber zu den Verzerrungen jüdischer Traditionen, die die neutestamentliche Forschung und deren Umfeld geprägt hatten, führt bei aller Kritik an Sanders kein Weg zurück. Damit wurde der Weg geöffnet für äußerst fruchtbare neue Erforschungen jüdischer Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels. Hier muss erwähnt werden, dass in den 70er Jahren auch im deutschsprachigen Raum im Kontext der Suche einer ‚Theologie nach Auschwitz‘, mit der sich Theolog*innen wie z. B. Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Helmut Gollwitzer26 einer Kultur des Vergessens und Verdrängens widersetzten und sich um die Erneuerung eines jüdischen-christlichen Gesprächs bemühten, auch neutestamentliche Studien nach exegetischen Ansätzen zur Überwindung von Antijudaismus suchten. Z. T. inspiriert durch die Forschung im anglo-amerikanischen Raum, aber auch durch die grundlegenden Debatten, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland befassten, haben etwa Peter von der Osten-Sacken27 vom Institut für Kirche und Judentum in Berlin und Markus Barth in Basel28 sowie Theolog*innen, die sozialgeschichtliche Ansätze in der neutestamentlichen Wissenschaft anwandten, wie Luise Schottroff, Ekkehard und Wolfgang Stegemann und Klaus Wengst, diesbezüglich signifikante 23 24
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Vgl. a. a. O., 422. Vgl. ALBERT SCHWEITZER: Paul and His Interpreters, London 1912; vgl. dazu auch JAMES CARLETON-PAGET: Albert Schweitzer and the Jews, in: HTR 107 (2014), 363–398. Zur Infragestellung des Konzepts ‚Religion‘ vgl. CARLIN A. BARTON / DANIEL BOYARIN (Hg.): Imagine No Religion. How Modern Abstractions Hide Ancient Realities, New York 2016, und BRENT NONGBRI: Before Religion. A History of a Modern Concept, New Haven (CT) 2013. Vgl. JOHANN BAPTIST METZ / EUGEN KOGON (Hg.): Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmordes am jüdischen Volk, Freiburg i. Br. 41989; DOROTHEE SÖLLE: Leiden, Stuttgart 1973; HELMUT GOLLWITZER: Der Jude Paulus und die deutsche neutestamentliche Wissenschaft, in: EvTh 34 (1974), 276–304. Vgl. PETER VON DER OSTEN-SACKEN: Grundzüge einer Theologie im christlich-jüdischen Gespräch (ACJD 12), München 1982, zu erwähnen ist auch der Sammelband DERS.: Der Gott der Hoffnung. Gesammelte Aufsätze zur Theologie des Paulus (SKI NF 3), Leipzig 2014, mit Beiträgen aus beinahe 50 Jahren. Vgl. MARKUS BARTH: Die Stellung des Paulus zum Gesetz, in: EvTh 33 (1973), 496–526; DERS.: The People of God (JSNTS 5), Sheffield 1983.
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Forschungsarbeiten vorgelegt.29 Hier wurden mit Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums und der Suche nach dem Gespräch mit jüdischen Forscher*innen neue Wege gesucht, auch gestützt durch die AG Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, der einige dieser Forscher*innen angehörten. Diese Ansätze wurden aber oft als nicht den Standards einer Universitätsdisziplin entsprechend marginalisiert und konnten nur begrenzte Wirkung entfalten. Diese Breitenwirkung setzte wie erwähnt zunehmend mit Sanders’ Publikation ein und hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Sanders selbst mit jüdischen Forscher*innen direkt zusammengearbeitet hat, so z. B. mit Albert I. Baumgarten.30 Die Erforschung der jüdischen Antike erfolgte damit unter anderen hermeneutischen Voraussetzungen als diejenige der ausschließlich christlichen Kolleg*innen, da sie nun als Teil der eigenen jüdischen Geschichte wahrgenommen und analysiert wurde. Es entstanden neue Ansätze, die nicht mehr davon ausgingen, dass mit der Christus-Botschaft eine unmittelbare Trennung jüdischer und christlicher Traditionen einherging, sondern die auf Grund von Text-Analysen, historischer und auch archäologischer Forschungen Spuren einer viel größeren Analogie und Übereinstimmung zwischen Texten und Vorstellungen, die früher der einen oder anderen Tradition zugeordnet wurden, fanden. Das ist u. a. auch der Tatsache zu verdanken, dass nun Wissenschaftler*innen unterschiedlichster Disziplinen miteinander auf Augenhöhe debattierten. Die sensationellen Funde von Qumran eröffneten Zugänge zu bis dahin unbekannten jüdischen Texten und Vorstellungen, die von der Breite und Diversität jüdischer Traditionen zeugen. Zwar wurden die Funde zunächst vor allem aus christlicher Perspektive interpretiert, indem z. B. Qumran selbst als eine Art Kloster eingeordnet wurde und vor allem nach Parallelen und Analogien zu neutestamentlichen Vorstellungen gesucht wurde. Das führte schließlich zu jüdischen Reaktionen, wie u. a. an der Publikation von Reclaiming the Dead Sea Scrolls von Lawrence H. Schiffmann deutlich wird, der im Vorwort schreibt: „This book aims to correct a fundamental misreading of the Dead Sea Scrolls. For some forty-five years, the scholars publishing and interpreting the scrolls have focused almost singlemindedly on the scrolls’ significance for our understanding of
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Vgl. LUISE SCHOTTROFF / WOLFGANG STEGEMANN: Jesus von Nazareth, Hoffnung der Armen (UTb 639), Stuttgart 1978; EKKEHARD W. STEGEMANN: Der Jude Paulus und seine antijüdische Auslegung, in: ROLF RENDTORFF / EKKEHARD W. STEGEMANN (Hg.): Auschwitz – Krise der christlichen Theologie (ACJD 10), München 1980, 117–139; KLAUS WENGST: Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Der historische Ort des Johannesevangeliums als Schlüssel zu seiner Interpretation (BThSt 5), Neukirchen-Vluyn 1981. Vgl. ALBERT I. BAUMGARTEN: The Politics of Reconciliation: The Education of R. Judah the Prince, in: ALAN MENDELSON (Hg.): Jewish and Christian Self Definition. Volume 2. Aspects of Judaism in the Graeco-Roman Period, London 1981, 213–225.
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Kathy Ehrensperger early Christianity. This is the first book ever written to explain their significance in understanding the history of Judaism.“31
Hier wird deutlich, wie wesentlich die Erforschung der Zeit des Zweiten Tempels durch jüdische Forscher*innen ist, um eine einseitige christlich geprägte Perspektive auf die Zeugnisse dieser Zeit zu überwinden. Auch die archäologische Forschung, insbesondere die Erforschung von Inschriften, leistet hier einen wesentlichen Beitrag. So zeigte die Erforschung von Synagogeninschriften, dass, anders als bisher angenommen, durchaus auch Frauen Leitungspositionen innehaben konnten.32 Und die Sammlungen von jüdischen Inschriften der Diaspora von David Noy, Walter Ameling und von einem Team, das an einer entsprechenden Sammlung von Zeugnissen aus Israel/Palästina arbeitet, gewähren andere und neue Einblicke in jüdisches Leben als die bekannteren Textzeugnisse.33 Diese Erforschung der Zeit des Zweiten Tempels als jüdische Geschichte hat auch zu neuen Einsichten bezüglich der Einordnung der Christus-Bewegung geführt. Nicht mehr nur das Judesein Jesu wird nicht mehr infrage gestellt und weitestgehend heute anerkannt,34 auch Paulus wird zunehmend als Jude seiner Zeit gesehen.35 Die Einordnung dieser messianischen Bewegung und der Texte, die einige Jahrhunderte später als Neues Testament kanonisiert wurden, in die jüdischen Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels, wird von vielen Forscher*innen als gegeben angesehen, und das Auseinandergehen der Wege, ‚the parting
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LAWRENCE H. SCHIFFMANN: Reclaiming the Dead Sea Scrolls. The History of Judaism. The Background of Christianity. The Lost Library of Qumran, Philadelphia 1994, xiii. Vgl. BERNADETTE BROOTEN: Women Leaders in Ancient Synagogues: Inscriptional Evidence and Background Isssues (BJSt 36), Chico (CA) 1982. Vgl. DAVID NOY (Hg.): Jewish Inscriptions of Western Europe I: Italy (excluding the City of Rome), Spain and Gaul, Cambridge (UK) 1993; DERS. (Hg.): Jewish Inscriptions of Western Europe II: The City of Rome, Cambridge (UK) 1995; DERS. u. a. (Hg.): Inscriptiones Judaicae Orientis. Volume I. Eastern Europe (TSAJ 101), Tübingen 2004; WALTER AMELING (Hg.): Inscriptiones Judaicae Orientis. Volume II. Kleinasien (TSAJ 99), Tübingen 2004; DAVID NOY / HANSWULF BLOEDHORN (Hg.): Inscriptiones Judaicae Orientis. Volume III. Syria and Cyprus Tübingen (TSAJ 102), 2004; HANNAH M. COTTON u. a. (Hg.): Corpus Inscriptionum Iudaeae/ Palaestinae. Volume 1. Jerusalem. Part 1. 1–704, Berlin 2010, und die seither erschienenen Bände der Serie. Vgl. z. B. AMY-JILL LEVINE: The Misunderstood Jew. The Church and the Scandal of the Jewish Jesu, New York 2006; WALTER HOMOLKA: Jewish Jesus Research and its Challenge to Christology (JCPS 30), Leiden 2016. Vgl. u. a. MARK D. NANOS / MAGNUS ZETTERHOLM (Hg.): Paul within Judaism. Restoring the First Century Context to the Apostle, Minneapolis 2015; GABRIELE BOCCACINI / CARLOS A. SEGOVIA (Hg.): Paul the Jew. Rereading the Apostle as a Figure of Second Temple Judaism, Minneapolis 2016; WILLIAM S. CAMPBELL: The Nations in the Divine Economy. Paul’s Covenantal Hermeneutics and Participation in Christ, Lanham (MD) 2018; PAULA FREDRIKSEN: Paul, the Pagans’ Apostle, New Haven (CT) 2017.
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of the ways‘ von vielen erst im 4. Jahrhundert als wirklich vollzogen erachtet.36 Auch Vorstellungen wie die Logos-Christologie werden als Teil der jüdischen Vorstellungswelt der Zeit gesehen.37 Solche bisher als sich grundlegend von jüdischen Vorstellungen unterscheidend betrachtete Themen sind damit nicht mehr die ‚christliche‘ Ausnahme, sondern eine Variation von Vorstellungen, die in dieser Zeit in jüdischer Tradition vorhanden waren. Texte, historische Entwicklungen und Inschriften sind Zeugen einer reichen jüdischen Geschichte und die neutestamentlichen Texte werden weitgehend als Teil dieser Geschichte eingeordnet. Das Feld der Erforschung der Zeit des Zweiten Tempels hat sich von der Erforschung der Umwelt des Neuen Testaments zu einem eigenständigen Forschungsbereich jüdischer Geschichte der Antike entwickelt. Das zeigt sich vor allem daran, dass jüdische Forscher*innen, insbesondere aus den USA und Israel, Teil dieses Feldes sind. Obschon die Objektivität wissenschaftlichen Arbeitens auch von konfessionell gebundenen christlichen Forscher*innen betont wird, kann aus wissenschaftstheoretischer Sicht von hermeneutischen Voraussetzungen jeglichen Forschens nicht abgesehen werden. Auch jüdische Kolleg*innen sind selbstverständlich von solchen geprägt. Wesentlich sind eine diesbezüglich kritische Reflexion und Offenheit. Ein wesentlicher Unterschied zu früheren Perioden ist die Tatsache, dass die jüdischen Traditionen des Zweiten Tempels nicht mehr nur dem Interesse neutestamentlicher Forschung dienen, sondern ein Forschungsfeld in eigener Sache sind, als Teil jüdischer Tradition und Geschichte. Damit ist dieses Feld ein Feld, in dem sich Kolleg*innen mit unterschiedlichen hermeneutischen, methodischen Zugängen und Interessen – und aus unterschiedlichen Disziplinen begegnen können. Die Interaktion ist insbesondere für den anglo-amerikanischen und israelischen Raum weniger von einem institutionellen Macht- und Interessengefälle geprägt, was die gegenseitige Wahrnehmung und Diskussion grundlegend verändert. Für den deutschsprachigen Raum sind diesbezüglich erfreuliche Ansätze entstanden. Da hier das demographische Ungleichgewicht noch über lange Zeit nicht ausgeglichen werden kann und zahlenmäßig jüdische wissenschaftliche Institutionen mit den protestantischen und katholischen nicht auch nur annähernd gleichziehen können, sind Kooperationen mit entsprechenden jüdischen Institutionen, die im deutschsprachigen Raum bestehen, ebenso wie mit jüdischen Institutionen und
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Vgl. dazu DANIEL BOYARIN: Borderlines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004; ANNETTE Y. REED / ADAM H. BECKER (Hg.): The Ways that Never Parted. Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages (TSAJ 95), Tübingen 2003; PAULA FREDRIKSEN: When Christians were Jews. The First Generation, New Haven 2019; deutsche Übersetzung: DIES: Als Christen Juden waren. Mit einem Vorwort von KATHY EHRENSPERGER (JuChr 27), Stuttgart 2021. Vgl. DANIEL BOYARIN: The Gospel of the Memra. Jewish Binitarianism and the Prologue to John, in: HTR 94 (2001), 243–284 und die kontroverse Auseinandersetzung in PETER SCHÄFER: Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017.
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Kathy Ehrensperger
Forscher*innen in internationalen Netzwerken von ganz wesentlicher Bedeutung. So ist zu hoffen, dass diese weiterhin gestärkt und gefördert werden. Der wissenschaftliche Dialog und die entsprechenden Netzwerke sind wesentlich nicht nur um der Forschung willen. Diese Forschung steht im Kontext der Vertiefung des Verstehens der Vielfalt der jüdischen Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels und der Schriften, die zum Neuen Testament wurden, und dient damit der Suche nach der Überwindung anti-jüdischer Tendenzen, die durch christliche Auslegungstraditionen etabliert wurden und weiterhin in offensichtlicher, aber auch in versteckter Weise Antisemitismus nähren. Es geht also nicht nur um das historische Verstehen von Menschen und Traditionen der Antike. Es geht um Respekt und Verstehen im Hier und Heute. Die Hoffnung Abraham Geigers, dass sich durch die Institutionalisierung Jüdischer Theologie Respekt und Anerkennung jüdischer Forschung und jüdischen Lebens erreichen lasse, ist immer noch inspirierend und von der Möglichkeit, Realität zu werden, nicht mehr so weit entfernt wie im 19. Jahrhundert. Aber es sind nach wie vor viele Schritte zu tun auf diesem Weg.
Abstract Während langer Zeit war die Erforschung der jüdischen Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels geprägt von der Perspektive christlicher Forscher, die diese als Vorläufer des Neuen Testaments, oder im Gegensatz dazu stehend verstanden. Ansätze zu einer Veränderung entstanden in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts durch grundlegende Neuansätze im Verstehen jüdischer Traditionen in ihrer Eigenständigkeit, die Besetzung von entsprechenden Lehrstühlen durch jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die Förderung eines Wissenschaftsdiskurses auf Augenhöhe.
„Das Neue Testament – jüdisch erklärt“
„Das Neue Testament – jüdisch erklärt“
Zur deutschen Ausgabe des „Jewish Annotated New Testament“1
Wolfgang Kraus
WOLFGANG KRAUS
„Jesus war kein Christ, sondern Jude. Er verkündete keinen neuen Glauben, sondern er lehrte, den Willen Gottes zu tun.“2 Als ich im Theologiestudium, das ich 1974 in Neuendettelsau begonnen habe, diesen Satz des christlichen Alttestamentlers und Religionsgeschichtlers Julius Wellhausen das erste Mal hörte, zuckte ich zusammen. Jesus kein Christ, sondern Jude? Das hatte mir in meinem evangelikalen Milieu, aus dem ich kam, noch niemand gesagt. Das musste ich erst einmal verdauen. Als etwas später Pinchas Lapide, ein jüdischer Religionswissenschaftler, der sich seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr für den jüdisch-christlichen Dialog eingesetzt hat, in einer Diskussionsveranstaltung die Bemerkung fallen ließ: „Das Christentum ist die einzige Religion, deren Religionsstifter einer anderen Religion angehörte“, konnte ich das als ironische Bemerkung verstehen und darüber schmunzeln ohne irritiert zu sein. Die Erkenntnis, dass Jesus ins Judentum gehört, steht vor dem Beginn der Beschäftigung mit dem Jewish Annotated New Testament (JANT), dessen erste Auflage im Jahr 2011 bei Oxford University Press erschienen ist, herausgegeben von Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler. Als ich der Herausgeberin A.-J. Levine bei der Jahrestagung der Society of New Testament Studies in Amsterdam 2015 begegnete, schlug ich ihr vor, die englische Ausgabe auch auf Deutsch herauszubringen. Sie war sogleich von dem Gedanken angetan, wies aber darauf hin, dass eine zweite Auflage in Bearbeitung 1
2
The Jewish Annotated New Testament, hg. v. AMY-JILL LEVINE / MARC ZVI BRETTLER, Oxford 2 2017 (JANT); Das Neue Testament – Jüdisch erklärt, hg. v. WOLFGANG KRAUS / MICHAEL TILLY / AXEL TÖLLNER, Stuttgart 22022 (NTJE). JULIUS WELLHAUSEN: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905, 113 (vgl. JOSEPH KLAUSNER: Jesus von Nazareth, Berlin 1930, 505.572). Zur neueren Diskussion um die Begrifflichkeit ‚Jude / Judäer‘ siehe die Essays von SHAYE J. D. COHEN: Judentum und jüdische Identität, in: NTJE (s. Anm. 1), 635–640, und JOSHUA D. GARROWAY: Ioudaios, in: NTJE (s. Anm. 1), 640–643, sowie HEINZ TENHAFEN: Jesus von Nazareth: Weder „Jude“ noch „Christ“? John H. Elliotts Thesen zur kollektiven Identität Jesu und des Judentums seiner Zeit. Darstellung und Kritik, KuI 25 (2010), 60–70 und die dort genannte Literatur.
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Wolfgang Kraus
sei und man das Erscheinen der zweiten, viel umfangreicheren Ausgabe abwarten solle, inzwischen aber schon Vorbereitungen treffen könne. Das Neue Testament – jüdisch erklärt (NTJE) enthält Einleitungen zu allen neutestamentlichen Büchern, fortlaufende Erläuterungen zu den einzelnen Versen, Info-Boxen zu Sachfragen des Textes, Essays mit breiteren Ausführungen zu bestimmten wichtigen Themen und einen Anhang mit Karten, Literaturhinweisen usw. Während der englische Text auf Grundlage der New Revised Standard Version (NRSV) verfasst wurde, stellt die deutsche Übersetzung eine Adaption an den der Ausgabe zugrunde liegenden Text der 2016 revidierten Lutherbibel dar. Das bedeutet, dass wir so exakt wie möglich die englischen Erläuterungen wiedergegeben haben, sofern sie sich auf inhaltliche Aspekte des Bibeltextes bzw. auf den griechischen Urtext beziehen. Wo sie sich speziell auf den Text der NRSV beziehen, haben wir sie in Absprache mit den Autor:innen der englischen Ausgabe an den Luthertext angeglichen, an einigen Stellen auch übergangen. In wenigen Fällen finden sich Anmerkungen der deutschen Herausgeber, etwa wenn ein Hinweis auf Besonderheiten der Lutherbibel angemessen schien. Bei den Essays war die Situation anders: Sie wurden exakt aus dem Englischen übersetzt. Bei bestimmten Essays haben wir Ergänzungen aufgenommen, die sich auf die Situation in Deutschland bzw. in Europa beziehen. Ebenso wurden einige zusätzliche Essays in die deutsche Ausgabe aufgenommen. Auch sie beziehen sich auf Spezifika der Situation in Deutschland und Europa. Es handelt sich um „Ertragen können wir sie nicht“ – Martin Luther und die Juden von Walter Homolka, Franz Rosenzweig und Luthers Bibelübersetzung von Micha Brumlik, Zum jüdisch-christlichen Dialog im deutschsprachigen Raum von Jehoschua Ahrens und Wegbereiter des jüdisch-christlichen Dialogs im 19. und 20. Jh. im deutschsprachigen Raum von Daniel Alter. Der fruchtbare Dialog zwischen Juden und Christen – Christen und Juden hat in den letzten Jahrzehnten mit dazu beigetragen, dass beide Seiten gelernt haben, sich besser zu verstehen und zu respektieren. Das hat in jüdischen und christlichen Erklärungen und Dokumenten Niederschlag gefunden.3 Noch gibt es viel zu tun, denn was auf der Ebene von Fachgelehrten, Leitungsorganen oder Arbeitskreisen gilt, trifft noch nicht für die Allgemeinheit bzw. die Situation in den Gemeinden zu. Antijüdische Stereotype und Vorurteile sind noch immer weit verbreitet. Im Folgenden will ich zunächst einige Schlaglichter der jüdischen Forschung am Neuen Testament seit dem 19. Jahrhundert aufzeigen, um die Fragestellung dann in den größeren theologisch-religionsgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. 3
Vgl. hierzu ROLF RENDTORFF / HANS HERMANN HENRIX (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945–1985, Paderborn / München 1988; HANS HERMANN HENRIX / WOLFGANG KRAUS (Hg.): Die Kirchen und das Judentum II. Dokumente von 1986–2000, Paderborn / Gütersloh 2001.
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1.
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Jüdische Forschung am Neuen Testament – Schlaglichter seit dem 19. Jahrhundert
Die Voraussetzung für eine jüdische wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Neuen Testament ist die sogenannte historisch-kritische Bibelforschung, die seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland entstanden ist. Sie ist ein Kind der Aufklärung und hatte daher manchmal auch antikirchliche Züge. Aber wer weiß, wie die Kirchen die wissenschaftliche Forschung zu behindern suchten, kann dies unschwer nachvollziehen. Ich erinnere nur an die päpstliche Botschaft mit dem Titel Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien, in der es heißt, dass „neue Erkenntnisse […] dazu Anlaß [geben], in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese“ zu sehen.4 Dieses Ernstnehmen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgte nicht vor 100 Jahren, sondern durch Papst Johannes Paul II. vor etwas mehr als 20 Jahren, am 22. Oktober 1996. Die Bibel ist ein über einen langen Zeitraum hinweg entstandenes Literaturwerk, das Menschen, die von ihrem Glauben überzeugt waren, verfasst haben. Sie mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen bedeutet nicht, unsachgemäß damit umzugehen. Solche Untersuchung ist nicht nur erlaubt, sondern geboten.5 Der Sachverhalt lässt sich sehr gut an der Jesusforschung demonstrieren. War es in den Jahrhunderten vorher so, dass das kirchliche Dogma den Rahmen bildete, innerhalb dessen ausschließlich von Jesus gesprochen werden konnte, so wurde dies durch die Aufklärung problematisiert. Auch der historische Jesus, der Jesus des gelebten Lebens, der Handwerkersohn aus Nazareth, wurde vorher vom Dogma her verstanden als wahrer Gott und wahrer Mensch. Jetzt fing man an, die Texte untereinander zu vergleichen, und stellte Unterschiede, ja Widersprüche fest und konnte Entwicklungslinien herausarbeiten. Bestimmte vorher das Dogma über die Historie, was sein kann und was sein darf, so bestimmte jetzt die Historie selbst die Anschauung, und das Dogma wurde von ihr her kritisiert. Diese Art der Forschung ist im protestantischen Bereich entstanden. Auch im Judentum wurde sie im Zuge der Aufklärung übernommen. Es gab zwar schon vorher, etwa im Mittelalter und der frühen Neuzeit, jüdische Beschäftigung mit dem Neuen Testament und mit Jesus, aber sie war vor allem apologetisch und polemisch ausgerichtet. Eine konstruktivere Beschäftigung damit erfolgte im 4
5
„Heute, beinahe ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der Enzyklika [sc. Humani generis], geben neue Erkenntnisse dazu Anlaß, in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese zu sehen“ (Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien. Botschaft an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anläßlich ihrer Vollversammlung [22. Oktober 1996], L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, 1. November 1996, Nr. 44, 1f.). Das habe ich in meinem ersten Semester an der Augustana-Hochschule bei Prof. Dr. August Strobel gelernt.
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Zuge der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert,6 wenngleich es auch dort noch viel Polemik gibt.7 Insgesamt gab es viele, die sich mit Jesus und dem Neuen Testament beschäftigten. Walter Homolka nennt in seinem Jesusbuch 34 jüdische Autoren und neuerdings auch Autorinnen.8 Es gibt aber noch mehr. Man hat diese Geschichte der jüdischen Auslegung des Neuen Testaments als „eine Heimholung“ Jesu ins Judentum bezeichnet.9 Jesus wird dabei in der Regel verstanden als prophetischer Mahner, exemplarischer Jude, Revolutionär oder Freiheitskämpfer, Hyper-Pharisäer, großer Bruder und messianischer Zionist. Ich gehe auf einige exemplarische und markante Personen ein.
1.1
Abraham Geiger (1810–1874)10
Einer der ersten, die auf jüdischer Seite diese Art Forschung betrieben, war Abraham Geiger.11 Er war Rabbiner und einer der Wegbereiter des liberalen Judentums. Seine Absicht war es, eine Art „Gegengeschichte“12 zu schreiben zu dem traditionellen christlichen Verständnis Jesu und des Christentums. Wurde Jesus etwa von Friedrich Schleiermacher, dem so genannten Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, möglichst weit vom Judentum und dem Alten Testament abgerückt, so stellte ihn A. Geiger mitten hinein ins Judentum. Schleiermacher war an Jesu einzigartiger Religiosität interessiert; dieser Zugang ermöglichte es ihm, alles Jüdische zu vernachlässigen. Was ihn interessierte, war Jesu religiöses Bewusstsein und zwar im Sinn einer allgemeinen Humanität. Dass dieser Mensch ein Jude war, spielte keine Rolle und war eher störend.13 Geiger hingegen zeichnet von Jesus das Bild eines Pharisäers, der in seiner Zeit großen Einfluss hatte. „Er war ein Jude, ein pharisäischer Jude, galiläischer Färbung, ein Mann, der die Hoffnungen der Zeit teilte und diese Hoffnungen in sich erfüllt glaubte. […] Er hob nicht
6 7 8 9 10
11
12 13
WALTER HOMOLKA: Der Jude Jesus – Eine Heimholung, Freiburg 42020, 77. A. a. O., 98. A. a. O., 96f. So auch im Titel des Buches von W. Homolka (s. Anm. 6). Siehe zu Abraham Geiger SUSANNA HESCHEL: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie (Sifria 2), Berlin 2001. ABRAHAM GEIGER: Das Judentum und seine Geschichte, hg. v. LUDWIG GEIGER, Breslau 1910 (unveränderter Nachdruck der Erstausgabe in drei Teilen 1864–1871). Zu diesem Stichwort siehe HESCHEL: Jesus (s. Anm. 10), 216. Zum Verhältnis von Geiger zu Schleiermacher siehe HESCHEL: Jesus (s. Anm. 10), 215. Sie verweist auf Geigers Aufsatz: ABRAHAM GEIGER: Die Schleiermacher-Feier und die Juden, JZWL 7 (1869), 211–214, 213f.
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im Entferntesten irgend etwas vom Judentum auf, er war ein Pharisäer, der auch in den Wegen Hillels ging.“14
Jesu Lehren und Handeln kennzeichne nichts Einzigartiges oder Originelles. In der zweiten Phase des Christenums, als dieses sich in der antiken Welt ausbreitete, hätten vor allem hellenistisch geprägte Juden die ursprüngliche Lehre Jesu verlassen.15 Derjenige, der dann das Umfeld des Judentums endgültig preisgab, war Paulus, „er hatte den Mut, die Brücke abzubrechen“16. Schließlich siegte das Heidenchristentum über das Judenchristentum.17 Dieses Erklärungsmodell der Urspünge des Christentums lieferte Geiger die Möglichkeit, das sich später entwickelnde Christenum als Verrat an Jesus zu bezeichnen. Zugleich konnte er damit das Judentum davor bewahren, als eine durch das Christentum überholte und überlebte Form des Glaubens gelten zu müssen. Aufseiten des Christentums wurde Geigers Position – die durchaus der Polemik nicht entbehrt – nicht als Auffoderung empfunden, sich mit den jüdischen religionsgeschichtlichen Quellen intensiver zu beschäftigen oder gar als Angebot, in ein Gespräch einzutreten, sondern einfach nur als Anmaßung.18
1.2
Leo Baeck (1873–1956)
Der zweite jüdische Gelehrte, den ich nennen möchte, ist Rabbiner Leo Baeck. Er wurde in Posen geboren, besuchte das jüdisch-theologische Seminar in Breslau und dann die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Im Winteresemester 1899/1900 hielt der bedeutende Berliner Kirchen- und Dogmenhistoriker Adolf (von) Harnack an der Berliner Universität eine Vorlesung unter dem Titel Das Wesen des Christentums.19 An Jesus interessierte ihn dessen Persönlichkeit und was durch sie epochemachend angestoßen wurde. Das Judentum galt ihm als überholte und obsolet gewordene Vorstufe des Christentums – eines Christentums, das in Harnacks Sicht ein undogmatisches sein
14 15 16 17 18
19
GEIGER: Judentum (s. Anm. 11), 118. Vgl. a. a. O., 124–131. A. a. O., 131. Vgl. a. a. O, 134. Heinrich Julius Holtzmann hatte auf Geigers Veröffentlichung des „1. Theils“ mit einer polemischen Rezension in der Protestantischen Kirchenzeitung (10 [1865], 225–237) reagiert, was Geiger zu einem – durchaus nicht weniger polemischen – „Offenen Sendschreiben“ im „2. Theil“ veranlasste (vgl. GEIGER: Judentum [s. Anm. 11], 185–203). Der Nachdruck von 1910 enthält diesen Anhang nicht. ADOLF HARNACK: Das Wesen des Christentums. 16 Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten, Leipzig 1900 (Neuauflage: DERS.: Das Wesen des Christentums, hg. v. TRUTZ RENDTORFF, Gütersloh 1999).
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musste. Denn darüber bestand bei Harnack kein Zweifel: die Dogmen sind zeitbedingte Versuche, die Wahrheit auszudrücken. Mit Bezug auf J. Wellhausen kennzeichnete Harnack die religiöse Überlieferung des zeitgenössischen Judentums als „beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht und um seinen Ernst gebracht durch tausend Dinge, die sie auch für Religion hielten und so wichtig nahmen wie die Barmherzigkeit und das Gericht“20. „Die reine Quelle des Heiligen war zwar längst erschlossen, aber Sand und Schutt war über sie gehäuft worden und ihr Wasser war verunreinigt.“21
Die reiche und tiefe Ethik des Alten Testaments, insbesondere der Propheten, sei durch Kultus und Ritual ins Gegenteil verwandelt worden. Seit der Zeit des Exils, also seit dem 6. Jahrhundert v. Chr., diagnostizierte Harnack einen religiös-nationalen Verfallsprozess. Dem habe Jesus ein Ende gesetzt: „Nun aber brach der Quell frisch hervor und brach sich durch Schutt und Trümmer einen neuen Weg, durch jenen Schutt, den Priester und Theologen aufgehäuft hatten, um den Ernst der Religion zu ersticken.“22
Leo Baeck reagierte darauf mit dem Buch Das Wesen des Judentums (1905).23 Baeck bemängelte, dass Harnack die gesamte jüdische Forschung ignoriert habe, was zu einem Fehlurteil über die Pharisäer führte.24 Baeck zeigt die universalen Aspekte der jüdischen Religion auf, deren Gott sich auf die ganze Menschheit bezieht.25 Das ‚Wesen des Judentums‘ gründet nach Baeck im ethischen Monotheismus der Propheten, in dessen Konsequenz eine „sittliche Unmittelbarkeit“ des Menschen zu Gott grundgelegt sei.26 Erst Paulus habe – anders als Jesus – fremde Elemente in den ursprünglichen Glauben eingetragen. 1938, mitten in der Nazi-Zeit, veröffentlichte Baeck das Buch Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte.27 Baeck versucht darin, auf das ursprüngliche Evangelium jenseits späterer Übermalungen zu stoßen.
20 21 22 23
24 25 26 27
A. a. O., 31 (= Neuauflage: 84). Ebd. (= Neuauflage: 85). Ebd. (= Neuauflage: ebd.). LEO BAECK: Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 51991 (Erstauflage: LEO BÄCK: Das Wesen des Judentums [Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums], Berlin 1905, verschiedene Neuauflagen, zuletzt: DERS., Das Wesen des Judentums, Werke, Bd. 1, hg. v. ALBERT H. FRIEDLANDER / BERTHOLD KLAPPERT, Gütersloh 2001). HOMOLKA: Jesus (s. Anm. 6), 113. BAECK: Wesen (s. Anm. 23), bes. 65–67.77–81. A. a. O., 182. LEO BAECK: Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin 1938 (Neudruck in: DERS.: Aus drei Jahrtausenden, Werke, Bd. 4, hg. v. ALBERT H. FRIEDLANDER / BERTHOLD KLAPPERT / WERNER LICHARZ, Gütersloh 2006, 403–474).
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„In dem alten Evangelium […] steht mit edlen Zügen ein Mann vor uns, der während erregter, gespannter Tage im Lande der Juden lebte und half und wirkte, duldete und starb, ein Mann aus dem jüdischen Volke, auf jüdischen Wegen, im jüdischen Glauben und Hoffen […] ein Jude unter Juden.“28
Und Baeck fügt hinzu als würde er eine sehr viel spätere Einsicht vorwegnehmen wollen: „Das Judentum darf an ihm nicht vorübergehen, es nicht verkennen, noch hier verzichten wollen. Auch hier soll das Judentum sein Eigenes begreifen, um sein Eigenes wissen.“29
1.3
Josef Gedalja Klausner (1874–1958)
Josef Gedalja Klausner wurde 1874 in der Nähe von Vilnius geboren. Er wuchs in einer sehr traditionellen Familie auf, studierte dann unter anderem in Heidelberg, wurde mit einer Dissertation über Die Messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten zum Dr. phil. promoviert und ging 1919 nach Palästina, wo er die Hebräische Universität mitbegründet hat.30 1922 erschien auf Hebräisch sein Buch Jeschu ha-Nozri (1930 ins Deutsche übersetzt: Jesus von Nazaret).31 Es war die erste „großangelegte wissenschaftliche Darstellung des Lebens und der Lehre Jesu vom jüdischen Standpunkt aus gesehen“.32 Klausner stellt fest: „Jesus von Nazaret […] war allein das Produkt Palästinas und des reinen unvermischten, von keinerlei fremden Einlüssen berührten Judentums. […] Seine Heimat war schon damals das Bollwerk stärksten jüdischen Patriotismus. […] Seine Lehre läßt sich durch das biblische und pharisäische Judentum seiner Zeit vollkommen und ausnahmslos erklären.“33
Klausner schrieb auf der Höhe der damaligen kritischen Forschung. Er zog auch Quellen heran, die bislang wenig Berücksichtigung erfahren hatten. Enthält Jesu Lehre auch Gegensätze zum Judentum? Ex nihilo nihil fit ist Klausners Ansatz. Er entdeckt Gegensätze darin, dass Jesus (1) eine extreme Ethik propagierte, die nur für Einzelne, aber nicht für eine Gemeinschaft parktikabel war, und – hier spricht wohl der Zionist – Klausner findet sie (2) in der 28 29 30
31 32 33
A. a. O., 69f. A. a. O., 70. JOSEPH KLAUSNER: Die Messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten, kritisch untersucht und im Rahmen der Zeitgeschichte dargestellt, Krakau 1903. JOSEPH KLAUSNER: Jesus von Nazaret. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin 1930. HOMOLKA: Jesus (s. Anm. 6), 121. KLAUSNER: Jesus (s. Anm. 32), 505.
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Tatsache, dass Jesus dem Gedanken der jüdischen Nation zu wenig Aufmerksamkeit zollte.34 Sowohl auf jüdischer wie auf christlicher Seite fand sein Buch freudige Zustimmung und heftigsten Widerspruch.35 In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 16.9.2021 unter dem Titel „Unverbrüchlicher Sinn für Fairness“ von Johann Hinrich Claussen heißt es anerkennend: „Klausner [führte] in seinem Jesus-Buch eine Art jüdisch-christlichen Dialog, der aber nicht auf Harmonisierung zielte, sondern auf ein historisch-theologisch solides Selbst- und Fremdverstehen. Das Bedeutsame und Tiefsympathische dieser Differenz-Theologie war sein unverbrüchlicher Sinn für Fairness.“36
Zu seinem Großneffen, dem israelischen Schriftsteller Amos Oz, sagte J. Klausner einmal: „In deiner Schule wird man dich gewiss lehren, diesen tragischen und wunderbaren Juden Jesus zu verabscheuen, und ich hoffe nur, man bringt dir nicht auch noch bei, auszuspucken, wann immer du seinem Bildnis begegnest. Wenn du einmal groß bist, lies bitte deinen Lehrern zum Trotz das Neue Testament, und du wirst entdecken, dass er von unserem Fleisch und Blut gewesen ist, durch und durch eine Art Zaddik oder Wundertäter. Zwar war er ein Träumer ohne jeglichen Sinn für Politisches, aber es gebührt ihm ein Platz im Pantheon der Großen Israels.“37
1.4
David Flusser (1917–2000)
David Flusser wurde 1917 in Wien geboren, studierte in Prag klassische Philologie und Germanistik. 1939 kam er nach Jerusalem, wo er klassische Philologie und jüdische Geschichte studierte. Er wurde Professor an der Hebräischen Universität, wo er Geistesgeschichte, Urchristentum und antike griechische Religion lehrte. In Deutschland ist Flusser am ehesten bekannt als Verfasser der rowohlt-Bildmonographie Jesus, die bereits 1968 erschienen ist.38 Er beschreibt darin Jesus dezidiert als einen jüdischen Rabbi im Kontext seiner Zeit und versucht zugleich nachzuweisen, dass es möglich sei, eine Lebensgeschichte Jesu zu 34 35
36
37 38
Vgl. a. a. O., 528.542.573. Vgl. dazu GÜNTHER BAUMBACH: Fragen der modernen jüdischen Jesusforschung an die christliche Theologie, ThLZ 102 (1977), 625–636, 627. Zu Klausner siehe auch die Rezensionen von Gustav Dalman (ThLZ 56 [1931], 7–10), Gerhard Kittel (Theologisches Literaturblatt 44 [1923], 241–246.257–263) und WERNER GEORG KÜMMEL: Jesus und Paulus. Zu Joseph Klausners Darstellung des Urchristentums, Judaica 4 (1948), 1–35. https://www.sueddeutsche.de/kultur/jesus-von-nazareth-biografie-joseph-klausner-1.54 12715 (letzter Zugriff am 01.11.2021). Zitiert nach Claussen (ebd.). DAVID FLUSSER: Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rowohlt Monographie), Hamburg 1968 (Neuauflage: Hamburg 1999).
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schreiben. Für ihn war die Heimholung Jesu ins Judentum das Allerselbstverständlichste. In einer Rezension des von ihm geschätzten Jesusbuches von Géza Vermes schrieb er: „Nie würde ich ein Buch mit dem Namen ‚Der Jude Jesus‘ schreiben. Nicht nur ist das Faktum für mich selbstverständlich, sondern auch hat es sich gezeigt, dass wenn ein jüdischer Autor betont vom Juden Jesus spricht, dann steht dahinter eine bestimmte Tendenz, und eine ausgesprochene Tendenz beeinflusst notwendigerweise die Ergebnisse der Forschung. Aber, wenn ich lese, was man heute im allgemeinen über Jesus vorgelegt bekommt, scheint es, dass einem aufrechten Juden manchmal nichts anderes übrigbleibt, als ‚mit dem Hammer zu philosophieren‘.“39
In seiner Interpretation der Gestalt Jesu kam er zu dem Ergebnis, dass man Jesus als einen charismatischen Apokalyptiker verstehen muss, dem ein außerordentliches Bewusstsein seiner Sendung zuzubilligen ist. Anders als manche christliche Exegeten, ging Flusser aufgrund seiner historischen und philologischen Analysen davon aus, dass es unmöglich sei, Jesus jegliches hoheitliche Selbstverständnis zu bestreiten. In der Einführung zu seinem Buch Die letzten Tage Jesu in Jerusalem nennt Flusser seine Maxime: „Aber ich hoffe, dass ich nicht nur ein guter Jude, sondern auch ein guter Historiker bin, und da bleibt mir, und meinen Kollegen, nichts übrig, als die historischen Tatsachen objektiv und mit Bedacht zu untersuchen, auf die Gefahr hin, dass ich durch meine Analyse zu Ergebnissen komme, die bei manchen Lesern Unbehagen verursachen können.“40
David Flusser hat sich um eine Verortung des Urchristentums innerhalb des antiken Judentums verdient gemacht. Für den deutschsprachigen Raum waren außerdem Martin Buber, Schalom Ben-Chorin, Pinchas Lapide, Ernst-Ludwig Ehrlich und andere von großer Bedeutung. Die muss ich jetzt übergehen und komme noch zu Géza Vermes.
1.5
Géza Vermes (1924–2013)
Géza Vermes war lange Zeit am Oxford Centre for Hebrew and Jewish Studies tätig. Geboren in Ungarn, war er als Kind mit seinen Eltern zum Katholizismus konvertiert. In der Zeit des Holocaust wurde er von katholischen Schwestern gerettet. Nach 1945 wurde er zum Priester geweiht, kehrte aber 1957 wieder zum Judentum zurück. Er war ein weltweit anerkannter Spezialist für antikes Juden39
40
DAVID FLUSSER: Rezension zu Géza Vermes, Jesus the Jew. A historian’s reading of the Gospels, London 1973, in: FrRu 26 (1974), 95–96, 95. DAVID FLUSSER: Die letzten Tage Jesu in Jerusalem, Stuttgart 1982, 14f.
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tum, Qumranschriften, Aramaica, Rabbinica usw. Géza Vermes ist einer der Pioniere der Qumran-Forschung. Einer breiten Öffentlichkeit ist er jedoch durch seine Publikationen zu Jesus und dem Urchristentum bekannt geworden: 1973 erschien Jesus the Jew. A historian’s reading of the Gospels (übersetzt 1993: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien).41 Weitere Bücher folgten.42 Im Jahr 2012 erschien Christian Beginnings: From Nazareth to Nicaea, AD 30–325 (auf Deutsch 2016: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas),43 wo er seine Forschungen zusammenfasste. Im NTJE hat Géza Vermes den Beitrag über „Jüdische Wundertäter und Zauberei in der Spätzeit des Zweiten Tempels“ beigesteuert.44 Jesus war nach Vermes ein „heiliger jüdischer Mann“, ein Charismatiker, Exorzist, Wundertäter und Prediger, vergleichbar mit den Gestalten der Chassidim rischonim, der in der rabbinischen Literatur begegnenden „frühen Frommen“. „Jesus ist nicht den Pharisäern, Essenern, Zeloten oder Gnostikern zuzurechen, sondern gibt sich als einer der heiligen Wundertäter Galiläas zu erkennen.“45 Vermes stellt ihn in die Nähe von Chanina ben Dosa und Choni, den Kreiszieher, meint jedoch, dass „[j]eder objektive und unvoreingenommene Erforscher der Evangelien […] von der unvergleichlichen Überlegenheit Jesu beeindruckt sein [muss]“.46 Für Vermes war Jesus nicht der Stifter des Christentums, doch er war „einzigartig in der Tiefe seiner Einsicht und in seiner charakterlichen Größe“. Er war ein „unerrreichter Meister in der Kunst, den innersten Kern spiritueller Wahrheit freizulegen“47. Und noch an anderer Stelle ging Jesus über seine Vorgänger und Zeitgenossen hinaus: Er nahm „seinen Platz unter den Geächteten dieser Welt ein, unter denen, die von den ehrbaren Leuten verabscheut wurden. Sünder waren seine Tischgenossen, ausgestoßene Steuereintreiber und Prostituierte seine Freunde.“48
41 42
43
44 45 46 47 48
GÉZA VERMES: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993. GÉZA VERMES: Jesus and the World of Judaism, Minneapolis 1983 (Neuauflage: DERS.: Jesus in his Jewish Context, Minneapolis 2003); DERS.: The Religion of Jesus the Jew, Minneapolis 1993; DERS.: The Changing Faces of Jesus, London 2001; DERS.: The Authentic Gospel of Jesus, London 2004; DERS.: The Passion, London 2005 (deutsch: DERS.: Die Passion. Die wahre Geschichte der letzten Tage im Leben Jesu, Darmstadt 2006); DERS.: The Nativity. History and Legend, London 2006 (deutsch: DERS.: Die Geburt Jesu. Geschichte und Legende, Darmstadt 2007); DERS.: The Resurrection: History and Myth, London 2010. GÉZA VERMES: Christian Beginnings. From Nazareth to Nicaea, AD 30–325, London 2012 (deutsch: DERS.: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas, Berlin 2016). Vgl. NTJE (s. Anm. 1), 738–741 (zusammen mit Gideon Bohak). VERMES: Jesus (s. Anm. 43), 205. Ebd. A. a. O., 206. Ebd.
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2.
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Impulse jüdischer Forschung für christliche Theologie und für jüdische und christliche Leser:innen
Jüdische Forschung am Neuen Testament hat stets betont, dass Jesus nicht der Messias gewesen sei, dass er nicht Sohn Gottes sei und dass er eben ein Mensch des 1. Jahrhunderts gewesen ist. Christliche Forschung am Neuen Testament hat seit über 200 Jahren viel Energie darauf verwendet, um der historischen Gestalt Jesu näher zu kommen. Sie hat erarbeitet, dass zwischen der historischen Gestalt Jesu und der Botschaft von ihm und über ihn ein Unterschied besteht, und dass dieser Unterschied bereits die Überlieferung im Neuen Testament bestimmt. An vielen Stellen sind sich christliche und jüdische Forscher:innen heutzutage einig. Es legt sich daher die Frage nahe, ob man sich auf dieser gemeinsamen Ebene treffen könnte.
2.1
Inwiefern stellt der Bezug auf den historischen Jesus und nicht mehr den dogmatisch ‚überformten‘ Christus eine Möglichkeit des Gesprächs dar?
Provokant formuliert es Ernst-Ludwig Ehrlich: „Heute […] hat sich eine merkwürdige Situation ergeben: Christen werfen jene Frage auf, die für Juden bereits seit zwei Jahrtausenden grundsätzlich erledigt sind; andererseits aber finden sich Christen und Juden in einer recht ähnlichen Einschätzung der Persönlichkeit Jesu. Manche Christen haben ein dogmatisches Jesus-Bild in den Schrank gestellt, gleichzeitig aber stellen sich moderne Juden diesem Jesus von Nazaret und haben das jahrhundertelange Ignorieren aufgegeben. Juden, die sich heute für Jesus interessieren, sich mit ihm beschäftigen, das Neue Testament lesen und studieren, bleiben Juden. Die Frage ist freilich, und es ist wirklich nicht an uns, darauf eine Antwort zu geben, ob es noch Christentum sei, wenn Christen heute Jesus so verstehen, wie ihn gar nicht wenige Juden interpretieren.“49
Bei wichtigen Fragen sind heutige christliche Exegeten mit jüdischen einer Meinung: Vermutlich hat sich Jesus selbst nicht als ‚den Messias‘ angesehen, denn es gab zu seiner Zeit eine Vielfalt von Heilsgestalten bzw. Messiassen, die man erwartet hat. Sehr wahrscheinlich hat Jesus mit dem unmittelbar bevorstehenden Einbruch des Reiches Gottes gerechnet, als dessen Herold er sich sah. Er hat diesen 49
ERNST-LUDWIG EHRLICH: Eine jüdische Auffassung von Jesus, in: WILLEHAD PAUL ECKERT / HANS HERMANN HENRIX (Hg.): Jesu Jude-Sein als Zugang zum Judentum (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen 6), Aachen 21980, 35–49, 40.
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Einbruch des Reiches Gottes mit seinen Taten und seiner Botschaft verbunden gesehen und sah sich als göttlich beauftragter Mandatsträger. Ob Jesus selbst seinen Tod als „Rettung für die Vielen“ (Mk 10,45) verstanden hat oder ob es sich hierbei um eine nachösterliche Interpretation handelt, die dann im Neuen Testament durchgängig bezeugt wird, wird heftig diskutiert. Ich persönlich denke, Jesus hat seinen Tod im Sinn eines Prophetenschicksals verstanden und noch nicht als „Lösegeld für die Vielen“ (Mk 10,45). Ob er sich als ‚Sohn Gottes‘ verstanden hat, hängt davon ab, wie man ‚Sohn Gottes‘ definiert. Gewiß verstand er sich nicht im Sinn der späteren Dogmatik als ‚wahrer Mensch und wahrer Gott‘. Aber ‚Sohn Gottes‘ ist zunächst eine Bezeichnung, die Nähe zu Gott zum Ausdruck bringt. Abraham wird als Sohn Gottes bezeichnet. Der König gilt als Sohn Gottes (vgl. Ps 2; 2Sam 7). Wahrhaftige Fromme können Söhne Gottes genannt werden (SapSal 16,26), nicht im biologischen Sinn, sondern als Ausdruck einer engen Beziehung. Die spätere dogmengeschichtliche Entwicklung, die Jesus als ‚gleichwesentlich mit dem Vater‘ versteht, hat keinen direkten Bezugspunkt beim historischen Jesus. Eines könnte durch den Bezug auf den historischen Jesus und die Abkehr vom dogmatisch überformten Christus auf jeden Fall erreicht werden: Das Problem der Ignoranz jüdischer Forschung aufseiten der Christen wäre damit sicherlich gelöst. Jüdische Historiker wurden von ihren christlichen Zeitgenossen lange Zeit verächtlich behandelt. Die Situation hat sich zum Glück für beiden Seiten grundlegend gewandelt.
2.2
Kann es eine Koalition aus historisch-kritischer Exegese und jüdischer Forschung am Neuen Testament geben?
Die Ostererfahrungen der Jünger haben alles, was vorher war, in ein neues Licht getaucht. Und der Versuch, den jüdisch geprägten Glauben ins griechische Denken zu inkulturieren, hat zu neuen Herausforderungen geführt, die sich auch in Begrifflichkeiten niederschlugen. Würde es demgegenüber zielführend sein, wenn wir die nachösterlichen Interpretationen Jesu und die späteren dogmatischen Bestimmungen alle abstreiften? Jan-Heiner Tück erinnert daran, dass nach W. Homolka die historisch-kritische Erforschung des Neuen Testaments „zu einer Krise der dogmatischen Christologie geführt“ habe.50 Seit Hermann Samuel Reimarus und Gotthold Ephraim Lessing im 18. Jahrhundert werde ein Graben zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens gesehen. In ihrem Gefolge wurde der sogenannte
50
JAN-HEINER TÜCK: Die Heimholung Jesu als Anstoß für die christliche Theologie. Zum Geleit, in: HOMOLKA: Jude (s. Anm. 6), 24–48, 34.
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‚Christus-Mythos‘ der „Ideenproduktion der nachösterlichen Gemeinde“ zugeschrieben.51 „Die jüdische Jesusforschung hat in Teilen ebenfalls das Interesse, die dogmatische Christologie als spekulative Überhöhung zu desavouieren.“52 M. Buber urteilte seinerzeit: „Jesus ist mein älterer Bruder, aber der Christus der Kirche ist ein Koloß auf tönernen Füßen.“53 „Eine Koalition von liberaler Exegese und jüdischer Leben-Jesu-Forschung scheint demnach nahezuliegen – und Walter Homolka deutet seine Sympathien für einen solchen Schulterschluss mehrfach an.“54
J.-H. Tück zögert allerdings als katholischer Systematiker, darauf einzugehen. Er schreibt: „Gewiss trifft es zu, dass eine Depotenzierung der Christologie durch christliche Exegeten, welche das Judesein Jesu herausstellen und zugleich das kirchliche Glaubensbekenntnis als nachösterliche Kontruktion verabschieden, das Gespräch mit dem Judentum auf den ersten Blick erleichtern würde.“55
Dennoch zögert er, denn: „Einer solchen Koalition haftete allerdings das Manko an, dass sie am Selbstverständnis gläubiger Christinnen und Christen vorbeigeht, die sich auch heute zu Jesus als dem Christus und Sohn Gottes bekennen – in Gebet, Liturgie und dem Dogma der Kirche, das für sie eine Orientierungsmarke bleibt, die immer neu auszulegen und zu aktualisieren ist.“56
Mir scheint, die Begründung im Selbstverständnis der Glaubenden zu suchen, ist noch keine zureichende Antwort. Die Frage ist meines Erachtens grundsätzlicher zu stellen. Es geht um das Grundproblem des Verhältnisses von historischen Fakten und theologischer Deutung. Und das Problem des Zusammenhangs zwischen Historie und Theologie gibt es auf beiden Seiten. Wie können, das ist die Frage, historische Fakten theologische Interpretation hervorrufen und können sie diese auf Dauer normieren? Das Problem stellt sich für Christen und Juden gleicherweise.57 Die theologische Bedeutung, die Mose, die das Verständnis der Herausführung aus Ägypten, die die Offenbarung am Sinai usw. im heutigen Judentum haben, lässt sich aus den historischen Fakten, die wir kritisch erarbeiten können,
51 52 53 54 55 56 57
Ebd. A. a. O., 35. Zitiert nach Tück (ebd.). Ebd. Ebd. A. a. O., 36. Dies hat Prof. Dr. Horst-Dietrich Preuß, bei dem ich in Neuendettelsau studieren konnte, in seinen Veranstaltungen an der Augustana-Hochschule stets betont.
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in keiner Weise ableiten. Was wir heute über den historischen Mose wissen können, führt nicht zu Mosche Rabbenu – unserem Lehrer Mose. Und was wir historisch über die Sinai-Offenbarung wissen, führt gewiss nicht geradlinig zur Konzeption von schriftlicher und mündlicher Tora, die im rabbinischen Judentum entwickelt wurde. Bereits das, was uns die Bibel bietet, ist schon Deutung, theologische Verarbeitung und nicht historische Darstellung. Das gilt für Altes / Erstes und Neues Testament. Die Erkenntnis textlicher Vielfalt der biblischen Tradition lässt zudem die Frage stellen, welche Textgrundlage für unsere heutigen theologischen Fragestellungen gelten soll.58 Kurzum: Historische Fakten sind nicht belanglos, können aber heutige theologische Entscheidungen und Konzeptionen nicht unmittelbar bestimmen oder normieren.
2.3
Was würde es bedeuten, wenn wir nicht nur den historischen Jesus, sondern die ganze neutestamentliche Überlieferung in ihrem damaligen jüdischen Kontext verstehen?
Kathy Ehrensperger hat jüngst einen interessanten Ansatz in der Theologischen Literaturzeitung geliefert: „Jesus der Jude. Beobachtungen zu den jüdisch-christlichen Beziehungen in der gegenwärtigen Forschung.“59 Sie vertritt darin die These, dass nicht nur der historische bzw. irdische Jesus, sondern auch die nachösterliche Interpretation, wie sie uns in den Briefen und den Evangelien des Neuen Testaments begegnet, keinen Bruch mit dem Judentum darstellt, sondern ins Judentum gehört. Erst die Konzilien des 4. Jahrhunderts mit ihren Dogmatisierungen hätten das Tischtuch zerschnitten. Diese These, die noch nicht zum common sense gehört, aber zunehmend an Einfluss gewinnt, steht völlig konträr zur neutestamentlichen Forschung wie sie etwa noch Mitte des 20. Jahrhunderts vertreten wurde. Dort konnte man stets hören: Jesus habe das Judentum überwunden bzw. überholt. Jesus habe das Judentum von innen her an sein Ende geführt und die neutestamentlichen Autoren hätten dies dann weitergeführt. Paulus habe das in Röm 10,4 auf den Punkt gebracht: „Christus ist das Ende des Gesetzes.“ Die Tora ist obsolet und aufgeho-
58
59
Zur Frage der textlichen Vielfalt im 1. Jahrhundert siehe HEINZ-JOSEF FABRY: Der Text und seine Geschichte, in: E. ZENGER u. a.: Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1), Stuttgart 8 2011, 37–66. KATHY EHRENSPERGER: Jesus der Jude. Beobachtungen zu den jüdisch-christlichen Beziehungen in der gegenwärtigen Forschung, ThLZ 146 (2021), 21–36.
„Das Neue Testament – jüdisch erklärt“
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ben. Das Gesetz als Heilsweg wurde durch den Glauben als Heilsweg abgelöst.60 – Das Problem freilich ist, dass das Gesetz im Judentum kein Heilsweg ist, sondern ein Weg, um innerhalb des Bundes zu bleiben, den Gott seinem Volk Israel zugesagt hat. Im NTJE gibt es einen Essay von Daniel Boyarin, Professor in Berkeley, California, zur Logos-Lehre in Joh 1, in dem er versucht zu zeigen, dass selbst die sogenannte ‚hohe Christologie‘ des Johannes-Evangeliums, wie sie uns etwa im Prolog begegnet, ganz aus den Quellen des antiken Judentums erklärbar ist und keine Anleihen aus dem griechischen oder gar gnostischen Milieu angenommen werden müssen.61 Auch Paulus hat, so eine gegenwärtige Tendenz in der Foschung, das Judentum nicht verlassen. Er hat bestimmte Traditionen betont, aber seine Theologie ist ganz aus den Quellen des antiken Judentums zu verstehen.62
2.4
Die programmatische Bedeutung des JANT – NTJE
Ernst-Ludwig Ehrlich hat noch 1980 in seinem oben genannten Aufsatz geschrieben: „Das Christentum wird, ob Christen es wollen oder nicht, notwendigerweise stets auf das Judentum verwiesen. Aus dem, was Christen ‚Altes Testament‘ nennen, spricht zu ihnen Religion, Kultur und Geschichte des Volkes Israel. […] Anders ist es nun mit den Juden. Nichts nötigt sie, von Jesus und den Evangelien Kenntnis zu nehmen; die Fortsetzung des ‚Alten Testaments‘ erfolgte nicht im ‚Neuen‘. […] Wollen jene [sc. Christen] die Religion des Volkes Israel ignorieren, schneiden sie sich selbst die Wurzeln ab, von denen sie theologisch leben; der Jude hingegen kann ein vollgültiges religiöses Leben führen, ohne je etwas von Jesus und dem Evangelium gehört zu haben.“63
A.-J. Levine und M. Z. Brettler, die Herausgeber des JANT, scheinen diese Auffassung nicht ganz zu teilen. Immerhin sind sie der Meinung, dass das Neue Testament auch für jüdische Leserinnen und Leser von Bedeutung sei und haben es deshalb kommentiert. „Viele Juden haben aus unterschiedlichen Gründen vermieden, das Neue Testament zu lesen: aufgrund der Sorge, es könnte Juden und Judentum herabsetzen; aufgrund der Annahme, dass seine Texte nicht nur fremd, sondern abschreckend wären; vielleicht sogar aufgrund der Furcht, man könnte durch die Evangelien verführt werden. 60
61
62 63
Vgl. nur die bei HESCHEL: Jesus (s. Anm. 10), 375f., aufgeführten Belege von Ernst Käsemann, Günther Bornkamm und Joachim Jeremias. Das muss hier nicht weiter entfaltet werden. DANIEL BOYARIN: ‚Logos‘ als ein jüdisches Wort: Der Johannesprolog als Midrasch, in: NTJE (s. Anm. 1), 748–750. Vgl. PAULA FREDRIKSEN: Paulus und das Judentum, in: NTJE (s. Anm. 1), 684–689. EHRLICH: Auffassung (s. Anm. 50), 36.
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Wolfgang Kraus Das JANT, das durchweg von jüdischen Autorinnen und Autoren verfasst wurde, könnte es jüdischen Leserinnen und Lesern erlauben, den Text nicht fremd oder abschreckend zu finden. Wir wollten jüdischen Leserinnen und Lesern auch einen Teil unserer eigenen Geschichte zeigen, denn vieles im Neuen Testament gehört zur jüdischen Geschichte: seine wichtigsten Personen sind Juden; seine Bildwelt entstammt den Schriften Israels; sein Vermächtnis hat das Verhältnis von Synagoge und Kirche in den zurückliegenden zwei Jahrtausenden geprägt.“64
Das NTJE ist das Ergebnis einer Bewegung innerhalb des heutigen Judentums, in der sich Forscher:innen zusammengefunden haben, die das Neue Testament als Ausdruck jüdischen Denkens verstehen wollen. Das Neue Testament gehört zur jüdischen Überlieferung. Es wurde im rabbinischen Judentum nicht rezipiert – so wie Philo von Alexandrien, Josephus Flavius, die apokalyptische Literatur usw. im rabbinischen Judentum nicht rezipiert wurden. Das rabbinische Judentum hat in der Tat bestimmte jüdische Traditionen nicht weiter gepflegt, so wie in der offiziellen Kirche bestimmte christliche Traditionen, die mit der Zeit als heterodox angesehen wurden, nicht oder nur sehr eingeschränkt weitertradiert wurden. Wir können heute nicht zurück ins 1. oder 2. Jahrhundert nach der Zeitwende. Das heißt, wir müssen unser Verhältnis zum Judentum heute bestimmen. Kirche und Judentum haben seit der Zeit Jesus 20 Jahrhunderte Geschichte hinter sich – mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Die Beschäftigung mit dem Neuen Testament aus jüdischer Perspektive kann sowohl für Christen als auch für Juden von großer Bedeutung sein. Jüdische Bibelwissenschaft und christliche Bibelwissenschaft begegnen sich heute auf der Ebene von Personen und Sachfragen. Leitend dabei sind der Respekt vor dem jeweils anderen und eine Methodologie, die frei ist von konfessionellen Zwängen. Die wissenschaftliche Methodik der Bibelexegese ist inzwischen konfessionsübergreifend. Unterschiede in der Auslegung verlaufen nicht mehr entlang den Grenzen einer Religion, sondern haben sachlich bedingte Ursachen, die sich aufgrund unterschiedlicher philologischer oder historischer Erkenntnisse quer zu den Religionsgemeinschaften ergeben. Auch für die Mitgliedschaft in wissenschaftlichen Gesellschaften ist nicht die Religionszugehörigkeit, sondern nur der Sachverstand von entscheidender Bedeutung. In ihrem Geleitwort zur deutschen Ausgabe schreiben A.-J. Levine und M. Z. Brettler: 64
MARC ZVI BRETTLER / AMY-JILL LEVINE: The Jewish Annotated New Testament: Retrospect and Prospect, Melilah 11 (2014), 1–7, 2: „Many Jews have avoided reading the New Testament for various reasons: a concern that it would disparage Jews and Judaism; the presupposition that its texts would not only be strange but also alienating; perhaps even a fear of being seduced by the gospels. JANT, written entirely by Jews, might allow Jewish readers to find the text initially less alien, or alienating. We also wanted to show Jewish readers parts of our own history, since much of the New Testament is Jewish history: its principal figures are Jews; its imagery draws from the Scriptures of Israel; its legacy has impacted relations between Synagogue and Church for the past two millennia.“
„Das Neue Testament – jüdisch erklärt“
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„Wir haben erlebt, dass wir durch das Studium des Neuen Testaments zu besseren Juden geworden sind, da wir gelernt haben klarer zu sehen, wie unsere eigene Geschichte mit christlicher Theologie und Geschichte verbunden ist – was wir gemeinsam haben und worin wir uns unterscheiden. Wir haben gelernt zu erkennen, wie Texte des Neuen Testaments zu Judenhass führen können, aber auch, was christliche Leserinnen und Leser solchen Interpretationen erwidern können. Die deutsche Ausgabe dieses Werkes zeigt, dass die Zusammenarbeit von Juden und Christen zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit und zu einer besseren Theologie für die Zukunft führen kann. Darüber hinaus zeigt sie einen zentralen Wert, den beide, Judentum und Christentum, gemeinsam haben: dass Hass in Liebe verwandelt werden kann.“65
Diese Perspektive könnte auch für christliche Leser:innen gelten. Ich empfand es für mich als eine große Bereicherung, an der deutschen Ausgabe mitgearbeitet zu haben.
65
NTJE (s. Anm. 1), XII.
Auf ein „Wort“: Zu Joh 1,1 im frühchristlichen Latein
Auf ein „Wort“: Zu Joh 1,1 im frühchristlichen Latein
Über das unverzichtbare Übersetzen des Evangeliums aus dem Griechischen
Markus Mülke
MARKUS MÜLKE
ignoratio scripturarum ignoratio Christi est (Hieronymus in Is. 1 prol.)
1. Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεὸν καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος: Der Prolog des Johannesevangeliums hat seit seiner Entstehung bis heute herausgefordert und ist im Lauf seiner Geschichte immer wieder ganz unterschiedlich verstanden worden. Ob man ihn nun als „echteste und reinste Urkunde“1 oder „Magna Charta“2 des Christentums oder als eines „der folgenreichsten Dokumente der Kirche und der Menschheit“3 bezeichnet: Seine Bedeutung für diejenige Religion und Theologie, die sich als biblische auf das Evangelium Jesu Christi gründet, steht außer Frage, reklamiert der Evangelist doch für sich, im Eingang seines Buchs und mit programmatisch-definitorischem Geltungsanspruch, eben über diesen Jesus Christus eine Seinsaussage zu treffen: „Im Johannesprolog verschränken sich dabei Theologie, Christologie, Kosmologie und Anthropologie, um gewissermaßen einen Kurzabriss der Heilsgeschichte zu geben und eine 1
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So Johann Gottlieb Fichte in seiner Anweisung zum seligen Leben (Hamburg 41994, 87); vgl. schon Martin Luther über das „hohist Euangelium unter allen“ (Vorrede zum Johannesprolog in seiner Wartburgpostille, wohl aus dem Juli 1521 [WA 10,1,1, 181,7f.]; vgl. ALBRECHT BEUTEL: In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis [Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 27], Tübingen 1991, 35 [mit Lit.]). Origenes bezeichnet das Johannesevangelium als die ἀπαρχὴ τῶν εὐαγγελίων (comm. in Joh. 1,4,21). MARKUS ENDERS: Eine metaphysische und eine offenbarungstheologische Perspektive, in: DERS. / ROLF KÜHN (Hg.): „Im Anfang war der Logos …“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart (Forschungen zur Europäischen Geistesgeschichte 11), Freiburg u. a. 2011, 376–380, 377. CHRISTIAN DIETZFELBINGER: Das Evangelium nach Johannes. 1. Teilband: Johannes 1–12 (ZBK.NT 4,1), Zürich 2001, 20.
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einzigartige Perspektive zu eröffnen.“4 Dass sich das Ringen um sein richtiges Verständnis dabei immer wieder auf das Wort λόγος konzentriert, dürfte der Absicht des Autors entsprechen, fungiert dessen überraschender Eintrag in den ersten Satz des gesamten Evangeliums – noch vor θεός – doch gleichsam als „hermeneutical tool“5, das jeden Leser, also den christlichen wie den nichtchristlichen, zu intensiven und voraussetzungsreichen Verstehensbemühungen zwingt. Die kontroverse Debatte um das Verständnis des Johannesprologs lässt sich heute kaum noch überblicken. Doch rühren die divergierenden Deutungen nach wie vor gerade auch aus der semantischen Komplexität des griechischen Wortes λόγος6: Stellt sich der Evangelist mit seinem Verweis auf Gen 1,1 LXX: ἐν ἀρχῇ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν7 in die Tradition alttestamentlicher Schöpfungstheologie? Schließt er an jüdisch-hellenistische Weisheitslehre an, die sich insbesondere im zum biblischen Kanon der Septuaginta gehörigen Buch Sapientia (Sap 9,1)8 und bei dem Alexandriner Philon greifen lässt?9 Oder offenbart eben das Wort λόγος die absichtsvolle Rezeption zeitgenössischer grie4
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UDO SCHNELLE: Philosophische Interpretationen des Johannesevangeliums, in: JAN G. VAN DER WATT u. a. (Hg.): The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts. Papers read at the Colloquium Ioanneum 2013 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 359), Tübingen 2016, 159–187, 175; vgl. auch ROMAN DILCHER: „Im Anfang war das Wort“. Ein Übersetzungsproblem und seine hermeneutischen Grundlagen, in: MARTIN HARBSMEIER u. a. (Hg.): Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert (Transformationen der Antike 7), Berlin / New York 2008, 49–60, 51. JÖRG FREY: Between Torah and Stoa. How Could Readers Have Understood the Johannine Logos?, in: VAN DER WATT u. a., Prologue (s. Anm. 4), 189–234, 231. Vgl. dazu kurz DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ (s. Anm. 4), 54–56, mit dem Ergebnis (und Beispielen aus der griechischen Literatur), dass „[…] λόγος in gewöhnlichem Griechisch eben nicht durch ‚Wort‘ wiedergegeben werden kann […]“ und dass „[…] es für λόγος eine halbwegs passende Entsprechung in anderen Sprachen schlichtweg nicht gibt. […] Welche Übersetzung auch immer man wählt, sie wird zwangsläufig nur einen Aspekt auf Kosten anderer vermitteln können“; WERNER BEIERWALTES: Der Logos der Griechen im Christentum, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 35 (2011), 103–121, 103f., sowie FREY: Torah and Stoa (s. Anm. 5), 202f. Ob die schon von Martin Heidegger formulierte These, λόγος sei vieldeutig, ohne „positiv durch eine Grundbedeutung geführt“ zu sein, und werde in Übersetzung „immer ‚ausgelegt‘“ (MARTIN HEIDEGGER: Sein und Zeit, Tübingen 151979, 32), wirklich zutrifft, bleibe hier dahingestellt. Vgl. aber auch Stellen wie etwa Dtn 8,3; Ps 33,6: verbo domini caeli firmati sunt et spiritu oris eius omnis virtus eorum […] oder Jes 55,11. Vgl. auch Sap 18–20. Wobei sowohl das Buch Sapientia als auch Philon ihrerseits schon eingehend auf griechische Philosophie zugreifen, jenes insbesondere auf die Stoa, dieser auf Platon und die mittelplatonische Akademie (zu Philon vgl. mit reicher Literatur JUTTA LEONHARDT-BALZER: Der Logos und die Schöpfung: Streiflichter bei Philo [Op 20–25] und im Johannesprolog [Joh 1,1–18], in: JÖRG FREY / UDO SCHNELLE [Hg.]: Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive [Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 175], Tübingen 2004, 297–319, und FOLKER SIEGERT:
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chisch-philosophischer Logoslehren, insbesondere der Stoa – und wie wäre eine solche Rezeption gegebenenfalls zu charakterisieren?10 Klaus Wengst hält in seinem Kommentar zum Johannesevangelium fest (mit Reserve gegenüber der Annahme einer griechisch-philosophischen Vorgeschichte des johanneischen Logos): „So kann es nicht darum gehen, den Prolog von religionsgeschichtlichen Modellen her zu ‚erklären‘. Es ist vielmehr danach zu fragen, warum Johannes die ihm gegebenen Möglichkeiten so nutzt, wie er es tut.“11 Als sicher darf gelten, dass Johannes am Anfang seines Evangeliums eine Brücke schlägt, indem er frühjüdisch-hellenistische Theologie oder/und griechisch-hellenistische Philosophie für seine christliche Theologie und theologische Christologie nutzt, und dass er zugleich etwas übersetzt, indem er seine eigene, von solcher Nutzung geprägte Theologie und Christologie mit dem griechischen, bereits vor ihm schon seit langem terminologischen Wort λόγος neu ausdrückt. Der Johannesprolog ist also, obschon in einer, nämlich der griechischen Sprache verfasst, selbst bereits Ergebnis eines komplexen translatorischen Prozesses.12 Schon die frühesten außerbiblischen Leser des Johannesprologs,13 von denen man heute noch weiß, bezeugen mit ihrem Verständnis die Vielschichtigkeit des Texts, die freilich nicht als nicht abschließend klärbare Offenheit missverstanden wird. Beispielhaft genannt seien aus dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert etwa gnostische Interpretationen, welche gerade die
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Der Logos, „älterer Sohn“ des Schöpfers und „zweiter Gott“, in: FREY / SCHNELLE: Kontexte des Johannesevangeliums, 277–293, auch JOHN DILLON: Logos and Trinity: Pattern of Platonist Influence on Early Christianity, in: GODFREY VESEY [Hg.]: The Philosophy in Christianity, Cambridge 1989, 1–13, 3f.). Die alte These, bei den ersten Versen des Johannesevangeliums handele es sich tatsächlich um einen ursprünglich eigenständigen Logoshymnus, den der Evangelist dem Text seines Werks programmatisch vorangestellt habe, findet noch heute Befürworter (vgl. dazu mit reicher Literatur JEAN ZUMSTEIN: Das Johannesevangelium [KEK 2], Göttingen 2016, 67–69.71). Erinnert sei hier auch daran, dass der Johannesprolog wiederholt mit der Logoslehre des frühgriechischen Philosophen Heraklit, gegebenenfalls in hellenistischer Prägung, in Zusammenhang gebracht worden ist (vgl. etwa ADOLF DYROFF: Zum Prolog des Johannesevangeliums, in: Pisciculi. Studien zur Religion und Kultur des Altertums. Franz Joseph Dölger zum sechzigsten Geburtstage dargeboten von Freunden, Verehrern und Schülern [Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 1], Münster 1939, 86–93, passim; DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ [s. Anm. 4], passim; und BEIERWALTES: Logos [s. Anm. 6], 104f.). KLAUS WENGST: Das Johannesevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 4), Stuttgart 2019, 38. Umfassende Orientierung zur Auslegung des Johannesprologs und seiner Auslegungsgeschichte gibt mit reichen Literaturangaben der Sammelband von VAN DER WATT u. a.: Prologue (s. Anm. 4), darin insbesondere die Beiträge von FREY: Torah and Stoa (s. Anm. 5), und SCHNELLE: Philosophische Interpretationen (s. Anm. 4), 175–179. Vgl. auch DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ (s. Anm. 4), 58f.: „gleichsam eine Übersetzung ohne Original“; BEIERWALTES: Logos (s. Anm. 6), 108, und SCHNELLE: Philosophische Interpretationen (s. Anm. 4), 179. Vgl. dazu im Überblick FREY: Torah and Stoa (s. Anm. 5), 197–201 (mit Literatur).
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Verse Joh 1,1 und 1,3 mit griechisch geprägter Ontologie in Verbindung brachten,14 der Alexandriner Clemens und insbesondere Origenes, der das gesamte erste Buch seiner umfänglichen Erklärung zum Johannesevangelium der Auslegung des ersten Verses (Joh 1,1a) mit dem Wort λόγος widmet.15 Darüber hinaus erweist sich die Strahlkraft des johanneischen λόγος als eines interreligiös debattierbaren θεολογούμενον schon früh dadurch, dass der Johannesprolog der erste und auf lange Zeit hin einzige neutestamentliche Text ist, der von der zeitgenössischen paganen Gelehrsamkeit nicht nur wahr-, sondern auch ernstgenommen und einer vertieften Interpretation für würdig erachtet wird,16 und zwar gerade von derjenigen Schule griechischer Philosophie, die in der hohen Kaiserzeit alle anderen nach und nach an Bedeutung übertreffen sollte: dem Neuplatonismus.17 Schon in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts befasste sich Gentilianos Amelios, Schüler Plotins, intensiv mit dem Johannesprolog und paraphrasierte dabei dessen ersten Vers in einer Mischung aus präziser Worttreue und freier relecture, nicht ohne ihn auf sein eigenes Verständnis hin zu akzentuieren.18 Offenbar zielte er darauf, den Logos des „Barbaren“, wie er den Evangelisten – vor dem Hintergrund der philosophischen Suche nach uralter, fremder Weisheit vielleicht eher anerkennend als abwertend – nennt, dem νοῦς als einem Prinzip neuplatonischer Gotteslehre anzuähneln. Wie intensiv und dauerhaft die Beschäftigung der Neuplatoniker mit Johannes war, erhellt fürderhin aus dem Werk des prominenten römischen Rhetors Marius Victorinus (geboren wohl Ende des dritten Jahrhunderts, gestorben vor 14
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Ob der Apologet Justinus seine Lehre vom λόγος σπερματικός, die für den christlichen Logosbegriff den Gebrauch paganer Vorläufer wie Sokrates, Heraklit oder Platon postuliert, auf den Johannesprolog gründet, kann hier nicht diskutiert werden. Vgl. CHRISTOPH BRUNS: Christologischer Universalismus. Der Johannesprolog in der Wirklichkeitsdeutung des Origenes, in: ENDERS / KÜHN: „Im Anfang war der Logos …“ (s. Anm. 2), 7–46, 11. Im vierten Jahrhundert vermerkt Hilarius von Poitiers in seinem theologischen Hauptwerk De trinitate zum Johannesprolog: proficit mens ultra naturalis sensus intelligentiam, et plus de deo, quam opinabatur, edocetur. Dass der Johannesprolog – ähnlich wie der Eingang der Genesis – auch durch seinen „schlichten, aber erhabenen Stil“ das pagane Interesse befördert haben könnte, hebt SAMUEL VOLLENWEIDER: Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios, in: ANDREAS DETTWILER / UTA POPLUTZ (Hg.): Studien zu Matthäus und Johannes, Festschrift für Jean Zumstein zu seinem 65. Geburtstag (AThANT 97), Zürich 2009, 377–397, 378, mit Recht hervor. Im Neuplatonismus gewinnt λόγος, nicht zuletzt durch die Rezeption stoischer Ontologie, noch größere Bedeutung in der Auslegung Platons, insbesondere des Timaios, als bereits in der mittelplatonischen Philosophie (vgl. DILLON: Logos and Trinity [s. Anm. 9], passim; VOLLENWEIDER: Logos [s. Anm. 16], 378f., und FREY: Torah and Stoa [s. Anm. 5], 205–208). Zu Amelios vgl. auch THOMAS M. BÖHM: Ptolemäische Gnosis bei Hegel? Anmerkungen zur Interpretation des Johannesprologs bei Amelius, in: FERDINAND R. PROSTMEIER / HORACIO E. LONA (Hg.): Logos der Vernunft – Logos des Glaubens (Millenium-Studien 31) Berlin / New York 2010, 109–125, 114–121. Vgl. dazu VOLLENWEIDER: Logos (s. Anm. 16) mit der älteren Literatur.
Auf ein „Wort“: Zu Joh 1,1 im frühchristlichen Latein
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368 n. Chr.), der sich zunächst eingehend der neuplatonischen Philosophie widmete, auch neuplatonische Schriften in die lateinische Sprache übertrug, bevor er sich in einer spektakulären, durch Augustins Lobpreis in die Geschichte eingegangenen Konversion öffentlich zum Christentum bekannte. Sowohl in seinen theologischen, antiarianischen Schriften als auch in seinen Kommentaren zu Paulusbriefen und in seinen Hymnen auf die Trinität verarbeitet er, noch neuplatonischem Denken verhaftet,19 besonders intensiv den Johannesprolog und belässt immer wieder das griechische Wort λόγος unübersetzt im sonst lateinischen Text.20 Und noch Augustinus selbst schildert, welche Bedeutung die Lektüre einer neuplatonischen Interpretation des Johannesprologs für seine eigene theologische Entwicklung hatte – freilich nicht, ohne auch ihren entscheidenden Mangel zu markieren,21 nämlich: sich ausschließlich von der Lehre des λόγος ἄσαρκος ansprechen zu lassen, die johanneische Offenbarung des in Jesus Christus inkarnierten λόγος aber zu ignorieren – und überliefert das Wort eines „gewissen Platonikers“: quod initium sancti evangelii, cui nomen est secundum Iohannem, […] aureis litteris conscribendum et per omnes ecclesias in locis eminentissimis proponendum esse!22 19
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Vgl. dazu nach wie vor wichtig WERNER BEIERWALTES: Trinitarisches Denken. Substantia und Subsistentia bei Marius Victorinus, in: DERS.: Platonismus im Christentum (Philosophische Abhandlungen 73), Frankfurt a. M. 22001, 25–43, und MATTHIAS BALTES: Marius Victorinus. Zur Philosophie in seinen theologischen Schriften (Beiträge zur Altertumskunde 174), München / Leipzig 2002. Vgl. etwa adv. Arium 1,3: […] toties Iohanne dicente [!]: erat λόγος in principio, erat ad deum, erat deus λόγος ipse, erat hic in principio ad deum […]; 1,5: […] sic dicit Iohannes: et deus erat λόγος […]; 1,34–38.45.58: […] et hoc significat: et λόγος caro factus est; 2,1; 3,3; 4,19.33; in Phil. 2,6–8.9–11: λόγος deus est per quem creata sunt omnia […] et hoc fuit a principio et sine λόγῳ factum est nihil; in Eph. 1,2 u. ö. Victorinus agiert nicht als Übersetzer. Insofern trifft ihn die Kritik nicht direkt, er habe – wie spätere Johannesübersetzer, die das Fremdwort Logos im Text belassen (etwa ZUMSTEIN: Johannesevangelium [s. Anm. 9], 63; vgl. aufschlussreich auch DIETZFELBINGER: Evangelium nach Johannes [s. Anm. 3], 20: „Im Anfang war der Logos [das Wort] […]“) – die Aufgabe des Übersetzers verfehlt, die Vorlage in der Zielsprache möglichst authentisch verständlich zu machen. Das Fremdwort bedeutet dadurch, dass es in der Ausgangssprache erklärungs- und kommentarbedürftig bleibt, nachgerade die Verweigerung von Übersetzung gegenüber dem zielsprachlichen Leser oder macht sie zumindest voraussetzungsreicher. Bemerkenswert ist der Sachverhalt, weil Victorinus an einzelnen, wenigen Stellen doch das lateinische Wort verbum aus Johannes heranzieht; vgl. besonders auffällig ad Cand. 27, wo er die Übersetzung der lateinischen Bibel dem Wortgebrauch der griechischen Bibel – und dem eigenen! – gegenüberstellt: non necessarium est confiteri, si verbum dei fecit omnia, primum esse verbum et dei generationem verbum, universale verbum, omnimodis perfectum verbum, quod nos prophetae et evangelistae et apostoli et λόγον nominamus et filium? sowie 30; adv. Arium 1,31.55 und 56, wo die Begriffe unterschieden werden; 3,8.10–11; vgl. auch in Phil 2,9–11: nunc autem ipse λόγος, cum induit carnem, ut dictum est et verbum caro factum est […]; 3,21; in Eph 1,20–23; 2,2 u. ö. Vgl. das gesamte siebte Buch der Confessiones, insbesondere 7,8,12–7,21,27. Augustinus civ. 10,29. Zu der Frage, ob der quidam Platonicus, dessen Ausspruch Augustinus von Simplicianus, dem späteren Bischof von Mailand, gehört haben will, Marius Victorinus
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2. Die Mehrheit bereits der frühen lateinischen Übersetzungen des Johannesprologs übertrug die griechische Vorlage aller Wahrscheinlichkeit nach folgendermaßen: in principio erat verbum et verbum erat apud deum et deus erat verbum.23 Doch stehen älteste christliche Autoren lateinischer Sprache schon des dritten Jahrhunderts wie Tertullian und Cyprian,24 also insbesondere solche, die in Nordafrika wirkten, auf dem Grund einer alternativen Tradition: in principio erat sermo et sermo erat apud deum et deus erat sermo. Die bis heute verbreitete Neigung, die Übersetzung sermo als vermeintlich bessere Alternative zu verbum zu empfehlen,25 findet dabei in Tertullian – der übrigens auch die Wiedergabe von λόγος
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gewesen sein könnte, vgl. VOLLENWEIDER: Logos (s. Anm. 16), 377. Simplicianus selbst, so Augustinus (conf. 8,2,3), habe dafür gehalten, dass in den Büchern der Platoniker […] omnibus modis insinuari deum et eius verbum! Vgl. dazu die Übersichten bei PHILIP H. BURTON u. a. (Hg.): Evangelium secundum Iohannem (Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel 19), Freiburg i. Br. 2011, 33–44. Vgl. mit (unvollständiger) Stellenübersicht MARJORIE OʼROURKE BOYLE: Sermo: Reopening the Conversation on Translating Jn 1,1, Vigiliae Christianae 31 (1977), 161–168, 162, und DIES.: A Conversational Opener: The Rhetorical Paradigm of John 1:1, in: WALTER JOST / WENDY OLMSTED (Hg.): A Companion to Rhetoric and Rhetorical Criticism, Oxford 2004, 58– 79, 71. Die theologische Diskussion der beiden Übersetzungen hat den lexikalischen Hintergrund der übersetzerischen Herausforderung von Joh 1,1 in Betracht zu ziehen: Joh 1,1 verweist schöpfungstheologisch ausdrücklich und unmissverständlich auf die Genesis zurück (vgl. PEDER BORGEN: Observations on the Targumic Character of the Prologue of John, NTS 16 [1970], 288–295, passim; LUISE ABRAMOWSKI: Der Logos in der altchristlichen Theologie, in: CARSTEN COLPE u. a. [Hg.]: Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit, Berlin 1992, 189–201, 190f.; UDO SCHNELLE: Das Evangelium nach Johannes [ThHKNT 4], Leipzig 32004, 36; SIEGERT: Logos [s. Anm. 9], 280; DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ [s. Anm. 4], 57; FREY: Torah and Stoa [s. Anm. 5], 209–211; CHRISTOS KARAKOLIS: Logos-Concept and Dramatic Irony in the Johannine Prologue and Narrative, in: VAN DER WATT u. a.: Prologue [s. Anm. 4], 139–156, 143; J. ZUMSTEIN: Johannesevangelium [s. Anm. 9], 72; und WENGST: Johannesevangelium [s. Anm. 11], 38.42 mit weiterer Literatur), mit ὲν ἀρχῇ auf Gen 1,1 LXX: ἐν ἀρχῇ ἐποίησεν ὁ θεός […], dann aber auch mit λόγος auf die Formel des Schöpfungsberichts in der griechischen Übersetzung der Septuaginta: καὶ εἶπεν ὁ θεός […] (1,3.6 u. ö.). Durch diesen Rückbezug gelingt es Johannes, das Wort λόγος einerseits in jüdisches Wort- und Sprachverständnis einzuschreiben, das „dem griechischen Logosdenken fremd“ (DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ [s. Anm. 4], 57) ist – Wort als Äußerung der Macht Gottes, als Schöpfungsakt mit Tatkraft, zugleich aber auch an den Menschen adressierte Mitteilung, als Gebot und Verheißung –, es andererseits aber direkt auf die Hauptbedeutung des griechischen Verbs λέγειν, von dem es abgeleitet ist, etymologisch zurückzuführen, diese also gleichsam hinter den philosophischen Logoslehren griechischer Philosophie entscheidend wieder geltend zu machen. Die Formel aus der Genesis wird nun aber ins Lateinische, sowohl in der Vetus Latina als auch in der späteren Vulgata, übertragen: dixit deus […] – die lateinische Sprache kennt kein mit dem Verb dicere (als Äquivalent zum griechischen Verb λέγ-ειν) stammverwandtes Substantiv, das den Begriff λόγ-ος insofern angemessen wie-
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mit verbum kennt26 – allerdings keinen vorbehaltlosen frühchristlichen Genossen:27 In seiner Schrift Adversus Praxean (um 213 n. Chr.), die sich – wohl als erster westlich-lateinischer ‚Trinitätstraktat‘ der frühen Kirche überhaupt28 – die Widerlegung der so genannten Monarchianer vornimmt, zieht Tertullian den gesamten Johannesprolog ausführlich heran, natürlich deshalb, weil er sich der überragenden Bedeutung der Stelle für die theologische Identität des Christentums bewusst war; an der Frage, wie der λόγος des Evangeliums zu verstehen sei, hängt durch die Christologie die ganze Theologie.29 Der Übersetzung von
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dergäbe, als es sowohl den konkreten Sprechakt des λέγειν / dicere zum Ausdruck brächte als auch die weit darüber hinausgehenden Konnotationen der vorchristlichen Logoslehren (dictum scheidet als substantiviertes Partizip Perfekt Passiv aus). Vgl. De carne Christi 18–21 (pace OʼROURKE BOYLE: Sermo [s. Anm. 24], 161f.). Problematisch erscheint auch die These, die frühchristliche Überlieferung habe mit sermo in der Bedeutung „Gespräch“ (vgl. OʼROURKE BOYLE: Sermo [s. Anm. 24], 161 [„conversation“ oder „eloquent discourse of God“]; OʼROURKE BOYLE: Sermo [s. Anm. 24], 163f.; sowie MARJORIE O’ROURKE BOYLE: Evangelism and Erasmus, in: GLYN P. NORTON [Hg.]: The Cambridge History of Literary Criticism, Bd. 3: The Renaissance, Cambridge 1999, 44–52, 45, und DIES.: A Conversational Opener [s. Anm. 24], passim) eine Art kommunikative Logoslehre vertreten, die heute attraktiver erscheinen und gar eine neue Gottesvorstellung befördern könnte als die traditionelle, auf die Übersetzung verbum gegründete Worttheologie. Dass beispielsweise Tertullian in Adversus Praxean den λόγος als sermo tatsächlich ganz anders verstanden habe als spätere Exegeten den λόγος als verbum, bedarf noch des Nachweises. Auffällig ist etwa adv. Prax. 7,6, wo Tertullian ein mögliches Argument der Monarchianer vorstellt: quid est enim, dices, sermo, nisi vox et sonus oris, et, sicut grammatici tradunt [!], aer offensus, intelligibilis auditu, ceterum, vacuum nescio quid, et inane, et incorporale? Tertullian weist dieses Argument nicht etwa deswegen zurück, weil sermo eigentlich „Gespräch / conversation“ bedeute, sondern: at ego nihil dico de deo inane et vacuum prodire potuisse, ut non de inani et vacuo prolatum; nec carere substantia, quod de tanta substantia processit, et tantas substantias fecit. Eine Studie, welche die Semantik des Begriffs sermo als der Übersetzung des johanneischen λόγος bei Tertullian und Cyprian präzise und umfassend erforschte, ist nach wie vor ein Desiderat. Überhaupt bezeugen die frühchristlichen Autoren lateinischer Sprache nicht, dass ihrer Auffassung nach das griechische Äquivalent zu verbum λέξις, nicht λόγος hätte sein müssen (vgl. unklar OʼROURKE BOYLE: Sermo [s. Anm. 24], 165). Vgl. TERTULLIAN: Adversus Praxean – Gegen Praxeas, übersetzt und eingeleitet von HERMANN-JOSEF SIEBEN (Fontes Christiani 34), Freiburg i. Br. u. a. 2001, 21. Gerade der Zusammenhang christologischer Argumentation lässt dabei einen Grund erahnen, warum zumindest bestimmte altlateinische Versionen λόγος mit sermo übersetzten: Das lateinische Substantiv ist maskulinen Geschlechts und kann damit leichter auf filius Dei sowie den Eigennamen Jesus Christus bezogen werden als das Substantiv neutralen Geschlechts verbum. Solche Vorzüglichkeit von sermo vor verbum legt etwa gleich der erste Satz, den Tertullian über den λόγος formuliert, nahe (adv. Prax. 2,1): […] unicum quidem deum credimus, sub hac tamen dispensatione, quam oikonomiam dicimus, ut unici dei sit et filius, sermo ipsius, qui ex ipso processerit, per quem omnia facta sunt et sine quo factum est nihil. Hunc missum a patre in virginem et ex ea natum hominem et deum, filium hominis et filium dei, et cognominatum Iesum Christum; vgl. zur Bedeutung von sexus / genera bei der Übersetzung griechischer Begriffe ins Lateinische auch adv. Valent. 6,1. Dass das Geschlecht des λόγος auch später noch debattiert wurde, erhellt etwa aus Marius Victorinus adv. Arium 1,64. Erasmus von Rotterdam (siehe zu diesem unten 7.) verwarf oratio als semantisch ihm
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λόγος mit sermo in Joh 1,1 widmet Tertullian eine grundsätzliche, durchaus reservierte Überlegung (adv. Prax. 5,2–4): ante omnia enim deus erat solus, ipse sibi et mundus et locus et omnia. solus autem quia nihil aliud extrinsecus praeter illum. ceterum ne tunc quidem solus: habebat enim secum, quam habebat in semetipso, rationem suam scilicet. rationalis enim deus, et ratio intra ipsum prius, et ita ab ipso omnia: quae ratio sensus ipsius est. hanc Graeci λόγον dicunt, quo vocabolo etiam sermonem appellamus ideoque iam in usu est nostrorum per simplicitatem interpretationis sermonem dicere in primordio apud deum fuisse, cum magis rationem competat antiquiorem haberi, quia non sermonalis a principio, sed rationalis deus etiam ante principium, et quia ipse quoque sermo ratione consistens priorem eam ut substantiam suam ostendat. tamen et sic nihil interest. nam etsi deus nondum sermonem suum miserat, proinde eum cum ipsa et in ipsa ratione intra semetipsum habebat, tacite cogitando et disponendo secum quae per sermonem mox erat dicturus. cum ratione enim sua cogitans atque disponens sermonem eam efficiebat, quam sermone tractabat.
Diese übersetzungstheoretischen Überlegungen sind nach heutigem Kenntnisstand die ältesten überhaupt zur Wiedergabe des johanneischen λόγος in eine andere Sprache;30 gleichwohl – oder vielleicht auch gerade deswegen – prägt Tertullian mit ihnen, auf hohem Niveau, den gesamten Sachverhalt für spätere Debatten entscheidend vor: a) Gegenüber der lateinischen Übersetzung wird im laufenden, lateinischen Text das griechische Wort λόγος ausdrücklich ausgesprochen. b) Die umlaufende lateinische Übersetzung des Johannesevangeliums, hier für Tertullian also sermo, wird gegenüber dem griechischen Wort λόγος als unbefriedigend insofern gekennzeichnet, als sie ein Defizit gegenüber dem Übersetzten, einen Verlust manifestiert. c) Dieses Defizit liegt darin, dass das griechische Wort λόγος eine semantische Komplexität aufweist, welche in der lateinischen Version sermo nicht mehr zum Ausdruck kommt – semantische Komplexität freilich, die der Komplexität des Logos selbst angemessen ist und ihr dennoch in menschlicher Sprache nicht
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eigentlich naheliegende Übersetzung von λόγος wegen des femininen Genus des Substantivs (vgl. OʼROURKE BOYLE: Evangelism and Erasmus [s. Anm. 27], 45, und DIES.: A Conversational Opener [s. Anm. 24], 61). Die Frage nach dem Genus betrifft nicht allein die Wortübersetzung von λόγος, sondern gleich im ersten Wort von Joh 1,2 auch die Übersetzung des Demonstrativpronomens. Tertullians Zeugnis ist nicht nur deswegen bedeutend, weil schon der alten Kirche galt (Hier. epist. 70,5): quid Tertulliano eruditius, quid acutius?, sondern weil mit ihm die lateinische Christenheit gleich in frühester Zeit einen besonderen Höhepunkt erreicht; für H.-J. Sieben ist er „nicht nur Begründer der abendländischen christlichen Theologie, sondern vor allem der Schöpfer der lateinischen Theologensprache“ (TERTULLIAN: Adversus Praxean [s. Anm. 28], 24).
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gerecht werden kann.31 Tertullian formuliert dabei seine Reserve gegenüber der lateinischen Übersetzung mit Bedacht: Einerseits trifft diese, gemäß seinem Verständnis des Johannesprologs, tatsächlich nicht richtig, nicht umfänglich das, was das Evangelium mit λόγος meint – nämlich, dass im Anfang tatsächlich die ratio, d. h. die Vernunft, bei Gott war, noch vor dem sermo, der Sprache.32 Andererseits konstatiert Tertullian ausdrücklich, dass ein solches Defizit gerade bei semantisch komplexen Wörtern der Ausgangssprache ein dem translatorischen Vorgang gleichsam eingeschriebenes Problem sei: Die interpretatio des Wortes kommt eben nicht umhin, „einfach“ zu sein, also für die abschließende Übersetzung ein bestimmtes Wortäquivalent in der Zielsprache zu finden,33 und gerät dadurch in eine Not, welche das als exegetischer Verständnis- und Interpretationsprozess vorgängige Übersetzen dadurch zu vermeiden weiß, dass sie jene semantische Komplexität in mehrere, ausdifferenzierte Wörter der Zielsprache auffächert. Tertullian selbst liefert im Zusammenhang seiner Schrift gleich mehrfach solche Reihen lateinischer Begriffe, deren Summe insgesamt im johanneischen λόγος zum Ausdruck komme: nam ut primum deus voluit ea, quae cum sophia34 et ratione et sermone disposuerat, intra se in substantias et species suas edere, ipsum primum protulit sermonem habentem in se
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Vgl. BRUNS: Christologischer Universalismus (s. Anm. 15), 11 (zu Origenes und dessen Lehre der Vielheit, die dem Sohn eigne, und der ἐπίνοιαι [über die vielfältigen Attribute des Heilands etwa comm. in Joh. 1,20,119–124]) und 24 (der Logos als „Inbegriff aller Tugenden“ bei Origenes). Die Übersetzung von λόγος mit sermo scheint Tertullian gerade nicht im Sinn von „Gespräch“ zu verstehen, sondern von „Rede(fähigkeit), Sprache“, also entsprechend einer der Hauptbedeutungen des griechischen Worts, aber tatsächlich anders als verbum. Erinnert sei daran, dass Aristoteles den Menschen als einziges Lebewesen bezeichnet, das λόγον ἔχει (pol. 1253a), als ein sprach- und vernunftbegabtes Wesen also mit einem Ausdruck, den die seit der Antike verbreitete lateinische Übersetzung animal rationale genau andersherum, aber nicht minder folgenreich verkürzt wie jene des johanneischen λόγος mit verbum / sermo oder ratio. Den Ausdruck simplicitas interpretationis lässt der sprachgewaltige Tertullian absichtsvoll schillern. Das Wort ist zunächst im eigentlichen Sinn zu verstehen, als Hinweis auf ein translatorisches Prinzip: Übersetzung eines fremdsprachlichen Wortes ist einfach, nicht zweifach oder mehrfach, sucht also nach einer direkten Wortentsprechung in der Zielsprache. Zugleich verweist Tertullian aber auch auf die „einfache“, also die dem lateinischen Sprachgebrauch naheliegende, übliche, eingängige, unmittelbar verständliche Deutung des griechischen Worts λόγος in der Übersetzung, im Unterschied zu selteneren, gewählten, insbesondere auch übertragenen, etwa metaphorischen oder allegorischen Deutungen (vgl. das aufschlussreiche Material zum Begriff bei THOMAS P. O. OʼMALLEY: Tertullian and the Bible. Language, Imagery, Exegesis, Nijmegen/Utrecht 1967, 166–172; später etwa Hilar. synod. 9; Hier. praef. Esth.; adv. Ruf. 1,7). Für Tertullian ergibt sich daher ganz folgerichtig, dass sich solch simplex interpretatio dann dem allgemeinen usus eingeprägt habe. Schon Tertullian (ebenso wie zuvor Origenes) ist die innere Verbindung des johanneischen λόγος zur alttestamentlichen σοφία ganz vertraut; vgl. dazu ausführlich adv. Prax. 6,1–3.
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Markus Mülke individuas suas rationem et sophiam, ut per ipsum fierent universa, per quem erant cogitata atque disposita, immo et facta iam quantum in dei sensu;35
und schon in seinem berühmten Apologeticum (197 n. Chr.) hatte er festgestellt (21,10f.): […] ediximus deum universitatem hanc mundi verbo et ratione et virtute molitum. apud vestros quoque sapientes λόγον, id est sermonem atque rationem, constat artificem videri universitatis. hunc enim Zeno determinat factitatorem, qui cuncta in dispositione formaverit; eundem et fatum vocari et deum et animum Iovis et necessitatem omnium rerum. haec Cleanthes in spiritum congerit, quem permeatorem universitatis affirmat. et nos autem sermoni atque rationi itemque virtuti, per quae omnia molitum deum ediximus, propriam substantiam spiritum inscribimus, cui et sermo insit pronuntianti et ratio adsit disponenti et virtus praesit perficienti. hunc ex deo prolatum didicimus et prolatione generatum et idcirco filium dei et deum dictum ex unitate substantiae; nam et deus spiritus.
d) Reserve gegenüber der Übersetzung des Evangeliums wird geäußert, aber nicht auf die Spitze getrieben.36 Durch seinen Hinweis auf die simplicitas interpretationis schwächt Tertullian den Eindruck ab, die lateinische Übersetzung begehe einen vermeidbaren Fehler, der aus falschem Verständnis des Johannesprologs resultiere. Auch die Verwendung der ersten Person plural in dem Verb appellamus sowie in der Junktur in usu nostrorum (im Gegensatz zu den Graeci37) dient der Entlastung von einem solchen Vorwurf. Konziliant wirkt schließlich der Abschluss der Erörterung, in dem Tertullian zwar subtil das Verständnis von λόγος als ratio für unausweichlich erklärt, zugleich aber die lateinische Übersetzung 35
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Vgl. auch 5,7 in enger Folge: ratio / sermo / vis / sensus divinus / sophia / sapientia; 7,3; 7,4: nec diutius de isto, quasi non ipse sit sermo et in sophiae et in rationis et in omnis divini animi et spiritus nomine, qui filius factus est dei, de quo prodeundo generatus est; 8,4; 12,5–7; 14,6.9; 15,5f.; 19,3: sermo autem, virtus et sophia dei, ipse erit filius; 26,4: […] spiritus dei idem erit sermo. sicut enim Ioanne dicente, sermo caro factus est, spiritum quoque intellegimus in mentione sermonis, ita et hic sermonem quoque agnoscimus in nomine spiritus. nam et spiritus substantia est sermonis et sermo operatio spiritus, et duo unum sunt und 27,6. Heutige Exegese vermerkt: „Alle zentralen Begriffe des joh. Denkens haben eine jüdische und eine griechische Geschichte, die es gleichermaßen zu erheben und zu berücksichtigen gilt. In jedem Text überlagern sich Aussagen, die aus anderen Texten und/oder Kulturräumen stammen […]. Im Logos Jesus Christus kulminiert die antike Religions- und Geistesgeschichte, er ist der Ursprung und das Ziel allen Seins“ (SCHNELLE: Johannes [s. Anm. 25], 37), und: „Wenn man aus religionsgeschichtlicher Sicht nach dem Begriff des Logos fragt, muss man sich davor hüten, nur eine einzige Erklärung für die Herkunft des Begriffs geben zu wollen“ (ZUMSTEIN: Johannesevangelium [s. Anm. 9], 74). Vgl. kritischer gegen unangemessene Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische etwa adv. Marc. 2,9,1f. und adv. Valent. 6,1f. Wenn Tertullian an letzterer Stelle festhält, bei bestimmten Begriffen seien die griechischen Wörter üblicher als die lateinischen, dann gilt für ihn dies offenbar nicht für λόγος. Mit in usu est nostrorum unterscheidet Tertullian natürlich nicht zwischen den „cristiani d’Africa“ und anderen Christen lateinischer Sprache (so GIUSEPPE Q.S.F. SCARPAT: Tertulliano, Adversus Praxean, edizione critica con traduzione e note italiane [Biblioteca Loescheriana], Turin 1959, 191, mit Verweis auf eine numidische Inschrift [CIL VIII 2309]).
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mit sermo doch für haltbar: tamen et sic nihil interest. Diese Haltung findet ihren Grund einmal in der Zurückhaltung des Exegeten gegenüber der Autorität der überkommenen Übersetzung biblischen Evangeliums, dann aber auch in der Einsicht in die Beharrungskraft textlicher Tradition (vgl. den terminus technicus: usus). e) Nichtsdestotrotz vermittelt Tertullian, der seinerseits die griechische Sprache nicht nur verstand, sondern in ihr auch theologische Schriften verfasste, seinem Publikum unmissverständlich die Einsicht, dass das angemessene Verständnis des Johannesevangeliums schon im ersten Vers über die lateinische Übersetzung allein nicht möglich ist, dass also für alle, welche die heilige Schrift unmittelbar, also ohne umfängliche Zurüstung durch sprachliche und theologische Kommentare, richtig lesen möchten, die Kenntnis des Griechischen unabdingbar ist. Im Kontext seiner Schrift und ihres Anliegens, der schriftgemäßen Christologie, bedeutet dabei Verständnis des Johannesevangeliums freilich mehr als Verständnis eines bloßen Texts; das Wort λόγος in Joh 1,1 besser zu verstehen heißt, den λόγος selbst besser zu verstehen.38
3. Wer etwas übersetzt, weiß aus eigener Erfahrung, dass das, was auf der einen Seite aufgenommen wird, auf der anderen trotz aller Bemühung niemals vollkommen wiedergegeben wird. Die abschließende Übersetzung ist freilich besonders verlustreich bei solchen Wörtern und Begriffen, die nicht nur eine große synchrone Vielfalt an Sinn und Bedeutungen, aus der die vom Sprecher des konkreten Textzusammenhangs intendierte gewonnen werden muss, aufweisen, sondern darüber hinaus, neben der dem Wort selbst anhaftenden Historie seiner Semantik, auch ganze ideen- und geistesgeschichtliche Zeiträume in sich zusammenfassen und vorgängige hermeneutische Prozesse gleichsam verdichten.39 Dass das heute gern – auch von Übersetzern selbst – ins Feld geführte Postulat:
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Wenn – was schon die frühchristlichen Exegeten hervorheben – selbst der Evangelist, seiner göttlichen Inspiration zum Trotz, nur menschlich in menschlichen Worten griechischer Sprache, also niemals vollkommen und seinsgemäß, vom Logos zu künden vermochte, dann vergrößert die defizitäre Übersetzung des griechischen Wortes in eine andere Sprache diesen Abstand notgedrungen noch weiter. Auch andere Kernwörter neutestamentlicher Theologie, etwa πίστις oder μετάνοια, zeichnen sich durch hohe semantische Komplexität aus. Wenn hier am Beispiel von λόγος die Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, wie einzelne Wörter zu übersetzen sind, soll dadurch nicht aus dem Blick geraten, wie herausfordernd das Übersetzen eines gesamten Textzusammenhangs ist. In Joh 1,1 etwa werfen neben λόγος ja auch die Präposition πρός und das artikellose θεός bis heute kontrovers debattierte Fragen auf, in Joh 1,3 das artikellose πάντα und das Verb γίγνεσθαι.
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„Jede Übersetzung ist Interpretation“ irreführend ist, liegt allen hermeneutischen turns zum Trotz auf der Hand: Nach wie vor unterliegt jeder Versuch zu übersetzen notwendigerweise dem Kriterium ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, das sich immer wieder neu am zu übersetzenden Ausgangstext bemisst – mithin an dessen umfassender Interpretation, die selbst immer auch ein Übersetzen ist. Die Übersetzung selbst hingegen ist der Zielpunkt allen Übersetzens, an dem Rechenschaft über die Ergebnisse des Übersetzens abgelegt wird, sein Abschluss, der allerdings allzu häufig kein krönender ist, sondern ein defizitärer, in dem die Fülle und Tiefe des Texts eben nicht oder nicht adäquat zum Ausdruck in der Zielsprache kommen kann.40 Doch wird durch diesen Mangel das Kriterium selbst nicht aufgehoben – nach der ‚richtigen‘ Übersetzung zu streben41 bleibt notwendiger und richtiger Anspruch an das Übersetzen, selbst dann, wenn das Ergebnis nur eine möglichst enge Annäherung an das ‚richtig‘ erreicht.42 Bekanntlich findet das Übersetzen der Aussage eines anderen, sei diese nun eine historische, in einem schriftlichen Text aufbewahrte, oder eine mündlich geäußerte – also ihrerseits vergangene, nur nicht so weit vergangene –, selbst niemals Abschluss43 und ereignet sich als interaktiver Verständigungsprozess immer wieder neu, immer wieder schlechter, aber auch immer wieder besser, dem 40
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Vgl. dazu DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ (s. Anm. 4), 54: „Der Übersetzer […] kann sein Textverständnis nicht extensiv erläutern, sondern er muß zum Punkt kommen und das eine treffende Wort finden, das (seinem Verständnis zufolge) am besten geeignet ist, an die Stelle des Originals zu treten. […] nicht alles, was er verstanden hat, kann er in seiner Übersetzung auch zum Ausdruck bringen.“ Gerade bedeutendste Persönlichkeiten in der Geschichte der Bibelübersetzung wie Hieronymus und Luther hörten nicht auf, ihr eigenes Übersetzen biblischer Texte immer wieder fortzusetzen, ja zu revidieren, selbst dann nicht, nachdem sie bereits autoritative Übersetzungen publiziert hatten. Wenn Luther im Sendbrief vom Dolmetschen über „sein“ Neues Testament feststellt (WA 30,2,633): „[…] habe damit niemand gezwungen, das ers lese, sondern frey gelassen, und allein zu dienst gethan denen, die es nicht besser machen können. Ist niemandt verboten ein bessers zu machen“, dann ist hier die Dialektik des immer unabgeschlossenen Übersetzens mit dem Ziel einer immer zu verbessernden (!) Übersetzung in klarstes Wort gefasst. Philipp Melanchthon fasst dieses Ziel genau ins Auge, wenn er dem evangelischen Prediger am Ende seiner Schrift De ratione concionandi (aus dem Jahr 1553) empfiehlt: textus tractandus in graeco et latino et germanico sermone inspiciendus est. sic fiet, ut non intellectus in una lingua exactius intelligatur in altera. Die Erfahrung, dass das Übersetzen in die eigene Sprache einerseits, der Vergleich der eigenen Übersetzung mit anderen Übersetzungen in die eigene wie auch in fremde Sprachen andererseits, das Verständnis des Originaltextes genauer machen, entscheidend schärfen, ihn in seinen formalen wie inhaltlichen Details ganz anders wahrnehmen lassen als die bloße Lektüre einer einzigen Übersetzung in die eigene Sprache, wird allen, die selbst schon einmal übersetzt haben, vertraut sein. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Fähigkeiten, welche das Übersetzen so im Leser schult, heute für ebenso wichtig hält wie Melanchthon. Auf die schrifttheologisch und -hermeneutisch herausfordernde Frage, wie sich dies zu der (in der Antike nicht seltenen) Annahme inspirierter Bibelübersetzung verhielte, kann hier leider nur hingewiesen werden.
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Original der Ausgangssprache angemessener. Warum Übersetzen (lernen) heute zuweilen als gelehrtes lʼart pour lʼart und damit als verzichtbare Gelehrsamkeit in Gegensatz gebracht wird zu Kommunikation (lernen), bleibt daher unerfindlich: Wenn ich selbst die Aussage eines anderen übersetze, verstehe ich diese Aussage und den anderen zwar vielleicht noch nicht richtig, aber doch regelmäßig richtiger, besser, tiefer als jemand, der nur meine Übersetzung derselben Aussage kennt.
4. Laktanz behandelt in dem vierten Buch seiner Divinae Institutiones (inst. 4,8; aus dem ersten Jahrzehnt des vierten Jahrhunderts) die prima nativitas des Gottessohns Christus, also jene „von Anfang her“ (a principio). Die heiligen Schriften lehrten, der filius dei sei sermo, mithin ein spiritus cum voce aliquid significante prolatus: […] cum uoce ac sono ex dei ore processit sicut uerbum, ea scilicet ratione, quia uoce eius ad populum fuerat usurus, id est quod ille magister futurus esset doctrinae dei et caelestis arcani ad homines perferendi. ipsum primo locutus est, ut per eum ad nos loqueretur et ille uocem dei ac uoluntatem nobis reuelaret. merito igitur sermo ac uerbum dei dicitur, quia deus procedentem de ore suo uocalem spiritum, quem non utero, sed mente conceperat, inexcogitabili quadam maiestatis suae uirtute ac potentia in effigiem, quae proprio sensu et sapientia uigeat, conprehendit […].
Die folgende Reihe von Schriftstellen, welche belegten, dass Gott aus Gott durch Hervorbringung von Stimme und Geist (prolatione vocis ac spiritus) gezeugt worden sei (vgl. Ps 33,6; 44,2; Sir 24,5–7), beschließt Laktanz mit Joh 1,1 als neutestamentlichem Höhepunkt, zitiert mit verbum als Übersetzung des griechischen λόγος. Jedoch verzichtet auch Laktanz nicht auf einen Kommentar: sed melius Graeci λόγον dicunt quam nos uerbum sive sermonem: λόγος enim et sermonem significat et rationem, quia ille est et uox et sapientia dei. Diese Feststellung ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: a) Laktanz erkennt die Autorität der lateinischen Bibelübersetzung an. b) Nichtsdestotrotz lässt er unmissverständlich durchklingen, dass er seinerseits sermo für die bessere lateinische Übersetzung des johanneischen λόγος hält als verbum.44 Seine Präferenz gründet offenbar auf dem semantischen Ver-
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Novatian, der in Rom um die Mitte des dritten Jahrhunderts seine Schrift De trinitate veröffentlichte, zitiert als lateinische Bibelübersetzung des johanneischen λόγος das Substantiv verbum (vgl. insbesondere trin. 13). In den Ausführungen seiner eigenen theologischen Argumentation hingegen ersetzt er, nicht selten in unmittelbarer Nähe zu direkten Zitaten von Versen aus dem Johannesprolog, verbum gern durch sermo (vgl. etwa trin. 10,7; 14,17;
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ständnis von sermo als zugleich einerseits tatsächlich ausgesprochener, andererseits bedeutungstragender, rationaler und weiser Äußerung eines Sprechers, oder besser: durch den Mund eines Sprechers – womit stärker als durch das Wort verbum sowohl der prozessuale, gleichsam physische Vorgang der Äußerung als auch das tätige Subjekt des Sprechers berücksichtigt werden.45 c) Und doch insistiert auch Laktanz, der als Rhetoriklehrer in Nikomedien lehrte, nachdrücklich – und, anders als Tertullian, ausdrücklich (melius Graeci!)46 – darauf, dass die lateinische Übersetzung gegenüber dem griechischen Original mangelhaft sei, weil unfähig, die Komplexität des Begriffs λόγος in einem Äquivalent, ob nun verbum oder sermo, zu umfassen und damit dem Leser auch die Bedeutung ratio zu garantieren. d) Der griechischen Philosophie konzediert Laktanz, den sermo divinus schon erkannt zu haben. Als Beispiel führt er, im Anschluss an die oben bereits zitierte Stelle aus Tertullians Apologeticum, den Stoiker Zenon an, der mit dem Wort λόγος denjenigen verkündet habe, der die natürliche Welt geordnet und den Kosmos erschaffen habe, mithin den rerum naturae dispositor atque opifex universitatis, den er auch fatum, necessitas rerum, deus und nach antiker Gewohnheit animus Iovis genannt habe: sed nihil obstant verba, cum sententia congruat veritati. est enim spiritus dei, quem ille animum Iouis nominavit.47
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15,6; 21,3f.10.12; 31,2). Woher diese persönliche Präferenz, welche die Autorität der Bibelübersetzung nicht angreift, rührt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Ähnlich wie bei Tertullian und Cyprian wäre eine ausführliche semantische Studie zum Wortgebrauch von verbum und sermo wünschenswert. Die Frage nach der Substanzhaftigkeit des göttlichen verbum wurde in den christologischen Debatten des vierten Jahrhunderts kontrovers beantwortet (vgl. etwa Hilar. synod. 46; trin. 2,13–24). Darauf, dass der johanneische λόγος, das göttliche verbum, zwar gesprochenes, aber unvergängliches, rein geistig gesprochenes Wort sei, insistiert die spätere Exegese nachdrücklich (vgl. etwa Augustinus tract. in Ioh. 1,8 sowie BEUTEL: In dem Anfang war das Wort [s. Anm. 1], 213; ABRAMOWSKI: Logos [s. Anm. 25], 199f.; DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ [s. Anm. 4], 51–53 [zu Thomas von Aquin und Luther]; und JOHANN KREUZER: Augustinus: Der Markt der Geschwätzigkeit und der Sinn des Verstehens, in: PHILIPP STOELLGER [Hg.]: Rhetorik und Religion [Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 34], Berlin / Boston 2015, 53–78, 58–60.64.68–72). Vgl. auch inst. 6,24 zum griechischen Terminus μετάνοια (mit der Übersetzung resipiscentia). Als zweites Beispiel nennt Laktanz den Hermes Trismegistos: nam Trismegistus, qui ueritatem paene uniuersam nescio quo modo inuestigauit, uirtutem maiestatemque uerbi saepe descripsit, sicut declarat superius illud exemplum, quo fatetur esse ineffabilem quendam sanctumque sermonem, cuius enarratio modum hominis excedat.
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5. Im Jahr 384 n. Chr. erhielt Hieronymus, noch in Rom befindlich, von Papst Damasus den Auftrag, den lateinischen Text der vier Evangelien gründlich zu revidieren. Die älteren Übersetzungen unterzog er daraufhin einer eingehenden Durchsicht gemäß dem fremdsprachlichen Urtext, übersetzte die Schriften also nicht selbst durchgehend neu, sondern emendierte sie nach dem Kriterium ihrer Übereinstimmung mit der (von ihm benutzten) griechischen Vorlage. Die Frage, in welchem Umfang die Evangelien nach dieser Revision von den älteren lateinischen Übersetzungen abwichen, ist bis heute nicht einmütig geklärt und kann jeweils nur am Befund des einzelnen Textes beantwortet werden. Sicher ist jedoch, dass Hieronymus im Prolog des Johannesevangeliums die überwiegende Tradition der Vetus Latina nicht antastete und als Übersetzung des griechischen Worts λόγος das lateinische Substantiv verbum im Text beließ. Zehn Jahre später, also im Jahr 394 n. Chr.,48 schrieb Hieronymus – er lebte mittlerweile seit längerem in Bethlehem – einen Brief (epist. 53) nach Spanien, an den Dichter Paulinus (den späteren Nolanus), den er zu radikaler Lebensumkehr aufforderte, seine bisherige Existenz aufzugeben, zu ihm ins heilige Land zu kommen und sich dort mit ihm, in asketischem Habitus, dem Studium der heiligen Schrift zu widmen. Dieser Brief, der in den folgenden Jahrhunderten viel gelesen, ja sogar lateinischen Bibelhandschriften, mithin isoliert von anderen Werken des Autors, vorangestellt wurde, ist ein vorzügliches Dokument der Bildungsgeschichte spätantik-frühchristlicher Theologie: Hieronymus begründet seinem Adressaten in großer Ausführlichkeit die Notwendigkeit lebenslangen, demütigen Bemühens des Christen um das Verständnis der biblischen Offenbarung, also des Schriftstudiums, betont die große Herausforderung dieses Bemühens angesichts der Tiefe der Schrift, bietet sich selbst nicht als Lehrmeister, der schon die Antworten auf alle Fragen zum Verständnis der Bibel wüsste, sondern als Wegbegleiter durch die Schrift an, formuliert zahlreiche solcher Fragen, die gerade einem hochgebildeten antiken Menschen wie Paulinus interessant erscheinen konnten, und rückt immer wieder auch ganz grundsätzlich das Wesen von scientia und doctrina in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, mit besonderem Augenmerk auf das Verhältnis von antiker Bildung und Gelehrsamkeit einerseits, christlicher fides und Theologie andererseits. Dass Hieronymus im Zentrum des Briefes zum ersten Mal eine regelrechte ars scripturarum postuliert, macht das Werk zu einem Gründungstext christlicher Wissenschaft – einer Wissenschaft also, die für Hieronymus tatsächlich Schriftwissenschaft ist, aber als solche zugleich den Höchsten selbst zu wissen strebt.
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Die weithin anerkannte Autorität, die Hieronymus als Übersetzer aus dem Griechischen bis zu diesem Zeitpunkt erworben hatte, spricht auch aus Augustins Brief 28 (aus den Jahren 394/95 n. Chr.).
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In der ersten Hälfte des Briefes bezieht Hieronymus Position in der langandauernden, in der alten Kirche überaus kontrovers geführten und niemals in eine allgemein akzeptierte Übereinstimmung überführte Debatte über die Zuoder Abträglichkeit von Bildung und Gelehrsamkeit, die natürlich niemals nur eine Bildungsdebatte um der Bildung selbst willen war, sondern die existenzielle Frage diskutierte, ob doctrina und scientia gottgefällig, ja heilsnotwendig seien – und gegebenenfalls welche doctrina und scientia und in welchem Umfang – oder im Gegenteil gegen Gottes Plan mit den Menschen verstießen und als sündhaft verworfen werden müssten. Hieronymus, der zu seiner Zeit profilierteste Bibelwissenschaftler lateinischer Sprache und in der gesamten christlichen Welt berühmte Übersetzer biblischer Schriften aus der griechischen und hebräischen Sprache, steht dabei in dem Dilemma, einerseits das frühchristliche Ideal der sancta rusticitas zurückzuweisen, andererseits dem jungen, aber in den renommierten artes antiker Kultur bereits weithin ausgewiesenen poeta doctus Paulinus die Grenzen griechisch-römischer eruditio aufzuzeigen. Diese dürfe nicht um ihrer selbst willen Geltung beanspruchen, sondern insofern, als sie in den Dienst und Gebrauch der christlichen fides und doctrina zu stellen, also Gegenstand christlichen usus iustus antiker Kulturgüter sei. In diesem Zusammenhang kommt Hieronymus auf die Fischer Petrus und Johannes49 zu sprechen: Die Pharisäer staunten darüber, dass die beiden das Gesetz wüssten, ohne je irgendwelche Studien betrieben zu haben (vgl. Apg 4,13), und verstanden nicht, dass ihnen das, was andere durch tägliche Übung und Meditation des Gesetzes lernten, der heilige Geist eingegeben habe, sie also θεοδίδακτοι gewesen seien (vgl. zum Begriff 1Thess 4,9). Und weiter (epist. 53,4): Ioannes rusticus, piscator, indoctus? et unde illa vox, obsecro, „in principio erat verbum et verbum erat apud deum et deus erat verbum“? λόγος enim Graece multa significat – nam et verbum est et ratio et supputatio et causa uniuscuiusque rei – per quae50 sunt singula, quae subsistunt. quae universa recte intelligimus. hoc Plato nescivit, hoc Demosthenes eloquens ignoravit. 49
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Der Verfasser des Evangeliums ist für Hieronymus, im Einklang mit der frühchristlichen Exegese (vgl. etwa BRUNS: Christologischer Universalismus [s. Anm. 15], 9 [zu Origenes]), der Fischer Johannes, Sohn des Zebedäus, Bruder des Jakobus (Mk 1,19f.; vgl. 3,17) und Lieblingsjünger des Herrn (Joh 13,23–25). Die textkritische Aufarbeitung der Hieronymusbriefe ist nach wie vor ein Desiderat. Überliefert ist an dieser Stelle die Variante […] per quam […], eine lectio facilior, durch welche der Relativsatz direkt an causa uniuscuiusque anschlösse. Bemerkenswert, dass Marius Victorinus schöpfungstheologisch Gott als praecausa / (prima) causa omnium annimmt (vgl. etwa epist. Cand. 1,3; ad Cand. 13.14.18; adv. Arium 1,3.27; dazu mit weiteren Stellen BALTES: Marius Victorinus [s. Anm. 19], 45–47.54), aber auch sagen kann (adv. Arium 1,24): […] Christus λόγος est et quod λόγος omnium, quae sunt, ad id, ut sint, causa […]; 44: λόγος autem qui sit in motionis potentia, magis motio et actio est; fertur potentia sua in effectionem eorum quae sunt. quo enim λόγος, hoc causa est eorum quae sunt […] (vgl. auch im Folgenden über den λόγος universalis sowie 1,27.31f.34). Zum λόγος als αἴτιος von allem vgl. schon ausführlich Origenes F 1 in Ioannem (GCS 10, Origenes 4, 483–485).
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Hieronymus setzt hier wie auch in den allermeisten seiner sonstigen Zitate und Verweise auf Joh 1,1 die Übersetzung verbum für λόγος voraus.51 Auf den ersten Blick scheint auch er jenes Defizit zu vermerken, das schon Tertullian konstatiert hatte: Die lateinische Übersetzung des biblischen Evangeliums liefere dem Leser eben nur eine einzige der vielen Bedeutungen, die das griechische Wort zugleich aufspanne. Allerdings geht Hieronymus nicht so weit wie Tertullian: Der umlaufenden lateinischen Bibelübersetzung verbum wird nicht eine einzige – bessere? – Alternative gegenübergestellt, vielmehr wird auch sie in die nunmehr additive Reihe von gleich vier Bedeutungen des griechischen Wortes λόγος als erste aufgenommen.52 Die Überlegungen stehen bei aller Kürze im Dienst des Anliegens, das Hieronymus mit der Argumentation des Briefes insgesamt gegenüber dem Adressaten Paulinus verfolgt: Der ambitionierte, umfassend gebildete Dichter, der vor seiner aufsehenerregenden Konversion zum Christentum über längere Zeit hinweg ein besonders enges Verhältnis zu dem berühmten Gelehrten, Rhetor und Dichter Ausonius von Bordeaux gepflegt hatte, soll dazu bewegt werden, sein ingenium und seine Schaffenskraft in den Dienst der heiligen Schrift 51
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Hieronymus nennt in der Auslegung von Joh 1,1 neben der Übersetzung verbum gelegentlich durchaus auch sermo (vgl. etwa in Eph. 1,3.16; pace OʼROURKE BOYLE: Sermo [s. Anm. 24], 163, und DIES.: A Conversational Opener [s. Anm. 24], 71). Übrigens begegnet in exegetischtheologischem Zusammenhang sermo als lateinisches Pendant zum johanneischen λόγος auch sonst noch in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, so etwa bei dem ältere Tradition (etwa Tertullians Adversus Praxean) eingehend verarbeitenden Phoebadius in der christologischen Schrift Contra Arianos (vgl. etwa 20,3; besonders aufschlussreich 25,4–26,1, wo der Sohn zunächst als sermo dei, als spiritus und sapientia dei bezeichnet wird, bevor es heißt: denique cum eadem sapientia et verbum et spiritus dei sit, singularium tamen nominum officia nuntiantur. sapientia condenti omnia patri aderat: „sermone [!] eius caeli solidati sunt, et spiritu oris eius omnis virtus eorum“ [Ps 33,6]). Vgl. auch epist. 98,13 (Übersetzung der in griechischer Sprache verfassten Epistula Paschalis des Bischofs Theophilus von Alexandria); in Eph. 1,3: […] in Christo, in sermone Dei et sapientia et veritate ceterisque virtutibus […]; 1,16: […] dominus noster Iesus Christus ipse est sermo, sapientia, veritas, pax, iustitia, fortitudo […] oder in Eccl. 1,1,4: ipse [sc. Christus] est siquidem verbum et sapientia ceteraeque virtutes […]. Zum Vergleich auch Marius Victorinus ad Cand. 2: multa dixisti de Christo et vera omnia et, ut se habent, omnia, quoniam potentia est dei et omnipotens potentia et universus λόγος et omnis operatio et omnis vita et alia plurima […] (mit dem gesamten Abschnitt) und 22; adv. Arium 1,27.31.41.47 (dazu auch BALTES: Marius Victorinus [s. Anm. 19], 100 mit langer Liste); 56f.: verbum igitur et vox filius est, ipse vita, ipse λόγος, ipse motus, ipse νοῦς, ipse sapientia, ipse existentia et substantia prima, ipse actio potentialis, ipse ὄν primum, vere ὄν ex quo omnia ὄντα et per quem et in quo […] omnia igitur Christus dominus noster, caro, sanctus spiritus, altissimi virtus, λόγος; 58f.60f.; 3,4; in Phil 2,6–8.9–11; in Eph 1,20–23 u. ö. sowie Augustinus trin. 7,4f. Ambrosius erklärt die Vielfalt der Begriffe grundsätzlich (fid. 1,2,16): certe ne quis possit errare, sequatur ea, quibus scriptura sancta, ut intelligere possumus, filium significavit. verbum dicitur, filius dicitur, dei virtus dicitur, dicitur dei sapientia. verbum, quia immaculatus, virtus, quia perfectus, filius, quia genitus ex Patre, sapientia, quia unum cum patre [vgl. Joh 10,30], unum aeternitate, unum divinitate. non enim pater ipse, qui filius, sed inter patrem et filium generationis expressa distinctio est, ut ex deo deus, ex manente manens, plenus e pleno sit. non sunt igitur haec nuda nomina, sed operatricis virtutis indicia.
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zu stellen, ihres Studiums und Verständnisses. Dieses Anliegen befördert nicht zuletzt der Nachweis, dass die Schrift und ihre Exegese dem Paulinus wahrhaftig geistig-intellektuelle Herausforderung sein werde – galten die biblischen Schriften den Exponenten griechisch-römischer Bildung doch als sprachlich, stilistisch, rhetorisch, aber auch theologisch und philosophisch minderwertiger Stoff, der den Ansprüchen antiker Ästhetik und Gelehrsamkeit nicht im Geringsten zu entsprechen geeignet sei. Auf engsten Raum konzentriert Hieronymus gleichsam performativ diese Herausforderung: a) Paulinus, der in eigenen Briefen bekennt, seine Griechischkenntnisse seien nicht allzu profund, hat als lateinischer Christ für das vertiefte, wahrhaftige Verständnis der biblischen Offenbarung die griechische Sprache zu beherrschen – ein im Ausgang des vierten Jahrhunderts durchaus nicht mehr selbstverständliches Postulat. b) Über die Sprache hinaus erfordert die Schrift umfassende Vertrautheit mit griechischer Gelehrsamkeit, hier exemplifiziert an dem philosophisch-theologischen Leitbegriff des λόγος. c) Exegese eines Bibelwortes setzt intime Kenntnis der gesamten Schrift voraus und ihrer gelehrten, wissenschaftlichen Auslegung. Ein besonderes Faible auch spätantiker Gelehrsamkeit, das man heute mit dem Terminus Intertextualität zu bezeichnen pflegt, hat seine Berechtigung also um nichts weniger in der theologischen Bemühung um die heilige Schrift: Hieronymus verengt seinen Blick auf den λόγος schöpfungstheologisch, nach antikem Verständnis: kosmologisch,53 und rückt damit dessen Bedeutung für einen der wichtigsten Bereiche auch der antiken Philosophie und Theologie in den Mittelpunkt. In ein und demselben Satz, der die Schöpfung des Logos in die Spannung von Universalität (universa) und Partikularität (singula, quae subsistunt) einfasst, verarbeitet er dabei den dritten Vers des Johannesevangeliums (1,3): omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil quod factum est54 und eine Spitzenstelle aus dem Kolosserbrief (1,16f.): […] in ipso condita sunt universa in caelis et in terra, visibilia et invisibilia, sive throni sive dominationes sive principatus sive potestates, omnia per55 ipsum et in ipso creata sunt et ipse est ante omnes et omnia in ipso constant […] (vgl. auch Eph 1,10), die schon Ambrosius in seiner umfassenden Glaubenslehre De fide (wohl aus dem Jahr 380 n. Chr.) über den filius dei so zitiert, dass an die Stelle des Prä53
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Die Beziehung zwischen Joh 1,1 und Gen 1,1 diskutiert Hieronymus explizit im ersten Eintrag seines Liber Hebraicarum Quaestionum in Genesin. Zu universa (neutrum pural) im schöpfungstheologisch-kosmologischen Sinn sind die Parallelen bei Hieronymus Legion (vgl. etwa epist. 64,18; hom. in Marc. 13,32f.; hom. de nativitate domini; in Is. 18,18; 66,1–2a; in Ion. 3,4a: […] cum mundus et universa per ipsum facta sint et sine ipso factum est nihil). Hieronymus setzt universa statt omnia und verwandelt das negativ-singularische sine ipso […] nihil quod factum est in singula, quae subsistunt (vgl. Ambrosiaster in Col. 1,17: in ipso constant, quia sine eo nihil sunt). Dass die Präpositionen in christologisch debattierten Texten besondere Aufmerksamkeit auf sich zogen, erhellt etwa aus Victorinus adv. Arium 1,36.
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dikats constant das dogmatisch-christologisch pointierte, terminologische Verb subsistere tritt: […] per quem cuncta subsistunt (3,14,109; zu Kol 1,16f. in Kombination mit Joh 1,1–3 vgl. auch 1,5,39; 3,6,43 und 4,11,139).56 d) Mit seinem Wort λόγος verkündet Ioannes rusticus et piscator in Gott (und Jesus Christus), also in den Höchsten, über den Menschen sinnen können, eine Einsicht, welche Platon und Demosthenes nicht wussten.57 Über die inhaltliche Berechtigung dieser, gerade im Vergleich zu Laktanzens Anerkennung richtiger Kenntnis des λόγος in der griechischen Philosophie aufschlussreichen Behauptung kann hier leider ebensowenig gehandelt werden wie über ihren selbstgewissen Ton. Hieronymus dokumentiert mit ihr gegenüber Paulinus, dass der semantisch wie ontologisch so komplexe λόγος58 des Johannesprologs den Zu-
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Vgl. zu subsistere etwa Hilar. synod. 12.67–77; Victorinus adv. Arium 1,24.38: […] quoniam ὁμοούσιος et filius, et magis λόγος, hoc est potentia et sapientia dei, necesse est regnare primum sapientiam, per quam subicientur omnia [vgl. 1Kor 15,24–28]. λόγῳ enim et subsistunt et subicientur omnia […] und 52 sowie den Kommentar zum Kolosserbrief (2,16; vgl. schon 1,17) des so genannten Ambrosiaster (wohl zwischen 366 und 384 n. Chr.): […] caput omnium dicitur [sc. Christus], ut per ipsum omnes subsistere videantur. Bekanntlich sah Augustinus als eine der entscheidenden Fundamente platonischer Philosophie an, dass sie in Gott finde die causa subsistendi et ratio intellegendi et ordo vivendi (civ. 8,4). Die altlateinischen Übersetzungen haben hier für das griechische Prädikat συνέστηκεν auch die Versionen consistunt und constituta sunt (vgl. HERMANN JOSEF FREDE: Epistulae ad Philippenses et ad Colossenses [Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel 24,2, 5. Lfg.], Freiburg i. Br. 1970, 358). Auch Pelagius merkt zu Kol 1,17 an (Expositio ad Coloss. 1,17): dum per ipsum subsistunt. Zur Inspiration und eigentlich übermenschlichen Offenbarung des menschlich begrenzten, aber heiligen Evangelisten vgl. Augustinus tract. in Ioh. 1,1–6. Supputatio – deutsch: „Berechnung“ – ist auffällig. Unter den verschiedenen Bedeutungen, die Hieronymus für das griechische Wort λόγος nennt, hat es guten Sinn, zumal da ratio hier als „Vernunft“, nicht wie sonst auch als „(Be-)Rechnung“ verstanden ist. Doch wie lässt sich das Wort supputatio, das im frühchristlichen Latein durchaus geläufig ist (insbesondere hinsichtlich chronologischer Berechnungen), an dieser Stelle (sofern der Text richtig überliefert ist) als Bedeutung des johanneischen λόγος auffassen? Klar ist, dass Hieronymus mit der unkommentierten, andeutungshaften Aufreihung der einzelnen Substantive seinem Adressaten nahelegt, wie voraussetzungsreich das rechte Verständnis des Evangeliums ist. Möglich, dass er mit supputatio auf den Bibelvers Sap 11,20 LXX: […] πάντα μέτρῳ καὶ ἀριθμῷ καὶ σταθμῷ διέταξας (11,21 Vulgata: […] omnia mensura et numero et pondere disposuisti) anspielt (vgl. auch Hi 28,25 und Jes 40,12), der von verschiedenen frühchristlichen Autoren schöpfungstheologisch ausgelegt wurde, besonders eingehend von Augustinus (dazu ISRAEL PERI: Omnia mensura et numero et pondere disposuisti: Die Auslegung von Weish 11,20 in der lateinischen Patristik, in: ALBERT ZIMMERMANN [Hg.]: Mensura. 1. Halbband [Miscellanea Mediaevalia 16,1], Berlin / Boston 1983, 1–21, und MARKUS ENDERS: Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen. Augustinus’ Auslegung des Johannesprologs, in: DERS./KÜHN: „Im Anfang war der Logos …“ [s. Anm. 2], 47–67, 51–54); vgl. etwa Gen. ad litt. 4,3 und tract. in Ioh. 1,12f. mit ausdrücklichem Bezug auf das johanneische verbum.
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griff gleich von zwei Seiten der antiken Gelehrsamkeit provoziere – von der Philosophie und von der Rhetorik.59 Dass diese beiden Seiten mit ihren überragenden griechischen Exponenten – Platon für die Philosophie, Demosthenes für die Rhetorik – identifiziert werden, macht Paulinus noch einmal unmissverständlich klar, welch umfassende Vertrautheit mit der hier als autoritativ anerkannten griechischen, nicht lateinischen eruditio und doctrina unabdingbar sei, um überhaupt auf angemessenem Niveau über biblische Kernstellen debattieren und die Offenbarung des Evangeliums wahrhaftig geltend machen zu können. Natürlich weist gerade die Spitze: hoc Plato nescivit die Ansprüche zurück, welche die (neu-)platonischen Interpretationen und Aneignungen auf den Johannesprolog erhoben hatten – wenn schon Platon selbst hinter der theologischen und kosmologischen Einsicht des Evangelisten zurückbleibt, kann ihr auch eine platonisierende Deutung nicht gerecht werden. Die kurze Anmerkung zu Joh 1,1 fügt der vielschichtigen, subtilen, zwischen Anerkennung und usus iustus einerseits, Kritik und Ablehnung andererseits changierenden Auseinandersetzung, die Hieronymus mit dem zeitgenössischen Neuplatonismus durch den gesamten Brief hindurch führt, einen weiteren, wichtigen Aspekt hinzu.60
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Bereits Hilarius, den Hieronymus sehr schätzt und dessen Schriften er gut kennt, hält im zweiten Buch von De trinitate (2,12) fest, die omnis Graeciae schola zu wälzen liefere keine Antworten auf die Frage nach der Zeugung Gottes, um dann fortzufahren (2,13): consistit […] mecum, in patrocinium editarum superius difficultatum, piscator egens, ignarus, indoctus, manibus lino occupatus, veste uvida, pedibus limo oblitus, totus e navi. quaerite et intelligite, utrum mirabilius fuerit mortuos excitasse, an imperito scientiam doctrinae istius intimasse. ait enim: „in principio erat verbum“ […] respice ad mundum, intellige, quid de eo scriptum sit: „in principio fecit Deus coelum et terram“. fit ergo in principio, quod creatur, et aetate continens, quod in principio continetur, ut fieret. meus autem piscator illitteratus, indoctus, liber a tempore, solutus a saeculis est, vicit omne principium […] (mit dem ganzen Abschnitt bis 2,24). Wie sich Hieronymus vor Paulinus gegenüber Platon und der platonischen Tradition positioniert, ist ein Musterbeispiel christlichen usus iustus. Einerseits diskreditiert er sowohl ausdrücklich, wie hier, als auch implizit den Rang (neu-)platonischer Philosophie und ihrer herausragenden Vertreter, beispielhaft Platons selbst und des im Neuplatonismus hochverehrten Apollonios von Tyana (vgl. dazu MARKUS MÜLKE: Auf Studienreise? Apollonius von Tyana und Paulus bei Hieronymus [epist. 53,1–3 an Paulinus], in: DERS. [Hg.]: Chrêsima. Exemplarische Studien zur frühchristlichen Chrêsis [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 138], Berlin / New York 2019, 115–146), andererseits nutzt er Kerntheoreme, etwa das sokratische Nichtwissen, gleich mehrfach und führt den Schulgründer Platon und dessen weite Reisen zu anderen Lehrern gleich im ersten Teil des Briefes ein als exemplarisches Vorbild demütigen Lernens von anderen (vgl. ebd. und DERS.: Platons Reisen bei Hieronymus [epist. 53,1], Mnemosyne 72 [2019], 1046–1055). Vgl. zur zeitgenössischen christlichen Kritik an (neu-)platonischen Interpretationen des Johannesprologs etwa auch Ambrosius fid. 4,4,46.
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6. Auch Augustinus handelt, augenscheinlich nur im Vorbeigehen, über die Frage, wie λόγος in Joh 1,1 lateinisch wiederzugeben sei. In derselben Zeit, in der Hieronymus sich an Paulinus wandte, diktierte er über mehrere Jahre hinweg sein Kompendium De diversis quaestionibus (Ende der 380er Jahre bis etwa 395 n. Chr.). Die 63. Quaestio befasst sich eben mit dieser Frage: in principio erat verbum. quod Graece λόγος dicitur Latine et rationem et verbum significat. sed hoc loco melius verbum interpretamur, ut significetur non solum ad patrem respectus, sed ad illa etiam, quae per verbum facta sunt operativa potentia. ratio autem, et si nihil per illam fiat, recte ratio dicitur.
Augustinus, selbst aus Nordafrika stammend und des Griechischen nicht mehr in gleichem Maß mächtig wie seine Vorgänger, bezieht sich hier unmissverständlich auf Tertullian zurück und korrigiert dessen Präferenz von ratio, wobei er den Vorrang von verbum vor sermo an dieser Stelle gar nicht zur Sprache bringt.61 Zwar hält auch er fest, dass die lateinische Übersetzung die Bedeutungsfülle des griechischen λόγος nicht zum Ausdruck bringen könne, doch fächert er diese Fülle nun nicht einfach in einer Reihe von lateinischen Äquivalenten auf, sondern spricht ein exegetisches, theologisches Urteil aus und rechtfertigt damit ausdrücklich die überkommene Tradition des lateinischen Bibeltextes. Dieses gerade in seiner Kürze besonders apodiktisch wirkende Urteil Augustins dürfte neben der Traditionskraft der von Damasus und Hieronymus verantworteten Evangelienrevision entscheidend dazu beigetragen haben, dass sich für die Folgezeit die Übersetzung verbum sowohl gegen ratio als auch gegen sermo endgültig durchsetzen sollte. Augustinus rechtfertigt seine Entscheidung zugleich christologisch und schöpfungstheologisch, durch Zusammenschau des ersten und des dritten Verses im Johannesprolog sowie durch Bezug auf Gen 1,1: „Wort“, ausgesprochen, mitgeteilt, zeichne sich notwendigerweise durch „wir61
OʼROURKE BOYLE: Sermo (s. Anm. 24), 163 nennt diese wichtige Stelle nicht. Wenn Augustinus in seinen späteren Tractatus in Ioannis Evangelium (wohl um 406–407 n. Chr.; vgl. zur umstrittenen Datierung ENDERS: Wort Gottes [s. Anm. 58], 47) die Verse Joh 17,14–19 auslegt, kommt er auf V. 17 zu sprechen: sermo tuus veritas est und stellt fest, hier sage Jesus nichts anderes als ego veritas sum – der griechische Text ὀ λόγος ὁ σὸς ἀλήθειά ἐστιν könne auch verbum tuum veritas est übersetzt werden: Verbum meine natürlich den unigenitus dei filius wie in Joh 1,1 – und eben im ersten Vers des Johannesprologs sei statt der allgemeinen Textform in principio erat verbum auch die Version in principio erat sermo handschriftlich überliefert. Das Argument konstatiert natürlich nicht bloß einen Überlieferungsbefund, sondern enthält ein Urteil zugunsten der Übersetzung verbum: in Graeco autem sine ulla varietate, et ibi et hic λόγος est. Für die These, die frühchristlichen Lateiner hätten zwischen sermo und verbum einen signifikanten Bedeutungsunterschied ausgemacht, ist auch Augustinus freilich kein Gewährsmann (vgl. OʼROURKE BOYLE: Sermo [s. Anm. 24], 163, selbst: „Both mean God’s Word, his only begotten, Augustine decides“).
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kende Kraft“ aus, bringe also etwas (her)vor, während „Vernunft“ auch ohne äußere Wirkung Vernunft heiße, im Innern des Vernünftigen, Gottes des Vaters.62
7. Es ist kein Zufall, dass die Übersetzung von λόγος in Joh 1,1 mit Tertullian, Laktanz, Hieronymus und Augustinus solche frühchristlichen Autoren lateinischer Sprache ausdrücklich thematisieren, die nicht allein als sprachgewaltige Redner und sprachkundige Gelehrte hochberühmt waren, sondern auch von der antiken griechisch-römischen Philosophie und Theologie intime Kenntnis besaßen. Ebensowenig ist es zufällig, dass Überlegungen über dieses Thema ab dem fünften Jahrhundert nicht mehr überliefert sind: Die Autorität der von Damasus und Hieronymus verantworteten Revision der Evangelien galt auf Jahrhunderte als unantastbar, und zumal die schwindende Kenntnis sowohl der griechischen Sprache als auch der antiken griechisch-römischen doctrina dürfte im lateinischen Westen dazu beigetragen haben.63 Und schließlich erwacht das Interesse an dem Thema nicht zufällig wieder neu im Humanismus: Sowohl Erasmus von Rotterdam (in der zweiten Auflage seiner lateinischen Übersetzung zum griechischen Text des Novum Testamentum Omne aus dem Jahr 1519) als auch der Calvinist Théodore de Bèze (griechisches Novum Testamentum mit eigener lateinischer Übersetzung, Basel 1559, übersetzt aber wohl schon 1556) entschieden sich dafür, λόγος in Joh 1,1 nicht mit verbum, sondern mit sermo zu übersetzen – den 62
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Thomas von Aquin sollte sich in seinem Johannes-Kommentar eng an Augustinus anschließen (vgl. dazu DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ [s. Anm. 4], 51f.). Vor diesem Hintergrund ist daran zu erinnern, dass auch Marius Victorinus, ohne starke alttestamentliche Rückbindung an die Genesis, den semantischen Komplex, den das Verb λέγειν im Substantiv λόγος anlegt, geltend macht, und zwar hinsichtlich des „Sich-Erschließens des schweigenden Gottes in einen sich aussprechenden; er zeugt seinen Sohn als seinen eigenen Logos“ (BEIERWALTES: Trinitarisches Denken [s. Anm. 19], 37; vgl. BALTES: Marius Victorinus [s. Anm. 19], 51.53); vgl. etwa adv. Arium 1,55: sanctus igitur spiritus, si loquitur, a filio loquitur, ipse autem a patre. vox igitur et λόγος et verbum isti tres, propter quod unum tres. sed pater quidem in silentio loquitur, filius in manifesto et in locutione, sanctus spiritus non in manifesto loquitur, sed quae loquitur, spiritaliter loquitur und 59; 3,8.10: sunt igitur ista sic singula, ut omnia tria ista sunt singula. una omnibus ergo substantia est. pater ergo, filius, spiritus sanctus, deus, λόγος, παράκλητος, unum sunt, quod substantialitas, vitalitas, beatitudo, silentium, sed apud se loquens silentium, verbum, verbi verbum. quid etiam est voluntas patris, nisi silens verbum, et apud se loquens verbum? hoc ergo modo, cum verbum pater sit et filius verbum, id est sonans verbum atque operans, ergo, inquam, si et pater et filius verbum est, una substantia est und 11.18. Dennoch: „Λόγος meint ja nicht ein Wort, sondern die Macht zu schaffen“ (BALTES: Marius Victorinus [s. Anm. 19], 80, zu adv. Arium 1,31: non enim λόγος locutio quaedam est, sed potentia ad creandum aliquid […]). Wenn zwischen Spätantike und früher Neuzeit die Unterschiede zwischen verbum und sermo für die Deutung von Joh 1,1 diskutiert werden, dann sind dies gleichsam innerlateinische Reflexionen, ohne sprachvergleichenden Bezug auf das griechische Original.
Auf ein „Wort“: Zu Joh 1,1 im frühchristlichen Latein
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scharfen Vorwurf, diese Abweichung von der Tradition der lateinischen Bibelübersetzung sei ein Sakrileg,64 konterte Erasmus mit einer eigens abgefassten, umfänglichen Apologia de „In principio erat sermo“ (1520, 21522), in der er neben sprachlich-semantischen und inhaltlich-theologischen Argumenten insbesondere auch auf die Autorität (spät-)antiker Theologen rekurrierte, die ihm mit der Präferenz von sermo vorangegangen seien.65 Obschon etwa Calvin diesen Überlegungen zustimmte,66 vermochte sich die Übersetzung nicht durchzusetzen: Während für die lateinische Tradition verbum mit der auf dem Konzil von Trient 1546 und dann durch die Sixto-Clementina von 1592 endgültig autorisierten Vulgata festgeschrieben wurde, trat mit den volkssprachlichen Bibelübersetzungen der reformatorischen Bewegungen die Debatte um die rechte lateinische Wiedergabe von λόγος nach und nach wieder in den Hintergrund.67 Martin Luther etwa orientierte sich bei seiner für den deutschen Sprachraum schon bald maßgeblichen Rang gewinnenden Übertragung des Neuen Testaments aus dem Griechischen, seinem sogenannten Septembertestament von 1521/22, bekanntlich stark an der Tradition der lateinischen Übersetzung68 und schrieb in Joh 1,1 fest: „Im Anfang war das Wort […].“69 64 65
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Vgl. dazu mit Beispielen OʼROURKE BOYLE: A Conversational Opener (s. Anm. 24), 58. Vgl. auch seine In Evangelium Ioannis Annotationes z. St. mit Kommentar bei PIETER F. HOVINGH: Desiderii Erasmi Roterodami Annotationes in Novum Testamentum, pars secunda (Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami 6,6), Amsterdam u. a. 2003, 29–32, der darauf hinweist, dass schon Lorenzo Valla die Übersetzung mit sermo bevorzugte (nicht zuletzt deswegen, weil sich dieses Substantiv maskulinen Geschlechts besser in den Fortgang des Textes einfüge); desweiteren CATHERINE A. L. JARROTT: Erasmusʼ In principio erat sermo: A Controversial Translation, in: Studies in Philology 61 (1964), 35–40, passim, welche auf den – gerade im Vergleich mit Hieronymus und seinen Bibelübersetzungen – aufschlussreichen Zusammenhang hinweist, Erasmus habe seine Übersetzung mit sermo ausdrücklich als eine für Gelehrte, nicht für die plebicula bestimmte verteidigt; BEUTEL: In dem Anfang war das Wort (s. Anm. 1), 214; OʼROURKE BOYLE: Evangelism and Erasmus (s. Anm. 27), 45f., und DIES.: A Conversational Opener (s. Anm. 24), 59–61. Théodore de Bèze vermerkt in den Annotationes zu seiner Übersetzung von Joh 1,1 ausdrücklich: recte mutavit Erasmus und nimmt ebenfalls die Autorität der frühchristlichen Theologen in Anspruch. In seinem Commentarius in Evangelium Ioannis (CR 75,1). Vgl. OʼROURKE BOYLE: Evangelism and Erasmus (s. Anm. 27), 52. Zur umstrittenen Frage, ob er auf der Wartburg das Novum Testamentum Omne (in welcher Auflage?) benutzte und ob seine Ausgabe Erasmus’ eigene lateinische Übertragung enthielt, vgl. die widerstreitenden Positionen bei BEUTEL: In dem Anfang war das Wort (s. Anm. 1), 7f.; DERS.: Auf dem Weg zum „Septembertestament“ (1522). Die Anfänge von Luthers Dolmetschung des Neuen Testaments, in: WALTER GROß (Hg.): Bibelübersetzung heute. Geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen, Stuttgarter Symposion 2000 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel 2), Stuttgart 2001, 95–116, 96, und HANS FÖRSTER: Martin Luther und die Veritas Graeca – Eine Positionsbestimmung, KuD 66 (2020), 195–219, 199 (mit Literatur). Vgl. BEUTEL: In dem Anfang war das Wort (s. Anm. 1), 7: „[…] die Vorlage des VulgataTextes, der Luther auch weithin, und sicher bei Joh 1,1–14, im Gedächtnis vorschwebte“, und FÖRSTER: Veritas Graeca (s. Anm. 68), 199–201. Bemerkenswert, dass Luther an anderer
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Markus Mülke
Berühmt ist die Frage nach der angemessenen Übersetzung von Joh 1,1 natürlich bis heute nicht wegen der Debatten spätantiker Theologen. Goethe lässt Faust noch im Studierzimmer, nicht im Ansbacher Examen – doch Mephistopheles ist als kleiner Pudel mit im Raum – nachdenken70 (V. 1224–1237): 1225
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Geschrieben steht: „im Anfang war das Wort!“ Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabey nicht bleibe. Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rath Und schreibe getrost: im Anfang war die That!
Dass diese Verse nicht allein textimmanent den schon mephistophelischen Faust als ‚Tatmenschen‘ charakterisieren sollen, hat man immer gesehen. Goethe offenbart genaue Kenntnis der kontroversen, nie zum Abschluss gekommenen theologischen Debatten um das rechte Verständnis des Johannesprologs,71 eben des neutestamentlichen Spitzentextes, was sprachliche und theologische Tiefe und Unausschöpflichkeit angeht, eben des Textes, der – hier vor Mephistopheles ins Spiel gebracht – von der Inkarnation des Höchsten kündet. Doch gibt der Dichter zugleich auch ein Zeugnis davon, dass er sich selbst der Unmöglichkeit des Vorhabens selbst, zu dem Faust sich anschickt, also das verstehende Übersetzen des griechischen λόγος in eine richtige Ein-Wort-Übersetzung deutscher Sprache zu überführen, zutiefst bewusst war:72 Er lässt Faust daran scheitern, „daß er Übersetzung und Exegese nicht auseinanderhält. Als miteinander riva-
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Stelle der philosophischen Logosspekulation zum Johannesprolog eine unmissverständliche Abfuhr erteilte: „Du solts nicht verstehen nec begreiffen, sed credere“ (WA 36,408,29– 409,2). Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil, 1224–1237. In der Tat sind, wie oben deutlich geworden ist, Fausts Optionen „Kraft“ und „That“ nicht ohne Vorgang der lateinischen Johannesexegese, dort in Begriffen wie etwa virtus, vis, operatio. DILCHER: „Im Anfang war das Wort“ (s. Anm. 4), 53, Anm. 10, verweist aus der neueren Exegesegeschichte erhellend auf Rudolf Bultmanns Johannesauslegung. Vgl. auch a. a. O., 50: „exemplarischer Fall für die Übersetzungsproblematik“ und „Szene als dramatischer Traktat über das Geschäft des Übersetzens“ (mit gutem Hinweis auf die absichtsvoll ambivalenten Begriffe ‚Wort‘ und ‚Sinn‘, die eben nicht nur mögliche Übersetzungen für λόγος, sondern seit der Antike auch – lateinisch: verbum und sensus – termini technici der Übersetzungstheorie sind).
Auf ein „Wort“: Zu Joh 1,1 im frühchristlichen Latein
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lisierende Übersetzungen vorgebracht, führt sein Versuch zu einer Pervertierung der johanneischen Theologie.“73
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A. a. O., 53.
„Die andere Frage stellen“
„Die andere Frage stellen“
Eine intersektionale Perspektive auf den Brief an die Gemeinde in Rom
Claudia Janssen
CLAUDIA JANSSEN
Das Alltagsleben in Rom in der Mitte des ersten Jahrhunderts war vielfältig. In der Millionenstadt1 lebten Menschen unterschiedlicher Herkunft mit vielen verschiedenen Muttersprachen und unterschiedlichem sozialen Status.2 Einer kleinen Oberschicht standen ca. 90 % der Bevölkerung gegenüber, die zu den Unterschichten gehörten und von denen ca. 70 % knapp oberhalb, aber auch unterhalb des Existenzminimums lebten.3 Sie setzte sich aus Menschen zusammen, die ursprünglich selbst aus unterschiedlichen Gebieten des Imperiums stammten oder deren Vorfahren durch Arbeitsmigration, als Veteranen oder durch Versklavung in die Stadt gekommen sind.4 Die Bevölkerung der römischen Großstädte bestand zu einem Drittel aus Sklav:innen, von denen das Funktionieren der imperialen Ordnung abhängig war, denn sie verrichteten ihre Dienste in allen Bereichen des alltäglichen Lebens.5 Aus Paulus’ Beschreibungen der Gemeinden, an die er schreibt, wird deutlich, dass diese die Zusammensetzung der Gesellschaft spiegelten (vgl. 1Kor 1,26). Wie viele Sklavinnen und Sklaven darunter waren, ist nicht genau zu klären. Die Vielzahl von Texten im Neuen Testament, die die Frage der Sklaverei behandeln (vgl. u. a. 1Kor 7,21–24; Gal 3,38; Philemon; 1
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Zur Frage, wie die Größe der Bevölkerung der Stadt ermittelt werden kann, vgl. GREGORY S. ALDRETE: Daily Life in the Roman City. Rome, Pompeii, and Ostia, London 2004, 21f. Er geht von einer Million Einwohner:innen aus. Zur Vielsprachigkeit und dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen in den Gemeinden vgl. KATHY EHRENSPERGER: Paul at the Crossroads of Cultures – Theologizing in the Space-Between, London / New York 2013; ESTHER KOBEL: Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen Positionierung des Apostels der Völker (Studies in cultural contexts of the Bible 1), Leiden u. a. 2019. Vgl. STEVEN J. FRIESEN: Ungerechtigkeit oder Gottes Wille: Deutungen der Armut in frühchristlichen Texten, in: RICHARD A. HORSLEY (Hg.): Die ersten Christen. Sozialgeschichte des Christentums, Bd. 1, Gütersloh 2007, 271–292. Vgl. HEIKKI SOLIN: Die Herkunft der römischen Sklaven, in: HEINZ HEINEN (Hg.): Menschenraub, Menschenhandel und Sklaverei (FASk 37), Stuttgart 2008, 99–130. Vgl. CLARICE J. MARTIN: Es liegt im Blick – Sklaven in den Gemeinschaften der Christus-Gläubigen, in: RICHARD A. HORSLEY (Hg.): Die ersten Christen. Sozialgeschichte des Christentums, Bd. 1, Gütersloh 2007, 251–270, 258.
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Eph 6,5–9; Kol 3,22–4,1; 1Tim 6,1–2; 1Petr 2,18–25) lassen aber darauf schließen, „dass es wohl nicht wenige waren und dass christliche Gemeinschaften weiterhin versklavte Mitglieder hatten, die auf Grund der Taufe nicht freigelassen wurden“6. Was für die Städte in Kleinasien und Griechenland galt, ist für Rom in besonderem Maße vorauszusetzen. Die Hauptstadt des Imperiums zog Menschen aller Völker an, die hier ihre Geschäfte erledigten wie Phöbe (vgl. Röm 16,1f.) oder solche, die sich auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten niederließen, wie Prisca und Aquila (Röm 16,3–5; vgl. Apg 18,1–4.18; 1Kor 16,9). Diese Mobilität wurde dadurch begünstigt, dass durch die römischen Eroberungen ein Netz von Fernstraßen errichtet wurde und Grenzen offen waren. Die pax romana dehnte sich über den gesamten Mittelmeerraum aus. Die Romrede des Aelius Aristides zeigt die Bedeutung der römischen Herrschaft und deren Hauptstadt.7 Die Rede ist zwar fast ein Jahrhundert nach dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom verfasst worden, die beschriebenen Verhältnisse sind aber in dieser Zeit nahezu ungebrochen stabil, unabhängig von den jeweiligen Kaisern, die an der Macht waren. Aelius Aristides, der aus einer Elitefamilie in Smyrna (Kleinasien) stammte, hielt 143 n. Chr. vor dem Kaiser Antoninus Pius ein Lob „auf Rom“ und deren Herrschaft. Aristides steht in einer langen rhetorischen Tradition, die das Bild des idealen, gottgesandten Herrschers zeichnet und diesem Dank für die Wohltaten sagt. Er betont die Bedeutung der Einheitlichkeit der Herrschaftsprinzipien der Reichsverwaltung, die aus seiner Sicht allen Rechtsicherheit und Freizügigkeit gewährte. „Allen stehen alle Wege offen. Keiner ist ein Fremder, der sich eines Amtes oder einer Vertrauensstellung würdig erzeigt […]. Alle strömen wie auf einem gemeinsamen Markt zusammen, ein jeder, um das zu erlangen, was ihm gebührt. […] Sie [gemeint ist Rom; C. J.] hat niemals einen abgewiesen, im Gegenteil, so wie der Boden der Erde alle Menschen annimmt, so nimmt auch diese Stadt die Menschen aus allen Ländern auf, […] ‚gewaltig in gewaltiger Ausdehnung‘, habt ihr eure Stadt angelegt. Ihr wolltet nicht prahlen und machtet sie nicht dadurch bewundernswert, dass ihr keinem von den anderen Anteil an ihr gabt, im Gegenteil, ihr wart bestrebt, sie mit Bürgern aufzufüllen, die ihrer würdig sind.“8
Es gibt aus Sicht des Aelius Aristides nicht länger die Unterscheidung zwischen Römern und Nichtrömern, allerdings zwischen „Edlen“ und „Beherrschten“.9 6
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CAROLYN OSIEK: Familienangelegenheiten, in: RICHARD A. HORSLEY (Hg.): Die ersten Christen. Sozialgeschichte des Christentums, Bd. 1, Gütersloh 2007, 229–250, 238; vgl. auch MARTIN: Sklaven (s. Anm. 5), 259–263. Vgl. RICHARD KLEIN: Die Romrede des Aelius Aristides. Einführung, Darmstadt 1981. AELIUS ARISTIDES: Rede an Rom, 60.62–63. Hier und im Folgenden zitiert nach folgender Ausgabe: Die Romrede des Aelius Aristides, herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von RICHARD KLEIN (TzF 45), Darmstadt 1983. Vgl. ARISTIDES: Romrede, 59: „Ihr habt nämlich sämtliche Untertanen eures Reiches – wenn ich das sage, habe ich den ganzen Erdkreis gemeint – in zwei Gruppen eingeteilt und überall die Gebildeten, Edlen und Mächtigen zu Bürgern gemacht oder auch ganz und gar
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Freiheit bedeutet für die ersteren Teilhabe an den Privilegien der Herrschenden.10 Aristides war Angehöriger dieser privilegierten Schicht und hatte großes Interesse an den Segnungen der pax romana, die die Oberschichten der eroberten Städte und Länder zur Absicherung der Herrschaft einband. Diese kleine Oberschicht profitierte auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung.11 Die Grußliste in Röm 16 ermöglicht einen Blick auf die Vielfalt derjenigen, die zur Nachfolgegemeinschaft des Messias Jesus gehörten und aus Sicht von Aelius Aristides überwiegend zu den „Beherrschten“ zählten, nach Cicero zum „Kot und Dreck der Stadt“12 (vgl. auch 1Kor 1,26–28; 4,13). Von der Mobilität profitierten auch sie, oft allerdings aus der Notwendigkeit heraus, durch Wanderarbeit ihren Lebensunterhalt zu sichern oder als Versklavte ihren Herrschaften zu folgen. Paulus kennt viele der Genannten, weil er ihnen im Osten des Imperiums begegnet ist und mit ihnen zusammengearbeitet hat (16,3.7.8.9.12.13). Er selbst nutzt auf seinen Reisen das römische Fernstraßennetz und die von Handelsschiffen befahrenen Seewege. Paulus wendet sich an die Gemeinde in Rom, weil er sich von dort aus weiter auf den Weg nach Spanien machen will. Ihre Mitglieder waren vermutlich in zwei Zentren angesiedelt.13 Dazu gehörten das heutige Stadtviertel Trastevere jenseits des Tibers (Transtiberum) und ein weiteres in der Niederung an der Via Appia, Orte an den Rändern Roms, in denen sich auch schon früh jüdische Gemeinden angesiedelt hatten.14 In Rom gab es in dieser Zeit mindestens elf schrift-
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zu euren Verwandten, die übrigen Reichsbewohner gelten euch als Untertanen und Beherrschte.“ Vgl. KLEIN: Romrede (s. Anm. 7), 135: „Seine [Aristides, C. J.] Charakteristik Roms als Demokratie und Weltstaat gesteht den Römern zu, daß sie die ideale Herrschaftsform gefunden haben, in welcher Freiheit und Herrschaft zugleich bestehen können. Ein solches Ergebnis ist jedoch nur möglich, weil der Verfasser zum einen unter Freiheit nicht Unabhängigkeit von der herrschenden Macht, sondern rechtliche und soziale Sicherheit versteht und weil er zum andern Herrschaft nicht als bloße Unterordnung unter Roms Führung, sondern als Teilhabe an den Privilegien aller Herrschenden betrachtet.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit den Lobpreisungen Roms durch Aelius Aristides im Vergleich zur Lebensrealität der Menschen, die zur Unterschicht gehörten, bietet KLAUS WENGST: Pax Romana, Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986. Vgl. CICERO: Briefe an Atticus (1,16,11). Zur Situation in Rom vgl. NEIL ELLIOTT: Die Hoffnung der Armen in Schranken halten, in: RICHARD A. HORSLEY (Hg.): Die ersten Christen. Sozialgeschichte des Christentums, Bd. 1, Gütersloh 2007, 205–226. Peter Lampe verweist auf archäologische Funde (Grabplätze) und Inschriften aus dem 1. Jh. und auf spätere Titelgemeinden in diesen Vierteln. PETER LAMPE: Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT 2 18), Tübingen 21989, 10–52. Vgl. PETER LAMPE: Juden und Christen in Rom. Sozialhistorische Aspekte, in: BiKi 65 (2010), 132–136: 133f.; auch antike Schriften berichten über Juden in diesen Vierteln, vgl. z. B. JUVENAL: Satiren III, 12; MARTIAL: Epigrammata liber XII, 57.
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lich nachgewiesene Synagogen.15 Schon seit dem 1. Jh. v. Chr. gab es in Trastevere eine größere jüdische Ansiedlung, deren Ursprünge vermutlich in der Zeit nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius (63 v. Chr.) lagen. Das geht aus einer Notiz Philos hervor, in der er davon spricht, dass das Gebiet jenseits des Tibers von Juden und Jüdinnen besiedelt war, die als Kriegsgefangene versklavt nach Italien gebracht worden waren. Diese wurden dann von ihren Besitzern freigelassen und erhielten das Bürgerrecht. Er weist besonders darauf hin, dass ihnen gestattet wurde, weiterhin „nach Vätersitte“ zu leben, was bedeutete, dass sie eigene Synagogen hatten, den Sabbat halten konnten und Geld für den Tempel in Jerusalem sammeln durften.16 Trastevere/Transtiberum war ein dicht besiedeltes Hafenviertel, in dem es Handwerk, u. a. Gerbereien gab und eine Vielzahl von in Rom fremden Kulten. Aufgrund seiner morastigen Lage und häufiger Überflutungen gehörte es zu den Malaria-Gebieten in dieser Zeit. Das zeigt eine Untersuchung der Biologin Michelle Ziegler. Sie schreibt: „Low-lying river districts were the slums of their age, just as they are often the location of shoddy housing for the poor in many parts of the world today. The tenements […] were occupied by the lower strata of Roman society, along with a few businessmen willing to risk the pestilential environment.“17
Dazu kam, dass der Tiber durch Abfälle verschmutzt war. Es gab hier keine Versorgung mit fließendem Wasser wie an anderen Orten in Rom. Die Menschen lebten in großen, oft fünf-, sechsstöckigen Mietskasernen (insulae), es gab oft Brände.18 Die Lebensbedingungen waren schlecht: Lärm, Abfall auf den Straßen, Gewalt waren an der Tagesordnung. Für viele war es ein täglicher Kampf ums Überleben. Dazu gehörten auch diejenigen, die die neutestamentlichen Schriften, die Briefe und zwei Jahrzehnte später die Evangelien verfasst haben – und die, an die sie sich richten. Steven J. Friesen formuliert auf der Grundlage dieser Beobachtungen mit Blick auf das Neue Testament: „So lange nicht das Gegenteil bewiesen werden kann, sollten wir davon ausgehen, dass die meisten oder auch alle Rezipienten eines bestimmten Textes nahe am Existenzminimum lebten.“19 Für die Gemeinde in Rom können aufgrund der in der Grußliste in Kapitel 16 genannten Namen Aussagen über deren ethnische Zugehörigkeit, sozialen Sta15
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Vgl. die Diskussion und Belege bei MICHAEL WOLTER: Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1–8 (EKK VI/1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014, 32. Er weist darauf hin, dass es vermutlich noch mehr gegeben hat, über die es keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Lampe spricht von 14 schriftlich nachgewiesenen Synagogen (vgl. LAMPE: Juden [s. Anm. 14], 133). Vgl. PHILO VON ALEXANDRIEN: Legatio ad Gaium, 155–158. MICHELLE ZIEGLER: Malarial Landscapes in Late Antique Rome and the Tiber Valley, in: Landscapes 17 (2016), 139–155. Vgl. CHRISTIANE KUNST: Römische Wohn- und Lebenswelten. Quellen zur Geschichte der römischen Stadt, Darmstadt 2000. FRIESEN: Ungerechtigkeit (s. Anm. 3), 275.
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tus (versklavt/frei) und Geschlecht gemacht werden.20 Neun der 26 genannten Personen sind weiblich. Auffällig ist, dass in Verbindung mit ihrer Nennung überdurchschnittlich häufig Gemeindeaktivität genannt wird: Zusammenarbeit mit Paulus (Priska V. 3), „Schwerstarbeit leisten“ (κοπιάω; Maria, Tryphäna, Tryphosa, Persis V. 6.12).21 Junia wird als Apostelin „herausragend“ genannt (V. 7) und ihre Gefangenschaft zusammen mit Paulus erwähnt. Peter Lampe hat die Namen in Röm 16,3–16 mit zeitgenössischen Inschriften und Dokumenten verglichen und anhand verschiedener Kriterien Zuordnungen vorgenommen. So weisen z. B. griechische Namen in Rom auf unfreie Herkunft hin, manche der Angeschriebenen haben Namen, die speziell für Versklavte geschaffen waren und oftmals zynisch klingen.22 So bedeutet Ampliatus (V. 8) „der Erhöhte“, Hermes und Nereus (V. 14f.) sind Götternamen und der Name Persis, „die Perserin“, (V. 12) weist auf den Ort hin, in dem sie auf dem Markt verkauft wurde. Peter Lampe kommt zu der Einschätzung, dass nur vier Personen der Liste aufgrund ihrer lateinischen Namen mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Versklavten sind (Urbanus, Prisca, Aquila, Rufus „der Rothaarige“ [und seine Mutter] – auch wenn dieser Name in Inschriften für Sklaven belegt ist). Desweiteren gibt es Personen mit Gentil-Namen (lat. gens bezeichnet große römische Bürgerfamilienverbände), die Freigelassene trugen (Julia aus dem julischen gens; Iunia, Sklavin eines Iunius oder Freigelassene aus dem gens Iunia; Herodion, ein Name, der sonst in Rom nicht belegt ist, weist darauf hin, dass er ein früherer Sklave Herodes des Großen gewesen sein könnte). So weisen neun Namen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Versklavte/Freigelassene: Herodion, Nereus, Hermes, Persis, Tryphosa, Tryphäna, Iunia, Iulia, Ampliatus. Hinzu kommen die Leute des Narzissus und des Aristobul, die vermutlich nicht selbst zur Gemeindeversammlung zählten, sondern ihre Versklavten bzw. Freigelassenen. Eine jüdische Herkunft ist für Aquila (V. 3), Andronikus (V. 7), Junia (V. 7), Herodion (V. 11) und möglicherweise für Miriam (V. 6) und auch für Rufus und seine Mutter anzunehmen.23 20
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Zum Folgenden vgl. LAMPE: Stadtrömische Christen (s. Anm. 13), 124–153. Er bezieht sich in seiner 1989 erschienenen Studie auf das Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) und auf die Auswertung der Inschriften durch HEIKKI SOLIN: Die griechischen Personennamen in Rom, Berlin 1982. Vgl. LUISE SCHOTTROFF: Wie berechtigt ist die feministische Kritik an Paulus? Paulus und die Frauen in den ersten christlichen Gemeinden im Römischen Reich (1985), in: DIES.: Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, München 1990, 229–246, 232; LAMPE: Stadtrömische Christen (s. Amn. 13), 136–138; STEFAN SCHREIBER: Arbeit mit der Gemeinde (Röm 16,6.2), in: NTS 46 (2000), 204–226. Vgl. HEIKKI SOLIN: Die stadtrömischen Sklavennamen. Ein Namenbuch. Drei Teile. Teil 1. Lateinische Namen. Teil 2. Griechische Namen. Teil 3. Barbarische Namen, Indices (Forschungen zur antiken Sklaverei, Beiheft 2), Stuttgart 1996. Zur Einordnung vgl. ROBERT JEWETT: Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 953; MICHAEL WOLTER: Der Brief an die Römer. Teilband 2: Röm 9–16 (EKK VI/2), Göttingen/Ostfildern 2019, 467.
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Was bedeutet es, diese Menschen als erste Adressat:innen des Briefs an die Gemeinde in Rom wahrzunehmen? Ich stimme Mitzi Smith und Yung Suk Kim in ihrer Einschätzung zu, dass es sich um ein situatives Schreiben handelt: „Romans is not a book of systematic theology but a letter that deals with issues facing Paul and the Roman household assemblies.“24 Deshalb möchte ich in einem ersten Schritt die jeweiligen Identitäten (Geschlecht, sozialer Status, ethnische Zugehörigkeit) der Gemeindemitglieder mit Hilfe des Konzepts der Intersektionalität genauer betrachten. Daran anknüpfend werde ich danach fragen, was eine solche Perspektive für die Deutung der theologischen Aussagen des Briefes an die Gemeinde in Rom in ihrem antiken Kontext und für die Auslegung im 21. Jahrhundert austrägt.
1.
Die andere Frage stellen
Um die Komplexität der Lebenswirklichkeiten in ihrer Vielfalt erschließen zu können, ist das Konzept der Intersektionalität ein wichtiges Instrument. Intersektionalität ist ein Ansatz, der als Analysemodell aktuell den meisten kontextuellen Forschungsansätzen im Bereich der Genderstudies zugrunde liegt.25 Der Begriff ist abgeleitet vom englischen Wort für „Kreuzung“ (intersection). Entwickelt wurde er bereits in den 1990er Jahren von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, um erklären zu können, wie gesellschaftliche Ungerechtigkeit funktioniert, wie sie wirkt und wie sie verändert werden kann. Dazu hat sie das Bild der Straßenkreuzung gewählt, die den Mittelpunkt bildet, an dem verschiedene Erfahrungen von Diskriminierung zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken.26 Ursprünglich hatte Kimberlé Crenshaw vor allem die Überschneidung von Rassismus und Sexismus und insbesondere die Situation Schwarzer27 Frauen im Blick. Die von Ausgrenzung betroffene Person steht in der Mitte der Kreuzung, wo sie ein hohes Unfallrisiko hat, besonders verletzlich und schutzbedürftig ist, ohne dass ihre Situation auf einfache Gründe oder eigenes Verschulden zurückgeführt werden kann. Dieser Ansatz wurde in der Folge-
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MITZI J. SMITH / YUNG SUK KIM: Toward Decentering the New Testament. A Reintroduction, Eugene (Oregon) 2018, 218. Zum Folgenden vgl. CLAUDIA JANSSEN: Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart, in: ZNT49 (2022), 107–121. Vgl. KIMBERLÉ CRENSHAW: Das Zusammenrücken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken (1989), in: NATASHA A. KELLY (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, 145–186. Schwarz ist eine Selbstbezeichnung. Bei dem Begriff geht es nicht um die Beschreibung einer tatsächlichen Hautfarbe, sondern um eine politische Kategorie. Um dies zu betonen, schreiben manche Autor:innen Schwarz auch als Adjektiv groß.
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zeit erweitert. Aspekte wie Herkunft, Alter, sexuelle Identität, Behinderung wurden einbezogen. Denn sie wirken ebenfalls nicht unabhängig voneinander, sondern sind in ihren Auswirkungen eng miteinander verwoben. Auf Deutsch wird intersectionality deshalb auch mit den Begriffen „Überkreuzungen“ oder „Verwobenheit“ wiedergegeben.28 Die Alttestamentlerin Gale A. Yee versteht „Intersektionalität” als umfassenden hermeneutischen Zugang zur Exegese: „What I am suggesting for biblical studies is that we think ‚intersectionally‘ in our own methodological approaches to the biblical text. Thinking ‚intersectionally‘ is an invitation to rethink the main assumptions and paradigms of our field to reveal the interconnections of various forms of power.“29
Intersektionalität sei eine Ermutigung, über die Grenzen des eigenen Denkens, aber auch über die Grenzen der Bibelwissenschaften hinauszugehen, Machtfragen zu thematisieren und ungehörte, unterdrückte Stimmen zu entdecken und ernst zu nehmen. Auch methodisch sei es wichtig, neue Wege zu gehen. In ihren Ausführungen bezieht sie sich auf eine Methode, die ursprünglich ebenfalls von einer Juristin entwickelt wurde, von Mari J. Matsuda. Diese nennt ihren Zugang „die andere Frage stellen“ („asking the other question“). Sie geht davon aus, dass keine Form der Unterordnung jemals für sich stehe. Es gelte deshalb immer auch „die andere Frage“ zu stellen, wenn eine Diskriminierung oder Marginalisierung wahrgenommen wird: Wenn etwas sichtbar wird, das rassistisch aussieht, ist zu fragen: „Wo ist das Patriarchat darin?“ Wenn etwas sichtbar wird, das sexistisch aussieht, ist zu fragen: „Wo ist der Heterosexismus darin?“ Wenn etwas sichtbar wird, das homophob aussieht, ist zu fragen: „Wo sind hier die Klasseninteressen?“30 Ein zentraler Text, der oft herangezogen wird, um die Bedeutung von Intersektionalität im Neuen Testament aufzuzeigen, ist Gal 3,28: „Es gibt nicht mehr jüdisch und griechisch, nicht mehr versklavt und frei, nicht mehr männlich und weiblich: denn alle seid ihr ‚einer‘ – einzig einig – im Messias Jesus.“31 Diese Formel wurde in den galatischen Gemeinden, an die Paulus schreibt, bei der Taufe gesprochen. Sie ist Bekenntnis und zugleich eine Verpflichtung, sich anders zu verhalten als es im Alltag der antiken Gesellschaft üblich ist. „Es gibt nicht mehr jüdisch und griechisch“, heißt: Die Herkunft aus unterschiedlichen Ländern und 28
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30
31
Vgl. KATHARINA WALGENBACH: Intersektionalität – eine Einführung (2012), http://portalintersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/walgenbach-einfuehrung/ (letzter Zugriff am 16.09.2022). GALE A. YEE: Thinking Intersectionally: Gender, Race, Class, and the Etceteras of Our Discipline, in: JBL 139 (2020), 7–26, 26. Vgl. ebd., mit Bezug auf MARI J. MATSUDA: Beside My Sister, Facing the Enemy: Legal Theory out of Coalition, Stanford Law Review 43 (1990), 1183–1192, 1189. Gal 3,28 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache, https://www.bibel-in-gerech ter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Gal/3/28-/ (letzter Zugriff am 05.9.2022).
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Kulturen sollen Menschen nicht mehr voneinander trennen, die dem Messias Jesus nachfolgen wollen. „Es gibt nicht mehr versklavt und frei“, heißt: Soziale Unterschiede sollen in den Gemeinden aufgehoben werden, Versklavte haben dieselben Rechte und Pflichten wie Freie. „Es gibt nicht mehr männlich und weiblich“, heißt: Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht soll keine Vorrechte oder Diskriminierung mehr bedeuten. Die Brisanz dieser Sätze wird dann sichtbar, wenn danach gefragt wird, was diese Grundsätze in der Praxis der Gemeinden bedeuteten. Hilfreich ist es, sich dabei die vielfältigen Verflechtungen der sozialen Kategorien vor Augen zu rufen, die hier angesprochen werden. Denn die Menschen in Rom waren nicht nur jüdisch oder gehörten zu beherrschten Ethnien, sie waren versklavt oder frei und gehörten einem bestimmten Geschlecht an, das ihre Lebenswirklichkeit prägte. „Categories did not operate in isolation but interacted with and influenced each other. […] Indeed, early Christian discourse reflects a context of cultural complexity.“32 So beschreibt Marianne Bjelland Kartzow den Kontext, der in Gal 3,28 sichtbar werde und schlägt vor, auch hier „die andere Frage“ zu stellen, um zu verstehen, wie Aushandlungsprozesse zwischen diesen unterschiedlichen Identitätskategorien funktioniert haben könnten. Denn Intersektionalität sei ein Instrument, um Unterschiede und Diskriminierung zu erfassen, das angewendet werden könne, „in order to understand difference in general and how identities are negotiated. […] Intersectionality offers a language to talk about cultural complexity and our role in the production of knowledge.“33 Dazu fertigt sie eine Liste mit acht möglichen hypothetischen Konstellationen an, die sich ergeben: 1. jüdischer Sklave; 2. jüdische Sklavin; 3. jüdischer freier Mann; 4. jüdische freie Frau; 5. griechischer Sklave; 6. griechische Sklavin; 7. griechischer freier Mann; 8. griechische freie Frau. Diese ermöglichten es nun, neue Fragen an die Passage zu stellen, z. B.: „If enslavement, at least legally, severed ties to an ethnos and genos […], did it make sense to consider a slave either Jewish or Greek? The relation between slavery and ethnicity/religion was rather complex. […] Could slaves be included in the gender relationship pair?“34
Was bedeutete die Taufformel in ihrem Miteinander in der Gemeindeversammlung – z. B. wenn alle zum gemeinsamen Essen zusammenkommen? Hatte tatsächlich eine Sklavin dieselben Rechte wie ein freier römischer Mann? Ging es soweit, dass dieser Tätigkeiten übernahm, die sonst Versklavte oder Frauen ausübten? Haben sich jüdische Frauen mit den Frauen aus den anderen ethnischen 32
33
34
MARIANNE BJELLAND KARTZOW: „Asking the Other Question“. An Intersectional Approach to Galatians 3:28 and the Collessean Household Codes, in: BibInt 18 (2010), 364–389, 368. MARIANNE BJELLAND KARTZOW: Art. Intersectional Studies, in: JULIA M. O’BRIEN (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Bible and Gender Studies, Vol. 1, ASI–MUJ, Oxford 2014, 383– 389, 384.386. KARTZOW: Asking (s. Anm. 32), 377f.
„Die andere Frage stellen“
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Gruppen solidarisch gefühlt und sahen freie Frauen versklavte Frauen als gleichberechtigt an? In anderen Vereinen (collegia), derer es in der Stadt viele gab, war ein egalitäres Miteinander von Mitgliedern während der geschlossenen Treffen nicht unüblich. Doch in der Öffentlichkeit wurde die hierarchische Ordnung wieder hergestellt, nach der Freie und Versklavte klar definierte Rollen hatten und der pater familias uneingeschränkt über den Haushalt herrschte. War das in den Gemeinden des Messias Jesus ebenso? Oder hatte das „Einssein“ in Christus auch im Alltag Bestand? Galt das hierarchiefreie Miteinander auch in der Öffentlichkeit? Ein erstes wichtiges Ergebnis einer solchen Analyse der komplexen gesellschaftlichen Zuordnungen, die in Gal 3,28 reflektiert werden, ist, dass die intersektionale Perspektive eine Vielzahl neuer Forschungsfragen generiert, die bisher nicht untersucht wurden. Es geht also nicht zuerst um neue, fertige Antworten, sondern darum, einen Forschungsansatz zu entwickeln, um die Komplexität der Alltags-Wirklichkeit in einer römischen Großstadt im ersten Jahrhundert zu verstehen: „Interpreters are challenged to take in account the extremely complex social environment of the ancient world.“35 Ich möchte im Folgenden an diese Überlegungen anknüpfen und weiter fragen, welche anderen Dimensionen des Verstehens sich auftun, wenn auch zentrale theologische Aussagen intersektional bearbeitet werden: Was bedeutet die Gerechtigkeit Gottes für Menschen unterschiedlicher Geschlechter, die aus verschiedenen Ländern, Kulturen und sozialen Schichten stammen, für Versklavte und Freie, die in den Elendsvierteln von Rom zusammenkommen? Bedeutete es für sie alle das Gleiche oder Unterschiedliches?
2.
Die Gerechtigkeit Gottes (Röm 3,21–24)
In der Theologie wird die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes (δικαιοσύνη θεοῦ) unter dem Begriff „Rechtfertigung“ diskutiert. Im Brief an die Gemeinde in Rom thematisiert Paulus diese in Kapitel 3,21ff.: „Jetzt! ist Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden – χωρὶς νόμου“: ohne Zutun des Gesetzes (Luther 2017); ohne Gesetz (Wolter)36; außerhalb des Geltungsbereiches der Tora (Wengst)37 oder – so lese ich diese adverbiale Näherbestimmung des Offenbarwerdens der Gottesgerechtigkeit: „unabhängig von den Tatfolgen, die die Tora aufzeigt“. Gott spricht den Menschen Gerechtigkeit zu, obwohl dies „gerechterweise“ – d. h. nach den Maßstäben der Tora – nicht möglich wäre (deshalb: außerhalb der Tora). Denn die Tora zeigt sehr klar auf, dass ungerechtes Handeln vor Gott nicht 35 36 37
KARTZOW: Art. Intersectional Studies (s. Anm. 33), 388. Vgl. WOLTER: Römer. Teilband 1 (s. Anm. 15), 246f. Vgl. KLAUS WENGST: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 190.
240
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besteht, jede Tat Folgen nach sich zieht und nur denjenigen, die toragemäß handeln, Gerechtigkeit zugesprochen wird (vgl. Röm 2,6.13).38 Doch Gott gibt der Verurteilung einen Aufschub, hebt sie auf (vgl. 3,25f.; 8,1). Das bedeutet, dass die Tora weiter gültig ist, doch Gott jetzt! (νυνί) zugunsten der Menschen eingreift und den Todeszusammenhang unterbricht, in dem die Sündenmacht (ἁμαρτία) die Menschen versklavt hält.39 Gottes Gerechtigkeit gilt allen, alle bedürfen dieser Gerechtigkeit: „22Gottes Gerechtigkeit, die wirksam wird durch das Vertrauen auf40 Jesus, Messias, für alle, die vertrauen. Denn es besteht kein Unterschied. 23Alle haben ja Unrecht begangen, allen fehlt die Anerkennung durch Gott. 24Gerechtigkeit wird ihnen als Geschenk zugesprochen durch die Zuwendung (χάρις) Gottes und den Loskauf / die Befreiung / Rettung/ ‚Erlösung‘ (ἀπολύτρωσις) im Messias Jesus.“
Georgio Agamben versteht das im Römerbrief mehrfach an zentraler Stelle verwendete νυνί (vgl. Röm 3,21; 5,9.11; 7,6; 8,1.18.22; 11,30; 13,11) als Signal, als Zeichen dafür, dass es hier um eine besondere Zeitangabe geht: die messianische Zeit.41 In der Übersetzung habe ich deshalb ein Ausrufezeichen hinter das „jetzt“ gesetzt: Jetzt! bedeutet, dass Gottes Handeln den Ablauf der Zeiten unterbricht, es bezeichnet das „Heute“ des Heils (vgl. Dtn 5,2f. u. ö.), der Befreiung, der Rettung, die Zeit des Endes der ἁμαρτία und des Todes. Im Rahmen dieses Artikels kann nicht auf alle Übersetzungsfragen und in der Forschung diskutierten Probleme, die sich hier stellen, eingegangen werden. Im Folgenden werde ich mich auf die Frage nach δικαιοσύνη Gerechtigkeit und ἀπολύτρωσις beschränken. Der Versuch, dieses Wort zu übersetzen, eröffnet sofort eine Reihe offener Fragen: Worum geht es hier konkret? Um den Loskauf Versklavter, um die Befreiung aus Fremdherrschaft oder Erlösung in einem übertragenen, spirituellen Sinn? Ἀπολύτρωσις wird auch in der Septuaginta42
38
39
40
41
42
Vgl. PETER J. TOMSON: „Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ (Röm 2,13). Zu einer adäquaten Perspektive für den Römerbrief, in: MICHAEL BACHMANN (Hg.): Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der exegetischen Diskussion (WUNT 182), Tübingen 2005, 183–221. Vgl. LUISE SCHOTTROFF: Die Schreckensherrschaft der Sünde und die Befreiung durch Christus nach dem Römerbrief des Paulus (1979), in: DIES.: Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, München 1990, 57–72; ELSA TAMEZ: Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998, 136f. Διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ: die darauf vertrauen, dass Jesus der von Gott gesandte Messias ist. Zur Deutung als genitivus objectivus: durch den Glauben an Jesus Christus vgl. WOLTER: Römer, Teilband 1 (s. Anm. 15), 248–251), als genitivus subjectivus: durch die Treue des Gesalbten Jesus vgl. WENGST, Freut euch (s. Anm. 37), 190f. Vgl. GIORGIO AGAMBEN: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (edition suhrkamp 2453), Frankfurt a. M. 2006, 11f. Vgl. Ex 21,8; 2Makk 6,22.30; 7,9; Ps 30,6.
„Die andere Frage stellen“
241
und in anderen außerbiblischen Quellen43 verwendet und bedeutet hier: Freilassung gegen Lösegeld von Kriegsgefangenen, von Menschen, die von Piraten geraubt wurden, um Lösegeld zu erpressen, von Sklavinnen im Haushalt. Erst im übertragenen Sinn wird dieses Wort für spirituelle Erlösung verwendet. Deuterojesaja (vgl. Jes 44,21–24) verheißt mit diesem Wort die Rückkehr aus dem Exil. „Jetzt! ist Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden … Gerechtigkeit wird ihnen als Geschenk zugesprochen durch die Zuwendung Gottes und den Loskauf / die Befreiung / Rettung / ‚Erlösung‘ (ἀπολύτρωσις) im Messias Jesus“ (Röm 3,21.24). Was bedeutete diese Aussage für die Menschen in der römischen Gemeinde, für die Adressat:innen des Evangeliums Gottes, das Paulus verkündet (vgl. Röm 1,1–7)? Um diese Frage zu konkretisieren, greife ich die Kategorien auf, die Marianne Bjelland Kartzow anhand von Gal 3,28 entwickelt hat: Was bedeutet diese Aussage für eine jüdische Sklavin, für einen jüdischen freien Mann, für eine griechische freie Frau, für einen griechischen Sklaven …? In Röm 16,3–16 werden Personen genannt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit diesen unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden können: Priska, war eine freie Frau, wahrscheinlich römischer Herkunft (V. 3–5), Herodion ein jüdischer versklavter oder freigelassener Mann (V. 11), Rufus war ein römischer freier Mann (V. 1–2) und Iunia eine jüdische versklavte oder freigelassene Frau (V. 7). Auch wenn diese Zuordnungen auf Wahrscheinlichkeiten basieren und die historischen Personen unter Umständen einen anderen Status hatten, so möchte ich durch sie die ansonsten eher abstrakten Kategorien mit einem Gesicht versehen, mit einem Leben, einer Geschichte, mit Erfahrungen, Sehnsüchten und Hoffnungen füllen. Paulus kannte sie zum Teil persönlich, wendet sich an sie, hofft, sie in absehbarer Zeit zu treffen und schreibt ihnen einen Brief, in dem er von Gerechtigkeit und Befreiung, Erlösung, Freikauf spricht. Was hören diese ersten Adressat:innen des Briefes? Und was bedeutet das für eine heutige Rezeption des Briefes und seiner theologischen Aussagen?
3.
Die Adressat:innen des Evangelium Gottes (Röm 16,3–16)
3.1
Priska
Priska trägt einen lateinischen Namen, sie war mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Sklavin.44 Wenn die Angaben in der Apostelgeschichte (18,1–4.26) zutreffen, war sie zusammen mit ihrem Partner Aquila in Korinth als Handwerkerin 43
44
Vgl. DIODOR: S fr 37, 5, 3; PLUTARCH: Pompeius 24,4.6; Inschrift von Kos p 52 Nr. 29,7; PHILO: Omn Prob Lib 114; Aristeas-Brief 12; 33; JOSEHPUS: Ant 12,17ff. Zur Diskussion über ihre mögliche Zugehörigkeit zur römischen Oberschicht vgl. JEWETT: Romans (s. Anm. 23), 954–957. Er selbst hält diese für unwahrscheinlich: „Of course, it was
242
Claudia Janssen
tätig. Beide haben zusammen mit Paulus Sonnensegel oder Zelte hergestellt, aus Stoff oder Leder. Solche handwerklichen Tätigkeiten waren für die Oberschicht verpönt und galten als verachtenswert.45 Da immer auch eine Gemeindeversammlung in ihrem Haus erwähnt wird, bedeutete dieses Handwerk aber zumindest die Möglichkeit eine Werkstatt anzumieten und anderen Raum zu geben. Es ermöglichte Ihnen vermutlich ein Leben stabil über dem Existenzminimum, wenn sie Arbeit fanden. Gemeinsam mit Paulus brechen sie nach Ephesus auf (V. 18). Priska ist ebenfalls als Lehrerin tätig, sie unterweist Apollos in der Schrift in Ephesus (18,26). Das entspricht den Angaben in 1Kor. Paulus nennt sie als eine der Absenderinnen, sie und Aquila und die Gemeindeversammlung in ihrem Haus in Ephesus (1Kor 16,9). Röm 16,3 zeigt, dass sie nun wieder in Rom sind, als Paulus den Brief schreibt, er spricht beide mit der egalitären Bezeichnung συνεργοί an, als Kolleg:innen, mit denen er zusammengearbeitet und das Evangelium verkündet hat.46 Priska ist eine freie Frau, Handwerkerin, Gemeindeleiterin, Lehrerin. Ihr Mann Aquila ist nach Aussagen der Apostelgeschichte jüdisch. Aus römischer Sicht zählt damit auch sie zu den beherrschten Völkern, den ἐθνή. Sie kennt die Schrifttradition. Was hört sie, wenn ihr Gerechtigkeit und ἀπολύτρωσις zugesprochen werden: Sklaven-Loskauf oder denkt sie eher an den politischen Aspekt der Befreiung von der römischen Herrschaft, die sie in den Städten des Imperiums in vielen Facetten erlebt haben wird?
3.2
Herodion
Der Name Herodion ist ansonsten in Rom nicht belegt. Er weist möglicherweise darauf hin, dass er ein früherer Sklave Herodes des Großen gewesen sein könnte.47 Was bedeutet Gerechtigkeit Gottes für Herodion? Freie sind im römischen Denken den Versklavten hierarchisch übergeordnet, Männer stehen über Frauen. Allerdings gehörten Versklavte zu den Besitztümern. Und so gelten auch männliche Sklaven im Diskurs hegemonialer Männlichkeit nicht als „Mann“ (lat. vir), ebensowenig wie Angehörige nicht-römischer Völker.48 Sie alle gelten als
45 46
47 48
unlikely that a noble Roman woman would become a believer and marry a Jewish handworker, who might have served in her family“ (a. a. O., 956). Vgl. CICERO: De officiis, XLII, 150f. „Nowhere else in the early or later church is this word used in quite this way, revealing a distinctive Pauline approach to missional collegiality, referring both to himself and to others with this egalitarian term“, so JEWETT: Romans (s. Anm. 23), 957. Vgl. LAMPE: Stadtrömische Christen (s. Amn. 13), 148. Zur Diskussion um hegemoniale Männlichkeit in der römischen Antike vgl. THOMAS SPÄTH: Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt / New York 1994; MOISÉS MAYORDOMO: Konstruktionen von Männlichkeit in der Antike und der paulinischen Korintherkorrespondenz, in: EvTh 68 (2008), 99–115.
„Die andere Frage stellen“
243
non-men bzw. unmanly men.49 Herodion betrifft das in mehrfacher Weise: Als Jude gehört er einem beherrschten Volk an und auch als Sklave bzw. Freigelassener zählt er zu den non-men. Aber wie ist seine Rolle in der Gemeinde einzuschätzen? Aufgrund seiner jüdischen Herkunft könnte er sich den aus den Völkern hinzukommenden Menschen gegenüber überlegen fühlen. Auch in weiterer Hinsicht könnte er zu den Privilegierteren der Nachfolgegemeinschaft zählen, wenn er dem herodianischen Königshaus zugehörig war. Konnte er sich ein gewisses eigenes Vermögen (peculium) erarbeiten, mit dem er sich ggf. freigekauft hat? Hat er möglicherweise selbst Sklav:innen besessen und in seinem Lebensumfeld Macht und Einfluss durch die Zugehörigkeit zum Haus des Herodes gehabt? Hat er eigene Geschäfte betrieben? Versklavte waren nicht gleich Versklavte, hier gab es große gesellschaftliche und ökonomische Unterschiede, auch wenn sie alle den sozialen Status der Unfreiheit teilten. Was heißt Gerechtigkeit für einen (ehemaligen) jüdischen Sklaven? Ἀπολύτρωσις – gehört zu seiner Tradition: Hier klingt der Sklavenfreikauf an. Hoffte er mit Deuterojesaja auf die Rückkehr aus dem Exil, auf die Befreiung durch Gott? Hat er in „in Christus“ auch als Sklave/Freigelassener einen erweiterten Handlungsspielraum? Wird er hier als „Mann“ wahrgenommen, als Mitglied des erwählten Volkes Israel? Und bedeutet das aus seiner Sicht ein Privileg, das er aufgeben muss, wenn alle gleichberechtigt sind? Setzt er möglicherweise sogar seine Reputation in der jüdischen Synagogengemeinde aufs Spiel?50
3.3
Rufus
Diese Frage stellt sich insbesondere auch für Rufus nur mit veränderten Vorzeichen – er zählt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den Freigeborenen. Musste er in „in Christus“ als freier römischer Mann Privilegien aufgeben? Setzt er möglicherweise sein Ansehen, seinen Status in der Stadt aufs Spiel? Oder hatte er eh nicht viel zu verlieren, wenn er zur großen Masse der Unterschichten und Tagelöhner gehörte?
3.4
Junia
Der Name Junia deutet darauf hin, dass sie von freigelassenen Versklavten des gens Junia abstammte oder Sklavin eines Iunius war.51 Was hat sie in diesem 49
50
51
Zur Frage der Bedeutung von Männlichkeit in neutestamentlichen Schriften vgl. BRITTANY E. WILSON: Unmanly Men. Refigurations of Masculinity in Luke-Acts, Oxford 2015. LAMPE: Stadtrömische Christen (s. Amn. 13), 148, verweist auf eine Synagoge der Herodianer (CIJ I 173). Vgl. PETER LAMPE: Iunia/Iunias. Sklavenherkunft im Kreise der vorpaulinischen Apostel (Röm 16,7), in: ZNW 76 (1985), 132–134.
244
Claudia Janssen
Haushalt erlebt? Es gibt vielfältige Quellen über Gewalt, Willkür auch von den Herrinnen an ihren Sklavinnen. Andere haben persönliche Beziehungen zu Versklavten aufgenommen und sie in den Familien gut behandelt. Aber für alle Versklavten galt: Sie waren Besitz ihrer Herrschaften. Lebenspartner konnten verkauft werden, auch Kinder. Sie waren sexuell verfügbar, für die männlichen Mitglieder des Haushalts und auch in Bordellen.52 Junia war Jüdin, was bedeutete Gerechtigkeit für sie? Haben sich ihr „in Christus“ neue Handlungsspielräume eröffnet? Sie ist unterwegs mit ihrem Partner Andronikus, der vermutlich auch Sklave/Freigelassener war. Paulus nennt beide συνεργοί, sie haben mit ihm zusammengearbeitet. Junia ist die einzige Frau, die im Neuen Testament als Apostelin bezeichnet wird, Paulus stellt ihre Bedeutung in besonderer Weise heraus. Laut der intersektionalen Lesart von Gal 3,28 potenzieren sich bei ihr die marginalisierenden Aspekte. Welche Befreiung bietet sich ihr jetzt! in der Gegenwart des Messias Jesus?
4.
Die andere Frage stellen
Wie spricht eine intersektionale Auslegung des Briefs an die Gemeinde in Rom in die kirchliche Gegenwart? Ein erstes Ergebnis: Auch die zentralen theologischen Begriffe werden facettenreicher, vielleicht auch widersprüchlicher. Intersektionale Exegese setzt verschiedene (in der Forschung zum Teil bereits bearbeitete) Aspekte miteinander in Beziehung und betrachtet sie in ihren Wechselwirkungen zueinander. Eine intersektionale Perspektive auf den Brief an die Gemeinde in Rom eröffnet den Blick auf die Komplexität der historischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen – in der Antike und in der Gegenwart. Sie blickt auf die Verwobenheiten in hierarchische Strukturen, die für Menschen unterschiedlicher Herkunft, Geschlecht und sozialem Status unterschiedlich sein können und stellt auch an die Auslegung heute die Frage nach Machtkonstellationen, Dominanz und nach der Veränderbarkeit der als ungerecht erkannten Strukturen. Dass Gerechtigkeit und Befreiung der Gestaltung bedürfen, darauf verweist Röm 3,31. Hier betont Paulus die bleibende Gültigkeit der Weisungen Gottes: „Heißt das, dass wir die Tora durch das Vertrauen außer Kraft setzen? Ganz gewiss nicht! Vielmehr bestätigen wir die Geltung der Tora / wir richten sie auf.“ Für das Miteinander von Jüd:innen und Menschen aus den Völkern bleibt die Tora der gemeinsame Maßstab für das Zusammenleben in ihrer Verschiedenheit.53 52
53
Zur sexuellen Verfügbarkeit von Versklavten vgl. THOMAS MCGINN: The Economy of Prostitution in the Roman World. A Study of Social History & the Brothel, Ann Arbor (MI) 2004, 55–71. Vgl. MARLENE CRÜSEMANN: „Heißt das, dass wir die Tora durch das Vertrauen außer Kraft setzen?“ Röm 3,28–31 und die ‚Bibel in gerechter Sprache‘, in: DIES.: Gott ist Beziehung. Beiträge zur biblischen Rede von Gott, Gütersloh 2014, 53–66.
„Die andere Frage stellen“
245
Aus der Perspektive der Christusnachfolgenden in Rom eröffnet die Gerechtigkeit Gottes Räume, in denen ein neues, ein anderes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichem sozialem Status und Geschlecht eingeübt werden kann (vgl. Gal 3,28). So bedeuten Gerechtigkeit und Befreiung / Loskauf / Erlösung nicht für alle das Gleiche. Ich nenne auch weiterhin die drei Übersetzungsmöglichkeiten für ἀπολύτρωσις, weil ich davon ausgehe, dass die damit angesprochenen Dimensionen immer zusammengehören. Für die einen eröffnen sich neue Freiheiten, ein Zuwachs von Handlungsspielräumen, die anderen werden zu einem Verzicht auf Privilegien und sozialem Dominanzverhalten aufgefordert. Das ernst zu nehmen bedeutet, dass auch heute „andere Fragen“ gestellt werden müssen, wenn es um die Bedeutung von Rechtfertigung in der Gegenwart geht: Sie bedarf differenzierter Aushandlungs- und Transferprozesse. Ausgangspunkt für die Definition von Rechtfertigung kann nicht länger die Anthropologie sein: im Sinne eines Verständnisses, dass es um „den Menschen an sich“ ginge, um ein überzeitliches Existenzverständnis. Darauf hat die New Perspective on Paul von Anfang an hingewiesen.54 Es gehe bei der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes nicht um die Nöte des introspektiven Gewissens des Westens, um das individuelle Heil einzelner, so Krister Stendahl in seinem grundlegenden Aufsatz von 1963.55 Rechtfertigung sei eine ethnisch-heilsgeschichtliche Frage, keine anthropologische, die das gequälte Gewissen einzelner betreffe, die sich mit der Frage ihrer Sündhaftigkeit beschäftigten: „Die berühmte Formel ‚simul iustus et peccator‘ (Gerechter und Sünder zugleich), mit der der Status des Christen umschrieben wird, mag einigen Grund in den paulinischen Schriften haben. Doch diese Formel kann nicht als Zentrum einer bewussten Haltung des Paulus bezüglich seiner persönlichen Sünden substantiiert werden. Offenkundig besitzt Paulus nicht jenen Typ des introspektiven Gewissens, den die Formel vorauszusetzen scheint.“56
In seinem 1978 auf Deutsch erschienenen Buch Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum führt Krister Stendahl diese Einsichten weiter aus: Rechtfertigung stehe nicht im Zusammenhang mit der Frage, wie der Mensch erlöst werden kann, oder wie die Werke des Menschen zu bewerten sind, oder ob der freie Wille des Individuums bestätigt oder bestritten wird. Rechtfertigungslehre sei nicht das vorherrschende, strukturierende Lehrprinzip oder die überragende Erkenntnis des Paulus, sondern habe vielmehr eine ganz spezifi-
54
55
56
Vgl. CHRISTIAN STRECKER: Perspektivenwechsel in der Paulusforschung, in: MARTIN RÖSEL / WOLFGANG KRAUS (Hg.): Update Exegese 2.1. Ergebnisse gegenwärtiger Bibelwissenschaft, Leipzig 2015, 175–183. Vgl. KRISTER STENDAHL: Der Apostel Paulus und das „introspektive“ Gewissen des Westens (1963), in: KuI 11 (1996), 19–33. A. a. O., 21.
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sche Funktion in seinem Denken erfüllt, nämlich wie die Menschen aus den Völkern Teil haben können an den Verheißungen Gottes an Israel.57 „Von daher muss auch die Rechtfertigung aus Glauben in ihren größeren Rahmen der Heidenmission des Paulus eingebettet werden, in Gottes Gesamtplan für die Schöpfung. Oder vielleicht sollten wir es so sagen: Paulus’ Gedanken über die Rechtfertigung behandeln das Thema von Trennungen und Identitäten in einer pluralistischen, zerrissenen Welt, sie behandeln nicht so sehr die inneren Spannungen individueller Seelen oder Gewissen. Sein suchendes Auge wendet sich der Einheit und der gottgewollten Vielfalt der Menschheit zu, ja der ganzen Schöpfung.“58
Intersektionalität ist ein wichtiges Werkzeug, um diese kulturelle Komplexität zu verstehen und nachverfolgen zu können, wie Unterschiede und Identitäten ausgehandelt werden.59 Sie leitet dazu an, in der Exegese von einzelnen Menschen her zu denken (und nicht von dem Menschen), ihre Verwobenheiten in strukturelle Machtzusammenhänge wahrzunehmen, ihre Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit. Es geht darum, jeweils „die andere Frage“ zu stellen, die den Blick immer auch auf das Gegenüber richtet und dessen Verletzbarkeit. Damit mutet sie den Lesenden einiges zu: Ambiguität und Widersprüchlichkeiten auszuhalten, den Prozesscharakter von Identitäten und Zuschreibungen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Zugleich verweist sie auf die Nachfolgegemeinschaft als erste Adressatin des Evangeliums: auf ihren Alltag, die politischen Aushandlungsprozesse, auf ihr Vertrauen auf den Gott Israels und die Verheißung der kommenden Basileia Gottes, in die nun auch die Völker mit einbezogen werden. Nicht zuletzt fordert die intersektionale Interpretation auch mich als Auslegerin der Texte dazu heraus, über meine eigene Position nachzudenken. Sie fordert eine Offenheit den Aussagen gegenüber, die von mir Veränderungen in meiner Haltung und meinem Handeln erwarten. Intersektionalität ermutigt mich dazu, „andere Fragen“ zu stellen, eigene Verwobenheiten in Gender, race, class, Alter, (dis-)ability sichtbar zu machen und mich auf überraschende, möglicherweise unbequeme Antworten einzulassen.
57
58 59
Vgl. KRISTER STENDAHL, Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum, München 1978, 41. A. a. O., 57. Vgl. KARTZOW: Art. Intersectional Studies (s. Anm. 33), 384.
Was ist eigentlich normal?
Was ist eigentlich normal?
Eine kleine Geschichte der feministischen und gender-gerechten Exegese
Uta Schmidt
UTA SCHMIDT
Was ist eigentlich normal? Die Leitfrage für diesen Durchgang durch die Entwicklung der feministischen und gender-gerechten Exegese1 stammt aus einer meiner ersten ‚Taten‘ als Professorin für Feministische Theologie und Gender Studies an der Augustana: Noch vor dem eigentlichen Dienstantritt bekam ich die Anfrage, für den neuen Flyer der Hochschule das Profil meiner Professur bitte in 200 Zeichen inklusive Leerzeichen zu beschreiben. (Nur zum Vergleich: Bisher haben Sie schon mehr als doppelt so viel gelesen.) Dies war das Ergebnis: „Was ist eigentlich normal? Diese Frage untersuchen Feministische Theologie und Exegese sowie Gender Studies in Überschneidung mit weiteren Kategorien in intraund transdisziplinären Zusammenhängen.“
Seitdem ist ein Semester vergangen, in dem ich die Frage in Vorlesung, Seminaren und Gesprächen ausführlicher behandelt habe.2 Die ‚kleine Geschichte der feministischen und gender-gerechten Exegese‘ in diesem Beitrag ist vor allem eine Geschichte von Denkbewegungen, die sich nur teilweise in aufeinander folgende Phasen einordnen lassen, mit einzelnen konkreten Beispielen, die alle auf keinen Fall repräsentativ für die ganze Entwicklung sind.3
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Mehr zum Begriff siehe unten 1.4 Exkurs: Methoden und Hermeneutik feministischer und gender-gerechter Exegese. Ich danke den Studierenden, die in den Lehrveranstaltungen in diesem ersten Semester engagiert diskutiert, gefragt und mitgedacht haben. Für ausführliche Informationen mit Literatur siehe die Enzyklopädie Die Bibel und die Frauen, hg. v. IRMTRAUD FISCHER u. a. (http://www.bibleandwomen.org, letzter Zugriff am 17.08.2022), außerdem das dreibändige Werk von SUSANNE SCHOLZ (Hg.): Feminist Interpretation of the Hebrew Bible in Retrospect, Bd. 1–3 (Recent research in biblical studies 5, 8 und 9), Sheffield 2013–2017. Für einen Überblick siehe MARIE-THERES WACKER: Grundlagen, in: LUISE SCHOTTROFF / SILVIA SCHROER / DIES. (Hg.): Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, 3–79; CLAUDIA JANSSEN: Art. Exegese, feministische, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, 2018 (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200446, letzter Zugriff am 17.08.2022).
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Seit 25 Jahren hat die Augustana eine eigene Professur, um diese Fragen zu verfolgen, seit 1997 die – damals noch – Dozentur für Feministische Theologie eingerichtet wurde, die 2003 zur Professur wurde.4 Die Feministische Theologie und mit ihr die Exegese hat sich seitdem stetig gewandelt, was sich nicht zuletzt in der 2015 geänderten Stellenbezeichnung: ‚Feministische Theologie und Gender Studies‘ niedergeschlagen hat.
1.
Feministische Exegese – Auseinandersetzungen
1.1
Frauen entdecken
Die Leitfrage „Was ist eigentlich normal?“ war schon immer eine kritische, um Normalitäten infrage zu stellen, unterschwellig steckt darin also immer die Aussage: „Es ist doch nicht normal, dass […].“ Was ist normal? Es ist nicht normal, dass Frauen seit Jahrhunderten diskriminiert und übersehen werden und diese Unterdrückung in Kirche und Gesellschaft mit der Bibel begründet wird. Frauen weigerten sich, den vermeintlich normalen Ausschluss aus weiten Bereichen von Theologie und Kirche weiterhin als normal hinzunehmen. Damit beginnt diese kleine und außerdem recht eklektische Geschichte der feministischen Exegese. Diese grundsätzliche Kritik kam von außen zur Theologie, aus der politischen Frauenbewegung seit den 1960er Jahren, mit Wurzeln schon in der Frauenbewegung um die vorige Jahrhundertwende, in der Frauen um das Wahlrecht kämpften und gemeinsam mit Männern für ein Ende der Sklaverei stritten. Der Ausgangspunkt Feministischer Theologie und damit auch feministischer Auseinandersetzung mit der Bibel waren für die Frauen ihre Erfahrungen von Ausgrenzung, Unterdrückung und Diskriminierung in der Gesellschaft, in der Kirche und in bzw. mit der Theologie als Wissenschaft. Ein Beispiel dafür ist das Buch von Elisabeth Moltmann-Wendel, Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus, eine der ersten feministisch-exegetischen Publikationen in Deutschland. „Wie […] bekommen wir den Zugang zur Bibel? Wie bekommen wir unsere verlorengegangene Spontaneität zurück?“ – so lautet die 4
Dies ist vielen engagierten und hartnäckigen Frauen und etlichen Männern zu verdanken, nicht zuletzt meiner Vorgängerin Prof. Dr. Renate Jost, Inhaberin der Stelle von 1998 bis 2021, vgl. STEFANIE SCHÖN / RENATE JOST / SARAH JÄGER: Erfolgsmodelle der Institutionalisierung Feministischer Theologie an Universitäten und Evangelischen Kirchlichen Hochschulen. Neuendettelsau, in: GISELA MATTHIAE u. a. (Hg.): Feministische Theologie. Initiativen, Kirchen, Universitäten – eine Erfolgsgeschichte. Projekt der Initiative Tempo! zur Institutionalisierung feministischer Theologie am Frauenstudien- und -bildungszentrum in der EKD (FSBZ), Gütersloh 2008, 241–248. Eine vergleichbare Stelle gibt es an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal mit dem Lehrstuhl für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung.
Was ist eigentlich normal?
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Frage, die für Moltmann-Wendel am Anfang stand.5 Sie beschreibt zwei unterschiedliche Bewegungen, die zu diesen Anfängen führten, erzählt zum einen von der Unmittelbarkeit, mit der Basisgemeinden in Nicaragua Bibeltexte zusammen lasen, wie aber auch dabei Frauen mit ihren Erfahrungen von Männern infrage gestellt wurden.6 Als zweites nennt sie die theologische Frauenforschung in den USA, die die Einzigartigkeit der Beziehung Jesu zu Frauen und die daraus folgende Gleichstellung von Frauen und Männern in den frühen Gemeinden herausgearbeitet habe.7 Daraus entwickelt sie Fragen nach den Frauen in der Bibel. Beispielhaft führt Moltmann-Wendel dies an der Figur der Martha (Lk 10,38– 42; Joh 11,1–44) und ihrer Rezeptionsgeschichte aus. Mit einer genauen Analyse der Bibeltexte bringt sie die unterschiedlichen Facetten dieser Figur ans Licht. Damit steht Moltmann-Wendel exemplarisch für viele feministische Exegetinnen aus der Anfangszeit, die biblische Frauenfiguren überhaupt erst einmal sichtbar oder wieder sichtbar gemacht haben, welche in der Auslegungsliteratur oft marginalisiert oder übersehen wurden. Mit einer Auswahl an Kommentaren aus mehreren Jahrhunderten entwickelt Moltmann-Wendel ihre Kritik an der Wirkung vor allem des Lukastextes für Frauen in der Kirche, indem sie zeigt, wie aus dieser Erzählung zwei unterschiedliche Frauenrollen im Christentum abgeleitet wurden: Maria, die sich Jesus zu Füßen setzt und zuhört – der Typ des kontemplativen Christentums, die hörende empfangende Frau. Im Gegensatz zu Maria wurde Martha auf den Haushalt festgelegt, wurde die aktive praktische Heilige. In der reformatorischen Theologie wurde ihr Verhalten dann als ein Sinnbild der Werkgerechtigkeit wahrgenommen, zwar nützlich, aber im Vergleich zu Maria minderwertig. „Viele Frauen in der Kirche, die sich bis heute in Martha wieder finden, fühlen sich in dieser Weise minderwertig, weniger wert und entwickeln Minderwertigkeitsgefühle.“8 Das Beispiel von E. Moltmann-Wendel zeigt, wie Exegetinnen ausdrücklich ihre Erfahrungen in der Gegenwart zum Ausgangspunkt machen und von da aus die biblischen Texte und die Auslegung in den Blick nehmen, unter Einbeziehung der Rezeptionsgeschichte, die damals in der Exegese noch eine Randerscheinung war. Diese Herangehensweise fußt auf der Prämisse, dass Parallelen zwischen der Zeit der biblischen Texte und der eigenen Gegenwart eine solche direkte Bezugnahme ermöglichen. Bestimmend für diese Phase feministischer Exegese war die Suche nach Frauen in der Bibel, von denen viele unbekannt waren, und unter ihnen nach positiven Identifikationsfiguren, in denen sich Frauen finden und mit der Bibel 5
6 7 8
ELISABETH MOLTMANN-WENDEL: Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus, Gütersloh 6 1987, 14. A. a. O., 9. A. a. O., 10f. A. a. O., 29.
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neu verbinden konnten. Diese Suche war getragen von der Überzeugung, dass die Bibel selbst für Frauen ein positives und wertvolles Buch sei: „Die Bibel enthält eine in der Welt einzigartige Geschichte von Größe, Souveränität, Weisheit und Mut von Frauen. Sie ist vielleicht das interessanteste Buch einer Frauenemanzipation.“9 Die Erkenntnis, wie stark Bibelauslegung patriarchal geprägt war, war für viele ein Grund, mit biblischen Frauengestalten gegen kirchliche, einengende und Frauen unterdrückende Traditionen vorzugehen, um sich die Texte neu und anders anzueignen. Feministische Exegetinnen dieser Phase dekonstruierten die vermeintliche Normalität einer männerzentrierten Sicht auf die Bibel und einer Praxis in Kirche und Wissenschaft, die Frauen in vielen Bereichen ausschloss.
1.2
Frauen befreien
Im eben beschriebenen Zugang lag der Ausgangspunkt auf der Analyse der Unterdrückungssituation von Frauen in der Gegenwart, um von da aus einen neuen, positiven Zugang zu den Texten zu gewinnen. Doch verschob sich mit der Zeit der Fokus, so dass die Normalität neu in den Blick genommen wurde: Es ist nicht normal, dass die Geschichte der biblischen Zeit bisher vor allem als Ereignis-, Siegerund Theologiegeschichte geschrieben wurde, die Lebensbedingungen von Frauen (und auch Männern) zu biblischer Zeit mit ihren jeweiligen Macht- und Unterdrückungsverhältnissen aber kaum erforscht sind. So fingen Exegetinnen und auch Exegeten an, ausgehend vom eigenen Kontext ihrer Gegenwart auch die Macht- und Unterdrückungsverhältnisse in den Texten selbst und in den antiken Gesellschaften zu erforschen. Die historischen Umstände von Frauenleben in der Antike und die der biblischen Frauenfiguren im Besonderen wurden damit Gegenstand der Forschung. Der maßgebliche theoretische Rahmen dafür war die Sozialgeschichte, welche keine Geschichte großer Männer schreiben wollte und auch keine, die sich aus politischen Großereignissen, Kriegen und Siegen zusammensetzt. Denn während solche Zugänge tendenziell bestehende Machtverhältnisse nicht nur in den Texten affirmieren und legitimieren, untersucht Sozialgeschichte stattdessen die Geschichte gesellschaftlicher Strukturen, der Lebensverhältnisse ganzer Gesellschaften, die Entwicklung von Machtstrukturen und sozialen Zusammenhängen.10 Sozialgeschichtliche Exegese ist nicht zwangsläufig feministisch, der Zusammenhang von sozialgeschichtlicher und feministischer Auslegung jedoch schlüssig. Luise Schottroff fasst dies so zusammen:
9 10
A. a. O., 13. Vgl. WACKER: Grundlagen (s. Anm. 3), 74f.
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„Solange ich die Gewaltstrukturen patriarchaler Herrschaft nur als Machtasymmetrie zwischen Frauen und Männern analysiere, erfasse ich nur einen Teilaspekt der herrschenden Gewalt. Befreiung der Frauen wird es ohne Befreiung der Bäume, der Kinder und der Armen nicht geben. Der Kampf um diese Befreiung wird ohne eine Analyse der umfassenden Gewaltstruktur und ihrer historischen Hintergründe nicht möglich sein.“11
Feministische Exegetinnen griffen diesen Zugang auf, um speziell die Lebensbedingungen, sozialen Rollen und Möglichkeiten von Frauen im alten Israel und zur Zeit des Neuen Testaments zu erforschen. Das Beispiel der Arbeit von Frauen veranschaulicht dies: Frauenarbeit bleibt in den biblischen Texten oft unsichtbar, da Tätigkeiten im Haushalt, vor allem bei der Nahrungsherstellung und -zubereitung, zwar vorausgesetzt, aber nur selten ausdrücklich genannt werden. Luise Schottroff hat diese ausgeführt und darüberhinaus außerbiblische Quellen ausgewertet, die davon zeugen, dass Frauen auch außerhalb des Hauses tätig waren, in der Landwirtschaft, im Handwerk oder zum Beispiel als Fischerin.12 Das Beispiel zeigt den Beitrag sozialgeschichtlich-feministischer Exegese zu einer Perspektive, die die Bibel als Befreiungsbuch liest: eine Differenzierung des Befundes über Frauen in den biblischen Texten sowie eine differenziertere Analyse von Machtverhältnissen, die für jede Befreiung Voraussetzung ist. Damit wurden Verallgemeinerungen überwunden und Wissenslücken über das Leben von Frauen zur Zeit der Bibel gefüllt. Die Frauen in den biblischen Texten wurden sichtbarer, aber auch verschiedener. Teilweise vergrößerte sich dadurch die Distanz der biblischen Figuren zum Leben von Frauen in der Gegenwart, so dass der direkte Zugang zu den Texten problematisiert wurde. Zugleich wurden die Texte durch die sozialgeschichtlichen Analysen in den Kontext gegenwärtiger Auseinandersetzung um soziale Ungerechtigkeit gestellt. Die Bibel selbst sahen die Auslegerinnen dabei insgesamt positiv, zumindest so, dass es sich lohnt, weiter daran festzuhalten.13
1.3
Die Gewalt anklagen
Mehr und mehr Exegetinnen stellten etwa ab den 1990er Jahren die Normalität der positiven Sicht auf die Bibel infrage, denn die Tatsache, dass etliche biblische Texte von Gewalt gegen Frauen handeln, rückte zunehmend ins Bewusstsein. Die 11
12 13
LUISE SCHOTTROFF: Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994, 40. A. a. O., 124–129. Es gab natürlich auch feministisch-theologische Strömungen, die sich von Bibel, Kirche und traditionellem Christentum abwandten, um neue Formen von Glauben und Spiritualität zu entdecken und zu entwickeln.
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Frage danach, was normal sei, musste wieder neu bestimmt werden: Es ist nicht normal, dass in der Bibel an vielen Stellen Gewalt gegen Frauen vorkommt, oft völlig unkritisch oder unkommentiert, sowohl in den Texten wie auch in deren Auslegung. Auslegerinnen richteten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf biblische Texte, die von Gewalt gegen Frauen handeln, häufig von sexualisierter Gewalt, welche in den Texten selbst selten kommentiert wird und in der Auslegung oft hingenommen oder bagatellisiert wurde. Diese Erkenntnis folgte aus bisherigen Entwicklungen, vor allem aus der sozialgeschichtlich-feministischen Exegese, aber auch aus den aufkommenden erzählanalytischen und literaturwissenschaftlich orientierten Untersuchungen. Denn diese legten Machtstrukturen in den Texten offen und analysierten die literarischen Funktionen der Rede von Gewalt gegen Frauen. So wurde deutlich, wo und wie Frauen in den Texten als Opfer von Gewalt und Unterdrückung, von sexueller Demütigung und Erniedrigung dargestellt werden. Ein Beispiel dafür ist die Untersuchung der Vergewaltigung Tamars durch Amnon von Ilse Müllner, die 2Sam 13 in den Kontext des Diskurses über Gewalt und sexuelle Gewalt im Alten Testament und in feministischer Forschung stellt.14 Aus dieser Perspektive behandelt sie den Zusammenhang von Macht und Sexualität im Hause Davids und stellt dabei die Vergewaltigung Tamars ins Zentrum ihrer Untersuchung, anders als traditionelle Auslegungen zur Stelle, die diese Tat im Zusammenhang der Thronfolgeerzählung eher am Rande behandeln. Etwa zur gleichen Zeit entstanden Studien zur sogenannten ‚Ehemetaphorik‘ in prophetischen Texten (vgl. Hos 1–3; Ez 16 und 23; Jer 3,1–13 u. a.). In diesen und weiteren Texten wird die Beziehung Gottes zu seinem Volk metaphorisch als Ehe- oder Liebesbeziehung eines Eheherrn zu seiner Frau dargestellt. Die Abwendung des Volkes von Gott wird als Untreue und für das Volk als sexualisierte und gewalttätige Bestrafung der Frau ausgemalt. Ein Beispiel der Auseinandersetzung damit ist die Studie von Gerlinde Baumann, Liebe und Gewalt, in der sie die entsprechenden Stellen systematisch zusammenstellt, diese Art der Rede von Gott und Volk sprachlich und theologisch analysiert und in feministisch-theologischer Perspektive auswertet.15 Der gesellschaftliche Kontext dieser Entwicklung waren die 1990er Jahre, in denen sexualisierte Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Ehe und sexueller Missbrauch von Kindern, vor allem Mädchen, in der Öffentlichkeit offener thematisiert und problematisiert wurden. Viele feministische Exegetinnen waren mit ihrer Auseinandersetzung mit solchen biblischen Texten Teil der Frauenbewegung und des Kampfes gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen. So waren sie 14
15
ILSE MÜLLNER: Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2Sam 13,1– 22) (HBS 13), Freiburg i. Br. u. a. 1997. GERLINDE BAUMANN: Liebe und Gewalt. Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH – Israel in den Prophetenbüchern (SBS 185), Stuttgart 2000.
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nicht mehr bereit, Gewalt gegen Frauen als normal hinzunehmen, weder gesellschaftlich noch in den biblischen Texten. Die Folge der Auseinandersetzung mit diesen Texten war eine gewisse Ernüchterung: Positive weibliche Identifikationsfiguren in der Bibel zu finden, hat sich als schwierig herausgestellt, frauenbefreiende Impulse gibt es zwar in vielen Texten, diese stehen jedoch neben solchen, die Gewalt gegen und Erniedrigung von Frauen unkommentiert oder affirmierend darstellen. Diejenigen, die sich trotzdem weiter damit beschäftigt haben, mussten nach Wegen suchen, mit der Existenz solcher Texte und ihren Aussagen umzugehen. Exegetisch geschah dies mittels sorgfältiger Analyse und hermeneutischer Reflexion. So folgert Baumann in ihrer Studie: „Wie aus der feministisch-theologischen Interpretation der prophetischen Ehemetaphorik ersichtlich ist, entstehen bei der Auslegung der Texte auf einem heutigen Deutungshintergrund gravierende Probleme. Und zwar sowohl im Blick auf die Darstellung von Frauen, von Männern und ihren Beziehungen als auch im Blick auf das Gottesbild. Die hermeneutische Pointe dieser Kritik kann so formuliert werden: Die Erläuterungen der Texte auf ihrem eigenen Hintergrund bringen ein anderes Ergebnis, als wenn die Metaphorik auf dem Hintergrund heutiger (westlich-moderner) Ehebilder und Erfahrungen ausgelegt wird.“16
Nachdem deutlich wurde, dass ‚Frauen entdecken‘ im Umgang mit diesen Texten oft erschreckend war, und ‚Frauen befreien‘ in und mit den Texten schwer möglich, folgte daraus für etliche feministische Exeget*innen, dass sie die Texte vor allem nicht unwidersprochen stehen lassen wollten, so dass ‚Gewalt anklagen‘ die Haltung in dieser Phase gut beschreibt.
1.4
Exkurs: Methoden und Hermeneutik feministischer und gender-gerechter Exegese
Die Darstellung bis hier hat bereits gezeigt, dass für feministische und gendergerechte Exegese der jeweilige hermeneutische Zugang entscheidend ist, da sich daraus die Fragestellungen ergeben, die die Ausleger*innen an den biblischen Texten erforschen wollen. Die bisher formulierten Anfragen an die Normalität der Bibelauslegung (siehe oben) führten in der feministischen Bibelauslegung zu einer Reflexion der Bedingungen und Prozesse des Verstehens in der Exegese. Entsprechend gibt es auch nicht die eine feministische Hermeneutik. Doch bewegen sich die meisten hermeneutischen Ansätze hierbei innerhalb der Koordinaten von Kritik, Analyse und Befreiung. Dies gilt auch für die Hermeneutik von Elisabeth Schüssler Fiorenza, die wegweisend war für viele, die die Bibel mit feministischem Interesse ausgelegt 16
A. a. O., 235.
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haben. Sie hat diesen Ansatz über mehrere Jahrzehnte hinweg stetig weiterentwickelt.17 Ausgangspunkt sind die Erfahrungen von Frauen, es folgen verschiedene Schritte der kritischen Analyse sowohl des Kontextes, in dem sich die Ausleger*innen bewegen, wie auch des Textes. Nur wer durch diese kritischen Schritte der Hermeneutik gegangen sei, könne sich dann erneut in positiver und konstruktiver Weise den Texten annähern und sie für sich fruchtbar machen. Am Ende stehen für Schüssler Fiorenza befreiende Auslegung und befreiende Praxis untrennbar verbunden. Wichtig für die Koordinaten des Verstehens ist eine weiterere Entwicklung der 1990er Jahre, die wieder einmal aus den USA und nicht aus der Theologie kam: die Unterscheidung von sex als biologischem Geschlecht und gender als sozialem Geschlecht, bekannt geworden vor allem durch Judith Butler.18 Diese Unterscheidung war, nachdem sie erst einmal in der Debatte angekommen war, sehr einflussreich, bot sie doch eine Möglichkeit, essenzialistischen Aussagen über Frauen, die vermeintlich biologische Ursachen haben, analytisch begründet zu widersprechen. Seitdem ist Gender eine leitende Kategorie in wissenschaftlichen Diskursen, auch in der Exegese, daher der Begriff ‚gender-gerechte Exegese‘ im Titel – ‚gender-gerecht‘ im doppelten Sinne: zum einen, um dem Befund im Hinblick auf Gender gerecht zu werden, und zum anderen, um den emanzipatorischen Charakter Feministischer Theologie und Exegese durch die Forderung nach Gerechtigkeit hörbar zu machen.19 Spezielle feministisch-exegetische Methoden gibt es nicht, vielmehr sind alle exegetischen Methoden geeignet, die dies ermöglichen und die wissenschaftliche Kommunikation über Vorgehen und Ergebnisse gewährleisten.20 Am Beispiel der Thematik sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die in der historischkritischen Auslegung lange Zeit nicht sichtbar wurde, zeigte sich, dass deren Methoden offensichtlich nicht ausreichten, um das Thema zu erforschen. Müllner hat für die Analyse der Erzählungen von der Vergewaltigung der Tamar die Erzählanalyse (Narratologie) gewählt. Dieser in Deutschland damals noch ziemlich neue Zugang war einer von mehreren, die dem ‚literary criticism‘ zugerechnet wurden. Die Bezeichnung vereint verschiedene Herangehensweisen an biblische Texte aus dem angelsächsischen Raum, die alle am Text in seiner kanonischen Endgestalt ansetzten und nicht oder nicht vorrangig auf dessen Literarge-
17
18 19
20
ELISABETH SCHÜSSLER FIORENZA: WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005, 241 (vgl. für die Darstellung insgesamt a. a. O., 238–274). JUDITH BUTLER: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991. Der Begriff ‚gender-faire Exegese‘ von IRMTRAUD FISCHER: Gender-faire Exegese. Gesammelte Beiträge zur Reflexion des Genderbias und seiner Auswirkungen in der Übersetzung und Auslegung von biblischen Texten (EXUZ 14), Münster 2004, geht in eine ähnliche Richtung. Ich habe stattdessen wegen der ausdrücklichen Erwähnung von Gerechtigkeit ‚gender-gerecht‘ gewählt. Für einen Überblick lohnt sich bis heute WACKER: Grundlagen (s. Anm. 3), 34–79.
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schichte eingehen.21 Damit wurden Fragen nach Beziehungsdynamik, Machtverhältnissen, Geschlechterkonstruktionen und Begründungsmustern für Gewalt gegen Frauen methodisch möglich. Baumann hat in ihrer Untersuchung der sogenannten Ehemetaphorik in den Prophetenbüchern neben klassisch historisch-kritischen Methoden die Metapherntheorie stark gemacht und damit ebenfalls Elemente aus den Literaturwissenschaften und der Linguistik aufgenommen. Diese erlauben nicht nur eine Analyse der Sachaussagen metaphorischer Rede, sondern verdeutlichen, wie auch die sogenannte Bildhälfte, in diesem Fall die sexualisierte Gewalt gegen Frauen, ihre Wirkung auf die Leser*innen entfaltet. Die Auseinandersetzung darum, welche Methoden geeignet waren, feministisch-exegetische Anliegen zu bearbeiten und zugleich die Wissenschaftlichkeit dieser Untersuchungen zu gewährleisten, war vor allem im deutschsprachigen Raum massiv, ging es doch um Fragen der Deutungshoheit. Unliebsame Fragen und Fragende wurden (und werden bis heute) immer wieder mit dem Argument mangelnder Wissenschaftlichkeit abgewehrt. Bis hierher beschreibt meine ‚kleine Geschichte‘ eine sich entwickelnde Denkbewegung in mehreren Phasen. Für den nächsten Abschnitt muss man, statt von Phasen, besser von weitgehend gleichzeitigen Denkbewegungen seit den 1980er und 1990er Jahren sprechen. Charakteristisch für diese war, dass das ‚Wir‘ in ‚Wir Frauen‘, das bisher eine Basis im Kampf gegen Gewalt und für Gleichberechtigung von Frauen war, zusehends problematisch wurde.
2.
Wer sind ‚Wir‘? – Differenzierungen
2.1
Antijudaismusdebatte
Jüdische feministische Theologinnen aus den USA zeigten, dass das ‚Wir‘ in ‚Wir Frauen‘ eine sehr begrenzte – christliche – Gruppe war, die sich ihrer antijudaistischen Tendenzen nicht bewusst war. Wieder wurde sichtbar, dass normal eben nicht normal war: Es ist nicht normal, dass christliche Feministinnen sich als ‚Wir Frauen‘ verstehen und dabei unkritisch antijudaistische Argumente übernehmen oder weiterentwickeln, ohne jüdische Feministinnen überhaupt wahrzunehmen. Die Debatte, die deshalb innerhalb der Feministischen Theologie und Exegese ausbrach, betraf und betrifft kein ‚Frauenproblem‘, sondern legte offen, was in der christlichen Theologie insgesamt problematisch und ungeklärt war: 21
Für eine Darstellung der Narratologie im Kontext feministischer Hermeneutik und Exegese siehe MÜLLNER: Gewalt (s. Anm. 14), 1–68; UTA SCHMIDT: Zentrale Randfiguren. Strukturen der Darstellung von Frauen in den Erzählungen der Königebücher, Gütersloh 2003, 15–56.
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Christliche Theolog*innen griffen – ob bewusst oder unreflektiert – auf antijudaistische Denkmuster und antisemitische Stereotypen zurück, die im Nationalsozialismus und auch davor schon gebräuchlich waren. Die zwei bekanntesten aus der Exegese stelle ich vor, sie sind bis heute in christlicher Theologie und kirchlicher Praxis zu finden:22 Das betrifft erstens die Vorstellung, Jesus habe die Frauen vom jüdischen Patriarchat befreit. Ein Zitat aus Elisabeth Moltmann-Wendels frühem Buch Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus bietet hierfür ein Beispiel. Sie schreibt, „[…] daß die Einmaligkeit der Beziehung Jesu zu Frauen und die Einzigartigkeit einer daraus folgenden sozialen Gleichstellung von Mann und Frau in vielen frühen Gemeinden als gesichert angesehen werden kann. […] Gegenüber allen anderen Religionsstiftern, die zwar frauenfreundlich waren, ist hier etwas Neues geschehen: eine befreiende Annahme, die soziale Konsequenzen hatte. Die ‚Androzentrik’ der antiken Welt […] ist damit durchbrochen worden. Mit seinem Kommen sind neue Werte freigesetzt.“23
Die Denkfigur war verbreitet: Auch wenn, wie im obigen Zitat, das Patriarchat nicht explizit als jüdisch bezeichnet wird, wird Jesus dennoch als der ganz Andere dargestellt, der als Mensch auf Frauen anders zugeht als seine Zeitgenossen und sie damit aus den patriarchalen Strukturen des Judentums befreit. Diese Argumentation ist antijudaistisch, da sie Jesus dem Judentum seiner Zeit gegenüberstellt und damit suggeriert, dass er eben kein Jude wie die anderen gewesen sei. Das ist historisch nicht zutreffend, trägt aber dazu bei, das Christentum vom Judentum gedanklich so zu trennen, dass dadurch eine Abwertung des Judentums gegenüber dem Christentum argumentativ ermöglicht wird. Jesu Beziehung zu Frauen wird dann auf der Negativfolie eines – je nach Darstellung – rigiden bis unmenschlichen Patriarchats im antiken Judentum hervorgehoben. Dies wird dem antiken Judentum nicht gerecht, da differenzierte Informationen über das antike Judentum nicht berücksichtigt werden. In der frühen christlichen feministischen Exegese war man sich dessen kaum bewusst, nur wenige christliche Exeget*innen haben sich damals eigenständig mit jüdischen Quellen auseinandergesetzt, die Standardwerke wiederum boten solche Informationen nicht.24 Auch heute ist diese Art der Argumentation allerdings immer wieder zu finden, obwohl das Problem inzwischen bekannt und die Menge der erschlossenen Quellen weitaus größer ist. Die zweite Denkfigur schließt an den vorigen Abschnitt an und wird in diesem Zusammenhang ebenfalls bis heute immer wieder bemüht: Die Rede von 22
23 24
Vgl. JUDITH PLASKOW: Feministischer Antijudaismus und der christliche Gott, KuI 5 (1990), 9–25, die diese Denkfiguren überzeugend entfaltet. MOLTMANN-WENDEL: Mensch (s. Anm. 5), 10f. Vgl. CHARLOTTE KLEIN: Theologie und Anti-Judaismus. Eine Studie zur deutschen theologischen Literatur der Gegenwart (Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog 6), München 1977, 124–137.
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‚Gewalt und Gott‘ sei ein Problem des Alten Testaments bzw. des Tanach, das durch den friedlichen Jesus des Neuen Testaments für Christ*innen gelöst sei – somit ein Problem des Judentums. Feministische Theologinnen, die die Spuren antiker Göttinnenreligion im Alten Testament suchten, vertraten teilweise die These, die JHWH-Religion (und somit das Judentum) habe mit dem Monotheismus die Göttinnenverehrung ausgelöscht und durch eine rigide, patriarchale JHWHReligion ersetzt.25 Hinter diesem Denkmuster steht der Vorwurf, ‚das Judentum‘ sei für die Entstehung des Patriarchats – zumindest in Israel – verantwortlich. Dass diese These unhaltbar ist, zeigt schon ein kurzer Blick in die Texte des Alten Testaments wie auch in die benachbarten Kulturen der Levante, des Alten Orients und Ägyptens. Auch die erste Denkfigur wurde hier von manchen eingebracht, indem Jesus als das Gegenteil dieses vermeintlich gewaltvollen, patriarchalen Judentums präsentiert wird. Die Frage, was eigentlich normal sei, stand in dieser Debatte schmerzlich im Mittelpunkt. Für jüdische feministische Theologinnen wurde erschreckend deutlich, dass Antisemitismus in der Theologie in Deutschland immer noch normal war – so normal, dass auch viele christliche feministische Theologinnen mit ihrer Sensibilität für Unterdrückung und Ausgrenzung dies nicht bemerkt oder trotzdem toleriert hatten. Diese wiederum waren Teil der bundesdeutschen Normalität ihrer Zeit, in der Konflikte im Zusammenhang mit der Shoah und dem Nationalsozialismus insgesamt wenig ausgetragen wurden: die Beteiligung an der Judenverfolgung anzusprechen, die Verstrickung in die Naziideologie und die Schuld auch derer, die nicht aktiv gemordet haben. Schließlich ging es um Lehrer, Lehrstuhlinhaber, teilweise auch Vorbilder und Familie. Die Frage, wer ‚Wir‘ eigentlich sind, führte für viele christliche feministische Theologinnen zu einer erschreckenden Erkenntnis: Sie handelten aus eigenen Unterdrückungserfahrungen heraus mit dem Ziel der Befreiung, und zwar nicht nur der eigenen, sondern von Frauen generell. Sie erlebten in unterschiedlichsten Zusammenhängen, dass sie diskriminiert, unterdrückt, marginalisiert wurden, und zwar immer wieder auch von Männern, die sich ihrer Machtposition und ihrer Dominanz gar nicht bewusst waren. Im Antijudaismusstreit wurden die christlichen feministischen Theologinnen nun eben dieses Verhaltens bezichtigt.26 Daraus entstand eine intensive und differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema mit einigen bis heute maßgeblichen Veröffentlichungen, wodurch das Bewusstsein für Antijudaismus und Antisemitismus in der Exegese
25
26
Vgl. dazu MARIE-THERES WACKER: Feministisch-theologische Blicke auf die neuere Monotheismus-Debatte. Anstöße und Fragen, in: DIES. (Hg.): Der eine Gott und die Göttin. Gottesvorstellungen des biblischen Israel im Horizont feministischer Theologie (QD 135), Freiburg i. Br. u. a. 1997, 17–48. Vgl. die Beiträge zum Thema in Schlangenbrut 16 (1987).
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insgesamt gewachsen ist.27 Die Selbstverständnis: ‚Wir Frauen‘ kämpfen für ‚Frauen‘, bekam hier einen Bruch – und nicht nur hier. Denn noch war es normal, dass auch diese Debatte weitgehend im Kontext weißer, westlicher Theologie und Exegese geführt wurde.
2.2
Womanism
Der Einspruch gegen dieses ‚Wir‘ kam ebenfalls in den 1980er und 1990er Jahren von schwarzen Frauen und wieder zuerst aus den USA:28 Es ist nicht normal, dass schwarze Frauen mit ihren Erfahrungen in weißer Feministischer Theologie und Exegese nicht vorkommen und der inhärente Rassismus dieser Theologie nicht thematisiert wird. Schwarze Theologinnen aus den USA haben Einspruch erhoben, und zwar auf der Basis der Prämissen, mit denen Feministische Theologie arbeitet: Es geht um Theologie und Exegese mit Erfahrungsbezug – nur dass die Erfahrungen schwarzer Frauen in der bisher vor allem weißen feministischen Exegese nicht vorkamen. Wieder wurde deutlich, dass Erfahrungen der Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen sehr unterschiedlich sind, und dass weiße Frauen an dem Rassismus teilhaben, der schwarze Frauen unterdrückt. Diese Verstrickung haben sich viele weiße Feministinnen nicht bewusst gemacht.29 Schwarze Theologinnen legten sie offen, formulierten Theologie und damit auch Exegese auf der Basis ihrer Erfahrungen und wählten, mit Bezug auf die Alice Walker zugeschriebene Wortschöpfung ‚Womanist‘, einen eigenen Namen dafür: Womanistische Theologie.30 Ein Beispiel ist Delores Williams mit ihrem Buch Sisters in the Wilderness, in dem sie die Erzählungen von Sara und Hagar (Gen 16 und 21) ins Zentrum stellt. In einer Verbindung von Erfahrungsbezug und theoretischer Reflexion zeigt sie auf der Basis einer sorgfältigen Auslegung der Texte, wie in den Erzählungen von Hagar Erfahrungen schwarzer Frauen bis heute vorkommen. Hier einige Beispiele: Hagar ist die erste Frau in der Bibel, die sich selbst aus Unterdrückungsstrukturen befreit;31 Gott, der durch den Engel Hagar die Rückkehr zu Sara befiehlt, ist hier kein Befreier, aber die Rückkehr ist der realistische Weg, so dass 27
28
29 30
31
Ein Beispiel ist der von LUISE SCHOTTROFF und MARIE-THERES WACKER herausgegebene Band: Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u. a. 1996. Die Selbstbezeichnungen haben sich immer wieder verändert, im Aufkommen der Womanistischen Theologie waren „Black Women“ und „African-American Women“ übliche Begriffe, inzwischen auch „Women / People of Colour“. Siehe dazu unten 2.4 Exkurs Intersektionalität. „Womanist“, in: ALICE WALKER: In Search of Our Mothers’ Gardens, Womanist Prose, San Diego 1983, XI–XII. DELORES S. WILLIAMS: Sisters in the wilderness. The challenge of womanist God-talk, Maryknoll 1993, 19.
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Hagar überlebt und ihr Kind in Sicherheit bekommen kann;32 Hagar ist in mehrerlei Hinsicht ein Ersatz (surrogate), so ist sie Ersatzmutter für Sarai (Gen 16); Hagar und ihr Sohn werden obdachlos (Gen 21).33 Die genannten Punkte sind bis heute Teil der Erfahrung schwarzer Frauen in den USA. Williams vertieft sie im weiteren Verlauf ihrer Analyse im Kontext der Geschichte schwarzer Frauen und Männer in den USA und stellt sie in entsprechende Theoriedebatten über Rassismus, Sklaverei etc. Anschließend wertet sie ihre Ergebnisse für schwarze Befreiungstheologie aus und geht auf die Berührungspunkte mit unterschiedlichen feministischen Theologien ein. „This means that black male liberationsts, womanists and feminists connect at vital points. Yet distinct and sometimes hostile differences exist between them precipitated, in part, by the maladies afflicting community life in America – sexism, racism and classism. Consequently, womanist god talk often lives in tension with its two groups of relatives: black male liberationists and feminists.“34
Das Thema ‚Überleben‘ (survival) ist dabei zentral – nicht nur bei Williams, sondern generell in Womanistischer Theologie, so auch in der Definition von Karen Baker-Fletcher: „A womanist is a Black woman who employs hermeneutical lenses and tools from Black women’s real-lived, social-historical, and economic experience to interpret written texts and oral traditions with attention to a survival ethics, quality of life and liberating praxis. A womanist is concerned with healing and wholeness of entire communities, female and male.“35
Es ist bezeichnend, dass diese Bestimmung nicht eine theologische Richtung, Womanism, sondern eine bestimmte Art von Theologinnen beschreibt, die eine spezielle Art von Gemeinschaft zum Ziel haben. Konstitutiv für Womanistische Theologie ist gemäß dieser Definition, dass sie immer an konkrete Personen und damit an konkretes gelebtes Leben gebunden ist. Williams Arbeit an der Geschichte von Hagar zeigt, dass andere theologische Themen relevant werden, wenn die Auslegerin die bisher vorherrschende Perspektive verschiebt, indem sie die Überlieferung aus der Sicht Hagars deutet. Womanistische Theologinnen legten mit ihrer Arbeit offen, dass es für viele feministische Exegetinnen normal war, in der Welt der weißen Mittelschicht zu leben, (Unterdrückungs-)Erfahrung auf diesem Hintergrund zu definieren und
32 33 34 35
A. a. O., 21. A. a. O., 22f. A. a. O., 178. KAREN BAKER-FLETCHER: Seeking out survival, our quality of life, and wisdom. Womanist approaches to the Hebrew Bible, in: SUSANNE SCHOLZ (Hg.): Feminist interpretation of the Hebrew Bible in retrospect; Bd. 3: Methods (Recent research in biblical studies 9), Sheffield 2017, 225–242, 226.
260
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die eigene Beteiligung an rassistischen Strukturen und der Klassengesellschaft nicht zu sehen, geschweige denn theologisch zu thematisieren.
2.3
Postcolonial Theory
In vergleichbaren Bahnen entwickelte sich der Einspruch von Theolog*innen aus aller Welt, vor allem aus dem kolonialisierten Süden, auf der Basis postkolonialer Kritik an westlicher Theologie und damit auch an der bisherigen Normalität der Bibelwissenschaften, auch der feministischen und gender-gerechten Exegese: Es ist nicht normal, dass feministische Theologinnen das westliche Erbe der Kolonialisierung ignorieren und koloniale und postkoloniale Machtstrukturen und -praktiken in den Texten und in ihrer eigenen Auslegung nicht wahrnehmen. Wieder forderten Exeget*innen Anerkennung für ihre Theologie auf der Basis ihrer Erfahrungen und das Eingeständnis, dass jede Theologie kontextuell ist, auch die des Westens. Wieder ging es um eine veränderte Perspektive, in der die Ausleger*innen koloniale Haltungen und Ansprüche in den biblischen Texten und ihrer Auslegung sichtbar machten. Wieder ging es darum, dass feministische Theologinnen der westlichen Mittelschicht ihre eigene Position mit ihren Privilegien nicht wahrnahmen. Postkoloniale feministische und gender-gerechte Bibelexegese vertritt die Anliegen und die Herangehensweise postkolonialer Kritik und Exegese und rückt dabei Gender in den Fokus. Exeget*innen aus verschiedenen Teilen der Welt zeigen kolonialisierende Impulse in den Texten und Mechanismen der Kolonialisierung in der Auslegung. Exegese aus der Perspektive der jeweils eigenen Situation kolonialisierter und post-kolonialer Menschen und Völker führt zu einem neuen Verständnis der biblischen Texte, zum Beispiel im Hinblick auf die Landnahmetradition. Feministische post-koloniale Exegese untersucht dabei speziell, welche Rolle Gender in diesen Strukturen spielt. Denn auch hier wurde deutlich, dass sich für Frauen Unterdrückungsmechanismen überkreuzen und damit gegenseitig verstärken: gegen die Bevölkerung der ehemals kolonialisierten Länder und gegen Frauen. Musa W. Dube nennt dies „double colonization“,36 die Überschneidung von Patriarchat als „discursive colonization“ und imperialistischer Kolonialisierung, „historical imperial oppression“,37 die Frauen in eine schwierige Position bringt: auf der einen Seite die Befreiungsbewegung der eigenen Kultur, die gender-Fragen hintenan stellt, auf der anderen Seite westliche Feministinnen, die zwar Ungleicheit zwischen den Geschlechtern, nicht aber den inhärenten Imperialismus in ihrer Argumentation sehen. Dube zeigt auf, wie in westlicher feministischer Bibelauslegung oft Imperialismus und Patriarchat identifiziert werden, so dass 36 37
MUSA W. DUBE: Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, Saint Louis 2014, 112f. A. a. O., 121.
Was ist eigentlich normal?
261
dadurch die Verstrickung der Auslegerinnen in imperialistische Unterdrückungsstrukturen unsichtbar wird. Denn während viele Frauen Unterdrückte des Patriarchats in unterschiedlichen Formen sind, sind nicht alle Frauen von dieser doppelten Form der Kolonisierung betroffen.38 Dagegen fordert Dube eine entkolonialisierende Lektüre biblischer Texte und schlägt dafür „Rahabs Leseprisma“ vor, eine Leseanleitung, die biblische Frauenfiguren wie Rahab in verschiedenen Brechungen zeigt, so dass die doppelte Kolonisierung sichtbar wird, und zugleich der Blick auf Alternativen über Text- und Kanongrenzen hinaus möglich wird.39
2.4
Exkurs: Intersektionalität
Solche Überschneidungen verschiedener Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen erfasst die Theorie der Intersektionalität.40 Das Konzept entwickelte ursprünglich die Juristin Kimberly Crenshaw, die damit zeigte, dass sich verschiedene Kategorien der Diskriminierung, wie zum Beispiel Frau-Sein (gender) und Schwarz-Sein (race) nicht addieren, sondern in ihrer Verschränkung gegenseitig verstärken.41 Das Bild der Straßenkreuzung (intersection) macht dies anschaulich, da im Kreuzungspunkt alle Kategorien zugleich und untrennbar präsent sind. Intersektionalität ist inzwischen ein theoretisches Instrument, mit dem die Ausdifferenzierung, zum Beispiel von Frauen, aufgrund von Unterschieden im Hinblick auf race, class und gender, so die klassischen Kategorien, aber auch weiterer, wie Körper, Alter und eben auch Religion erfasst werden können.42 Für die Analyse von Macht- und Diskriminierungsstrukturen ist Intersektionalität inzwischen für viele Ausleger*innen ein fester Bestandteil feministischer und gender-gerechter Exegese.43 *** Während ich in den ersten Abschnitten dieses Überblicks den Fokus auf die deutschsprachige Exegese gelegt habe, geht es bei womanistischer und postkolonialer feministischer und gender-gerechter Exegese ausdrücklich um die Perspektive anderer Gruppen und Weltgegenden. Die aktuellen Debatten um 38 39 40
41
42 43
A. a. O., 36. A. a. O., 123. GABRIELE WINKER / NINA DEGELE: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten (Sozialtheorie Intro), Bielefeld 22010, 15. KIMBERLE CRENSHAW: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum (1989), 139–167. WINKER/DEGELE: Intersektionalität (s. Anm. 40), 10f. Vgl. den Aufsatz von CLAUDIA JANSSEN in diesem Band.
262
Uta Schmidt
Identitätspolitik in Deutschland zeigen, dass es umstritten ist, ob Exeget*innen der westlichen Welt und speziell aus Deutschland, solche Ansätze und Perspektiven übernehmen sollten oder nicht. Ich selber bin der Meinung, dass die Auseinandersetzung damit sinnvoll und nötig ist, allerdings mit dem Bewusstsein für den eigenen Kontext und die eigene Rolle in rassistischen und postkolonialen Machtverhältnissen. Dazu gehört auch die eigene Position im Wissenschaftsbetrieb, der eine weitere problematische Facette von Normalität bereithält, die keinesfalls nur die feministische und gender-gerechte Exegese betrifft: Es ist nicht normal, dass den Beiträgen von Theologinnen aus aller Welt mit Verweis auf westliche wissenschaftliche Standards oft das Niveau abgesprochen wird, während die Rolle, die das westliche Erbe der Kolonialisierung dabei spielt, ignoriert wird. Die Kriterien der westlichen akademischen Welt sind bis heute oft der Maßstab dafür, was wissenschaftlich sei (siehe oben 1.4). Ein echter transkultureller und internationaler Dialog zwischen Exeget*innen weltweit kann nicht allein in diesem Rahmen stattfinden, sondern muss auch die Rahmenbedingungen zur Debatte stellen, die dann bestimmen, wer gehört und rezipiert wird, in welcher Sprache das möglich ist, wer auf Tagungen eingeladen und dort wiederum gewürdigt wird, was auch in anderen Ländern publiziert und gelesen wird.44 Erneut wird an dieser Stelle sichtbar, dass feministische und gender-gerechte Exegese keine speziellen Methoden hat, dass vielmehr der Austausch über den jeweiligen hermeneutischen Zugang und die jeweiligen Methoden Teil des Diskurses sein müssen.45
3.
Mehr als Frauen – Veränderungen
3.1
Masculinity Studies
Bisher waren die Akteurinnen der ‚kleinen Geschichte‘ hauptsächlich Frauen, meist gemeinsam mit einigen Männern. Der Überblick bis hier hat gezeigt, dass die Frage, wer oder was Frauen eigentlich seien, dabei immer weiter problema44
45
Zwei innereuropäische Beispiele dazu: Die Europäische Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen (www.eswtr.org) pflegt als Konferenzsprachen aktuell Englisch, Spanisch und Deutsch, auch wenn die Übersetzungen teuer und Fördergelder dafür kaum zu bekommen sind. Auch im Jahrbuch der ESWTR (https://poj.peeters-leuven.be/content. php?url=journal&journal_code=ESWTR, letzter Zugriff am 17.08.2022) sind Beiträge in diesen verschiedenen Sprachen vertreten. Ein weiteres Beispiel ist die Enzyklopädie Die Bibel und die Frauen (s. Anm. 3), die parallel in vier Sprachen publiziert wird (Deutsch, Englisch, Italienisch und Spanisch). Sowohl die vielfältigen Beiträge wie auch die Ausgaben in den unterschiedlichen Sprachen zeigen, dass hier verschiedene kulturelle und wissenschaftliche Kontexte zusammenkommen. Vgl. dazu folgenden Punkt aus Dubes postkolonialen feministischen Lesestrategien: „Decolonizing Western biblical academy“ (DUBE: Interpretation [s. Anm. 36], 199).
Was ist eigentlich normal?
263
tisiert und differenziert wurde, sowohl durch das zunehmende Bewusstsein für unterschiedliche Kontexte und Machtverhältnisse als auch durch die Erkenntnisse und Impulse aus der Genderforschung. Eine weitere Veränderung brachten die Masculinity Studies in die Exegese. Die Frage, was eigentlich normal sei, wurde wieder einmal neu beantwortet: Mann-Sein ist nicht normal, entgegen weitverbreiteter Annahmen; normal ist auch nicht, dass der Konstruktionscharakter von Geschlecht fast ausschließlich für feminine gender-Rollen erforscht wird. Masculinity Studies bzw. kritische Männlichkeitsforschung machen sichtbar, dass es um Männer geht, nicht nur um Menschen, die keine Frauen sind, und bieten einen theoretischen Rahmen für die Analyse dessen. Kritische Männlichkeitsforschung nimmt maskuline Genderrollen in den Blick und erforscht den Konstruktionscharakter von Männlichkeit – ein Unterfangen, das bisher fast ausschließlich für Frauen und weibliche Geschlechterrollen stattfand. Männlichkeit als Geschlechterrolle und damit ebenfalls als Konstruktion wurde somit der ‚Unsichtbarkeit‘ entzogen. Dabei war es nicht neu, dass sich Exeget*innen auf die Männerfiguren in den biblischen Texten konzentrierten, im Gegenteil: Die Geschichte der Exegese bestand zu einem großen Teil genau darin. Neu ist aber, dass diese als Männer im Fokus stehen, mit der Frage, wie ihre Männlichkeit jeweils konstruiert ist, im Verhältnis zu anderen Männern und zu Frauen. Wieder einmal kamen die ersten Impulse aus den USA, ein früher Vertreter der Männlichkeitsforschung in der Exegese des Alten Testaments ist David Clines mit seinen Untersuchungen unter anderem zu David. Seine Herangehensweise fußt auf der Unterscheidung von Sex und Gender, er fragte nach sozialem Geschlecht. Entsprechend untersuchte er den Befund der Davidüberlieferung daraufhin, was über David als Mann ausgesagt wird, und arbeitet die folgenden Komponenten idealer Männlichkeit in der Darstellung Davids heraus: 1. Der kämpfende Mann; 2. Der überzeugende Mann; 3. Der schöne Mann; 4. Der Mann der Männerfreundschaft („the bonding male“); 5. Der Mann ohne Frauen („the womanless male“); 6. Der musikalische Mann.46 Clines zeigt weiter auf, dass David diesen Standards für Männlichkeit nicht immer entspricht. Er wird zwar als großer Held dargestellt, aber als fehlbarer Held, was den kulturellen Normen für Männlichkeit allerdings keinen Abbruch tut.47 Dieser Zugang beschreibt Männlichkeit inhaltlich, als bestimmte Charakteristika und Tätigkeiten. Im Vergleich mit modernen Auslegungen der biblischen Texte macht er nicht nur die Männlichkeitsideale der Texte sichtbar, sondern auch die Unterschiede zu solchen der Gegenwart.48 Über die inhaltliche Bestimmung von Männlichkeit hinaus ist das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Raewyn Connell weiterführend, das inzwi46
47 48
DAVID J. CLINES: Interested Parties. The Ideology of Writers and Readers of the Hebrew Bible (JSOT.S 205 / Gender, Culture, Theory 1), Sheffield 1995, 215–228. A. a. O., 228f. A. a. O., 231–243.
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schen in Masculinity Studies auch in der Exegese breit rezipiert wird. Das Modell geht von Männlichkeiten im Plural aus, die relational aufeinander bezogen, aber inhaltlich nicht festgelegt sind, anders als in Clines’ Studie zu David.49 Das Ideal der hegemonialen Männlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass es an der Spitze der Hierarchie steht, über allen anderen Männern und über Frauen. Allerdings erfüllen die wenigsten Männer dieses Ideal, sondern sind auf mehreren Hierarchiestufen unterhalb der hegemonialen Männlichkeit eingeordnet. Dennoch profitieren sie von ihrer „Komplizenschaft“ zur hegemonialen Männlichkeit, auf die sie sich beziehen und die sie damit stützen. Connell spricht von der „patriarchalen Dividende“.50 Auf der untersten Ebene stehen Männer, die aus dieser Ordnung herausfallen, aussortiert und untergeordnet werden. Quer dazu liegen Kategorien der Marginalisierung, wie Klasse, race oder Ethnizität, die ich oben bereits im Rahmen der Intersektionalität vorgestellt habe und die ebenfalls Einfluss auf die Beziehungs- und Machtgeflechte verschiedener Männlichkeiten haben. Das Modell hat die Stärke, dass Männlichkeit ausdifferenziert und nicht inhaltlich auf bestimmte Eigenschaften festgelegt wird, wodurch wiederum Unterschiede wie die zwischen den Männlichkeiten der antiken Davidüberlieferungen und der Gegenwart erfasst werden können. Für das Neue Testament kamen starke Impulse aus der klassischen Philologie und den Altertumswissenschaften, da in deren Quellen die soziale Konstruktion von Männlichkeit häufig eine Rolle spielt, so dass Moisés Mayordomo feststellt: „Männlichkeit war in der Antike ebenso umstritten wie umkämpft. […] Die Kategorien des Männlichen und des Unmännlichen bildeten somit einen kulturellen Subtext, der nur selten explizit zur Sprache gebracht werden musste.“51
Die Aufgabe für kritische Männlichkeitsforschung in der neutestamentlichen Exegese bestehe folglich darin zu zeigen, wo dieser Subtext in welcher Weise wirksam wird. Daraus sind Forschungen nicht nur über Jesus und Paulus entstanden52 – Figuren, deren Mann-Sein im Christentum oft äußerst wichtig war, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung um Frauen und Ämter zeigt, deren Männlichkeit jedoch in der Regel unsichtbar blieb. Vertreter*innen der Masculinity Studies haben damit vermeintlich normale Männerbilder in biblischen Texten dekonstruiert und die Funktions- und Wirk49
50 51
52
RAEWYN W. CONNELL: Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 42015, 122, bezeichnet letztere als „normative Definitionen“ von Männlichkeit, im Unterschied zu dem von ihr entwickelten relationalen Konzept von Geschlecht als Struktur der sozialen Praxis (a. a. O., 124–135). A. a. O., 133. MOISÉS MAYORDOMO: Cherchez l’homme! Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1. Korinther 11,2–16, ZNT 25 (2022), 45–59, 46f. Vgl. STEPHEN D. MOORE / JANICE CAPEL ANDERSON (Hg.): New Testament Masculinities (Semeia Studies 45), Atlanta 2003.
Was ist eigentlich normal?
265
weise maskuliner Geschlechterrollen in den biblischen Texten herausgestellt. Doch während in feministischer und gender-gerechter Exegese die Analyse der biblischen Frauenfiguren und weiblichen Genderrollen fast immer (auch) in Relation zu den Männern in den Texten geschah, werden in der Exegese der Masculinity Studies Männlichkeiten in Relation zueinander betrachtet, Frauen kommen dagegen nur punktuell vor.53 Auffällig ist, dass in vielen Analysen abweichende Männlichkeiten, also gerade nicht das Ideal hegemonialer Männlichkeit, behandelt werden. Martin Leutzsch äußert dazu eine Vermutung: „Die mögliche Einsicht, selbst an hegemonialer Männlichkeit beteiligt zu sein, wird durch die Fokussierung auf alternative oder transgressive Männlichkeiten oder auf Zusammenhänge, in denen Männer als Opfer erscheinen, an den Rand gedrängt. Jedenfalls scheinen die Lebenswirklichkeiten, insbesondere das Alltagsleben der in der Jesusbewegung und sonst im Neuen Testament begegnenden Männer als Männer bislang noch weitgehend unerforscht zu sein.“54
Damit formuliert Leutzsch die Problematisierung des eigenen Standorts, die in der Geschichte der feministischen und gender-gerechten Exegese von Anfang an Thema war. Allen bisher vorgestellten Phasen und Ansätzen ist gemeinsam, dass die Prämisse, dass es ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ gibt, fast nicht diskutiert wurde. Nicht alle, aber viele Ausleger*innen gingen lange Zeit noch selbstverständlich von Heterosexualität als Normalzustand aus. Dass so viele Analysen abweichende Männlichkeiten untersuchen, weist jedoch schon die Richtung der weiteren Entwicklungen.
3.2
Queer Studies
Die Normalität der binären Geschlechterordnung stellen die Queer Studies radikal infrage: Nichts ist normal – das könnte das Motto des vorerst letzten Abschnitts dieser ‚Geschichte‘ sein. Das englische Wort queer bedeutet ursprünglich ‚schräg, quer (zu etwas)‘, auch ‚schräg‘ im übertragenen Sinn, ‚verquer‘, auch ‚pervers‘; im Englischen stand das Wort auch schon lange für ‚homosexuell‘. ‚Queer‘, ursprünglich eine abwertende Fremdbezeichnung, übernahmen Menschen für sich, die sich nicht 53
54
RAEWYN W. CONNELL / JAMES W. MESSERSCHMIDT: Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept, Gender and Society 19 (2005), 829–859, haben in der rückblickenden Evaluierung des Konzepts darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Verhältnisses von Männern und Frauen sowie der Rolle von Frauen in der Konstruktion von Männlichkeit weitere Forschung nötig ist (a. a. O., 847f.). MARTIN LEUTZSCH: Eine durch und durch politische Angelegenheit: Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments. Gedanken zu Fragestellungen, Problemen und Kontexten der Forschung, ZNT 25 (2022), 7–25, 19.
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in herkömmliche heterosexuelle Geschlechterrollen und -normen einordnen. Der Begriff ist ein Dach für verschiedene Gruppierungen oder sexuelle Orientierungen (LGBTQIA*),55 er kann damit Selbstbezeichnung einer Gruppe und zugleich immer auch die Infragestellung aller festgelegten (Gruppen-)Identitäten sein. Auch Queere Theologie ist kontextbezogen, wie alle hier bisher vorgestellten Zugänge, und reflektiert Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder nicht-zweigeschlechtlichen (nicht-binären) Identität. Queere Theologie stellt infrage und dekonstruiert, wie Kerstin Söderblom dies formuliert: „Queere Theologien bedienen sich verschiedener gesellschaftskritischer Ansätze, um heteronormative theologische Systeme und hegemoniale Männlichkeitskonstruktionen aufzudecken und sich daraus zu befreien. In gleicher Weise sind queere Theologien nomadische Theologien.“56
Dieses Bild erfasst, dass queere Theologien vorläufig und prozesshaft sind, dass es dabei immer neu um die ‚Entselbstverständlichung‘ dessen geht, was normal und selbstverständlich angesehen wurde. Queere Exegese hat dementsprechend kein konkretes Vorgehen, sondern bezeichnet Bibelauslegung, die heterosexuelle Normen und binäre Geschlechterrollen immer neu hinterfragt. Vieles ist dabei ähnlich wie in Feministischer Theologie und Befreiungstheologien, Gender Studies und Masculinity Studies, die man vielleicht als Wurzeln Queerer Exegese bezeichnen könnte. Wie in diesen geht es um Exegese, die den eigenen Kontext reflektiert und Erfahrungen einbezieht: konkret die Erfahrungen von Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder nicht-binären Identität diskriminiert oder zurückgesetzt werden. Auch Queere Theologie hat damit eine befreiungstheologische Ausrichtung und eine kritische, da es darum geht, zu analysieren, wo die Bibel (textfremd) heteronormativ gelesen wird und wie sie für die Unterdrückung queerer Menschen instrumentalisiert wird. Von den exegetischen Zugängen, die ich hier als Wurzeln genannt habe, unterscheidet sich Queere Bibelauslegung oder Bibellektüre dadurch, dass im Vordergrund das ‚Queere‘ steht: hinterfragen, verwirren, Normalität infrage stellen, ein Prozess, der immer unabgeschlossen bleibt. Queere Exeget*innen bringen in Texten die Brüche und Unstimmigkeiten zum Vorschein, an denen sichtbar wird, dass es mehr als heterosexuelle Geschlechterverhältnisse gibt. Die Auseinandersetzung mit den Texten, die heute im Hinblick auf Homosexualität 55
56
LGBTQIA* steht für lesbian, gay, bi, trans*, queer, inter* und asexual, das * signalisiert, dass diese Aufzählung offen ist, da eine umfassende Liste sexueller Orientierungen und Selbstbeschreibungen nicht möglich ist. KERSTIN SÖDERBLOM: Queere Theologie, im Blog „Kreuz & Queer“ auf „evangelisch.de“ am 9.2.2022 (https://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/196847/09-02-2022, letzter Zugriff am 15.07.2022).
Was ist eigentlich normal?
267
in der Bibel gelesen werden, gehört dazu, doch noch viel mehr.57 Für viele, aber nicht alle Vertreter*innen, ist der Kontext wissenschaftlicher Exegese, mit historisch-kritischem Blick und damit dem Bewusstsein für den Abstand zu den Texten und die Differenz zwischen unserer Welt und der der Texte, ein maßgeblicher Rahmen. Queere Exeget*innen betrachten die kritischen Fragen und Zugänge, die ich bisher vorgestellt habe, im Kontext queerer Erfahrungen, auf der Suche nach einer befreienden Bibellektüre – und damit einem befreienden Zugang zu Gott. Mit Heteronormativitäts-, Identitäts- und Begriffskritik begeben sie sich auf die Suche nach Brüchen, nach den Spuren, die zu nicht-heteronormativen Figuren und Erzählungen führen, zu nicht-heteronormativen Bildern von und Erfahrungen mit Gott.
4.
Fazit
Nichts ist normal? Endet dieser Durchgang durch die Geschichte der feministischen und gender-gerechten Exegese hier mit dem Ende aller Normalität? Damit käme die nomadische Theologie, um diesen Begriff von Kerstin Söderblom noch einmal aufzugreifen, zum Stillstand, was weder so gedacht, noch zutreffend ist. Nichts ist normal … außer? Außer, dass meine Darstellung dieser ‚Geschichte‘ anthropozentrisch ist, so dass Tiere, Pflanzen, die unbelebte Natur nicht in den Blick kommen. Das bedeutet nicht, dass diese Themen bisher in feministischer und gender-gerechter Theologie nicht behandelt wurden. Gerade Ende des 20. Jahrhunderts war die Sorge um die Umwelt, so der damals übliche Begriff, groß.58 Doch in der feministischen und gender-gerechten Exegese, auch in den Masculinity und Queer Studies zur Bibel, ist dieses Thema seit der Jahrtausendwende eher weniger aufgegriffen worden.59 Die nächste Etappe dieser ‚kleinen Geschichte‘, die ich hier vorgestellt habe, sollte davon handeln. 57
58 59
Unter anderem Lev 18,22; 20,13; Dtn 23,17; Röm 1,18–32; 1Kor 6,9f. und 1Tim 1,9f. Diese und weitere Textstellen werden häufig herangezogen, wenn biblische Texte biblizistisch gegen Homosexualität verwendet werden. Die wissenschaftliche Diskussion zum Thema untersucht die jeweiligen sozialen und kulturellen Kontexte der Stellen sowie die Frage, inwieweit moderne Konzepte wie ‚Homosexualität‘ überhaupt auf antike Texte übertragbar sind. Für einen Überblick siehe die Artikel von Thomas Hieke: Homosexualität (AT), 2021 (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/21490/), und STEFAN SCHOLZ: Homosexualität (NT), 2012 (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/46910/) im Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet. Für die Bandbreite queerer Exegese siehe zum Beispiel TERESA J. HORNSBY / KEN STONE (Hg.): Bible Trouble. Queer Reading at the Boundaries of Biblical Scholarship (SBL Semeia Studies), Atlanta 2011. Vgl. das Zitat von Luise Schottroff (s. Anm. 11). Eine Ausnahme ist ein Sammelband afrikanischer Theolog*innen: SIDNEY K. BERMAN (Hg.): Mother Earth, Mother Africa and Biblical Studies. Interpretations in the Context of Climate Change, Bamberg 2021. Anders sieht es in anderen Theologischen Disziplinen wie der Ethik
268
Uta Schmidt
Feministische und gender-gerechte Exegese ist inzwischen fester Bestandteil der Theologie als Wissenschaft, auch Masculinity Studies und Queere Exegese gehören dazu. Doch all dies war nie nur Wissenschaft, wie dieser Durchgang gezeigt hat, sondern immer auch Anliegen von Bewegungen in Kirche und Gesellschaft. Die Augustana liegt in mehrerlei Hinsicht an diesem Schnittpunkt von Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Sie ist damit ein guter Ort, um aus feministischer und gender-gerechter Perspektive immer wieder zu fragen: Was ist normal? Wen schließen wir aus? Und wer sind eigentlich ‚Wir‘?
und Systematischen Theologie aus, wie auch in den Religionswissenschaften; vgl. dazu den Themenschwerpunkt im Journal of Feminist Studies in Religion 33 (2017) und das Themenheft von Feminist Theology 29 (2021).
Historische Aspekte
Warum eine kirchliche Hochschule?
Warum eine kirchliche Hochschule?
Beobachtungen zur Entstehung der Augustana-Hochschule*
TOBIAS JAMMERTHAL / GURY SCHNEIDER-LUDORFF Tobias Jammerthal / Gury Schneider-Ludorff
Immer wieder haben größere und kleinere Jubiläen der Augustana-Hochschule die Gelegenheit geboten, über diese Institution und ihre Chancen nachzudenken. Dabei richtete sich der Fokus oft auf die Anfänge der Theologischen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: In Erinnerung gerufen wurde die wichtige Rolle der ‚Riminesen‘1 ebenso wie die Verflechtung von Pastoralkolleg und Augustana2 oder die Bedeutung der Theologischen Schule in Bethel als Vorbild für das, was Georg Merz in Neuendettelsau verwirklichen wollte.3 Die folgenden Ausführungen wollen all dies nicht wiederholen. Sie gehen jedoch von der Beobachtung aus, dass die Errichtung der Augustana-Hochschule das Ergebnis eines bemerkenswert zielstrebig beschrittenen Weges seitens der Kirchenleitung in Bayern war (1) und nehmen davon ausgehend in den Blick, welche Argumente die an diesem Prozess Beteiligten als ausschlaggebend *
1
2
3
Ein besonderer Dank für manchen weiterführenden Rat bei der Suche nach den relevanten Archivalien gebührt Herrn Kirchenarchivoberrat Dr. Daniel Schönwald M. A. in Nürnberg sowie Frau Dr. Nora Andrea Schulze von der Forschungsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in München. Vgl. insbes. WERNER JENTSCH: Etwas begann in Rimini, in: GERHARD MONNINGER (Hg.): Eine Denkwerkstatt der Kirche. Augustana-Hochschule 1947–1987, München 1987, 12–24 sowie BERND WALTER: Vom theologischen Seminar zur theologischen Hochschule, in: MONNINGER (Hg.): a. a. O., 26–13; s. auch FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH: Georg Merz und die kirchliche Hochschule des 20. Jahrhunderts, ZBKG 43 (1974), 451–468, hier: 462. GISELA HECKEL: Der Rechtsstatus der evangelischen kirchlichen Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. jur. [gekürzte Fassung] Köln [1957], 77; vgl. HERWIG WAGNER: Bewegter Anfang. Georg Merz und die Gründungsjahre, in: JÖRG DITTMER (Hg.): Theologie auf dem Campus. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, Neuendettelsau 1997, 19–32; KANTZENBACH: Georg Merz (s. Anm. 1), 459–462 sowie DIETER VOLL (Hg.): Damit auch Pfarrer zu sich kommen – Das Pastoralkolleg Neuendettelsau und die „Fortbildung in den besten Amtsjahren“. Geschichte und Gegenwart, Neuendettelsau 1982. So insbes. MANACNUC MATHIAS LICHTENFELD: Georg Merz – Pastoraltheologe zwischen den Zeiten. Leben und Werk in Weimarer Republik und Kirchenkampf als theologischer Beitrag zur Praxis der Kirche (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 18), Gütersloh 1997, hier v. a.: 673.681–684; zuvor schon KANTZENBACH: Georg Merz (s. Anm. 1), 457–459 im Anschluss an HECKEL: Rechtsstatus (s. Anm. 2), 77.
272
Tobias Jammerthal / Gury Schneider-Ludorff
dafür ins Feld führten, dass eine kirchliche Hochschule errichtet werden müsse (2). Der zeitliche Rahmen beschränkt sich dabei auf die Jahre 1945 bis 1947.
1.
Der Weg zum Augustana-Gesetz
Am 28. April 1947 richtete Werner Elert, Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen, einen Brief an Wilhelm Eichhorn, den Präsidenten der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Elert, der als Vertreter seiner Fakultät Synodaler war, hatte mit den Unterlagen für die außerordentliche Synodaltagung in Ansbach vom 6.–8. Mai 1947 auch den Entwurf für ein Kirchengesetz über die Errichtung einer Kirchlichen Hochschule samt Begründung erhalten. Weder mit dem Entwurf selbst noch mit seiner Begründung war Elert einverstanden – fast noch schwerer wog indes etwas anderes: „Die Fakultät hat von der beabsichtigten Gründung zwar durch die kirchliche Presse Kenntnis erhalten. […] An dem Entwurf des Gesetzes wurde die Fakultät in keiner Weise beteiligt. Es ist ihr auch bis heute nicht einmal zur Kenntnisnahme mitgeteilt worden.“4
Zwar habe man nach langem Drängen seitens der Fakultät immerhin ein Gespräch mit Landesbischof Hans Meiser führen können, so Elert, aber dieses sei unverbindlich geblieben und man habe die Fakultät nicht über die Details des Gründungsplans informiert. Er werde daher auf der Synode darauf drängen müssen, den Antrag zunächst förmlich durch die Fakultät begutachten zu lassen, bevor eine Abstimmung erfolgen könne; für die Beratungen über den Antrag meldete der Erlanger Professor schon jetzt einen einstündigen Wortbeitrag an. Tatsächlich wird man bei einem nüchternen Blick auf die Aktenlage nicht umhinkommen, festzustellen, dass eine Einbeziehung der Erlanger Fakultät kein hervorstehendes Merkmal des Prozesses war, der zur Errichtung der AugustanaHochschule führte: Schon am 20. Dezember 1945 formulierte Kirchenrat Matthias Simon im Entwurf eines Schreibens des Landeskirchenrates an das Bayerische Kultusministerium, dass die Landeskirche die Errichtung „einer freien kirchlichen Hochschule zur Ausbildung geistlicher Kräfte für den lutherischen Kirchendienst“ beabsichtige.5 In seiner Vollsitzung am 25. September 1946 beschloss der Landeskirchenrat zwar, dass das Pastoralkolleg in Neuendettelsau 4
5
Prof. Dr. Werner Elert an den Präsidenten der Landessynode, 28.04.1947, 1 Bl. masch. doppels., in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 20.12.1945, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Ein Vermerk Simons bittet, nach Prüfung des Entwurfs Rücksprache mit dem Referat G 1 von Oberkirchenrat Wilhelm Bogner zu halten; es ist nicht ersichtlich, ob die korrigierte Reinschrift, die dem Entwurf
Warum eine kirchliche Hochschule?
273
unter Mithilfe der Erlanger Fakultät einen Studentenkurs durchführen solle,6 diese Kooperation wurde jedoch nicht verwirklicht: Nachdem Merz als Leiter des Pastoralkollegs dem Landeskirchenrat am 16. Oktober und am 11. November 1946 programmatische Gedanken zur Ausgestaltung dieser Kurse im Rahmen einer von ihm so genannten „Studienfakultät“ vorgelegt hatte,7 konnte er am 14. November 1946 nach München melden, dass in Heilsbronn die erforderlichen Räumlichkeiten bereits zur Verfügung stünden.8 Tatsächlich hatte das Heilsbronner Pfarramt am 15. November 1946 mit dem Bürgermeister eine Nutzungsvereinbarung für das sogenannte Neue Kloster in Heilsbronn getroffen, die auch schriftlich fixiert wurde und verhindern sollte, dass die Räumlichkeiten angesichts der allgemeinen Wohnungsnot anderweitig belegt würden.9 Bereits vier Tage später beschloss der Landeskirchenrat in seiner Vollsitzung, dass die Studienfakultät unter der Voraussetzung, dass der Staat keine Einwände erheben werde, zum 1. Januar 1947 den Betrieb aufnehmen möge,10 was zeitnah der kirchlichen Presse mitgeteilt wurde.11 Beim Kultusministerium meldete Oberkirchenrat Wilhelm Bogner die Absicht der Errichtung einer kirchlichen Hochschule unter dem 27. November 1946 offiziell an; dass diesem Schreiben jedoch Verhandlungen vorangegangen waren, zeigt Bogners Brief an Merz vom 29. November 1946, in dem der Oberkirchenrat eine Besprechung mit Staatsrat Heinz Meinzolt am 23. November erwähnt.12 Der Erlanger Fakultät teilte Bogner hingegen erst am 30. November 1946 „im Interesse einer freundschaftlichen Zusammenarbeit“ mit, „daß wir beschlossen haben, ab 1. Januar 1947 in den Räumen des ehemaligen Klosters in Heilsbronn, im Rahmen des Evang.-Luth. Pastoralkollegs Neuendettelsau und dessen Leiter, Rektor G. Merz unterstellt, eine Evang.-Luth. Studienfakultät ins Leben zu rufen.“13
6
7
8 9 10
11
12
13
in diesem Akt folgt, die Zweitschrift eines tatsächlich abgegangenen Schreibens darstellt, oder ob es beim Entwurf blieb. Auszug aus dem Protokoll der Vollsitzung des Landeskirchenrates, 25.09.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. Evang.-Luth. Pastoralkolleg, Rektor Georg Merz, an den Landeskirchenrat, 16.10.1946, sowie D. Georg Merz an den Landeskirchenrat, 11.11.1946, beide enthalten in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. D. Georg Merz an den Landeskirchenrat, 14.11.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Der Text der Vereinbarung findet sich in LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Auszug aus der Niederschrift über die Vollsitzung des Landeskirchenrates am 19.11.1946: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. das Schreiben des Landeskirchenrates an die kirchlichen Presseorgane, 23.11.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Der Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.11.1946; vgl. Bogner an Merz, 29.11.1946, beide in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. auch HECKEL: Rechtsstatus (s. Anm. 2), 78. Oberkirchenrat Wilhelm Bogner an Prof. Dr. Friedrich Baumgärtel als Dekan der Theologischen Fakultät Erlangen, 30.11.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946.
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Sollte Bogner der Auffassung gewesen sein, dass man in Erlangen keine Einwände gegen diesen Plan der Kirchenleitung haben dürfte, so hatte er sich geirrt: Bereits am 3. Dezember 1946 muss er in der Haussitzung des Landeskirchenrats berichten, dass Erlangen wegen der geplanten Studienfakultät dringend um ein Gespräch gebeten habe.14 Das für den 8. Dezember 1946 geplante Gespräch15 kam durch Bogners tödlichen Autounfall auf der Anreise nicht zustande;16 auf den Vorschlag von Bogners Nachfolger Hans Schmidt, Fakultätsdekan Friedrich Baumgärtel möge doch zu einem Gespräch nach München kommen,17 reagierte dieser Anfang 1947 ablehnend und forderte statt dessen, dass ein Mitglied der Kirchenleitung nach Erlangen kommen solle, weil das gesamte Professorium der Fakultät an diesem Gespräch teilnehmen wolle.18 Während Oberkirchenrat Schmidt daraufhin versuchte, gemeinsam mit Merz einen solchen Termin in Erlangen zu finden,19 bemühte sich der Erlanger Praktische Theologe Gerhard Schmidt um eine Aussprache mit Landesbischof Meiser, wie er Merz wissen ließ;20 und in der Tat kam es am 10. April 1947 zu einem Gespräch Meisers mit der Fakultät.21 Dass die Kirchenleitung indes nicht beabsichtigte, die Erlanger Fakultät substanziell in die Genese der neuen Hochschule einzubeziehen, zeigt sich nicht nur daran, dass Meiser ein Protokoll über sein Gespräch mit den Professoren erst mehr als zwei Wochen später an das zuständige Referat weiterleitete,22 sondern auch daran, dass man die administrativen und juristischen Vorbereitungen unbeirrt von den deutlichen Zeichen der Irritation aus Erlangen weiter mit 14
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Vgl. Auszug aus dem Protokoll der Haussitzung des Landeskirchenrates am 03.12.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. den Brief von Prof. Dr. Gerhard Schmitt an Georg Merz, 06.12.1946, abgedruckt in: MONNINGER (Hg.): Denkwerkstatt (s. Anm. 1), 44. Vgl. dazu die Reaktion im Freundesbrief von Merz vom 14.12.1946: MONNINGER (Hg.): Denkwerkstatt (s. Anm. 1), 46f. Vgl. das Schreiben Schmidts an Baumgärtel vom 12.12.1946, LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Der Dekan der Theologischen Fakultät an den Landeskirchenrat, Oberkirchenrat Lic. Hans Schmidt, 06.01.1947, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. sein Schreiben an Merz vom 11.01.1947, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946 sowie das Antwortschreiben an Baumgärtel vom 10.01.1947, a. a. O. – Merz reagierte ablehnend auf diesen Vorschlag, vgl. sein Antwortschreiben an Schmidt vom 17.01.1947 (in: LEALKB, LKR, 0.2.0003-1687). Auf dieses Schreiben und die ihm beigefügte Aktennotiz wird im Verlauf dieses Beitrags noch zurückzukommen sein, s. u. Abschnitt 2.1, S. 275–277. Vgl. Schmidt an Merz, 12.01.1947 sowie erneut am 24.02.1947, in: MONNINGER (Hg.): Denkwerkstatt (s. Anm. 1), 48/49; 57. Vgl. den kritischen Rückblick auf dieses Gespräch durch Elert in seinem Brief an Eichhorn vom 28.04.1947: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. – Zu Meisers Einsatz für die Gründung der Augustana-Hochschule s. auch NORA ANDREA SCHMIDT: Hans Meiser. Lutheraner – Untertan – Opponent. Eine Biographie (AKiZ.B 81), Göttingen 2021, 366–368. Vgl. den Auszug aus dem Protokoll der Haussitzung des Landeskirchenrats am 29.04.1947: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Das Protokoll selbst ist in diesem Akt nicht enthalten und konnte bisher nicht identifiziert werden.
Warum eine kirchliche Hochschule?
275
Hochdruck betrieb: Nachdem Merz dem Landeskirchenrat am 11. Januar 1947 mitgeteilt hatte, dass die organisatorischen Vorklärungen in Heilsbronn bis Monatsende abgeschlossen sein würden, wies ihn Oberkirchenrat Schmidt am 17. Januar an, die für das staatliche Genehmigungsverfahren erforderlichen Unterlagen zusammenzustellen; die von Merz Ende Januar nach München gesandten Materialien wurden vom Landeskirchenrat am 24. Februar 1947 mit geringen Änderungen genehmigt und an den Landessynodalausschuss weitergeleitet.23 Zwar ergaben sich Ende Februar noch geringfügige Änderungen am Entwurf des entsprechenden Kirchengesetzes sowie den ihm beigefügten Entwürfen für die Satzung der Hochschule und die Ordnungen des Lehrkörpers und der Studentenschaft – unter anderem sollte auf Wunsch von Merz von einer „Theologischen“ statt von einer „Evangelisch-Lutherischen“ Studienfakultät die Rede sein und diese nicht Teil des Pastoralkollegs, sondern eigenständige Einrichtung werden24 – aber bereits am 28. Februar wurde im Landeskirchenrat erneut der Entwurf eines Genehmigungsantrags erstellt, den das Kultusministerium der Militärregierung weiterleiten sollte,25 und in einem Schreiben an Synodalpräsident Eichhorn zeigte sich der Landeskirchenrat zuversichtlich, dass ein von Landeskirchenrat und Landessynodalausschuss gebilligtes Gesetzesvorhaben auch die breite Zustimmung des Synodalplenums finden würde.26 Über die Änderungswünsche des Landessynodalausschusses an den vom Landeskirchenrat bereits beschlossenen Rechtstexten, die vor allem personalrechtlicher Natur waren, kam es Ende März und Anfang April zu kleineren Irritationen,27 ein Vermerk des Oberkirchenanwalts Gustav-Adolf Vischer vom 21. April 1947 stellte jedoch fest, dass die beiden Gremien sich auf einen gemeinsamen Text geeinigt hätten, der nunmehr allen Synodalen zugesandt werden solle.28
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Vgl. Merz an den Landeskirchenrat, 11.01.1947; Oberkirchenrat Schmidt an Merz, 17.01.1947; Merz an den Landeskirchenrat, 31.01.1947 und den Auszug aus dem Protokoll der Haussitzung des Landeskirchenrates am 24.02.1947, sowie das Schreiben des Landeskirchenrates an Merz als Vorsitzenden des Landessynodalausschussers vom 27.02.1947, allesamt in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. zum Vorgang auch HECKEL: Rechtsstatus (s. Anm. 2), 79. Vgl. Merz an den ständigen Stellvertreter des Landesbischofs, Oberkirchenrat Otto Bezzel, 27.02.1947 sowie ders. an den Landeskirchenrat, 27.02.1947, beides in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. In: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946; vgl. dazu den Vorschlag von Merz, die Entwürfe der Rechtstexte schon jetzt ins Englische übersetzen zu lassen, um das Genehmigungsverfahren zu beschleunigen (Schreiben an Bezzel, 01.03.1947, a. a. O.). Vgl. das Schreiben des Landeskirchenrates (ohne Verfasserangabe) an den Präsidenten der Landessynode vom 15.03.1947: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. Merz als Vorsitzender des Landessynodalausschusses an den Landeskirchenrat, 24.03.1947 sowie den Auszug aus dem Protokoll der Haussitzung des Landeskirchenrats am 15.04.1947, beides in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Handschriftlicher Vermerk von Vischer, 21.04.1947, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946.
276
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Auf die Zusendung dieser Dokumente reagierte Elert mit dem eingangs zitierten Schreiben an den Synodalpräsidenten. Eichhorn seinerseits antwortete Elert am 30. April und teilte mit, dass er aus guten Gründen mit einer nahezu einhelligen Annahme des Gesetzesvorhabens durch die Synode rechne.29 Damit sollte Eichhorn Recht behalten: Anders als von Elert in einem ebenfalls am 30. April an Eichhorn gerichteten zweiten Schreiben zur Sache gewünscht,30 kam es im Plenum der Synode nicht einmal zur Debatte, sondern lediglich zum Aufruf des Antrags und zu dessen widerspruchsloser Annahme auf Zuruf des Präsidenten.31 Bevor der Antrag jedoch ins Plenum eingebracht wurde, war er im Rahmen der Synodaltagung Beratungsgegenstand im Allgemeinen Ausschuss, dem sowohl Elert als auf Merz angehörten, gewesen. Da über diese Ausschussberatungen kein Protokoll erhalten ist, lässt sich nur aus anderen Quellen erschließen, wie diese Auseinandersetzung verlief. Nach späteren Angaben aus Erlangen unterzog Elert den Entwurf des Kirchengesetzes wie auch dessen Begründung einer ausführlichen Kritik, die nicht ohne Folgen blieb: Aus der „Theologischen Studienfakultät“ wurde nun die „Augustana-Hochschule“ (freilich nahm später auch Merz in Anspruch, dies vorgeschlagen zu haben).32 In der Bestimmung des Hochschulziels in § 3 des Kirchengesetzes wählte man nun eine Formulierung, die den Gedanken einer Ergänzung der universitären Ausbildung besser zum Ausdruck brachte, ferner wurde die Personalunion zwischen der Leitung des Pastoralkollegs und der Hochschule aus dem Gesetzestext getilgt – und der Ausschuss schlug dem Plenum vor, die Erlanger Fakultät immerhin im Nachgang um
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Vgl. Wilhelm Eichhorn an Herrn Univ. Prof. D. W. Elert, 30.04.1947, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. D. Werner Elert, Professor, Herrn Präsidenten der Landessynode, Bankdirektor D. Dr. Eichhorn, 30.04.1947, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946/47, Tagung X, Außerordentliche Tagung, Ansbach, 6.–9. Mai 1947, 19. Vgl. GEORG MERZ: Die Anfänge der Augustana-Hochschule und ihre Voraussetzungen, in: WILHELM ANDRESEN (Hg.): Das Wort Gottes in Geschichte und Gegenwart. Theologische Aufsätze von Mitarbeitern an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Herausgegeben anläßlich des 10. Jahrestages ihres Bestehens am 10. Dezember 1957, München 1957, 240– 249, hier: 242; anders das Gutachten der Theologischen Fakultät Erlangen „Über die Satzungen der Augustana-Hochschule Neuendettelsau-Heilsbronn“, dem Landeskirchenrat übersandt durch den Dekan der Fakultät mit Schreiben vom 26.07.1947, enthalten in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946, Bl. 2: „Auf Grund der von dem Vertreter der Fakultät erhobenen Einwände wurde a) der Name Theologische Studienfakultät in Augustana-Hochschule abgeändert.“ – Ein Protokoll der Ausschussverhandlungen konnte bisher nicht identifiziert werden (auch in der sonstigen Dokumentation der Arbeit dieses Ausschusses in LAELB, LS, 0.2.0007-66 fehlt eine Niederschrift oder ein Protokoll); die Begründung der Änderungen findet sich jedoch als Begründung der Ausschuss-Vorlage ans Plenum beigefügt, s. LAELKB, LS, 0.2.0007-66. Zu dieser quellenkritischen Problematik s. auch HECKEL: Rechtsstatus (s. Anm. 2), 80.
Warum eine kirchliche Hochschule?
277
ein Gutachten zu den Ordnungen der neuen Hochschule zu bitten.33 Diese Änderungen samt Begutachtungsauftrag, die sich das Plenum einstimmig zu eigen machte, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern die Errichtung ihrer neuen kirchlichen Hochschule im Wesentlichen ohne Einbeziehung der bis dahin einzigen theologischen Fakultät auf ihrem Kirchengebiet vorbereitet hatte. Das macht die Frage umso interessanter, aus welchen Gründen insbesondere der Landeskirchenrat die Gründung der Augustana-Hochschule so energisch betrieb.
2.
Begründungsmuster
Bei näherem Hinsehen zeigen sich innerhalb dieser Gründe, wie sie von unterschiedlichen Akteuren zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb des etwa anderthalbjährigen Prozesses bis zum Errichtungsgesetz geltend gemacht wurden, mehrere wiederkehrende Muster durchaus unterschiedlicher Natur: Neben einem auf latenter Rivalität zum römischen Katholizismus basierenden, vor allem juridischen Argumentationsstrang (2.1) und dem inhaltlich-theologischen Argumentationsmuster, dass eine kirchliche Hochschule ein geeigneter Ort für die Heranbildung des geistlichen Nachwuchses und für die Theologie überhaupt sei (2.2), ist dies vor allem der Verweis auf den großen Bedarf der Landeskirche an Pfarramtskandidaten (2.3).
2.1
Das Recht der Kirche und der Blick auf den römischen Katholizismus
Vor allem in der Argumentation gegenüber dem Freistaat Bayern zogen Vertreter der Landeskirche die dem römischen Katholizismus staatlicherseits gewährten Möglichkeiten heran und verbanden diesen Hinweis mit staatskirchenrechtlichen Gesichtspunkten. Dies trifft bereits auf den ersten Entwurf eines Schreibens an das bayerische Kultusministerium vom 20. Dezember 1945 zu. Kirchenrat Simon formulierte hier im Anschluss an die Mitteilung, dass die Landeskirche die Errichtung einer kirchlichen Hochschule plane: „Wir sind der Meinung, daß dieser Plan in keiner Weise unvereinbar erscheint mit dem zwischen dem bayerischen Staat und uns abgeschlossenen Staatsvertrag, da ja
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Vgl. die Ausschuss-Vorlage ans Plenum und die Begründung des Ausschusses, beides enthalten in: LAELKB, LS, 0.2.0007-66. Den Auftrag zur Begutachtung erteilte der Landeskirchenrat (gez. Bezzel) der Fakultät mit Schreiben vom 14.05.1947, enthalten ebenfalls in LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946.
278
Tobias Jammerthal / Gury Schneider-Ludorff in dem entsprechenden Vertrag eine Reihe entsprechender philosophisch-theologischer Hochschulen zugebilligt ist.“34
Der damit angedeutet Gedanke, dass der Freistaat schlecht der evangelischlutherischen Landeskirche verweigern könne, was er dem römischen Katholizismus gestatte, nämlich den Betrieb staatsunabhängiger Ausbildungsstätten für den geistlichen Nachwuchs, wurde im Folgenden auch in finanzieller Hinsicht fortgeführt: Man beabsichtige nicht, so der Entwurf Simons, „eine entsprechend laufende Finanzierung, wie sie den katholischen philosophisch-theologischen Hochschulen zuteil wird, zu erbitten“,35 sei aber durchaus der Auffassung, dass der Freistaat der Landeskirche in Form eines einmaligen monetären Zuschusses und durch die Bereitstellung eines Baugrundstücks oder Gebäudes entgegenkommen könne. Auch in der Folgezeit sollte die Kombination des staatskirchenrechtlichen Argumentes in Form eines Rekurses auf bestehende Vereinbarungen oder Gesetze – wie hier des Staatsvertrages von 1924/25 – mit dem Verweis auf die Freiheiten der römisch-katholischen Bistümer Verwendung finden: Als der Landeskirchenrat dem Kultusministerium am 27. November 1946 die Absicht anzeigte, im Rahmen des Pastoralkollegs eine hier noch als Studienfakultät bezeichnete kirchliche Hochschule zu errichten, erfolgte gleich zu Beginn der Hinweis, dass die beabsichtige Ausbildungseinrichtung juristisch in Analogie zu römischkatholischen Einrichtungen zu sehen sei,36 bevor es gegen Ende des Schreibens wiederum in Kombination staatskirchenrechtlicher und konfessionsvergleichender Argumentation hieß: „Wir verweisen auf Artikel 150 Absatz 1 des Entwurfs einer bayerischen Verfassung, nach der die Kirchen das Recht haben, ihre Geistlichen auf eigenen kirchlichen Hochschulen auszubilden und fortzubilden. Die Katholische Kirche ist infolge der teils staatlichen, teils kirchlichen Theologisch-Philosophischen Hochschulen schon seit langem in einer besseren Lage.“37
Noch das Schreiben, mit dem der Landeskirchenrat dem Kultusministerium und der Militärregierung 1947 das von der Landessynode beschlossene Gesetz über die Errichtung der Augustana-Hochschule samt den Rechtstexten der Hochschule zur Genehmigung übersandte, griff auf diese doppelte Argumentationsfigur zurück: „Von den drei staatlichen Universitäten in Bayern hat nur die Universität Erlangen eine evang.-theologische Fakultät. Eine weitere Ausbildungsmöglichkeit für evange-
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37
LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Ebd. Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.11.1946 (in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946), Vorderseite. A. a. O., Rückseite.
Warum eine kirchliche Hochschule?
279
lische Geistliche besteht in Bayern bisher nicht, während den katholischen Studierenden der Theologie neben den beiden theologischen Fakultäten der Universitäten München und Würzburg auch die staatlichen Philosophisch-Theologischen Hochschulen in Bamberg, Dillingen, Freising, Passau und Regensburg sowie die kirchliche Hochschule in Eichstätt dafür zur Verfügung stehen.“38
Zwar spielte Bogner auch in dem Brief, mit dem er der Erlanger Fakultät am 30. November 1946 die Absicht der Landeskirche, eine Studienfakultät ins Leben zu rufen, mitteilte, darauf an, dass der römisch-katholische geistliche Nachwuchs die Wahl zwischen verschiedenen Studienorten habe,39 in der innerevangelischen Diskussion hatte jedoch das staatskirchenrechtliche Argument offensichtlich stärkeres Gewicht: So verwies Merz in seiner Aktennotiz zum Verhältnis zwischen Erlanger Fakultät und zu errichtender Studienfakultät darauf, dass die Kirche durch die Bestimmungen der Bayerischen Verfassung das souveräne Recht habe, Hochschulen zu errichten,40 und auch in seinem Freundesbrief vom 22. Januar 1947 nahm er ausdrücklich auf Art. 150 der neuen Verfassung des Freistaats Bezug.41 Nicht zuletzt spielte der Verweis auf diese Verfassungsbestimmung auch in der Begründung des Gesetzesentwurfs über die Hochschulgründung in allen seinen Stadien eine Rolle und noch der Verweis auf die Garantieklausel für die bestehenden theologischen Fakultäten in Art. 150 Abs. 2 der Verfassung, wie er auf Elerts Intervention hin in die Begründung der schließlich am 7. Mai 1947 von der Landessynode verabschiedeten Ausschussvorlage aufgenommen wurde, zeigt, dass selbst die Gegner der Hochschulgründung diese staatskirchenrechtliche Argumentation für überzeugend hielten.42
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Durchschlag des Schreibens des Evang.-Luth. Landeskirchenrates in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.05.1947 (in: LAELKB, LKR, 0.2.00034946), Bl. 1/2. Vgl. zur doppelten Argumentationsfigur HECKEL: Rechtsstatus (s. Anm. 2), 81. Vgl. Bogner an Baumgärtel, 30.11.1946: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. GEORG MERZ: Die Erlanger Fakultät und die Studienfakultät des Pastoralkollegs, 17.01.1947, Bl. 1v, enthalten in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Vgl. zu Merzens Bezug auf diesen Verfassungsartikel LICHTENBERG: Georg Merz (s. Anm. 3), 683. Vgl. GEORG MERZ: Freundesbrief, 22.01.1947, in: MONNINGER (Hg.): Denkwerkstatt (s. Anm. 1), 49–52, hier: 49. Vgl. die am 25.04.1947 versandte Vorlage des Landeskirchenrates (LAELKB, LS, 0.2.000764), die in der amtlichen Niederschrift abgedruckte Begründung (Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946/1947, Tagung X, Außerordentliche Tagung, Ansbach, 6.–9. Mai 1947, hier: 61) und auch die Begründung der Vorlage des Allgemeinen Ausschusses/Ausschuss für Kirche und Geistesleben, Bl. 4 (LAELKB, LS, 0.2.0007-66).
280
2.2
Tobias Jammerthal / Gury Schneider-Ludorff
Eine Heimstatt der Theologie in kirchlicher Trägerschaft
Während es gegenüber staatlichen Stellen angeraten zu sein schien, auf die Privilegien der römisch-katholischen Kirche und auf die staatskirchenrechtlich gegebenen Möglichkeiten auch der evangelisch-lutherischen Kirche zu verweisen, um die Errichtung der Augustana-Hochschule zu begründen, dominierten die innerkirchliche Debatte andere Argumente, die nicht zuletzt auf den besonderen Charakter einer staatsunabhängigen kirchlichen Ausbildungsstätte hinwiesen. So formulierte etwa Merz in seiner dem Landeskirchenrat am 11. November 1946 vorgelegten Denkschrift über die Errichtung einer Studienfakultät des Pastoralkollegs: „Der innere Anlaß entstammt dem seit Jahrzehnten von Männern des kirchlichen Lebens lebhaft empfundenen Verlangen den künftigen Pfarrern neben der Universität eine Ausbildung zu gewähren, die von der Kirche unmittelbar getragen wird. Eine solche Ausbildung wünschen die Studierenden selber. Sie wollen nicht nur in das wissenschaftliche Denken aufgrund der Tradition der Universitäten eingeführt werden, sie wollen nicht nur teilhaben an der Begegnung mit den übrigen Wissenschaften, die die universitas literarum gewährt, sie wollen auch das geistliche Leben ihrer Kirche unmittelbar kennen lernen und im Zusammenhang mit einer Gemeinde, die die Werke der Diakonie, Mission, Liturgie pflegt, die theologischen Voraussetzungen solchen Handelns erkennen und unter Führung von Männern, die wissenschaftlich erfahren sind, ihnen nachdenken.“43
Merz griff damit auf seine eigenen Erfahrungen an der Theologischen Schule in Bethel zurück, die er bereits 1935 auf einer Sitzung des Fortsetzungsausschusses des Deutschen Lutherischen Tages als Vorbild kirchlich getragener Ausbildungsstätten profilierte, welche die staatlichen Fakultäten in wichtigen Punkten ergänzen könnten.44 Auch im November 1946 formulierte Merz gegenüber dem Pfarrer von Neumünster bei Kiel, Johannes Schröder, dass die zu errichtende Studienfakultät des Pastoralkollegs „einen ähnlichen Dienst […], wie Sie ihn in Bethel erfahren haben“45 ausüben solle. 43
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GEORG MERZ: Denkschrift über die geplante Studienfakultät, dem Landeskirchenrat übersandt am 11.11.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946, abgedruckt bei: VOLL (Hg.), Damit auch Pfarrer zur Besinnung kommen (s. Anm. 2), 21/22. Vgl. seine Ausführungen laut Protokoll: Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933–1955, Band 2: Herbst 1935 bis Frühjahr 1937, bearbeitet von HANNELORE BRAUN und CARSTEN NICOLAISEN (AKiZ.A 4), Göttingen 1993, 28–31, hier: 30f.; vgl. KANTZENBACH: Georg Merz (s. Anm. 1), 458. – Zu Merz und seiner Tätigkeit in Bethel s. ausführlich und differenziert die Darstellung von LICHTENBERG: Georg Merz (s. Anm. 3), 217–642; zum Plädoyer von 1935 a. a. O., 594f. und 681, zur kontextuellen Einbettung in die Bemühungen der Bekennenden Kirche um eine Reform der theologischen Ausbildung a. a. O., 584–624. Merz an Schröder, 19.11.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687; vgl. Schröders Anfrage vom 06.11.1946, a. a. O.
Warum eine kirchliche Hochschule?
281
Dass es sich bei der Studienfakultät um eine ernst zu nehmende theologische Ausbildungsstätte und keinesfalls nur um ein Propaedeuticum handeln dürfe, hatte Merz schon in seiner ersten offiziellen Reaktion auf den Beschluss des Landeskirchenrates vom 25. September 1946, dass in Heilsbronn Studentenkurse durchgeführt werden sollten, deutlich gemacht.46 Der Landeskirchenrat griff diese durch die November-Denkschrift verstärkte Tendenz auf: Das Schreiben an das Kultusministerium vom 27. November ergänzt in seiner Beschreibung des Tätigkeitsfeldes der Studienfakultät die philosophischen und philologischen sowie dogmatischen und praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen durch den Verweis darauf, dass „im Rahmen theologischer Unterweisungen die Erfahrungen der in Neuendettelsau geübten Mission, Diakonie und Pädagogik“ für die Ausbildung fruchtbar gemacht werden sollten, wobei die „geschlossene Lebensgemeinschaft an einem kleinen Ort […] die erforderliche und von ihnen [den Studierenden] selbstgewünschte geistliche Sammlung ermöglicht, [und] durch das Zusammenleben mit den Dozenten zugleich eine besonders fruchtbare seelsorgerliche Aussprache vermittelt werden“47
könnten. Auch im Entwurf des an das Kultusministerium und die Militärregierung zu richtenden Genehmigungsantrags vom 28. Februar 1947 griff der Landeskirchenrat auf die Analogie der zu schaffenden Einrichtung mit der Theologischen Schule von Bethel zurück: Bislang sei es nur dort möglich gewesen, „den Studierenden in einen engeren Zusammenhang mit der Gemeinde und der kirchlichen Diakonie“ zu bringen, was aber innerkirchlich seit längerer Zeit immer öfter gefordert worden sei.48 Diese Forderung spricht auch aus dem Schreiben, mit dem Synodalpräsident Eichhorn am 30. April 1947 auf die Skepsis Elerts gegenüber dem Gesetzentwurf über die Errichtung der kirchlichen Hochschule reagierte: Zwar sehe auch er, so Eichhorn, das Risiko, dass die Etablierung kirchlicher Ausbildungsstätten möglicherweise eine Gefahr für den Bestand der theologischen Fakultäten werden könne; in seinen Augen überwiege aber der Vorteil, dass es so möglich sei, „den theol. Nachwuchs neben der Ausbildung auf den Universitäten noch im speziell kirchlichen Sinn in einer möglichst geschlossenen Gemeinschaft zusammenzufassen“49. Letzteres sei insbesondere vor den 46
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„Vermieden muß auf alle Fälle werden, daß die Aufgaben der Studienfakultät in irgendwelcher Weise beschränkt werden. Es darf also weniger von Vorbereitungskursen, noch von provisorischen Kursen, noch von einem Sprachenkonvikt die Rede sein. Der theologische Charakter der Studienfakultät, sowie ihr kirchlicher Charakter muß einwandfrei klargestellt sein.“ Der Rektor des Ev.-Luth. Pastoralkollegs an den Landeskirchenrat, 16.10.1946 (Hervorhebung im Original), LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.11.1946, LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Durchschlag des Entwurfs des ans Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus gerichteten Schreibens vom 28.02.1947, Bl. 2 (enthalten in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946). Eichhorn an Elert, 30.04.1947, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946.
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Erfahrungen mit einem theologischen Liberalismus geboten, der zu einer „völlige[n] Führungslosigkeit der jungen Theologen“50 gerade auch in politischen Fragen geführt habe. Auch wenn es gegenwärtig viele Hochschullehrer gebe, die um ihre seelsorgliche Verantwortung für ihre Studenten wüssten, so könne sich die Kirche doch „angesichts der wachsenden politischen Linksbewegung“51 nicht in Sicherheit wiegen. Dass Eichhorn mit seiner Kritik an der bisherigen Ausbildungspraxis an den Fakultäten innerhalb der landeskirchlichen Führungsriege nicht allein stand, zeigt eine private Denkschrift des kurz darauf zum Oberkirchenrat avancierten Schwabacher Dekans Christian Stoll vom Juni 1945, der sogar die Ansicht äußerte, dass sich Erlangen „als lutherische Fakultät im Abstieg“ befinde. Stoll forderte angesichts dessen, „dass die Pfarrer während ihrer Universitätszeit in ihrer theologischen Richtung für die ganze Amtszeit festgelegt“ würden, energische Maßnahmen seitens der Landeskirche, um Erlangen „wieder zum deutlich lutherischen Charakter zu verhelfen“.52 Auch in seiner Skepsis hinsichtlich der kirchlichen Zuverlässigkeit der Fakultäten bei wiederum veränderten politischen Rahmenbedingungen war Eichhorn kein Einzelfall: Wie Merz dem Neuendettelsauer Anstaltspfarrer und späteren Oberkirchenrat Karl Burkert gegenüber ebenfalls im Juni 1945 zum Ausdruck brachte, sei es ungewiss, ob man sich angesichts der Wechselhaftigkeit der politischen Verhältnisse wirklich auf die Fakultät werde stützen können.53 Während Eichhorn also deutlich durchblicken ließ, dass er die Etablierung einer kirchlichen Hochschule zumindest auch aus Skepsis gegenüber den staatlichen Fakultäten unterstützte, griff die vom Landeskirchenrat am 25. April 1947 an die Synodalen versandte Begründung für den Gesetzesentwurf zur Hochschulgründung wortwörtlich den Entwurf des Briefes an die staatlichen Stellen auf.54 Die dort zu findende, vor allem auf positive Aspekte der Neugründung fokussierte Argumentation hallte auch noch auf der Synode selbst in der vom Allgemeinen Ausschuss unter Elerts Einwirkung revidierten Gesetzesbegründung nach55 und wurde dort sogar noch weiter ausgeführt: Das theologische Studium im durch die kirchlichen Werke von Diakonie, Mission, Liturgie und Päda50 51 52
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A. a. O. A. a. O. CHRISTIAN STOLL: Gedanken zur Ausbildung der Pfarrer, 28.06.1945, in: LAELKB, LB, 0.2.0004612. Merz an Burkert, 09.06.1945, in: VOLL (Hg.), Damit auch Pfarrer zur Besinnung kommen (s. Anm. 2), 11. Vgl. dazu LICHTENBERG: Georg Merz (s. Anm. 3), 676. Vorlage V, Begründung, in: Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946/1947, Tagung X, Außerordentliche Tagung, Ansbach, 6.–9. Mai 1947, hier: 62. „Sie [die Landeskirche] will vielmehr eine Möglichkeit geben, daß der künftige Pfarrer schon in seiner Studienzeit eine unmittelbare Fühlung gewinnt mit den Werken der Kirche und eingefügt in eine lebendige Gemeinde die Lebensform kennen lernt, die für seine Berufstätigkeit maßgebend ist.“ Begründung des Kirchengesetzes über die Errichtung einer kirchlichen Hochschule, Bl. 4f. (hier: 4) der Beschlussvorlage des Allgemeinen Ausschusses /
Warum eine kirchliche Hochschule?
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gogik sowie das Pastoralkolleg geprägten Kontext habe nicht nur für den Kontakt der angehenden Geistlichen mit den vielfältigen Facetten ihres späteren Berufslebens Bedeutung, sondern könne auch neue Perspektiven eröffnen, „die für die Theologie in ähnlicher Weise fruchtbar werden wie die Verbundenheit der Theologie mit den verschiedenen Wissenschaftszweigen der staatlichen Universitäten“56.
Den Gedanken, dass eine kirchliche Hochschule durch ihren spezifischen Kontext und ihre spezifische Organisationsstruktur als Lebensgemeinschaft eine wertvolle Ergänzung des universitären Lehrbetriebs darstelle, ohne dass damit schon eine Abwertung des Studiums an den Fakultäten verbunden wäre, betonte Merz nicht nur immer wieder auch im privaten Schriftverkehr.57 Wie er in seiner Denkschrift zum Verhältnis zwischen Studienfakultät und Erlanger Fakultät betonte, hatte Hermann Sasse als Vertreter Erlangens bei der Eröffnung des Pastoralkollegs am 5. Mai 1946 selbst davon gesprochen, „dass beide Wege sich zu ergänzen haben, und daß wir auf beiden Seiten den Willen haben, uns zu helfen und uns zu ergänzen in der großen Aufgabe, die wir haben. Das ist der Wunsch unserer Fakultät.“58
In der Tat prägte das Modell einer Ergänzung von staatlicher Fakultät und kirchlicher Hochschule bis in die Formulierungen hinein den Planungsprozess, der zur Errichtung der Augustana-Hochschule führte: Als Bogner im Januar 1946 vor dem Eindruck der positiven Aufnahme der von Merz geleiteten Kriegsheimkehrerkurse das Aufgabenportfolio des zu errichtenden Pastoralkollegs in einem Vermerk umriss, war die Rede von der „Ergänzung der Ausbildung der Geistlichen“59 und auch das vom Landessynodalausschuss gebilligte Kirchengesetz zur Errichtung des Pastoralkollegs enthielt diese Formulierung.60 Tatsächlich prägte das Modell einer Ergänzung von staatlicher Fakultät und kirchlicher Hochschule selbst die anfängliche Personalpolitik von Merz als Leiter des Pastoralkollegs: Den Vorschlag Meisers, den vor allem auf den Feldern der Kirchengeschichte und der Ökumenik ausgewiesenen Pfarrer Hans-Christoph von Hase als Assistenten nach Neuendettelsau zu schicken, lehnte er Anfang Juli 1946 unter ande-
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Ausschuss für Kirche und Geistesleben zum Kirchengesetz über die Errichtung einer kirchlichen Hochschule Neuendettelsau-Heilsbronn, in: LAELKB, LS, 0.2.0007-66. A. a. O., Bl. 5. Vgl. den Freundesbrief vom 14.12.1946, in: MONNINGER (Hg.): Denkwerkstatt (s. Anm. 1), 46f.; s. auch an Gerhard Schmidt, Dezember 1946, in: a. a. O., 46 sowie den Freundesbrief vom 22.01.1947, a. a. O., 49–52, insbes. 49. Zit. nach: GEORG MERZ: Die Erlanger Fakultät und die Studienfakultät des Pastoralkollegs, 17.11.1947, Bl. 1r, LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Vermerk des Referats G 1, 15./17.01.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Vgl. den Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Landessynodalausschusses am 06.02.1946 in Augsburg, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687.
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rem mit dem Hinweis darauf ab, dass Erlangen in diesem Bereich bestens aufgestellt sei und das Pastoralkolleg daher besser damit führe, sein Personal auf Felder zu konzentrieren, auf denen die Fakultät derzeit schwächer besetzt sei.61
2.3
Pfarrermangel
Weder die staatskirchenrechtliche Möglichkeit zur Gründung eigener Hochschulen noch die Tatsache, dass es entsprechende römisch-katholische Institute bereits gab noch auch die besonderen Chancen, die sich aus dem spezifischen Charakter einer kirchlichen Hochschule ergaben und sie zu einer vielversprechenden Ergänzung der herkömmlichen staatlichen Fakultäten machten, erklären jedoch, warum es nach Ende des Zweiten Weltkrieges so schnell zur Errichtung der Augustana-Hochschule kam – zumal sich die politischen Rahmenbedingungen im Vergleich zur nationalsozialistischen Repressionspolitik erheblich zum Vorteil für die Landeskirche verändert hatten. Es liegt vielmehr nahe, die Zielstrebigkeit, mit welcher der Landeskirchenrat die Gründung einer kirchlichen Hochschule betrieb, in Zusammenhang mit einer besonderen Herausforderung durch die spezifischen Umstände der Nachkriegszeit zu sehen: Dem durch Krieg und Kriegsgefangenschaft gegebenen Mangel an Pfarrern, der durch die flucht- und vertreibungsbedingt stark wachsenden Gemeindegrößen deutlich verschärft wurde. Deutlich wurde dies etwa auf der ersten ordentlichen Synodaltagung nach Kriegsende im Juli 1946 in Ansbach: Bogner referierte dort, dass über zehn Prozent der bayerischen Pfarrerschaft im Krieg gefallen seien, zum Kriegsdienst sei insgesamt etwa die Hälfte aller Geistlichen eingezogen worden; noch etwas über 120 befänden sich in Kriegsgefangenschaft. Zwar habe man schon 320 außerbayerische Geistliche mit Dienstaufträgen versehen, um die Pastoration vor allem der in ehemals rein römisch-katholischen Gegenden angesiedelten evangelischen Flüchtlinge und Vertriebenen einigermaßen zu gewährleisten, „die Kräfte reichen aber bisher nicht aus, die Flüchtlinge usw. richtig zu versorgen“, zumal die Zahl der Theologiestudierenden den Bedarf der Landeskirche bei weitem nicht decke.62 Welche Ausmaße letzteres Problem angenommen hatte, verdeutlichte der Bericht des Referats G II: Der durchschnittliche 61 62
Vgl. Merz an Meiser, 03.07.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Bericht des Landeskirchenrates – Referat G I, in: Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946–1952, 1. Ordentliche Tagung, Ansbach, 9.–13. Juli 1946, 1. Vgl. zu den Auswirkungen von Flucht und Vertreibung auf die Landeskirche sowie HELMUT BAIER: Vom Flüchtling zum Neubürger. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, in: GERHARD MÜLLER / HORST WEIGELT / WOLFGANG ZORN (Hg.): Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern. Zweiter Band: 1800– 2000, St. Ottilien 2000, 363–375, zu den Ostpfarrern a. a. O., 368–370; vgl. auch jüngst BJÖRN
Warum eine kirchliche Hochschule?
285
jährliche Zugangsbedarf der Landeskirche liege bei 40 Kandidaten; 1945 sei indes nur ein einziger und 1946 lediglich zwei registriert gewesen – eine Herausforderung, die dadurch noch größer werde, dass von insgesamt 193 Kandidaten nach wie vor 64 noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt seien.63 Über 160 offenen Stellen im pfarramtlichen Hilfsdienst stünden somit 129 Bewerber, „davon nicht wenige mit beeinträchtigter Gesundheit“64, gegenüber. Vor diesem Hintergrund zeigte sich der Landeskirchenrat beunruhigt darüber, dass Erlangen nicht alle am Theologiestudium Interessierte aufnehmen konnte. Das Protokoll der Sitzung vom 25. September 1946 vermerkte, dass man versuchen müsse, „[d]a die Zuzugsgenehmigung nach Erlangen verweigert wird […] einen Studentenkurs des Pastoralkollegs nach Heilsbronn zu legen“65. Merz sprach in seiner brieflichen Reaktion auf das Ansinnen der Kirchenleitung davon, dass „eine dringliche Notwendigkeit besteht, die bei der Gründung des Pastoralkollegs vorgesehene Mitarbeit an der Ausbildung der Studenten schon jetzt in Form richtiger Studiensemester zu verwirklichen“66 und schlug im Zuge der Ausarbeitung einer Ordnung des Pastoralkollegs vor, mit dem ersten Semester schon vor der Fertigstellung einer eigenen Ordnung für dieses Institut zu beginnen.67 Auch in der Denkschrift, mit der Merz im November 1946 dem Landeskirchenrat die Grundzüge seiner Vorstellung einer Studienfakultät des Pastoralkollegs skizzierte, spielte der Pfarrermangel eine wesentliche Rolle: Neben den bereits erwähnten inhaltlichen Argumenten, die Merz für die Einrichtung einer solchen Institution geltend machte, begründete er die Notwendigkeit der Studienfakultät auch mit dem dringenden Nachwuchsbedarf der Landeskirche: „Den äußerlichen Anlaß zu dieser Gründung geben die Wohnungsschwierigkeiten der Stadt Erlangen und die dadurch hervorgerufenen Maßnahmen der Universität, die einen großen Teil von Studierenden, die nach Immatrikulierung verlangen, den Zugang zum theologischen Studium sperren. Dadurch wird der dringend nötige Nachwuchs an Pfarrern aufs Empfindlichste gestört.“68
63
64 65
66
67 68
MENSING: Zwischen Schuldfrage, Entnazifizierungskritik und politischem Neuaufbau. Kirche, Politik und Gesellschaft in Bayern 1945–1955, in: GERHARD HEROLD / CARSTEN NICOLAISEN (Hg.): Hans Meiser (1881–1956). Ein lutherischer Bischof im Wandel der politischen Systeme, München 2006, 138–157, hier: 145f.; sowie SCHULZE: Meiser (s. Anm. 21), 415–419 Bericht des Landeskirchenrates – Referat G II, in: Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946–1952, 1. Ordentliche Tagung, Ansbach, 9.–13. Juli 1946, 7. Ebd. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Landeskirchenrats am 25.09.1946, in: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Der Rektor des Pastoralkollegs an den Landeskirchenrat, 16.10.1946: LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. Merz an den Landeskirchenrat, 08.11.1946, LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Merz an den Landeskirchenrat, 11.11.1946, LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946.
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Dass die Zugangsbeschränkungen der Erlanger Universität eine ernste Herausforderung für die Landeskirche bedeuteten, betonte Merz auch in einem kurz nach seiner Denkschrift entstandenen Brief an das Hilfswerk, in dem er über den Plan der Institutionalisierung der bisherigen Studentenkurse berichtete: Dies sei „dadurch nötig geworden, daß die Universität Erlangen infolge des Wohnungsmangels genötigt war, einen numerus clausus durchzuführen, der für die evangelischlutherische Landeskirche eine empfindliche Bedrohung darstellte“69.
Noch in seiner Aktennotiz über das Verhältnis zwischen Erlangen und Neuendettelsau-Heilsbronn vom Januar 1947 betonte Merz, dass Meiser und Bogner ihm gegenüber die Dringlichkeit der Eröffnung der Studentenkurse damit begründeten, dass „Erlangen einen Teil der Bitten um Immatrikulation nicht erfüllen könne. Dieses Verlangen gab den unmittelbaren Anlaß schon jetzt eine geordnete Ausbildung von Studenten ins Auge zu fassen.“70 Auch in der Kommunikation des Landeskirchenrates nach außen spielte der Pfarrermangel eine wichtige Rolle in der Argumentation zu der Notwendigkeit einer Hochschulgründung. Während jedoch die von Bogner an die kirchliche Presse gerichtete Meldung die doppelte Akzentuierung der Merz’schen Denkschrift, dass eine kirchliche Hochschule inhaltlich wünschenswert und aus äußeren Gründen notwendig sei, wörtlich zitierte,71 trat das Argument der notwendigen Reaktion auf den Pfarrermangel gegenüber sowohl der Staatsregierung als auch gegenüber der Fakultät an die Stelle dieser doppelten Figur. Dabei konstatierte Bogner gegenüber dem Kultusministerium, dass die durch die Erlanger Wohnungsnot verursachte restriktive Immatrikulationspolitik der Universität zahlreichen Interessierten die Einschreibung in die theologische Fakultät verunmöglichte, was die „Heranbildung des dringend benötigten Nachwuchses an Pfarrern empfindlich“ beeinträchtige.72 Das Schreiben an die Fakultät formulierte denselben Sachverhalt durch einige Hinzufügungen rhetorisch deutlich schärfer, die im folgenden Zitat durch Kursivierung hervorgehoben sind: „Veranlassung zu diesem Entschluss gaben in erster Linie die Zulassungsverhältnisse in Erlangen. Die in Erlangen bestehenden großen Wohnungsschwierigkeiten und die dadurch hervorgerufenen Beschränkungen in der Zulassung zum Universitätsstudium machen es einer steigenden [gegenüber dem Ministerium: großen] Anzahl von jungen Leuten, die sich für das Theologiestudium interessieren, unmöglich, sich dort 69
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Merz an das Hilfswerk, 15.11.1946, in: VOLL (Hg.): Damit auch Pfarrer zur Besinnung kommen (s. Anm. 2), 22. MERZ: Die Erlanger Fakultät und die Studienfakultät des Pastoralkollegs, Bl. 1r, LAELKB, LKR, 0.2.0003-1687. Vgl. das Schreiben an die kirchlichen Presseorgane vom 23.11.1946, LAELKB, LKR, 0.2.00034946. Vgl. Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.11.1946, LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946.
Warum eine kirchliche Hochschule?
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immatrikulieren zu lassen. Dadurch wird die Heranbildung des immer dringender benötigten Nachwuchses an Pfarrern unserer Landeskirche in einer Weise beeinträchtigt, die wir nicht verantworten können.“73
Der Entwurf des Landeskirchenrates für den Genehmigungsantrag an Staatsund Militärregierung vom 28. Februar 1947 formulierte dann im Indikativ, dass die Erlanger Fakultät nicht genügend geistlichen Nachwuchs ausbilden könne, und setzte dies in unmittelbare Beziehung zu den Herausforderungen der Nachkriegszeit: „Für unsere Kirche droht damit die Gefahr, daß sie nicht den Nachwuchs an geistlichen Kräften erhält, dessen sie nach den starken Kriegsverlusten, sowie angesichts der erheblichen Zunahme an neuen evangelischen Gemeindegliedern aus den Kreisen der Evakuierten, Flüchtlinge und Ausgewiesenen dringend bedürfte.“74
In dieser Gestalt fand das Argument, dass der Mangel an geistlichem Personal die Eröffnung einer kirchlichen Hochschule notwendig mache, auch Eingang in die Synodalvorlage.75 Überhaupt wurde die außerordentliche Tagung der Landessynode im Mai 1947 in Ansbach mehrfach mit dem Problem des Pfarrermangels und möglichen Reaktionen darauf konfrontiert: Ein Antrag forderte vor dem Hintergrund des „ausgesprochenen Personalmangel[s]“76 die Zulassung von Missionaren und sogenannten Brasilienpfarrern zum Pfarramt, der Landeskirchenrat legte der Synode eine vierseitige Liste von insgesamt 74 Anträgen auf neu zu errichtende oder sonst an gestiegene Gemeindegrößen anzupassende Pfarr- und Vikariatsstellen vor77 und auch Landesbischof Meiser zeichnete in seinem Bericht vor der Synode ein düsteres Bild von der durch den Personalmangel entstandenen Überlastung der Pfarrerschaft: „Wenn in einzelnen Gemeinden jetzt 20 bis 30 Predigtstationen und 30 bis 40 Unterrichtsstationen errichtet werden müssen, wenn sich die Zahl der Schulkinder, der Kasualhandlungen in vielen Gemeinden verzehnfacht hat und die zeitraubenden Aufgaben des Hilfswerks dazu treten, so ist klar, dass hierzu die Kräfte der vorhandenen Geistlichen nicht ausreichen.“78 73 74
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78
Bogner an Baumgärtel, 30.11.1946, LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Durchschlag des Entwurfs für ein Schreiben des Evang.-Luth. Landeskirchenrats in München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 28.02.1947, Bl. 1f., LAELKB, LKR, 0.2.0003-4946. Vgl. den Text der Begründung in: Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946/1947, Tagung X, Außerordentliche Tagung, Ansbach, 6.–9. Mai 1947, 62. Antrag auf Zulassung von Missionaren und Brasilienpfarrern zum Pfarramt, enthalten in: LAELKB, LS, 0.2.0007-66. Vgl. Anträge auf Errichtung neuer und Umwandlung bestehender Stellen, LAELKB, LS, 0.2.0007-64. Bericht des Landesbischofs, in: Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Synodalperiode 1946/1947, Tagung X, Außerordentliche Tagung, Ansbach, 6.–9. Mai 1947, 8.
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Ohne die Mithilfe der aus den Ostgebieten vertriebenen Geistlichen wäre die Pastoration insbesondere der Neuzugezogenen praktisch nicht aufrecht zu erhalten, so der Landesbischof weiter, aber selbst unter Einbezug dieser zusätzlichen Ressourcen könne der Bedarf nicht gedeckt werden – mit dem Resultat, dass am Ende die Seelsorge leiden müsse.
3.
Fazit
Die Verabschiedung des Kirchengesetzes über die Errichtung der AugustanaHochschule durch die Landessynode am 7. Mai 1947 markierte den vorläufigen Endpunkt eines Prozesses, in dem der Landeskirchenrat, aufbauend auf die im Zuge der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gestiegene Attraktivität des Modells einer staatsunabhängigen Ausbildungsstätte für den geistlichen Nachwuchs, die Möglichkeiten der neuen bayerischen Staatsverfassung ergriff, um der Herausforderung eines massiven Personalengpasses zu begegnen. Dieser Eindruck, wie er sich aus den referierten Beobachtungen ergibt, widerspricht den bisher bekannten Faktoren, die in der Genese der Hochschule eine Rolle spielten, nicht – vielmehr lässt er sich in dieses Bild integrieren: Die formative Bedeutung des Vorbildes Bethel insbesondere für Merz selbst passt dazu, dass die an Bethel exemplifizierbaren Chancen theologischen Studierens in Lebensgemeinschaft und im Kontext einer diakonischen Einrichtung vor allem in der innerkirchlichen Diskussion eine tragende Rolle spielten. Die enge Verflechtung von Pastoralkolleg und kirchlicher Hochschule schlägt sich in nahezu allen Akten zur Entstehungsgeschichte der Augustana-Hochschule nieder. Und auch die „Riminesen“ lassen sich gut in das Bild einzeichnen, das sich aus den hier dargestellten Beobachtungen ergibt: Angesichts des Pfarrermangels wäre es geradezu fahrlässig gewesen, die Gelegenheit zur Nachwuchsgewinnung, die diese Gruppe angehender Geistlicher darstellte, nicht zu ergreifen, um mit ihnen eine Institution zu eröffnen, von deren Potenzial man inhaltlich überzeugt war, zu deren Errichtung man sich juristisch befähigt sah, und mit der man die Hoffnung verband, dem Pfarrermangel nachhaltig entgegentreten zu können – die Theologische Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Für den Aufbruch, den ihre Gründung in den Augen ihrer Befürworter bedeutete, ist somit charakteristisch, dass Visionen sachgemäßer theologischer Zurüstung auf den kirchlichen Dienst sich mit einer klugen Einschätzung staatskirchenrechtlich eröffneter Handlungsspielräume verbanden, um Auswege aus einer allgemein als bedrohlich empfundenen Situation geistlichen Personalmangels zu weisen.
Theologie zwischen Kirche und Universität
Theologie zwischen Kirche und Universität
Perspektiven aus der Vergangenheit und für die Gegenwart
Volker Leppin
VOLKER LEPPIN
„Die Erfindung des Theologen“, diesen eleganten Titel hat Marcel Nieden seiner gründlichen Studie über die Wittenberger Theologenausbildung in der Frühen Neuzeit gegeben.1 Der Autor wäre missverstanden, wollte man ihm unterstellen, er wisse nicht um die mittelalterlichen Wurzeln eines akademischen Theologenstandes.2 Was er herausstreicht, ist die enge Verbindung von akademischer Ausbildung und Pfarrerstand, die als Idee durch die Reformation propagiert und in der Ausbildung etabliert wurde.3 Beides ist eng mit dem evangelischen Selbstverständnis von Kirche und Amt verbunden, besonders im Blick auf die Aufgabe der Predigt als eines nach wie vor prägenden Merkmals evangelischer pfarramtlicher Tätigkeit. Wie weit dieses Selbstverständnis noch zu heutiger Kirchenwahrnehmung und -erfahrung passt, gehört zu den spannenden Fragen praktisch-theologischer Forschung.4 Aus kirchenhistorischer Sicht wird eher zu fragen sein, wie sich jene reformatorischen Ideale zur faktischen theologischen Bildung und Ausbildung verhielten und verhalten. Möglicherweise sind die Verhältnisse im 16. Jahrhundert ernüchternder, als es die Vorstellung von der „Erfindung des Theologen“ nahelegt – und dadurch zugleich stärker geeignet, dem dramatischen Wandel standzuhalten, dem Kirche und Theologie und ihre gesellschaftliche Stellung heute gegenüberstehen. So beginnen die folgenden Zeilen mit zwei Gedankengängen zur Stellung der Theologie zur Universität, um dann spezifischer auf die Frage einzugehen, wie und bis zu welchem Grade heute Theologie in ihrem konfessionellen Charakter gestaltet werden kann. Dass dabei auch der Blick über die deutschen Verhältnisse hinaus sinnvoll sein kann, wird sich im Folgenden erweisen. 1
2 3 4
MARCEL NIEDEN: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Tübingen 2006 (SMHR 28). S. seine Hinweise in NIEDEN: Erfindung (s. Anm. 1), VIIIf. NIEDEN: Erfindung (s. Anm. 1), VIII. S. etwa PETER MEYER: Predigt als Sprachgeschehen gelebt-religiöser Praxis. Empirischtheologische Beiträge zur Sprach- und Religionsanalyse auf der Basis komparativer Feldforschung in Deutschland und den USA, Tübingen 2014 (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 15).
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1.
Volker Leppin
Theologie als Konstituente der Universität
Eine nüchterne historische Bestandsaufnahme wird zu einem Ergebnis kommen, das in der säkularen Welt des 21. Jahrhunderts eher kontraintuitiv erscheinen mag: Theologie gab es ohne Universitäten, aber Universitäten gäbe es nicht ohne Theologie. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn Kirche und Theologie dazu beitrügen, dass diese Erkenntnis im kulturellen Gedächtnis stärker präsent ist, als es derzeit der Fall ist. Dabei ist die Beweislast für die erste Hälfte der Feststellung gering. Wer Augustin und Athanasius, Origenes und Ambrosius nicht aus der Gruppe der Theologen verbannen will, wird nicht umhinkönnen, Theologie als eine auch nichtuniversitäre Form der Wissensproduktion und -vermittlung wahrzunehmen. Dass drei unter den Genannten Bischöfe sind, ist gewiss kein purer Zufall. Für die Alte Kirche war das Bischofsamt eine herausragende Basis theologischer Arbeit, nicht zuletzt weil den Bischöfen neben anderen Funktionen auch die potestas magisterii zukam.5 Origenes mag man demgegenüber als Vorstufe akademischer Lehrtätigkeit sehen oder auch als Repräsentant einer nicht an das kirchliche Leitungsamt gebundenen Theologie, die sich immer wieder, auch in Zeiten einer schon bestehenden Universitätstheologie, Raum verschaffte und ohne die die herausragenden Beiträge religioser Frauen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zur Theologie nicht denkbar gewesen wären. Noch im 20. Jahrhundert gab es Persönlichkeiten, deren Identifikation mit der akademischen Theologie gering oder gebrochen war: Hans-Urs von Balthasar wurde ohne universitäres Amt zu einem der einflussreichsten katholischen Theologen, und bekanntlich war auch der Weg der Gründergeneration der Dialektischen Theologie nicht durchweg von akademischen Ehrgeiz geprägt – Rudolf Bultmann ist hier eher die Ausnahme als die Regel.6 Der Umstand, dass wichtige Anregungen für die Theologie ihren Ursprung eher außerhalb der Universität hatten, mag Skeptiker sogar in Vorbehalten gegenüber der Wissenschaftlichkeit des Fachs bestätigen. Gerade im Blick auf diese ist aber nicht nur daran zu erinnern, dass die Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Theologie diese seit ihren Anfängen als universitäre Disziplin im 13. Jahrhundert begleitet hat,7 sondern auch an das weniger bekannte Faktum, dass die Entstehung der Universität als Körperschaft sich zumindest zu Teilen dem Interesse an einer Klärung theologischer Sachfragen verdankt. Auf diese Weise ist wohl die zugespitzte Formulierung „Universitäten gäbe es nicht ohne Theologie“ abzumildern. Tatsächlich lässt sich zeigen, 5
6
7
HANS ERICH FEINE: Kirchliche Rechtsgeschichte. 1. Bd.: Die katholische Kirche, Weimar ³1955, 191. Zu ihm s. KONRAD HAMMANN: Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen ³2012, sowie demnächst die Neuendettelsauer Habilitationsschrift von Tobias Jammerthal. ULRICH KÖPF: Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert (BHTh 49), Tübingen 1974.
Theologie zwischen Kirche und Universität
291
dass der Anstoß zur Bildung der Universität Paris in theologischen Debatten lag.8 Das sogar städteübergreifende erste Einheitsband der magistri in Frankreich beruhte auf der Anordnung Papst Alexanders III. (1159–1181), Wilhelm aux Blanches Mains, der Erzbischof von Reims, möge die Lehrer der Schulen von Paris, Reims und aus weiteren umliegenden Orten versammeln, um dem Irrtum abzuschwören, dass Christus seiner Menschennatur nach nichts gewesen sei.9 Den weiteren Hintergrund für diese Maßnahme bildete die Unübersichtlichkeit der Schulen in Paris, von denen vor allem Petrus Abaelard in der eindrücklichen Schilderung seiner (und bis zu einem gewissen Grade wohl auch: seiner Lehrer) Leiden einen Eindruck gibt.10 Sein eigener Fall führte in schwierige Fragen der Zuständigkeit von örtlichen Instanzen und Papst, bis hin zu dem Schreiben, das Petrus Venerabilis an den Papst sandte,11 um den verheerenden Eindruck von Abaelards Lehrtätigkeit auszugleichen oder gar umzuwenden, den wenig zuvor Bernhard von Clairvaux seinerseits durch ein Schreiben an das Oberhaupt der Kirche hervorgerufen hatte.12 Mit der Vielzahl divergierender Schulen hatte Paris sich einen zweifelhaften Ruf verschafft, dem Petrus von Celle 1164 Ausdruck gab: „O Paris, so geeignet dazu, Seelen zu fangen und zu täuschen! In dir gibt es Netze für Laster, in dir liegt die Schlinge für Übel aus, in dir durchbohrt der Pfeil der Hölle die Herzen der Toren.“13
Schulen zusammenzufassen hieß so, Lehre zusammenzuführen, zu vereinheitlichen und zu kontrollieren. Gerade von päpstlicher Seite, namentlich dem machtbewussten Innozenz III. (1198–1216), wurde das Anliegen wach gehalten, die Zahl der magistri zu begrenzen14 und ihre Gemeinschaft als universitas zu formieren.15 Mit diesem juristischen Terminus war nicht, wie das Denken des 19. 8
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Zur detaillierten Argumentation s. VOLKER LEPPIN: Weisheit und Bildung. Die Ursprünge der Theologie als universitäre Disziplin im Paris des 13. Jahrhunderts, in: PETER GEMEINHARDT / TOBIAS GEORGES (Hg.): Theologie und Bildung im Mittelalter (ArVe.S 13), Münster 2015, 65–92. Chartularium Universitatis Parisiensis, hg. v. HEINRICH SUSO DENIFLE und ÉMILE CHATELAIN. Bd. 1, Paris 1889 (= Brüssel 1964), 8f. Gemeint war offenbar die homo-assumptus-Lehre von Petrus Lombardus, s. ROWAN WILLIAMS: Jesus Christus III. Mittelalter, in: TRE Bd. 16 (1987), 745–759. S. DAG NIKOLAUS HASSE (Hg.): Abaelards ,,Historia Calamitatum“. Text – Übersetzung – Literaturwissenschaftliche Modellanalysen, Berlin / New York 2002 PETRUS VENERABILIS, Epistola 98 (The Letters of Peter the Venerable. Bd. 1, hg. v. GILES CONSTABLE, Cambridge MA 1967, 258f.). BERNHARD VON CLAIRVAUX: Ep. 190 (Sämtliche Werke. Lateinisch / deutsch, hg. v. GERHARD B. WINKLER. Bd. 3, Innsbruck 1992, 74–120). Chartularium (s. Anm. 9) I, 24: „O Parisius, quam idonea es ad capiendas et decipiendas animas! In te retiacula vitiorum, in te malorum decipula, in te sagitta inferni transfigit insipientium corda.“ Chartularium (s. Anm. 9) I 1889, 65 (Nr. I,5). Chartularium (s. Anm. 9) I 1889, 63 (Nr. I,3).
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Volker Leppin
Jahrhunderts es dann entfaltet hat, die Allgemeinheit des Wissens gemeint, sondern die Schutzgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden.16 Sie war eine Schutzgemeinschaft unter Aufsicht, und auch die anfänglichen Versuche, Theologie gegen den Aristotelismus abzuschotten, atmeten noch den Geist einer besonderen Wachsamkeit, die der Konzentration auf die Heilige Schrift allein dienen sollte.17 Genau in diesem Sinne hat Honorius III. 1219 die Bildungsorganisation in Paris ganz unter die Perspektive der Theologie gestellt.18 Wiederum zugespitzt kann man sagen, dass die Universität Paris eine theologische Ausbildungsstätte mit umfangreichem Unterbau und Begleitstudium war. Das ist nicht nur zugespitzt, sondern natürlich in der Konzentration auf Paris auch unzureichend, um die Entwicklung der europäischen Universitäten im hohen Mittelalter insgesamt zu verstehen. Man kann dies durchaus mit dem Hinweis relativieren, dass Paris eben „das Zentrum für Theologie“ in Europa war.19 So bildet es nur einen Stein innerhalb des Mosaiks der Entstehung der europäischen Universität, aber eben doch einen wichtigen und unverzichtbaren. Um auf den plakativen Satz zu Beginn zurückzukommen: Dass es Universitäten nicht ohne Theologie gäbe, ist in dem Sinne zu verstehen, dass innerhalb des Wissenskosmos des Mittelalters die Theologie einen Bestandteil darstellte, der konstitutiv zur Entwicklung der Universität als Institution beigetragen hat und dann ja folglich auch zur üblichen Struktur einer Universität mit ihren drei höheren Fakultäten gehörte. Das blieb bekanntlich in der Frühen Neuzeit auch so – allerdings wurde, wie Nieden gezeigt hat, vor allem im reformatorischen Raum die enge Bindung von Theologie und Universität programmatisch auf die Formung der geistlichen Persönlichkeit und damit mindestens indirekt auf den Pfarrdienst bezogen. Nieden hat anhand von Melanchthons um 1530 verfasster Discendae theologiae ratio20 gezeigt, in welchem Maße die Anleitung zum Theologiestudium geistlich auf eine Aneignung der Bibel ausgerichtet war.21 Wie eng Melanchthon das Theologiestudium mit den Aufgaben der Kirche verbunden sah, wird aber stärker als in solchen poimenisch-beratenden Texten22 in statuarisch-normativen deutlich, und zwar in einem doppelten Sinne. Die Statuten der Theologischen Fakultät Wittenberg von 1533, die gleichfalls Melanchthon verfasst hat, machten die konfessio16
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JACQUES VERGER: Patterns, in: WALTER RÜEGG (Hg.), A History of the University in Europe. Bd. 1: The Middle Ages, hg. v. HILDE DE RIDDER-SYMEONS, Cambridge 1992, 35–74, 37f. Chartularium (s. Anm. 9) I 1889, 77 (Nr. I,19). Chartularium (S. Anm. 9) I 1889, 91f. (Nr. I,32); vgl. hierzu HERBERT GRUNDMANN: Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Darmstadt 21960, 27. JÖRG SCHWARZ, Das europäische Mittelalter I. Grundstrukturen – Völkerwanderung – Frankenreich, Stuttgart 2006, 48. PHILIPP MELANCHTHON: Discendae theologiae ratio, in: CR 2, 455–461. Zur Deutung und Einordnung dieses Textes s. NIEDEN: Erfindung (s. Anm. 1), 69–79. Allerdings ist die Discendae theologiae ratio zumindest in der Hannoverschen Kirchenordnung von 1536 zu einem Rechtstext geworden (CR 2, 456).
Theologie zwischen Kirche und Universität
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nelle Bindung der Theologie klar, und dies im Wortsinne: Zielbestimmung der Arbeit an der Theologischen Fakultät war zum einen die Wahrung der pura doctrina evangelii, wie sie in der Confessio Augustana gefasst war.23 Indem diese als perpetuus consensus ecclesiae dei bezeichnet wurde,24 war zwar ein Anspruch auf Allgemeinheit erhoben, faktisch aber machte die Ausrichtung an einem, wie es ausdrücklich hieß, dem Kaiser vorgelegten, von diesem allerdings nicht anerkannten Dokument deutlich, dass die beanspruchte Allgemeinheit zu einem Partikularbekenntnis führte. Diese Orientierung am Bekenntnis wurde bis auf einzelne Lehrinhalte hinuntergebrochen. So erklärten die Statuten, dass der sententiarus nicht mehr die Sentenzen des Lombarden lesen solle, denen der akademische Grad seinen Namen verdankte, weil diese im zweiten Buch in der Rechtfertigungs- und im vierten Buch in der Sakramentenlehre irrten. Stattdessen solle er sich auf biblische Inhalte, insbesondere die summa des Paulus beziehen.25 Zum anderen zeigt sich der enge Bezug auf das Pfarramt bei der Bestimmung, wer zu den akademischen Graden ausgewählt werden dürfe – dies wurde nämlich analog zu den Bestimmungen der Pastoralbriefe für die Bischöfe entfaltet,26 einschließlich längerer Ausführungen über den Fortfall des Zwangszölibats für die Betreffenden.27 Die Statuten von 1545 präzisieren allerdings, dass die enge Verbindung von Academia und Kirche nicht allein im funktionalen Ausbildungssinne zu verstehen ist, sondern ihren Grund nach Melanchthon vor allem darin hat, dass das Kollegium einer Theologischen Fakultät als solches immer schon ministerii evangelici membrum ist und die Pflege des Theologiestudiums letztlich cultus dei ist.28 Anstelle einer zweckrationalen Ausrichtung des Theologiestudiums handelt es sich also um dessen theologische Nobilitierung. Dem entspricht, dass, wie unten noch auszuführen sein wird, die Verbindung zwischen Theologiestudium und Pfarramtsführung in der Reformationszeit noch keineswegs so klar und eindeutig geregelt war, wie es aus heutiger Sicht selbstverständlich scheinen mag. Die Normen zeigen zwar, dass dieser Anspruch ein genuin reformatorischer ist. Gestalt für die heutigen Bedingungen des Theologiestudiums hat ihr jedoch erst Friedrich Schleiermacher mit seiner berühmten Formulierung gegeben: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstim-
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Statuten für die Theologische Fakultät 1533, in: Urkundenbuch der Universität Wittenberg. Teil 1 (1502–1611), bearb. v. WALTER FRIEDENSBURG (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt. NR 3), Magdeburg 1926, 154 (Nr. 171). Statuten für die Theologische Fakultät 1533 (s. Anm. 23, 156 [Nr. 171]). A. a. O., 156 (Nr. 171). A. a. O., 154 (Nr. 171). A. a. O., 155 (Nr. 171). Statuten für die Theologische Fakultät 1545 (s. Anm. 23, 262 [Nr. 271]).
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Volker Leppin mende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist.“29
Theologie wird so ganz und gar von einem jenseits der Universität liegenden beruflichen Aufgabenfeld her bestimmt, so weit sogar, dass Erkenntnisse, die in ihrem Zusammenhang gewonnen werden, dann, wenn sie aus diesem Zusammenhang gelöst werden, ihren theologischen Charakter verlieren.30 Bekanntlich hat dieser Entwurf dazu geholfen, dass die Theologie auch im Zusammenhang der Universitätsreformen des frühen 19. Jahrhunderts ihren anerkannten Platz an der Universität in Deutschland behalten und gestalten konnte. Sie muss sich aber fragen lassen, ob sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts angesichts neuer gesellschaftlicher Anfragen an Theologie und Kirche und einer zunehmenden internationalen Vernetzung noch trägt. Zu den Rahmenbedingungen, die sich verschoben haben, gehört nicht zuletzt auch, dass die Analogie zu Jura und Medizin im Rahmen der drei höheren Fakultäten zur Zeit Schleiermachers eingängiger war, als dies heute der Fall ist: Die Ausrichtung auf besondere Berufsbilder ist zwar immer noch analogiefähig, auch über den genannten Fächerkreis hinaus,31 aber den Theologien kommt eine besondere Rolle insofern zu, als sie die einzigen Fakultäten sind, denen nun mit den vom Staat deutlich getrennten Kirchen eine eigene vom Staat unterschiedene Institution zugeordnet ist. Unter diesen geänderten Bedingungen führen die evangelischen Theologischen Fakultäten bislang das Schleiermacher’sche Konzept problemlos fort. Auf der Basis des Schleiermacher’schen Konzepts haben sich Theologische Fakultäten im 19. Jahrhundert binnendifferenzieren können, in dieser Zeit aber eben mit dem Fünffächerkanon auch eine Gestalt ausgeformt, die sich seitdem kaum mehr geändert hat.32
2.
Zugänge zum Pfarramt jenseits der Universität
So richtig und wichtig es ist, dass im Sinne der Reformation ebenso wie Schleiermachers Theologie als akademische Grundlage des Pfarramtes zu verstehen ist, so wenig sollte man doch auch vergessen, dass es immer wieder, auch im 29
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FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg. v. HEINRICH SCHOLZ, Darmstadt 41993, 2 (§ 5). SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung (s. Anm. 29), 3 (§ 6). MICHAEL BEINTKER: Zu den „Empfehlungen des Wissenschaftsrates“ von 2010 aus der Sicht der evangelisch-theologischen Fakultäten, in: GERHARD KRIEGER (Hg.), Zur Zukunft der Theologie in Kirche, Universität und Gesellschaft (QD 283), Freiburg u. a. 2017, 150–169, 152. S. am Beispiel der Theologischen Fakultät Jena VOLKER LEPPIN: Auf dem Weg zur Konstitution des Fächerkanons. Zu den Vorlesungsverzeichnissen der Theologischen Fakultät Jena 1749–1854, in: THOMAS BACH / JONAS MAATSCH / ULRICH RASCHE (Hg.), ‚Gelehrte‘ Wissenschaft. Das Vorlesungsprogramm der Universität Jena um 1800 (Pallas Athene 26), Stuttgart 2008, 59–69.
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evangelischen Raum, Zugänge zum Pfarramt gab, die nicht über die Universität liefen. Für das Mittelalter ist dies offenkundig, ja, es ist durch die klare Unterscheidung zwischen der akademischen Ausbildung universitären Gepräges einerseits und der für die Führung des Pfarramtes notwendigen (und freilich nicht allein für diese qualifizierenden) Priesterweihe andererseits auch grundsätzlich juristisch und sozialhistorisch legitimiert. Das hat einen aus heutiger Sicht oft katastrophal niedrigen Bildungsanspruch an den Pfarrnachwuchs gefördert. So bestimmt eine Richtlinie Bischof Wedegos von Havelberg aus dem Jahre 1471 als Inhalt der Prüfung eines Kandidaten, dass er Grundkenntnisse des Lateinischen sowie die Kenntnis von Vaterunser und Glaubensbekenntnis aufbringe und rechtgläubig sei.33 Das ist gewiss wenig. Vielleicht auch weniger als wenig. Allerdings darf man sich von dem in reformationshistorischen Kreisen verbreiteten Duktus zur Dramatisierung nicht verleiten lassen. So verweist Peter Blickle für seine Auskunft, dass in der Diözese Straßburg „für das ganze Mittelalter unter den Priestern nur ein Doktor der Theologie nachgewiesen“ worden sei,34 auf Friedrich Wilhelm Oedigers Studie zur Bildung der Geistlichen: Bei diesem ist allerdings zur Sache nicht eine pauschale Aussage über das gesamte Mittelalter zu lesen, sondern die – immer noch ernüchternde – Information, dass „[u]m 1493 (…) nach Angaben des Scholasters Heinrich von Henneberg unter der Weltgeistlichkeit der Diözese Straßburg 1 Doktor der Theologie und keine 3 Baccalaren“ waren.35 Die regional und eben auch zeitlich eingeschränkte Aussage wird durch weitere Befunde relativiert, etwa den, dass im Archidiakonat Xanten von 143 Pfarreiinhabern jährlich etwa ein bis zwei, manchmal bis zu vier das Privileg nutzten, an der Universität zu studieren.36 Diese Relativierung ist auch deswegen wichtig, weil auch außerhalb von Kirche und Theologie der Normalfall des Universitätsstudiums keineswegs dessen Absolvierung bis zum akademischen Abschluss war,37 sondern die Universität oft schon nach wenigen Semes33
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HEINRICH SCHNELL (Hg.): Das Unterrichtswesen der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Strelitz. Bd. 1: Urkunden und Akten zur Geschichte des mecklenburgischen Unterrichtswesens. Mittelalter und das Zeitalter der Reformation (MGP 38), Berlin 1907, 59: „Postmodum examinatur hoc modo: Primo legat orationem dominicam, Credo in deum, et queratur, an credat omnes articulos fidei. Item examinetur in Donato et in declinando infrascriptos et in casibus. Si sciat, admittatur.“ Zu den hier zusammengefassten Entwicklungen der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theologenausbildung vgl. VOLKER LEPPIN: Die Professionalisierung des Pfarrers in der Reformation, in: DERS.: Reformatorische Gestaltungen. Theologie und Kirchenpolitik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (AKThG 43), Leipzig 2016, 275–293. PETER BLICKLE: Die Reformation im Reich, Stuttgart 32000, 37. Die Aussage entspricht fast wortgleich BERND MOELLER: Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 31977, 41. FRIEDRICH WILHELM OEDIGER: Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter, Leiden/ Köln 1953, 64. OEDIGER: Bildung (s. Anm. 35), 65. ULRIKE DENK: Alltag zwischen Studieren und Betteln. Die Kodrei Goldberg, ein studentisches Armenhaus an der Universität Wien, in der frühen Neuzeit (Schriften des Archivs der
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tern artes-Studium verlassen wurde.38 Legt man also die Frage akademischer Ausbildung etwas breiter aus, verändern sich die Daten, die man nennen kann. So hat Martin Brecht unter den ca. 200 noch im Mittelalter ausgebildeten reformatorischen Pfarrern der ersten Generation immerhin 121 studierte festgestellt.39 In ihrer Gesamtheit werden diese Überlegungen nach dem Urteil von James Overfield grundsätzlich ein „deficient priestly training in the late medieval Church“40 nicht infrage stellen, aber eben doch den gerne kolportierten Gesamteindruck über die spätmittelalterlichen Bildungsnotstände im Klerus abmildern.41 So wie das Mittelalter weniger schlimm war, als es topische Bilder vermuten lassen, hat auch die Reformation zwar eine Transformation der Theologenausbildung herbeigeführt, aber keineswegs unmittelbar eine umfassende Wende. Ein genauer Blick auf die oben angeführten Statuten besagt eben auch, dass der enge Zusammenhang aus universitärer Bildung und kirchlichem Amt zwar in der Sache begründet wird, aber nicht ein zwingendes Junktim von akademischer Ausbildung und Pfarramtsführung mit sich brachte. So beschreibt Marcel Nieden für die Reformationszeit eine Situation, die gegenüber dem Mittelalter zwar eine graduelle Verschiebung, aber keine grundsätzliche Wende mit sich gebracht hatte: „Das Gros der künftigen Pfarrer verließ die Universität ohne einen akademischen Grad erworben, ja ohne überhaupt eine Abschlussprüfung abgelegt zu haben. Abschlussexamina in der Theologie […] gab es an der Leucorea innerhalb des hier untersuchten Zeitraums nicht.“42
Solche Examensbestimmungen gab es allerdings, wie Nieden weiter ausführt,43 im Unterricht der Visitatoren von 1528: „der odder die selbigen sollen zuvor, ehr sie mit den Pfarren belehent odder zu Prediger auffgenomen werden, dem Superattendenten fuergestellet werden. Der soll verhoeren und examiniren, wie sie ynn yhrer lere und leben geschickt, ob das volck mit yhnen genugsam versehen sey, Auff das durch Gottes huelffe mit vleis verhuetet
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Universität Wien 16), Göttingen 2013, 90; JAMES H. OVERFIELD: University Studies and the Clergy in Pre-Reformation Germany, in: JAMES M. KITTELSON / PAMELA J. TRANSUE (Hg.): Rebirth, Reform and Resilience. Universities in Transition 1300–1700, Columbus 1984, 254– 292, 269. Vgl. NIEDEN: Erfindung (s. Anm. 1), 25. MARTIN BRECHT: Herkunft und Ausbildung der protestantischen Geistlichen des Herzogtums Württemberg im 16. Jahrhundert, in: ZKG 80 (1969) 163–175, 167. OVERFIELD: University Studies (s. Anm. 37), 270. Allerdings beobachtet OVERFIELD: University Studies (s. Anm. 37), 265f., einen deutlichen Unterschied zwischen Ordensklerikern und Weltklerikern: Es waren lediglich Erstere, deren Interesse an Universitätsstudien im späten Mittelalter merklich wuchs. NIEDEN: Erfindung (S. Anm. 1), 67. NIEDEN: Erfindung (S. Anm. 1), 67 Anm. 138.
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werde, das kein ungelerter odder ungeschicketer zu verfuerung des armen volcks auffgenomen werde.“44
Diese Verpflichtung ging normativ nicht weit über das hinaus, was schon das mittelalterliche Kirchenrecht im Decretum Gratiani (p. 1 d. 24 c. 5) vorschrieb, dem zufolge ein Bischof die zu Weihenden hinsichtlich ihrer Bildung, besonders der Kenntnis der Bibel (lex domini) zu prüfen hatte.45 Auch bei der reformatorischen Adaption dieser – wie alle normativen Regelungen nicht ohne Weiteres als praktizierte Realität zu nehmenden – Bestimmung handelte es sich um eine Examenspflicht, nicht jedoch eine Studierpflicht.46 Dass beides selbst unter Einhaltung jener Pflicht zur Abnahme einer Prüfung keineswegs zwingend zusammenging, zeigen empirische Untersuchungen wie normative Texte. So benennt Bernhard Klaus als sozialen Hintergrund der Ordinierten in den ersten Jahrgängen: „12 Schreiber und Stadtschreiber (…), 12 Setzer, Drucker und Buchbinder, 21 Angehörige des Buchmacher- und Schneiderhandwerks, 2 Schuster, 2 Schreiner und 2 Metzger“, sechs weitere Handwerker und einen Bauern,47 und resümiert: „Ein Schulbesuch und eine praktische Lehrzeit als Ersatz für ein Studium galten in der Frühzeit der Reformation als legitime Möglichkeit der Vorbereitung auf das Pfarramt.“48
Von den realen Verhältnissen legt auch der offenkundige Regelungsbedarf in Kirchenordnungen Zeugnis ab. Wenn die albertinisch-sächsischen Generalartikel noch 1557 Patronatsherren auffordern, sich Pfarrer in Leipzig oder Wittenberg auszusuchen – statt „ungelerte gesellen, oder vordorbene handwergs-leute (…) oder ire schreiber, reuter oder stall-jungen“ zu Pfarrern zu machen,49 dürfte eben dieser kritisierte Weg der Normalfall gewesen sein. Gerade die Patronatsherren und ihre Personalpolitik stellten in dieser Hinsicht offenkundig ein Pro-
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MARTIN LUTHER: Unterricht der Visitatoren (WA 26, 235,29–34). Corpus iuris canonici, hg. v. EMIL FRIEDBERG. Bd. 1, Leipzig 1879, 88f.; vgl. OEDIGER: Bildung (s. Anm. 35), 81–83. S. die detaillierteren Ausführungen bei PAUL DREWS: Die Ordination, Prüfung und Lehrverpflichtung der Ordinanden in Wittenberg 1535, Gießen 1904, 17–19. BERNHARD KLAUS: Soziale Herkunft und theologische Bildung lutherischer Pfarrer der reformatorischen Frühzeit, in: ZKG 80 (1969) 22–49, 44. Ähnlich vermerkt THOMAS KAUFMANN: The Clergy and the Theological Culture of the Age: The Education of Lutheran Pastors in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: S. SCOTT DIXON / LUISE SCHORN-SCHÜTTE (Hg.), The Protestant Clergy of Early Modern Europe, Basingstoke / New York 2003, 120–136.227– 231, 130, einen geringen Anteil von akademisch Gebildeten in der lutherischen Pfarrerschaft des 16. Jahrhunderts. KLAUS, Soziale Herkunft (s. Anm. 47), 44. General-Artikel 1557 (EKO 1/1, 334).
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blem dar.50 Noch 1580 wurde als Missstand genannt, dass „herrschaften“ Personen zur Ordination schickten, die dann nur binnen weniger Wochen „durch ein studenten, oder jemand anders auf etliche gewisse fragen abgerichtet“ worden seien.51 Dass ein umfassendes akademisches Studium der Regelfall gewesen wäre, kann man für diese Zeit also nicht voraussetzen – und auch die immerhin noch anerkannte Examensdurchführung blieb in der Frühen Neuzeit fraglich. Nach Luise Schorn-Schütte wurde erst „seit dem Ende des 17. Jahrhunderts das Studium aller angehenden Geistlichen an der theologischen Fakultät zum Grundprinzip“52, und in Preußen wurde laut Oliver Janz gar erst 1709 „ein strikter Qualifikationsnachweis für den geistlichen Beruf etabliert“53. Der Weg zu der heute in der deutschen landeskirchlichen evangelischen Theologenausbildung so selbstverständlichen Trias aus akademischem Studium, Examen und Pfarramtsführung war also lang. Das galt übrigens auch für die Reformbemühungen auf römisch-katholischer Seite. Bernhard Schneider veranschlagt auch hier für die Entwicklung von Trienter Reformanstößen bis zu einer allgemeinen Hebung des Ausbildungsstandes der Priesterschaft „rund 200 Jahre“.54 Er hat in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „Erfindung“ benutzt,55 damit freilich die „Konstruktion“, so der andere von ihm gebrauchte Begriff,56 des tridentinischen Seminars als Alternative zur universitären Ausbildung im 19. Jahrhundert bezeichnet, als es darum ging, nach der Aufklärung vermeintlich schädlichen Einfluss der Universität von der Priesterausbildung fernzuhalten.57 Das Priesterseminar in Trient selbst diente dagegen einem viel bescheideneren Ziel, einer Korrektur der beschriebenen spätmittelalterlichen Defizite in der Priesterausbildung.58 Die Verwirklichung in der Frühen Neuzeit war demgegenüber ernüchternd: Ein zwingender 50
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Vgl. zur Rolle der Patronatsherren bei der Pfarrstellenbesetzung JOACHIM BAUER / DAGMAR BLAHA / STEFAN MICHEL: Der Unterricht der Visitatoren (1528). Kommentar – Entstehung – Quellen (QFRG 94), Gütersloh 2020, 200; zur Kontinuität des mittelalterlichen Patronatsrechts im nachreformatorischen Sachsen s. FRIEDRICH SAATZ: Das geltende Kirchenpatronatsrecht in der evangelisch-lutherischen Landeskirche des Freistaats Sachsen (LRWS 94), Leipzig 1935. Albertinische Kirchenordnung 1580 (EKO 1/1, 418). LUISE SCHORN-SCHÜTTE: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig (QFRG 62), Gütersloh 1996, 226. OLIVER JANZ: Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (VHKB 87), Berlin u. a. 1994, 110. BERNHARD SCHNEIDER: Priesterbild und Priesterbildung im Wandel – Ein Blick auf den neuzeitlichen deutschen Katholizismus, in: Christoph Ohly u. a. (Hg.), Das Geschenk der Berufung zum Priestertum. Zur Zukunft der Priesterausbildung, Münster 2020, 56–92, 63. SCHNEIDER: Priesterbild und Priesterbildung (s. Anm. 54), 85. A. a. O., 78. A. a. O., 87. A. a. O., 62.
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Besuch des Seminars ließ sich für angehende Priester noch im 18. Jahrhundert nicht durchweg durchsetzen.59 Für die eine wie die andere Konfession hat man es bei heutigen Reflexionen auf das Theologiestudium in Deutschland weitgehend mit Gegebenheiten zu tun, die im 19. Jahrhundert geformt wurden, und das heißt für die evangelische Theologie: mit dem konstitutiven Zusammenhang von universitärer Ausbildung, Examen und Ordination ins Pfarramt.
3.
Theologie in Kirche und Universität
Der historische Überblick hat gezeigt: Universitäre Ausbildung künftiger Pfarrerinnen und Pfarrer ist nicht ohne Weiteres als „reformatorisch“ einzustufen. Weder fehlte sie vorher, noch war sie nach der Reformation unmittelbar die Regel. Vielmehr ist sie in dieser Gestalt ein Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts und muss wie jede historisch gewachsene Einrichtung auch befragt werden, ob sie den weiteren historischen Entwicklungen Stand hält. Die Entwicklungen und Konstellationen des 19. Jahrhunderts geben auch den Hintergrund für die Gründung der ersten Kirchlichen Hochschule 1905 in Bethel ab. Dass Bodelschwingh ausdrücklich den in einem Artikel in der „Deutschen Zeitung“ geäußerten Gedanken60 abwehrte, die Hochschule als ein „Treibhaus“ zu gründen,61 lässt sich angesichts der Betonung jener Kritik, dass dies gerade dem evangelischen Stolz auf die universitäre Ausbildung widerspreche,62 und der Grundbedeutung von seminarium als Pflanzschule63 auch als Abgrenzung von der katholischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts lesen – beziehungsweise als Versuch, das eigene Unternehmen vor dem Verdacht zu schützen, ein katholisches Modell zu verfolgen, das gerade unter Bedingungen des noch nicht lange vergangenen Kulturkampfes äußerst kritisch beäugt worden war. Die Einführung eines „Kulturexamens“ in den Maigesetzen des Jahres 1873 diente eben der staatlichen Kontrolle der Abschlüsse an den ihrerseits mit kritischer Perspektive auf die Universität geförderten katholischen Seminaren.64 Dass eher solche taktischen Erwägungen bei Bodelschwinghs Verteidigung leitend waren als Überzeugun59 60
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A. a. O., 65. FRIEDRICH VON BODELSCHWINGH: Die freie theologische Hochschule zu Bethel, in: DERS.: Ausgewählte Schriften. II: Veröffentlichungen aus den Jahren 1872 bis 1910, Bethel 1964, 300– 313, 303. BODELSCHWINGH, Die freie theologische Hochschule zu Bethel (s. Anm. 60), 306. A. a. O., 303. Zum sprachlichen Zusammenhang s. HELMUT FELD: Der bedeutendste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts?, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 19 (1999), 263– 273, 269: „Seminarium heißt Treibhaus“ als zeitlich allerdings deutlich späteres Zitat von Wilhelm Klein. S. – noch ganz unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen – PAUL MAJUNKE: Geschichte des Kulturkampfes in Preußen-Deutschland, Paderborn 1890, 87.101.
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gen, legt sich nahe, wenn man sieht, dass er noch zehn Jahre zuvor selbst formuliert hatte: „Eine ‚Pflanzstätte und Erziehungsstätte künftiger Universitätslehre‘ ist der eigentlich treibende Gedanke gewesen.“65 Tatsächlich hatte er im Auge, was er als Niedergang der universitären Theologie diagnostizieren zu müssen meinte. Die konfessionellen Fragen66 waren gewissermaßen die Begleitmusik zu der laut orchestrierten Kritik Bodelschwinghs an den Lehren der Ritschlschule, die er an den Universitäten dominieren sah,67 und bei deren Beurteilung er sich bis zu der Rede von einer „kranken Bibelkritik“ steigern konnte.68 Die nach Jahrzehnten, nicht zuletzt auch aufgrund der zentralen Bedeutung der Kirchlichen Hochschulen im Kirchenkampf erfolgte Anerkennung der Kirchlichen Hochschulen als Äquivalente der Theologischen Fakultäten äußert sich etwa in der Fußnote 2 der 2010 vom Evangelisch-Theologischen Fakultätentag beschlossenen Rahmenordnung für das Theologiestudium: „Wenn im Folgenden von den Fakultäten gesprochen wird, sind damit die Evangelisch-Theologischen Fakultäten, die Evangelisch-Theologischen Fachbereiche und die Kirchlichen Hochschulen bezeichnet.“69
Dieser Erfolg bringt freilich dringlich die Frage eines besonderen Profils mit sich. Wenn Gerhard Ruhbach dieses 1986 im einschlägigen Artikel der theologischen Realenzyklopädie vor allem durch den Gegensatz zur Massenuniversität bestimmt,70 ist das ein Argument, das dreieinhalb Jahrzehnte später für das Studium der Theologie nicht mehr sehr überzeugend ist. Weitere Besonderheiten, die er nennt – insbesondere das Campusstudium und die Nähe von Lehrenden und Lernenden – sind sehr weiche Kriterien.71 Und dass das Studium der Theologie „[…] ganz um ihrer selbst (und nicht im Dienst einer wie immer gearteten Theorie oder Ideologie) zu betreiben ist“72, bezeichnet Ruhbach zu Recht als einen Auftrag, der den Kirchlichen Hochschulen nicht exklusiv gegeben ist. Er gilt selbstverständlich für die universitäre Theologie ebenso. Hinter dieser Be-
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FRIEDRICH VON BODELSCHWINGH: Die freie theologische Fakultät in: DERS.: Ausgewählte Schriften. II: Veröffentlichungen aus den Jahren 1872 bis 1910, Bethel 1964, 217–226, 219. S. auch JELLE VAN DER KOOI: Die Entstehung der Theologischen Schule, in: GERHARD RUHBACH (Hg.): Kirchliche Hochschule Bethel 1905–1980, Bielefeld 1980, 11–57, 35–39. FRIEDRICH VON BODELSCHWINGH: Eine kirchliche theologische Fakultät, in: DERS.: Ausgewählte Schriften. 2, II: Veröffentlichungen aus den Jahren 1872 bis 1910, Bethel 1964, 204–216. BODELSCHWINGH, Die freie theologische Hochschule zu Bethel (s. Anm. 60), 306. Rahmenordnung für die Erste Theologische Prüfung/ die Prüfung zum Magister Theologiae in Evangelischer Theologie (http://www.evtheol.fakultaetentag.de/index.php?p=pfarr amt; Zugriff am 13.06.2022). GERHARD RUHBACH: Art. Hochschulen, Kirchliche, in: TRE Bd. 15 (1986), 423–435, 427. RUHBACH: Hochschulen (s. Anm. 70), 427. Ähnliches gilt für MANFRED BALDUS: Art. Hochschulen, kirchliche. 2. Konfessionelle Hochschulen in Deutschland, in: RGG4 Bd. 3 (2000), 1805– 1808, 1806. RUHBACH: Hochschulen (s. Anm. 70), 427.
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merkung steht allerdings die gewichtige historische Erfahrung, dass die Kirchlichen Hochschulen sich unter den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts im Dritten Reich wie in der DDR als wesentlicher Faktor zur Wahrung der Eigenständigkeit von Kirche und Theologie bewährt haben. Mit dem Ende der DDR wurde die Konsequenz gezogen, dass die dortigen kirchlichen Bildungseinrichtungen aufgelöst beziehungsweise in vorhandene staatliche Fakultäten integriert werden konnten. Die Frage nach der Rolle der Kirchlichen Hochschule im demokratischen Rechtsstaat stellt sich damit massiv. Freilich handelt es sich bei der Angleichung der Kirchlichen Hochschulen als Fakultät nicht nur möglicherweise um einen Pyrrhussieg, sondern die staatlichen Fakultäten könnten die Beteiligung der Hochschulen an der Pfarramtsausbildung auch umgekehrt als Danaergeschenk empfinden. Dass Pfarramtsausbildung auch an kirchlichen Hochschulen möglich ist und dies unproblematisch anerkannt wird,73 zeigt, dass der geniale Weg Schleiermachers, die Universitätsfähigkeit der Theologie auf dem Weg des Erwerbs der Fertigkeiten für das Pfarramt zu erweisen, gerade nicht mehr zwingend (vollumfängliche) universitäre Ausbildung voraussetzt. Der Verfasser dieser Zeilen hätte nicht annähernd vier Jahre als Dekan zweier durchaus verschiedener Theologischer Fakultäten in Deutschland gedient,74 wenn er nicht wüsste, wie leicht eine solche Aussage gegen die Verankerung der Theologie an der Universität verwendet werden kann. Daher kann sie nur zusammen mit der anderen Aussage bestehen: Wie in ihren Anfängen ist die Universität auf die Theologie angewiesen, heute mehr denn je. Gerade der Traditionsabbruch in der mitteleuropäischen Gesellschaft bringt es mit sich, dass den Kulturwissenschaften die Bindung an den für das eigene Erbe so wichtigen Faktor der Religion abhanden zu kommen droht. Die berühmte Formulierung Max Webers von seiner eigenen religiösen Unmusikalität75 ist eine außerordentlich gelungene Metapher. Denn sie drückt in einer präzisen Analogie das Defizit aus, das mangelnde religiöse Bindung in hermeneutischen Wissenschaften mit sich bringt. So wie Max Weber zu jenen zählt, denen die Erforschung von Religion im 20. Jahrhundert besonders viel zu verdanken hat, kann selbstverständlich auch Musikwissenschaft von Personen betrieben werden, denen es selbst an musikalischer Empfänglichkeit fehlt. Und doch wird, wer selbst musikalisch ist, bestimmte Dimensionen einer Komposition im Verhältnis hierzu leichter oder vielleicht überhaupt erst erschließen können. Man könnte 73
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S. zur Gleichstellung MARTIN HECKEL: Organisationsstrukturen der Theologie in der Universität (SKA 18), Berlin 1987, 66f. Von Oktober 2006 bis September 2008 war ich Dekan der Theologischen Fakultät Jena, von Oktober 2019 bis Juni 2021 in Tübingen. Zu den Besonderheiten des Dekanswahlamtes gehört, dass eine Amtsausübung ohne die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen im Dekanat nicht möglich wäre. So gilt mein besonderer Dank für Unterstützung und Hilfe an dieser Stelle Erika Schmutzler (Jena) und Ursel Krüger-Keim (Tübingen). Max Weber an Ferdinand Tönnies, 19. Februar 1909 (MAX WEBER: Gesamtausgabe, hg. v. HORST BAIER u. a.: Abteilung II: Briefe, Band 6: Briefe 1909–1910, Tübingen 1994, 63–66, 65,6).
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den Gedankengang sogar noch ein Stück weitertreiben: Wer Theologinnen und Theologen unterstellt, ihrem Gegenstand mit mangelnder Kritik entgegentreten zu können, hat sich schon auf das Gespräch eingelassen, dass in den Geisteswissenschaften persönliche Dispositionen Frage- und damit auch Entdeckungshorizonte bestimmen. Das gilt für Theologinnen und Theologen im Sinne einer positiven Voreingenommenheit, aber es gilt für dem Gegenstand extern Gegenübertretende auch im Sinne einer möglichen negativen Voreingenommenheit oder eines Mangels an Sensibilität für die Erfordernisse des Gegenstandes. Dass sich viele Vertreterinnen und Vertreter von Humanwissenschaften dieser Problematik bewusst sind, zeigt die rege Beteiligung von Theologinnen und Theologen an Verbundforschungsprojekten wie Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereichen an Universitäten.76 Geht man an die Frage der Stellung der Theologie an der Universität heran, so wird es klar, dass universitäre Theologie anders zu begründen ist, als Schleiermacher dies getan hat, und erst recht anders, als Karl Barth es mit der Rede von der Theologie als einer „Funktion“77 oder gar „Maßnahme der Kirche“78 vorgeschlagen hat. In diesem Modell ist Theologie nicht mehr als eine Selbstprüfung der Kirche, die deren Rede folgt, führt und begleitet.79 Dies ist eine mögliche Definition von Theologie, die sich aus binnenkirchlichen Zusammenhängen ergibt. Je fraglicher aber die Bindung von Staat und Kirche ist, desto schwieriger wird sie. Wäre die Theologie tatsächlich so ganz und gar von der Kirche her zu verstehen, müsste sie in ihrer universitären Gestalt mit jedem neuen Schritt der Entzerrung von Staat und Kirche neu zur Disposition gestellt werden. Dies ist eine gesellschaftliche Frage, ungeachtet dessen, dass Martin Heckel in bis heute maßgeblicher juristischer Argumentation gezeigt hat, dass die Kirchen- und Konfessionsbindung der Theologischen Fakultäten der Religions- wie der Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes nicht nur nicht entgegensteht, sondern geradezu aus ihr folgt.80 Die Sicherung einer entsprechend begründeten univer76
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In diesem Zusammenhang ist auch das engagierte Plädoyer für eine universitäre Theologie von KLAUS DICKE: Zur (Zukunft der) Theologie aus Sicht einer Universitätsleitung, in: GERHARD KRIEGER (Hg.): Zur Zukunft der Theologie in Kirche, Universität und Gesellschaft (QD 283), Freiburg u. a. 2017, 118–131, 129, der als Hochschulrektor in Jena Erfahrung mit entsprechenden Einbindungen der Theologie gesammelt hat, zu verstehen. KARL BARTH: Die Theologie und der heutige Mensch, in: ZZ 8 (1930), 375–396, 376. KARL BARTH: Die Kirchliche Dogmatik. I/1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Zürich 81964, 2 (Prol. § 1). Ebd. MARTIN HECKEL: Die theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat (JusEcc 31), Tübingen 1986, 37. Zur Frage einer kirchlichen Funktion s. a. a. O., 155–157. Heckel führt deutlich aus, dass es eine solche geben kann, freilich nur im Rahmen der kirchlichen Regelung der eigenen Angelegenheiten, während grundsätzlich die Theologischen Fakultäten als „Staatsbehörden der Staatsuniversität“ zu verstehen sind (a. a. O., 152); vgl. auch DERS.: Organisationsstrukturen (s. Anm. 73), insbesondere 30–33 zur Wissenschaftsfreiheit. Diese Abhandlung enthält auch eine materiale Definition von Theologie im evangelischen Sinne
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sitären Theologie allein auf staatskirchenrechtlichem Wege trägt auch nicht auf die Dauer, wie recht energisch Christoph Markschies festgehalten hat: „Sicher scheint mir jedenfalls, dass die Theologie, wenn sie versäumt, ihren Standort in einer Wissens- und Wissenschaftstheorie abzusichern und sich nur auf Staatskirchenverträge beruft, schneller von Universitäten verschwinden kann, als sich das gegenwärtig irgendwer träumen lässt.“81
Wissenschaftstheoretisch und gesellschaftlich aber ist universitäre Theologie nicht mehr aus der Pfarramtsausbildung heraus zu erklären und nicht aus kirchlichen Belangen. Der Grund, warum die Universität ihrer bedarf, ist nicht diese berufliche Ausrichtung, sondern die Notwendigkeit kultureller Selbstverständigung, die ohne ein sachangemessenes Verständnis des Christentums und ebenso auch des Judentums und des Islams82 nicht gelingen kann.83 „Religion, religiöse Orientierungen und religiöse Institutionen sind eine Ressource, auf die das demokratische Leben in der Bundesrepublik Deutschland in vielfältiger Weise zurückgreift“,
so hat es der Wissenschaftsrat 2010 zusammengefasst.84 Mit dem Rekurs auf gesamtgesellschaftliche Horizonte, wie sie an der Universität interdisziplinär vermittelt sind, kommt in die Begründung der spezifisch universitären Theologie
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als „Wissenschaft vom Worte Gottes“ (32), die der in der Dialektischen Theologie erarbeiteten Position entspricht, aber innertheologisch keineswegs zwingend ist. Dass Religionswissenschaften zugleich auf ein Verständnis von Religion „als menschliche Selbstprojektion (bzw. Selbsttäuschung) und Selbstverwirklichung“ festgelegt werden (ebd.), wird man als polemische Zuspitzung verstehen dürfen; vgl. für eine differenziertere Verhältnisbestimmung KLAUS FITSCHEN u. a. (Hg.): Kirchengeschichte und Religionswissenschaft. Methoden und Fallstudien (AKThG 51), Leipzig 2018. CHRISTOPH MARKSCHIES: Wissenschaft und Gesellschaft. Schleiermachers Universitätsprogramm kontextualisiert, in: WILHELM GRÄB / NOTGER SLENCZKA (Hg.): Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher (ASyTh 4), Leipzig 2011, 50–70, 65. Zur Entwicklung von islamischer und jüdischer Theologie s. PETER STROHSCHNEIDER: Pluralisierungszumutungen und Islamische Theologie. Religiöse Pluralisierung, akademische Theologie und staatliche Universität, in: WALTER HOMOLKA / HANS-GERT PÖTTERING (Hg.): Theologie(n) an der Universität. Akademische Herausforderung im säkularen Umfeld, Berlin / Boston 2013, 1–8; WALTER HOMOLKA: Der lange Weg zur Errichtung des Fachs jüdische Theologie an einer deutschen Universität, in: a. a. O., 53–77. Vgl. in diesem Sinne auch das Plädoyer von JOSEF LANGE: Der Ort der Theologie in der Universität und im Diskurs der Wissenschaften, in: HOMOLKA/PÖTTERING, Theologie(n) (s. Anm. 82), 147–165, 159, der unter anderem auf den Erhalt der Katholisch-Theologischen Fakultät Bochum nach Fortfall der Priesterausbildung mit eben dieser gesamtuniversitären Bildungsbedeutung verweist. Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, hg. v. WISSENSCHAFTSRAT, Berlin 2010 (https://www. wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678-10.html; Zugriff 14.06.2022), 9.
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allerdings ein Moment hinein, das so auf Kirchliche Hochschulen nicht ohne Weiteres anwendbar ist. Diese können sich ihrerseits ganz im Sinne Schleiermachers und Barths entfalten und entwickeln. Der Unterschied zwischen ihnen und der Universität würde damit durch den jeweiligen systemischen Bezug deutlich, auf die Kirche und ihren je eigenen Bedarf einerseits, auf den interdisziplinären Zusammenhang der Universität andererseits. So wie dies nicht heißt, den Kirchlichen Hochschulen die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit abzusprechen, kann es auch nicht bedeuten, dass universitäre Theologie nicht auch der Pfarramtsausbildung dienen könnte oder sie keinen wesentlichen Dienst für die Kirche erfüllen würde. Die Kirchen sollten ein nachhaltiges Interesse daran haben, dass es an Universitäten Institutionen gibt, die die religiöse Dimension der Wirklichkeit konstruktiv und konstitutiv in die Debatten über das kulturelle Selbstverständnis der mitteleuropäischen Gesellschaft einbringen. Gleichwohl ist die Begründung für die Notwendigkeit theologischer Fakultäten an Universitäten eine andere. Die beiden skizzierten Begründungsfiguren von Theologie führen zu unterschiedlichen Institutionen, Theologie an der Universität einerseits, Theologie an der Kirchlichen Hochschule andererseits. So gedacht, sind die Kirchlichen Hochschulen nicht allein Abbilder der staatlichen Fakultäten, sondern sie sind Gegebenheiten sui generis – wie das in anderen theologischen Systemen durchaus denkbar ist. Die Theologieausbildung in den USA85 etwa kennt, jedenfalls was den lutherischen Bereich, den ich hier ins Auge fasse, angeht, die Ausbildung an kirchlichen Seminaren, deren erstes 1826 in Gettysburg gegründet wurde,86 geradezu als Normalfall des Weges in das Pfarramt.87 Dieser geht also über die kircheneigenen Institutionen. Sie geben einen klaren konfessionellen Hintergrund und spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg zum Pfarramt. Daneben ist aber, wie etwa das Beispiel der „Lutheran Studies“ an der Yale Divinity School88 zeigt, auch
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Ich danke Bruce Gordon, Yale, und Brach Jennings, Tübingen, sehr für eine kritische Durchsicht dieser Passagen, die auf einem persönlichen Erfahrungshintergrund von gerade einmal einem Studienjahr basieren. Wer den Verdacht haben sollte, dass ein Teil der Gründe, die mich zu einem Wechsel aus Deutschland in die USA bewegt haben, auch in diesen Zeilen zu finden ist, liegt nicht völlig falsch. JONATHAN P. STRANDJORD / GORDON A. JENSEN: Art. Lutheran Theological Education in North America, in: MARK A. LAMPORT (Hg.): Encyclopedia of Martin Luther and the Reformation, London 2017, 473–475, 473. S. das Candidacy Manual der ELCA von 2016 in der revidierten Form von 2021 (https:// www.elca.org/resources/candidacy; Zugriff 13.06.2022), 13: „Normally, admission to an ELCA/ELCIC seminary for study leading to rostered ministry in the ELCA is subsequent to a candidacy committee’s granting Entrance“, und 45: „Those who consider study at a theological school or seminary other than an ELCA seminary must affiliate with an ELCA seminary before completing the Candidate Plan […] and, at the latest, prior to Endorsement.“ https://divinity.yale.edu/academics/denominational-programs/lutheran-studies; Zugriff am 13.06.2022.
Theologie zwischen Kirche und Universität
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ein Weg über eine der Divinity Schools an einer Universität mit ihrem umfassenden Fächerprogramm möglich. Diese Divinity Schools, die in Aufnahme der mittelalterlichen Tradition der „höheren Fakultät“ als Professional School zur Universität gehören,89 sind dabei dezidiert von den Religious Departments zu unterscheiden.90 Dieser Unterschied hat sich allmählich entwickelt, hat aber, wie viele gesellschaftliche Entwicklungen in den USA, ein symbolisches Scharnier in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Der Fall School District of Abington vs. Schempp brachte die Entscheidung gegen die Verlesung von Bibelversen in Public Schools. Entscheidend für die Hochschulausbildung wurde dabei die Begründung von Richter Arthur Goldberg, in welcher dieser „teaching of religion“ und „teaching about religion“ unterschied.91 Die letztere Perspektive sollte die nun in großer Anzahl gegründeten92 Religious Departments und ihren deskriptiven Zugang zu religiösen Phänomenen bestimmen93 – auch wenn die einzelnen Forscherinnen und Forscher durchaus in ihrem Bereich „religiös musikalisch“ sein können. Die Unterscheidungen und Grenzziehungen zwischen beiden Zugangsweisen sind dabei gelegentlich auch mit großer Schärfe ausgetragen worden.94 Vor diesem Hintergrund sind auch einige der Divinity Schools, 89
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Dies bedeutet nicht zwingend, dass sie allein der Pfarramtsausbildung dienen – an der Yale Divinity School etwa wird neben dem eher auf das Pfarramt ausgerichteten Master of Divinity auch ein Master of Arts in Religion für andere Berufsfelder angeboten (https:// divinity.yale.edu/admissions-aid/degree-programs-and-certificates; Zugriff 20.06.2022), der sich starken Zuspruchs erfreut. Vgl. die Zusammenfassung des Unterschieds zwischen Theologie und religious studies bei HILLARY RODRIGUEZ / JOHN S. HARDING: Introduction to the Study of Religion, London / New York 2009, 44: „Theology is typically the domain of religious ‚insiders‘ who are actively promoting, defending, transmitting, and shaping their tradition. […] The discipline of religious studies in the secular university differs on each of these main points. The scholar studying religion in this academic setting need not to be an insider in any tradition.“ Vgl. auch die ausführliche Beschreibung von Unterschieden bei CONRAD CHERRY: Hurying Toward Zion. Universites, Divinity Schools, and American Protestantism, Bloomington 1995, 87–123. SHEILA GREEVE DAVANEY: Theology and Religious Studies in an Age of Fragmentation, in: ERIK BORGMAN / FELIX WILFRED (Hg.): Theology in a World of Specialization, London 2006, 35–52, 40. DAVANEY: Theology and Religious Studies (s. Anm. 91), 40. Zur Vorgeschichte Religious Departments in der Mitte des 20. Jahrhunderts und ihrer Konzentration auf deskriptive Momente s. den knappen, in den folgenden Kapiteln differenzierten Überblick bei ROBERT WILSON-BLACK: The End of College. Religion and the Transformation of Higher Education in the 20th Century, Minneapolis 2021, 1–6. Die Entstehung dieser Departments hatte auch mit dem Bemühen zu tun, den in der Regel ursprünglich von religiösen Gemeinschaften gegründeten Bildungseinrichtungen im Zuge ihrer Lösung von diesen institutionellen Wurzeln weiterhin eine religiöse Orientierung beizugeben (a. a. O., 87). Sie gehörten damit zu dem Weg „from the college ideal to the university ideal“ (a. a. O., 201). LINELL E. CODY / DELWIN BROWN: Introduction, in: DIES. (Hg.): Religious Studies, Theology, and the University, New York 2002, 1–12, 1, sprechen von zeitweise zu beobachtenden „hosti-
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Volker Leppin
wie zum Beispiel Harvard, den Weg gegangen, mehr über Religion zu unterrichten als Religion selbst zu lehren.95 Deutlich anders formuliert etwa die Yale Divinity School ihr Selbstverständnis im Blick auf ein positives Gottesverhältnis in einer den deutschen Theologischen Fakultäten vergleichbaren Weise: „Yale Divinity School has an enduring commitment to foster the knowledge and love of God through scholarly engagement with Christian traditions in a global, multifaith context.“96
Im Unterschied zur Situation in Deutschland bedeutet dies allerdings nicht zwingend eine konfessionelle Bindung oder überhaupt ein religiöses Selbstverständnis der einzelnen Personen. Im Lehrkörper wie unter den Studierenden kann vielmehr große konfessionelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt bestehen.97 Das bedeutet keinen Verzicht auf konfessionelle Momente, sondern im Gegenteil kann die weltanschauliche Vielfalt gerade dazu führen, dass konfessionelle Dispositionen stärker explizit werden, als dies an Institutionen der Fall ist, deren konfessionelle Grundlage einheitlich und daher nicht thematisch ist. Im komplementären Bezug von Seminaren und universitären Divinity Schools kann so ein spannungsvolles Miteinander entstehen, innerhalb dessen die jeweiligen Gegenstände, mit denen sich die Institutionen befassen, einander widersprechen. Der kirchlich-konfessionelle Kontext des Seminars aber führt zu einem anderen Erkenntnis- und Zweckzusammenhang als die interdisziplinäre Breite und Weite der Divinity School, für die der Zusammenhang mit den anderen Fächern der Universität, gerade auch dem zum Teil in persönlichen Vernetzungen mit ihr verbundenen Religious Department von herausragender Bedeutung für die eigene Identität ist. Nun wurde in deutschen Bildungsreformen immer wieder zu leicht ein angelsächsisches Modell nachgeahmt, ohne dass es dabei zu einer Entfaltung der eigenen Gegebenheiten gekommen worden wäre – erinnert sei nur an die wenig
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lities along the borders of religious studies and theology“, und referieren a. a. O., 3 die Argumente, die gegen die Lehre von Theologie an der Universität vorgebracht wurden. Vgl. das mission statement der Harvard Divinity School: „Harvard Divinity School educates students of religion for intellectual leadership, professional service, and ministry“, und ihre Vision: „To provide an intellectual home where scholars and professionals from around the globe research and teach the varieties of religion, in service of a just world at peace across religious and cultural divides“ (https://hds.harvard.edu/about/history-andmission; Zugriff am 13.06.2022). https://divinity.yale.edu/about-yds/mission-history; Zugriff am 13.06.2022. In Deutschland besteht noch eine gewisse Schwierigkeit, denominationelle Vielfalt in einer theologischen Einrichtung von nondenominationeller Religionswissenschaft zu unterscheiden (s. etwa die einfachen Gegenüberstellungen bei JOACHIM E. CHRISTOPH: Kirchenund staatskirchenrechtliche Probleme der Evangelisch-theologischen Fakultäten. Neuere Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung des Bologna-Prozesses [JusEcc 91], Tübingen 2009, 76).
Theologie zwischen Kirche und Universität
307
geglückte Einführung von Bachelor- und Master-Abschlüssen an deutschen Universitäten. Daher sind diese Überlegungen auch nicht als Appell zu verstehen, das amerikanische System zu kopieren, wohl aber als Anregung, die Diversität der Institutionen universitäre Theologie und Kirchliche Hochschule stärker in den Blick zu nehmen. Sie entsprechen einander zumindest im Kern des Fächerkanons, und sie entsprechen einander im Wissenschaftsanspruch. Sie unterscheiden sich aber hinsichtlich des gesellschaftlichen Bezugssystems Kirche oder Universität. Das kann in der Feindifferenzierung des Fächerkanons Folgen haben – ohne ihren Kern aufzugeben, werden universitäre Fakultäten sich im Blick auf interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten zu entwickeln haben, Kirchliche Hochschulen werden, wie es teilweise schon geschieht, die Belange kirchlicher Wirkungsfelder stärker in den Blick nehmen. Mit den unterschiedlichen Bezugsfeldern verbindet sich auch ein unterschiedlicher Umgang mit dem Merkmal der Konfessionalität. An Kirchlichen Hochschulen wird es einer strikteren Ausführung bedürfen als an staatlichen Fakultäten, die überlegen sollten, ob die konfessionelle Ausrichtung, die sie nicht ohne Not aufgeben sollten, nicht auch dadurch besser erfüllt werden kann, dass einzelne Funktionen innerhalb der Fakultät von der strikten personellen Konfessionsbindung ausgenommen werden können. So könnte, auch wieder orientiert am amerikanischen Beispiel, beispielsweise die Betrauung von Menschen jüdischen Glaubens mit der Lehre der Hebräischen Bibel im Kontext einer christlichen theologischen Fakultät dazu beitragen, manche Verhärtungen aus der Debatte um den Status des Alten Testaments in der jüngeren Vergangenheit herauszunehmen. * * * Theologie ist nicht erst im 21. Jahrhundert in eine Begründungskrise geraten. Fragen nach ihrer Wissenschaftlichkeit und nach der Legitimität ihrer Existenz an der Universität begleiten sie seit ihrem Beginn. Die Antworten, die sie darauf gefunden hat, sind, wie der Vergleich zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten zeigt, immer auch kulturell verschieden. Das heißt auch, dass kulturelle Verschiebungen innerhalb der mitteleuropäischen Gesellschaft, die mit der Rede von einer Säkularisierung viel zu kurz beschrieben werden,98 sich in der Weise, wie Theologie sich gestaltet, niederschlagen können. Da ist es zumindest ein denkbarer Weg, die Möglichkeiten von Diversifizierung theologischer Ausbildungsinstitutionen, die im 20. Jahrhundert gewachsen sind, weiter auszubauen, um beides zu stärken: Theologie im Raum der Universität und Theologie im Raum der Kirche.
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S. CHARLES TAYLOR: A Secular Age, Cambridge MS 2007.
Kulturwirkungen des Christentums als Thema kirchengeschichtlicher Forschung im 21. Jahrhundert
Kulturwirkungen des Christentums Christoph Strohm
1.
CHRISTOPH STROHM
Folgen des Gestaltwandels traditioneller Religion für die kirchengeschichtliche Forschung
Wir befinden uns in einem beschleunigten Gestaltwandel traditioneller Religion in Europa, der in den nächsten Jahrzehnten zu einer stark veränderten Rolle der Kirchen in der Gesellschaft führen wird. Betroffen von den Veränderungen sind vor allem die klassischen Formen volkskirchlichen Christentums. Dessen Weitergabe in Familie, Schule und Gemeinde bricht vielerorts ab. Klassische Manifestationen volkskirchlichen Christentums wie die örtliche Kirchengemeinde, der schulische Religionsunterricht und die Präsenz konfessioneller Theologie an den Universitäten verlieren an Bedeutung oder werden zunehmend infrage gestellt. Kirchengeschichtlicher Forschung und Lehre kommen in dieser Situation veränderte, neue Aufgaben zu. Der Bedeutungsverlust volkskirchlichen Christentums hat zur Folge, dass bei Historikerinnen und Historikern die christentumsgeschichtliche Kompetenz schwindet, die für die Erforschung des kulturellen Erbes notwendig ist. Anders als in früheren Generationen hat ein beträchtlicher Teil der Historiker und Historikerinnen keine konkrete Kenntnis von Religion ‚aus erster Hand‘. Wer selbst keinerlei Erfahrungen mit der Präsenz von Religion im eigenen Leben gemacht hat, wird deren Relevanz in der Geschichte eher unterschätzen. Zum Problem wird das nicht zuerst dort, wo Kulturwirkungen des Christentums offenkundig sind: in einer Epoche, in der die dominante Rolle der Kirche im öffentlichen Raum wie in privaten Lebensvollzügen unabweisbar ist, oder im Œuvre eines Theologen bzw. expliziten Bekenners oder bei Darstellungen, die ausdrücklich religionsaffine Themen wie zum Beispiel ‚sakrale Kunst‘ behandeln. Betroffen von der Unterschätzung sind vielmehr die weniger offensichtlichen Kulturwirkungen des Christentums, in denen andere Faktoren wie das Milieu eine wichtige Rolle spielen oder ‚schwache‘ Formen von Religion relevant sind. Um solche handelt es sich bei volkskirchlichen Gestaltwerdungen des Christentums im Unterschied zu bekenntniskirchlichen Formen.
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2.
Christoph Strohm
Neue Situation religiöser Pluralität
Die rapide abnehmende Kenntnis von Religion und ihrer Prägekraft in Mitteleuropa ist nur einer der Gründe für die Notwendigkeit, die kulturellen Wirkungen der verschiedenen Konfessionen und Christentümer zum ausdrücklichen Gegenstand kirchengeschichtlicher Forschung zu machen. Ein zweiter Grund ist die gegenwärtige Situation einer globalisierten Welt, in der die verschiedenen Religionskulturen und Mentalitäten in neuer Weise zusammenwirken. Sie fordert zur Klärung der kulturellen Folgen der jeweiligen religiösen Lehren und Frömmigkeitspraktiken heraus. Welches Potenzial haben die verschiedenen Gestalten von Religion und Konfession, die für eine moderne Gesellschaft charakteristischen Ausdifferenzierungsprozesse positiv mitzugestalten? Oder etwas konkreter gefragt: Welches Potenzial zur Unterscheidung von Religion und Staat, zur Dissoziierung von Religion und Justiz, bieten die verschiedenen Gestalten des Islam im Vergleich zum Christentum? Hier muss man sich in einen wechselseitig befruchtenden Austausch begeben. Exemplarisch sei die Habilitationsschrift der Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur über den Theologen Mohammad Moǧtahed Šabestari [Modschtahed Schabestari], der von 1970 bis 1978 das Islamische Zentrum Hamburg leitete, genannt. Dieser hat, angeregt durch ihm in Deutschland bekannt gewordene christliche Theologen, Modelle einer Trennung von politischen und religiösen Institutionen im Islam erörtert.1 Ein anderes Beispiel wären die Kulturwirkungen der östlichen im Vergleich zur westlichen Christenheit. Kann man kulturelle Folgen des Sachverhalts fassen, dass in der östlichen Christenheit für die westliche Christenheit Charakteristisches fehlt, nämlich der außerordentlich stimulierende Streit von Kaiser und Papst bzw. von deren Theologen im Mittelalter oder das nicht minder produktive geistige Ringen der Konfessionen infolge der Reformation?2
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Vgl. KATAJUN AMIRPUR: Volkes Recht und Gottes Macht – Moḥammad Moǧtahed Šabestaris säkulare Lesart des Islams, Habil. Univ. Bonn, 2010. In ihrer Khomeini-Biographie hat Amirpur mehrfach auf Parallelen und Differenzen zwischen Grundpositionen des schiitischen Islams und protestantischer und katholischer Theologie, insbesondere auch im Blick auf das Verhältnis von Religion, Recht und Staat, hingewiesen (vgl. DIES.: Khomeini. Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie, München 2021, 19.36–47.95–110.240f.). Der Moskauer Schriftsteller Alexander Jakimowitsch suchte vor dreißig Jahren, kurz nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, westlichen Leserinnen und Lesern die eigene Welt mit dem Verweis auf orthodox-christliche Prägungen zu erläutern: „Die Sorge um das vernünftige Ordnen der Lebenswelt gehört nicht zu den Tugenden des orthodoxen Ostens. Der Traum vom einheitlichen vergeistigten Weltall ist hier der stützende Pfeiler der Kultur und der Gesellschaft im allgemeinen gewesen“ (ALEXANDER JAKIMOWITSCH: Die große Unordnung im Osten, in: DIE ZEIT Nr. 51 vom 11. Dezember 1992, 55f.).
Kulturwirkungen des Christentums
3.
311
Negative Werturteile über die kulturellen Folgen des Christentums
Ein dritter Anlass für die Notwendigkeit einer verstärkten Erforschung der Kulturwirkungen des Christentums ist der Sachverhalt, dass diese in den letzten Jahrzehnten vermehrt und überwiegend als negatives Erbe bewertet werden.3 Wenn man von der innerkirchlichen Diskussion und den Forschungen innerhalb der Theologischen Fakultäten absieht, ist in der öffentlichen Debatte inzwischen eine problembewusst-kritische und oft auch grundsätzlich negative Wahrnehmung vorherrschend. Geht es um die Folgen der Reformation, denken Historikerinnen und Historiker zuvorderst an Konfessionsspaltung und den Dreißigjährigen Krieg.4 Dass die aus der Reformation resultierende Konkurrenz der Konfessionen eine enorme kulturelle Dynamik, wie das zum Beispiel im Bildungswesen sichtbar wird,5 hervorgerufen hat, wird seltener beachtet. Ebenso wenig ist im Bewusstsein, dass der Konflikt religiös unbedingter Wahrheitsansprüche durch Religionsgesetzgebungen wie den Zweiten Kappeler Frieden von 1531, den Augsburger Religionsfrieden von 1555 oder den Westfälischen Frieden von 1648 rechtlich eingehegt wurde und damit ein wichtiges Movens der Rechtsentwicklung gewesen ist.6 Die Entstehung der Disziplin des öffentlichen Rechts an den Universitäten als eine durch die Konfessionsspaltung mitverursachte Errungenschaft ist eben auch im Bewusstsein zu bewahren.7
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Die folgenden Ausführungen finden sich eingehender entfaltet in: CHRISTOPH STROHM: Kulturwirkungen des Christentums? Betrachtungen zu Thomas Karlaufs Stauffenberg und Jan Assmanns Totaler Religion, Tübingen 2021, 1–13. Vgl. zum Beispiel TILMANN BENDIKOWSKI: Der deutsche Glaubenskrieg. Martin Luther, der Papst und die Folgen, München 2016. Am Beispiel des Bildungswesens in Schlesien: CHRISTINE ABSMEIER: Das schlesische Schulwesen im Zeitalter der Reformation. Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons (Contubernium 74), Stuttgart 2011; vgl. CHRISTOPH STROHM: Die produktive Kraft konfessioneller Konkurrenz für die Rechtsentwicklung, in: DERS. (Hg.): Reformation und Recht. Zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, Tübingen 2017, 131–171; TOBIAS DIENST: Konfessionelle Konkurrenz. Gelehrte Kontroversen an den Universitäten Heidelberg und Mainz (1583–1622) (SMHR 118), Tübingen 2022. Vgl. MARTIN HECKEL: „Zelo domus Dei“? [2006], in: DERS.: Gesammelte Schriften. Staat – Kirche – Recht – Geschichte, Bd. 6 (JusEccl 100), Tübingen 2013, 199–230, bes. 227; DERS.: Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“ (JusEccl 114), Tübingen 2016, 33–43. Vgl. MICHAEL STOLLEIS: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, 126–146.155f.394f.; CHRISTOPH STROHM: Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit (SMHR 42), Tübingen 2008, 315–438.
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Christoph Strohm
Repräsentativ für die Wertungen, die unter Gebildeten und für die Deutung der Geschichte Verantwortlichen vorherrschen, dürfte ein an charakteristischer Stelle formuliertes Urteil Günter Grass’ sein. Als er anlässlich der Abiturfeier des Jahrgangs 2009 an der Paul-Natorp-Oberschule in Berlin eine Rede zum Thema „Mündig sein“ hielt, ging es auch um die Frage, wie es zum Verfall der Weimarer Republik und zur Etablierung der Diktatur kommen konnte. Die Rolle der Kirchen wird nur mit einem Satz erwähnt: „Beide christliche[n] Kirchen haben sich nahezu widerstandslos angepasst.“8 Das ist natürlich eine unzureichende Bewertung, der es an differenziertem Urteil mangelt. Ein aussagekräftiges Indiz für die vorherrschend negative Wahrnehmung der kulturellen Folgen des Christentums ist die umfassende, mitunter euphorische Rezeption der Thesen des Ägyptologen Jan Assmann zu einem angenommenen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang von alttestamentlichem Monotheismus und einer gewaltaffinen Sprache.9 In zahlreichen Schriften hat er diesen entfaltet, modifiziert und spekulativ ausgedeutet.10 Die Anweisungen des Mose zur brutalen Bestrafung der Verehrer des Goldenen Kalbs nach Ex 32,26– 29 werden als „kulturelle Semantik“ bezeichnet, die Teil des kulturellen Gedächtnisses der westlichen Moderne geworden sei.11 Auch wenn es sich um sehr weit gehende Theoriebildungen mit unpräzisem methodischen Zugriff handelt, findet kaum eine kritische Diskussion solcher Großthesen in der allgemeinhistorischen Forschung statt.12 Die vorherrschend negative Wahrnehmung der Kulturwirkungen des Christentums ist Folge vermehrter Forschung und vertiefter Kenntnis in den Geschichtswissenschaften. Sie ist aber zugleich auch schlichter Ausdruck der verstärkten Wahrnehmung problematischer Gestalten von Religion in der Gegenwart. Man muss fast wöchentlich Gewalttaten, die im Namen der Religion begangen werden, zur Kenntnis nehmen. Auch wenn das Phänomene sind, die zumeist außerhalb Europas zu beobachten sind, prägen sie ebenso die Wahrnehmung der Religion in Mitteleuropa, wo sich das Christentum im Lauf der Jahrhunderte zu einer Gemeinwesen-kompatiblen Religionsform, einer im Vollsinn des Wortes ‚civilisierten‘ Religion entwickelt hat. Eine wachsende Dynamik erlangt die grundlegende Neubewertung der kulturellen Folgen des Christentums in den sog. Postcolonial Studies seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Diese Forschungsrichtung ging ursprünglich aus einer Literatur- und Kulturkritik, die sich eng am Poststrukturalismus orientierte, hervor. Hier wird das Christentum im Kontext einer historischen Kolonialis8 9 10
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DIE ZEIT, Nr. 29 vom 9. Juli 2009, 63. Zur Rezeption der Thesen Assmanns vgl. STROHM: Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 104–114. Vgl. bes. JAN ASSMANN: Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 32018. Vgl. Strohm, Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 114–119. Darstellung und kritische Auseinandersetzung a. a. O., 89–192.
Kulturwirkungen des Christentums
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musanalyse wahrgenommen.13 Es geht nicht nur um die kolonisierten Regionen, sondern das Interesse gilt ebenso dem kolonialisierenden Europa. Das kulturell wirksame Christentum wird fast ausschließlich als Teil asymmetrischer Machtkonstellationen und hierarchischer Repräsentationen, die es zu dekonstruieren gilt, gedeutet. Die Vielfalt der kulturellen Folgen des Christentums gerät angesichts einer Ausrichtung auf die Überwindung eurozentrischer Wissensordnungen und Repräsentationssysteme aus dem Blick. Sprach- und wirkkräftig hat der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe die Folgen dieses Geschichtsbildes auf den Begriff gebracht. In seinem Werk Kritik der schwarzen Vernunft wird die Welt des Sklavenhandels und der Plantagen- oder Bergbaukolonien zum „Taufbecken unserer Moderne“ erklärt.14 Die kulturellen Folgen nicht nur des Christentums, sondern auch der westlichen Aufklärung können hier nurmehr mit sehr verengtem Blick wahrgenommen werden.
4.
Kulturgeschichtliche Wirkungen von Bibeltexten als Forschungsdesiderat
Die Neuausrichtung der Fragestellungen betrifft primär die kirchengeschichtliche Forschung, weniger die kirchengeschichtliche Lehre. Die Erforschung der klassischen kirchen- und theologiegeschichtlichen Themen wie der Trinitätslehre und der Christologie in der Alten Kirche oder der Gnaden- und Abendmahlslehre in der Reformationszeit ist im Wesentlichen geleistet. Hier besteht vergleichsweise wenig Forschungsbedarf. Anders verhält es sich mit der Lehre. Hier sind die klassischen Themen weiterhin zentraler Bestandteil des Theologiestudiums. Im Unterschied dazu hat die kirchengeschichtliche Forschung die drängenden Fragen nach den Kulturwirkungen des Christentums verstärkt zu thematisieren, und zwar in einem Religions- bzw. Konfessions-vergleichenden Zugriff. Lassen sich zum Beispiel Zusammenhänge zwischen einzelnen Religionen oder Konfessionen und verstärkter Gewaltbereitschaft aufzeigen? Halten die erwähnten, außerordentlich wirkungsreichen diesbezüglichen Deutungen Jan Assmanns einer methodisch klaren historiographischen Überprüfung stand? Ein zentraler Bestandteil der Erforschung der Kulturwirkungen des Christentums ist die Wirkungsgeschichte der biblischen Texte über die theologische Lehrbildung und den Raum der Kirche hinaus. Hier besteht ein erheblicher Forschungsbedarf. Die Entstehungsgeschichte der biblischen Texte ist eingehend 13
14
Zur Übersicht vgl. HARALD FISCHER-TINÉ: Postkoloniale Studien, in: INSTITUT FÜR EUROPÄISCHE GESCHICHTE (IEG) (Hg.): Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010, URL: http://iegego.eu/de/threads/europa-und-die-welt/postkoloniale-studien/harald-fischer-tine-post koloniale-studien [Zugriff: 15.08.2022]. ACHILLE MBEMBE: Kritik der schwarzen Vernunft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff (stw 2205), Berlin 2014, 33.
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erforscht und auch die biblischen Grundlagen der kirchlich-theologischen Lehrbildung sind vielfach untersucht worden. Anders hingegen verhält es sich mit den Wirkungen biblischer Texte im Bereich der Kunst, Musik, Literatur, Sprache, politischen Theoriebildung oder der Rechtswissenschaften. Weiße Felder unerforschten Gebiets überwiegen hier auf der Landkarte. Das wichtigste Publikationsvorhaben in diesem Bereich, die seit 2009 erscheinende Encyclopedia of the Bible and Its Reception (EBR), zeigt dies auf eindrückliche Weise.15 Das Lexikon, das im Jahr 2022 beim 20. Band zum Buchstaben N angelangt ist, dokumentiert „die Geschichte der Bibelrezeption; und zwar nicht nur in den christlichen Kirchen und der jüdischen Diaspora, sondern auch im Islam, in weiteren religiösen Traditionen und in aktuellen religiösen Bewegungen, sowie in Literatur, Kunst, Musik und Film“16.
Schon diese Kurzbeschreibung weist auf die Grenzen des verdienstvollen Unternehmens, wenn nur einzelne Kulturfelder in den Blick genommen werden. Vor allem aber fehlt es bislang an den notwendigen umfassenden Einzelstudien zu kulturgeschichtlich bedeutsamen Bibeltexten. Selbst ein so zentraler Text wie Röm 13,1–7 mit der paulinischen Obrigkeitslehre ist in seinen Auswirkungen auf die politische Kultur und die Rechtswissenschaften bislang nur in Ansätzen erforscht. Die Rezeption dieses Textes in den Rechtswissenschaften am Beginn der Moderne ist ein dringendes Desiderat. Der zu erwartende Forschungsertrag sei an einem Beispiel illustriert. So hat der kurpfälzische reformierte Theologe David Pareus17 die Auslegung der Stelle in seinem zuerst 1608 gedruckten und mehrfach wieder aufgelegten Römerbriefkommentar zu einer Abhandlung verschiedener Themen der Obrigkeitslehre ausgeweitet, die knapp 150 Spalten (im Folio-Format) umfasst.18 Pareus’ Auslegung
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Hg. v. CONSTANCE M. FUREY u. a., Berlin / Boston 2009ff. [fortlaufend; bislang 20 Bde.]; https://www.degruyter.com/database/ebr/html?lang=de [Zugriff: 15.08.2022]. Ebd.; vgl. exemplarisch auch RHONDA BURNETTE-BLETSCH: The Bible in Motion. A Handbook of the Bible and Its Reception in Film (Handbooks of the Bible and Its Reception [HBR] 2), Berlin / Boston 2016. Zu Pareus vgl. GUSTAV ADOLF BENRATH: David Pareus, in: Schlesische Lebensbilder 5 (1968), 13–23; TRAUDEL HIMMIGHÖFER: Art. Pareus, David, in: NDB 20, Berlin 2001, 65f.; DAGMAR DRÜLL: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651, Berlin u. a. 2002, 433–435; Widmungsschreiben, Vorreden und andere Texte Pareus’ sowie biographische Informationen und Literatur, in: WILHELM KÜHLMANN u. a. (Hg. u. Bearb.): Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit, Abteilung I: Die Kurpfalz, Bd. 2: David Pareus, Johann Philipp Pareus und Daniel Pareus (Europa Humanistica 7), Turnhout 2010, 1–595. Vgl. DAVID PAREUS: In divinam ad Romanos S. Pauli Apostoli epistolam commentarius, quo praeter accuratam textus sacri analysin atque interpretationem, de quaestionibus controversis dubia CLXXIX. Explicantur: & antiqua Romanorum fides adversus nun-Romanista-
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von Röm 13,1–7 wurde 1612 dann als eigenständiges Werk gedruckt und ist von Juristen im 17. Jahrhundert breit rezipiert worden.19 Die Themen, die Pareus hier behandelt hat, reichen vom Widerstandsrecht über die Frage, ob die Gesetze der weltlichen Obrigkeit die Gewissen binden könnten, bis hin zum Umfang der Kompetenz weltlicher Obrigkeiten in Religionsangelegenheiten.20 Das letztgenannte Thema nimmt den größten Raum ein und hat die von Juristen und Theologen im 17. Jahrhundert entwickelte, grundlegende Unterscheidung von ius circa sacra und ius in sacra geprägt.21 Der an der Harvard University lehrende Historiker Eric Nelson hat der Wiederentdeckung der hebräischen Bibel und der rabbinischen Diskussionen über ihre Auslegung im 17. Jahrhundert mit guten Gründen einen wichtigen Beitrag zur Entfaltung der politischen Theorie im Westen zugesprochen. In einem 2010 veröffentlichten Werk The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought22 hebt er unter anderem die Relevanz der königskritischen Texte des Alten Testaments wie 1Sam 8 und deren rabbinische Auslegung hervor. Sie hätten einen „Republican Exclusivism“ befördert,23 das heißt, die Autoren, die Mitte des 17. Jahrhunderts die aristotelische Tradition der drei möglichen Herrschaftsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie zuguns-
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rum opiniones, praecipue Roberti Bellarmini Iesuitae argutias, et Thomae Stapletoni Antidota: nec non Socini, Eniedini et Ostorodii haereticorum Samosatianorum blasphemias vindicatur, Frankfurt a. M. 1608, 1285–1316.1331–1470; weitere Ausgaben: s. l. [Genf] 1609; Heidelberg 1609; Heidelberg / Frankfurt a. M. 1613; [Frankfurt]: Rosa, 1613; Genf 1617; Heidelberg 31620. Vgl. DAVID PAREUS: Quaestiones controversae theologicae, de iure regum et principum. Contra Papam Romanum, magnum illum Anti-Christum. Pro [...] principe Jacobo Dei gratia Magnae Britaniae, Franciae et Hiberniae rege, fidei defensore: adversus Bellarminum, Becanum et id genus alios Pontificiae aulae parasitastros, Amberg 1612; vgl. DERS.: De potestate ecclesiastica et civili propositiones theologico-politicae. Earundemque vindicatio, pietatis ergo instituta a Philippo Pareo, Frankfurt a. M. 21633. „1 An Papa & Clerus debeat esse subiectus potestati ciuili?“, „2 Vtrum Papa Rom. sit potestas supereminens supra reges & principes?“, „3 An omnis potestas sit à Deo ordinata?“, „4 An & quatenus licitum sit resistere potestatibus, & Pontifici Romano?“, „5 De potestate magistratus ciuilis circa religionem, an sit aliqua, & qualis?“, „6 An Ecclesia habeat ius gladij: seu an gladius in Ecclesia Christi esse, & exerceri vindicando & belligerando à Christianis debeat?“, „7 An leges Magistratus ciuilis conscientias obligent: & si hae obligant, an etiam leges & traditiones Ecclesiasticae obligent?“, „8 Vtrum Ecclesiastici sint exemti tributis?“ (PAREUS: Ad Romanos [s. Anm. 18], 1608, fol. **ivr). Vgl. JOHANNES HECKEL: Cura religionis, ius in sacra, ius circa sacra [1938]. Sonderausgabe (Libelli 49), Darmstadt 1962, 53–58.72–74; CHRISTOPH STROHM: Kompetenz weltlicher Obrigkeit in Religionsangelegenheiten. Entstehung und Wirkung von David Pareus’ Überlegungen zum Ius circa sacra, in: ROBERT VON FRIEDEBURG / MATHIAS SCHMOECKEL (Hg.): Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert. West- und mitteleuropäische Entwicklungen (Historische Forschungen 105), Berlin 2015, 67–83. Vgl. ERIC NELSON: The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought, Cambridge (MA) / London 2010. Vgl. a. a. O., 23–56.
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ten einer ausschließlichen Wertschätzung republikanisch-demokratischer Herrschaftsgestaltung aufgegeben haben, seien durch die Renaissance der hebräischen Bibel Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst worden.
5.
Wider das Verschwinden von Religion und Christentum aus der Erforschung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus
Die kulturellen Wirkungen des Christentums sind anhand der Auslegungsgeschichte einschlägiger Bibeltexte zu erforschen. Sie sind darüber hinaus insbesondere dort herauszuarbeiten, wo sie nicht sowieso offenkundig sind. Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistoriker haben sich angesichts der eingangs beschriebenen Defizite hier verstärkt in das Gespräch mit der allgemeinhistorischen Forschung einzubringen. Die Notwendigkeit sei an der Erforschung des Widerstands gegen Hitler exemplarisch gezeigt.24 Anlässlich der 75-jährigen Wiederkehr des Attentats vom 20. Juli 1944 im Jahr 2019 erschien eine neue Biographie des zentralen Akteurs Claus Schenk Graf von Stauffenberg.25 Der Autor Thomas Karlauf, der auch den Hauptvortrag auf der Gedenkveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche am 20. Juli 2019 hielt,26 spricht darin Stauffenberg moralische oder religiöse Motive für seinen Entschluss zum Widerstand ab und stellt das Attentat als einen allein militärischer Logik geschuldeten Militärputsch dar. Angesichts der drohenden Niederlage infolge einer katastrophalen militärischen Führung durch den Oberbefehlshaber Hitler hätte gerettet werden sollen, was noch zu retten war. Karlaufs Stauffenberg-Deutung steht exemplarisch für die Entwicklungen der Forschungsgeschichte zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die ersten Darstellungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit suchten der noch weiterwirkenden nationalsozialistischen Verunglimpfung in Gestalt der Rede von Stauffenberg als Kopf einer „kleinen ehrgeizigen und verbrecherischen Clique von Offizieren“ zu begegnen.27 Sie gingen Hand in Hand mit den Bemühungen, durch den Rückgriff auf ‚das andere Deutschland‘ einen Beitrag zur Entwicklung der politischen Kultur Westdeutschlands in der Nachkriegszeit zu leisten. Hier stand die Herausarbeitung der ethisch-moralischen Beweggründe und die reli24 25 26
27
Das Folgende nimmt Ausführungen aus STROHM: Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 15–87, auf. Vgl. THOMAS KARLAUF: Stauffenberg. Porträt eines Attentäters, München 2019. Vgl. THOMAS KARLAUF: Gewissen und Auflehnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 166 vom 20. Juli 2019, 9. HANS ROTHFELS: The German Opposition to Hitler, Hinsdale (Ill.), 1948; deutsch in erweiterter Fassung: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Krefeld 1949; Frankfurt a. M. 31969.
Kulturwirkungen des Christentums
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giöse Orientierung im Vordergrund. Buchveröffentlichungen trugen den Titel Aufstand des Gewissens,28 Das Gewissen steht auf,29 Das Gewissen entscheidet30 oder Die Vollmacht des Gewissens.31 Ende der 1960er Jahre erfolgte eine grundsätzliche Revision der bis dahin stark an der ethisch-moralischen Motivation interessierten Erforschung des Widerstands.32 Eine Generation jüngerer Historiker konnte – auch biographisch bedingt – mit der Betonung ethischer Motivation und religiöser Bindungen wenig anfangen. Hans Mommsen, Hermann Graml und andere wandten sich gegen die „moralische Akzentuierung“ und „politische Zweckgerichtetheit“ der bisherigen Widerstandsforschung.33 Den diagnostizierten „Monumentalisierungstendenzen“ wollte man mit einer als notwendig erachteten „Entmythologisierung“ begegnen.34 Der bürgerliche und aristokratische Widerstand wurde lediglich „als ein Spezialfall des Verhaltens traditioneller Machteliten in einer geschichtlichen Umbruchsituation […], die durch tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Wandel gekennzeichnet war“, gedeutet.35 Die sogenannte nationalkonservative Opposition sei als „ein differenziertes Konfliktphänomen innerhalb der Entente gewisser traditioneller Elitegruppen mit der Führung der NS-Massenbewegung“ zu beschreiben.36 Gewissensentscheidungen, moralische Antriebe und religiöse Bindungen haben in dieser Bewertung des Widerstandes nur eine ganz marginale Bedeutung; denn der leitende Gesichtspunkt ist, das Verhalten des 28
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Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933– 1945. Im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford / Bonn o. J. [1984]. ANNEDORE LEBER: Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945, Berlin / Frankfurt a. M. 1954. ANNEDORE LEBER (Hg.): Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstandes von 1933–1945 in Lebensbildern, Berlin / Frankfurt a. M. 1957. Die Vollmacht des Gewissens, hg. von der Europäischen Publikation e. V., München 1956. Vgl. PETER STEINBACH: Der Widerstand als Thema der politischen Zeitgeschichte. Ordnungsversuche vergangener Wirklichkeit und politischer Reflexionen [1986], in: DERS.: Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen. Ausgewählte Studien, Paderborn u. a. 1994, 39–102; GERD R. UEBERSCHÄR (Hg.): Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994; weitere Literatur in: KLAUS-JÜRGEN MÜLLER / HANS MOMMSEN: Der deutsche Widerstand gegen das NS-Regime. Zur Historiographie des Widerstandes, in: KLAUS-JÜRGEN MÜLLER (Hg.): Der deutsche Widerstand 1933–1945, Paderborn (1986) 21990, 13–21.214–219, hier: 214f. So die Charakterisierung a. a. O., 13. Vgl. a. a. O., 16. Anstelle der Motive suchte man jetzt die politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen des sogenannten nationalkonservativen Widerstandes und die ihnen zugrundeliegenden politischen und geistesgeschichtlichen Traditionen herauszuarbeiten. KLAUS-JÜRGEN MÜLLER: Der nationalkonservative Widerstand 1933–1940, in: DERS. (Hg.): Der deutsche Widerstand (s. Anm. 32), 40–59.222–225, hier: 40. A. a. O., 43.
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sogenannten nationalkonservativen Widerstandes als „Reaktion von Elitegruppen“ zu begreifen, die „in einem säkularen politisch-gesellschaftlichen Wandlungsprozeß ihre angestammten Positionen in Staat und Gesellschaft bedroht sahen“.37 Karlauf entwickelt die strukturgeschichtliche Deutung weiter, indem er Stauffenbergs Zugehörigkeit zum Offizierskorps ins Zentrum seiner Erläuterungen stellt. Von da her, das heißt, von den Gesichtspunkten militärischer Rationalität aus, ist sein Widerstandshandeln zu deuten. Zwar wird auch Stauffenbergs adlige Herkunft am Rande in Rechnung gestellt. Das selbstverständliche katholische Christentum der Familie, die ökumenisch orientierte und zugleich bewusst evangelische Haltung sowohl seiner Mutter als auch seiner Frau, regelmäßige Praxis des Tisch- und Abendgebets, Gottesdienstteilnahme in der Patronatskirche und viele andere Hinweise auf christliche Prägungen und Einflüsse werden jedoch übersehen bzw. nicht ernstgenommen.38 Stattdessen wird Stauffenbergs Ablehnung ostentativer frommer Rede und biblizistischen Argumentierens als Begründung für eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber dem Christentum gewertet. Karlaufs Darstellung liegt ein unterkomplexer, verzerrter Begriff von Religion bzw. Christentum zugrunde. Indizien für Prägungen und Einflüsse des Christentums können nicht wahrgenommen werden, weil es als ein Phänomen biblizistischer Gesinnungsreligion verstanden ist. Kirchenhistorische Kompetenz hat hingegen auf die Vielgestaltigkeit des Christentums in der Geschichte zu verweisen. Nicht nur ‚bekenntniskirchliche‘ Formen, sondern gerade auch volkskirchliche Konstellationen entfalten eine große Breitenwirkung. So kann man bei vielen am Widerstand gegen Hitler Beteiligten feststellen, dass sie zwar nicht im engeren Sinn kirchlich engagiert oder in den ‚Kirchenkampf‘ involviert gewesen sind. Zugleich haben sie jedoch die Auseinandersetzungen um Kirche und Bekenntnis genau beobachtet und am Ende des Dritten Reiches vom Christentum wesentliche Impulse für eine moralische Erneuerung und den Wiederaufbau erwartet. Auch spielen die Sprache, die Bilder und die Geschichten der Bibel eine zentrale Rolle bei der eigenen ethisch-moralischen Selbstklärung. Henning von Tresckows Formulierung, dass das Attentat, koste es, was es wolle, stattfinden müsse, damit – in Entsprechung zu den zehn Gerechten in Sodom nach 1Mose 18 – wenigstens ein paar Gerechte in Deutschland gefunden werden
37
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Vgl. MÜLLER / MOMMSEN: Der deutsche Widerstand (s. Anm. 32), 20. Der wichtigste Ertrag dieser Forschungen war die Herausarbeitung der erheblichen Differenzen der Gesellschaftsvorstellungen im bürgerlichen und militärischen Widerstand zu westlich ausgerichteten Demokratiekonzeptionen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit (vgl. bes. HANS MOMMSEN: Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes [1966], in: HERMANN GRAML [Hg.]: Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten, Frankfurt a. M. 1984; Neuausgabe 1994, 14–91.244–253). Vgl. die Belege in: STROHM, Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 51–72.
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könnten, ist nur das bekannteste von vielen Beispielen. „Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.“39 Der Stauffenberg im Widerstand gegen Hitler eng verbundene Vetter Peter Graf Yorck von Wartenburg schrieb seiner Frau nach dem gescheiterten Attentat: „Daß Gott es so gefügt hat, wie es gekommen ist, gehört zu der Unerforschlichkeit seiner Ratschlüsse, die ich demutsvoll annehme. Ich glaubte mich durch das Gefühl der alle niederbeugenden Schuld getrieben und reinen Herzens.“40
Zugleich ergab sich eine Deutung des eigenen Weges als eine Art Sühnopfer. Die Schuld des eigenen Volkes und damit die Gottesferne der Gegenwart sollte, wie Yorck von Wartenburg formuliert, so wenigstens „ein Quentchen“ verringert werden.41 Naturgemäß sind so gut wie keine Quellen, die Auskunft über den Entschluss zum Widerstand geben, erhalten. Bei Stauffenberg ist das Fehlen bzw. die Vernichtung der Quellen noch gravierender als bei den meisten anderen am Widerstand Beteiligten. So muss der Historiker auf vergleichbares Quellenmaterial zurückgreifen. Karlauf tut das, indem er Stauffenberg im Kontext des Offizierskorps darstellt. Da hier aber nur ein kleiner Teil den Weg in den Widerstand gegangen ist, sollten besser Zeugnisse anderer am Widerstand Beteiligter wie zum Beispiel Yorck von Wartenburg oder Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg zur Deutung herangezogen werden. Beide waren die wohl engsten Gesprächspartner in den letzten Wochen vor dem Attentat. Bei beiden lässt sich am Ende 39
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Zit. in: BODO SCHEURIG: Henning von Tresckow, in: GRAML (Hg.): Widerstand im Dritten Reich (s. Anm. 37), 230–238, hier: 238. Peter Yorck von Wartenburg an seine Frau, August 1944, abgedruckt in: HANS-ADOLF JACOBSEN (Hg.): „Spiegelbild einer Verschwörung“. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, 2 Bde., Stuttgart-Degerloch 1984; Neudruck Stuttgart 1989, 789. Auch Helmuth James Graf von Moltke spricht von einer „Blutschuld, die zu unseren Lebzeiten nicht gesühnt und nie vergessen werden kann“. „Werden die Männer aufstehen, die imstande sind, aus dieser Strafe die Busse und Reue und damit allmählich die neuen Lebenskräfte zu destillieren?“ (HELMUTH JAMES VON MOLTKE: Briefe an Freya 1939– 1945, hg. v. BEATE RUHM VON OPPEN, München 1988, 278 [26. August 1941]). Vgl. auch a. a. O., 307f. [21. Oktober 1941] und 317 [13. November 1941]; zu entsprechenden Formulierungen bei Schulenburg vgl. den Brief an seine Frau vom 23. April 1942, zit. in: ULRICH HEINEMANN: Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli, Berlin 1990; Neuausgabe 1994, 97. „Mein Tod, er wird hoffentlich angenommen als Sühne aller meiner Sünden und als Sühnopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen. Die Gottesferne unserer Zeit möge auch zu einem Quentchen durch ihn verringert werden. Auch für meinen Teil sterbe ich den Tod fürs Vaterland […]. Die Lebensfackel wollten wir entzünden, ein Flammenmeer umgibt uns, welch ein Feuer“ (Yorck von Wartenburg an seine Frau, August 1944, abgedruckt in: JACOBSEN [Hg.]: „Spiegelbild einer Verschwörung“ [s. Anm. 40], 792).
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des Dritten Reiches eine Entwicklung nachweisen, die auch bei anderen am Widerstand Beteiligten zu beobachten ist: die Verdichtung eines eher volkskirchlichen Christentums zu einem stärker bekenntniskirchlichen Christentum.42 Auch Karlauf muss über eine rein strukturgeschichtliche Deutung des Widerstandshandelns Stauffenbergs hinausgehen. Mangels Kompetenz und eines geeigneten methodischen Zugriffs stellt er aber nicht traditionelle religiös-moralische Prägungen und Einflüsse in Rechnung. Vielmehr greift er auf das ihm selbst gut vertraute,43 pseudoreligiös aufgeladene Ethos des Dichters Stefan George zurück. Das von diesem propagierte elitäre „Tat-Ethos“ habe eine entscheidende Rolle beim Entschluss zum Attentat gespielt. Stauffenberg, der in jungen Jahren zum Anhänger des Dichters Stefan George geworden war, sei von diesem hierzu angeregt und geschult worden.44 Ohne Georges prägenden Einfluss erscheint der Schritt zum Attentat nicht erklärbar. Karlauf kann sogar die pointierte Rede von George als „geistigem Urheber“ des Attentats vom 20. Juli 1944 aufnehmen. „Wenn es einen geistigen Urheber des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 gegeben hat, dann war es Stefan George. Niemand sonst hat Claus Schenk Graf von Stauffenberg so geprägt, intellektuell geformt wie jener Dichter, der die Tat forderte, um das Neue Reich zu verwirklichen.“45
Ein Einfluss Georges’ ist durchaus plausibel. Nur kann und sollte man ihn anders gewichten. Das elitäre, die Weimarer Demokratie verachtende, pseudoreligiöse Reichsdenken Georges dürfte Stauffenbergs Distanzierung vom Nationalsozialismus eher erschwert als gefördert haben.46 Vor allem aber darf er nicht zu einer Unterschätzung der Einflüsse und Prägungen, die die Präsenz des katholischen Christentums in Stauffenbergs Leben bedeuteten, führen. Kirchengeschichtliche 42 43
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Zu dieser Deutung vgl. STROHM: Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 76–85. Karlauf war nach seinem Abitur seit 1974 zehn Jahre lang Mitglied des in den 1940er Jahren von Wolfgang Frommel gegründeten George-Kreises Castrum Peregrini in Amsterdam. Vgl. STROHM: Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 37–51. KARLAUF: Stauffenberg (s. Anm. 25), 292f., unter Aufnahme eines Zitats aus: ULRICH WILDT: Ethos der Tat. Claus Graf Schenk Graf von Stauffenberg, in: URSULA BREYMAYER / BERND ULRICH / KARIN WIELAND (Hg.): Willensmenschen. Über politische Offiziere, Frankfurt a. M. (1999) 22000, 134–152, hier: 134. Der Vorabdruck einer Passage des Werkes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist wie folgt überschrieben: „Ethos der Tat. Wenn es einen geistigen Urheber des Hitler-Attentats am 20. Juli 1944 gab, dann war es Stefan George. Niemand hat Claus von Stauffenberg so geprägt wie der Dichter“ (THOMAS KARLAUF: „Stauffenberg“ – Vorabdruck: Ethos der Tat, in: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/stauf fenberg-vorabdruck-ethos-der-tat-16078949.html [aktualisiert am 9.3.2019; Zugriff: 15.08.2022]). Vgl. ähnlich STEVEN KROLAK: Der Weg zum Neuen Reich. Die politischen Vorstellungen von Claus Stauffenberg – Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Widerstands, in: JÜRGEN SCHMÄDEKE / PETER STEINBACH (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München / Zürich (1985) 21994, 546–559, hier: 546f. Vgl. STROHM: Kulturwirkungen (s. Anm. 3), 37–51.85f.
Kulturwirkungen des Christentums
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Forschung sollte sich der Gefahr einer Überbewertung religiöser oder moralischer Aspekte in der Widerstandsforschung bewusst sein, aber heute ist die dem gegenwärtigen Zeitgeist geschuldete Verflüchtigung religiöser Bindungen bei der Deutung früherer Epochen das größere Problem.
6.
Zum Verhältnis von kirchen- und allgemeingeschichtlicher Forschung47
Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistoriker wenden die gleichen Methoden wie Allgemeinhistoriker an. Auch die Fragestellungen sind nicht grundsätzlich verschieden, sondern überschneiden sich weitgehend. Das verbindet den Kirchenhistoriker zum Beispiel mit dem Wirtschaftshistoriker oder der Militärhistorikerin. Besonderes Interesse gilt der Entwicklung der Lehrbildung der Kirche, der Auslegungsgeschichte der Bibel, den Soziallehren des Christentums, der institutionellen Ausgestaltung sowie dem Verhältnis von Kirche und Staat bzw. der Rolle des Christentums im weltlichen Gemeinwesen. Darüber hinaus werden – wie skizziert – gerade in jüngerer Zeit verstärkt die kulturellen Wirkungen der verschiedenen Konfessionen und Christentümer untersucht. Das Spezifische des Kirchenhistorikers im Vergleich zur Allgemeinhistorikerin ist vor allem der Sachverhalt, dass er zugleich als Theologe ausgebildet ist. Das führt unmittelbar zum Spezifikum der wissenschaftlichen Arbeit des Kirchenhistorikers, der nicht nur Historiker, sondern auch Theologe ist. Als Theologe sucht er an der Klärung der Frage mitzuwirken, welche Bedeutung, Relevanz und Gestalt das christliche Erbe in der Gegenwart hat. Das erfolgt in zweifacher Weise, in kritischer und in konstruktiv-bekräftigender Weise. Kritischer Einspruch ist zu erheben, wenn die Aktualisierung christlicher Lehre durch die systematische oder praktische Theologie historiographischer Erkenntnis zuwi47
Aus der Fülle der diesbezüglichen Literatur sei genannt: WOLFRAM KINZIG / VOLKER LEPPIN / GÜNTHER WARTENBERG (Hg.): Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004; CHRISTOPH MARKSCHIES: Kirchengeschichte theologisch – einige vorläufige Bemerkungen, in: INGOLF U. DALFERTH (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 47–75; KLAUS FITSCHEN: Profane Kirchengeschichte? Ortsbestimmung einer theologischen Disziplin, in: MEKGR 60 (2011), 402–407; WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE: Auf dem Weg zu einer historischen Theorie der Moderne. Überlegungen zur Kirchengeschichte als Wissenschaft, in: BERND JASPERT (Hg.): Kirchengeschichte als Wissenschaft, Münster 2013, 162– 181; WOLFRAM KINZIG: Wie theologisch ist die „Historische Theologie“? Bemerkungen zur Geschichte eines Begriffs und seiner heutigen Bedeutung, in: KLAUS FITSCHEN (Hg.): Kirchengeschichte und Religionswissenschaft. Methoden und Fallstudien (AKThG 51), Leipzig 2018, 49–92; vgl. auch die jüngst erschienene zusammenfassende Darstellung in: TOBIAS JAMMERTHAL u. a.: Methodik der Kirchengeschichte. Ein Lehrbuch, Tübingen 2022, 1–16.
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derläuft. Der Kirchenhistoriker, der zugleich Theologe ist, sollte sich jedoch nicht mit der kritischen Pose vom Katheder herab begnügen. Vielmehr gehört es zu seinen Aufgaben, mit seiner historiographischen Kompetenz auch einen Beitrag zu einer sachgemäßeren Aktualisierung zum Beispiel von Martin Luthers Rechtfertigungslehre zu leisten. Ein solches Bemühen um Aktualisierung evangelischer Theologie in der Gegenwart ist Aufgabe des Theologen mit historischer Kompetenz und überschreitet das Aufgabengebiet des Historikers. Es gefährdet sogar die notwendige Ergebnisoffenheit, die den Historiker bei der Formulierung seiner Hypothesen leiten muss. Diese Herausforderung zu bedenken, gehört zu den elementaren Anforderungen der Arbeit eines Kirchenhistorikers. Angesichts seiner Doppelexistenz als Historiker und Theologe hat er gleichsam tagtäglich zu leisten, was jede Historikerin und jeder Historiker praktizieren sollte: die kritische Reflexion auf die eigene Standortgebundenheit und den Anteil der eigenen Fragestellungen an den Vorgaben des Zeitgeistes. Die skizzierten Überlegungen unterstreichen den Wert der kirchengeschichtlichen Forschung und Lehre für die Theologie insgesamt. Kirchengeschichtliche Forschung ist mehr als andere Disziplinen aufs engste mit der außertheologischen Wissenschaft, der allgemeinhistorischen Forschung, verbunden; mehr als die exegetischen Fächer mit den Altertumswissenschaften und auch mehr als die Systematische Theologie mit der Philosophie. Daraus ergibt sich ein besonderer Wert der kirchengeschichtlichen Wissenschaft für die Theologie. Die Verpflichtung, allgemeinhistorische Standards einzuhalten, schützt vor identifikationshermeneutischen Zugängen. So erinnert die Kirchengeschichte die Theologie – und das meint insbesondere die Systematische Theologie – vor entsprechenden Gefährdungen in ihrem Bereich: dem Abgleiten in modern-liberalen Reduktionismus, der Ausflucht in die Zufälligkeit biblizistischer Begründungen, der Auflösung in rhetorisch-sophistische Pseudo-Argumentationen, dem Sich-Verschanzen hinter dogmatischen Formeln oder der Illusion einer Problemlösung qua kreativer Begriffsschöpfung.
Systematisch-theologische und philosophische Aspekte
Sinngebung des Sinnlosen
Sinngebung des Sinnlosen
Überlegungen zum Aufbruch der Philosophie in der Moderne
Christoph Asmuth
CHRISTOPH ASMUTH
Aufbruch setzt den Bruch voraus oder führt ihn herbei, je nachdem. Das Wohin des Aufbrechens mag sein, was es will; macht man sich auf den Weg, entsteht ein Bruch. Er trennt das Vorher und Nachher. Daher ist der Bruch eine Grenze, an der etwas bricht und sich die Zeit wendet. Freilich wendet sich die Zeit nur selten, indem sie sich auf etwas hinwendet. Geschichtliche Zeitenwenden haben kein Ziel, sondern nur Gründe, die sich meist nur im Nachhinein erahnen und feststellen lassen. Brüche entstehen selten durch Handlungen einzelner, mächtiger Individuen, nicht durch sagenhafte Helden, sondern sind Bewegungen, ungesteuerte dynamische Prozesse, in denen das Individuum, obwohl es individuell handelt, dennoch zugleich passiv bewegt wird. Das ist immer so empfunden worden, sei es, dass der Mensch durch das blinde Schicksal oder als Effekt unvermeidlicher Streitigkeiten der Götter umhergetrieben wird, sei es, dass er durch die ‚List der Vernunft‘ oder den ‚Zeit- oder Weltgeist‘ geleitet oder auch nur durch sein Unterbewusstes gesteuert wird. Im Aufbruch kann auch etwas aufbrechen: Verkrustungen etwa, die einem Stillstand folgen, einer Lähmung der Kräfte durch Fesselungen und betäubende Ideologien. Oder alte Wunden, die aufbrechen und von neuem heilen müssen, weil sie nicht geheilt sind. Der Titel des Bandes verspricht Aufbrüche – noch dazu theologische Aufbrüche. Der folgende Beitrag verschmäht freilich die Üppigkeit des postmodernen Plurals. Er kann nur mit einem Aufbruch dienen, nicht mit vielen. Noch dazu ist dieser Aufbruch der Moderne nicht einmal typisch nur für die Theologie, sondern wohl für die gesamte kulturelle Lebenswelt. Noch schwerer wiegt, dass ich im Folgenden ganz abstrakt und holzschnittartig vom Aufbrechen spreche. Schließlich liegt der Aufbruch der Moderne in der Vergangenheit, obwohl er nachhaltig andauert. Da sind Diagnosen schwer. Überhaupt bin ich skeptisch, was die Diognosefähigkeiten der jeweiligen Gegenwart betrifft. Ich weiß nicht, ob es etwas Sinnvolles und Sinneröffnendes über die Zukunft zu sagen gibt, das mehr wäre als eine technische Prognose. Die Unbestimmtheit der Zukunft färbt auf die Gegenwart ab wie die Gegenwart auf die Vergangenheit. Man müsste wissen, was die Zukunft bringt, um bestimmen zu können, wie sich die Gegenwart
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zu dieser Zukunft verhält.1 Mit anderen Worten: Man müsste wissen, wohin die Reise geht, um den Aufbruch in seinem Ausmaß und seiner Qualität zu bestimmen, ja, um überhaupt von einem Aufbruch sprechen zu können. Man verzeihe dem Autor deshalb, dass er nicht aufs Geratewohl in die Zukunft schaut und auch nicht zu wissen vorgibt, was solch ein philosophischer oder theologischer Aufbruch oder gar deren viele in der Gegenwart sein könnten. Es fällt schwer, den eigenen Standpunkt in einer immer im Fluss bleibende Geschichte zu verorten. Theodor Lessing jedenfalls benannte sein 1919 erschienenes Buch programmatisch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Sinngebung des Sinnlosen ist, auch wenn es von Lessing nicht in dieser allgemeinen Weise gemeint war, dennoch eine äußerst zutreffende Charakterisierung der widerspruchsvollen Dynamik jener Zeitenwende, die wir als Beginn der Moderne zu bezeichnen gewöhnt sind.2 Sinngebung des Sinnlosen lässt sich, anders als bei Lessing, als Geschichte des Sinnverlustes erzählen. Dann setzt die Sinngebung des Sinnlosen den Verlust des Sinns voraus – wie der Aufbruch den Bruch. In umfassenderem Sinne ist er eine Folge des Kontingenzbewusstseins, das in der Neuzeit vorherrschend wird.3 Die teleologische Konzeption der Welt, wie sie Platon und Aristoteles der abendländischen Wissenschaftsbildung eingeimpft hatten, löste sich nach und nach auf. Entscheidend für diesen Prozess waren die methodisch verfahrenden Naturwissenschaften, allen voran die Physik, speziell die Astronomie. Die Aristotelische Konzeption hatte vorgesehen, dass alles im Kosmos auf ein inhärentes Ziel hin geordnet ist. Jedes Seiende, sei es dinglicher oder geistiger Natur, ist darauf ausgerichtet, dieses Ziel, diesen Zweck, zu erreichen oder in sich zu verwirklichen. In letzter Instanz ist dieser Zielpunkt Gott, der das telos ist, von allem und jeglichem, das existiert. Bewegungslos, weil ewig, zieht er alles an, bewegt es zu sich hin und ist insofern bewegungsloser Beweger und Ziel aller Ziele, Endzweck aller Bewegung und Entwicklung, alles Denkens, allen Tuns, aller Bewegung im Kosmos. Die Intelligenzen des Aristoteles, die garantieren, dass sich der Kosmos rational bewegt, zeigten die Orientierung auf einen göttlichen Mittelpunkt hin.4
1
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Vgl. REINHART KOSELLECK: Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose“, in: DERS.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, 203–221. Vgl. THEODOR LESSISNG: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919; vgl. dazu JOHANNES HENRICH: Friedrich Nietzsche und Theodor Lessing, Marburg 2004. INGOLF U. DALFERTH / PHILIPP STOELLGER (Hg.): Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems, Tübingen 2000; RICHARD RORTY: Kontingenz, Ironie und Solidarität, übersetzt von Christa Krüger, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. CHRISTOPH ASMUTH: Vernünftige Engel – Intelligenzen. Naturphilosophie und praktische Vernunft, in: KURT RÖTTGERS / MONIKA SCHMITZ-EMANS: Engel in der Literatur-, Philosophie- und Kulturgeschichte (Philosophisch-literarische Reflexionen 6), Essen 2004, 74– 88.
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Aristoteles war auch der erste, der die zielgerichtete Bewegung alles Lebendigen und Belebten als Kausalität fasste und sie begrifflich Zielkausalität bezeichnete. Zugleich unterschied Aristoteles die Zielkausalität (causa finalis) von der Wirkkausalität (causa efficiens), was nicht nur namentliche Verschiedenheit einschloss, sondern sachliche Unterschiede bezeichnete. Die Ursachenlehre des Aristoteles sollte stilbildend für die rational verfahrenden abendländischen Wissenschaften werden. Es lieferte ein Grundgerüst für die Erklärung natürlicher Phänomene und bildete eine metaphysische Grundüberzeugung. Allerdings war es Aristoteles noch nicht klar, dass die Ursachenlehre nicht nur eine Aufzählung verschiedenartiger Beziehungen von Ursache und Wirkung darstellte, sondern unvereinbaren Konzepten der Wirklichkeit den Boden bereitete. Während die Aristotelische Konzeption keine Schöpfung vorsah – die Welt des Aristoteles währte ewig –, musste das Christentum auf seine Offenbarungsschriften Rücksicht nehmen. Bereits in der Zeit Jesu versuchte beispielsweise Philon von Alexandria eine erste Synthese zwischen Judentum und griechischer Philosophie, die wir heute Mittelplatonismus nennen, aber nicht nur Elemente der Platonischen, sondern auch der Aristotelischen Philosophie in synthetisierter Form enthielt.5 Philon sprach sich für die Ewigkeit der Welt aus und eröffnete damit eine Diskussion, die über weite Strecken der Spätantike und des Mittelalters bis in die beginnende Moderne fortgeführt wurde.6 Das Christentum jedenfalls entschied sich im Gegensatz zu Philon gegen die Ewigkeit der Welt, damit gegen jene antike, aristotelische, platonische wie auch mittelplatonische Auffassung – und für die Schöpfungstheorie. Das Christentum konnte die Schöpfung nur denken als einen Akt Gottes. Diesem Weltanfang entsprach das Weltende in einem apokalyptischen Weltuntergang. Da ein göttliches Handeln ohne einen göttlichen Willen und weil der göttliche Schöpfungsakt nicht anders als eine vollkommene Ausführung dieses Willens vorgestellt werden konnte, entspricht die hervorgebrachte Welt aufs genaueste dem Willen Gottes. Folglich enthielt dieser Kosmos und damit alles Seiende die göttlichen Ziele und Zwecke in sich, die sich durch Leben und Geschichte hindurch entwickeln hin zu einer letzten Vollendung aller Zeiten. Alles Seiende ist deshalb hingeordnet auf eine letzte vollkommene Weltversion, in der die göttlichen Zwecke erfüllt sind und die Welt vernünftig ist, weil dem göttlichen Willen vollkommen entsprechend. Paradigmatisch und im schärfsten Kontrast zur Formulierung Theodor Lessings weist Albertus Magnus darauf hin, dass es im Kosmos 5
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Vgl. neuerdings die Darstellung von ZE’EV STRAUS: Die Aufhellung des Judentums im Patonismus. Berlin/Boston 2019. Der Autor untersucht die Aufnahme Philons bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel. KURT FLASCH, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277: Das Dokument des Bischofs von Paris, Leipzig 1989. ZE’EV STAUSS: God, the grandfather of time: Time and the absolute in the thought of Philo of Alexandria, in: MARCUS SCHMÜCKER / MICHAEL T. WILLIAMS / FLORIAN FISCHER (Hg.): Temporality and Eternity. Nine Perspectives on God and Time, Berlin/Boston 2022, 57–87.
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nichts gibt, ja nichts geben kann, das an sich sinnlos ist. Bereits ein an und für sich sinnloses Seiendes verneint die Schöpfung aus dem Willen Gottes: „Zwecklos kann aber in der Natur und insbesondere bei den unvergänglichen Dingen, die in einer Weise immer bestehen, nichts existieren. Wenn es nämlich bei ihnen etwas Zweckloses gäbe, würde [daraus] eine Verwirrung in der ganzen Natur folgen.“7 Auf diese Weise und ganz holzschnittartig formuliert, ist die mittelalterliche Welt durch und durch vernünftig, lichtdurchflutet, vollkommen und schön. Sie ist Ausdruck des Göttlichen, daher frei von Kontingenz, an sich und in all seinen Teilen notwendig und durch Vernunft zielgerichtet. Der Mensch, als Einzelner und als Gattungswesen, ist in der Notwendigkeit der Welt einbegriffen: Er ist sinnvoller Bestandteil des übergeordnet sinnvollen Ganzen. Die Schärfe der Auseinandersetzung mit Galileo Galilei zeigt, dass es am Beginn der Neuzeit – als epochaler Ausdruck der Zeitenwende – um mehr geht als um kosmologische Theorien der Planetenbewegungen, um mehr als um die Zentrierung des Sonnensystems und deren analogischer Bedeutung: Die Physik beginnt die teleologische Konzeption der Welt zu demontieren. Die Bedrohung für das Christentum ist nicht eingebildet und enthält nichts von jener allfällig angeführten Rückschrittlichkeit, die der christlichen Dogmatik gerne angedichtet wird. Im Gegenteil: Sie ist hellsichtig, sensibel für jene mächtige Veränderung, die ihr aus der Wissenschaft droht, die sie nicht mehr abwenden kann und an der sie letztlich zerbricht. Was seit dem Spätmittelalter beginnt, ist die Umstellung der Zielkausalität auf Wirkkausalität. Die Verbindung von Ereignissen wird nicht von ihrem Ergebnis her betrachtet, sondern von ihrer Wirkursache. Beide Kausalkonzepte sind unvereinbar. Das Kontingenzbewusstsein lässt sich nicht mehr aufhalten. Das zeigt die Neuzeit in schärfster Form. Descartes, Leibniz, Spinoza: Ihre Überlegungen weisen auf, dass sie der Sinnlosigkeit, die dem Kontingenzbewusstsein der Wissenschaften entspringt, etwas entgegensetzen wollen. Sie konstruieren einen Gott der Physik, einen Gott der prästabilierten Harmonie, einen deus sive natura. Er soll Sinn stiften, wo keiner mehr ist. Aber Gott kann nicht mehr Person sein und einen Willen besitzen. Er ist nur noch der Garant für die Vernünftigkeit der Welt. Er ist nur noch dem Namen nach von der Welt verschieden, eine bloße Setzung, eine spekulative Hypothese, weit entfernt von der Selbstverständlichkeit antikaristotelischer Überzeugungen. So entfacht das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 nicht nur eine Debatte um die Theodizee, sondern in einem Zug die so anschauliche wie existenzielle Diskussion um das Ende der Teleologie. Moderne ist ein schwieriger Begriff. Im Grunde wird er nur in bestimmten Fällen überhaupt als Epochenbezeichnung benutzt. Häufiger meint man die Jetztzeit – im Gegensatz zur Vergangenheit. In meinen Überlegungen bezeichnet Moderne eine philosophische Zäsur, die mit der Aufklärung beginnt. Ich will hier 7
ALBERTUS MAGNUS: De unitate intellectus. Über die Einzigkeit des Intellekts, Stuttgart-Bad Cannstatt 2022, 43.
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jedoch keine historische oder soziologische oder politische Theorie der Moderne ins Feld führen, geschweige denn eine neue entwickeln.8 Dafür ist hier nicht nur nicht der richtige Ort, ich fühle mich dafür auch gar nicht zuständig.9 Mir geht es im Folgenden nur um einen unbedeutenden philosophischen Faden, der in diese Textur des Werdens der Moderne eingewoben ist. Speziell beziehe ich mich auf die Zeit Immanuel Kants, also die Spätaufklärung, weil diese Zäsur und ihre immanente philosophische Begründung in dieser Zeit selbst Gegenstand philosophischen Nachdenkens werden.10 Das zeigt sich auch und gerade als Kampf um die verschiedenen Kausalitätskonzepte. Zwei Felder sind hier besonders wichtig. Einerseits hatte die Skepsis David Humes das Konzept der Wirkkausalität stark beschädigt. Die strenge Verbindung von Ursache und Wirkung, die dem Konzept der Wirkkausalität zugrunde liegen und in eine Naturgesetzlichkeit münden sollten, ließen sich in der Natur nicht auffinden. Bloße Beobachtung reicht nicht hin, um einen starken Kausalzusammenhang zu beweisen. Kausalität kann nicht beobachtet werden. Beobachten lassen sich einzig aufeinanderfolgende Ereignisse. Das ist ein skeptischer Angriff auf die Zentralkategorie der neuzeitlichen Wissenschaften. Andererseits ergeben sich Probleme für das Selbstbild des Menschen, wenn alles in der Natur durch strenge Wirkkausalität determiniert ist. Der Unterschied zu antiken deterministischen Positionen besteht darin, dass hier nicht das göttliche All- und Vorherwissen den Grund der Kausalität ausmacht, sondern eine besondere Weise naturwissenschaftlichen Denkens und Erklärens. Danach läuft das Weltgeschehen unerbittlich wie eine einmal aufgezogene Uhr ab – ohne Platz für die menschliche Freiheit oder göttliche Eingriffe. Das ist ein naturwissenschaftlicher Zentralangriff auf die ethische oder moralische Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit des Menschen. Kant entwickelt eine kritische Philosophie, die diese Problemkonstellation in komplexer Weise auflöst. Kritisch ist sie, weil sie Unterscheidungen einzieht zwischen dem, was sich wissenschaftlich begründen lässt, und dem, was unbegründbare metaphysische Spekulation bleiben oder dem Glauben, d. h. dem wissenschaftlich unbegründbaren Für-wahr-Halten, vorbehalten ist und daher aus der Wissenschaft verbannt werden muss. Sie stellt die Wirkkausalität auf ein sicheres Fundament und zeigt, wie Freiheit gedacht werden kann, die nicht mit dem Kausaldeterminismus in Konflikt gerät. Der Preis dafür ist hoch. Mit Kant 8
9 10
Vgl. JÜRGEN HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 11985; ANTHONY GIDDENS: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1996; ANDREAS RECKWITZ: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; ZYGMUNT BAUMANN: Moderne und Ambivalenz. Hamburg 1992; KLAUS LICHTBLAU: Transformationen der Moderne, Berlin 2002; NIKLAS LUHMANN, Beobachtungen der Moderne, Wiesbaden 2 2006. Vgl. JÜRGEN HABERMAS: Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Berlin 2019. Vgl. REINHART KOSELLECK: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Berlin 152021.
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und später Johann Gottlieb Fichte wird klar, dass Gott keine naturwissenschaftliche Größe mehr sein kann. Er spielt gar keine Rolle mehr in der Erklärung der Natur. Er hat keinen Einfluss mehr auf eine Theorie der Schöpfung. Die Zweckhaftigkeit der Welt wird zur Zweckmäßigkeit teleologischer Urteilskraft, und daher in das als allgemein und nicht als individuell verstandene Subjekt verlegt. Sinnstiftung muss aus dem Subjekt kommen. Der Begriff des Subjekts ist ein philosophisches Kunstwort. In der Grammatik ist es früh benutzt worden und ist dann wohl erst im 18. Jahrhundert mit der Philosophie Kants zu jener besonderen Konjunktur gelangt, die sich bis heute – affirmativ oder polemisch – durchzieht. Allerdings ist diesem Begriff eine gewisse Verkehrung seines Sinns zugestoßen. Das Subjekt hieß zunächst soviel wie das Zugrundeliegende: subiectum war eine mögliche Übersetzung des Aristotelischen Begriffs des hypokeimenon, des Zugrundeliegenden. Erst in der Zeit Kants gewinnt der Begriff eine Bedeutung, die ihn in die Nähe der modernen Subjektivität rückt. Auch hier bedeutet er etwas Grundlegendes. Dies ist mit Beginn der Neuzeit nicht mehr das Ding (ens), das mit allen seinen Eigenschaften in eine durch Gott geschaffene und garantierte Ordnung gestellt ist, sondern der Mensch, genauer, diejenige Seite des Menschen, die allgemeine, transindividuelle Kompetenzen erwerben und dauerhaft erhalten kann: die Vernunft. Seit der Zeit Kants aber geistert der Begriff Subjekt durch das philosophische Unterholz und ist eine kaum fixierbare Größe. Der Subjektbegriff, wie er anfänglich in der kritischen Philosophie bei und nach Kant gebraucht wurde, ist abstrakt. Er hat einen fast technischen Sinn: Er bedeutet zunächst das Erkennende. Hier fällt zunächst auf, dass es wohl keine Gelegenheit gibt, einen Satz zu äußern wie: „Das Erkennende fühlt sich einer Gewalt ausgesetzt.“ Es ist klar: Wenn man vom Erkennenden spricht, dann fehlt jede praktische Dimension, es fehlt jegliche Handlungsdimension. Jemand, der Gewalt erfährt, braucht einen Körper, muss sich entschließen können, hat etwas gelernt, etwas habitualisiert, muss leiden können. Alles dies sind Eigenschaften, die dem nackten und abstrakten Begriff des Subjekts gar nicht zukommen. Das Erkennende ist ferner offensichtlich ein Relationsbegriff; es fordert ein Objekt, ein zu Erkennendes. Erst in dieser Grundrelation und nur in dieser macht es Sinn, von einem Erkennenden, einem Subjekt, zu sprechen.11 Schließlich ist das Subjekt, wie es uns in der transzendentalen Urteilstheorie Kants entgegentritt, kein Begriff, der Einzahl oder Mehrzahl zuließe. Man kann nicht sagen, ein Subjekt erkennt etwas. Es ist auch nicht möglich von Subjekten zu sprechen, als gäbe es etwa mehrere. Das transzendentalphilosophische Subjekt ist transnumerisch. Ohne Beziehung zu Einzahl und Mehrzahl ist der Begriff des Subjekts sehr abstrakt, d. h., es fehlen ihm viele konkretisierende Bestimmungen. Das ist wichtig, weil gerade diese Unterbestimmtheit des Begriffs Subjekt beispielsweise von 11
Vgl. CHRISTOPH ASMUTH: „Ich suchte, und fiel stets tiefer in das Labyrinth“. Fichte und der Faden der Ariadne, in: Revista de Estud(i)os sobre Fichte, 13 (2017), http://ref.revues. org/423 (letzter Zugriff 07.09.2022).
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Kant strategisch genutzt wird, indem er im Subjektbegriff alle Möglichkeitsbedingungen vereinigt, welche die Erkenntnis eines endlichen Vernunftwesens überhaupt betreffen. Ein solches transzendentales Subjekt ist nicht aus lauter übermütigem Intellektualismus abstrakt und körperlos, sondern aus klaren wissenschaftstheoretisch notwendigen Gründen und immer bezogen auf seine Begründungsfunktion. Daher ist es auch in dieser begrifflichen Konstruktion des Begriffes ‚Subjekt‘ nicht möglich, ihm unmittelbar politische oder gesellschaftliche Leistungen zuzumessen oder abzusprechen. Es kann auch nicht verloren gehen oder unter Druck gesetzt werden. Es kann in seiner Unbestimmtheit nicht Opfer von Gewalt und Unterdrückung werden. Es kann weder Mann noch Frau noch ein Drittes sein. Diese Dimensionen menschlicher Existenz betreffen in dieser Konstruktion des Begriffs nicht das Subjekt, sondern je nachdem: das Individuum, den Bürger oder die Person – Begriffe, die in der nach-kantischen Zeit weitere Konkretisierungen des Subjektbegriffs kennzeichnen. Der Subjektbegriff kann, in einer zweiten, einer etwas bestimmteren Form, auch das Handelnde heißen. Dabei ist vorausgesetzt, dass das Handelnde auch ein Erkennendes ist, denn ohne irgendetwas zu erkennen, kann man auch nicht von Handeln sprechen. Dieses Subjekt bezieht sich aber gar nicht auf eine wirkliche Welt, in der es wirkliche Dinge zu tun hätte, sondern es enthält alle strukturellen Eigenschaften, die für ein endliches Vernunftwesen nötig sind, um überhaupt handeln zu können. Es verfügt nun zwar über eine Willens- und Neigungsstruktur und ist autonom, das heißt selbstgesetzgebend, aber diese Bestimmungen sind bei weitem zu abstrakt, als dass es eine konkrete Welt mit ihren konkreten Zwecksetzungen vor Augen haben könnte. Das ist wiederum zunächst kein Mangel: Es entspricht der Vorstellung der Philosophie Kants von einer praktischen Grundlegungsphilosophie, der es – außer der Klärung von handlungsrelevanten Grundbegriffen wie Freiheit, Wille, Neigung, Maxime und Imperativ – vor allem darauf ankommt, das philosophische Problem der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit zu lösen angesichts einer kausal determinierten physischen Welt. Kants Philosophie legt den Grundstein dafür, dass die Sinngebungskompetenzen von den objektiven Wissenschaften in die Autonomie des Subjekts verlegt werden können, und zwar zunächst bei Kant und Fichte in praktischer Hinsicht. Erst die Möglichkeit zu handeln macht aus einer an sich sinn- und bedeutungslosen Welt eine Welt, für die man Interesse haben kann. Und umgekehrt: Erst durch das Interesse an der Welt kommt es zur interesselosen Untersuchung der Weltzusammenhänge in den exakten Wissenschaften. Sie kühlen das heiße Interesse des Menschen an seiner Welt durch Messen, Quantifizieren, Funktionalisieren so weit herunter, dass sie sich objektiv erklären lässt. Hier liegt eine Umkehrung vor: Nicht die physikalische Welt bestimmt den Sinnhorizont, sondern dem Subjekt wird diese Aufgabe zugewiesen. Was bei Kant auf die Sphäre des Praktischen beschränkt bleibt, weitet sich im praktischen Idealismus Fichtes auf die Welt als Ganze aus, bei den Romantikern auf die Kunst und die Natur, bei Schelling und schließlich bei Hegel auf alle
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Bereiche der Kultur, namentlich Geschichte, Kunst, Gesellschaft, Natur und Religion. Schließlich erhalten auch die exakten Wissenschaften einen Ort in diesen Weltformungsprozessen. Sie alle speisen sich aus der Kraft des Subjektes, Sinn hervorzubringen gegen die als an sich sinnlos erkannte ‚Welt‘. Gleichzeitig werden diese Sinnkonstruktionen dynamisiert und als Prozesse dargestellt. Die Welt ist nicht, sie wird – in einer kulturellen Durchdringungsleistung. Gott ist nicht – er wird. Er ist das, was der ihm ergebene Mensch tut. Gott ist die moralische Handlung, nicht aus Pflicht, wie noch bei Kant, sondern aus Begeisterung, so Fichte. Gott ist Gefühl der Transzendenz. Bei Hegel ist Gott, das Zu-sich-Kommen des Geistes als höchste Stufe des Subjektiven. Hegel kann dieses Zu-sich-Kommen als geschichtlichen Prozess darstellen, in der Weltgeschichte, in der Geschichte der Religion, der Philosophie, der Kunst. Während sich diese philosophischen Programme bis in den Neukantianismus des 20. Jahrhunderts, bis etwa zu Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen hindurchzieht, wächst zugleich die Sensibilität für die Notwendigkeit einer Dekonstruktion des Sinns. Neben Schelling, der vielfach in dieser Richtung gelesen wird, ist vor allem Schopenhauer zu nennen. Bei ihm liegt der Welt ein irrationaler Wille zugrunde, der nur will, ohne etwas zu wollen. Kulturelle Sinnstiftungen, etwa der Philosophie und Religion, werden ebenso zurückgewiesen wie kulturelle Praktiken des gesellschaftlichen Lebens. Sie stehen alle im Dienst jenes irrationalen Willens und sind insofern bloße Epiphänomene seines Drängens und Wollens. Sie sind insofern nur Verschleierungen der unfassbaren und abgründigen Irrationalität, die hinter allen scheinbar vernünftigen Handlungen des Menschen lauert. Es entwickelt sich ein Heroismus der Wahrheit, dass es nämlich keinen Sinn in der Welt und der Geschichte gibt und dass es unmöglich ist, der Welt wieder Sinn einzuhauchen. Es ist eine Geschichte des Dekonstruktivismus, der auf unlösbare Weise mit der Entwicklung der Moderne verknüpft ist. Gegen die Brüchigkeit der Welt kann das Subjekt mit all seiner Sinnstiftungsmacht nicht bestehen und ist zum Scheitern verurteilt. Immer wieder verfängt es sich in seinem von ihm selbst erzeugten Schein. Alle sinnsetzenden Instanzen geraten unter Verdacht, bloße Täuschungen, Halluzinationen, Spiegelfechtereien zu sein, welche die Wahrheit verdecken. Diese Geschichte zieht sich in verschiedenen Linien über Richard Wagner, Nietzsche, Freud, Heidegger, Sartre, Derrida bis in die Gegenwart. Dieser Heroismus der Wahrheit ist radikal und zweischneidig. Einerseits verschafft er dem Menschen einen neuen Blick auf seine Freiheit. Er ist nun in radikaler Weise zu begreifen als transzendenzloses Wesen. Er weiß, dass sein Wesen auf Nichts gegründet ist. Er ist unabhängig und daher metaphysisch vulnerabel. Er erkennt, dass es nichts gibt, dass er begründeterweise anstreben könnte. Insofern ist er ziellos. Er ist in dieser Welt als ein Rätsel, das sich auf immer verborgen bleibt. Zugleich – und das ist die zweite Schneide – fällt die Sinnlosigkeit in die Hände der Sinnfabrikanten. Dabei ist zunächst an die großen Ideologien zu denken, die seit dem 19. Jahrhundert mit immer größer werdender
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Intensität um Begriffe wie Nation, Volk oder Rasse kreisen. Das sind insgesamt Konzepte, die sich aus vormodernen Identitäten speisen. Sie bilden Komplexe aus, in den das Ursprüngliche, das Eigentliche und das Authentische wieder hervorgeholt und ausgestellt werden. Es ist eine Sehnsucht nach der vergangenen Zeit, nach der Zeit der Klarheit, des Sinns und der gerechtfertigten Zwecke, der gesetzten Ordnung und der unangefochtenen Eliten. Es ist aber auch an die ‚Kulturindustrie‘ zu denken, die ebenfalls Sinnstiftungen initiiert. Sie schafft neue Mythen, neue Bilder, mit denen sich Menschen und Gesellschaften verstehen und verständigen können. Das Sportsystem mit seiner Vergemeinschaftungsperformanz bespielt die vielfachen Möglichlichkeiten vormoderner Identitäten. Fundamentalistische Sekten politischer und religiöser Provenienz handeln ebenfalls mit vormodernen Versatzstücken. Insgesamt hantieren diese äußerst heterogenen Bestrebungen mit zutiefst ambivalenten Tendenzen. Einerseits lehnen sie die Moderne ab, die als unauthentisch und uneigentlich verstanden wird. Andererseits beziehen sie ihre Dynamik aus der Moderne, die sie auf einfache politische Programme und Schlagwörter zurückstutzen will. Das ist in den wenigsten Fällen ‚philosophisch‘ informiert, sondern häufig zynisch an die Nischen der modernen Sinnlosigkeit adressiert. Philosophie in der modernen Welt ist Anwältin des Komplizierten. Sie bricht auf, um die einfachen Antworten zu stören, zu verstören, zu zerstören. Das ist ihre kritische Funktion. Sie kann es nicht bei vereinfachenden Thesen und Antworten belassen, weil diese in ihrer Einfachheit unwahr sind. Sie stellen die Welt nur ausschnitthaft und verkürzend dar, weil sie ihre Perspektive unzulässig einschränken auf Bruchstücke und ‚Gründe‘ einer vormodernen Welt, die sich nicht rational, d. h. in einem Prozess von Rede und Gegenrede bewährt haben. Dies ist nicht erst die Entdeckung der Moderne selbst, die eine Theorie der kommunikativen Rationalität entwickelt und für deren Institutionalisierung wirbt, sondern lässt sich mühelos schon bei Platon nachlesen. Philosophie ist in ihrem Kern λόγον διδόναι, begründende Rechtfertigung einer dialogisch verfassten, perspektivisch strukturierten Vernunft. Das Beharren auf der Irreduzibilität des Komplexen gehört zu ihrer DNA. Die Sinnstiftungsprozesse, die die Philosophie entwirft und zur Diskussion stellt, sind deshalb nicht ohne Anstrengung zu haben. Und sie sind auch nie unumstritten gültig. Philosophische Begründungen müssen sich in langen Prozessen bewähren, die sie selbst nicht unbeeinflusst lassen. Deshalb ist die Philosophie niemals, nicht einmal eine philosophische Richtung, nicht einmal das Werk einer Philosophin oder eines Philosophen, jemals fertig und zuende – und schon gar nicht vollendet. Philosophie ist deshalb immer im Aufbruch. Einige Einschränkungen stehen dem Aufbrechen der Philosophie entgegen: Zunächst ist die Disziplinierung der Philosophie zu nennen. Disziplinierung ist ein Effekt der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Der akademische Fächerkanon erweitert sich ständig und mit zunehmender Geschwindigkeit. In der Moderne ist die Ausdifferenzierung soweit gediehen, dass es einem Einzel-
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nen unmöglich ist, einen Überblick über die Wissenschaften zu erlangen. Universalgelehrte, wie Albertus Magnus oder Johann Gottfried Leibniz gibt es in der Moderne nicht mehr. Der Grund ist der enorme Spezialisierungsgrad der einzelnen Disziplinen, die – zumindest in den exakten Wissenschaften – nur durch weitreichende, weltumspannende Zusammenarbeit möglich ist. Das setzt Standardisierungen und etablierte Protokolle voraus, die eingehalten werden müssen, damit valide und akzeptierte Forschungsergebnisse zustande kommen können. Da von den exakten Wissenschaften keine Sinngebungskompetenzen erwartet werden können, sind Ausdifferenzierung und Spezialisierung kein innerwissenschaftliches Problem. Für die Philosophie – und ich glaube in diesem Fall auch für die Theologie sprechen zu können – stellt sich die Sachlage anders dar. Disziplinierung verhindert Sinngebung. Spezialistentum, auf die Spitze getrieben, ist unphilosophisch. Zwar können Philosophen keine Universalgelehrten mehr sein, aber doch Universaldilettanten. So sind sie nicht nur Anwälte des Komplizierten, sondern gleichzeitig Spezialisten für das Allgemeine – zumindest sollten sie sich ihrem Anspruch nach so verstehen. Tatsächlich aber hat die Disziplinierung die Philosophie längst eingeholt. Die Philosophie ist integraler Bestandteil des universitären Fächerkanons. Sie ist eine Disziplin unter vielen. Aber sie ist auch selbst in Unterdisziplinen eingeteilt. Philosophinnen und Philosophen sind heute weitestgehend spezialisiert. Sie schmücken sich oft genug mit der Bescheidenheit ihrer disziplinären Verpflichtungen, in deren Grenzen sie das sichere Zuhause eines Spezialisten bewohnen. Von einer Philosophie ohne Beynamen,12 für die einst Carl Leonhard Reinhold das Wort ergriff, kann keine Rede mehr sein. Nur selten wird für die Philosophie als einer undisziplinierten Disziplin eine Lanze gebrochen.13 Das führt zu der paradoxen Situation, dass die Philosophie ihr Sinnstiftungspotenzial eingebüßt hat, obwohl kritische Sinnprüfung und -stiftung ihre genuine Daseinsberechtigung ausmachen. Die Kapitualition vor dem Komlexen und Komplizierten schneidet den Weg zur Sinnfrage ab. Umgekehrt: Hier könnte ein Aufbruch stattfinden, ein Aufbruch, der die Philosophie dazu befähigte, die Grundtendenz, das Ganze zu begreifen, nicht aufzugeben, nur weil das Ganze als Ganzes nicht mehr zu haben ist. Mehr Unbescheidenheit täte not, fundamental zu denken wäre wichtig, nicht fundamentalistisch. Das Fortschreiten der exakten Wissenschaften, bei dem viele zweifeln, ob dieses Fortschreiten auch ein Fortschritt ist, geht einher mit einem fundamentalen Positivismus. Positivismus ist die Grundlage, auf der die meisten Wissen12
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KARL LEONHARD REINHOLD: Über das Fundament des philosophischen Wissens (1791); Über die Möglichkeit der Philosophie als strenge Wissenschaften (1790) (Philosophische Bibliothek, 299), Hamburg 1978, 105.132. Vgl. BURKHARD MOJSISCH / ORRIN F. SUMMERELL (Hg.): Die Philosophie in ihren Disziplinen. Eine Einführung, Bochumer Ringvorlesung Wintersemester 1999/2000 (Bochumer Studien zur Philosophie, 35), Amsterdam 2002.
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schaften beruhen. Quantifizieren, Messen, Operationalisieren – das sind die Verfahren, auf denen Wissenschaften beruhen. Sie erfassen, was da ist, die Tatsachen unserer Welt. Sie weisen jene Zeugnisse vor, die dafür sprechen, dass eine Theorie richtig ist. Eine Theorie wird bestätigt, indem die Tatsachen für sie sprechen. Dabei wird in der Wissenschaftstheorie schon seit langem diskutiert, ob jene Tatsachen, so feststehend sie zu sein scheinen, tatsächlich so unumstößlich sind und so grundlegend. Denn sie sind nicht nur Zeugnisse, sondern auch erzeugende Prozesse. Die Verfahren, die Tatsachen hervorbringen, sind perspektivisch gebunden und gar nicht frei von subjektiven Anteilen, die dem objektiven So-ist-es widersprechen. Die Instrumente, die der Positivismus gebraucht, hinterlassen ihre Spuren in den Resultaten. Quantifizieren, Messen, Operationalisieren – das sind Vermittlungsverfahren, bei denen die Form nicht vom Inhalt zu trennen ist. Tatsachen dieser Art sind deshalb weit entfernt von Evidenzen, von jenem unmittelbaren Einleuchten, von dem die Anhänger der Wahrheit träumen. Mehr noch: Dieser Positivismus verdrängt das Negative. Man bleibt bei dem, was ist, und bei dem, was sich als Tatsache herausgestellt hat. Man liest und zitiert Statistiken, man liebt Zahlen, man verweist auf Messungen, man definiert Normbereiche. Das was nicht da ist, aber da sein soll, kommt nicht vor, denn es ist keine Tatsache. Das betrifft vor allem jene Bereiche der Negativität, die sich nicht faktisch beschreiben lassen. Wir können erklären, was Schmerz ist, indem wir uns auf die Physiologie der Nervenbahnen beziehen. Was bedeutet aber Schmerz für einen Menschen? Wir können Armut definieren, durch die Abweichung vom Durchschnittseinkommen. Was bedeutet aber Armut für einen wirklichen Menschen, der niemals wirklich durchschnittlich ist? Wir können den Klimawandel durch die Erhöhung von Durchschnittswerten beschreiben; aber was bedeutet der Klimawandel für die Entwicklung einer gerechten Welt? Diese Überlegungen laufen nicht darauf hinaus, die Tatsachen als unzutreffend zu disqualifizieren, sondern zeigen auf, dass sie ein unsichtbares Defizit enthalten, weil sie etwas Wichtiges methodisch verdecken. Deshalb muss die Philosophie auch Anwältin des Negativen sein. Sie muss es zur Sprache bringen und die Rehabilitation des Negativen fordern. So zeigt sich die Philosophie im Aufbruch der Moderne als reflexives Korrektiv. Das Durcheinander ist ihr Zuhause. Sie sollte sich deshalb einmischen und ihr disziplinäres Gehege verlassen. Interesse besteht genug. Philosophieren ist nicht unmodern. Und mit ihren reflexiven Kompetenzen, ihrer Lust zur Einmischung, ihrer Tendenz zu stören und zu verstören, ihrem Willen zum Aufbrechen fügt sie sich gut in eine theologische Hochschule, die nun seit 75 Jahren selbst mitten im Aufbruch ist.
Zur theologischen Urteilskraft in der Mehrfachdauerkrise
Zur theologischen Urteilskraft in der Mehrfachdauerkrise Markus Buntfuß
MARKUS BUNTFUß
Den aktuellen Gegenwartsanalysen und Selbstverständigungsdebatten zufolge leben wir in einer Zeit der Polykrise: Kriegskrise, Flüchtlingskrise, Hungerkrise, Pandemiekrise, Klimakrise, Energiekrise, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Demokratiekrise sowie die global und gesamtgesellschaftlich weit weniger gravierende Kirchenkrise und schließlich eine von der Zunft mehr oder weniger bemerkte bzw. eingestandene Theologiekrise. Was läge angesichts dieser Mehrfachdauerkrisenlage näher, als mit einer entsprechenden Theologie der Krise zu reagieren? Was einmal funktioniert hat – könnte man meinen – taugt vielleicht auch heute wieder? Und in der Tat, die sogenannte ‚Theologie der Krise‘, wie sie in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Karl Barth, Friedrich Gogarten, Emil Brunner, Rudolf Bultmann und anderen als Reaktion und Antwort auf die Krisenerfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entworfen wurde, kann derzeit – nicht zuletzt durch ein Barth-Jahr befeuert (2019 wurde das 100-jährige Erscheinen von Karl Barths Der Römerbrief gefeiert) und aufgrund der verbreiteten Krisenstimmung unserer Tage – zumindest bei theologischen Insidern und verunsicherten Kirchenleitungen wieder auf eine gewisse Resonanz hoffen und erfährt von verschiedenen Seiten den Versuch einer Revitalisierung. Die Ansichten darüber, ob eine Theologie der Krise, die der religiösen Interpretation der Weltwirklichkeit den Abschied gibt, um sie durch eine weltfremde Offenbarungswirklichkeit zu ersetzen, wirklich eine überzeugende Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen und die weltanschaulichen Fragen unserer Gegenwart darstellt, gehen freilich auseinander. Der Verdacht drängt sich zumindest auf, dass einige Vertreter unter den Krisentheologen die jeweilige Krise instrumentalisieren, um im Windschatten zugespitzter Krisendiagnosen die eigenen theologischen Überzeugungen zu spielen, wonach es mit dem sündigen Menschen und seiner nichtigen Welt einschließlich seiner hochmütigen Religion sowieso nichts sei – im Gegensatz zur freien Gnade und zur souveränen Handlungsmacht Gottes, dem allein unser Glaube und unser Gehorsam gehöre. Der Verdacht legt sich nahe, dass besonders pointiert vorgetragene Krisentheologiediagnosen einen intellektuellen und geistlichen Defätismus schüren, der die verbreitete Verunsicherung nutzt, um daraus theologischen Aufmerksamkeitsgewinn zu schlagen. Die zeitgenössische Wirkung von Karl Barths
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Römerbrief, immerhin das Gründungsdokument der Theologie der Krise, wurde jedenfalls von dem Philosophen Karl Löwith ganz in diesem Sinne charakterisiert: „dieses Werk lebte von der Verneinung des Fortschritts, indem es aus dem Verfall der Kultur theologischen Nutzen zog.“1 Die theologische Strategie einer Abwertung des Menschen und seiner Welt mit dem Ziel einer Aufwertung Gottes als des Schöpfers sowohl der Welt als auch des Menschen vermag freilich nur hyperdialektisch veranlagte Köpfe zu überzeugen. Ich zähle mich zu den Skeptikern bezüglich der argumentativen Überzeugungskraft und der ethischen Orientierungskraft einer alten oder neuen ‚Theologie der Krise‘ und stelle ein paar alternative Überlegungen zur theologischen Deutung der Gegenwart zur Diskussion. Dabei verstehen sich die folgenden Ausführungen weniger als ein Versuch, die allgemeine Weltlage theologisch zu bemeistern, sondern als Kritik an der Kunst des ‚rechten Unterscheidens‘ zugunsten eines Plädoyers für die viel größere Kunst, mit Ambiguität und Ambivalenz umzugehen.
1.
Die Kunst des ‚rechten Unterscheidens‘
Krisentheologien operieren mit dem Pathos des ‚rechten Unterscheidens‘. Um sich in einer Krise zu orientieren und diese zu überstehen, gilt es, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Dazu ist es unumgänglich, zwischen den richtigen und den falschen Schritten zu unterscheiden, damit es am Wendepunkt der Krise nicht zur Katastrophe kommt. Der Charme dieses Theologiestils liegt in seinen klaren Unterscheidungen und Entscheidungen. Die Theologen der Krise wussten, was sie zu denken und zu glauben hatten, nicht zuletzt dank klarer und eindeutiger Zuordnungen. Die sog. ‚Theologie der Krise‘ schärfte die Grundunterscheidung zwischen Gott und Mensch ein. Karl Barth hat die zweiwertige Logik seiner dialektischen Theologie im Römerbrief folgendermaßen zusammengefasst: „Wenn ich ein ‚System‘ habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kierkegaard ‚den unendlichen qualitativen Unterschied‘ von Zeit und Ewigkeit genannt hat […] möglichst beharrlich im Auge behalte. ‚Gott ist im Himmel und du auf Erden‘.“2 Mit Hilfe der auf die Spitze getriebenen Unterscheidung zwischen Gott als ‚dem ganz anderen‘ und dem gottlosen Menschen mitsamt der gefallenen Welt sollten liberale protestantische Positionen, die den wissenschaftlichen Einsichten und den kulturellen Er1
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KARL LÖWITH: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Mit einem Vorwort von Reinhard Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith, Stuttgart 1986, 25; Löwith vergleicht Barths Römerbrief in dieser Hinsicht mit der Zielsetzung und der Wirkung von Oswald Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes (1918). KARL BARTH: Der Römerbrief, München 1922, XIV. Barth spricht im Fortgang zwar von der Beziehung d i e s e s Gottes zu d i e s e m Menschen und umgekehrt, aber als eine Theologie der Gott-Mensch-B e z i e h u n g wird man Barths frühe dialektische Theologie im Ernst kaum bezeichnen können.
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rungenschaften der Moderne aufgeschlossen gegenüberstanden, delegitimiert werden. In vergleichbarer Weise konnte das Pathos des rechten Unterscheidens nicht nur von Krisentheologen gepflegt, sondern auch als Identitätsmarker für das Profil reformatorischer Theologie reklamiert werden. Insbesondere Luthers Theologie basiert dieser Lesart zufolge auf der ‚Kunst des rechten Unterscheidens‘. An erster Stelle rangiert dabei die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Die Sache der Theologie könne nur auf dem Weg einer klaren Unterscheidung zwischen dem doppelten Wort Gottes zur Sprache kommen. Gerne wird in diesem Zusammenhang noch davor gewarnt, das Unterschiedene zu trennen. Gesetz und Evangelium müssten durchaus aufeinander bezogen werden, seien aber genauso scharf zu unterscheiden. Damit wird nicht nur unterstellt, dass andere Theologien die Kunst des wahren Unterscheidens vermissen lassen, sondern auch, dass der Vorgang des Unterscheidens als solcher von grundlegender theologischer Bedeutung sei, bei dem es um nichts Geringeres gehe, als um die Unterscheidung der Geister. Martin Luther hat die hermeneutische Maxime des strikten Unterscheidens in zahlreichen Zusammenhängen eingeschärft. Seine Hauptunterscheidungen, mit denen er die scholastische Theologie zu überwinden trachtete, waren die an der Auslegung der Bibel gewonnene Unterscheidung zwischen Buchstabe und Geist,3 sowie die nicht nur bibelhermeneutisch, sondern prinzipientheologisch verstandene Grundunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Wer diese Größen gut zu unterscheiden wisse, sei „ein guter Theologe“.4 Gerhard Ebeling hat die Kunst des rechten Unterscheidens als Luthers ‚Anleitung zu theologischer Urteilskraft‘ interpretiert.5 Der Reformator denke und spreche wie einer, „der sein Okular auf äußerste Trennschärfe eingestellt hat, einen strengen Maßstab theologischer Urteilskraft anlegt“6. Luther sei es in seinem Kampf gegen die scholastische Theologie letztlich darum gegangen, „unterscheiden zu können, was theologisch ist und so heißen darf und was nicht“7. Ausgehend von diesem Befund sowie seiner Interpretation vertritt Ebeling in seinem eigenen Entwurf des Theologiestudiums die fundamentaltheologische These, dass „für die Sache der Theologie der Vorgang des Unterscheidens ausschlaggebend“ sei.8 Gute Theologie basiere auf den richtigen Unterscheidungen zwischen „Gott und Welt,
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„In Sachen der heiligen Schrift ist es unübertreffbar, den Geist vom Buchstaben zu unterscheiden; denn das macht in Wahrheit zum Theologen“ (WA 55,1,1; 4,25–27). WA 39,1; 552,10–13. Beide Zitate nach EBELING, Das rechte Unterscheiden (s. Anm. 5). GERHARD EBELING: Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologischer Urteilskraft, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 85, Nr. 2 (Mai 1988), 219–258, hier 219. Ebd. A. a. O., 221. GERHARD EBELING: Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1975, 171f.
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Zeit und Ewigkeit, Natur und Gnade, Tod und Leben, Sünde und Vergebung oder Gesetz und Evangelium“9. Was ist zu dieser Hochschätzung des Unterscheidens als einem oder gar dem maßgeblichen Instrumentarium theologischer Urteilskraft zu sagen? Zunächst ist es weder überraschend noch besonders aussagekräftig, wenn gefordert wird, die theologische Arbeit habe sich des Unterscheidens zu bedienen, handelt es sich dabei doch um den gedanklichen und sprachlichen Grundvollzug schlechthin, der für jede menschliche Bemühung um das Erfassen und Verstehen der Wirklichkeit grundlegend ist. Etwas als etwas und nicht als etwas anderes zu bezeichnen und damit etwas von anderem zu unterscheiden, ist die elementarste gedankliche und sprachliche Operation. Sie ist für die Alltagskommunikation genauso grundlegend wie für den wissenschaftlichen Diskurs. Denken und Sprechen basieren auf Bezeichnen und Unterscheiden, omnis determinatio est negatio, jede Bestimmung impliziert eine Abgrenzung. Soweit, so basal, aber auch so trivial. Mit der pointiert vorgetragenen Forderung, die Theologie müsse sich als Kunst des rechten Unterscheidens verstehen, muss also noch mehr oder anderes gemeint sein, als das schlichte Faktum der Nenn- und Trennfunktion der Sprache. Tatsächlich geht es bei dem theologischen Insistieren auf dem ‚rechten Unterscheiden‘ um eine als wahr beanspruchte theologische Sachordnung und eine als richtig und recht beurteilte theologische Begriffsordnung in Abgrenzung von anderen theologischen Positionen, die als falsch und illegitim beurteilt werden. Das Pathos des rechten Unterscheidens richtet sich entweder gegen andere oder weniger scharfe Unterscheidungen und unterscheidet sich insbesondere von vermittlungstheologischen Positionen, bei denen sachliche Zusammenhänge und gedankliche Übergänge im Fokus der religiösen und theologischen Aufmerksamkeit stehen. Eine Unterscheidungstheologie im Anschluss bzw. unter Berufung auf Luther richtet sich dabei vor allem gegen den theologischen Sachzusammenhang zwischen Natur und Gnade in der spätmittelalterlichen Scholastik, aber auch gegen jede andere Theologie, die göttliches und menschliches Handeln weniger strikt unterscheidet, sondern eher nach dem Modell der Interaktion interpretiert. Ebenso richtet sich die Unterscheidungstheologie der Krisentheologen gegen den theologischen Sachzusammenhang zwischen menschlicher Kultur und Gottes Reich bzw. zwischen wissenschaftlich-natürlicher und christlich-religiöser Weltsicht. Das Pathos des Unterscheidens wird also von theologischen Differenzkonzepten gegen theologische Vermittlungskonzepte ins Feld geführt. Ein möglicher Gegenvorwurf lautet dementsprechend auch nicht auf fehlenden Unterscheidungssinn, sondern auf überzogenen Unterscheidungszwang, der letztlich auf einen weltanschaulichen Dualismus hinausläuft, wie er für die Gnosis und den Manichäismus kennzeichnend gewesen ist. An dem mehr oder weniger starken Bedürfnis nach Unterscheidung lassen sich also 9
A. a. O., 172.
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theologische Positionen unterscheiden, die entweder auf eine ganzheitliche Wirklichkeitssicht oder auf eine Zwei-Welten-Theorie bzw. Zwei-Reiche-Lehre zielen. Beide Konzeptionen wurden und werden in der Theologie vertreten. Welche verdient heute – nicht zuletzt angesichts der verbreiteten Krisenstimmung und Polykrisenlage – den Vorzug? Lassen sich die krisenhaften Erfahrungen der Gegenwart in ein theologisches Verständnis der einen Weltwirklichkeit integrieren oder sollten Negativerfahrungen theologisch ausgelagert werden? Nicht zufällig erfährt die alte Hiob- bzw. Theodizeefrage derzeit wieder erhöhte Aufmerksamkeit. An der existenziell-verschärften Krisenerfahrung, in die die Theodizeefrage führt, kann man sich die weltanschauliche Attraktivität eines dualistischen Zwei-Welten- oder Zwei-Mächte-Modells gut klarmachen. Die Frage, wie Gott das Böse in der Welt zulassen kann, wo er doch allmächtig und gut ist, kann nämlich im Rahmen eines rationalen und einheitlich-konsistenten Weltbildes nicht befriedigend beantwortet werden. Gegen den Versuch einer Rechtfertigung der Güte Gottes angesichts des Bösen in der Welt, wie sie Leibniz in seinen Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (1710) vorgelegt hat, hatte Pierre Bayle bereits in seinem Dictionnaire historique et critique (1694– 1697) gezeigt, dass dualistische Welterklärungsmodelle sehr viel überzeugender sind als die (mono-)theistischen Versuche einer Erklärung des Bösen. Der reformierte Theologe und freisinnige Philosoph Bayle war nicht zuletzt aufgrund biographischer Erfahrungen (sein Bruder wurde im katholischen Frankreich inhaftiert und im Gefängnis vermutlich zu Tode gefoltert, weil man seiner in den liberalen Niederlanden nicht habhaft werden konnte) der Überzeugung, dass die Geschichte in der Hauptsache von den Verbrechen und Katastrophen der Menschheit handelt. Ein Gott, der eine Welt mit weniger Verbrechen und Katastrophen hätte schaffen können, es jedoch unterließ, sei entweder ein grausamer Despot oder selbst ein Verbrecher großen Stils. Wehrte man sich gegen die Ungeheuerlichkeit dieser Annahme – und das war für die meisten Autoren des 17. Jahrhunderts selbstverständlich – dann musste Gott von der Verantwortung für das Böse freigesprochen werden. Darin stimmt Bayle mit Leibniz überein. Weil der rationale Optimismus aber auf eine zynische Relativierung des Leidens hinausläuft, verweigert sich Bayle dem Versuch einer Theodizee und erkennt im Manichäismus, demzufolge Licht und Finsternis in dieser Weltzeit im Kampf miteinander liegen, die überzeugendste Deutung einer von Katastrophen heimgesuchten und von Grausamkeiten geschlagenen Welt. Die dualistische Vorstellung, wonach in der Welt gute und böse Mächte am Werk sind, müsse – so Bayle – am Weltlauf nichts beschönigen und ermögliche trotzdem den Glauben an Gottes Güte und Barmherzigkeit – freilich nicht nur zulasten seiner Allmacht und Alleinwirksamkeit, sondern auch um den Preis seiner Einzigkeit, also um den Preis des Monotheismus. Andere theologische Umgangsstrategien mit dem Bösen und einer krisengeschüttelten Welt operieren mit weniger radikalen Lösungen. Zu ihnen gehört
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Luthers Lehre vom verborgenen Gott (deus absconditus), dessen Wille uns nicht zur Gänze, sondern nur in seiner gnädigen und liebenden Zuwendung in Christus (deus revelatus) einsichtig sei. Ein anderer Versuch der theologischen Rede vom Bösen stellt Karl Barths Lehre vom Nichtigen dar. In seiner Kirchlichen Dogmatik bezeichnet Barth das Nichtige als die benachbarte ‚Schattenseite der Schöpfung‘. Im Unterschied zur lutherischen Lösung dürfe das Nichtige aber nicht auf Gott selbst zurückgeführt werden, da er sich sonst in seinem Wollen und Wirken widersprechen würde. Was Gottes alleiniger und vollständiger Offenbarung in Christus zuwiderlaufe, könne nicht seinem Willen und Handeln entspringen. Vielmehr sei gerade der Kampf mit dem Nichtigen, seine Überwindung, Beseitigung und Erledigung „primär und eigentlich Gottes eigene Sache“10. Damit nähert sich Barth freilich der Vorstellungswelt und Redeweise von mythologisch-manichäischen bzw. gnostischen Welterklärungsmodellen an. Trotz abweichender Argumente im Einzelnen versuchen also auch die Lehren vom deus absconditus und vom Nichtigen das Skandalon des Bösen und des Leidens theologisch zu erklären. Wie aber, wenn es hier nichts zu erklären gibt? Wie, wenn insbesondere existenzielle Negativitäts-, Leidens- und Krisenerfahrungen auf unauflösliche Rätsel führen? Dann wäre auch theologisch zu lernen, damit umzugehen, ohne in das Pathos von ultimativen Unterscheidungen zu verfallen oder falschen Versöhnungen das Wort zu reden. Eine Antwort in die Richtung eines konflikttoleranten und krisenaffinen Mittelwegs, der es mehr mit dem Aushalten von Widersprüchen zu tun hat, als mit dem Versuch, den Knoten zu zerschlagen oder wegzuerklären, führt auf den derzeit vieldiskutierten Umgang mit Ambiguität und Ambivalenz.
2.
Die Vereindeutigung der Welt
Den kulturkritischen Diagnosen des Arabisten und Islamwissenschaftlers Thomas Bauer zufolge leben wir nicht nur in einer Krisenzeit, sondern auch in einer Zeit, die alles daransetzt, um kulturelle Mehrdeutigkeit und gesellschaftliche Vielfalt zu reduzieren und möglichst umfassende Eindeutigkeit herzustellen. Die Vermutung liegt nahe, dass beides miteinander zusammenhängt. Der Konnex zwischen den als Symptomen einer Demokratiekrise wahrgenommenen Phänomenen von Rassismus, Populismus und Fundamentalismus und deren Ziel, kulturelle und religiöse Vielfalt zu bekämpfen, um eindeutige Verhältnisse zu schaffen, liegt auf der Hand. Bauer durchmustert in seinem preisgekrönten Essay Die Vereindeutigung der Welt11 so unterschiedliche Bereiche wie den Anbau von Obstsorten, die Züchtung von Haustierrassen, die Konsumgewohnheiten, 10 11
KARL BARTH: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III/3, Zollikon-Zürich 1950, 413. THOMAS BAUER: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018.
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die Unterhaltungs- und Medienlandschaft, sowie das politische, künstlerische und religiöse Feld und kommt zu dem Resümee, „wohin wir schauen, ob in die Natur oder zu den Menschen und ihrer Kultur: Überall ist eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt, einem Rückgang an Mannigfaltigkeit zu beobachten“ (11f.).12 Augenscheinlich wächst derzeit und hierzulande der Unwille, Uneindeutigkeit und Mehrdeutigkeit hinzunehmen. Hinter einem Bündel von mehreren Bedingungsfaktoren für diesen Trend erkennt Bauer eine tieferliegende „moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt“ (12), die die spätmodernen Gesellschaften des Westens im Unterschied zu anderen Epochen und Gesellschaften (der Islamwissenschaftler weist z. B. auf eine beeindruckend große Ambiguitätstoleranz islamischer Gesellschaften in der Geschichte hin) auszeichne. Neu und spezifisch an der gegenwärtigen Lage sei jedenfalls nicht der Umstand, dass Menschen die Welt als uneindeutig und ambivalent erleben. Menschen waren und sind schon immer „Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen“ (ebd.). Abhängig von geschichtlichen und kulturellen Einflussfaktoren gestalte sich dagegen die Bereitschaft, eine uneindeutige Welt zuzulassen und mit den damit einhergehenden Unsicherheiten und Unvorhersagbarkeiten umzugehen. Diesbezüglich nimmt Bauer jedenfalls eine abnehmende Ambiguitätstoleranz als Problem wahr. Für die Frage nach einer gegenwärtig angemessenen theologischen Urteilskraft bzw. Deutungskompetenz ist besonders der Zusammenhang zwischen Uneindeutigkeit und dem Bemühen um das Herstellen von Eindeutigkeit bedenkenswert. Wie sind vor dem Hintergrund von Bauers Diagnose diejenigen theologischen Versuche zu beurteilen, die mithilfe von klaren Unterscheidungen zu eindeutigen Verhältnissen gelangen wollen? Muss das Insistieren auf dem ‚rechten Unterscheiden‘ nicht als Ausdruck einer theologischen Eindeutigkeitsobsession erscheinen? Wäre es nicht angemessener, auch in theologicis auf mehr Ambiguitätstoleranz hinzuarbeiten? Der Islamwissenschaftler Bauer hält eine „relativ hohe Ambiguitätstoleranz“ für das Gedeihen von Religion jedenfalls aus zwei Gründen für unabdingbar. Erstens habe es Religion mit Transzendenz zu tun und bedeute, Transzendenz überhaupt zu akzeptieren. Das sei nicht selbstverständlich, denn Religion sei Glaube an etwas, das über das Erkennbare und Planbare hinausgeht. Religion ist der ambiguitätshaltige Umgang mit dem Unverfügbaren. Wie sehr sich etwa die Theologie um eine gedankliche Durchklärung und begriffliche Bestimmung von Religion bzw. Glaube bemüht, „bleibt doch immer ein Rest an Vagheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit, also: an Ambiguität“ (34). Wenn deshalb transzendente Unbestimmtheit durch immanente Eindeutigkeit ersetzt werden 12
Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf BAUER, Vereindeutigung der Welt (s. Anm. 11).
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soll, wird die religiöse Erfahrung um ihr Eigenes gebracht und die theologische Reflexion verfehlt ihre Aufgabe. Zweitens beruhe Religion auf Kommunikation, die ihren Niederschlag insbesondere in heiligen Schriften gefunden hat, die normativ und deutungsoffen zugleich sind. Ohne einen ambiguitätstoleranten Umgang mit diesen Schriften drohe Religion entweder in Fundamentalismus oder Indifferenz zu verfallen. Für Bauer steht deshalb fest: „Wenn Ambiguitätstoleranz schwindet, dann verliert die Religion ihre Mitte“ (37). Aber nicht nur das. Die Folge des Versuchs einer Vereindeutigung der Welt wäre nicht nur das Ende der Religion, sondern auch eine neue Form von Uneindeutigkeit. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“13, hat schon Novalis in Die Christenheit oder Europa behauptet. Bauer formuliert es prosaischer: „Sobald man Ambiguität an einem Ende zurückdrängt, entsteht sie an einem anderen Ende und in oft unerwarteter Form wieder neu“ (15). Es handelt sich also um eine Variante der Dialektik von Aufklärung. Anstatt dieser kontraproduktiven Logik in die Hände zu arbeiten, plädiert Bauer für umsichtige Ambiguitätszähmung statt Ambiguitätsvernichtung. Es sei unser Schicksal, mit Ambiguität leben zu müssen. „Vernünftig ist es zu versuchen, Ambiguität auf ein lebbares Maß zu reduzieren, ohne dabei zu versuchen, sie gänzlich zu eliminieren“ (15). Bauer empfiehlt vor allem Kunst und Religion als wichtige Residuen für Ambiguität sowie als Übungsräume für ein zeitgemäßes „Ambiguitätstraining“ (95). Bauers Plädoyer für mehr Ambiguitätstoleranz und Eindeutigkeitsabstinenz hat auch eine zeitgemäße theologische Deutungskompetenz zu bedenken. Statt durch ultimative Unterscheidungen zu versuchen, klare Verhältnisse in einer unübersichtlichen Welt zu schaffen, sollte die Theologie eine professionelle Sensibilität für die Übergänge und die Schwellenzustände zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen, zwischen der religiösen und der säkularen Option ausbilden und die dabei obwaltenden Unschärfen, die Mehr- und Vieldeutigkeiten reflektieren statt sie zu restringieren, um so zu einem lebbaren und realistischen Umgang mit religiöser Ambiguität beizutragen. Kulturdiagnostisch ist Bauers Essay interessant und aufschlussreich zu lesen, auch wenn seine Beispiele nicht immer alle gleichermaßen überzeugen. Was eine ideologiekritische, modernetheoretische und gesellschaftspolitische Analyse von Phänomenen der Ambiguität und Ambivalenz betrifft, werden seine Ausführungen aber von den Studien des polnisch-englischen Soziologen und Kulturphilosophen Zygmunt Bauman (1925–2017) an gedanklicher Tiefe und polemischer Schärfe deutlich überboten. Bauman siedelt vor allem seine beiden
13
NOVALIS: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. HANS-JOACHIM MÄHL / RICHARD SAMUEL, Bd. 2, München 1978, 746.
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Analysen Modernity and The Holocaust14 sowie Modernity and Ambivalence15 im Überschneidungsfeld von ideologiekritischer Modernetheorie und sozialpsychologischer Gesellschaftspolitik an. In Modernity and The Holocaust deutet er den Holocaust weder als einen geschichtlichen Genozid unter anderen noch als die deutsche Ausnahmeerscheinung, sondern als ein Phänomen, das in der bürokratisierten Moderne möglich geworden sei und ihrer technokratischen Ordnungslogik entspreche. Davon ausgehend versteht Bauman in Modernity and Ambivalence das gescheiterte Projekt der Moderne als den groß angelegten Versuch, die in und mit der Neuzeit fraglich gewordene gesellschaftliche Wirklichkeit in eine stabile staatliche Ordnung zu verwandeln. „Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich selbst gestellt hat und die die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus.“16 In diesem Zusammenhang kommt Bauman auch auf die gedankliche und sprachliche Grundoperation des Unterscheidens und Klassifizierens zu sprechen. Die Logik des Klassifizierens basiert auf den Funktionen des Benennens und Trennens. „Klassifizieren besteht aus den Handlungen des Einschließens und des Ausschließens. Jede Benennungshandlung teilt die Welt in zwei Teile“ (13).17 Einschließen will der moderne Ordnungssinn schlechthin alles, nichts soll draußen bleiben, ausschließen will er dagegen jede Form von Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit, von Unentschiedenheit und Unvorhersagbarkeit. Von dieser plakativen These ausgehend, gelangt Bauman im Verlauf seiner Studien zu sehr pointierten bzw. überspitzten Formulierungen, denen die stakkatohaften Thesen aus Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung sichtlich als Muster und Vorbild dienen: „Moderne Meisterschaft besteht in der Macht zu trennen, zu klassifizieren und zuzuteilen – im Denken, in der Praxis des Denkens und im Denken der Praxis“ (33). „Das Andere des modernen Intellekts ist Polysemie, kognitive Dissonanz, polyvalente Definitionen, Kontingenz; einander überschneidende Bedeutungen in der Welt der sauberen Klassifikationen und Schubladen“ (23). „Das andere der Ordnung ist nicht eine andere Ordnung: Die einzige Alternative ist das Chaos. Das Andere der Ordnung ist das Miasma des Unbestimmten und Unvorhersagbaren“ (19). „Der Schrecken vor der Vermischung reflektiert die Besessenheit von dem Gedanken der Trennung“ (32). Ambivalenz erweist sich deshalb nach Bauman „als der größte Schmerz der Moderne und die beunruhigendste ihrer Sorgen“ (33). Offensichtlich liegt diesen
14
15
16 17
ZYGMUNT BAUMANN: Modernity and The Holocaust, Cornell University Press 1989; dt.: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. ZYGMUNT BAUMANN: Modernity and Ambivalence, Cornell University Press 1991; dt.: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. A. a. O., 16. Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf BAUMAN, Moderne und Ambivalenz (s. Anm. 15).
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Formulierungen der Kampf der frühen kritischen Theorie gegen die Zwangslogik des Systemgedankens zugrunde. Bauman verortet dessen Geburt nur nicht in der Dialektik der (historischen) Aufklärung, sondern einer (funktionalen) Dialektik der Ordnung, die freilich mit dem zweckrationalen Geist der Moderne, die in der Aufklärung wurzelt, verbunden ist.18 Auch wenn Baumans Thesen weniger auf belastbaren empirischen Daten oder auch nur auf plausiblen Phänomenbeschreibungen beruhen, geben sie doch zu denken und lassen einen nach der Lektüre weit weniger zuversichtlich auf den Weg des rechten Unterscheidens als Königsweg der theologischen Urteilskraft setzen. Nicht weil es nicht zielführend im Sinne des Strebens nach Klärung und Ordnung wäre, sondern weil es zu zielführend ist. Wer sich nämlich dem Geist des rechten Unterscheidens in dem Bemühen um klare Verhältnisse ganz und gar überlässt, droht offenbar leicht übers Ziel hinaus zu schießen und einer folgenschweren Eindeutigkeitsobsession zu verfallen. Die strukturellen Zusammenhänge jedenfalls zwischen Benennen und Trennen, zwischen Unterscheiden und Klassifizieren, sowie zwischen Ordnung und Macht sind zu evident, um sie ernsthaft leugnen zu können zumal sie auch erklären, warum sich in verschärften Krisenzeiten ein verstärktes Bedürfnis nach Eindeutigkeit Gehör verschafft, dem mit Hilfe von klaren Unterscheidungen und entsprechenden Handlungsanweisungen nachzukommen versucht wird. Was sollen wir also sagen? Welche Schlussfolgerungen lassen die skizzierten Untersuchungen von Bauer und Bauman zum modernen Eindeutigkeitsstreben und seiner Kehrseite, der modernen Ambiguitätsintoleranz zu? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den von manchen Theologen so geschätzten und gepflegten Geist des rechten Unterscheidens? Sicher darf man den oben genannten Texten und ihren Autoren nicht unkritisch und in allen Punkten folgen. Beide sind Übertreibungskünstler. Sie zeichnen die Welt selbst in schwarz und weiß. Zu pauschal und zu plakativ muten viele ihrer Thesen an und verraten damit ihrerseits den Versuch, Eindeutigkeit zu erzeugen! Aber sie sind gerade aufgrund ihrer stellenweise karikaturhaften Zuspitzung auch geeignet, um den forschen Gestus der theologischen Unterscheidungskraft mit einem nachdenklichen Fragezeichen zu versehen und im Hinblick auf die gegenwärtige religiöse und kirchliche Praxis nachzuhaken: Was soll auf der Basis von welchen Gründen und mit welchen theologie- bzw. religionspolitischen Interessen unterschieden werden? Wer entscheidet darüber, was theologisch unterschieden werden soll und wer wacht über die Einhaltung der jeweiligen Unterscheidungen? Der Anspruch auf rechtes Unterscheiden führt auch auf die Frage der theologischen Unterscheidungsmacht sowie auf die damit zusammenhängende Frage, mit welchen Konsequenzen für die theologische (kirchliche, religiöse) Praxis im Gefolge der getroffenen Unterscheidungen zu rechnen ist? Die Entfaltung einer kriti18
Seinem eigenen Bekunden zufolge versucht Bauman in seinem Buch „historisches und soziologisches Fleisch um das Skelett der ‚Dialektik der Aufklärung‘ zu hüllen“ (a. a. O., 37).
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schen Hermeneutik theologischer Urteilskraft und ihren Praxisfolgen, die sich mit solchen Fragen zu befassen hätte, kann hier nicht geleistet werden. Deshalb sei zum Schluss und als Gegengewicht ein kurzer Blick auf die andere Seite des theologischen Ordnungs- und Unterscheidungssinns, die hohe Kunst der Vermittlung, geworfen.
3.
Die Kunst des Umgangs mit Ambivalenz und Ambiguität
Mit Worten benennen und trennen wir die Welt. Mit Worten werden Sachverhalte, Programme und Probleme geschaffen, aber auch Antworten, Wege und Lösungen gefunden. Theologie sollte der reflektierte und verantwortliche Umgang mit der Macht des Wortes sein. Wer die Welt mit Worten in zwei Hälften teilt, handelt verantwortungslos, denn wir leben in einer Welt und diese Welt ist uneindeutig. In-der-Welt-sein heißt, mit bleibender Unordnung und Vieldeutigkeit konfrontiert sein. Eine theologisch reflektierte Antwort auf die damit verbundenen Erfahrungen von Unsicherheit und Angst aufgrund von Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit darf nicht den Ausstieg aus der Wirklichkeit empfehlen oder eine eindeutig geordnete (Gegen-)Welt in den Himmel bzw. auf die Kirchentür malen. Eine theologisch verantwortliche Deutung der uneindeutigen Wirklichkeit muss Ambiguitätstoleranz ermöglichen und sie muss diese in Zeiten krisenhaft erhöhter Unsicherheit stärken statt schwächen. Eine theologisch reflektierte und verantwortliche Deutung der uneindeutigen Wirklichkeit hat deshalb herauszustreichen, dass kaum etwas eindeutig, aber vieles mehrdeutig ist, dass kaum etwas losgelöst betrachtet werden kann, weil so vieles miteinander zusammenhängt. Dafür ist in der Theologie vor allem auch die Kunst des guten Vermittelns erforderlich.19 Das ist auch für den primären Gegenstand der Theologie, die christliche Religion und ihre Förderung innerhalb und außerhalb der Kirchen von erheblichem Belang. Denn Religion ist eine ambiguitätshaltige Angelegenheit, wie Thomas Bauer völlig zu Recht betont und bedeutet nicht zuerst und primär trennen, sondern verbinden. Religion hört nicht auf den Ruf nach Ordnung und folgt nicht dem Zwang zur Klassifizierung, sondern will das Getrennte miteinander versöhnen und vereinigen. Es ist nicht religiös, Gott und Mensch zu scheiden, sondern Gott und Mensch zu vereinigen, denn Gott wurde Mensch, damit der Mensch vergöttlicht würde.20 Es ist nicht religiös, Endliches und Unendliches zu scheiden, sondern „alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte 19
20
Vgl. dazu die unterschiedlichen Konzepte einer Vermittlungstheologie, die sich z. B. finden lassen bei: CHRISTIAN ALBRECHT / FRIEDEMANN VOIGT (Hg.): Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, Hannover 2001. ATHANASIUS: De incarnatione, cap 54,3.
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als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“21. Es ist nicht religiös, den Himmel von der Erde zu scheiden, sondern den Himmel zum Sprechen zu bringen.22 Für die religiöse Erfahrung ist es nicht eigentümlich, dass Immanenz und Transzendenz ordentlich unterschieden werden, sondern, dass sie im religiösen Erleben füreinander durchlässig werden, dass es Schwellenzustände gibt, die keine eindeutige Entscheidung darüber erlauben, ob hier Immanenz oder Transzendenz oder beide zusammen walten. Religion ist zuallererst genau das: das Erleben von Unschärfe und eines Verschwimmens von Grenzen. Religion lebt von dem gezielten Unterlaufen gesellschaftlicher Ordnungen und Statuszuschreibungen. Für das religiöse Erleben ist es eigentümlich und wesentlich, dass der immanent frame aufgebrochen wird und nicht, dass er in seiner Unterschiedenheit von Transzendenz begrifflich festgehalten wird. Religiös ist nicht der Geist des Klassifizierens und Kategorisierens, des Einschließens und Ausschließens, obwohl es in der Geschichte der Religionen an Gegenbeispielen nicht zu fehlen scheint. Das führt jedoch auf ein anderes Problem, nämlich, dass Religion in der uneindeutigen Welt niemals rein erscheint, sondern immer vermischt und vermengt mit anderen Kultursphären wie z. B. Politik und Ökonomie. Das scheint ein Argument für die Wichtigkeit des Unterscheidens zu sein: nämlich was Religion eigentlich ist und was nicht. Dieser religionshermeneutische Sinn des Unterscheidens mit dem Ziel eines besseren Verstehens und Deutens von Religion als einem Phänomen von Ambiguität soll auch gar nicht bestritten werden. Aber, wenn das oben skizzierte Verständnis von Religion und christlicher Religion nicht falsch ist, dann bemisst sich die Qualität der theologischen Urteilskraft oder besser Deutungskompetenz nicht an der Entschiedenheit, mit der die grundlegenden Relate der religiösen Weltsicht und Wirklichkeitsdeutung voneinander unterschieden werden, sondern vielmehr daran, wie sensibel und kompetent die religiösen Wechselwirkungen und Grenzverwischungen reflektiert und gedanklich wie sprachlich vermittelt werden. In diesem Sinne plädiere ich für eine theologische Deutungskompetenz, die in Religionssachen und göttlichen Dingen mehr Ambiguitätstoleranz anstrebt, eine Kunst der guten Vermittlung, die mehr Wahrnehmungs- und Beschreibungskompetenz für religiöse Vagheit und Flüchtigkeit, sowie für religiöse Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit entwickelt.
21
22
FRIEDRICH SCHLEIERMACHER: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. GÜNTER MECKENSTOCK, Berlin / New York 1999, 82. PETER SLOTERDIJK: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin 2020.
„Ein Teil dieser Antworten würde das Kirchenvolk verunsichern“
„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“
Verunsicherung als Aufgabe von Theologie und Kirche
Johannes Weidemann
1.
JOHANNES WEIDEMANN
Kirchliche Hochschulen im Spannungsfeld von Theologie und Kirche
Der Titel dieses Aufsatzes spielt auf eine denkwürdig gewordene Pressekonferenz von 2015 an, auf der der damalige Innenminister Thomas De Maizère die Absage eines Fußballländerspiels in Hannover erläuterte. Auf die Frage nach dem konkreten Inhalt der Terrordrohungen, die zur Absage führten, gab De Maizère die den Titel inspirierende Antwort: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“1 Selbstverständlich wurde gerade durch diese Nicht-Antwort die Verunsicherung in der Bevölkerung erst recht befeuert. An De Maizères Kommunikationshandeln lässt sich die Dialektik von Sicherheit und Information gut durchspielen. Informationen können verunsichern und versichern, aber auch die Abwesenheit von Information kann sowohl verunsichern als auch versichern. Dieser Aufsatz präsentiert die Verunsicherung als Aufgabe der Theologie. Eine Verunsicherung, die aber anders als die im Falle De Maizères nicht auf dem Zurückhalten von Information beruht, sondern gerade auf der kritischen und schonungslosen Aufdeckung von Sachverhalten. Dabei geht es nicht darum, Lebenskrisen oder Angst zu verbreiten, sondern es geht darum, vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Gewissheiten und liebgewonnene Sicherheiten kritisch zu prüfen, zu denaturalisieren und neue Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. Wissenschaftliche Theologie lässt sich – wie alle Wissenschaft – als dauerhafte und methodische Beschäftigung mit Unsicherheit beschreiben. Als solche wird sie an den staatlichen Universitäten betrieben, aber – im ersten Moment vielleicht überraschend – auch dort, wo man eher Bestrebungen zur Versicherung und Vergewisserung erwarten würde: in der Kirche und damit auch an den kirchlichen Hochschulen, z. B. in Neuendettelsau. 1
Vgl. z. B. KAI BIERMANN u. a.: Mit Sicherheit verunsichert, Artikel bei zeit.de vom 18.11.2015, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-11/thomas-demaiziere-terror-sicherheit (letzter Aufruf am 20.09.2022).
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Johannes Weidemann
Dass die vorgängige Erwartung, die kirchlichen Hochschulen seien ein Ort, an dem kirchliche Gewissheiten neu ventiliert werden, nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, zeigt z. B. Hans-Joachim Birkner 1971 in seinem Buch Protestantismus im Wandel. Birkner zeichnet die Gründung Kirchlicher Hochschulen als Alternativen zum Studium an staatlichen Fakultäten in eine von ihm diagnostizierte und kritisch beurteilte Tendenz zur zunehmenden Verkirchlichung des theologischen Geschäfts ein. Es waren die „Erfahrungen des Kirchenkampfs, die nach dem II. Weltkrieg die Erwägung veranlaßt haben, ob man nicht um der Selbständigkeit der Kirche willen die Ausbildung des Pfarrernachwuchs den staatlichen Fakultäten zumindest teilweise entziehen und sie an kirchliche Ausbildungsstätten verlagern sollte. Eine ansatzweise Verwirklichung hat das durch die Errichtung Kirchlicher Hochschulen gefunden.“2
Kirchliche Hochschulen werden von Birkner als Phänomen eines spezifisch kirchlichen Verständnisses von Theologie gedeutet, das in Aussagen darüber, dass die „Theologie kirchliche Wissenschaft oder daß sie eine Funktion der Kirche sei“3 seinen Ausdruck findet. In Bezug auf den historischen Kontext, der die Gründungen von Kirchlichen Hochschulen bedingte, trifft Birkner einen Punkt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kirchliche Hochschulen vor dem Hintergrund der teils sehr freiwilligen Vereinnahmung universitärer Theologie durch den Nationalsozialismus nicht nur als „konservative Konkurrenz zur liberalen Fakultätstheologie gegründet worden“4 waren, sondern – besonders die jüngeren Hochschulen – gerade als Refugium einer von staatlichen Einflüssen freien und damit zugleich eminent kirchlichen Theologie konzipiert wurden. Sie entsprangen einem dezidiert kirchlichen Interesse an kirchlicher Theologie. Die Sorge über eine Verkirchlichung des theologischen Geschäfts in, mit und durch Kirchliche(n) Hochschulen, die nicht zuletzt auch von denen geteilt wird, die in Kirchlichen Hochschulen arbeiten, ist vornehmlich die Sorge über unzulässige Reduktion und Vereinheitlichung desselben. Verkirchlichung der Theologie ist dann eine bestimmte Spielart derjenigen Tendenz zur Vereinheitlichung und Vereindeutigung, die Thomas Bauer in seiner essayistischen Studie über Die Vereindeutigung der Welt5 gesamtgesellschaftlich identifiziert. Bauers Grundthese ist die, dass unsere gesellschaftliche Gegenwart allen Beteuerungen der Vielfalt, Diversität und Pluralität zum Trotz von einer unerhörten Tendenz zur Reduktion und Vereinheitlichung geprägt ist. Bauer belegt seine Beobachtungen mit umfangreichem Material aus allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen, wobei manche Beobachtungen mehr als andere überzeugen. Zentral ist 2
3 4 5
HANS-JOACHIM BIRKNER: Protestantismus im Wandel. Aspekte, Deutungen, Aussichten, München 1971, 114. A. a. O., 112. A. a. O., 114. THOMAS BAUER: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 152018.
„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“
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aber Bauers Beobachtung, dass Phänomene der gesellschaftlichen Zersplitterung eben nicht aus einem Geist der Pluralität erwachsen, sondern aus einem Geist der Einheitlichkeit. Wenn die Vielzahl der Lebensformen schon nicht vereinheitlicht werden kann, dann soll wenigstens im Nahbereich Eindeutigkeit und Einheitlichkeit bestehen. Auf die Situation der Theologie bezogen: wenn schon zahlreiche Weltzugriffe gesellschaftlich koexistieren (müssen), dann soll wenigstens im Kontext der Kirche ein möglichst einheitlicher bestehen. Wissenschaftliche Theologie, die selbst eine Folge der Vagheit und Pluralität der Quellen und Denkformen des Christentums darstellt, stört dann tendenziell und sollte lieber durch eine anwendungsorientierte Theologie ersetzt werden. Es stellt sich die Frage, ob Kirchliche Hochschulen ein Symptom für diese Tendenz zur Vereinheitlichung darstellen. Sicher ist: Eine gewisse Ambiguität in der Frage gehört zur DNA Kirchlicher Hochschulen ebenso wie der Wunsch, diese Ambiguität zugunsten entweder des kirchlich-praktischen oder theologisch-wissenschaftlichen Anspruchs an den Hochschulbetrieb aufzulösen. Sie stehen sinnbildlich für den Grundkonflikt zwischen kirchlicher Bindung und wissenschaftlicher Ungebundenheit der Theologie, der nicht einseitig zugunsten der einen oder der anderen aufgelöst werden kann, sofern sich praktizierte Theologie nicht einerseits in kirchliche Kasuistik oder andererseits in mehr oder weniger christliche Religionsphilosophie auflösen soll (wobei beides an je eigenen Orten und zu je eigenen Zeiten sehr wohl nötig sein kann). Beide Ansprüche, die mit jeweils eigenem Recht an die Theologie gestellt werden, müssen zu einem der essenziellen Ambiguität der Kirchlichen Hochschule angemessenen Kompromiss geführt werden, der die Eigenständigkeit der wissenschaftlichen Arbeit und die berechtigten Interessen der auch finanziell einstehenden Kirche gleichermaßen wahrt. Der Begriff der Ambiguität, den Thomas Bauer positiv fruchtbar zu machen sucht, weist auf das große Konfliktfeld hin, das sich hinter der nicht nur von Birkner mit Sorge beobachteten Verkirchlichung von wissenschaftlicher Theologie verbirgt. Es ist das Problem des Konfliktes unterschiedlicher Zugriffe auf ‚die Welt‘, wie er sich exemplarisch darstellen lässt unter der relativen Unterscheidung von deskriptiver Theorie und normativer Praxisgestaltung. Dieser Konflikt zwischen Normativität und Deskriptivität in der Theologie wird überall dort in erhöhtem Maße relevant, wo Ekklesiologie und Kirchentheorie betrieben werden und in Form von kirchenleitendem Handeln praktisch werden soll, wobei es unstrittig ist, dass eine Entfremdung beider Sphären voneinander nicht wünschenswert sein kann. Martin Laube formuliert die Abwege: „Fallen die beiden Ebenen von dogmatischer Reflexion und empirischer Wirklichkeit beziehungslos auseinander, besteht die Gefahr eines ekklesiologischen Wirklichkeitsverlustes: Die Kirchenlehre vermag die empirisch vorfindliche Kirche nicht mehr zu erreichen; diese bleibt damit theologisch unbegriffen. Werden hingegen Dogmatik und Empirie in der Absicht kurzgeschlossen, eine geschichtlich gewachsene Organisationsgestalt der Kirche lediglich theologisch zu überhöhen, führt der
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Johannes Weidemann Weg in eine ekklesiologische Wirklichkeitsverklärung: Hier droht die für den Protestantismus konstitutive Unterscheidung zwischen göttlichem Wort und menschlichem Werk eingeebnet zu werden.“6
Laube leitet daraus für die wissenschaftliche Theologie und Ekklesiologie die Aufgabe ab, „das Spannungsverhältnis zwischen dogmatischer Bestimmung und empirischer Wirklichkeit der Kirche nicht zu übergehen oder programmatisch einzuebnen, sondern konstruktiv fruchtbar zu machen“7. Laube bezieht sich vornehmlich auf den Bereich der wissenschaftlichen Theologie, aber, wenn mit diesem Anspruch ernst gemacht wird, dann gilt ebenso für kirchenleitendes Handeln, dieses Spannungsverhältnis nicht zu übergehen, sondern die kritischen Potenziale sowohl dogmatischer Bestimmung als auch empirischer Wirklichkeitsbeschreibung für das eigene Handeln heranzuziehen, ohne dabei die spezifische Eigenlogik organisationalen Handelns und Entscheidens aus dem Blick zu verlieren. Es ist eine wichtige Frage, wie wissenschaftliches, theologisches Arbeiten für Leitungshandeln fruchtbar gemacht werden kann, auf die dieser Aufsatz u. a. versucht eine Antwort zu liefern. Soviel sei schon gesagt: Der praktische Gewinn theologisch wissenschaftlichen Arbeitens für kirchenleitendes Handeln liegt nicht darin, Handlungsoptionen vorzugeben und Entscheidungen damit vorwegzunehmen, sondern darin den Horizont möglicher Entscheidungsoptionen und Entscheidungsmöglichkeiten zu erweitern. Kirchenleitendes Handeln ist, wie jedes Handeln in Organisationen, darauf angewiesen, Entscheidungsoptionen zu verringern und zu vereinfachen. Wissenschaftliches und theologisches Arbeiten erfüllt die dazu komplementäre Aufgabe, Entscheidungsoptionen zu vermehren und zu vervielfältigen. Die Notwendigkeit von Entscheidungen wird dem kirchenleitenden Handeln durch seine Umwelt vorgegeben. Im Regelfall reagiert das Handeln in allen Organisationen auf veränderte Bedingungen. Diese veränderten Bedingungen stehen den Trägerinnen der Entscheidung aber in der Regel nicht neutral und deutungsfrei zur Verfügung. Bestimmung und Beschreibung der Wirklichkeit wird besonders in Form von Gegenwartsdiagnosen aktuell. Diese sind, als eminent pragmatische, d. h. auf Handlungsmotivation ausgerichtete Erzählungen der gesellschaftlichen Lage, notwendig ambig. Sie changieren immer zwischen empirisch erhobenen Daten und philosophisch bzw. dogmatisch begründeter Deutung derselben. Gegenwartsdiagnosen sind hochgradig rhetorische Konstrukte zum Zweck der Entscheidungsfindung und müssen als solche behandelt werden. Zu besonderer Bedeutung ist in den Kirchen diejenige Gegenwartsdiagnose gekommen, die Thomas Bauer versucht, gegen den Strich zu bürsten. Es ist die Erzählung von der Zersplitterung, der Vervielfältigung, der Pluralisierung der Ge-
6
7
MARTIN LAUBE, Martin: Die Kirche als ‚Institution der Freiheit‘, in: CHRISTIAN ALBRECHT (Hg.): Kirche (UTB 3435), Tübingen 2011, 134. A. a. O., 133.
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sellschaft, die meist unter dem Stichwort Pluralismus verhandelt wird. Im Folgenden werden zwei exemplarische und gegensätzliche Weisen der theologischen Pluralismusdeutung dargestellt, die sich in der grundsätzlichen Fragestellung berühren. Es ist die Frage nach dem theologischen und kirchlichen Umgang mit dem modernen gesellschaftlichen Pluralismus, der weithin als die fundamentale Herausforderung für das kirchliche Handeln angesehen wird. Der erste Entwurf ist der in seiner Stoßrichtung immer noch aktuelle Entwurf Wolfgang Hubers, den er Ende der 1990er Jahre in Kirche in der Zeitenwende vorgelegt hat. Hubers Schrift repräsentiert hier den Typus einer Pluralismusdeutung, die diesen als krisenhaft bzw. krisenanfällig wahrnimmt und zur Vermeidung solcher Krisen auf die Einhegung des Pluralismus durch ein gemeinsames Wertefundament setzt (civil religion). Beim zweiten Entwurf handelt es sich um das Konzept Eilert Herms’, der den gesellschaftlichen Pluralismus nicht nur als problematisches Schicksal der Kirchen ansieht, sondern die Potenziale und die Chancen der weltanschaulichen Ausdifferenzierung in den Blick nimmt. Beide Entwürfe werden dann v. a. in Hinsicht auf die aus der Gegenwartsdeutung abgeleiteten Folgen für das Kirchliche Handeln hin verglichen und kritisch in Bezug auf den für beide zentralen Bildungsbegriff beleuchtet. In Auseinandersetzung mit Rahel Jaeggis Kritik von Lebensformen wird ein tragfähigerer Bildungsbegriff entworfen und für das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Theologie und Kirchenleitung fruchtbar gemacht.
2.
Versicherung durch geteilte Werte: Wolfgang Hubers Kirche in der Zeitenwende
Eine bis heute virulente Art und Weise, die gesellschaftliche Gegenwart zu erzählen, ist die, einen krisenhaften Pluralismus zu diagnostizieren und im nächsten Schritt die Notwendigkeit einer mehr oder weniger stark kirchlich gefassten Integration der verschiedenen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Sphären zu erweisen. Exemplarisch kann für diese Form, gesellschaftliche Pluralität zu erfassen, Wolfgang Hubers Buch Kirche in der Zeitenwende stehen. Huber setzt sich in diesem Buch intensiv mit den kurzfristigen Folgen und Bedeutungen der deutschen Wiedervereinigung für die Kirche auseinander. Huber sieht die Zeit nach 1990 durch wachsenden Individualismus und Pluralismus geprägt und zeichnet das Bild einer bedrohten Gegenwart, in der die „Werte, die für alle gelten“, aufgezehrt werden, die „Selbstentfaltung und Selbstbehauptung“ der Individuen grenzenlos fortschreitet und gemeinschaftsbildende Konzepte wie „Empathie und Solidarität“ als überholt gelten.8 Diese Tendenz fördere die „Sinn8
WOLFANG HUBER: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 21999, 26.
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und Orientierungskrise, die weite Bereiche der Gesellschaft erfaßt“9 habe und die sich v. a. auch in einer „wachsende[n] Gewaltneigung“10 in der Gesellschaft zeige. Dieser Diagnose einer gefährdeten, krisenhaften Gegenwart, die bedroht ist, auf tragisch-dialektische Weise die Bedingungen der von ihr so hoch geschätzten Freiheit zu verspielen, korrespondiert ein spezifisches Verständnis der Aufgabe der Kirche. Diese besteht darin, im gesellschaftlichen Zusammenspiel der ausdifferenzierten Systeme gemäß ihrer Funktion als einer intermediären Institution zwischen Staat und Zivilöffentlichkeit zu agieren11 und so die unterschiedlichen atomisierten Gesellschaftssysteme, sowie die je einzelnen Individuen zu einer Zivilgesellschaft zusammen zu binden. „Gesellschaftlicher Zusammenhalt […] gehört zu den Voraussetzungen individueller Freiheit“ und es ist Aufgabe der Kirche, „gemeinsame Sinnbestände und Wertorientierungen“12 zu produzieren, damit dieser Zusammenhalt möglich wird. Die Aufgabe der Kirche besteht darin, daran mitzuwirken, die zunehmende Entfremdung der Sozialsysteme untereinander und der Individuen von ihnen zu überwinden. Den Begriff der intermediären Institution übernimmt Huber von Peter L. Berger und Thomas Luckmann und ergänzt ihn um eine von Detlef Pollack in Kirche in der Organisationsgesellschaft beschriebene Zwischenstellung ‚nach oben‘. Intermediäre Institutionen sind auf Vermittlung angelegte Institutionen und reagieren als solche auf die gesellschaftlichen Phänomene Ausdifferenzierung (neutral) und Entfremdung (negativ beurteilt). Bei Berger und Luckmann ist diese vermittelnde gesellschaftliche Funktion vornehmlich auf die einzelnen Individuen bezogen, insofern als die intermediären Institutionen die Funktion haben, individuelle Sinnkrisen zu vermeiden. Sie sollen „zwischen dem einzelnen und den in der Gesellschaft etablierten Erfahrungs- und Handlungsmustern“13 vermitteln, um auf diese Weise die Sinnhaftigkeit des individuellen Handelns zu sichern und so eine resiliente Identität herzustellen. Die gesellschaftliche Dimension dieser Vermittlungsleistung wird von den Autoren dabei auch in den Blick genommen, aber ebenso auf das Individuum hin bezogen. Mit Blick auf die Kirchen stellen die Autoren fest, dass sie „die Stabilität und Glaubwürdigkeit der ‚großen‘ Institutionen (allen voran des Staates)“ stützen und so die „‚Entfremdung‘ des Individuums von der Gesellschaft“ mildern können.14 Diese Vermittlungsfunktion wird, von Huber unter Rückgriff auf Pollack unterstrichen. Pollack hatte in seiner 1994 erschienenen Studie darauf aufmerksam gemacht, dass die Kirchen in der DDR in ihrer Position zwischen dem Staat und den mit ihm 9 10 11 12 13
14
A. a. O., 27. Ebd. A. a. O., 276. A. a. O., 29. PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995, 59. A. a. O., 61.
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assoziierten Lebensbereichen einerseits und diesem gegenüber kritisch bzw. feindlich gesonnenen Teilen der Gesellschaft andererseits aufgerieben wurden. „Sie [die Kirche; J. W.] hätte zum Staat ein besseres Verhältnis herstellen müssen, als dieser zu seinen Bürgern besaß und zu den Bürgern eine bessere Beziehung, als diese zu ihrem Staat hatten.“15
Huber überträgt diese Diagnose (wenn auch nicht ungebrochen) auf die Lage im vereinigten Deutschland, indem er „eine zunehmende Entfremdung zwischen den Repräsentanten und den von ihnen Repräsentierten“16 in allen gesellschaftlichen Bereichen feststellt. Diese Entfremdung zu überwinden bzw. theologisch gesprochen zu versöhnen, ist die zentrale Aufgabe der Kirche im Pluralismus. Die Aufgabe der Kirche im Gemeinwesen wird aber nach Huber insofern erschwert, als sie selbst von den Entwicklungen betroffen ist, die die gesellschaftliche Krise begründen. Huber kritisiert eine in der Kirche vorhandene Tendenz zur Selbstsäkularisierung,17 die sich v. a. als Ethisierung der Religion darstelle. „Die moralischen Forderungen der Religion wurden zum dominierenden Thema; die transmoralischen Gehalte der Religion, die Begegnung mit dem Heiligen, die Erfahrung der Transzendenz traten in den Hintergrund.“18
Huber diagnostiziert und prognostiziert für die Kirche aber eine Zeitenwende, „nicht nur in einem äußerlichen chronologischen Sinn“, sondern auch im Sinne einer „Chance zu einer Neubestimmung des eigenen Selbstverständnisses und zu einer neuen Zukunftsorientierung“.19 Dennoch bleibt für Huber bestehen: „Die Krise der Kirche ist im Kern eine Orientierungskrise. […] Wie die Kirche als ‚alte Institution‘ die Fragen heutiger Menschen beantwortet und wie sie ein Ort wird, an dem Menschen aller Generationen bei ihrer Suche nach Sinn einen festen Halt finden, wie ihr helfendes Handeln und ihr Beitrag zum Bildungsgeschehen sich so gestalten lassen, daß auch die Glaubensbotschaft die Menschen erreicht – dies erweist sich als die Schlüsselfrage in der Krise.“
Um diese Krise zu überwinden, muss sich die evangelische Kirche nach „innen“ und nach „außen“ auf ihren Charakter als transzendent begründete Gemeinschaft besinnen, wobei dieser Begriff bei Huber seltsam konturlos bleibt. Der spezifische Charakter kirchlicher Gemeinschaft ist der, dass sie „gerade deshalb gelingen kann, weil sie sich auf eine Wirklichkeit gründet, die größer ist als sie selbst“20. Welchen Ertrag genau der Gemeinschaftscharakter der Kirche für das 15
16 17 18 19 20
DETLEF POLLACK, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart u. a. 1994, 372. HUBER, Kirche (s. Anm. 8), 277. A. a. O., 31. Ebd. A. a. O., 32. A. a. O., 280.
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zivilgesellschaftliche Zusammenleben hat, bleibt hier weitgehend unbestimmt. Er scheint sich darin zu erschöpfen, dass die Kirche als Organisation21 kritisches Gegenbeispiel zur von feindseliger und gewaltvoller Pluralität gekennzeichneten Gesellschaft sein soll. Kirche wird zur exemplarischen Lebensform, von der aus die für das zivilgesellschaftliche Leben notwendigen, die Grenzen der Pluralität festlegenden Prinzipien kommuniziert werden. Kirchen können daher von Huber als „Orte der Begegnung und der Vergewisserung“22 qualifiziert werden, weil hier diese Prinzipien (Huber selbst spricht z. B. vom Doppelgebot der Liebe, den Zehn Geboten und von der goldenen Regel) in Geltung stehen und Anwendung finden, vergewissert werden und zugleich für die weitere Öffentlichkeit inszeniert23 und damit anschaulich werden. Dem entsprechend soll die Kirche ihre noch bestehenden Ressourcen auf zwei Bereiche konzentrieren: Bildung und politische Verantwortung. Im Bildungsbereich nimmt die Kirche ihre gemeinschaftsstiftende Funktion wahr, im politischen Bereich ihre kritische, wobei sich beide Funktionen in der Vermittlung von Werten und damit in der aktiven Orientierung sowohl von Individuen als auch von Kollektiven durch das Evangelium und davon abgeleitet durch die Kirche treffen. Es wird nicht ganz klar, inwiefern diese Fassung der gesellschaftlichen Aufgabe der Kirche über die von Huber kritisierte Ethisierung der theologischen Gehalte hinausgeht. Es lässt sich vermuten, dass Huber darauf abzielt, dass die gemeinschaftsbildenden Werte des Christentums in dialektischer Spannung zu den dogmatischen Grundaussagen – allen voran der Transzendenz Gottes, als Gegenüber von Welt und Kirche – stehen und so in relativer Eigenständigkeit gegenüber ihrem eigenen Grund angesehen werden. Das Christentum und die Kirchen gehen dann nicht in der ethischen Dimension ihrer Botschaft auf, sondern kommunizieren durch ihre Botschaft vom transzendenten, aber menschenfreundlichen Gott zugleich Werte für das gesellschaftliche Zusammenleben. Wenn sich die Kirche nun aber in ihrer gesellschaftlichen Wirkung auf diese Werte-Dimension ihrer Botschaft konzentrieren soll, wie soll das anders ablaufen als über eine Konzentration auf die Ethik? Funktion der Kirche für die Gesellschaft ist es also, die Form des politischen Diskurses zur Verfügung zu stellen und aktiv zu erhalten. Die Rolle der Kirche ist dabei, die Kombatant:innen im Diskurs bestmöglich zu rüsten und den Schauplatz der Auseinandersetzung zu liefern. Bildung und Moderation sind die zentralen Begriffe, mit denen die kirchliche Aufgabe beschrieben wird. Durch den intermediären Charakter der Kirche wird deren Differenz sowohl zum Staat als auch zur weiteren Öffentlichkeit gewährleistet. Auffällig ist dabei eine proble21 22 23
Huber spricht hier von der „Gestaltung der Gemeinschaft“, ebd. A. a. O., 282. Zum Begriff der Inszenierung vgl. JAN HERMELINK: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 116–123.
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matische Blindheit gegenüber Machtverhältnissen. Moderation und Wertevermittlung als Meta-Aufgaben zur Gewährleistung des gewaltfreien Diskurses sind Positionen mit ausgedehnter Machtkompetenz. Eine Position, die aus Sicht sowohl einer freiheitlichen, als auch einer säkularen Öffentlichkeit unter gar keinen Bedingungen der Kirche oder den Kirchen zukommen darf, sofern sie nicht ihre eigenen Voraussetzungen zerstören will. Die Stellung zwischen Staat und Öffentlichkeit wird über Böckenförde und amerikanische Konzepte der Zivilreligion faktisch zur Begründungsposition und zum legitimierenden Fundament von Diskurs und Gesetzgebung, die Voraussetzung, von der der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt. Huber kombiniert in seiner Schrift eine pessimistische Deutung des gesellschaftlichen Pluralismus mit einer optimistischen Deutung kirchlicher Wirksamkeit. Der gesellschaftliche Pluralismus wird durchgängig in dunkelsten Farben gezeichnet bis hin zu rhetorisch wirksamen, aber sachlich problematischen Kurzschlüssen, wie der Ableitung gesellschaftlicher Gewaltphänomene oder dem Aufkommen psychischer Erkrankungen aus dem diagnostizierten Mangel an Sinnorientierung. Aller Kulturkritik und Krisendiagnose zum Trotz, sieht Huber aber in seiner Studie großes Potenzial für die Situation der Kirche. Die Kirche kann ihre Rolle als intermediäre Institution für Individuum und Gesellschaft einnehmen und erfüllen, wenn sie die nötigen Entscheidungen trifft und Reformen angeht und vermag es dadurch – so der Eindruck –, auch die negativen Folgen des Pluralismus zu kontern und so eine funktionierende Zivilgesellschaft zu begründen. Huber ist hier optimistischer als seine sozialphilosophischen Gewährsleute Berger und Luckmann, die klar darauf hinweisen, dass die vermittelnde Funktion von Kirche erstens v. a. im sozialen Nahraum wirksam sein kann und weniger in der allgemeinen Öffentlichkeit und zweitens intermediäre Institutionen nur eine begrenzte Wirksamkeit zeigen können und nur Symptome der Pluralisierung der Gesellschaft bekämpfen können.24 Das Verhältnis von lokal verfasster Kirchengemeinde bzw. Gemeinschaft und zentral organisierter Kirche wird bei Huber nicht klar, was zur immer wieder erscheinenden Unklarheit führt, ob es sich bei der Kirche nun um eine Akteurin innerhalb der Zivilgesellschaft oder um eine Meta-Akteurin hinter und über der Zivilgesellschaft handelt. Während Berger und Luckmann im Miteinander vieler intermediärer Institutionen die zwanglose Integrationsfunktion der Kirche, da wo sie geschieht, würdigen können, neigt die pragmatisch verständliche Fokussierung Hubers auf die Rolle der Kirche dazu, eine Hegemonie derselben als Werteinstanz gegenüber der Gesellschaft zu entwerfen. Teils macht es den Eindruck, die Kirche verhalte sich zur Gesellschaft wie das Wort Gottes zur Kirche. Sie ist die externe Verankerung und kritische Wächterin der gesellschaftlichen Prozesse. Dieser Eindruck wird durch die sonderbare Parallelisierung der Situationen der Kirche im Pluralismus und der Kirche im Sozialismus verstärkt. Wie Pollack 24
Vgl. BERGER/LUCKMANN, Modernität (s. Anm. 12), 70.
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überzeugend darstellt, war die Situation der evangelischen Kirchen in der DDR davon gekennzeichnet, dass der Staat aktiv die Kirchen schwächte, indem vornehmlich auf die individuellen Kirchenmitglieder Druck ausgeübt wurde.25 Die gesellschaftlichen Pluralisierungsprozesse, die Huber als Ursache der gesellschaftlichen und kirchlichen Krisen identifiziert, lassen sich demgegenüber aber nur in geringem Maße auf bewusste Steuerung und politische Entscheidung zurückführen, sondern basieren auf freien Entscheidungen der betreffenden Individuen. Die Legitimität dieser Parallelisierung lässt sich also bezweifeln. Die Huber’sche Stoßrichtung ist deutlich: Die Gegenwart ist durch eine verbreitete Unsicherheit in Bezug auf geteilte, handlungsleitende Werte gekennzeichnet. Es ist diese Unsicherheit, die Gewaltpotenzial erhöht und gesellschaftliche Verständigung unmöglich macht. Diese Form der Gesellschaftsdiagnose findet sich weit verbreitet. Ein flüchtiger Blick in die Feuilletons der großen deutschen Zeitungen bestätigt dies, aber auch die einschlägigen Titel der gegenwärtigen sozialphilosophischen Gesellschaftsanalyse.26 Die entsprechende Antwort ist meist dieselbe: Man muss sich auf das Gemeinsame, Allgemeine, Verbindende besinnen, um Orientierung zu schaffen in dieser unübersichtlichen Welt. Im Fall Hubers: die in und durch die Kirche vergewisserten und verbürgten Werte des Zusammenlebens.
3.
Versicherung durch subjektive Gewißheiten: Eilert Herms Kirche für die Welt
Herms Konzept lässt sich geradezu als den Gegenentwurf zum Huber’schen verstehen. Während Huber auf eine zivilreligiöse Integration der gesellschaftlichen Sphären setzt, schwebt Herms ein vertiefter und „ganzer Pluralismus“27 vor. Ausgangspunkt der Herms’schen Überlegungen ist die Hypothese, dass alle Subjekte in ihrem Handeln von sog. ‚Gesamtlebensformen‘ bestimmt sind. Dabei handelt es sich um Bündel von handlungsleitenden Gewissheiten über die Welt und den Menschen, deren tragende Überzeugungskraft durch nur teils den Individuen zugängliche Erschließungsgeschehen hergestellt wird. Herms diagnostiziert für die Gegenwart eine massive Pluralisierung dieser Gesamtlebensformen, die jeweils aber den Anspruch darauf erheben, das jeweilige Individuum 25 26
27
Vgl. POLLACK, Kirche (s. Anm. 14), 443f. Besonders zentral stellt Andreas Reckwitz diese Diagnose. Vgl. ANDREAS RECKWITZ: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt 42021; oder auch INGOLF U. DALFERTH: Die Krise der öffentlichen Vernunft. Über Demokratie, Urteilskraft und Gott, Leipzig 2022 und unzählige mehr. Vgl. EILERT HERMS: Vom halben zum ganzen Pluralismus (1993), in: DERS.: Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 388–431.
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existenziell und umfassend zu bestimmen. Herms stellt zwar fest, dass Lebensformen (z. B. die protestantische aber auch andere) entgegengesetzten Lebensformen gegenüber indifferent bis tolerant sein können, aber auch Herms sieht das gesellschaftliche Konfliktpotenzial einer solchen Pluralität: „Die sozialgeschichtlich völlig neue Zumutung wird sein: das Zusammenleben in einer Gesellschaft auf dem Boden einer Vielzahl von verschiedenen weltanschaulichethischen Grundorientierungen, die gleichzeitig und nebeneinander die gesamtgesellschaftlichen Interaktionen ihrer Anhänger innerlich ausrichten und dadurch auf alle Interaktionsbereiche Einfluß ausüben.“28
Herms wählt zur Reduktion des diagnostizierten Konfliktpotenzials aber nicht wie Huber den Weg der Integration über ein extern verankertes Wertesystem, sondern sucht die Antwort auf das Problem in der Selbstbescheidung der betreffenden Weltanschauungssysteme und der damit verbundenen, konsequenten Anerkennung des gesellschaftlichen Pluralismus als wirksamer Lebensform aller gesellschaftlicher Bereiche.29 In seinem Aufsatz Pluralismus aus Prinzip konturiert Herms, wie diese prinzipielle Selbstbescheidung aussieht. Sie basiert auf zwei Grundsätzen: „erstens, daß alle denkbaren religiös-weltanschaulichen Überzeugungen, mögen sie inhaltlich noch so verschieden sein, jedenfalls in ihrem Charakter als innerlich verpflichtende Handlungsorientierung nicht geplant, geschaffen, zielstrebig erzeugt oder herbeigeführt werden können, sondern unverfügbar sind“, d. h. als auf Offenbarung als spezifischem Erschließungserlebnis basierend angesehen werden „und zweitens, daß sie eben als tragende Lebensüberzeugung alle (keineswegs bloß die privaten) Zielentscheidungen von Personen orientieren und deshalb wesensnotwendig eine öffentliche Bedeutung haben“.30 Die je individuellen Überzeugungssysteme konvergieren, sofern sie einen echten Pluralismus bilden wollen „nur in einer einzigen praktischen Pointe: nämlich in der praktischen Anerkennung der Pluralität konkurrierender Totalperspektiven nicht als einer zufälligen Ungunst der Verhältnisse, sondern als eines Sachverhalts, mit dem grundsätzlich zu rechnen ist, weil er Gründe in der Verfassung des Daseins selber hat, wie es jeweils selbst erfahren und in der eigenen Überzeugung anerkannt ist“31.
28 29
30
31
A. a. O., 405; Hervorhebungen im Original. Vgl. a. a. O., 406; Herms argumentiert hier v. a. für die Selbstbescheidung des Staates gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Bereichen. In Pluralismus aus Prinzip stellt er aber klar, dass solche Selbstbegrenzung auch von Religionsgemeinschaften erwartet werden kann. EILERT HERMS: Pluralismus aus Prinzip (1991), in: DERS.: Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 467–485, hier 483. A. a. O., 483.
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Herms setzt also auf ein den unterschiedlichen Überzeugungssystemen immanentes Formprinzip zur Pluralitätstoleranz. Die gesellschaftlich-politische Stoßrichtung der Herms’schen Konzeption liegt dabei darin, die Freiheit der individuellen Überzeugungssysteme gegenüber anderen hegemonialen Bestrebungen – namentlich dem Staat und der Wirtschaft – zu gewährleisten. Der ‚ganze Pluralismus‘, wie er Herms vorschwebt, zeichnet sich dadurch aus, dass eben keine Hegemonie eines Überzeugungssystems (z. B. des politischen, des wirtschaftlichen, des wissenschaftlichen oder auch des religiösen) gegenüber den anderen besteht. Es kann damit auch nicht die Aufgabe der institutionellen Kirche sein, eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Integrationsfunktion einzunehmen, sondern Herms fasst den Auftrag und die Funktion der Kirche für die Gesellschaft so zusammen: „Das Proprium der Institution Kirche ist nicht die Pflege der Beziehungen zum Übernatürlichen (Irrationalen) und die Bewältigung von Grenzsituationen, sondern die Erbringung einer integralen Sozialleistung. Worauf es ankommt, ist die Erhaltung derjenigen Bildungsinstitutionen, die für die Regeneration er ethisch orientierenden Lebensgewißheiten des christlichen Glaubens unabdingbar sind. Das sind über den Gottesdienst hinaus: die Institutionen der familialen und außerfamilialen (vorschulischen) Primärsozialisation, die Institutionen eines allgemeinbildenden Schulwesens, der Erwachsenenbildung und der seelsorgerlichen Lebensbegleitung. Zu nichts weniger als zur Pflege dieses Institutionenensembles hat die Kirche die ‚Autonomie‘ zu benutzen, die ihr durch die neuzeitliche Gesellschaftsentwicklung zugewachsen ist.“32
Auch Herms identifiziert als primäre Funktion der Kirche(n) die Bildung, dabei ist aber das Ziel dieser Bildung eine andere, als es Huber vorschwebt. Für Herms liegt die zentrale Funktion in der Reproduktion und Regeneration der ethisch orientierenden Gewissheiten des Christentums. Kirchliches Handeln ist für Herms also nicht nach außen hin ausgerichtet, sondern primär nach innen. Es geht nicht darum ein gemeinsames Wertefundament für Staat und Gesellschaft zu schaffen, sondern den Bestand der das Leben der Christ:innen orientierenden Gewissheiten zu erhalten. Der Fokus kirchlichen Handelns liegt damit nicht auf öffentlicher Kommunikation und auch nicht auf äußerer Mission, sondern auf nach innen gerichtetem qualitativem Gemeindeaufbau. Herms vertritt keine öffentliche Theologie, sondern eine Form von privat-gemeinschaftlicher Theologie, deren Trägerschaft und Klientel in der Kirche zu suchen sind. Tendenzen der Selbstabschottung versucht Herms dabei entgegenzutreten, indem er den existenziellen und umgreifenden Anspruch der Lebensgestaltung des Individuums durch jene Gewissheiten betont. Die Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Felder und Sphären geschieht nicht über eine externe Institution, sondern erfolgt durch den Umgang des Individuums mit und in verschiedenen Sphären, der dabei aber immer nur von einem Überzeugungssystem geformt ist. Eine Christin kann sich im gesellschaftlichen Bereich der Politik 32
HERMS, Pluralismus (wie Anm. 26), 396f.; Hervorhebungen im Original.
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oder der Wirtschaft betätigen, aber immer nur als Christin und nie entsprechend der dem jeweiligen Bereich korrespondierenden Lebensform, d. h. der jeweiligen Gewissheitssystemen. Herms überspannt und unterschätzt dabei zugleich die Leistungskraft des Individuums. Weder kann man zum Normalfall erklären, dass jeder Mensch fest verankert in einem Überzeugungssystem sein Leben führt, noch sollte man die Integrationskraft des Individuums unterschätzen, dem es durchaus gelingen kann, relativ unverbunden verschiedene Überzeugungssysteme gleichzeitig und im Wechsel für die eigene Lebensführung fruchtbar und wirksam zu machen. Der Herms’sche Mensch neigt dazu, zu einer relativ leblosen Überzeugungsanwendungsmaschine zu werden, deren Krisen und Konflikte, aber auch kreativen und produktiven Ungewissheiten de facto auf eine unterstufige Durchklärung der eigenen Gewissheiten zurückzuführen sind. Vorsichtige Annährungen an andere Überzeugungssysteme, gedankliche Anregung und auch produktive Synkretismen finden bei Herms keinen Platz, sondern werden unter dem Stichwort der Beliebigkeit negativ gewertet. Dieselbe Konstellation, die den gesellschaftlichen Pluralismus zu einem hintergründig wirkenden, zivilreligiösen Autoritarismus degenerieren lässt, stürzt das Individuum in eine gefährliche Unsicherheit in der Lebensführung.33 Dabei handelt es sich für Herms v. a. um eine Tendenz zur Neutralisierung der Öffentlichkeit über die Privatisierung aller weltanschaulichen Lebensorientierungen, die selbst in der Hegemonie der ökonomischen Weltanschauung begründet ist. Die so verstandene pluralistische Beliebigkeit wird von Herms in dieser Spur selbst als anti-pluralistische Hegemonie ausgewiesen. Eine Diagnose, die in jüngerer Vergangenheit z. B. Thomas Bauer teilt. Echter Pluralismus basiert hingegen auf einer „Öffentlichkeit, die aufgrund klarer, sprachfähiger religiös-weltanschaulicher Überzeugungen und prägnanter, ethisch-orientierender Gewißheiten zum öffentlichen Diskurs“34 wirksam wird und kritisch Stellung bezieht. Diese These ist inzwischen weitgehend zu Gemeingut geworden, wenn es um die Frage nach den christlichen Kirchen im Pluralismus geht, es muss aber gefragt werden, ob die Diagnose, dass weltanschauliche Beliebigkeit im Geheimen eine Form des weltanschaulichen Autoritarismus ist, nicht den Bogen überspannt. Die Herms’sche Grundfigur, dass Toleranz nur auf dem festen Boden eines geklärten und faktisch dogmatisch-systematischen Weltanschauungszusammenhang basieren kann, kann angezweifelt werden. Gerade mit dem erwähnten Thomas Bauer lässt sich die Frage stellen, ob es sich nicht doch anders verhält und flexible Unklarheit nicht eine höhere Toleranzfähigkeit aufweist. Vielmehr scheint die Herms’sche Introspektive der Theologie zur Versäulung und Ablösung der verschiedenen Weltanschauungssysteme zu führen, ohne dass
33 34
Vgl. HERMS, Prinzip (wie Anm. 29), 478. A. a. O., 479.
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es einen Hinweis darauf gibt, dass dadurch Konfliktpotenzial irgendwie gemindert werden würde.35
4.
Die Kirche im Pluralismus: Bildungsinstitution
Huber und Herms lassen sich als entgegengesetzte Pole beschreiben. Huber sieht den Pluralismus als Ursprung einer umfassenden, gesellschaftlichen Sinn- und Orientierungskrise an. Dieser müssen die Kirchen durch ein wertegestütztes und werteorientiertes Bildungsprogramm antworten, um als intermediäre Institutionen die notwendige Klammer um die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme zu bilden. Die Kirchen haben als Schulen der Gesellschaft eine besondere und ausgezeichnete Funktion inne. Die kirchliche Werte-Bildung vollzieht sich dabei auf unterschiedlichen Kanälen v. a. den neuen Medien. Man kann das Huber’sche Konzept der öffentlichen Theologie auf diese Gesellschaftswahrnehmung und diese kirchliche Aufgabe zurückführen. Anders ist die Sache bei Herms gelagert. Herms deutet den gesellschaftlichen Pluralismus nicht per se als Krise. Für Herms ist der gesellschaftliche Pluralismus zu begrüßen insofern, als in ihm die Hegemonien spezifischer Weltanschauungssysteme (des kirchlichen, des politischen, des ökonomischen usw.) aufgebrochen sind und den verschiedenen Weltanschauungssystemen ihr jeweiliges eigenes Recht verschafft wird. Problematisch wird die Konstellation des Pluralismus nur dann, wenn ein Weltanschauungssystem nicht die angemessene Stufe an selbstreflexiver Durchklärung erreicht hat und versucht, eine Hegemonie gegenüber den anderen Systemen aufzurichten. Weltanschauungskonflikte sind damit für Herms nicht in der Pluralität der Weltanschauungen an sich gegründet, sondern in der jeweiligen Verfassung bestimmter Weltanschauungen. Die Kirchen haben in dieser Konstellation die zentrale Aufgabe, eben nicht in die anderen gesellschaftlichen Systeme einzugreifen, sondern das eigene Weltanschauungssystem durch Bildung so zu klären, dass die darin liegende Neigung zum Pluralismus deutlich wird. Während also Huber das Objekt kirchlichen Handelns außerhalb der Kirche selbst verortet, bezieht sich das kirchliche (Bildungs-)Handeln bei Herms rückbezüglich auf die Kirchen selbst. Zudem verorten Herms und Huber die Prinzipien, die ein tolerantes und funktionierendes Zusammenleben gewährleisten, unterschiedlich. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird bei Huber durch eine externe Klammer gewährleistet, bei Herms
35
Vgl. HERMS, Pluralismus (s. Anm. 26), 430; Herms verweist hierzu darauf, dass die kirchliche Introspektive faktisch zu einer öffentlichen Erkennbarkeit führen würde, die selbst wiederum Voraussetzung für einen echten Pluralismus ist. Damit entkräftet er aber nicht den Vorwurf, zur Versäulung beizutragen, sondern weist diese Versäulung lediglich als notwendigen (Übergangs-)Zustand aus.
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durch die Harmonie verschiedener, jeweils für sich zur Toleranz fähiger Systeme. Herms und Huber erscheinen so als diametrale Antagonisten. Nichtsdestotrotz zeigen sich auch klare Gemeinsamkeiten bei beiden Denkern. Die erste formale Gemeinsamkeit, die ins Auge sticht, ist, dass beide den Bildungsbegriff in ihren gesellschaftlich-ekklesiologischen Konzepten ins Zentrum stellen. Wie gesagt, unterscheiden sich beide nur in der Stoßrichtung und im Objekt des kirchlichen Bildungshandelns. Die zweite Gemeinsamkeit ist damit eng verknüpft: beide sekundieren den Bildungsbegriff mit dem Orientierungsbegriff. Zweck des kirchlichen Bildungshandelns ist es, Orientierung zu schaffen. Um dies zu erreichen setzen beide auf relativ enge und klar umrissene Bildungsinhalte: Im Fall Hubers handelt es sich dabei um diejenigen Inhalte des Christentums, die sich relativ leicht in gemeinschaftsstiftende Werte umwandeln lassen, bei Herms handelt es sich um im Modus der Lehre vorgetragene, vorrationale Gewissheiten über den Menschen und die Welt um ihn herum, wobei diese Gewissheiten dem Zugriff der von ihnen bestimmten Individuen entzogen sind und damit faktisch wie objektive Sachverhalte behandelt werden müssen. Beides neigt zur Reduktion, zur Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem und zur Verknöcherung des Christentums hin zu einer Sammlung von Eindeutigkeiten und Sicherheiten. Der Ursprung dieser Tendenzen liegt meiner Ansicht nach nicht zuletzt in der Fokussierung auf Orientierung als kirchliche Aufgabe. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich der Glaube und auch die Verkündigung der Kirche irgendwie auf das Leben ihrer Mitglieder auswirken kann und soll. Auch von einem liberalen Standpunkt aus ist da nichts einzuwenden. Gleichzeitig neigt aber der Anspruch, den Menschen Orientierung bieten zu wollen, per se zu verarmender Reduktion und Erstarrung. Denn Orientierung bedeutet immer, sich, von etwas Gewissem und Festem (der Himmelsrichtung Osten) ausgehend, einen Überblick über die eigene Situation zu schaffen. Es handelt sich um die Definition eines Fixpunktes, von dem ausgehend die Welt konstruiert wird. Was fluide, flexibel und vage ist, kann keine Orientierung bieten. Man stelle sich vor, die Himmelsrichtungen würden zufällig ihre Plätze tauschen. Sie wären als Konzept unsinnig. Ähnlich verhält es sich mit auf Orientierung angelegten theologischen Konzepten. Sie verlieren ihren Sinn, wenn sie nicht umfassend anwendbar, verlässlich und eindeutig sind. So stellt es sich auch bei kirchlichem Handeln dar. Kirchliches Handeln, das die Menschen orientieren soll, darf nicht uneindeutig werden. Vielstimmigkeit stört dabei nur und nicht selten wird übersehen, was man sich über die Fokussierung auf Orientierung mit einkauft. Es gibt einen inneren Zusammenhang von auf Orientierung hin angelegtem kirchlichem Handeln bzw. theologischen Konzepten und einem Verständnis des Christentums als Kontingenz- bzw. Weltbewältigungshilfe. Orientierung braucht diejenige, die sich als verloren oder bedroht wahrnimmt. Dabei ist es gleichgültig, aus welchen Institutionen die Orientierung letztendlich erwächst – aus objektiven Wertvorstellungen oder aus subjektiven Lebensgewissheiten, bei
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denen es sich de facto um objektive Sachverhalte handelt. Diese Tendenz zu einem auf Kontingenzbewältigung ausgerichteten Religionsbegriff gibt den Konzepten von Huber und Herms ihren konservativen und dem Menschen gegenüber paternalistischen Zug. Beide basieren letztendlich auf einem institutionalistischen Verständnis von Religion, das notwendig mit Vereinfachungen und Reduktionen der Umwelt arbeiten muss – mit Niklas Luhmann gesprochen: Religion wirkt für die entsprechenden Individuen unsicherheitsabsorbierend, indem sie die grundsätzlich unendlich vielen Entscheidungsoptionen reduziert und operationalisierbar macht. Aus liberaler Perspektive kann Huber und Herms zugestimmt werden, dass es sich beim kirchlichen Handeln primär um Bildungshandeln handeln kann bzw. soll. Die Grundfigur, Menschen zu helfen, sich kompetent und souverän mit unterschiedlichen Lebenssituationen auseinandersetzen zu können, ist ansprechend. Ein auf Orientierung fokussierter Bildungsbegriff kann aber immer nur ein vorläufiger sein. Er muss ergänzt werden durch einen Bildungsbegriff, der die Welt nicht schematisch reduziert und vermeintliche Sicherheiten produziert, sondern zu einem kompetenten und souveränen Umgang mit den Unsicherheiten und Unklarheiten der Welt anleitet. Es kann nicht darum gehen, den Menschen Entscheidungen institutionell abzunehmen, sondern die Institutionen (auch die Kirche) haben den Menschen so zu dienen, dass sie kompetent ihre eigenen, souveränen Entscheidungen treffen können. Zu diesem Zweck muss eine Verschiebung des Paradigmas vorgenommen werden, weg von der Unsicherheitsabsorption und der Orientierung hin zu einem kompetenten Unsicherheitsmanagement in den Formen von Reflexion und Beratung. Für ein tragfähiges Konzept von Bildung in Weltanschauungszusammenhängen lässt sich Rahel Jaeggis Konzept der Kritik von Lebensformen fruchtbar machen. Jaeggi beschreibt misslingende Lebensformen als solche, die „an einem kollektiven praktischen Reflexionsdefizit, an einer Lernblockade“36 leiden. Lebensformen sind „Bündel von sozialen Praktiken“37, die soziales Verhalten vorstrukturieren. Jaeggis Begriff von Lebensform steht damit den institutionalistischen Konzepten Herms und Hubers nahe. Aber Jaeggi (und damit geht sie einen anderen Weg als die beiden Herren) geht sowohl von der Möglichkeit gleich erfolgreicher Lebensformen nebeneinander (anders Huber), als auch von einer grundsätzlichen Möglichkeit der Kritik von Lebensformen aus (anders Herms). Lebensformen müssen sich an ihrem Problemlösungspotenzial messen lassen und müssen kritisierbar werden. In Auseinandersetzung mit Hilary Putnam erkennt Jaeggi als Basis einer solchen Kritik (und damit auch der Verbesserung) von Lebensformen die Notwendigkeit, diese als Produkte sozialer Prozesse zu identifizieren und gleichsam zu Denaturalisieren. Was ‚natürlich‘ ist, kann nicht
36 37
RAHEL JAEGGI: Kritik von Lebensformen (stw 1987), Frankfurt 22014, 447. A. a. O., 77.
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kritisiert werden, aber mehr oder weniger internalisierte und unbewusste Handlungsschemata eben schon. Nur durch einen kritischen Reflexionsprozess auf Lebensformen werden diese überhaupt in die Lage versetzt „die sich ihnen stellenden Probleme zu lösen oder die Krisenerfahrungen, denen sie ausgesetzt sind, als Erfahrungen angemessen wahrzunehmen und sich ihnen entsprechend zu transformieren“38. Wenn Kirche die Inszenierung einer spezifisch christlichen Lebensform sein will und den Menschen in ihrem jeweiligen Leben tatsächlich dienen und helfen will, muss sie sich in einen solchen kritischen Selbstreflexionsprozess begeben und ihren Mitgliedern die Möglichkeit geben, an diesem teilzunehmen. Es muss eine Kultur der Selbstreflexion, die tatsächlich an vielen Orten in der Kirche schon zu finden ist, gepflegt und zum Paradigma erhoben werden. Diese Kultur der Selbstreflexion geht dabei einher mit einem entsprechenden, progressiven und kritischen Bildungsbegriff und einem beratenden statt orientierenden Verständnis der Aufgabe der Kirche.
5.
Verunsicherung als Aufgabe der Theologie
Ein solcher progressiver und kritischer Bildungsbegriff bedeutet eine ganz andere Form theologischer und religiöser Bildung. Diese hat dann eben nicht, wie bei Huber und Herms, die Funktion, Handlungssicherheit zu erzeugen, sondern zu kompetentem und zuversichtlichem Unsicherheitsmanagement anzuleiten. Dies kann z. B. durch Kritik und Verflüssigung von als sicher und eindeutig präsentierten Inhalten und auch Gegenwartsdeutungen geschehen, die zwar in gewisser Weise orientierend wirken können, aber nicht unbedingt handlungsförderlich sein müssen. Ein Beispiel hierfür wäre die fortgesetzte Krisenrhetorik in der Kirche. Hans Blumenberg weist in Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik nachdrücklich auf die anthropologische Funktion von Metaphern hin. Metaphern sind zwischen die Wirklichkeit und die Erkenntnis der Wirklichkeit geschaltet, präfigurieren so die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit.39 Metaphern wirken für Blumenberg dabei für das Individuum in gleicher Weise unsicherheitsabsorbierend wie vorgängige Entscheidungen, Entscheidungsprogramme
38 39
A. a. O., 447. Vgl. HANS BLUMENBERG: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 104–136, hier 115: „Der Mangel des Menschen an einer spezifischen Disposition zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, seine Instinktarmut also, ist der Ausgangspunkt für die anthropologische Zentralfrage, wie dieses Wesen trotz seiner biologischen Indisposition zu existieren vermag. Die Antwort läßt sich auf die Formel bringen: indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘.“
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Johannes Weidemann
und weitere Institutionen,40 aber auch die Lebensformen im Konzept Jaeggis. Sie lenken die Deutung der Welt in geregelte und nachvollziehbare Bahnen und ermöglichen auf diese Weise erst entschiedenes Handeln. Dabei handelt es sich für Blumenberg um einen grundlegenden anthropologischen Sachverhalt, der sich als institutionenbildender Charakter der Rhetorik bezeichnen lässt. Die Rhetorik ist damit aber zugleich all jenen Gefahren ausgesetzt, denen Institutionen ausgesetzt sind: allen voran die Verwechslung einer kulturellen Institution mit natürlichen Bedingungen.41 Die auf einer Metapher basierende Deutung der Wirklichkeit wird mit der Wirklichkeit selbst verwechselt, wodurch sich Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten reduzieren, weil das für eine auf Entscheidung beruhende Deutung konstitutive ‚es-könnte-auch-anders-sein‘ nicht mehr mitbedacht wird. Es handelt sich hierbei um die klassische Dialektik von Institutionen. Sie wirken zugleich entlastend und belastend. An Krisenrhetorik kann man sich dieses Phänomen gut klarmachen: Sie motiviert einerseits zum Handeln, sofern die Krise als abwendbares Übel angesehen wird, kann aber ebenso auch zur Depression führen, wenn die Krise als unausweichliches Schicksal gedeutet wird. Zentral ist es deshalb, die Spannung – die Unsicherheit – in der Rhetorik im Blick zu behalten. Die Krise als Zeit-Raum der Entscheidung zwischen Besserungs- und Untergangsprozess enthält in sich eine unsichere Spannung, die in der rhetorischen Verwendung des Begriffs teils unterbestimmt ist. Solche Unsicherheiten aufzuspüren und auf sie hinzuweisen ist die zentrale Funktion von wissenschaftlicher Theologie. Sie vergewissert nicht – sie verunsichert und trägt auf diese Weise in hohem Maße nicht nur zum religiösen Leben, sondern zu allem geführten Leben als Verkettung von Entscheidungen, bei. Daraus ergibt sich die Aufgabe für theologisches Vorgehen in der Gegenwart im Zusammenspiel mit kirchenleitendem Handeln. Es ist die Aufgabe der Denaturalisierung und Verflüssigung rhetorischer Figuren und Tropen zur Steigerung von Handlungsmöglichkeiten. Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung bilden so einen Zusammenhang. Während die Kirchenleitung als Entscheidungsträgerin stets darauf angewiesen ist, Komplexität zu verringern und Unsicherheit zu reduzieren, ist es die Aufgabe wissenschaftlich-theologischer Arbeit, Komplexität zu steigern und Unsicherheit zu produzieren, wobei beides stets in gegenseitiger, kritischer Bezogenheit stehen muss, um den Prozess der Entscheidungsfindung und -durchsetzung am Leben zu erhalten. Die Komplexität zu steigern bedeutet aus Sicht der wissenschaftlichen Arbeit dabei, v. a. den Charakter von Sachverhalten als selbst auf Entscheidung und damit auf Unsicherheit beruhend herauszuarbeiten und die rhetorische Funktion von Begrif40 41
Vgl. NIKLAS LUHMANN, Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000, 183. Vgl. JAEGGI, Kritik (wie Anm. 35), 10: „Wir erklären damit etwas, das ‚öffentliche Bedeutung‘ hat [d. i. Lebensformen; JW] vorschnell zur unhintergehbaren Identitätsfrage und entziehen damit Themenbereiche der rationalen Argumentation, die man aus dem Einzugsbereich demokratisch-kollektiver Selbstbestimmung nicht herauslösen sollte.“
„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“
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fen durchsichtig zu machen und so deren unzureichenden Charakter in der Wirklichkeitsbeschreibung herauszuarbeiten. Insofern ist ein enges Verhältnis von Kirchenleitung und Wissenschaft im Sinne der Arbeitsteilung konstitutiv für das Erhalten der kirchlichen Organisation. Dabei darf dieses Verhältnis aber weder als Verkirchlichung der Wissenschaft noch als Verwissenschaftlichung der Kirchenleitung missverstanden, sondern muss als gegenseitige Bereicherung angesehen werden. Wenn es je geplant war, durch kirchliche Hochschulen die Theologie unter die Autorität der Kirche zu stellen, wie es z. B. in den Beschreibungen Birkners zu Beginn deutlich wird, dann ist dieser Plan gescheitert. Zumindest die Augustana-Hochschule Neuendettelsau (die einzige, zu der ich Erfahrungswerte habe) ist kein Ort zur Regenerierung kirchlicher Gewissheiten geworden, sondern ist ein Ort, an dem Theologie ernsthaft, wissenschaftlich und mit Tiefgang betrieben wird. Ein Befund, den auch Birkner teilt: „Im Ergebnis hat freilich das Nebeneinander von Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen nicht dazu geführt, daß an ihnen Theologie von unterschiedlicher Kirchlichkeit entstanden und gepflegt worden wäre; die Kirchlichen Hochschulen haben sich vielmehr ihrem Gesamtgepräge nach den Fakultäten weitgehend angeglichen.“42
Sie steht in dieser Hinsicht den staatlichen Fakultäten in nichts nach, hat ihnen aber auch nichts voraus. Der besondere Wert der Augustana-Hochschule erwächst vielmehr daraus, dass sich durch ihre Existenz die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern zur Verunsicherung bekennt. Die ELKB unterhält selbst eine Institution, deren zentraler Zweck es ist, die eigenen Gewissheiten aufzubrechen und nicht nur zu reproduzieren. Die Existenz der Augustana-Hochschule ist so ein Symbol dafür, dass die Kirche ihre innerste Aufgabe – die Bildung – tatsächlich wahrnimmt und nicht nur die Reproduktion von unterkomplexen und letztendlich krisenanfälligen vermeintlichen Gewissheiten. Die Augustana-Hochschule zeigt, dass es der ELKB bei der Bildung nicht um Autoritätshörigkeit und das Anwenden vorgefertigter theologischer Bausteine geht, sondern um echtes theologisches Arbeiten, Ringen und Leben – mit allen damit einhergehenden notwendigen und produktiven Unsicherheiten. Selbst dann, wenn es bedeutet, das Kirchenvolk möglicherweise zu verunsichern.
42
BIRKNER, Protestantismus (wie Anm. 2), 115.
Abschied von der Kirche, wie wir sie kannten
Abschied von der Kirche, wie wir sie kannten Reimer Gronemeyer
REIMER GRONEMEYER
Das Jahr 2022 wird aus einiger Entfernung als das Jahr erkennbar sein, das die Verabschiedung von der Kirche, die wir kannten, markiert. Ich mache das an drei Tatbeständen fest: Der Krieg in der Ukraine findet ein überwältigendes mediales Echo. Bischöfliche, kirchliche, christliche Stimmen kommen nicht vor. Die radikal-pazifistische Stimme von Eugen Drewermann, der sich immer wieder auf die Bergpredigt bezieht, wird als die Stimme eines Außenseiters selbst in kritisch-kirchlichen Publikationen zum Schweigen gebracht. Als Papst Franziskus Karfreitag 2022 das Kreuz von einer russischen und einer ukrainischen Frau tragen lässt, trifft diese versuchte Versöhnungsgeste auf vehemente Ablehnung: sie sei verfrüht. Kirchliche Sozialdienste tragen 2021 und 2022 die Isolation von sterbenden Patienten mit, die wegen der Gefahr einer Coronainfektion ihre engsten Angehörigen in ihren letzten Stunden nicht bei sich haben dürfen. Und ja: die Missbrauchsskandale werden medial so abgehandelt, dass der Eindruck entsteht, sie seien das Schlusssignal, mit dem die zerbröckelnde Kirche in ihr Nirwana verabschiedet wird. Die Ikone dieser Verabschiedung war im April 2020 in den Medien zu sehen: Der einsame Papst Franziskus zelebriert auf dem leeren Petersplatz einen Segen „urbi et orbi“. Ein einzelner Priester assistiert ihm aus der Ferne, denn es ist Coronazeit. Irgendwie ballt sich in diesem Bild das Verschwinden der alten Kirche, die nur noch von Krise zu Krise wankt. In den Leitmedien wird diese Verabschiedung schmerzfrei zur Kenntnis genommen. Als würde eine Nebenfigur die Bühne verlassen, die doch tatsächlich über zwei Jahrtausende Religion, Kultur, Ökonomie und Politik in dem, was einmal das Abendland war, geprägt hat. Sie bricht nicht mit lautem Krachen zusammen, sie wird nicht verjagt oder verfolgt, sie löst sich einfach lautlos auf. Vielleicht lässt das Hoffnung entstehen: Dass die Kirche (katholisch wie protestantisch) in der Machtlosigkeit ankommt, in der Bedeutungslosigkeit, die es ihr erlaubt, sich auf die Botschaft ihres Gründers zu besinnen. Wenn die Kirche, wie wir sie kannten, weg ist, dann drängt sich das neoliberale ‚Evangelium‘ in den Vordergrund und damit eine Kultur, die sich an „Werte“ klammert. Und wer sich auf Werte beruft, beruft sich auf die Börse, denn von dort kommt das Wort und die Idee.1 In einer von Krisen erschütterten Welt, die orientierungslos dahinstolpert, wird keine machtvolle kirchliche Dogmatik gebraucht, sondern die 1
Vgl. FRANZ SCHANDL: Wert und Werte, in: Streifzüge 84/85 (2022), 5–8.
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Reimer Gronemeyer
Botschaft von der Menschwerdung Gottes, die Botschaft, die bei Paulus in die Worte gefasst ist: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (1Kor 12,9). Vielleicht kann die schwachgewordene Kirche zum Hoffnungsträger in einer Welt werden, die sich im Krisenmodus befindet. So könnte es weitergehen …2
1.
Zehn Wünsche für die Kirche 2060
1. Weiße Männer werden als Letzte gehen und das Kirchenlicht ausschalten, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder auf ein Minimum gesunken ist, wenn die Institution verschwunden sein wird und kirchliche Macht und Einfluss sich in Nichts aufgelöst hat. 2. Die post-institutionelle Kirche wird durch die empathische und geistliche Kraft von Frauen lebendig sein oder sie wird ganz verschwinden. Verschwinden wird sie, wenn die Plastiksprache, die emotionale Kälte, das betriebswirtschaftliche Kalkül oder der verblichene Glanz kirchlicher Macht die feminine Inspiration auffrisst. 3. Die Zeit der Bibel wird vorbei sein, sie wird in verstaubten Ecken vergessener Bibliotheken allmählich zerfallen. Die zukünftige Gemeinde wird sich Geschichten erzählen: vom barmherzigen Samariter, von der Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist, vom himmlischen Jerusalem. 4. Die neue Gemeinde wird sich mutig der Verfolgung stellen, die ihr von der naturwissenschaftlichen Monokultur droht. Vertrieben aus Universitäten, von politischem Einfluss abgeschnitten, wird sie zum Sammelbecken derer, die sich mit technokratischem Krisenmanagement und kruder Diesseitigkeit nicht abfinden wollen. Sie wird wilde Feste feiern, in denen sie ekstatisch mit der Hoffnung tanzt und sich der Wiederauferstehung des Glaubens erfreut. 5. Schluss wird sein mit der verklemmten Feigheit: Auf den Trümmern der alten Kirche sitzend wird die neue Gemeinde Leben und Sterben aus der biomedizinischen Gefangenschaft befreien und die Welt mit der absurden und peinlichen Rede von der Auferstehung des Fleisches bis zur Weißglut reizen. 6. Die kirchlichen Sozialkonzerne werden verschwunden sein. Eine unerwartete Kraft strömt stattdessen aus den neuen Gemeinden: Die großen Krisen (der Ökonomie, des Klimas) konfrontiert die kleinen Christengemeinschaften überall mit Flüchtlingen, Kranken, Hungernden, Einsamen. Die Welt wird beginnen auszusehen wie ein globales Hospiz. Die auf glückliche Weise 2
Die folgenden Ausführungen unter Bezug auf REIMER GRONEMEYER: Der Niedergang der Kirchen. Eine Sternstunde?, München 2020.
Abschied von der Kirche, wie wir sie kannten
7.
8.
9.
10.
2.
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ohnmächtige Kirche tröstet, begleitet und pflegt, wo ihr Not begegnet. Demütig und ohne Alleinvertretungsanspruch. Die neue Kirche wird begriffen haben, dass sie die wachsende Kluft zwischen arm und reich nicht schließen kann. Deswegen wird sie die Reichen aufgeben. Der Traum von einer gemeinsamen friedlichen Welt ohne Hunger und Krieg ist zu Ende. Stattdessen blühen Orte auf, an denen konviviale, freundschaftliche, solidarische, spirituelle Gemeinschaften wachsen. Die neuen Christen beginnen, verlorene Orte zu besetzen: Orte der Gemeinschaft inmitten allseits herrschender Einsamkeit, ‚Umsonstigkeit‘ inmitten fressenden Kalküls. Die Kirche wird sich an der blühenden Frömmigkeit, an den vollen Kirchen und dem starken Glauben afrikanischer Christen orientieren. Denen war von weißen Experten längst ein Stempel aufgedrückt worden: typische afrikanische Rückständigkeit. Die seien doch in der modernen Welt noch nicht angekommen. In diese lebensvolle afrikanische Rückständigkeit wird die neue Kirche verliebt sein. Die neue Kirche wird das Anthropozän verlassen, indem sie ihre Herzen öffnet für alle vom Menschen misshandelten Geschöpfe. Sie wird eine ‚Kritterkirche‘ sein, in der die Menschen sich nicht mehr als Krone der Schöpfung, sondern als Mitgeschöpfe verstehen. Der künftige barmherzige Samariter neigt sich nicht nur Menschen aus allen Nationen zu, sondern allen Lebewesen. Dann wird der Saft enthusiastischen Glaubens wieder in die ausgebleichten Knochen der Kirche fließen. Die neue Kirche schließt nicht aus, dass Gott scheitert. Sie fürchtet, dass die Leute die Menschwerdung Gottes zurückweisen könnten. Das würde dann die Stunde unüberbietbarer Schwäche der Kirche sein. Und das wird das letzte große Geschenk der Kirche an die Menschen: die Selbstaufgabe, in der sie ihrem Meister und Messias folgt. Eine sym-pathische Kirche, die so abschmilzt wie das Eis an den Polen. Eine Kirche, die so verblasst, wie die Korallen am Great Barrier Reef. Ein Augenblick, in der die Kirchen und die Menschen nur noch mit zum Himmel geöffneten Händen auf das Manna, das vom Himmel fällt, warten können. Dann wird die Ohnmacht der Kirche zu ihrer Sternstunde geworden sein.
Will ich …?
Will ich auf die Kirche einschlagen? Nein. Will ich sie schönreden? Nein. Will ich ihren Niedergang noch einmal genüsslich beschreiben? Nein. Will ich über ihre Fehler hinwegsehen? Nein. Will ich ihr die Rückkehr zu altem Glanz versprechen? Auf keinen Fall. Für die Kirche gilt heute ein janusköpfiger Satz. Auf der einen Seite steht: Die Kirche ist so überflüssig wie nie zuvor. Auf der anderen Seite steht: Die Kirche ist so notwendig wie nie zuvor.
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Wie ist das gemeint? Die Kirche hat ihren Zusammenbruch ja schon fast hinter sich: Alles Gewohnte und als sicher Geglaubte zerfällt vor ihren Augen. Wer geht schon noch in die Kirche? Wer glaubt noch an ihre Botschaft? Wer liest noch in der Bibel? Wer lässt sich noch von ihr maßregeln? Hat sie eine Zukunft oder ist sie schon Vergangenheit? Viele Menschen, die Empfindsamen vor allem, erwarten heute einen Zivilisationsbruch, der die Weltgesellschaft, die wir kennen, auf den Kopf stellt. Die Coronakrise war und ist ein Vorgeschmack dessen, was wir zu erwarten haben. Ob der Bruch nun als Klimakatastrophe oder als Zerfall von Staaten kommt, ob den Menschen das Wasser ausgeht oder das Essen: Leid und Schmerz werden wachsen, sie sind ja schon da. Da taucht die Frage auf: Wird der Planet ein globales Hospiz brauchen? Wird die Kirche imstande sein, den Millionen und Abermillionen, die in den vor uns liegenden Jahrzehnten mit Flucht, Not und Tod konfrontiert sein werden, Trost und – soweit es ihre schwachen Kräfte erlauben – Zuwendung zu schenken? Corona ist der Vorgeschmack auf das, was Nachdenkliche seit Jahren erwarten. Sichtbar werden die Umrisse eines in Trümmer geschlagenen Planeten. Nur eine Zahl, die für viele Zahlen steht: In den letzten vierzig Jahren sind in Europa 300 Millionen Brutpaare von Singvögeln verschwunden. Das heißt: 57 Prozent der Vogelpopulation ist ausradiert.3 Die Zahl spricht nicht nur von der Zerstörung der Schöpfung, sie spricht zugleich von der Vernichtung der Lebensbedingungen, die der homo sapiens braucht. „Ach, wie verzweifelt sind jetzt die Menschen, die einst in so dichtem Grün lebten! Wo sind Bienen und Käfer, Schmetterlinge und Ameisen? Das bunte Vögelvolk? […] Tränen laufen ihnen [= den Menschen; R. G.] übers Gesicht, während sie vergeblich nach dem Schatten der Bäume suchen, nach dem Duft von Gras und dem sanften Rieseln der lebensspendenden Bäche. Der Hochmut der Menschen hat die Erde zerstört, sie sind sich selbst zum Widersacher geworden.“4
Ursula Baatz, österreichische Philosophin, hat die Klagelieder des Jeremias so für uns heute berührend weitergedichtet. Die Kirche steckt in einer Falle: Sie meint, sie müsse immer gleich von Hoffnung reden. Gebetsmühlenartig wird die „frohe Botschaft“ über jede finstere Analyse gestülpt. Die „frohe Botschaft“ verkommt zum Happy End, wenn die Kirchenmenschen es nicht wagen, die dramatische Bedrohung der Schöpfung und des Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Vor Ostern kommt Karfreitag. Der bedenkenlose Purzelbaum ins Positive, den Priester und Pfarrerinnen gern schlagen, nimmt der frohen Botschaft den Ernst und die Kraft. Die Propaganda des Positiven erlöst nicht, sondern nagelt uns ans Kreuz des Aberglaubens. Es ist das strahlende Geschenk der christlichen Botschaft,
3 4
Vgl. URSULA BAATZ: Jeremias. Propheten des Lebendigen, in: Brennstoff 57 (2020), 7f., 7. A. a. O., 8 (im Original alles kursiv gesetzt).
Abschied von der Kirche, wie wir sie kannten
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dass sie von Hoffnung und Erlösung reden kann. Bevor wir über Hoffnung reden können, muss indessen der Schmerz ertragen werden, der die Welt durchzieht. Die Kirche ist so überflüssig wie nie zuvor, weil sie mitschwimmt im Strom der Weltvernichtung. Die Kirche ist gleichzeitig so notwendig wie nie zuvor, weil die Menschen auf der verzweifelten Suche nach Trost sind, weil sie Zuflucht, Wärme, Heimat, Gemeinschaft, Rettung ersehnen wie nie zuvor. Vielleicht wird die Stunde der Kirche schlagen, wenn die Welt zum globalen Hospiz geworden ist. Da liegt eine sterbende Schöpfung. Da seufzt eine leidende Menschheit. Wird die Kirche bereit sein zu einer bedingungslosen hospizlichen Zuwendung, die den Menschen den „Vorrang von Schmerzlinderung vor Heilung, die Maximierung persönlicher Kontakte, urteilsfreie Akzeptanz und umfassende Ausbildung für Hospizpersonal“5 bereitstellt? Das hat Vorläufer: Franz von Assisi, der sich den Aussätzigen zuwandte; Elisabeth von Marburg, die ihre fürstlichen Gewänder ablegte und in einem Flickenkleid mit den Elenden lebte. Das werden die Leitfiguren sein, dann, wenn Trost Mangelware sein wird. Es wird nicht der Augenblick des Triumphes sein. Aber der Schrei, der den barmherzigen Samariter herbeiruft, wird laut und lauter zu hören sein. Ja, dann könnte die Stunde der Kirche schlagen – aber die Kirche könnte die Stunde versäumen. Wird die Zukunft in Krisengebieten von marodierenden Trupps mit Kalaschnikow bestimmt sein oder wird der Erdkreis den Sanftmütigen gehören? Werden die Warlords die Leitfiguren oder jene ‚kleinen Brüder‘, die in konvivialen Gemeinschaften versuchen, Orte versöhnten Miteinanders zu schaffen? Taizé oder Drohnenmörder? Nonnen, die in Griechenland eine verfallene Kirche restaurieren und Obst anbauen, oder Kindersoldaten, die zum Werkzeug gewissenloser Schlächter werden? Wir müssen mit allem rechnen. Wenn künftige Generationen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückschauen, werden sie wahrscheinlich von der Zeit des großen Wandels sprechen, so hat es Joanna Macy gesagt. Joanna Macy ist eine 91 Jahre alte Kalifornierin. Es gehe – so Macy – um den Übergang von einer industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer Gesellschaft, die das Leben langfristig erhält. Dazu sind, sagt sie, Aktionen, Initiativen, Blockaden notwendig, aber eben zugleich und vor allem ein Bewusstseinswandel. „Wachstum um jeden Preis“ ist einer der zentralen Glaubenssätze unserer Zeit, aber dieser Satz zerfällt vor unseren Augen zu Staub. Die Zukunft mag dunkel vor uns liegen, aber Ungewissheit, Stress, Verlorenheit gehören zu dieser Geschichte des tiefgreifenden Wandels.6 Ist die Welt ein Schlachtfeld? Ist sie eine Falle? Oder könnte sie eine Geliebte sein? Fragen, die 5
6
Art. Planetary Hospice, in: HERB SIMMENS: A Climate Vocabulary of the Future, Tucson (Arizona) 2017, zitiert bei/nach JÜRGEN HORNSCHUH: Mach was!? Ausgesuchte Einsichten und eingeschränkte Aussichten, [ohne Ort] 32020, 188 (online lesbar unter: http://www.pax ton.de/foryou/machwas.pdf [letzter Zugriff am 12.09.2022]). Vgl. GESEKO VON LÜPKE: Die Welt als Geliebte. Im Gespräch mit der Ökologin Joanna Macy, in: DERS.: Politik des Herzens. Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit, Uhlstädt-Kirchhasel 52015, 93–104.
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Joanna Macy stellt. Die Kirche hat eine Zukunft, wenn sie diesen Wandel begleitet. Wenn sie ihn mit vorantreibt. Die Versuchung liegt darin, dass die Kirche sich zum Steuermann dieses Wandels erklärt und sich so der Illusion eines neuen Aufwindes und neuen Glanzes hingibt, der sie wieder nach oben trägt. So nicht. Ich kenne einen Priester, der in der Halle eines großen Betriebes als Packer arbeitet. Sonst nichts. Er ist da, an der Seite des neuen Prekariats. Keine Mission, kein hierarchischer oder theologischer Glanz begleitet ihn. Er ist einfach da. Und packt. Und packt wie die anderen. Unerkannte Kirche. Verborgene Kirche. Ivan Illich hat es schon vor Jahrzehnten formuliert: „Wir müssen dazu fähig sein, uns von bestimmten alten Bildern zu befreien, die uns glauben machen, dass die Kirche so sichtbar sein müsste wie ein Staat oder eine politische Institution.“7 In gewisser Weise geht diese zusammenbrechende, nur noch sich dahinschleppende Machtkirche uns allen und dem Schicksal der Weltgesellschaft voraus. Jonathan Franzen, der US-amerikanische Schriftsteller, hat gesagt: „Die Klimaaktivisten sollten aufhören, sich etwas vorzumachen.“8 Er hält den Kampf gegen den Klimawandel für schon verloren. Sind Weltgesellschaft und Weltkirche etwa in der gleichen Lage? Ein einziger Schlag, denkt man manchmal, und es ist vorbei mit der Kirche: Alles stürzt ein. Wird dann die Kirche endlich dem Gekreuzigten ähnlich, den sie in der Vergangenheit vergoldet hat, den sie mit Diamanten gekrönt hat, um das blutige Schlachtfest, das die Kreuzigung darstellt, vergessen zu lassen? Es wird die Stunde der Verhöhnung der Kirche kommen – wenn sie nicht schon da ist. Die Stunde der Demütigung, die die mächtige, die reiche, die herrschsüchtige Kirche in die Knie zwingt und vielleicht, ja vielleicht wird ihr jemand etwas auf das Haupt drücken, was an eine Dornenkrone erinnert. Eine leidende und mitleidende Kirche wird das sein, die sich dem Schrecken der Inkarnation, der Fleischwerdung nicht mehr entzieht – und damit selbst zum Abbild des Gekreuzigten wird. So kann sie dann die tröstende, die mitweinende Kirche werden, die sie immer hatte sein sollen. Eine Kirche, die aus dem Licht heraustritt, die stattdessen ins Dunkle stolpert. Über ihr schweben die Worte Paul Celans, die sie zögerlich nachsprechen kann:
7
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IVAN ILLICH: How Will We Pass on Christianity?, in: DERS.: The Powerless Church and Other Selected Writings, 1955–1985. Foreword by GIORGIO AGAMBEN. Assembled by VALENTINA BORREMANS and SAJAY SAMUEL, University Park (PA) 2018, 156–167, 161f. Schriftsteller Jonathan Franzen: Kampf gegen Klimawandel ist verloren. „Die Klimaaktivisten sollten aufhören, sich etwas vorzumachen“, sagt Franzen. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn ein Waldbrand bei Berlin. 25.1.2020, https://www.berliner-zeitung.de/politik-ge sellschaft/schriftsteller-jonathan-franzen-kampf-gegen-klimawandel-ist-verloren-li.5626 (letzter Zugriff am 12.09.2022).
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„Wir lagen schon tief in der Macchia, als du endlich herankrochst. Doch konnten wir nicht hinüberdunkeln zu dir: es herrschte Lichtzwang.“9
Es sei dies ein Gedicht kurz vor dem Verstummen, hat Paul Celan selbst gesagt. Die Kirche der Zukunft wird den Lichtzwang hinter sich lassen. Sie wird eine Kirche im Dunkeln sein. Glanzlos, stumm. Die Kirche der Zukunft wird eine sprachlose Kirche sein, gestützt von einer Theologie, der es die Sprache verschlagen hat. Sie wird anknüpfen an das, was einmal ‚apophatische‘ Theologie hieß. Apophatisch (‚absagend‘) – das ist nichts anderes als eine Theologie ohne besserwisserische Sätze. „Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus sind sich darin einig[,] dass das Göttliche als letzter, eigentlicher Urgrund aller Dinge völlig unnennbar, unbeschreibbar und unerkennbar ist.“10 Wir wissen von Gott mehr, was er nicht ist, als was er ist – so hat es der große, der heilige Thomas von Aquin gesagt.11 So wird sie sein oder sie wird nicht sein. Abschied heißt das von Pfarrern mit Pensionsberechtigung, Abschied von apostolischen Botschaftern, die bei Regierungen akkreditiert sind. Abschied von goldenen Kreuzen und bunten Gewändern. Es ist ein Abschied, der schmerzliche Trennungen einschließt. Denn es ist auch ein Abschied von christlichen Traditionen und von großen Teilen ihrer Erzählung. Von ihren Texten, von ihren Bildern, von ihren Melodien. Die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies? Nie gehört. Arche Noah – ist das ein Zoo? Weil die Menschen den babylonischen Turm längst gebaut haben, werden sie auch die Geschichte vom Turmbau zu Babel vergessen wollen. Und die Psalmen, die die Mönche ein Leben lang mit sich umhertrugen. Wo sind sie? Vielleicht könnte ein Klagepsalm heute so lauten: „Tatsache ist, dass die Menschheit den einzigen Planeten, den sie hat, durch ihre profitorientierte Produktionsweise zerstört und dieser in naher Zukunft unbewohnbar wird. Tatsache ist, dass unter den Machteliten, Geheimdiensten und Militärs weltweit keinerlei Zweifel hieran besteht und diese sich bereits darauf vorbereiten, ihr Überleben gegen das der 99 Prozent zu verteidigen. 9
10
11
PAUL CELAN: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Zweiter Band. Gedichte II, Frankfurt a. M. 2 1992, 239 (erste Zeile im Original in Kapitälchen gesetzt). CARL-A. KELLER: Christliche Mystik und Mystik der Religionen. Inwiefern sind sie vergleichbar, inwiefern sind sie nicht vergleichbar? Vortrag gehalten in Karlsruhe, 21. März 1998, http://www.carl-a-keller.ch/christliche_Mystik_und_Mystik_der_Religionen.php (letzter Zugriff am 12.09.2022), Anschnitt 4. Vgl. daneben: Art. apophatisch, in: Wiktionary. Das freie Wörterbuch, https://de.wiktionary.org/wiki/apophatisch (letzter Zugriff am 12.09.2022), wo aus dem Vortrag Kellers zitiert wird. THOMAS VON AQUIN: Summa Theologiae I, 1,9 ad 3.
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Reimer Gronemeyer Tatsache ist, dass der Kampf um die wenigen Tickets auf der neuen Arche längst begonnen hat und daher gilt, was der Pulitzer-Preisträger Chris Hedges auf den Punkt brachte, als er schrieb: ‚Den Planeten zu retten heißt, die herrschenden Eliten zu stürzen.‘“12 Tatsache ist, dass die Kirche nicht wirklich begreift, dass sie nicht so weitermachen kann wie bisher. Dass die Bindung an die bürgerliche Mitte der Gesellschaft, aus der ihre institutionelle Stärke kam, zerbrochen ist. Dass es jetzt gilt, sich radikal auf die Seite der Schwachen zu stellen und damit ihre Botschaft für sich und mit anderen auferstehen zu lassen.
Die Landesschülervertretung in Rheinland-Pfalz fordert im November 2019 die Abschaffung des Religionsunterrichtes und will dafür die Landesverfassung ändern.13 Sie dürfte die Speerspitze eines Trends sein. Und sie spricht aus, was ist: Schule findet heute nicht mehr in einem christlichen Milieu statt. Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, Menschen, denen die Kirche völlig gleichgültig ist, sie sind das neue Milieu, in dem sich Kirche verblüfft und erschrocken vorfindet. Damit verschwindet vieles, vielleicht alles, was die Kultur der letzten 2000 Jahre bei uns fermentiert hat. Wie soll die Geschichte des Abendlandes eigentlich von den Menschen noch verstanden werden, wenn sich an die biblische Schöpfungsgeschichte keiner mehr erinnert? Die Offenbarung des Johannes am Schluss der Bibel spricht von dem Drachen mit sieben Häuptern und zehn Hörnern. Er ist in zahllosen europäischen Fresken verewigt. Es weiß ja schon kaum noch einer von dieser Schrift, der Offenbarung des Johannes, die das Neue Testament abschließt. Vor dem Drachen, den Johannes beschreibt, stehen wir heute schon so ratlos wie vor steinzeitlichen spanischen Felsbildern. Von den Moses-Geschichten, der das Volk Israel durch das Rote Meer führt, bis zu den leidenschaftlichen Briefen des Apostels Paulus – sie sind nicht mehr Gegenstand der Auseinandersetzung, weil sie ganz einfach vergessen sind. Was irritiert, das ist die schmerzfreie Entsorgungsmentalität – als habe man es mit einer Müllfrage zu tun. Die Menschen, die aus einer christlichen Kultur kommen, stehen jetzt schon vor den Bildern des Pariser Louvre, der florentinischen Uffizien oder der Münchner Pinakothek wie chinesische Touristen: interessiert, aber kenntnislos. Das, was europäisch-christliche Kultur ausgemacht hat, fällt gerade einem Flächenbrand zum Opfer. Es bleiben rauchende Trümmer. Was wird darauf Neues wachsen? Wird Neues darauf wachsen? 12
13
RAINER MAUSFELD: Die neue Arche, in: JENS WERNICKE / DIRK POHLMANN (Hg.): Die ÖkoKatastrophe. Den Planeten zu retten, heißt die herrschenden Eliten zu stürzen, Mainz 2 2019, 24–41; zitiert in/nach: Brennstoff 57 (2020), 6. Vgl. FRANCA QUECKE: Rheinland-Pfalz. Warum Schüler den Religionsunterricht abschaffen wollen (19.11.2019), https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/rheinland-pfalz-wa rum-schueler-den-religionsunterricht-abschaffen-wollen-a-1296768.html (letzter Zugriff am 12.09.2022).
Theologie im Zeitalter des Anthropozäns – brauchen wir eine ökologische Reformation?
Theologie im Zeitalter des Anthropozäns Wolfgang Schürger
WOLFGANG SCHÜRGER
Die Stärke der reformatorischen Theologie Martin Luthers war, dass sie auf die drängendsten Fragen der Menschen seiner Zeit Antworten fand, die Perspektive und Hoffnung gaben. In einer Zeit, in der sich die Menschen vor allem um das Seelenheil angesichts des drohenden Endgerichts sorgten, war die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade der befreiende Impuls, der aus dem Kampf eines unbekannten Theologie-Dozenten eine dynamische Bewegung machte, die Kirche und Gesellschaft nachhaltig veränderte. In Umfragen der letzten Jahre, die freilich alle vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine entstanden sind, nannte eine Mehrheit der Befragten regelmäßig die Herausforderungen durch den Klimawandel als größte Sorge für die Zukunft, selbst zu Zeiten der Corona-Pandemie.1 Dass gerade die junge Generation sich ihrer Zukunftschancen beraubt sieht, macht sie weltweit eindrücklich deutlich durch die Fridays for Future-Proteste.2 Im angloamerikanischen Raum diskutieren Theolog:innen seit einigen Jahren bereits intensiv, ob es aufgrund der Herausforderungen des Klimawandels 1
2
So zuletzt in der im Oktober 2021 veröffentlichten Rheingold-Studie, https://www.rhein gold-marktforschung.de/zukunftsstudie-2021-wie-deutsche-in-die-zukunft-blicken-2/ (letzter Zugriff am 23.03.2022). Aber auch noch im ARD Deutschlandtrend vom 7.7.2022 gibt eine Mehrheit der Befragten an, dass der Klimaschutz für sie hohe Priorität hat https:// www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3067.html (letzter Zugriff am 08.07.2022). Auch das Bundesverfassungsgericht betont in seinem Urteil zum deutschen Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021, dass Klimaschutz eine Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen sei: „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.“ https://www.bundesverfas sungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html, 4. Leitsatz (letzter Zugriff am 23.03.2022).
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Wolfgang Schürger
nicht einer neuen, ökologischen Reformation bedarf: Angesichts der aktuellen ökologischen Herausforderungen reiche es nicht aus, christliche Umweltethik zu stärken und Menschen immer wieder neu aufzufordern, die Schöpfung zu bewahren. Vielmehr gehe es darum, das Gesamt der Theologie neu und kritisch zu denken. Neben dem Verhältnis von Mensch und Mitgeschöpf kommen hier dann auch Fragen der Soteriologie, Ekklesiologie und Eschatologie in den Blick.3 Es steht einer ecclesia semper reformanda sicherlich gut an, diese aktuellen, planetaren Herausforderungen in den Blick zu nehmen, auf ihre theologischen Implikationen zu blicken und im eigenen Handeln auf diese Herausforderungen zu antworten.
1.
Die Zeichen der Zeit
1.1
Planetare Grenzen und entgrenzte Möglichkeiten
Erdsystemwissenschaftler:innen sprechen von der Gegenwart als einem neuen erdgeschichtlichen Zeitalter, dem Anthropozän. Dieses sei dadurch gekennzeichnet, dass die Spezies Mensch erstmals in der Geschichte des Planeten die technologischen Möglichkeiten habe, das Erscheinungsbild der Erde über Generationen hinweg zu verändern und zu prägen.4 Paul Crutzen, der ‚Erfinder‘ des Begriffes, sah mit dem Anthropozän völlig neue Möglichkeiten gegeben, den von ihm bereits in den 1990er Jahren beobachteten Klimawandel zu begrenzen – zum Beispiel durch großtechnologische Lösungen, durch die die Sonneneinstrahlung auf die Erde begrenzt wird. Den entgrenzten Möglichkeiten der Menschen entspricht bei ihm eine entgrenzte Verantwortung. Diesen Chancen des Anthropozäns wurden in den Folgejahren sehr deutlich die Risiken gegenübergestellt, wenn die Menschheit dieser ihrer entgrenzten 3
4
Ein guter Überblick bei ERNST M. CONRADIE: What is God really up to in a Time like this? Discerning the Spirit’s Movements as Core Task of Christian Eco-Theology, in: LOUK ANDRIANOS u. a (Hg.): Kairos for Creation. Confession Hope for the Earth, Solingen 2019, 31– 44. Ausführlicher: LISA E. DAHILL / JAMES B. MARTIN-SCHRAMM (Hg.): Eco-Reformation. Grace and Hope for a Planet in Peril, Eugene 2016; ERNST M. CONRADIE / HILDA P. KOSTER (Hg.): The T&T Clark Handbook on Christian Theology and Climate Change, London/ New York 2020. Meine eigenen Überlegungen zur Theologie in Zeiten des Anthropozäns sind zum einen in Auseinandersetzung mit diesen Kolleg:innen entstanden. Zum anderen sind sie Ergebnis der mehrjährigen theologischen Arbeit im Rahmen der agu – Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten in den Gliedkirchen der EKD. Den Kollegen (sic, wir waren in der theologischen AG nur Männer) gilt mein ausdrücklicher Dank, insbesondere Hubert Meisinger, dem ich wichtige Anmerkungen zum ersten Entwurf dieses Beitrags verdanke. Zur schnellen Vertiefung s. https://de.wikipedia.org/wiki/Anthropoz%C3%A4n (letzter Zugriff am 29.07.2022).
Theologie im Zeitalter des Anthropozäns
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Verantwortung für das Erdsystem nicht gerecht wird. Besonders deutlich wurde dies anlässlich der Reaktorkatastrophe in Fukushima am 11. März 2011 und der Diskussion um die Suche nach einem geeigneten Endlager für hochradioaktive Abfälle. Kirchliche Vertreter:innen betonen schon seit Langem die Asymmetrie des Verantwortungshorizontes vieler großtechnologischen Projekte: „Die Auswirkungen eines Vorhabens müssen in ihren zeitlichen und räumlichen Dimensionen übersehbar bleiben. Im Sinne der Fürsorgepflicht muß die Erde auch für die nachfolgenden Generationen bewohnbar und lebenswert sein. […] Bei der Kernenergie handelt es sich um eine Technik, die fast völlige Fehlerlosigkeit des Menschen voraussetzt. Zu unserem Menschsein gehört aber, daß wir Fehler machen. Die Einsicht nimmt zu, daß wir dieser Technik nicht gewachsen sind.“5
Im Zusammenhang dieser Diskussion wird dann in der Regel die Forderung laut, sich selbst zurückzunehmen und zu begrenzen, um anderen Spezies und kommenden Generationen Lebensraum zu bewahren: „Askese, Fasten und Verzicht sind im Blick auf die Gewalt gegen die Natur notwendig, aber sie sind nur die Voraussetzung für ein reicheres Leben im ökologischen Einklang mit der Natur und ihren Kräften und im Einklang mit dem eigenen Selbst. […] Das Glück eines gelungenen Lebens hängt von sozialen Beziehungen und dem Selbstbezug ab, nicht vom Überfluss an materiellem Besitz.“6
Die Diskussion zeigt, wie unmittelbar christliche Theologie hier gefordert ist: Biblische und christliche Anthropologie rechnet stets mit der Fehlbarkeit und Endlichkeit des Menschen – dies kann nicht ohne Folgen bleiben für die Frage, mit welcher Tiefe menschliches Handeln in das Erdsystem eingreifen kann oder soll.
1.2
Zukunftsangst – was können wir hoffen?
Die multiplen Krisen, die wir aktuell durchleben (Corona-Pandemie, Klimawandel, Krieg gegen die Ukraine, drohende Wirtschaftskrise) führen dazu, dass viele Menschen von einer tiefen Zukunftsangst bestimmt sind – trotz der sehr sichtbaren Jugendproteste. Joshua Beer bringt die Perspektivlosigkeit der jungen Generation sehr deutlich auf den Punkt: „Zukunft – und das Nachdenken darüber – macht keinen Spaß mehr, denn sie ist besetzt von dystopischen Bildern: Klimakatastrophe, das Ende der Demokratie, ein Seuchenzeitalter und neuerdings der Atomtod. Was uns fehlt, sind Utopien. Keine Fantasiewelten, in die wir uns flüchten können, sondern positive Ideen davon, wie wir 5
6
Stuttgarter Erklärung der ACK Deutschland vom 22. Oktober 1988, online unter https:// www.ekd.de/energie_1990_ernergie2.html (letzter Zugriff am 22. 07.2022). JÜRGEN MOLTMANN: Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, 177.
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Wolfgang Schürger in zwanzig, dreißig Jahren leben wollen. Oder gar in hundert. Stattdessen hoffen wir im Kleinen, dass die akuten Krisen ein bisschen weniger akut werden: Waffenstillstand in der Ukraine, ein milder Corona-Winter, das wäre schon schön. Größer und weiter zu denken, wagen wir nicht. Wozu auch, wenn jederzeit die nächste Krise hereinbrechen könnte? Sicher lauert sie schon irgendwo. Die große Mehrheit jüngerer Menschen in Deutschland blickt pessimistisch in die Zukunft, viele sehnen sich gar zurück in die Vergangenheit. Vor einem Jahrzehnt war das noch umgekehrt. Es macht sich das Gefühl breit, dass im Morgen kein gutes Leben mehr möglich ist.“7
Auch vor Naturwissenschaftler:innen macht solcher Zukunftspessimismus nicht Halt: Hans Joachim Schellnhuber, langjähriger Direktor des PIK, Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, spricht in seinem vor wenigen Jahren erschienenen Lebensrückblick von der Selbstverbrennung der menschlichen Zivilisation: „Dieses Buch spricht somit […] nicht von einer fernen, mystischen Apokalypse, sondern von einem nahen, profanen Desaster, auf das unsere Zivilisation starrsinnig zusteuert. Der Begriff ‚Selbstverbrennung‘ erscheint für diese kollektive Torheit durchaus angemessen, zumal sie den Wärmetod unzähliger Kreaturen verursachen würde.“8
Hier, wie in vielen anderen Beiträgen und Interviews, benutzt Schellnhuber immer wieder ‚apokalyptische‘ Bilder, um die mögliche Zukunft unseres Planeten zu beschreiben. Weniger ‚apokalyptisch‘, aber gleichwohl besorgniserregend führen Will Steffen und Johan Rockström in ihren Analysen der „planetaren Belastungsgrenzen“ bzw. der „großen Beschleunigung“ vor Augen, dass die wachstumsorientierte und ressourcenverbrauchende Wirtschaftsweise der vergangenen Jahrzehnte an einen Punkt geführt hat, an dem Ökosysteme zusammenbrechen und die Lebensgrundlagen nicht nur von uns Menschen auf dieser Erde gefährdet sind.9 Das ‚Ende der Welt‘ wird also zunehmend von ganz säkularen Autor:innen skizziert – und es ist in der Regel gekennzeichnet vom völligen Zusammenbruch – mindestens – der menschlichen Zivilisation, wenn nicht gar allen Lebens auf 7
8
9
JOSHUA BEER: Mut zur Utopie. Höchste Zeit, sich wieder eine bessere Welt vorzustellen, Süddeutsche Zeitung vom 2.7.2022, https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesell schaft/mut-zur-utopie-trotz-klimakrise-und-ukraine-krieg-e597918/?reduced=true, (letzter Zugriff am 22.07.2022). HANS JOACHIM SCHELLNHUBER: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München 2015, 6. JOHAN ROCKSTRÖM u. a.: Planetary boundaries: Exploring the safe operating space for humanity. Ecology and Society 14 (2009), 32. Online: http://www.ecologyandsociety.org/vol14/ iss2/art32/ (letzter Zugriff am 16.09.2022). Eine gute Orientierung über die „Große Beschleunigung“ bieten folgende Webseiten: https://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/ anthropozaen/234831/entwicklungsverlauf-des-anthropozaens, (letzter Zugriff am 19.07.2022) und https://schoolsforfuture.net/m/ext/s4f/S4F-Wachstum_Die_grosse_Be schleunigung%20-%20Einsteiger_--_32_Folien_--_2020-08-19.pdf (letzter Zugriff am 29.09.2022).
Theologie im Zeitalter des Anthropozäns
381
dieser Erde. Wie verhält sich dazu die biblische und christliche Botschaft vom neuen Himmel und der neuen Erde am Ende der Zeiten?
2.
Theologie neu denken
2.1
Schöpfungslehre und Anthropologie „Die systematisch-theologische Bearbeitung der Schöpfungslehre war im 20. Jh. lange Zeit von der Sorge vor einer ‚Natürlichen Theologie‘ beherrscht, die den Unterschied von Gott und Mensch nicht mehr streng im Sinne von Luthers Bestimmung des Themas der Theologie – des sündigen Menschen und rechtfertigenden Gottes – wahrnimmt. Diese Sorge trug dazu bei, daß die Weltgegenwart Gottes theologisch zu wenig bedacht wurde. In der Aufnahme des philosophischen Personalismus, verbunden mit Impulsen der Philosophie Kants und Kierkegaards, wurde ausschließlich betont, ‚daß mich Gott geschaffen hat‘. Daß dies nur ‚samt allen Kreaturen‘ geschehen ist und geschieht, wurde ausgeblendet und blieb unbegriffen.“10
In diesem knappen Rückblick Oswald Bayers wird deutlich, wie wenig Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart die klassische protestantische Schöpfungslehre des (ausgehenden) 20. Jahrhunderts geben kann: Nicht nur blendet sie aufgrund der Abgrenzung von einer verfehlten Schöpfungsordnungstheologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Frage nach der schöpferischen und neuschaffenden Gegenwart Gottes in der Welt (in der Sprache der Tradition: der creatio continua) völlig aus, in der Regel versteht sie auch „Schöpfung“ ausschließlich als Geschehen zwischen Gott und Mensch: „Weil der Mensch – unter dem Himmel, auf der Erde – das Geschöpf ist, dessen Verhältnis zu Gott uns in Gottes Wort offenbar ist, darum ist er der Gegenstand der theologischen Lehre vom Geschöpf überhaupt.“11
Schöpfungslehre wird in aller Regel als Anthropologie entfaltet. Christian Link gesteht daher noch im Jahr 2012 selbstkritisch ein, dass in seiner Schöpfungstheologie von 1991 die Tiere zu kurz gekommen seien: „Das war eine bedenkliche Lücke, die ausgefüllt werden musste.“12 Links Werk von 2012 ist daher alles andere als eine Neuauflage seines nur gut 20 Jahre vorher erschienenen Buches. Die Version des Jahres 1991 ist noch ganz geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaften. 20 Jahre später sieht Link diesen „klassischen Konflikt“ durch 10
11 12
OSWALD BAYER: „Schöpfung. VIII. Systematisch-theologisch“, in: TRE 30, Berlin / New York 1999, 326–348, hier 326 (kursiv i. O.). KARL BARTH: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 3/II, Zollikon / Zürich 1948, Leitsatz zu § 43, 1. CHRISTIAN LINK: Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 8.
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Wolfgang Schürger
die Erkenntnisse insbesondere der Quantenphysik überwunden. Unter Aufnahme vor allem von Überlegungen Viktor von Weizsäckers betont Link, dass auch naturwissenschaftliches Erkennen sich nicht mehr einfach „auf ein distanziertes Objekt richten“ könne, sondern mit der subjektiven Beteiligung der Wissenschaftlerin am Konstitutionsprozess der Wirklichkeit rechnen müsse. Auch Naturwissenschaft sei also nicht mehr einfach objektives Erklären, sondern immer schon Verstehen, das mit der subjektiven Perspektive der Wahrnehmenden verbunden bleibe.13 Deutlich breiter als 1991 entfaltet Link 2012 dann seine Leitlinien einer ökologischen Theologie und Ethik und kommt in diesem Zusammenhang insbesondere (neu gegenüber 1991) auf die Rechte der Natur und zukünftiger Generationen sowie auf die notwendige Ethik menschlicher Selbstbegrenzung zu sprechen. Für mich ist dies ein wesentliches Kennzeichen christlicher Schöpfungslehre im Zeitalter des Anthropozäns, dass sie die Vielfalt der Geschöpfe in den Blick nimmt, die von Gott geschaffen sind und deren Lebensmöglichkeiten durch das raumergreifende Wesen der Spezies Mensch und ihrer technologischen Möglichkeiten mehr und mehr bedroht sind. Sie setzt also die besondere Rolle des Menschen im Schöpfungswerk Gottes – das „mich geschaffen“ – in Relation zu der Erkenntnis, dass wir geschaffen sind „samt aller Kreatur“ – und dass wir wie diese anderen Kreaturen Geschöpfe und nicht Schöpfer sind. Daraus resultiert dann die weitergehende Frage, wie die entgrenzten Möglichkeiten der Menschheit theologisch-ethisch zu beurteilen sind: Setzt sich hier der Mensch an Gottes Stelle? Wie verhalten sich das Bekenntnis zur creatio continua und dem rettenden Handeln Gottes zu der Wahrnehmung, dass die Menschheit die zerstörerischen Folgen ihres Lebens und Wirtschaftens nach wie vor nicht begrenzen zu können scheint? Anders gesprochen: Hat der Mensch des Anthropozäns die Fähigkeit, Gottes Segensverheißung für alles Leben auf dieser Erde (Gen 8,22; 9,15–17) zu durchkreuzen?
2.1.1
Verursacher – Opfer – Weltengärtner?
Klimawandel und das aktuelle Artensterben beruhen in erster Linie auf anthropogenen Ursachen: Der Klimawandel ist die Folge der Lebens- und Wirtschaftsweise des industrialisierten Zeitalters, dessen Erfolg im Wesentlichen auf der Ausbeutung und Nutzung fossiler Energieträger beruhte: Große Mengen an CO2, das über Jahrmillionen in Meeren und Sedimenten gebunden wurde, wurde dabei im Verlauf von einem erdgeschichtlich winzigen Moment von etwa 200 Jahren wieder in die Erdatmosphäre freigesetzt. In der Folge der dadurch verursachten Erderwärmung erleben wir weltweit vermehrt Extremwetterereignisse der verschiedensten Art: Tornados, Starkregenereignisse, aber auch Hitze- und Dürreperioden. 13
A. a. O, v. a. 173–180.
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Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geht davon aus, dass im Jahr 2019 fast 24 Millionen Menschen weltweit durch Extremwetterereignisse dazu gezwungen wurden, ihre Heimat zumindest zeitweise zu verlassen.14 Der Mensch im Anthropozän ist also nicht nur Verursacher, sondern auch Opfer der von ihm ausgelösten Veränderungen des Erdsystems. Ähnlich verhält es sich beim Artensterben: Der extreme Artenschwund, den wir seit einigen Jahren erleben, ist ganz wesentlich auf die intensivierte Landnutzung einer immer zahlreicher werdenden Menschheit zurückzuführen: Angestammte Lebensräume gehen verloren, weil Urwälder gerodet und zu Sojaoder Palmplantagen verwandelt werden, Mangrovenwälder Fisch- und Garnelenzuchtbetrieben weichen müssen, Hecken und Waldsäume der maschinellen Feldbearbeitung im Weg stehen.15 Auch hier wird die Menschheit aber immer mehr zum Opfer des eigenen Handelns: Wo Bestäuber-Insekten fehlen, gehen die Feld- und Fruchterträge zurück, Zoonosen wie Vogelgrippe und COVID 19 werden begünstigt, wo Mensch und Wildtiere sich wiederholt auf engem Raum nahekommen. In einem Zeitalter aber, in dem der Mensch zum bestimmenden Faktor des Erdsystems geworden ist, ist auch eine Lösung der aktuellen Probleme nicht ohne menschliches Handeln (oder bewusstes menschliches Nicht-Handeln) vorstellbar. Maximilian von Seckendorff weist darauf hin, dass theologische Anthropologie diese Gemengelage noch nicht hinreichend reflektiert habe. Mit dem durch den Konziliaren Prozess geprägten ethischen Leitbegriff der „Bewahrung der Schöpfung“ werde häufig eine Natur-Romantik verbunden, die ein Zurück zur unberührten Natur suggeriere und zu einer Technikfeindlichkeit christlicher Umweltethik führe. Solch eine Anthropologie werde den Herausforderungen und Möglichkeiten des Anthropozäns nicht gerecht, auch die Energiewende könne zum Beispiel nur durch technologische Innovation und technologischen Fortschritt gelingen.16 Unter Aufnahme von Gedanken von Philip Hefner zur Rolle des Menschen als Created Co-Creator Gottes17 plädiert von Seckendorff dafür, den Menschen als Erdsystemmanager oder Weltengärtner zu verstehen, wie dies in der An-
14
15
16
17
https://www.bmz.de/de/entwicklungspolitik/klimawandel-und-entwicklung/migrationund-klima (letzter Zugriff am 22.07.2022). Ausführlich z. B. https://www.deutschlandfunkkultur.de/biodiversitaet-artensterben-fol gen-100.html (letzter Zugriff am 03.08.2022). MAXIMILIAN VON SECKENDORFF: „Der Mensch im Anthropozän: ‚Mitschöpfer‘ – ‚Weltengärtner‘ – ‚Erdsystemmanager‘ ? Technik als Faktor einer anthropozänen Schöpfungstheologie“, in: Zukunft angesichts der ökologischen Krise? Theologie neu denken, hg. v. RUTH GÜTTER u. a., Leipzig 2022, 220–241, hier 220–223. Vgl. PHILIP HEFNER: The Human Factor: Evolution, Culture, and Religion, Minneapolis/MN 2000.
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thropozändiskussion immer wieder vorgeschlagen wird. Beide Begriffe freilich müssten im Hefner’schen Sinne an Gott als Schöpfer rückgebunden bleiben: „Alle drei Perspektiven [s. c. Weltengärtner, Erdsystemmanager, Created Co-Creator] ergänzen das Verständnis vom Menschen als Geschöpf Gottes um eine aktive Komponente seines Wirkens in der Welt und berücksichtigen dadurch die umfangreichen technischen Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen im Anthropozän. […] Gott gegenüber als dem Herrn über die Schöpfung ist der Mensch in allen drei Rollen verantwortlich. Von Gott wird er dabei begleitet und befähigt. An die Stelle Gottes rückt der Mensch in diesen Vorstellungen hingegen nicht, da er die Welt als cooperator Dei weiterentwickelt und verwaltet, aber keine neue Welt erschafft.“18
2.1.2
Endlichkeit – Fehlbarkeit – Erlösungsbedürftigkeit
Von Seckendorff kritisiert den umweltethischen Leitgedanken der Bewahrung der Schöpfung aufgrund der darin aus seiner Sicht implizierten Naturromantik. Die deutlichere Kritik macht sich dagegen regelmäßig an der Frage fest, ob hier nicht die Rollen Gottes und des Menschen vertauscht werden. Konrad Schmid etwa merkt an: „[…] biblisch gesehen kann nur Gott selbst die Schöpfung bewahren (Gen 8,20–22; Gen 9), dem Menschen ist es weder gegeben, sie zu bewahren, noch sie zu zerstören.“19
Auch Christian Link betont: „Was wir leisten können und sollen, ist die Bewahrung der Natur vor zerstörerischer Gewalt. […] Die Bewahrung der Schöpfung jedoch, ihrer Lebendigkeit, ihres Geheimnisses und nicht zuletzt auch ihrer Toten, ist allein Gottes Werk. Wollte der Mensch sich dies anmaßen, müsste er die ihm gesetzte Grenze als Geschöpf überschreiten.“20
Mit dieser Grenze der Geschöpflichkeit ist nun aber eine Grenze der Verantwortung verbunden, welche für die Technikfolgenabschätzung im Zeitalter des Anthropozäns von hoher Bedeutung ist: Als endliche Menschen können wir keine unendliche Verantwortung übernehmen, obwohl manche der alten wie der neuen Technologien solche entgrenzte Verantwortung erfordern – ich habe dies oben am Beispiel der Atommüllendlagerung bereits gezeigt. Ein weiteres Beispiel solcher entgrenzten Verantwortung ist die Frage, ob eine bestimmte technologische Entscheidung gegebenenfalls revidiert werden kann, ob also zum Beispiel ein einmal ausgebrachtes gentechnisch verändertes Saatgut wieder aus dem Kreislauf der Natur entfernt oder die Verschattung der Erdoberfläche durch im Orbit montierte Sonnensegel wieder rückgebaut werden kann. 18 19
20
VON SECKENDORFF: Der Mensch im Anthropozän (s. Anm. 16), 236f. KONRAD SCHMID: Die Welt als Schöpfung, in: DERS (Hg.): Schöpfung (UTB 3514), Tübingen 2012, 341. LINK: Schöpfung (s. Anm. 12), 199 (kursiv i. O.).
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Dies ist das Dilemma des Menschen im Zeitalter des Anthropozäns: Die schier unbegrenzten Möglichkeiten übersteigen den aufgrund der eigenen Endlichkeit notwendigerweise begrenzten Verantwortungshorizont. Biblische Anthropologie weiß darüber hinaus um die Fehlbarkeit von uns Menschen: „[…] das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Röm 7,19). Diese Einsicht in die eigene Ambivalenz führt den Apostel schließlich zu dem Ruf nach Erlösung (V. 24). Auch die Segensverheißung Gottes am Ende der Sintfluterzählung wird gerade nicht damit begründet, dass der menschliche Co-Creator aus dem Desaster gelernt habe und nun zu entgrenzter Verantwortung fähig sei. Vielmehr: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,21b–22).
Martin Luthers simul iustus et peccator kann einer christlichen Anthropologie im Anthropozän dabei helfen, diesen schmalen Grat zwischen Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns zu beschreiten und ein realistisches Menschenbild zu fördern.
2.1.3
Mitgeschöpflichkeit als Korrektiv?
Bei von Seckendorff kommen die Grenzen menschlicher Verantwortung in den Blick, indem er den geschaffenen Co-Creator in bleibender Abhängigkeit vom Schöpfer versteht. Das Gegenüber als Geschöpf zum Schöpfer verbindet uns Menschen aber auch mit „aller Kreatur“, wie Martin Luther sagt: „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt aller Kreatur […] und noch erhält“, so legt er im Kleinen Katechismus den ersten Glaubensartikel aus. Wir Menschen sind keineswegs die „Krone der Schöpfung“, wie populärwissenschaftliche Auslegung der biblischen Schöpfungserzählung nach wie vor glauben machen will, wir sind „geschaffen samt aller Kreatur“, Geschöpf unter Mitgeschöpfen, allerdings als Ebenbilder Gottes mit einer besonderen Verantwortung für ebendiese Mitgeschöpfe betraut. Diese Mitgeschöpflichkeit bekommt angesichts des raumgreifenden Wesens der menschlichen Spezies im Anthropozän eine hohe Bedeutung: Sind die Mitgeschöpfe in der in Gen 2 beschriebenen Weise menschlicher Fürsorge anvertraut, so muss gute menschliche Haushalter:innenschaft über diese Erde21 heute dafür sorgen, dass auch sie Genug und genug Raum zum Leben haben.
21
„Haushalterschaft“ oder englisch „stewardship“ ist ein weiterer geläufiger Versuch, den Terminus „Bewahrung der Schöpfung“ zu ersetzen.
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„Mitgeschöpflichkeit“ kann aber auch zum Leitbegriff werden, um die Beziehung Gottes zu seinen Geschöpfen neu und nicht als exklusiv auf den Menschen bezogen zu denken: In den Psalmen finden sich immer wieder Hinweise auf den Gottesbezug der nichtmenschlichen Kreaturen (Ps 24,1; Ps. 96,11–13), noch deutlicher wird dieser in den apokryphen Teilen des Daniel-Buches in der Aufforderung an alle Geschöpfe zum Lobpreis Gottes (Dan 3,76–81).22 Der Apostel Paulus weiß um die Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Mitgeschöpfen, wenn er davon spricht, dass alle Kreatur sich mit uns nach Erlösung sehnt (Röm 8,18–22). Erlösung ist nach dieser Interpretation des Apostels also nicht nur uns Menschen verheißen, sondern allen Geschöpfen. In der großen Vision des messianischen Friedensreiches kommt dies ebenso deutlich zum Ausdruck: „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt“ (Jes 11,6–9).
In der wohlgeordneten Welt Gottes ist genug Raum für das friedliche Zusammenleben aller Geschöpfe, auch Psalm 104 bringt diese Gewissheit zum Ausdruck. Die Verse 20ff. sprechen in wunderbarer Weise davon, wie Nacht und Tag zwischen Raubtier und Mensch aufgeteilt sind – die Realität dürfte freilich auch zur Zeit der Psalmen eine andere gewesen sein: „Du machst Finsternis, dass es Nacht wird; da regen sich alle Tiere des Waldes, die jungen Löwen, die da brüllen nach Raub und ihre Speise fordern von Gott. Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen. Dann geht der Mensch hinaus an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend“ (Ps 104,22–23).
Walter Brueggemann stellt in seiner Auslegung von Jes 11,1–16 den unmittelbaren Zusammenhang zu der paulinischen Rede von der Schicksalsgemeinschaft aller Kreatur her und macht so deutlich, dass zumal für die Nachfolger:innen Jesu die Visionen vom Friedensreich Gottes keineswegs U-Topien, also ortlose Visionen darstellen: „The poem is about deep, radical, limitless transformation in which we – like lion, wolf, and leopard – will have no hunger for injury, no need to devour, no yearning 22
Papst Franziskus scheint an diese Traditionen anzuknüpfen, wenn er in seiner Enzyklika betont: „Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen, noch uns ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir kein Recht“, PAPST FRANZISKUS: Laudato Sí. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Die Umwelt-Enzyklika mit Einführung und Themenschlüssel, Stuttgart 2015, Nr. 33.
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for brutal control, no passion for domination. This radical renovation is anticipated by Paul in Romans 8:19–23. […] The transformation is vastly public and intimately personal. It is a gift and then a vocation. It is of course not possible – except that the sprout comes from the stump by the spirit!“23
Schöpfung neu und weiter zu denken führt ganz schnell zu der Herausforderung, auch Erlösung neu und weiter zu denken!
2.2
Soteriologie „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,18–23).
Sehen Schöpfungspsalmen wie Psalm 104 „die ganze Welt […] von Taten Gott getragen und beherrscht, auf die alle Kreaturen hin ausgerichtet sind“24, so betont der Apostel Paulus im Römerbrief nun, dass auch alle Kreatur an der Verheißung der Erlösung Anteil hat. Es ist beeindruckend, mit welch parallelen Worten der Apostel hier von menschlicher und kreatürlicher Vergänglichkeit, von menschlichem und kreatürlichem Seufzen und somit schließlich von menschlicher und kreatürlicher Hoffnung spricht.25 Die Freiheit der Kinder Gottes gilt als Verheißung nicht nur uns Menschen, sondern der gesamten Schöpfung! Der Unterschied zwischen Mensch und nichtmenschlicher Kreatur besteht darin, dass sie ohne ihr Zutun der Vergänglichkeit unterworfen ist. Dieter Zeller weist darauf hin, dass Paulus hier in Aufnahme rabbinischer Tradition auf den Zusammenhang der Ursünde anspielt – und als „der, der sie unterworfen hat“, daher nicht Gott, sondern der Mensch selbst zu verstehen sei.26 Und er bemerkt: „Was hier als mythisches Urgeschehen angedeutet wird, läßt sich zwar natur23 24 25
26
WALTER BRUEGGEMANN: Isaiah 1–39, Westminster Bible Companion, Louisville, KY 1998, 103f. HANS-JOACHIM KRAUS: Psalmen 60–150 (BK-AT XV/2), Neukirchen-Vluyn 51978, 887. Führt man sich vor Augen, dass die Ausbreitung des Römischen Reiches mit einer massiven Entwaldung des Mittelmeerraumes einherging (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ent waldung_in_r%C3%B6mischer_Zeit, letzter Zugriff am 23.07.2022), so liegt die Vermutung nahe, dass Paulus mit seiner Rede vom Seufzen der Kreatur auch auf diese Umweltzerstörung reagiert, die er bei seinen Reisen sicherlich beobachtet hat. DIETER ZELLER: Der Brief an die Römer (RNT) Regensburg 1985, 162.
388
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wissenschaftlich nicht fassen, hat aber für uns bedrückende Aktualität: Durch die Schuld des Menschen wird die Umwelt zerstört.“27 Wenn Paulus von Hoffnung für die gesamte Schöpfung spricht, so stehe er dabei ebenfalls wieder in der rabbinischen Tradition, da „mit dem Kommen des Messias auch die Erde in ihrer Fruchtbarkeit erneuert“ werde.28 Die Hoffnung der christlichen Gemeinde auf die Freiheit der Kinder Gottes und das beginnende Leben als diese befreiten Kinder Gottes hat mit Zeller daher unmittelbare Konsequenzen für das Leben aller Kreatur: „Unser eigenes Freiwerden muß sich auf die ganze Schöpfung segensreich auswirken. Während Menschen ohne Hoffnung sie ausbeuten und zugrunde richten, erinnert uns der Geist an die Zukunft, die auch eine Zukunft für die Welt ist.“29 Wer auf einen neuen Himmel und eine neue Erde hofft, auf der auch Bäume, Tiere und Flüsse an der Erlösung Anteil haben, tut gut daran, all diesen Mitgeschöpfen im Hier und Jetzt Lebensmöglichkeiten offen zu halten!
2.3
Eschatologie
Können wir es überhaupt noch schaffen, die Erderwärmung auf ein Maß zu begrenzen, das für den Fortbestand des Lebens auf dieser Erde, wie wir es kennen, erträglich ist? Wie wir eingangs bereits gesehen haben, werden die Szenarien, die Klimaforscher und -aktivistinnen benennen, immer ‚apokalyptischer‘. Aktionsgruppen wie Extinction Rebellion sprechen gar davon, dass wir Menschen dabei seien, das Leben auf dieser Erde auszurotten.30 Umgekehrt sind vor allem aus dem evangelikalen oder fundamentalistischen Spektrum theologische Stimmen zu hören, dass christliches Umwelt-Engagement bedeute, Gott in sein Wirken zu fallen, da in der Johannesoffenbarung doch eindeutig davon die Rede sei, dass diese Erde vergehen müsse. Wie also spricht die biblische Tradition vom ‚Ende der Zeiten‘ und was bedeutet die Hoffnung auf das Reich Gottes und einen ‚neuen Himmel und eine neue Erde‘ angesichts der aktuellen Herausforderungen?
27 28 29 30
Ebd. Ebd. A. a. O., 169. Die internationale Aktionsbewegung Extinction Rebellion (XR) bezeichnet sich selbst als „Rebellion gegen das Aussterben“ und nennt auf ihrer deutschsprachigen Webseite als oberstes Ziel, „den für das Klima nötigen umfassenden und tiefgreifenden Wandel herbeizuführen. Damit wollen wir das Risiko der Auslöschung der Menschheit und des Kollapses unserer Ökosysteme verkleinern“, https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/ (letzter Zugriff am 14.07.2022).
Theologie im Zeitalter des Anthropozäns
2.3.1
389
Apokalypse – Weltuntergang oder Hoffnung?
„Apokalyptisch“ wird in unserer Alltagssprache gleichgesetzt mit „Weltuntergang“. Doch die apokalyptischen Texte der Bibel sind alles andere als Katastrophentexte – sie wollen vielmehr Hoffnung geben.
2.3.1.1
Am Ende – versöhnte Vielfalt. Die endzeitlichen Bilder des Ersten Testaments
Die endzeitlichen Bilder des Ersten Testaments beschreiben die „Völkerwallfahrt“ nach Jerusalem (Jes 2,1–4; Mi 4,2–4) oder das zukünftige Friedensreich Gottes (Jes 11,1–9). Beiden Bildern ist gemeinsam, dass es in dieser Endzeit weder Unrecht noch Gewalt mehr geben wird. Die Vision vom Friedensreich schließt ausdrücklich auch die Tierwelt mit ein. Walter Brueggemann betont die zentrale Funktion des Bildes der Völkerwallfahrt für die Endredaktion des Jesaja-Buches: „For all its harshness, the tradition of Isaiah characteristically moves to hope.“31 Die Parallele in Mi 4,2–4 zeige, dass das Motiv unabhängig von der Verkündigung Jesajas entstanden ist. Indem die Endredaktion es unmittelbar hinter die harten Unheilsankündigungen des ersten Kapitels stellt, mache sie deutlich, dass Gottes „long-term intention“ nicht Unheil, sondern umfassendes Heil für die Völker ist – in einer Welt, die durch seine Weisungen und Gebote geprägt ist.32 Dasselbe kompositorische Motiv sieht Brueggemann im Zusammenspiel von Jes 10 und Jes 11. Auch hier folge auf das Bild der fast vollständigen Vernichtung (Jes 10,28–33) die imposante Vision des endzeitlichen Friedensreiches. Die Hoffnung auf die davidische Dynastie als Garant von Frieden und Gerechtigkeit habe sich bei Jesaja völlig zerschlagen, doch „in the face of that spent hope, the poet asserts a new generativity with a sprout, unnamed and unidentified, but a faint sign of life, growth, and possibility“33. Können die Zeilen zu Beginn noch als die Hoffnung auf ein erneuertes Königtum gelesen werden, so erhalten sie mit der Vision des Tierfriedens eine kosmische Dimension: „The coming king will not only do what the world takes to be possible, but will also do what the world has long since declared to be impossible.“34 Die Vision führe so in Zeiten der völligen Enttäuschung über das Königtum vor Augen, welche Dimension der Erneuerung in der Kraft des Geistes Gottes möglich ist. „The tradition of Isaiah […] never fails to summon God’s people to hope and expectation in the face of discouraging circumstance.“35
31 32 33 34 35
WALTER BRUEGGEMANN: Isaiah 1–39 (s. Anm. 23), 24. Ebd. A. a. O., 99. A. a. O., 103. A. a. O., 98.
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2.3.1.2
„Haltet durch!“ Das Mutmachbuch des Johannes
In der Offenbarung des Johannes findet sich zwar eine Fülle der Bilder der Zerstörung, doch handelt es sich um eine Bildsprache, die für die ursprünglichen Adressatinnen und Adressaten unschwer so zu entziffern ist, dass sie sich selbst als mitten in dieser Welt der Umbrüche stehend verstehen. „Die gewählten Bilder sind weithin von der Tradition vorgeprägt und hinsichtlich ihrer Bedeutung festgelegt. […] Jeder mit apokalyptischer Tradition auch nur annähernd vertraute Christ des ausgehenden 1. Jahrhunderts dürfte diese Bilder auf Anhieb verstanden haben.“36
Die Adressatengemeinden des Johannes leben in einer Zeit, in der der römische Staat immer totalitärer wird: Erste Christenverfolgungen haben sich ereignet, die großen Verfolgungen stehen noch bevor. Mit seiner apokalyptischen Bildsprache macht der Autor den Gemeinden deutlich, „daß ihnen im totalitären religiösen Machtanspruch des römischen Staates die Manifestation der widergöttlichen Mächte begegnet […]. Zugleich spricht Johannes dieser Kirche Trost und Hoffnung zu: Sie soll wissen, daß die widergöttlichen Mächte bald ausgespielt haben und daß der endgültige Sieg Gottes, der im Himmel schon Wirklichkeit ist, bald auch auf Erden manifest werden wird.“37 Dem Duktus der sieben Sendschreiben folgend wird die Apokalypse daher zur Durchhaltebotschaft an die Gemeinden zur Zeit der ersten Christenverfolgungen: „Haltet durch, nur noch eine kleine Zeit, dann wird die neue Welt Gottes anbrechen.“ Diese Aufforderung zum Durch- oder Festhalten findet sich in ähnlicher Form in den Sendschreiben nach Smyrna (Offb 2,10b), Thyatira (Offb 2,25), Sardes (Offb 3,3) und Philadelphia (Offb 3,11). Die neue Welt Gottes wird gezeichnet mit dem Bild des neuen Jerusalems, das vom Himmel herab auf die Erde kommt. In dieser neuen Stadt Gottes sucht man Unrecht und Gewalt vergebens. Am Ende des Bildes (Offb 22,1–4) wird erkennbar, dass auch die Natur Anteil hat an dem neuen Leben Gottes: In der Mega-City des Reiches Gottes fließt ein freifließender Fluss mit kristallklarem Wasser, an dessen Ufer Bäume wachsen, die dem Heil der Völker dienen. Auch das Leiden und Seufzen der Schöpfung, von dem Paulus in Röm 8 spricht, ist hier zu einem heilvollen Ende gekommen!
2.3.1.3
Der Gegenwartsbezug apokalyptischer Texte
Apokalyptische Texte bezeichnen sich selbst häufig als Visionen, sie sprechen von einer himmlischen Realität, in die der Seher Einblick erhält. Doch heißt das, dass die Erde, wie wir sie kennen, erst vergehen muss, bevor die neue Erde Gottes entsteht? Protestantische Theologie diskutiert diese Frage unter den Stichwör36 37
JÜRGEN ROLOFF: Die Offenbarung des Johannes (ZBK.NT 18), Zürich 1983, 13f. A. a. O., 18.
Theologie im Zeitalter des Anthropozäns
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tern annihilatio oder transformatio mundi – Vernichtung oder Verwandlung der Welt. Dass der Löwe Gras frisst, ist für uns nicht vorstellbar – in diesem Bild wird deutlich, dass es sich bei der neuen Erde um etwas völlig Anderes handelt. Und doch bleibt der Löwe als Löwe erkennbar, hat also Anhalt an dem Leben dieser Welt. Diese Kontinuität wird auch in der Johannes-Offenbarung deutlich, wenn der Seher davon spricht, dass am Ende der Zeit der Plagen diejenigen bei Gott stehen werden, die „den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild“ (Offb 15,2). Die Gemeinden im Widerstand wissen zweifelsohne, wer damit gemeint ist. Und auch das neue Jerusalem wird als die Stadt Gottes beschrieben, die aus dem Himmel auf diese Erde herabkommt. Es gehört zu den kennzeichnenden Stilelementen apokalyptischer Texte, dass sie durch „supranaturale Enthüllungen“ Einfluss nehmen wollen auf die Entwicklung der Weltgeschichte. Das (scheinbare) Gegenüber von „dieser Erde“ und „neuer Erde“ und „diesem Himmel“ und „neuem Himmel“ darf also keinesfalls als Dualismus verstanden werden, vielmehr: „In Krisenzeiten (Not, Unterdrückung, Kontroversen) wird durch hierarchisch autorisierte, supranaturale Enthüllungen endzeitlicher Geschehnisse den Leidenden die tröstende Botschaft der göttlichen Überwindung des Bösen und der Erneuerung des Guten kundgetan.“38
2.3.2
Die Welt im Vorletzten für die Vollendung im Letzten offenhalten!
Es gehört zu diesem supranaturalen Geschehen, das die apokalyptischen Texte beschreiben, dass Gott selbst es ist, der das Ende der Zeiten heraufführt. Doch schon der Appell zum Durchhalten im Widerstand in der Johannes-Offenbarung zeigt, dass dies für die christlichen Gemeinden nicht bedeutet, dem Endzeitdrama Gottes tatenlos zuzusehen. Die protestantische Tradition kennt hier eine sehr hilfreiche Unterscheidung des Handelns Gottes und der Menschen: Gott handelt in dieser Welt gemäß seiner Vorsehung (providentia) und als Weltenlenker (gubernatio). Der Mensch als sein Ebenbild ist in dieses Handeln jedoch durch das Wirken des Heiligen Geistes einbezogen (concursus). Moderner drückt dies Dietrich Bonhoeffer aus, der zwischen den letzten und den vorletzten Dingen unterscheidet: „Von Christus her wird die gefallene Welt verständlich als von Gott für das Kommen Christi aufbewahrte, erhaltene Welt, in der wir als Menschen in gegebenen Ordnungen ‚gut‘ leben können und sollen.“39
38
39
DAVID HELLHOLM: Art. Apokalyptik I. Begriffsdefinition als religionsgeschichtliches Problem, RGG4 1, 590f., hier 591. DIETRICH BONHOEFFER: Ethik (Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 6), hg. v. ILSE TÖDT u. a., Gütersloh 52016, 158.
392
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Im guten Leben im Vorletzten bricht das Reich Gottes in die Gegenwart unseres Lebens ein. Die Vollendung des Reiches Gottes ist allein Gottes Wirken der letzten Dinge, wir Menschen aber sollen und können in der Hoffnung auf dieses Letzte das Leben im Vorletzten so gestalten, dass dadurch der Weg des Reiches Gottes bereitet wird. Beeindruckend in Szene gesetzt hat diese politische Kraft der Endzeitvisionen der US-amerikanische Maler Edward Hicks (1780–1849). Der aus einer Quäker-Familie stammende Hicks hat das Motiv des endzeitlichen Friedensreiches aus Jes 11 mehr als sechzig Mal in unterschiedlichen Variationen gemalt.40 In einer Fassung, die um das Jahr 1834 herum entstanden sein dürfte und sowohl in der National Gallery of Art in Washington zu finden ist als auch im Brooklyn Museum in New York, ist im Vordergrund eindrücklich der große Tierfrieden dargestellt. Auch die kleinen Kinder, die mit den wilden Tieren spielen, fehlen nicht. Links im Bild im Hintergrund jedoch findet sich das politische Statement des Künstlers, das sich aus seiner Endzeithoffnung ergibt: In einer Zeit, in der sich große Siedlertrecks anschicken, den „wilden Westen“ der Vereinigten Staaten zu erobern, und die indigene Bevölkerung durch diese Siedler oft grausam niedergemetzelt wird, malt Hicks eine friedliche Versammlung von Weißen und Indigenen. In der Mitte der Szene kniet ein Weißer, der den Indigenen aus einer Truhe heraus ein Schriftstück überreicht. Höchstwahrscheinlich spielt Hicks damit auf den Vertrag an, den William Penn im Jahr 1682 mit den Lenape bzw. Delaware geschlossen haben soll. Auch wenn die Historizität des Vertrages nicht gesichert ist, so wurde die Tradition doch zur Grundlage eines jahrzehntelangen relativ friedlichen Zusammenlebens von Weißen und Indigenen in Pennsylvania.41 Die Hoffnung auf das endzeitliche Friedensreich führt Hicks also zu einer pointierten Relektüre der Vergangenheit und einer ebenso deutlichen politischen Ansage an seine Zeitgenossen.
40
41
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_K%C3%B6nigreich_des_Friedens (letzter Zugriff am 14.07.2022). https://philadelphiaencyclopedia.org/archive/treaty-of-shackamaxon-2/, (letzter Zugriff am 14.07.2022). Zur Siedlungsgeschichte des Westens der USA vgl. z. B. https://www. fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2009_01/09_lehmkuhl/index.html, (letzter Zugriff am 14.07.2022).
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393
Edward Hicks: Peacable Kingdom (ca. 1834), National Gallery of Art, Washington, D. C., online collection, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=175611.
2.4
Trinität neu denken
Die Herausforderungen der ökologischen Krise und des Anthropozäns, so habe ich in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt, führen dazu, das Gesamt der Theologie – von der Protologie bis zur Eschatologie – neu zu denken. In diesem abschließenden Abschnitt will ich zeigen, wie in der Folge auch Trinität anders akzentuiert gedacht werden muss.
2.4.1
Gott als Grund und Ziel allen Seins und Werdens
Gott als den Schöpfer zu bekennen, bedeutet kein Bekenntnis zu einem unbewegten Beweger. Es geht nicht um den fernen Gott „am Anfang“, es geht um die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde in Relation zu Gott. Schöpfungstheologie will nicht Tatsachenbeschreibung sein – womöglich gar in Konkurrenz zur naturwissenschaftlichen Welterklärung –, sie ist ein „Sehen als“, entdeckt in der Vielfalt des Vorfindlichen die lebensstiftende und Welt ordnende Gegenwart Gottes. Es gehört inzwischen eigentlich zum exegetischen Allgemeinwissen, dass die biblischen Schöpfungserzählungen keine historischen Tatsachenberichte sein wollen und also auch nicht als Weltentstehungstheorien zu verstehen sind, die in Konflikt mit naturwissenschaftlichen Theorien der Weltentstehung stehen. Die Diskussion „Schöpfung oder Urknall“ läuft ins Leere – und wird daher zu Recht nur noch in fundamentalistischen und/oder kreationistischen Kreisen für relevant erachtet.
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Liest man die beiden Schöpfungserzählungen vielmehr von ihrem Sitz im Leben her, so wird deutlich, dass auch diese als „Mutmachgeschichten“ verstanden sein wollen, als Visionen vom guten Leben in Zeiten der Mühsal und Unterdrückung. Besonders einprägsam kommt dies in der jüngeren der beiden Erzählungen, Gen 1,1–2,4a, zum Ausdruck:42 Die Erzählung entsteht zur Zeit des babylonischen Exils unter den Weggeführten in Babylon. Diese Israeliten finden sich als Zwangsarbeiter in einer Gesellschaft wieder, in der die Herrscher sich als Kinder des Sonnengottes verstehen. Wenn in der Erzählung nun deutlich davon die Rede ist, dass der Gott Israels Sonne und Mond wie zwei große Leuchtstoffröhren an den Himmel geheftet hat, so ist die subversive Polemik dieser Aussage kaum zu überhören. Die israelitische Erzählung von der Weltschöpfung ist die mehr oder weniger unverhohlene Infragestellung der göttlichen Legitimation des Herrschaftsanspruchs der babylonischen Herrscher! Wo aber dieser Herrschaftsanspruch delegitimiert ist, da entsteht Raum für soziale und politische Veränderung: Die Schöpfungserzählung gipfelt darin, dass Gott ausruht – einen ganzen Tag lang. Für Zwangsarbeiter ist solch ein Ruhetag in der Regel nicht vorgesehen. Die Erzählung ermutigt ihre Hörerinnen und Hörer, diesen Ruhetag einzufordern – und so dem Willen ihres Schöpfergottes zu folgen. Auch in den Psalmen hat Schöpfungstheologie in der Regel nicht beschreibende, sondern orientierende Funktion: Psalm 104 zum Beispiel singt von der wohl geordneten Welt Gottes. Ähnlich wie in der Vision des Tierfriedens des Jesajabuches werden sich Löwe und Mensch auch hier nicht gefährlich, da die Löwen in der Nacht auf Beutezug gehen, während der Mensch bei Tag seine Arbeit verrichtet. Würden sich alle Raubtiere an diese Ordnung halten, bräuchten wir heute kein Wolfsmanagement – doch auch zur Entstehungszeit des Psalms werden Menschen in der Regel andere Erfahrungen mit Raubtieren gemacht haben. Das Schöpferlob des 104. Psalms beschreibt also nicht Wirklichkeit, vielmehr sieht es die Welt als gute Welt Gottes. Im Lobpreis kommt somit die Hoffnung zum Ausdruck, dass solches wohlgeordnete Leben möglich ist – auch wenn die Beterin oder der Beter ihre Welt gerade ganz anders erfahren. Diese hoffnungsvolle Sicht auf die Wirklichkeit ist gegründet in dem Vertrauen darauf, dass Gott ein Gott des Lebens und nicht des Todes ist, dass Gott dieses Leben in seiner Vielfalt geschaffen hat und auch erhält. Nicht von ungefähr gehören die schöpfungstheologischen Texte daher zu den jüngsten Teilen des Ersten Testaments: Sie setzen die Erfahrung der Nähe Gottes voraus! Schöpferisches und neuschöpferisches Handeln Gottes liegen daher eng beieinander, denn das Bekenntnis, dass Gott die Welt „gut“ und „wohl geordnet“ geschaffen hat, will Orientierung und Hoffnung geben in orientierungsloser Zeit. Dieselbe Funktion aber kommt dem Bekenntnis zu der Neuschöpfung durch Gott zu, sobald diese von dualistischen Anklängen entkleidet ist. Dann ist auch dieses 42
Zum Folgenden vgl. MILTON SCHWANTES: Am Anfang war die Hoffnung. Die biblische Urgeschichte aus der Sicht der Armen, München 1992.
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395
Bekenntnis Ausdruck des Vertrauens darauf, dass Gott mit seiner Leben schaffenden und erhaltenden Geistkraft in dieser Welt mit dabei ist und Zerstörung und Tod nicht das letzte Wort haben. Schöpfungstheologie angesichts der ökologischen Krisen akzentuiert also den concursus und die gubernatio Gottes. Sie vertraut darauf, dass Gott in dieser Welt „mit dabei“ ist und sie zu einem guten Ende bringen will. In der theologischen Tradition gibt es unterschiedliche Ansätze, die diese Nähe Gottes in der Welt zu denken versuchen. Für das 20. Jahrhundert sind hier insbesondere die unterschiedlichen Vertreter:innen der Prozesstheologie zu nennen sowie Paul Tillich, der von Gott als „Grund des Seins“ oder „Sein-selbst“ spricht.43 John Macquarrie weist zu Recht darauf hin, dass damit in der Regel ein panentheistisches Denken verbunden ist.44 Panentheistisch von Gott zu sprechen, stellt vermutlich den schmalen Grat dar, den es zu beschreiten gilt, um – wie von Oswald Bayer gefordert – die Weltgegenwart Gottes angemessen zu bedenken, ohne damit das Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf aufzuheben: „Gott ist der Welt immanent als ihr dauernder schöpferischer Grund, und er ist der Welt transzendent durch seine Freiheit.“45
2.4.2
Christus – Erstgeborener der (neuen) Schöpfung
Der Reflexionsweg von der Erfahrung der Gegenwart Gottes zu dem Bekenntnis der universalen Bedeutung dieses Gottes, den ich eben mit Blick auf die Entstehung der schöpfungstheologischen Traditionen des Ersten Testaments beschrieben habe, findet sich in ähnlicher Weise auch in der christologischen Bekenntnisentwicklung: Sowohl im Prolog des Johannes-Evangeliums als auch im Kolosserhymnus wird die universale Bedeutung des Christusgeschehens betont. Im Johannes-Prolog (Joh 1,1–18) wird Jesus Christus als die endzeitliche Inkarnation des Logos Gottes verstanden, der als solcher von Anbeginn der Welt präsent war. Der Evangelist greift aller Wahrscheinlichkeit nach ein älteres weisheitlich-hellenistisches Lied auf, in dem ursprünglich die beständige Präsenz des Logos in der Schöpfung betont wurde. Die Aussage, dass diese Gegenwart von den Menschen nicht erkannt wurde, gehört möglicherweise bereits zu den Stilelementen des weisheitlichen Liedes. Durch die Gegenüberstellung mit Christus als dem inkarnierten – und für alle erkennbaren – Logos in den Versen 14–18 wird sie nun aber besonders pointiert. Der endzeitliche Gesandte Gottes macht sich in seiner Inkarnation erkennbar – und wird von der Gemeinde mit 43
44
45
Gute Einführungen in die Prozess-Theologie: JOHN B COBB / DAVID R. GRIFFIN: Prozess-Theologie. Eine einführende Darstellung, Göttingen 1979; ROLAND FABER: Gott als Poet der Welt. Anliegen und Perspektiven der Prozesstheologie, Darmstadt 2003. Zu Paul Tillich s. v. a. PAUL TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 1955, 278ff. JOHN MACQUARRIE: „Panentheismus“, in: TRE 25, Berlin / New York: de Gruyter, 1995, 611– 615. TILLICH: Systematische Theologie (s. Anm. 43), 309.
396
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dem präexistenten, in der Schöpfung immer schon gegenwärtigen Logos gleichgesetzt.46 Der Kolosserhymnus (Kol 1,15–23) besingt den gekreuzigten, auferstandenen und erhöhten Christus als Erstgeborenen vor aller Schöpfung und Schöpfungsmittler – der auch mit Blick auf die Auferstehung von den Toten der Erstgeborene sei. Auch hier greift der Autor mit Sicherheit einen vorliegenden Hymnus auf und interpretiert diesen.47 Die für den christlichen Glauben zentrale Botschaft von Kreuz und Auferstehung wird von ihm in einen doppelten kosmologischen Zusammenhang gebracht: Als Erstgeborener von den Toten wird Christus als Erstling der ganzen Schöpfung und Schöpfungsmittler gefeiert. Zugleich wird aber die „Auferweckung […] als die entscheidende Weltenwende verstanden. Als der zur kosmischen Herrscherstellung Erhöhte ist Christus auch fähig, der Träger der kosmischen Erlösung zu sein.“48 Schon im Jahr 1974 betont Josef Ernst, dass die kosmische Dimension dieser Erlösung alle außermenschliche Kreatur mit einschließe.49 Christologie im Zeitalter des Anthropozäns muss diese kosmische Entgrenzung bewusst fortführen. Erlösung, so schreibt Meehyung Chung, könne nicht mehr als „human-centered salvation“, sondern nur noch als „life-centered salvation“ verstanden werden: „The cosmic Christ and a cosmic soteriology […] pursue not only a ‚red salvation‘, which is related to the individual soul by way of the blood of Jesus Christ, but also a ‚green salvation‘, which is related to the social and ecological dimension of life.“50
Die Hymnen-Interpretation der neutestamentlichen Autoren, aber auch Meehyung Chung machen deutlich, dass eine Christologie im Zeitalter des Anthropozäns einen wichtigen Aspekt des Christus-Ereignisses nicht vergessen darf: Der kosmische Christus ist kein anderer als der inkarnierte, erniedrigte und ans Kreuz geschlagene Jesus von Nazareth! Nicht nur die Erlösungshoffnung gilt es daher auf alle Kreatur auszuweiten, sondern auch die in der Erniedrigung des Christus begründete bevorzugte Option für die Armen bzw. Schwachen. Verstehen wir wirklich alle Kreatur in Relation zu Gott, so kann und muss der ernied46
47
48
49 50
Ausführlich s. JÜRGEN BECKER: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–10 (ÖTK 4/1), Gütersloh 31991, v. a. 97–99. In der exegetischen Fachdiskussion wird immer wieder ein jüdisch-weisheitlicher oder ein gnostischer Hintergrund angenommen, s. CHRISTIAN STETTLER: Der Kolosserhymnus. Untersuchungen zu Form, traditionsgeschichtlichem Hintergrund und Aussage von Kol 1,15–20 (WUNT 2), 131, Tübingen 2000. JOSEF ERNST: Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (RNT), Regensburg 1974, 177. A. a. O., 180. MEEHYUN CHUNG: „Salvation for All! Cosmic Salvation for an Age of Climate Injustice: A Korean Perspective“, in: GRACE JI-SUN KIM / HILDA P. KOSTER (Hg.): Planetary Solidarity. Global Women’s Voices on Christian Doctrine and Climate Justice, Minneapolis/MN 2017, 219– 235, hier 233.
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rigte Christus auch als mitleidend mit und unter geschundenen Nutztieren und verseuchten Gewässern gedacht werden. Das Seufzen der Kreatur ist das Seufzen des erniedrigten Christus!51 Eine Theologie, die von solch einer inkarnatorisch-kenotischen und zugleich kosmologischen Christologie bestimmt ist, wird dann nicht der Versuchung eines (schöpfungstheologischen) Triumphalismus erliegen. Nein, in der vorfindlichen Welt ist nicht alles gut – auch wenn wir in allen Kreaturen das Mitgeschöpf und Werk Gottes sehen. In ihr gibt es Leiden und Sterben, Fressen und Gefressen-Werden, und immer wieder fragen wir uns, warum es mit der wohlgeordneten Welt Gottes, die wir mit Psalm 104 bekennen und die wir mit den großen eschatologischen Visionen herbeisehnen, so lange dauert. Die Bibel und unsere liturgische Tradition bieten uns das Instrument der Klage, um dieses Seufzen in aller Vehemenz vor Gott zu bringen! Die inkarnatorisch-kenotische Seite der Christologie aber erinnert uns daran, dass der Gott des Lebens, den wir als Schöpfer und Neuschöpfer bekennen, inmitten der leidenden Kreatur präsent ist.
2.4.3
Die Geistkraft Gottes
„Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht“, so bekennt die Christenheit in weltweiter Verbundenheit im nizäno-konstantinopolitanischen Bekenntnis. In der evangelischen wie römisch-katholischen Theologie der Neuzeit, so stellt Jürgen Moltmann fest, gab (und gibt) es jedoch die Tendenz, „den Heiligen Geist allein als Geist der Erlösung aufzufassen, dessen Ort die Kirche darstellt und der die Menschen der ewigen Seligkeit ihrer Seelen gewiß macht. Dieser erlösende Geist wird vom leiblichen Leben ebenso abgegrenzt wie vom natürlichen Leben. […] Vom Heiligen Geist wird in den theologischen Lehrbüchern darum im Blick auf Gott, den Glauben, das christliche Leben, die Kirche und das Gebet gesprochen, selten aber im Blick auf den Körper und die Natur.“52
Diese Konzentration auf das erlösende, neuschöpferische Handeln der Geistkraft Gottes wird der Vielfalt der biblischen Zeugnisse von der Gegenwart dieser Geistkraft aber nicht gerecht:53 Gottes Geist ist bei der Erschaffung allen Lebens „mit dabei“ (Gen 1,2). Es ist Gottes Geist, der Leben ermöglicht und erhält (Hi 33,4; Ps 104,30) und aus den toten Gebeinen neues Leben entstehen lässt (Ez 37,1– 14). Ohne die Gegenwart des Geistes Gottes, so lässt sich diese Interpretations51
52
53
Eindrucksvoll: WANDA DEIFELT: „Out of Brokenness, a New Creation. Theology of the Cross and the Tree of Life“, in: LISA E. DAHILL / JAMES B. MARTIN-SCHRAMM (Hg.): Eco-Reformation. Grace and Hope for a Planet in Peril, Eugene, OR 2016, 55–70, hier v. a. 58–61. JÜRGEN MOLTMANN: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 21. Zum Folgenden s. WOLFGANG SCHÜRGER: Wirklichkeit Gottes und Wirklichkeit der Welt (Forum Systematik 12), Stuttgart 2002, 320–327.
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linie umschreiben, ist kein Leben möglich: „Im von Gott Zusammengehaltenen, Belebten […] ist der Geist gegenwärtig.“54 Geist Gottes und Lebenskraft (Odem) der Geschöpfe stehen in dieser (priesterlichen) Tradition in enger Korrelation zueinander: so wie Gott den Lebensodem gibt, kann er ihn auch wieder entziehen (Ps 104,29): „Von Jahwes schöpferischer Macht, von seinem erneuernden Walten und Wirken lebt alle Kreatur.“55 In der Tradition des Richterbuches, aber auch in Psalm 143 zeigt sich die „führende Gegenwart Gottes“56 in seiner Geistkraft. Im Zusammenhang des Königtums in Israel, aber auch in den Verheißungen des messianischen Königs erscheint die Geistkraft Gottes als Segen, der auf dem König liegt.57 Ähnlich wie bei der Neuinterpretation des ersten Glaubensartikels muss es daher auch in der Pneumatologie darum gehen, die Weltgegenwart der Geistkraft Gottes neu zu betonen – oder, wie dies Lyle Dabney formuliert, nach der „Kontinuität zwischen Schöpfung und Erlösung im Werk des Heiligen Geistes“ zu fragen.58 Dabney – und ähnlich auch Moltmann – betont das dynamische Moment, das in dem „lebendig machen“ des Glaubensbekenntnisses liegt. Auf diese Weise kann er von der Gegenwart der Geistkraft Gottes in allem Lebendigen sprechen, ohne in eine animistische Interpretation dieser Gegenwart zu verfallen. Dabney entwickelt seine Pneumatologie als pneumatologia crucis: „[…] in der Geschichte des Sohnes und vor allem im dreieinigen Gottesgeschehen seiner Hingabe und Auferstehung wird das Wirken und damit die Identität des Heiligen Geistes offenbar.“59
In dieser Geschichte des Sohnes gibt es nach Dabney ein inkarnatorisches und ein kenotisches Wirken des Geistes: Jesus wird von Maria durch den Geist Gottes empfangen, bei seiner Taufe durch Johannes kommt der Geist Gottes auf ihn herab. Dies ist die inkarnatorische Seite. Auch das führende Handeln des Geistes werde an Jesus immer wieder deutlich, wenn der Geist Jesus in die Wüste führt (Mk 1,12 par) oder auch in bestimmte Gebiete in Galiläa (Lk 4,14 u. a.).60 In der Hingabe Jesu – zunächst an seine Mitmenschen, dann aber vor allem in seinem Tod – zeigt sich nach Dabney die kenotische Seite des Wirkens des Geistes:
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MICHAEL WELKER: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 21993, 155. KRAUS: Psalmen 60–150 (s. Anm. 24), 886. A. a. O., 1119. REINER ALBERTZ / CLAUS WESTERMANN: „Art. ruah Geist“, in: THWAT 2, München/Zürich 1976, 726–753, hier 749f. LYLE DABNEY: Die Kenosis des Geistes. Kontinuität zwischen Schöpfung und Erlösung im Werk des Heiligen Geistes, NBST 18, Neukirchen-Vluyn 1997. Ebd., 117. A. a. O., 52.
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399
„Kraft des eschatologischen Geistes gibt sich der Sohn bzw. gibt der Vater den Sohn dem Tod am Kreuz hin, und kraft desselben eschatologischen Geistes wird dieser gekreuzigte und gestorbene Sohn wieder auferweckt und zum Vater erhöht.“61
Die schöpferische, leben schaffende Geistkraft Gottes entäußerst sich im Kreuz all ihrer Macht, um in der Auferstehung Jesu umso lebensmächtiger erfahrbar zu werden. Die Kontinuität zwischen Schöpfung und Erlösung im Wirken der Geistkraft Gottes in der dargestellten, inkarnatorisch-kenotischen Weise zu denken, hat für eine ökologische Reformation der Theologie hohe Bedeutung: Alles Lebendige ist durchdrungen und getragen von dieser Geistkraft Gottes, aber sie ist diesem Leben unverfügbar (Ps 104,29f.). Als vom Leben schaffenden Geist getragenen Geschöpfe stehen wir in einer „Verwandtschaftsbeziehung“ zu allen Mitgeschöpfen.62 Mit dieser Verwandtschaftsbeziehung ist aber nicht alles Miteinander automatisch gut und wohlgeordnet, wie das Ps 104 bekennt. Vielmehr konkurrieren in der vorfindlichen Welt Lebensansprüche miteinander, leben die einen auf Kosten der anderen.63 Den Geist Gottes als die lebendig machende Kraft Gottes zu bekennen, heißt, mit der Gegenwart dieser Geistkraft gerade dort zu rechnen, wo Leben bedroht ist. Es bedeutet, mit den eschatologisch-transformatorischen Möglichkeiten dieser Kraft Gottes auch dort noch zu rechnen, wo nach menschlicher Einschätzung kein neues Leben mehr entstehen kann (vgl. Ez 37,3). Wie die kenotische Kraft des Geistes Gottes Jesus zur Hingabe an seine Mitmenschen befähigte, so befähigt sie uns heute, die wir in der Nachfolge Jesu leben, uns selbst und unsere Ansprüche zurück zu nehmen, damit andere Kreaturen, Menschen und Generationen gut und erfüllt leben können.64
61 62
63
64
A. a. O., 129. Die Rede von „Verwandtschaft“, engl. „kinship“, wird von vielen ökofeministischen Theologinnen als Möglichkeit gesehen, die anthropozentrisch-patriarchalen Konnotationen zu vermeiden, die sowohl mit der klassischen Rede von der „Bewahrung der Schöpfung“ als auch mit dem Bild vom Weltengärtner oder der Vorstellung der verantwortlichen Haushalter:innenschaft, engl. „stewardship“, verbunden sind. S. z. B. FULATA L MOYO: „An African eco-woman’s response to Sigurd Bergmann“, in: ERNST M. CONRADIE / HILDA P. KOSTER (Hg.): T&T Clark Handbook (s. Anm. 3), 509–512. Dies gilt in einem mehrfachen Sinn – mit Blick auf das Miteinander der Spezies und das raumgreifende Leben und Handeln der Menschheit im Anthropozän, aber auch mit Blick auf Ressourcenverteilung und -verbrauch zwischen verschiedenen Ländern und die Umweltfolgekosten, die wir mit unserem aktuellen Lebensstil zukünftigen Generationen aufbürden. Ausführlicher dazu: SIGURD BERGMANN: „The Spirit and climate change“, in: ERNST M. CONRADIE / HILDA P. KOSTER (Hg.): T&T Clark Handbook (s. Anm. 3), London / New York 2020, 497–508. Sowie DABNEY: Kenosis (s. Anm. 58), 127–157.226–237.
400
3.
Wolfgang Schürger
Schöpfungsbezogene Theologie und Pneumatologia Crucis: die ökologische Reformation der Theologie
In einer Zeit der ökologischen Krisen, in einer Zeit, in der die Spezies Mensch zum bestimmenden Faktor der Gestalt dieser Erde geworden ist, geht es einer schöpfungsbezogenen Theologie darum, diesen Menschen und seinen Glauben und seine Gottesvorstellung wieder in Weltbezug zu bringen. Sie betont die kosmische Dimension des schöpferischen wie des erlösenden Handelns Gottes und erinnert den Menschen des Anthropozäns daran, dass er Geschöpf ist unter Mitgeschöpfen, begrenztes, geschaffenes Wesen in Verwandtschaft angewiesen auf das Miteinander der Geschöpfe und auf die Leben schaffende, erhaltende und erneuernde Geistkraft Gottes. Sie bekennt die Identität des Wirkens dieses Geistes Gottes von der Schöpfung bis zur Erlösung (so problematisch diese zeitlichlineare Aussage angesichts des oben beschriebenen eschatologischen Charakters der Schöpfungstexte des ersten Testaments auch sein mag). Doch zugleich weiß sie um die Diskontiniutät dieses Wirkens der Geistkraft Gottes, wie sie in Tod und Auferweckung Jesu deutlich wird: „Kontinuität zwischen Schöpfung und Erlösung [schließt] die Diskontinuität nicht aus, sondern ein. Ja, [es] ist […] genau die Diskontinuität der Hingabe Jesu Christi kraft des Geistes, durch die der Geist die Kontinuität der Auferstehung des Sohnes bewirkt.“65
Solch eine kenotische Pneumatologia Crucis aber befähigt, den Blick nicht zu verschließen vor den Realitäten und Widrigkeiten der Gegenwart und dennoch den Glauben nicht zu verlieren, dass eine bessere Welt möglich ist. Ein neuer Himmel und eine neue Erde, erneuert durch Gottes Leben schaffende Geistkraft. Die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und das Bekenntnis, dass Gott selbst es ist, der diese Welt vollenden wird, befreien dann davon, Unmögliches leisten zu müssen, und eröffnen Raum, das Mögliche und NotWendende zu tun und Lebensräume für alle Kreatur offen zu halten. „Mag sein, daß der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht“ (Dietrich Bonhoeffer).66
65 66
A. a. O., 233. DIETRICH BONHOEFFER: Widerstand und Ergebung (Dietrich Bonhoeffer, Bd. 8), Gütersloh 1998, 36.
Praktisch-theologische Aspekte
Kirche und Diakonie 2030
Kirche und Diakonie 2030
Sechs Thesen zu gemeinsamen Entwicklungsperspektiven
Sonja Keller
SONJA KELLER
Ein intensives Nachdenken über das Verhältnis zwischen Kirche und Diakonie lässt sich derzeit auf verschiedenen Ebenen der Leitung und Gestaltung von Kirche und Diakonie beobachten.1 Im Rahmen dieses Beitrags werden einige Argumentationslinien dieses Diskurses nachgezeichnet und gemeinsame Entwicklungsperspektiven skizziert. Die Ausführungen plausibilisieren die im Folgenden erläuterte These, dass Diakonie und Kirche sich gerade auch hinsichtlich ihrer Entwicklungsvoraussetzungen und -perspektiven zukünftig zum gegenseitigen Vorteil verstärkt aufeinander beziehen werden. Damit soll keiner Verkirchlichung der Diakonie das Wort geredet, sondern der innere logische Verweiszusammenhang von Kirche und Diakonie nachgezeichnet werden, der gegenwärtig wieder vermehrt diskutiert wird. Die Tätigkeit diakonischer Organisationen als sozialwirtschaftliche Unternehmen hat zu einer Professionalisierung und Integration marktwirtschaftlicher Mechanismen geführt, so dass das Bild der Diakonie als Dienstleistungseinrichtung in der Öffentlichkeit stärker präsent ist als die Gemeindediakonie.2 Kirche und Diakonie – in ihrer vielfältigen organisationalen Gestalt – verbinden nicht nur gemeinsame Werte, sondern vor allem auch gemeinsame Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund wird gezeigt, warum und darüber spekuliert, wie 2030 Kirche und Diakonie in einem engeren Kooperationsverhältnis stehen könnten, als dies gegenwärtig der Fall ist. Zu diesem Zweck werden im ersten Teil aktuelle Diskurse der Kirchenentwicklung skizziert, gefolgt von einer Rekonstruktion der Verhältnisbestimmung von Kirche und Diakonie auf der Grundlage kirchenleitender Programmschriften im zweiten Teil, an die sich die Beschreibung zentraler Herausforderungen von Kirche und Diakonie im dritten Teil anschließt. Die Ausführungen schließen mit sechs Thesen zu den gemeinsamen Entwicklungsperspektiven von Kirche und Diakonie 2030.
1
2
Dazu gehören auch mehrere Strategiegespräche des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie Deutschland in den letzten Jahren. Vgl. HEINZ SCHMIDT: Diakonie und verfasste Kirche, in: JOHANNES EURICH / HEINZ SCHMIDT (Hg.): Diakonik. Grundlagen – Konzeptionen – Diskurse, Göttingen 2016, 242–276, 251. JOHANNES EURICH: Unternehmerische Diakonie, in: J. EURICH / H. SCHMIDT: Diakonik, 188–291.
404
Sonja Keller
1.
Themen und Herausforderungen der aktuellen Kirchenentwicklung
1.1
Konzentration der Strukturen
Am schwerfälligen Prozess der Umnutzung von Kirchengebäuden lässt sich die Komplexität der Konzentration kirchlicher Strukturen und die Logik der Kirchenleitung paradigmatisch ablesen.3 Mit vielfältigen Zahlen sind die vorhandenen und prognostizierten ökonomischen Sachzwänge hinterlegt, die in den Struktur- und Reformpapieren als Treiber räumlicher und personeller Konzentrationsprozesse fungieren. Der Konzentration des Gebäudebestands wird dabei eine zentrale Rolle bei der Schaffung zukunftsfähiger kirchlicher Strukturen beigemessen. Solche Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen folgen elementaren betriebswirtschaftlichen Grundsätzen, wozu der effektive und effiziente Umgang mit Ressourcen gehört.4 Die Integration dieser ökonomischen Leitperspektiven erfolgt wiederum über die strategisch und organisationsförmig agierende Kirchenleitung.5 Die für Kirchenentwicklungsprozesse einschlägige Argumentationslinie bezieht sich auf zweckrationale Gesichtspunkte in organisationsentwicklerischer Nomenklatur und dokumentiert, wie darum gerungen wird, mit kirchlichen Angeboten und Infrastrukturen in der Fläche präsent zu bleiben.6 Die Arbeit an der Struktur, also die Fusionen von Landeskirchen und Gemeinden oder die Abwicklung eines Kirchengebäudes erweist sich als langwierig, vertieft allerdings den Organisationscharakter der Kirche.7 Die Konzentration der Infrastruktur zielt – wie das Beispiel der Nordkirchenfusion zeigt8 – darauf ab, mit weniger personellen und finanziellen Mitteln kirchliche Präsenzstrukturen zu erhalten. Das Ringen um eine veränderte, angepasste kirchliche Präsenzkultur ist ohne Zweifel die zentrale Leitidee hinter einer ganzen Reihe 3
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5 6
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SONJA KELLER: Räume teilen. Facetten des umkämpften Rückzugs aus kirchlichen Gebäuden, PrTh 57 (2022), 88–93. Vgl. CHRISTOPH MEYNS: Kirchenreform und betriebswirtschaftliches Denken. Modelle. Erfahrungen. Alternativen, Gütersloh 2013, 31ff. Vgl. a. a. O., 49ff. Vgl. STEFANIE BRAUER-NOSS: Unter Druck: Kirchenreform aus der Leitungsperspektive. Eine empirische Studie zu drei evangelischen Landeskirchen, Leipzig 2017, 154. Vgl. JAN HERMELINK: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktischtheologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 101–103. Christoph Meyns stellt dazu nüchtern fest: „Zusammenfassend betrachtet handelt es sich bei den beschriebenen Veränderungen auf dem Gebiet der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche in den vergangenen zwanzig Jahren nicht um eine Reform, sondern um einen schmerzhaften ökonomischen Anpassungsprozess“ (CHRISTOPH MEYNS: Kirche in Zeiten des Umbruchs: Rückbauprozesse in der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche, in: STEFAN JUNG / THOMAS KATZENMAYER [Hg.]: Fusion und Kooperation in Kirche und Diakonie, Göttingen 2014, 165–176, 174).
Kirche und Diakonie 2030
405
von Entwicklungsansätzen auf unterschiedlichen Ebenen. Der gesellschaftliche Relevanzverlust der Kirche und der Rückgang der personellen und finanziellen Ressourcen haben das Nachdenken über Grundeigenschaften der Kirche und wie diese weiterhin zum Ausdruck gebracht werden können, befördert, wie im Folgenden erläutert wird.
1.2
Programmatische Leitbilder: Das Netzwerk öffentliche Kirche im Sozialraum
Die Virulenz der Rede von ‚Sozialraum‘ und ‚Sozialraumorientierung‘ geht auf die intensive Rezeption des Paradigmas der Sozialraumorientierung nach Wolfgang Hinte insbesondere in der Diakonie zurück, wobei diese Theoriebildung die Soziale Arbeit als Bezugspunkt hat.9 Das Schlagwort ‚Sozialraumorientierung‘ wird gegenwärtig intensiv in der Diakonik und auch im Kontext der Theorie und Praxis der Kirchen- und Gemeindeentwicklung rezipiert.10 Der große Kongress von EKD und Diakonie Deutschland im September 2021 unter dem Titel „Wir & Hier“, der die Sozialraumorientierung programmatisch aufgenommen hat, sowie die Publikation Kirche im Quartier11 dürften die Virulenz dieser Konzeption weiter befördert haben. Dieses praxisnahe Handbuch zeichnet das Bild des Sozialraumes als das eines Kooperationsraumes, in dem Kirche und Diakonie miteinander und aufeinander bezogen zusammenarbeiten. Der Sozialraum repräsentiert damit den programmatischen Bezugspunkt, der diakonische Einrichtungen und Kirche näher zusammenführt. Im Bischofsbericht des früheren Landesbischofs Frank Otfried July mit dem Titel „Diakonie ist Kirche und Kirche ist Diakonie“ findet diese aktuelle Perspektivierung exemplarisch einen Ausdruck: „Neue, inklusive Formen von Kirche im Quartierskontext sind eine Chance für die Weiterentwicklung unserer Kirchengemeinden und diakonischen Dienste. In Quartiersprojekten sind Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen gemeinsam 9
10
11
Zu den zentralen Eigenschaften der Sozialraumorientierung nach Hinte zählen der Ausgangspunkt beim Willen der Klienten, die Aktivierung derselben, die Arbeit mit den personalen und sozialräumlichen Ressourcen, die zielgruppen- und bereichsübergreifende Gestaltung der Aktivitäten sowie die Vernetzung verschiedener Dienste (vgl. WOLFGANG HINTE: Sozialraumorientierung – Konzepte, Debatten, Forschungsbefunde, in: ROLAND FÜRST / DERS. [Hg.]: Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten, Tübingen 2019, 13–32, 19). Vgl. SONJA KELLER: Zur Imaginations- und Steuerungsfunktion des kirchlichen und diakonischen Programmbegriffs Sozialraum. Eine praktisch-theologische Einordnung, in: INGOLF HÜBNER u. a. (Hg.): Religion im Sozialraum. Sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven, Stuttgart 2022 (im Druck). Vgl. GEORG LÄMMLIN / GERHARD WEGNER (Hg.): Kirche im Quartier. Die Praxis. Ein Handbuch, Leipzig 2020.
406
Sonja Keller unterwegs zum Wohl eines Stadtteiles und können sich als ‚natürliche Verbündete‘ im Dienst am Nächsten neu entdecken. Die Potentiale einer Sozialraumorientierung unterstützen die parochiale Entwicklung.“12
Die Aktualität einer irgendwie verfassten sozialräumlichen Perspektive ist damit offenkundig gegeben, wobei solche Proklamationen wenig darüber aussagen, über welche Potenziale diese sozialräumlichen Kooperationen gegenwärtig und in naher Zukunft verfügen. Doch was ist eigentlich ein Sozialraum? Der Begriff erhält neben dem Konzept der Sozialraumorientierung eine ganze Reihe weiterer inhaltlicher Deutungen. Unter einem Sozialraum kann ein Territorium, eine gebündelte Lebenswelt, eine Steuerungsgröße, eine Ressource, ein Einzugsbereich oder ein spezifischer Ort der Sozialen Arbeit verstanden werden.13 Mit den verschiedenen Bedeutungen gehen selbstverständlich auch unterschiedliche Perspektiven einher. Im Kontext von Diakonie und Kirche bzw. Kirchenentwicklung bleibt der Sozialraumbegriff vielfach unscharf, und er knüpft nur mittelbar an Hintes Fachkonzept der Sozialraumorientierung an.14 In den großen Reform- und Strukturprozessen Profil und Konzentration (PuK) in Bayern15 und EKHN 203016 in Hessen lässt sich eine ausgeprägte Sozialraumorientierung konstatieren. Die Reformprogramme sind gegenwärtig in mehrfacher Hinsicht sozialräumlich fundiert. Der kirchenentwicklerischen Profilierung, Konzentration und Ressourcenbündelung und den missionarischen Aufbrüchen scheint das sozialräumliche Selbstverständnis regelrecht ins Stammbuch geschrieben zu sein.17 12
13
14
15
16
17
FRANK OTFRIED JULY / DIETER KAUFMANN: „Diakonie ist Kirche und Kirche ist Diakonie“. Bischofsbericht 2020 von Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July und Oberkirchenrat Dieter Kaufmann vor der 16. Württembergischen Evangelischen Landessynode vom 26. bis 28. November 2020, 20 (https://www.elk-wue.de/fileadmin/Downloads/Wir/Landes bischof/Bischofsberichte/Bischofsbericht_zur_Herbstsynode_2020.pdf; letzter Zugriff am 28.03.2022). Vgl. WERNER SCHÖNING: Sozialraumorientierung. Grundlagen und Handlungsansätze, Frankfurt a. M. 32020, 11. Im Kontext von Diakonie und Kirchenentwicklung bleibt der Sozialraumbegriff vielfach unscharf und er knüpft nur mittelbar an Hintes Fachkonzept der Sozialraumorientierung an, das seinerseits die Tradition der Gemeinwesenarbeit aufnimmt (vgl. W. HINTE: Sozialraumorientierung [s. Anm. 9], 16ff.). Vgl. Profil und Konzentration, Beschluss der Landessynode, Lindau, den 27.3.2019, 8f. (https://puk.bayern-evangelisch.de/downloads/2019-05-28_puk-beschlussbericht.pdf; letzter Zugriff am 31.03.2022). Vgl. VOLKER JUNG / ULRIKE SCHERF / WOLFGANG HEINE: EKHN 2030, Erläuterungen von Kirchenpräsident Dr. Volker Jung, Stellvertretende Kirchenpräsidentin Ulrike Scherf und Oberkirchenrat Wolfgang Heine, 74 (https://unsere.ekhn.de/fileadmin/content/ekhn.de/ download/intern/ekhn2030/ekhn2030_aus_KVKompakt.pdf; letzter Zugriff am 09.08.2022). Vgl. ERHARD BERNEBURG / DANIEL HÖRSCH: Atlas neue Gemeindeformen. Vielfalt von Kirche wird sichtbar, Berlin 22019, 44.
Kirche und Diakonie 2030
407
Das Leitbild der Kirche als Akteurin im Sozialraum betont den Netzwerkcharakter der Kirche, ein Aspekt, der insbesondere von der grundlegend netzwerksoziologisch orientierten V. Kirchenmitgliedschaftsstudie herausgearbeitet wurde.18 Die Netzwerkperspektive macht Beziehungsstrukturen innerhalb der Kirche und darüber hinaus erkennbar. Da Kirche oftmals als Institution und hinsichtlich ihrer Angebote diskutiert wird, ist der Blick auf den Kirchen inhärenten Netzwerkcharakter relevant und weiterführend, sofern diese Perspektive das eher statische binnenkirchliche Institutionsverständnis notwendig erweitert. Die rückläufige gesellschaftliche Durchdringung der Kirche bzw. ihre Zugänglichkeit und Öffentlichkeit sowie Integrationsfunktion wird gegenwärtig anhand der Diskurse über die Öffentlichkeit der Kirche, ihren zivilgesellschaftlichen Auftrag oder der sozialräumlichen Orientierung der Kirchen bearbeitet. Das Interesse am Öffentlichkeitscharakter der Kirche – insbesondere hinsichtlich der Entwicklung und Zukunft der Kirche – lässt sich in der Evangelischen Theologie seit langem beobachten. Die Programmbegriffe ‚Öffentliche Kirche‘, ‚Öffentliche Theologie‘ oder ‚Öffentlicher Protestantismus‘ thematisieren und vertiefen Verständnisse der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche bzw. die Selbstverpflichtung der Kirche, einer pluralen Gesellschaft zu dienen, die über die numerische Größe von Kirche und Gemeinde hinausweist.19 Der kirchenleitend formulierte Appell, Kirche und Gemeinde öffentlich (relevant) zu gestalten, reagiert auf die gesellschaftliche Entkirchlichung. Offenkundig artikuliert die Rede von Öffentlichkeit im Kontext von Kirche und Theologie ein kirchliches Selbstverständnis sowie einen Anspruch.20 Die Konjunktur der Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit von Religion und Theologie repräsentiert stets auch eine intensive Beschäftigung mit der weltanschaulich- und reli-
18
19
20
BIRGIT WEYEL / FELIX ROLEDER: Vernetzte Kirchengemeinde. Analysen zur Netzwerkerhebung der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Leipzig 2019, 68. Exemplarisch dazu Christian Albrechts und Reiner Anselms Auseinandersetzung mit dem ‚Öffentlichen Protestantismus‘, den sie folgendermaßen beschreiben: „Öffentlicher Protestantismus steht für eine Grundierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus dem Geist eines evangelischen Christentums, das sich an politischen Debatten kritisch und konstruktiv beteiligt mit dem Ziel gesellschaftlicher Kohäsion“ (CHRISTIAN ALBRECHT / REINER ANSELM: Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums, Zürich 2017, 61). Der Diskurs um die Öffentlichkeit der Kirche thematisiert grundlegend die veränderte öffentliche Präsenz der Kirche, wobei ‚Öffentliche Theologie‘ eine internationale und konfessionsübergreifende Auseinandersetzung mit der zivilgesellschaftlichen Funktion von Theologie und christlicher Religion hervorgebracht hat. Verschiedene Bezugshorizonte der Auseinandersetzung mit ‚Öffentlicher Theologie‘ im Kontext der Evangelischen Theologie benennt ARNULF VON SCHELIHA: Zum Programm der Öffentlichen Theologie. Ein Debattenbeitrag, in: ULRICH KÖRTNER / REINER ANSELM / CHRISTIAN ALBRECHT (Hg.): Konzepte und Räume Öffentlicher Theologie. Wissenschaft – Kirche – Diakonie, Leipzig 2020, 43–54.
408
Sonja Keller
giös-pluralen Gesellschaft und der Notwendigkeit, auf vielfältige gesellschaftliche Öffentlichkeiten bezogen Kirche zu gestalten.21
2.
Diakonie und Kirche im Lichte kirchenleitender Programmschriften
Die kirchlichen oder kirchenentwicklungsbezogenen Anknüpfungspunkte an die Diakonie sind vielfältig. Auf der nahräumlichen Ebene hat der Wir & HierKongress 2021 – veranstaltet von Diakonie Deutschland und Kirche – deutlich gezeigt, dass auf dieser Ebene bereits vielfältige Kooperationen getätigt werden.22 Das gemeinsame Engagement für das lokale Gemeinwohl wurde bei dieser Gelegenheit anhand des Sozialraumparadigmas intensiv diskutiert. Diese gemeinsame Perspektive prägt auch verschiedene jüngere kirchenleitende Programmschriften. In den Zwölf Leitsätzen zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche der EKD aus dem Jahr 2020 ist mit großer Selbstverständlichkeit von der Diakonie die Rede, indem ein Bekenntnis zum diakonischen Handeln als Grundvollzug des christlichen Lebens formuliert wird.23 Das diakonische Handeln als Eigenschaft der Kirche in der Seelsorge, der Übernahme von öffentlicher Verantwortung im Rahmen der Ökumene oder auch der Kirchenentwicklung wird dabei als Grundvollzug des kirchlichen Handelns dargestellt. Damit wird in diesen Leitsätzen ein starkes Bekenntnis zum diakonischen Selbstverständnis der evangelischen Kirche formuliert. Im Grundlagentext der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD Freiheit und Gemeinsinn aus dem Jahr 2021 nimmt das diakonische Handeln bzw. das diakonische Hilfehandeln als kirchliche Ressource für das Gemeinwohl ebenfalls eine prominente Rolle ein, sofern die Diakonie den Gemeinsinn erfahrbar macht.24 Es wird allerdings gefordert, dass die Gemeinwohlorientierung der Diakonie – in ihren ganzen organisationalen Ausprägungen – sorgsam reflektiert wird, um wirklich von Gemeinsinn getragen zu sein. Zentral und ganz auf der Linie evangelischer Sozialethik ist dabei der Hinweis in dieser Schrift auf Kirche und Diakonie als intermediäre Orte der Aushandlung des Gemeinwohls:
21
22
23
24
Vgl. KRISTIN MERLE: Was bringt Religion Öffentlichkeit? Gesellschaftliche Pluralität als Motiv praktisch-theologischen Nachdenkens, ZThK 118 (2021), 216–240, 238. Programmatisch zusammengefasst in den 12 Leitimpulsen für eine diakonische Kirche der Zukunft (https://www.wirundhier-kongress.de; letzter Zugriff am 13.08.2022). EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.): Hinaus ins Weite – Kirche auf gutem Grund. Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche, Leipzig 2020, 8. EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.): Freiheit und Gemeinsinn. Der Beitrag der evangelischen Kirche zu Freiheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt, Leipzig 2021, 73.
Kirche und Diakonie 2030
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„Zugleich ist gerade das Zusammenleben von Menschen mit verschiedensten Lebensentwürfen und Herkunftsgeschichten darauf angewiesen, dass intermediäre Organisationen wie Kirche und Diakonie zwischen den Einzelnen und dem Staat vermitteln, Aushandlungsprozesse moderieren helfen und öffentliche Räume bieten, in denen Individualität und Vielfalt auch gegenseitiges Verständnis und Gemeinsinn generieren. Eine intermediäre, diakonische Kirche öffnet, wenn sie ihrem Anspruch gerecht wird, die Türen – auch für soziale Fragen, die sich vor Ort stellen. Sie kann helfen, konkrete Formen und Ausprägungen von Exklusion – etwa die Exklusion sozial, materiell und mental Benachteiligter – zu entdecken und zu beseitigen. Sie kann Ausgangs- und Knotenpunkt in der Vernetzung unterschiedlicher gesellschaftlicher Partner, ihrer Bedürfnisse genauso wie ihrer Ressourcen und Fähigkeiten sein. […] Dieses Beispiel zeigt, dass solche Netzwerke gesellschaftliche Lernorte sein können, eine Weiterentwicklung gesellschaftlicher Diakonie, im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung von Kirche und Diakonie für das friedliche und tolerante Zusammenleben der Verschiedenen. Nicht zuletzt ist die Freiwilligenarbeit der Diakonie ein nicht zu unterschätzender Motor für Gemeinsinn. Sie bietet Menschen in allen Lebenslagen und mit unterschiedlichen Berufskompetenzen die Möglichkeit, sich zu qualifizieren, z. B. in der Telefonseelsorge oder der Hospizarbeit, bzw. ihre Qualifikationen und Talente gewinnbringend in die unterschiedlichen Kontexte des Zusammenlebens von Menschen einzubringen.“25
Das sozialräumlich orientierte Zusammenspiel zwischen Kirche und Diakonie als intermediäre Organisationen in der pluralen Gesellschaft wird programmatisch formuliert. EKD und Diakonie Deutschland verstehen sich auf politischer Ebene als wichtige Mitgestalter des Deutschen Sozialstaates. In der Schrift EinanderNächste-Sein in Würde und Solidarität. Leitbilder des Sozialstaates am Beispiel Inklusion und Pflege aus dem Jahr 2021 wird auf Mt 25,31–46 rekurriert, worin die umfassende Solidarität aller Menschen begründet ist. Kirche und Diakonie präsentieren sich darin als Anwälte für hilfsbedürftige Menschen und als sozialpolitische Stimmen und damit auch als wichtige Grundlage des Sozialstaates: „In den folgenden Abschnitten werden normative Grundlagen sozialstaatlicher Systeme näher erläutert, wobei aus kirchlich-diakonischer Sicht Gerechtigkeitskonzeptionen und dem Subsidiaritätsprinzip eine führende Bedeutung zukommen muss. Dies spiegelt sich im vorliegenden Text wider [sic!], der von der Evangelischen Kirche in Deutschland verantwortet wird. Sie ist weit mehr als eine Beobachterin der sozialstaatlichen Entwicklung. Vielmehr stellt sie mit der Diakonie als Wohlfahrtsverband eine wichtige Mitgestalterin, ja einen integralen Teil des Sozialstaates dar. [...] Kirche und Diakonie verstehen sich dementsprechend sowohl als Anwältinnen für hilfsbedürftige Menschen als auch als sozialpolitische Stimme, als hilfeleistende Akteurinnen und so auch als Arbeitgeberinnen für soziale Dienste. Sie tun dies aus ihrer religiösen Bindung heraus in einer christlichen Perspektive, die spezifische normative Orientierungen umfasst und wesentliche Grundlagen des Sozialstaates mitkonfiguriert hat.“26
25 26
A. a. O., 74f. EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.): Einander-Nächste-Sein in Würde und Solidarität. Leitbilder des Sozialstaates am Beispiel Inklusion und Pflege, Hannover 2021, 24.
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Sonja Keller
Damit eint Kirche und Diakonie ein anwaltschaftliches sozial- und gesellschaftspolitisches Selbstverständnis.
3.
Kirchen und Diakonie 2030: Gemeinsame Zukunft anhand gemeinsamer Themen und Werte
Die eingangs erwähnte ressourcenorientierte Arbeit an zukunftsfähigen kirchlichen Strukturen erfordert auch die Etablierung neuer Dienstgemeinschaften, die auf den Rückgang der Pfarrerinnen und Pfarrer und weiterer Hauptamtlicher reagiert und die neue Formen des Zusammenwirkens verschiedener kirchlicher Berufsgruppen hervorbringt.27 Hinzu kommt der Umbau der staatsanalogen Institution hin zur öffentlich präsenten kooperativen und sozialräumlich verankerten religiösen Organisation. Neben diesen strukturgeleiteten Herausforderungen existiert mit der Digitalisierung bzw. Mediatisierung der Kommunikation auch ein Handlungsfeld, das in besonderer Weise Mut, Innovation und Kreativität erfordert. Die Mediatisierungsdynamik, die die Pandemie-Bewältigung hervorgebracht hat, setzt sich fort. Es geht dabei vor allem um die Qualitätssicherung sowie um die Fragen, wie etwa auch die seelsorgerliche Versorgung im ländlichen Raum durch mediatisierte Angebote gestärkt werden kann. In den strategischen Zielen der Diakonie Deutschland 2021–2025 werden sieben Trends formuliert, die auch das Soziale und die Arbeit der Diakonie affizieren. Dazu gehören die sich weiter vertiefende Individualisierung, Ausdifferenzierung und Partikularisierung der Gesellschaft, der Legitimierungs- und Veränderungsdruck auf sozialwirtschaftlichen Akteuren, die Digitalisierung des Alltags, die Pluralisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Diakonie, der demographische Wandel, die noch ausstehende vollständige Gleichstellung der Geschlechter sowie der alle Lebensbereiche affizierende Klimawandel.28 Keine neue, doch eine weitere zentrale Herausforderung der Diakonie und insbesondere der unternehmerischen Diakonie repräsentieren der akute Fachkräftemangel sowie die Entwicklung und Profilierung der diakonischen Identität im Kontext der tiefgreifenden gesellschaftlichen Pluralität. Die gesellschaftliche und weltanschaulich-religiöse Pluralität hat längst unter den Mitarbeiterinnen
27
28
Vgl. PETER BUBMANN: Zum Miteinander der Berufsgruppen. Empirische und konzeptionelle Anstöße, in: ANGELA HAGER / MARTIN TONTSCH (Hg.): Rothenburger Impulse. Wissenschaftliche Konsultation im Rahmen des Prozesses „Berufsbild: Pfarrerin, Pfarrer“ in Wildbad Rothenburg vom 30.6. bis 1.7.2015, Nürnberg 2015, 13–22. DIAKONIE DEUTSCHLAND (Hg.): #zugehört. Die Zukunft des Sozialen. Strategische Ziele der Diakonie Deutschland 2021–2025, Berlin 2021, 4f.
Kirche und Diakonie 2030
411
und Mitarbeitern der Diakonie Einzug gehalten.29 Das besondere Ethos, der Mehrwert des Angebots einer diakonischen Einrichtung auf dem Sozialmarkt, wird längst nicht mehr von Diakonissen als optisch erkennbare Hüterinnen dieses Ethos der unbedingten christlichen Nächstenliebe repräsentiert.30 Dass diese Werte dennoch verpflichtend sind und gelebt werden, muss nun in anderen Formen materialisiert und erlebbar gemacht werden. Das ist selbstverständlich möglich, und Bildungsarbeit im Rahmen der Diakonie nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein.31 Die Zusammenschau der Trends, die die Soziale Arbeit affizieren und die bereits bekannten Herausforderungen der Diakonie lassen in dieser Hinsicht insgesamt beträchtliche Schnittmengen zwischen Kirche und Diakonie erkennen und legen die Frage nahe, ob einige dieser Herausforderungen nicht gemeinsam bearbeitet und Synergien geschaffen werden könnten.
4.
Sechs Thesen zu gemeinsamen Entwicklungsperspektiven von Kirche und Diakonie 2030
Anstelle eines Fazits soll in diesem Ausblick über gemeinsame Entwicklungsperspektiven angesichts geteilter Werte und Herausforderungen spekuliert werden.
4.1
Gemeinsamer Einsatz für das Gemeinwohl: Kirche und Diakonie als Gestalterinnen einer Caring Community
Kirche und Diakonie sind 2030 tiefgreifend auf die soziale Wirklichkeit der Menschen bezogen und vermögen diese gemeinsam zu analysieren, zu deuten und zu gestalten. 29
30
31
Vgl. dazu ULRIKE CASPAR-SEEGER: Interkulturelle Öffnung als Herausforderung. Religiösweltanschauliche Vielfalt bei Mitarbeitenden in der konfessionellen Wohlfahrt, Stuttgart 2022. THORSTEN MOOS: Diakonische Kultur: Ein Forschungsprospekt, in: DERS. (Hg.): Diakonische Kultur. Begriff, Forschungsperspektiven, Praxis, Stuttgart 2018, 11–23. In der Studie Gelebte Identität von Hanns-Stephan Haas und Dierk Stanitzke, die danach fragt, wie Diversität und Identität in diakonischen Einrichtungen zusammengeführt werden, werden eine ganze Reihe von Praktiken beschrieben, die im Alltag den Identitätskern der diakonischen Einrichtungen stärken und die Kommunikation darüber hervorbringen. Dazu gehört die Arbeit an Leitbildern ebenso wie Leitfäden für rituelle Vollzüge, mobile Kapellen oder materielle Identitätssymbole (vgl. HANNS-STEPHAN HAAS / DIERK STARNITZKE: Gelebte Identität. Zur Praxis von Unternehmen in Caritas und Diakonie, Stuttgart 2019, 229ff.).
412
Sonja Keller
Der Rückbau der kirchlichen Infrastruktur repräsentiert nicht nur einen für viele als schmerzlich erfahrenen Prozess, sondern er birgt auch Chancen in sich. Evangelische Kirche wird vor Ort zu einem unter vielen Akteuren im Gemeinwesen. In Ermangelung von Ressourcen und angewiesen auf lokale Partner und Kooperationen vertieft sich der kirchliche Sozialraumbezug. Nicht mehr eine Gemeinde und ein Kirchturm, sondern größere geographische und lebensweltliche Räume werden zum zentralen Bezugspunkt der kirchlichen Aktivität und Organisation. Der teilweise Verlust der institutionellen Infrastruktur erfordert neue nahräumliche Verankerungen und den Verzicht auf Doppelstrukturen. Der in Kirche und Diakonie deutlich artikulierte Wille, wichtige Säulen einer ‚Caring Community‘ zu sein, sollte 2030 weit herum erlebbar sein. Bewohnerorientiert und von einer christlichen Anthropologie geleitet, können Kirche und Diakonie als intermediäre Akteure das lokale Zusammenspiel zwischen Bürgern, Dienstleistern, Organisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen und Einrichtungen stärken. Der gemeinsame Einsatz für das Gemeinwohl und das Leben christlicher Werte ist eine realistische Vision. Der Weg dahin bedingt allerdings eine Intensivierung der Kontakte zwischen Kirche und Diakonie auf allen Ebenen und die Vertiefung von Kooperationen.
4.2
Selbstbewusstes Eintreten für christliche Werte und das Leben des Glaubens
Kirche und Diakonie sind 2030 in der weltanschaulich und religiös pluralen Gesellschaft präsent und offen für alle Menschen. Kirche und Diakonie sind 2030 öffentlich weit herum wahrnehmbare Akteure, die das religiöse, soziale und gesellschaftliche Leben in Deutschland mitprägen. Wenn öffentliche Kirche bloß behauptet wird, ist wenig gewonnen. Dem Relevanzverlust der Kirchen und des christlichen Glaubens im Alltag ist nicht mit Behauptungen der allgemeinen eigenen Bedeutung beizukommen. Interessant scheint dagegen die Rede von der Öffentlichkeit von Kirche und Diakonie, wenn es darum geht, eine institutionelle Selbstmarginalisierung zu verhindern. Gefährlich wäre der Rückzug von Kirche und Diakonie aus der Gesellschafts- und Weltgestaltung. Kirche und Diakonie sind von denselben christlichen Werten geleitet. Diese bringen Diakonie und Kirche vermehrt auch gemeinsam zum Ausdruck. Die Anwaltschaft für Gerechtigkeit, sozialen Frieden und die Bewahrung der Schöpfung kann verstärkt gemeinsam getätigt werden.
Kirche und Diakonie 2030
4.3
413
Dienstgemeinschaft und multiprofessionelle Teams
Kirche lernt von der unternehmerischen Diakonie und arbeitet 2030 hinsichtlich der Anstellungspraxis prozesshafter und stärkt multiprofessionelle Teams. Die bevorstehenden finanziellen und personellen Einschnitte in den Kirchen sorgen beim Thema Dienstgemeinschaft oder multiprofessionelle Teams in der Kirche mittlerweile für mehr Bewegung. Es geht dabei auch darum, wie insbesondere auch Diakone und Gemeindepädagogen in ihrem Dienst in der Gemeinde gestärkt werden können. Die Leitung der Gemeinde wird nicht mehr so stark in den Händen der Pfarrerinnen und Pfarrer liegen. Entsprechend gilt es daran zu arbeiten, die Kultur der Zusammenarbeit grundlegend zu stärken und verschiedene Aspekte der Gemeindearbeit neu zu denken.
4.4
Prozessorientierte und flexiblere Strukturen
Kirche und Diakonie agieren 2030 als moderne Organisationen, die sich durch ihre Zweckorientierung und ein Mindestmaß an Flexibilität der Strukturen auszeichnen. Die kontinuierliche Organisationsentwicklung der Diakonie hat sich bis 2030 fortgesetzt, doch sie hat sich nicht noch weiter beschleunigt, sondern an verschiedenen Stellen haben Bereinigungen und Klärungen stattgefunden. Die Kirche hat bis 2030 ihr Gepräge als staatsanaloge Institution teilweise abgebaut. Im Hinblick auf die Gestaltung von kirchlichen Aktivitäten und der Organisation der Kirche ist deutlich mehr Flexibilität erkennbar. Kirche und Gemeinde vor Ort werden stärker sozialräumlich gedacht. Ortsgemeindliche und übergemeindliche Strukturen werden als komplementär erfahren und nicht mehr gegeneinander ausgespielt.32
4.5
Kirche ist Diakonie. Diakonie ist Kirche
Kirche und Diakonie stehen 2030 stärker als heute in einem lebendigen reziproken Verweiszusammenhang. Die in Wort und Tat bezeugte Verkündigung in diakonischen Einrichtungen und Handlungszusammenhängen sowie die vielfältigen diakonischen und seel32
Es ist ein Ausdruck der tiefgreifenden Neuformatierung von Gemeindestrukturen, dass sich gleichzeitig zur Betonung des Sozialraumbezugs nahräumlich orientierter kirchlicher Arbeit die Gründung verschiedener Kasualagenturen beobachten lässt, die einen dezidiert übergemeindlichen Ansatz verfolgen (vgl. EMILIA HANDKE: Von einer Amtskirche zu einer Dienstleistungskirche. Auf dem Weg zu einer Kasualpraxis der Zukunft, in: ULRIKE WAGNERRAU / DIES. [Hg.]: Provozierte Kasualpraxis. Rituale in Bewegung, Stuttgart 2019, 179–192).
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Sonja Keller
sorgerlichen Unterstützungsleistungen in Kirche und Gemeinde werden bewusster als Grundvollzüge kirchlichen und seelsorgerlichen Handelns wahrgenommen. Diakonisches und seelsorgerliches Handeln stehen neben dem gottesdienstlichen Feiern und der religiösen Bildung im Mittelpunkt der kirchlichen Arbeit.
4.6
Praxis und Strukturen teilen
Kirche und Diakonie teilen 2030 vermehrt Praxiswissen, Infrastrukturen und Sozialkapital. Der darin gespeicherte Reichtum wird durch die wechselseitige Bezogenheit noch stärker fruchtbar gemacht. Um Kooperationen und Netzwerke zwischen Diakonie und Kirche zu stärken, ist die gemeinsame Besinnung auf den Auftrag von Diakonie und Kirche zielführend. Evangelisch sein ist nichts Statisches, sondern lebt von einem lebendigen Austausch über das Evangelium und den Auftrag, der für Kirche und Diakonie daraus erwächst. Über eine konsequente Auftragsorientierung können Lagerdenken überwunden und pragmatische lokale Lösungen gefunden werden. Durch den intensiven regelmäßigen Austausch zwischen Kirche und Diakonie verliert die Frage nach dem evangelischen Profil in der unternehmerischen Diakonie an Bedeutung.
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der Augustana-Hochschule
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der AHS Andreas Schmidt
ANDREAS SCHMIDT
Im 75. Jahr des Bestehens der Augustana-Hochschule (AHS) Neuendettelsau fällt der Blick auch auf ihren jüngsten Spross. Seit nunmehr 17 Jahren prägt und bereichert das Hochschulkantorat das Leben auf dem Campus, die akademische Lehre und das gottesdienstliche Feiern.
1.
Zur Geschichte des AHS-Kantorats
Von günstigen Zufällen begleitet, wurde im Jahr 2005 die neue Planstelle für ein Kantorat an der Augustana-Hochschule eingerichtet. Hansjörg Rey, vormals Gesangspädagoge beim Windsbacher Knabenchor, gelang es durch sein verdienstvolles Wirken, kirchenmusikalische Inhalte in der akademischen Lehre zu etablieren. Wiederum durch ein glückliches Zusammenwirken von Landeskirche und Hochschulleitung konnte die Stelle, die eigentlich mit Reys Ruhestandsversetzung hätte wegfallen sollen, im Umfang eines halben Dienstauftrags weitergeführt werden. Seit dem Wintersemester 2015/16 hat der Verfasser die Stelle inne, die er neben seiner Tätigkeit als Referent für Kirchenmusik im landeskirchlichen Gottesdienst-Institut in Nürnberg versieht.
2.
Der bayerische Sonderweg in der musikalischen Ausbildung des theologischen Nachwuchses
Ein stellenplangestütztes, akademisch verantwortetes kirchenmusikalisches Angebot an einer Fakultät für evangelische Theologie ist im deutschsprachigen Raum eine Seltenheit. Im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) existieren dagegen gleich zwei Ausbildungsstätten mit diesem Profil. Zuerst ist hier das traditionsreiche Institut für Kirchenmusik der FriedrichAlexander-Universität Erlangen zu nennen. Es verdankt seine Gründung im 19. Jahrhundert der kirchenpolitischen Notwendigkeit, im noch jungen Königreich Bayern aus zahlreichen, von ihrer Tradition her disparaten Kleinkirchen eine Landeskirche mit eigener konfessioneller Identität zu formen.
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Andreas Schmidt „Der inneren Festigung diente in ganz besonderer Weise ein einheitliches Gesangbuch als impulskräftiger Faktor für die einheitliche Gestaltung des Lebens in den Frömmigkeitsformen des Luthertums. 1854 wurde es eingeführt. […] Ebenso wurde eine einheitliche Liturgie von der Generalsynode verbindlich gemacht. Nun galt es, die Gemeinden darin einzuüben, und dazu brauchte man Pfarrer und Kantoren, die sich in der Liturgie, im liturgischen Singen und im Liedgut der Kirche auskannten.“1
Aus der Notwendigkeit heraus, die zukünftigen kirchlichen Amtsträger im Umgang mit der Liturgie und dem Gesangbuch auszubilden, wurde eine Stelle für einen akademischen Musiklehrer geschaffen und im Jahr 1854 mit Johann Georg Herzog2 besetzt. Die Tradition des Instituts wird heute durch Konrad Klek, einen promovierten Theologen und Kirchenmusiker, auf einer Professur für Kirchenmusik im Fachbereich Theologie fortgeführt. Eine gute personelle Ausstattung mit mehreren akademischen Musiklehrern und Lehrbeauftragten ermöglicht es, ein reichhaltiges musikalisches Betätigungs- und Ausbildungsfeld für alle Studierenden dieser Großuniversität anzubieten. Als Zeichen der kollegialen Wertschätzung hat Konrad Klek zum Gründungsjubiläum der Augustana-Hochschule einen Gruß verfasst, der an dieser Stelle wiedergegeben wird: „Ein Pfarrer muss singen können, sonst …“ Dummerweise lautet das via Tischreden kolportierte Luther-Diktum „Ein SCHULMEISTER muss singen können, sonst schaue ich ihn nicht an“. Hätte er doch PFARRER gesagt, und allen „evangelisch-lutherischen“ Kirchen wäre klar, dass sie für die musikalische Ausbildung ihrer Pfarrpersonen einiges investieren müssen! – Wenn man allerdings bei Luther weiterliest, wird deutlich, dass er da das Lehreramt als Vorstufe zum Predigtamt sieht … Nun denn, die bayerische Landeskirche hat 1854 durchaus erkannt, dass man nicht eine neue Agende – mit ‚Altargesang‘ des Geistlichen – und ein neues Gesangbuch – mit den alten Kirchenliedern in der originalen rhythmischen Gestalt – dekretieren kann, ohne die angehenden Pfarrer in diese damals nicht mehr präsenten Ausdruckswelten einzuweisen. So gibt es in Erlangen – singulär in Deutschland! – seither eine Lehrperson/Professur für Kirchenmusik bei der Theologie. Derzeit haben wir den 200. Geburtstag des ersten Stelleninhabers Johann Georg Herzog zu feiern, ein hoch kompetenter Mann, der trotz vielem Ärger mit unmotivierten Theologiestudenten sowie einem besserwisserischen Theologen (der sich in der Generalsynode beschwerte) in 34 Erlanger Dienstjahren ungemein viel für die kirchenmusikalische Kultur 1
2
BERNHARD KLAUS: Das Erlanger Institut für Kirchenmusik – Seine Grundkonzeption und ihr Ausbau, in: ZBKG 60 (1991), 115–128, 117. JOHANN GEORG HERZOG, *1822 Hummendorf/Oberfranken, †1909 München.
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der AHS
417
der bayerischen Kirche bewirkt hat, nicht zuletzt auch durch seine unzähligen Orgelkompositionen für den allsonntäglichen Bedarf der Lehrerorganisten. 168 Jahre später hat die breit gestreute Aktivität der ‚Professur für Kirchenmusik‘ mit der Theologenausbildung leider nur noch wenig zu tun, dafür umso mehr mit allgemeiner ‚Erlanger Universitätsmusik‘. Da Kirchenmusik oder gar Singen in den landeskirchlichen Prüfungsordnungen nicht vorkommt, entfällt für Theologiestudierende die ‚Nötigung‘, sich damit auseinanderzusetzen, obwohl sie es in aller Regel sehr nötig hätten, da die Welt des Gesangbuches ihnen sehr fremd ist. Warum gibt es eigentlich nicht das Fach Gesangbuchkunde, wo doch Bibelkunde selbstverständlich ist? Spielt denn das Gesangbuch (wie erst recht die heutigen Liedpublikationen verschiedener ‚Szenen‘) für lutherische praxis pietatis nicht eine essenzielle Rolle? Der jetzt gestartete Prozess in Richtung neues Gesangbuch könnte Überlegungen dazu – analog zu 1854 – doch motivieren … In Erlangen wurde die Einrichtung eines Hochschul-Kantorats in Neuendettelsau gewissermaßen als flankierende Maßnahme zum eigenen Bestreben dankbar registriert. Die Campus-Situation und die damit mögliche gemeinsame liturgisch-kantorale Praxis sind dafür deutlich günstigere Bedingungen als die Absonderung der Erlanger Kirchenmusik im Schlossgarten weitab vom Theologischen Seminargebäude, wenngleich die Location Orangerie in ihren ästhetischen Reizen unschlagbar ist. Neulich allerdings erschien hier ein Theologiestudent zur Übung Liturgisches Singen und gab als Motivation dafür an, sein in Neuendettelsau studierender Freund habe aufgrund seiner über mehrere Semester so positiven Erfahrungen ihm dringendst geraten, zum Liturgischen Singen zu gehen. Also: Herzlichen Glückwunsch der Augustana zum Hochschulkantorat! Universitätsmusikdirektor Prof. Dr. theol. Konrad Klek, Erlangen
3.
Das Kantorat an der AHS
Im Vergleich zu den Gegebenheiten in Erlangen ist das AHS-Kantorat eine junge und kleine Einrichtung, die dennoch bereits ihre Geschichte hat. Der Campus der Hochschule stellt eine besondere Arbeitsumgebung dar und es bestehen gute Voraussetzungen für eine große Reichweite des kirchenmusikalischen Lehrangebots.
418
3.1
Andreas Schmidt
Konzeptionelle Grundlagen
Die im Zusammenhang mit der Gründung des Erlanger Instituts genannten Anforderungen an eine theologienahe musikalische Ausbildung – Kompetenzvermittlung im Liturgischen Singen und in der Hymnologie – haben sich bis heute wenig verändert. Dass zur Erfüllung dieser Aufgabe Stellen für kirchenmusikalisch qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen, ist eine begrüßenswerte Errungenschaft der kirchlichen Hochschulpolitik in Bayern.
3.2
Kirchenmusikalische Inhalte in Lehre und Gottesdienst
Das Kantorat an der Augustana-Hochschule hat sich seit der Neubesetzung im Jahr 2015 in erfreulicher Weise entwickelt. Grundlage der Lehre ist ein vom Stelleninhaber entwickeltes Curriculum mit den Kernfächern Hymnologie, Liturgisches Singen, Einführung in die Kirchenmusik und Chorsingen. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung professioneller Kompetenzen für die Sprech- und Singrolle, die der Pfarrer oder die Pfarrerin im Gottesdienst ausfüllt. Die intensive Beschäftigung der Studierenden mit den Lehrinhalten, teils über mehrere Semester hinweg, führt zu einer großen Souveränität im Umgang mit Gottesdienst und Gesangbuch. Das Lehrangebot wird regelmäßig von einem guten Drittel der Studierenden wahrgenommen – eine außergewöhnlich hohe Teilnehmerquote angesichts der Tatsache, dass seitens der Studienordnung keinerlei Verpflichtung zum Besuch kirchenmusikalischer Lehrveranstaltungen besteht. Über die Lehre hinaus gehört das Orgelspiel in den sonntäglichen Hochschulgottesdiensten zu den Aufgaben des Kantors. Der Überzeugung folgend, dass alles kirchenmusikalische Tun sein Ziel und seine Erfüllung im Gottesdienst hat, spielt die Beteiligung von Studierenden an der musikalischen Gottesdienstgestaltung eine große Rolle. Häufig steht hierzu eine Schola aus Studierenden zur Verfügung. Die agendarische Form bietet dabei der chorischen Mitwirkung reiche Möglichkeiten. Zum jährlich am zweiten Advent stattfindenden Augustanatag wird unter dem Label ‚Augustana singt!‘ ein Projekt angeboten, bei dem der Chor im Rahmen eines Probenwochenendes ein größeres Werk einstudiert und im Festgottesdienst zur Aufführung bringt. Seit zwei Jahren gelingt es außerdem, wöchentlich die Komplet zu feiern. Neben dem Hochschulchor existiert mit dem Vokalensemble ein weiterer leistungsfähiger Klangkörper. Das Ensemble arbeitet projektbezogen und steht begabten Studierenden offen, wird aber getragen von erfahrenen Sängerinnen und Sängern, die nicht der Hochschule angehören. Als Ergänzung des AHS-Kantorats besteht ein Lehrauftrag für Sprecherziehung und Stimmbildung, der seit vielen Jahren von Diplom-Sängerin Andrea
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der AHS
419
Wurzer wahrgenommen wird und sich einer großen Beliebtheit erfreut. Der Unterricht durch eine professionelle Sängerin ermöglicht eine intensive Betreuung der Studierenden, wie sie in den vom Hochschulkantor verantworteten Lehrveranstaltungen nicht möglich ist. Schließlich hat sich im Bereich des internationalen Austauschs, der an der Augustana-Hochschule traditionell einen besonderen Stellenwert hat, in den vergangenen Jahren eine lebendige akademische Partnerschaft mit der Fakultät für Orthodoxe Theologie an der Babeș-Bolyai-Universität in Cluj/Klausenburg (Rumänien) entwickelt. In Fachvorträgen und Workshops werden der jeweils anderen Seite die eigenen musikalischen und gottesdienstlichen Welten nähergebracht.
4.
Wort, Klang, Verstehen – Kirchenmusik als geistliche Übung und Lobgesang
Bei aller Freude über die Dinge, die in der kirchenmusikalischen Arbeit mit den Studierenden gelingen, bleiben dennoch Fragen offen. Beschränkt sich die Bedeutung von Kirchenmusik für die Theologie wirklich auf die praktischen Erfordernisse des Gottesdienstes? Ist nicht die Bibel voller Lieder und voll von musikbezogenen Bildern und Vorstellungen? Stellt nicht die Musik selbst, weil sie Lobgesang ist, einen Gegenstand von höchstem theologischem Interesse dar? Im Folgenden werden in knapper Form einige musiktheologische Themen angesprochen, die weit über die Auffassung von Kirchenmusik als „berufsbefähigender Zusatzqualifikation“3 hinausgehen. Diese sind dem einschlägig gebildeten Leser sicher nicht unbekannt. In jedem Fall sind sie es wert, neu ins Bewusstsein gehoben zu werden.
4.1
Klang als Wesensmerkmal des Wortes
Ein Kennzeichen kirchenmusikalischer Arbeit, das sie von anderen Musikdisziplinen unterscheidet, ist der Umgang mit dem vertonten Schriftwort, etwa in einem geistlichen Lied, einer Motette oder einem oratorischen Werk. Hier wird das Wort naturgemäß weniger in seiner Eigenschaft als grafische Zeichenfolge aufgefasst, sondern zuallererst als klangliches Ereignis. Darin besteht Ähnlichkeit zu vorneuzeitlichen Lesekulturen.
3
AUGUSTANA-HOCHSCHULE (Hg.): Modulhandbuch (neu) für den Studiengang Evangelische Theologie mit Abschluss Kirchliches Examen an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau vom 1.4.2020, Neuendettelsau 2020, 3.
420
Andreas Schmidt „Für den Menschen der antiken Welt und bis weit ins Mittelalter hinein war es selbstverständlich, dass Lesen nicht nur eine visuelle Wahrnehmung ist, sondern auch und vor allem eine akustische. Das laute Lesen war die ursprüngliche und natürliche Form des Lesens. […] Lesen ist nichts anderes als ein zeitlich verzögertes Hinhören auf das, was jemand gesagt hat.“4
Das geschriebene oder gedruckte Wort gewinnt in der Perspektive der antiken Lesekultur erst in seiner Beziehung zum damit verbundenen Sprachklang Relevanz. Klang wird zum Wesensmerkmal des Wortes.
4.2
Klang und Verstehen
Wenn Klang ein Wesensmerkmal des Wortes ist, ist er vom Prozess des Wortverstehens nicht zu trennen. Ihm kann eine hermeneutische Funktion zugeschrieben werden. Geradezu idealtypisch ist diese Funktion in der Gregorianik ausgeprägt. „Am Anfang der abendländischen Musikgeschichte steht die Erfahrung, dass sich der Sinn eines Wortes – oder eines Satzes – im Klang äußert und über den Klang erschließt.“5
Bei Martin Luther lässt sich der Weg, auf dem das in Klang gefasste Wort ein Verstehen bewirkt, recht genau nachzeichnen. Wenn er sagt „Niemand spricht oder hört in angemessener Weise eine Schriftstelle, er sei denn ihr entsprechend ergriffen, so dass er innen fühlt, was er draußen hört oder spricht, und darauf sagt: Ja, so ist es in der Tat“6,
dann richtet er sein Interesse auf eine durch Hören des Wortes herbeigeführte klare und deutliche Erkenntnis. Der klanglichen Gestalt des Wortes kommt dabei eine eigene Funktion zu. Die Wirkkraft der Musik, die Luther als „Herrin und Gebieterin über die menschlichen Affekte“7 erkennt, macht sie zu einem geeigneten Vehikel, auf dem das Wort ins Herz des Menschen gelangt. Die Musik wird „dem lebendigen heiligen Gottes Wort angezogen, dasselbe damit zu singen, zu
4
5
6 7
HERMANN HAUKE: Der Stellenwert des nichtliturgischen Lesens im Mönchsleben des Mittelalters, in: CLEMENS M. KASPER / KLAUS SCHREINER (Hg.): Viva vox und ratio scripta – Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen des Mittelalters, Münster 1997, 119– 134, 119. CHRISTA REICH: Evangelium: Klingendes Wort – Zur theologischen Bedeutung des Singens, Stuttgart 1997, 131. WA 3, 549,33–35. „(Musica) domina et gubernatrix affectuum humanorum“: WA 50, 371.
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der AHS
421
loben und zu ehren“, damit wir, „mit süßem Gesang ins Herz getrieben, gebessert und gestärkt werden im Glauben“.8 Unter seiner klanglichen Gestalt wird das Wort zum Subjekt, das den Menschen ‚behandelt‘. Wortsinn und Wortgestalt leisten ihren je eigenen Beitrag zum Verstehensprozess. „Deshalb haben die Väter und Propheten nicht grundlos gewollt, dass nichts mit dem Wort Gottes verbundener sei als die Musik. Daher nämlich gibt es so viele Lieder und Psalmen, in denen die Rede (sermo) und die Stimme (vox), gleichermaßen im Geist des Hörers wirken.“9
Das Evangelium ist erklingendes, gehörtes, den Menschen in seiner Existenzmitte berührendes Wort. „Euangelion ist ein griechisch Wort und heißt auf deutsch gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“10
Dabei ist der Gesang des Glaubens nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung. Vielmehr drängt es den Menschen, das Gotteslob laut werden zu lassen. „Singet dem Herrn ein neues Lied, singet dem Herrn alle Welt. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht, durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst gläubet, der kanns nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzu kommen.“11
4.3
Kirchenmusik als geistliche Übung
Die Einsicht in Klang als einer hermeneutischen Kategorie eröffnet einen neuen Blick auf den Gegenstand der Kirchenmusik als Ganzes. Sei es der sonntägliche Gemeindegesang, sei es die profilierte kirchenmusikalische Arbeit in einem großen Kantorat mit ihren umfänglichen Vorbereitungs-, Proben- und Aufführungszyklen – hier wie dort findet sich der Umgang mit dem klingenden Schriftwort, hier wie dort steht ein Verstehen des Wortes auf dem Spiel. Singen kann als ‚Klangwerdung‘ des Wortes im Menschen begriffen werden. Im Gesang kommt das Wort dem Einzelnen so nah, wie es sonst kaum möglich ist. Es wird erfahrbar, „dass biblisches Wort nicht fertig gegebener Text, sondern primär und prinzipiell ‚Anrede‘ ist“12. 8 9 10 11 12
Nach WA 35, 480,4ff. WA 50, 371,14–372,1. WA.DB 6, 3,23ff. Aus Luthers Vorrede zum Babstschen Gesangbuch (1545), WA 35, 477. REICH: Evangelium (s. Anm. 5), 106.
422
Andreas Schmidt
Neben dem Gottesdienst hat der Umgang mit dem klingenden Wort seinen Ort in der Chorprobe. Das Arbeiten des Kantors an Intonation und Gestaltung dient einem Klangideal, das über die tonkorrekte Wiedergabe der Partitur hinausgeht. Das Ziel allen Probens und Einstudierens ist jene kreatürlich-unmittelbare Wirkung der Musik, die den Hörer anspricht. Jeder, der einmal im Chor gesungen hat, kennt die Beobachtung: Nach der Chorprobe verlassen die Sängerinnen und Sänger den Probenraum singend, die eine oder andere während der Probe behandelte Stelle auf den Lippen. Es gibt bestimmte Chorstücke, die man in früheren Zeiten einmal gesungen hat und deren Klang sich vor dem inneren Ohr einstellt, sobald man deren Text in einem anderen Zusammenhang hört oder liest. Jede Sängerin und jeder Sänger wird hier andere Stücke nennen. Niemand wird sagen, er oder sie habe noch nie ein ähnliches ‚Déjà-écouté‘ gehabt. Gemeinhin wird diesem Phänomen keine weitere Beachtung geschenkt. Man kann darin jedoch eine Antwort des Menschen auf die Ansprache durch das Wort sehen, mit dem er während der Chorprobe in Kontakt gekommen ist. In diesem Sinne ist kirchenmusikalische Arbeit ein „Treiben und Reiben“ des Wortes13 und rückt in die Nähe zur geistlichen Übung.
4.4
Musik als Lobgesang
Inspiriert durch die biblischen Schilderungen des himmlischen Gottesdienstes (exemplarisch in Jes 6,1–4 und Offb 4,8–11) ist die Musik in der Kirchen- und Glaubensgeschichte schon immer als ein die diesseitige und jenseitige Welt übergreifendes Phänomen verstanden worden. „Der Bezug [des christlichen Gottesdienstes, A. S.] zum himmlischen Gotteslob […] ist am deutlichsten in der Johannesoffenbarung entfaltet, klingt aber auch sonst mehrfach an. Im himmlischen Gottesdienst, wie ihn die Offenbarung schildert, wird Gott durch die seinen Thron umgebende Schar der Engel und der vollendeten Gerechten ein unaufhörlicher Lobpreis zuteil. Mitte dieser himmlischen Liturgie ist das Sanctus (Jes 6,3), die Proklamation der Heiligkeit des Schöpfers.“14
In hymnischer Gestalt wird bis heute im Präfationsgebet der Lobgesang des Schöpfers als alleiniger Daseinsgrund des Menschen benannt und besungen:
13
14
„Zum andern sollst du meditieren, das ist: Nicht allein im Herzen sondern auch äußerlich die mündliche Rede und das buchstabische Wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und wiederlesen mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meinet“, WA 50, 659,22–27. HANS BERNHARD MEYER u. a. (Hg.): Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 3: Die Gestalt des Gottesdienstes, Regensburg 1987, 68.
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„Wahrhaft würdig ist es und recht, dass wir dich, heiliger Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott, zu allen Zeiten und an allen Orten loben und dir danken durch Jesus Christus, unsern Herren. Ihn hast du der Welt zum Heile gesandt, damit wir durch seinen Tod Vergebung der Sünde und durch sein Auferstehen das Leben haben. Darum loben die Engel deine Herrlichkeit, beten dich an die Mächte und fürchten dich alle Gewalten. Dich preisen die Kräfte des Himmels mit einhelligem Jubel. Mit ihnen vereinen auch wir unsere Stimmen und lobsingen ohne Ende: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, / alle Lande sind seiner Ehre voll. / Hosianna in der Höhe. / Gebenedeit sei, der da kommt im Namen des Herrn. / Hosianna in der Höhe.“15
Die hier zum Ausdruck kommende Einheit von irdischem und himmlischem Lobgesang stellt die vielleicht tiefste theologische Begründung aller Musik dar und ist bis in die nachreformatorische Zeit vielfach nachweisbar.16 Seinerzeit ist dafür die schöne Formel musica praeludium vitae aeternae geprägt worden.17 Ein jüngst von Vasile Stanciu18 im Rahmen eines akademischen Austausches an der AHS gehaltener Vortrag über die Rolle der Musik in der Orthodoxie zeigt, dass der Blick auf Musik und Gottesdienst in ihrer eschatologischen Dimension bis heute ein geteiltes Gut der christlichen Kirchen ist. Dem Referenten zufolge ist die Musik in der Orthodoxie keine Sache, über deren Berechtigung im Gottesdienst zu diskutieren wäre. Ihrem Wesen nach überschreite sie das Diesseits und alle Zeitlichkeit. Daher sei sie das einzig angemessene Kommunikationsmittel des Gotteslobes und der Liturgie: „Alle Künste, alle Berufe, alle Theologien aller Konfessionen werden aufhören aktiv zu sein, nur die Musik wird weiterleben. Daher ist die Musik Dogmen, theologischen Meinungen, interreligiösen Differenzen überlegen, gerade weil sie in den Dienst Gottes gestellt wird, damit wir durch sie Lob und Ehre bringen können und auch durch sie Einheit suchen. […] Es gibt keine größere Freude, als unser ganzes Leben zu Gott als Altar der Liebe zu bringen und dabei immer eine Hymne der Danksagung zu singen. Das Wunder der göttlichen Musik manifestiert sich in der Kommunion.“19
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LANDESKIRCHENRAT DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN LANDESKIRCHE IN BAYERN (Hg.): Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen – Ordnungen und liturgische Texte, München 1995, Agende G1, 20–23. Aus dem Bereich der Kirchenmusikgeschichte etwa im Lobgedicht Johann Walters „Lob und Preis der göttlichen Kunst Musica“ (1538) oder im Widmungsgedicht Heinrich Schütz’ zu seinen Musikalischen Exequien, SWV 279–281 (1636). Nach einer häufig zitierten, als Primärquelle jedoch nicht nachweisbaren Inschrift an einer alten Orgel. VASILE STANCIU, *1958, orthodoxer Priester, Prof. Dr. Univ., Leiter der Doktoratsschule der Fakultät für orthodoxe Theologie an der Babeș-Bolyai-Universität in Cluj/Klausenburg (Rumänien). VASILE STANCIU: Die Rolle der Musik in der Orthodoxie, Vortrag vom 17. Mai 2022 an der Augustana-Hochschule, unveröffentlichtes Manuskript.
424
Andreas Schmidt
5.
Zusammenfassung
5.1
Stellenbezogene Aspekte
Kirchenmusik ist ein hohes Bildungsgut, sowohl von ihrer gottesdienstlichen Bestimmung her als auch mit Blick auf ihre kulturelle und musikwissenschaftliche Relevanz. An der Augustana-Hochschule gelingt es erfolgreich, kirchenmusikalische Inhalte in das Theologiestudium zu integrieren. Auf dem Campus und in den Gottesdiensten entfaltet sich ein reiches kirchenmusikalisches Leben. Dass dies im Rahmen einer halben Stelle an einem vergleichsweise kleinen Haus und trotz der ständigen personellen Fluktuation dauerhaft auf einem hohen Niveau möglich ist, kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
5.2
Musiktheologische Aspekte
Der Blick auf Klang als Wesensmerkmal des Wortes und als hermeneutische Kategorie, wie er der antiken Text- und Lesekultur eigen ist, mag für den modernen Menschen eine ungewohnte Perspektive sein. Vielleicht übt dieser Gedanke jedoch gerade wegen seiner Fremdheit einen Reiz aus. Eine der schönsten Möglichkeiten, sich dem Wort in Klanggestalt auszusetzen, ist das Singen. Kirchenmusik bekommt auf diese Weise den Charakter einer geistlichen Übung. Musik ist Lobgesang. In ihrer überzeitlichen Perspektive findet sie ihre tiefste Begründung. Lobgesang lebt von der hymnischen Sprache und steht in betonter Distanz zur Alltagserfahrung. Gerade in dieser Distanz verliert er die Probleme der Welt nicht aus dem Blick. Denn „Lob ist eine Haltung, die die Veränderung der Welt will, aber Gott das letzte Wort lässt“20.
6.
Abschluss
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Diese Umschreibung kirchenmusikalischen Tuns macht deutlich, wie tief musikalische Anschauungen und Begrifflichkeiten in der Theologie verwurzelt sind. Über ihren akademischen Eigenwert hinaus vermag der Umgang mit Kirchenmusik den Blick für theologische Grundfragen zu schärfen. 20
DEUTSCHE BISCHOFSKONFERENZ (Hg.): Gotteslob, Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Ausgabe für die Erzdiözese Bamberg, Bamberg 2013, 130.
„Dem Wort Klanggestalt geben“ – Das Kantorat an der AHS
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Daher ist es nicht nur eine herausfordernde, sondern zugleich auch eine lohnende Aufgabe, beständig auf die Tiefendimension allen Singens und Musizierens im Bereich von Glaube, Gottesdienst und Kirche hinzuweisen. Die Voraussetzungen dafür, dass diese Aufgabe an der Augustana-Hochschule auch in Zukunft erfüllt werden kann, sind gut.
Theologie – Kirche – Wissenschaft
Theologie – Kirche – Wissenschaft Konrad Müller
1.
KONRAD MÜLLER
Theologische Enzyklopädie
Jegliche theologische Enzyklopädie besitzt, wie der altrömische Gott Janus, ein Doppelgesicht. Bestimmen wir die theologische Enzyklopädie als eine theologische Disziplin, in der sich die Theologie über sich selbst und den Zusammenhang ihrer Teildisziplinen Rechenschaft gibt, richtet sie ihren Blick auf die mögliche Funktion der Studienfaches Theologie an Universitäten und deren Fakultäten oder an kirchlichen Hochschulen. In der Gegenrichtung impliziert das darin eingeschlossene Selbstverständnis notwendig auch eine Beschreibung, wie das Miteinander von wissenschaftlich fundierter theologischer Theorie und kirchlichem Selbstverständnis sinnvoll zu denken und zu gestalten wäre. Wegen dieser Doppelbezüglichkeit steht Theologie als Wissenschaft in einer Spannung, die sich bis hin zu einem Gegensatz entwickeln kann. Einerseits ist sie jenem den Wissenschaftsbetrieb der Universitäten leitenden Anspruch der weltanschaulichen Voraussetzungslosigkeit und der durch diese Prämisse implizit (mit allem Recht) geforderten Ergebnisoffenheit verpflichtet. Daraus leitet sich die Bereitschaft ab, auch die eigenen Voraussetzungen, die jeglichem Forschen zugrunde liegen müssen, zu revidieren. Andererseits soll die Theologie zugleich einem kirchlichen Interesse dienen, das mit dem kirchlichen Handeln nach innen, in die jeweilige Kirche hinein, aber auch nach außen, hinsichtlich der Gesellschaft, einen Geltungsanspruch erhebt, der durch den Rückbezug auf die Heilige Schrift und/oder die Tradition oder dogmatische Vorgaben etc. vorausgesetzt wird und sich grundsätzlich seiner Aufhebung widersetzt. Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen markiert eine Wende. Ihre Bedeutung besteht darin, die genannten Spannungen zwischen der akademischen und der kirchlichen Funktion des theologischen Studiums sowie zwischen wissenschaftlicher Voraussetzungslosigkeit und kirchlichem Geltungsanspruch aufgenommen und ein Konzept vorgestellt zu haben, das man als exemplarischen Lösungsversuch verstehen kann. Insofern ist es durchaus berechtigt, Schleiermachers Kurze Darstellung als epochal zu bezeichnen.1 1
Vgl. MARKUS BUNTFUß / MARTIN FRITZ: Einleitung. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“ als Impuls für das gegenwärtige enyzklopädische Gespräch, in:
428
Konrad Müller
Sowohl wegen der Klarheit ihrer Überlegungen als auch wegen ihrer Wirkungsgeschichte setzen die folgenden Ausführungen über das Verhältnis von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis mit der Analyse einiger Grundgedanken Schleiermachers in der 2. Auflage seiner Kurzen Darstellung ein.
2.
Philosophische Theologie bei Schleiermacher
Schleiermacher beginnt seine theologische Enzyklopädie in Paragraph (1) mit der These, dass Theologie „eine positive Wissenschaft [ist], deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum.“2 Diese These ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum ersten drückt sich in ihr Schleiermachers subjektiver Idealismus, genauer seine Religionsphilosophie aus. Schleiermacher nimmt innerhalb des Deutschen Idealismus eine eigene philosophische Position ein. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine Art Synthese zwischen der Philosophie Spinozas und Kants versucht. „Spinoza macht für Schleiermacher dem kritischen Idealismus Kants die unabdingbare Voraussetzung einer objektiven Philosophie deutlich; Kant hingegen macht dem Spinozismus deutlich, daß dieses Sein für uns nur im Rahmen begrenzter subjektiver Erkenntnisvermögen und nicht an und für sich thematisierbar ist. Die endlichen Dinge haben zwar keine gegenüber dem Unendlichen unabhängige Existenz und sind nur als im Unendlichen existierend zu denken […], aber sie sind nicht schlechthin identisch. Im Blick auf Kant bedeutet dies, daß die erscheinende Wirklichkeit als Erscheinung eines Unendlichen angesehen wird, ohne daß dieses Unendliche ‚an sich‘ erkannt werden könnte. Mit dieser Kombination von Kant und Spinoza ebenso wie mit seinem besonderen Interesse an der Individualität im Rahmen einer geschichtlichen Vermittlung von Natur und Freiheit […] gerät Schleiermacher in eine Entsprechung zur frühromantischen Philosophie, wie sie sich nahezu zeitgleich bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg herausbildete.“3
2
3
DIES. (Hg.): Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (TBT 163), Berlin/Boston 2014, 1–22, 5. FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 21830, in: DERS.: Kritische Gesamtausgabe, hg. von HERMANN FISCHER u. a., Abteilung I: Schriften und Entwürfe. Bd. 6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. v. DIRK SCHMID, Berlin / New York 1998, 319–446 (= KD2), § 1, 325,3–7. WALTER JAESCHKE / ANDREAS ARNDT: Die Philosophie der Neuzeit 3. Teil 2: Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel (Geschichte der Philosophie IX,2), München 2021, 128.
Theologie – Kirche – Wissenschaft
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Für Schleiermacher ist demnach die so modern klingende Bestimmung der Theologie als einer positiven Wissenschaft nur deswegen möglich, weil er ihr, anders als es die Begründungskonzepte moderner Wissenschaftstheorien versuchen, eine empirisch nicht verifizierbare, spekulative, philosophisch-dogmatische Auffassung zugrunde legt. Diese ist alles andere als „positiv“ in dem Sinne, wie eine „positive“ Wissenschaft heute – falls sie sich überhaupt noch auf diese Terminologie einlassen wollte – verstanden werden würde. Während ein „positives“ vom „Gegebenen“ ausgehendes Wissenschaftsverständnis auf eine induktive Methodologie zielt, bezieht sich Schleiermachers Verständnis einer „positiven Theologie“ auf ein philosophisches, spinozistisches Konzept des Seins zurück. Dieses Sein kann jedoch „an sich“ nicht erkannt werden. Hinsichtlich metaphysischer Aussagen bedeutet dies: Alles Sein (im spinozistischen Sinn) liegt jeglicher Erfahrung so zugrunde, dass es als Seiendes wirkt, ohne jedoch in der Erfahrung begrifflich erkannt werden zu können. „Das Handeln des Universums auf uns erzeugt Religion, indem wir ‚alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen‘, wobei wir ‚in die Natur und Substanz des Ganzen‘ selbst nicht eindringen können […]. Hierbei geht Schleiermacher von einer ursprünglichen Anschauung aus, in der Rezeptivität und Spontaneität noch ungeschieden sind. Die ursprüngliche Anschauung besteht in einem präreflexiven Einheitserlebnis, das sich nicht festhalten läßt, sondern in die abgesonderte Anschauung einerseits, die zum Objekt der Reflexion wird, und das Gefühl andererseits auseinandertritt, das als ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘ […] das Innewerden jener praereflexiven Einheit bedeutet.“4
Schleiermacher ersetzt deswegen die kantische Unterscheidung von Anschauung und Begriff durch diejenige von Anschauung und Gefühl. Dass der letztgenannte Begriff nicht umgangssprachlich verstanden werden darf, liegt auf der Hand. Die Bedeutung, mit der Schleiermacher die Wendung „positive Theologie“ füllt, ist also von jener Bedeutungszuweisung, die ihr die Moderne gibt, grundlegend unterschieden. Die den Schleiermacher’schen Ausführungen zugrunde liegende Philosophie, die fast im Sinne einer „intellektualen Anschauung“5 in Anschauung und Gefühl eine religiöse Grunderfahrung postuliert und die er seiner „Theologie“ zugrunde legt, kann wissenschaftstheoretisch keine „positive Wissenschaft“ begründen.
4 5
A. a. O., 129. Vgl. auch unten Anm. 57. Vgl. FRIEDRICH HÖLDERLIN: [Urteil und Sein], in: DERS.: Werke in zwei Bänden. Bd. 1 (Die Bibliothek deutscher Klassiker 20), Wien 1978, 840f.: „Urteil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur-Teilung“ (a. a. O., 840).
430
3.
Konrad Müller
Historische Theologie im weiteren Sinn bei Schleiermacher
Damit kommen wir zum zweiten Punkt. Schleiermacher präzisiert jene bestimmten Glaubensweisen, nach denen sich Religionen in ihren grund-legenden Narrationen und deren begrifflicher Ausdeutung unterscheiden, dadurch, dass er sie im Paragraph (1) der Kurzen Darstellung als eine gemeinschaftlich geteilte „bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewusstseins“ auffasst. In diesen Gestaltungen des Gottesbewusstseins treten religiöse Gemeinschaften und ihre Mitglieder, nachdem sie im „Gefühl“ einer präreflexiven Einheit innegeworden sind, in eine gesonderte Anschauung, aus deren vorlaufendem „Erlebnis“ heraus sich das religiöse „Gefühl“ ereignet hat. Das religiöse Ereignis, jene „Urthatsache, aus welcher die Gemeinschaft selbst als eine zusammenhängende geschichtliche Erscheinung hervorgegangen ist“6, wird zum Objekt der Reflexion. Aus ihm erwächst eine auf Dauer gesetzte Glaubensgemeinschaft und Glaubensweise. „Jeder bestimmten Glaubensweise wird sich in dem Maaß als sie sich mehr durch Vorstellungen als durch symbolische Handlungen mittheilt, und als sie zugleich geschichtliche Bedeutung und Selbständigkeit gewinnt, eine Theologie anbilden, die aber für jede Glaubensweise, weil mit der Eigenthümlichkeit derselben zusammenhängend, sowol der Form als dem Inhalt nach, eine andere sein kann.“7
An die Stelle des selbstevidenten religiösen Ursprungsereignisses tritt also der Begriff, der die im religiösen Ereignis liegende religiöse Erfahrung, „als eine neue Abartung des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls“8, fasst und deutet. Er erschließt in einem reflexiven Akt die der religiösen Erfahrung zugrunde liegende Anschauung. Es entstehen so religiöse Gemeinschaften mit einem „eigenthümliche[n] Gepräge“9, also mit bestimmten (Seins-)Lehren, spezifischen Hermeneutiken und eigenen Moralkodizes. Nach Schleiermacher gehen sie darin jedoch zugleich über das eigentliche Terrain der Religion hinaus. Sie differenzieren sich in Religionen, Konfessionen, religiöse Bewegungen, Gruppierungen, also in religiöse Gemeinschaftsformen unterschiedlichster Verfasstheit.
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FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 21830/31, in: DERS.: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. HERMANN FISCHER u. a., Abteilung I: Schriften und Entwürfe. Bd. 13: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. ROLF SCHÄFER, Berlin / New York 2003 (= Glaubenslehre), § 10, 89,17ff. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 2, 326,10–15; zum Folgenden vgl. auch DERS.: Glaubenslehre (s. Anm. 6), § 10. SCHLEIERMACHER: Glaubenslehre (s. Anm. 6), § 10, 82,21f. A. a. O., § 10, 89,13.
Theologie – Kirche – Wissenschaft
431
Aufgrund ihrer Genese in einem zugleich gemeinsamen und vorbegrifflichen, von Schleiermacher mit dem „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ umschriebenen Innewerden einer präreflexiven Einheit des Seins relativiert sich jeglicher Geltungsanspruch, den religiöse Gemeinschaften erheben. Jene bestimmten Glaubensweisen, in denen sich eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewusstseins Ausdruck gibt, können die Wirklichkeit des „Seins“ genauso wenig erfassen wie andere Formen der begrifflichen Beschreibung der Wirklichkeit. Hier liegt Schleiermacher auf der Linie Kants, für den das Seiende „für uns nur im Rahmen begrenzter subjektiver Erkenntnisvermögen und nicht an und für sich thematisierbar“10 ist. Das Christentum ist in diesen Rahmen einzuordnen. Da es nur als eine „bestimmte Glaubensweise“ gelten kann, werden die Geschichtswissenschaft und die historische Theologie im weiteren Sinn, die das Ergebnis und die Folgen jener Ur-Teilung beschreiben, nach der sich Subjekt und Objekt trennen und zueinander in Beziehung setzen,11 zum Maß und zur Mitte, an denen sich der Zusammenhang der theologischen Fächer orientieren muss. Schleiermacher unterscheidet in diesem Sinn die exegetische Theologie, in der sich die Wurzeln und Quellen der „bestimmten [christlichen] Glaubensweise“ finden, die historische Theologie im engeren Sinne, die den geschichtlichen Wandel des Christentums in Gestalt und Lehre zum Thema hat, sowie zuletzt die dogmatische Theologie sowie die kirchliche Statistik,12 in denen sich der Lehrbestand einer Kirche und deren aktuelle Verfasstheit niederschlagen. Mit der Unterscheidung von philosophischer und historischer Theologie (im weiteren Sinn) führt Schleiermacher eine grundlegende Spannung in seine Auffassung des Theologiestudiums ein. Während es konstatierend mit einer bestimmten Glaubensweise befasst ist, nämlich derjenigen des Christentums im Allgemeinen beziehungsweise des Protestantismus im Besonderen, muss es diese Glaubensweise zugleich durch eine metatheoretische Bestimmung des Wesens des Christentums und des Wesens des Protestantismus bewerten. Dies ist wiederum Aufgabe der philosophischen Theologie. Schleiermacher schreibt:
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JAESCHKE / ARNDT: Philosophie der Neuzeit 3. Teil 2 (s. Anm. 3), 128; vgl. dazu oben, Kapitel 2. Vgl. HÖLDERLIN: Urteil (s. Anm. 5). Diese Darstellung „modernisiert“ Schleiermachers Gliederungsprinzip seiner historischen Theologie insofern, als Schleiermacher die dogmatische Theologie sowie die kirchliche Statistik unter dem Oberbegriff „Die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums“ (SCHLEIERMACHER: KD2 [s. Anm. 2], 393,14f.) zusammengefasst hat. Bei der kirchlichen Statistik geht es um „die innere Beschaffenheit und die äußeren Verhältnisse“ (a. a. O., § 232, 408,3f.), genauer den „Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft“ (a. a. O., § 232, 408,2). Im Grunde genommen nimmt hier Schleiermacher teilweise bereits jene funktionalen Zusammenhänge in den Blick, die heute unter anderem der Soziologie zugewiesen sind.
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Konrad Müller „Wie Jeder in seiner Kirchengemeinschaft nur ist vermöge seiner Ueberzeugung von der Wahrheit der sich darin fortpflanzenden Glaubensweise: so muß die […] Kirchenleitung auch die Abzwekkung haben diese Ueberzeugung durch Mittheilung zur Anerkenntniß zu bringen. Hiezu bilden aber die Untersuchungen über das eigenthümliche Wesen des Christenthums und eben so des Protestantismus die Grundlage, welche daher den apologetischen Theil der philosophischen Theologie ausmachen.“13
Geltungsansprüche, die sich aufgrund der „Ueberzeugung von der Wahrheit der sich darin fortpflanzenden Glaubensweise“14 ergeben, werden also aufgrund der Ergebnisse von „Untersuchungen über das eigenthümliche Wesen des Christenthums und eben so des Protestantismus“ überprüft, die Teil einer philosophischen Theologie sind, die über den bestimmten Glaubensweisen steht. In dem kleinen Wörtchen „Aber“, mit dem Schleiermacher die metatheoretische Einbettung des Studiums der Theologie in eine außertheologische und religionsphilosophische Grundauffassung begründet, liegt insofern ein Wahrheits- und Geltungsanspruch enthalten, der in schroffem Gegensatz steht zur Bestimmung der Theologie als einer „positiven Wissenschaft“15. Die philosophische Theologie ist von dieser wissenschaftstheoretischen Relativierung ausgenommen. Deutlich und klar kommt dieser Sachverhalt auch noch einmal in Paragraph (34) zum Ausdruck, der Schleiermachers Ausführungen über die Grundsätze der Apologetik einleitet. „Da der Begriff frommer Gemeinschaften oder der Kirche sich nur in einem Inbegriff nebeneinander bestehender und auf einander folgender geschichtlicher Erscheinungen verwirklicht, welche in jenem Begriff eins, unter sich aber verschieden sind: so muß auch von dem Christenthum […] nachgewiesen werden, daß es in jenen Inbegriff gehört. Dies geschieht mittelst Aufstellung und Gebrauchs der Wechselbegriffe des natürlichen und positiven. Die Aufstellung dieser Begriffe [sc. des Natürlichen und des Positiven; K. M.], wovon jener das gemeinsame aller, dieser die Möglichkeit verschiedener eigenthümlicher Gestaltungen desselben aussagt, gehört eigentlich der Religionsphilosophie an; daher dieselben auch gleich gültig sind für die Apologetik jeder [!] frommen Gemeinschaft.“16
Die Aufgabe der philosophischen Theologie ist also diejenige der „geschichtskundlichen Kritik“17, die sich in der Apologetik nach außen hin verteidigt und in der Polemik nach innen „krankhaften Abweichungen“18 wehrt. Ein philosophiegeschichtlicher Hinweis muss dazu ergänzt werden.
13 14 15 16 17 18
A. a. O., § 39, 340,21–28. A. a. O., § 39, 340,22f. A. a. O., § 1, 325,2. A. a. O., § 43, 342,11–22. A. a. O., § 37, 340,13. A. a. O., § 40, 341,9; zu den Aufgaben der Apologetik und Polemik vgl. auch § 39, 340 und § 41, 341.
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433
Der Philosoph Jürgen Habermas setzt sich in seiner Untersuchung über Erkenntnis und Interesse19 mit dem kantischen Kritizismus auseinander. Im Anschluss an Reinhold und Hegel wirft er Kant dabei Zirkularität vor: Kants Erkenntniskritik setze Erkenntnis voraus; „wie könnte vor dem Erkennen das Erkenntnisvermögen kritisch untersucht werden, wenn doch auch diese Kritik selber Erkenntnis zu sein beanspruchen muß?“20 Er zieht, wie auch die gesamte Philosophie des Deutschen Idealismus und Schleiermachers, daraus die Folgerung, dass die Suche nach einem „normative[n] Fundament“21 möglich sein müsse. Dieses normative Fundament besteht aber nicht mehr in einer „vorkritisch“ denkenden Vorstellung einer „Wahrheit an sich“. Vielmehr wird jetzt Erkenntnis „wahrheitsanalog“22 mit bestimmten Bedingungen von „Erkenntnis“ korreliert, die im Sinne der jeweiligen Philosophie über die Formen möglicher Erkenntnis entscheiden. Der „gesellschaftstheoretische[n] Transformation der Erkenntnistheorie“23 bei Habermas entspricht bei Schleiermacher eine religionsphilosophische Transformation. Diese Transformation war der Ausgangspunkt, der Schleiermacher eine konsequente Relativierung jener „bestimmter Glaubensweisen“ ermöglicht hat, die in der historischen Theologie nach Wurzel (Exegese), Wandel (historische Theologie im engeren Sinn) und Gestalt (dogmatische Theologie) beschrieben werden.
4.
Praktische Theologie bei Schleiermacher
Der dritte und letzte Hauptpunkt der Kurzen Darstellung befasst sich mit der „Praktischen Theologie“. Um Schleiermachers diesbezügliche Thesen nicht misszuverstehen, muss man sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die Anordnung von Philosophischer Theologie, Historischer Theologie und Praktischer Theologie keinen rein linearen Ableitungszusammenhang darstellt. Die Aufgaben der Praktischen Theologie folgen für Schleiermacher also nicht unmittelbar aus der von ihm so bezeichneten „historischen Theologie“, als ob Philosophische Theologie, Historische Theologie und Praktische Theologie eine Deduktionskette bilden würden. Vielmehr greift die Funktionsbestimmung Schleiermachers zur Praktischen Theologie hinsichtlich ihrer Aufgabenbestimmung ebenfalls wieder auf die Philosophi19
20 21
22 23
JÜRGEN HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (Philosophische Bibliothek 589), Hamburg 2008. A. a. O., 14. ANKE THYEN: Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse, in: JÜRGEN HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (Philosophische Bibliothek 589), Hamburg 2008, 355– 411, 375. A. a. O., 378. Ebd.
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sche Theologie zurück.24 Schleiermachers System einer Theologischen Enzyklopädie steht und fällt insofern mit der Begründung, die er seiner philosophischen Theologie gegeben hat. Erst aus dem Zusammenhang und Zusammenklang, erst aus der Synthese von philosophischer und historischer Theologie entsteht eine Zustandsbeschreibung, an der sich kirchenleitendes Handeln orientiert.25 „Wie die philosophische Theologie die Gefühle der Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand der Kirche zum klaren Bewußtsein bringt: so ist die Aufgabe der praktischen Theologie, die besonnene Thätigkeit, zu welcher sich die mit jenen Gefühlen zusammenhängenden Gemüthsbewegungen entwikkeln, mit klarem Bewußtsein zu ordnen und zum Ziel zu führen.“26 Der Zweck jeglicher „leitende[n] Thätigkeit im Kirchendienst ist […] theils die erbauende im Cultus oder dem Zusammentreten der Gemeine zur Erwekkung und Belebung des frommen Bewußtseins, theils die regierende, und zwar hier nicht nur durch Anordnung der Sitte, sondern auch durch Einfluß auf das Leben der Einzelnen.“27
In seiner Glaubenslehre hat Schleiermacher näher beschrieben, wie er sich den Vorgang der Erweckung und Belebung des frommen Bewusstseins denkt. Dieses wird, schreibt er, „wie jedes wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwiklung nothwendig auch Gemeinschaft, und zwar einerseits ungleichmäßige fließende, andrerseits bestimmt begrenzte d. h. Kirche“28. Schleiermacher stellt sich näherhin ein „jedem Menschen einwohnende[s] Gattungsbewusstsein [vor], welches seine Befriedigung nur findet in dem Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit und in dem Aufnehmen der Thatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene“29. Dieses Gattungsbewusstsein bewirkt, dass Menschen ihren Gefühlen, hier im Sinne eines „in sich abgeschlossene[n] Bestimmtsein[s] des Gemüths“30, Ausdruck geben. Diese Gefühle wiederum gehen „vermöge des Gattungsbewußtseins über in lebendige Nachbildung, und jemehr der Warnehmende theils im allgemeinen, theils wegen größerer Lebendigkeit der Aeußerung und wegen näherer Verwandtschaft fähig ist in denselben Zustand überzugehn, um desto leichter wird dieser mittelst der Nachbildung hervorgebracht. […] Was aber das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl insonderheit betrifft, so wird Jeder wissen, daß es auf demselben Wege durch die mittheilende und erregende Kraft der Äußerung zuerst in ihm ist gewekt worden.“31
24 25
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Vgl. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 38, 340. Vgl. a. a. O., § 3, 327,8f.; zur Bedeutung von „Kirchenleitung“ vgl. auch BUNTFUß / FRITZ: Einleitung (s. Anm. 1), 9. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 257, 417,4–9. A. a. O., § 279, 425,1–5. SCHLEIERMACHER: Glaubenslehre (s. Anm. 6), § 6, 53,4–8. A. a. O., 55,1–5. A. a. O., 55,7f. A. a. O., 55,19–23.56,3–6.
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Mit diesen Aussagen schließt sich bei Schleiermacher der argumentative Kreis. Die Ordnung des theologischen Studiums ist bestimmt durch die Aufgabe, jenes fromme Bewusstsein, das sich im Christentum allgemein oder im Protestantismus im Besonderen in sich wandelnden oder wechselnden Gestalten Ausdruck gibt, immer wieder je neu mit jener „religiösen Grundfunktion“ in Beziehung zu setzen, die Schleiermacher in seiner Religionsphilosophie entwickelt hat. Was dies bedeutet, ließe sich zwanglos an der Geschichte des „Kultus“ aufzeigen. Die Schleiermacher’sche Trilogie von philosophischer, historischer und praktischer Theologie, in der „das ganze theologische Studium beschlossen“32 liegt, ist innigst, ja unlösbar verbunden mit der Philosophie des Deutschen Idealismus, dem Schleiermacher eine eigene Prägung verliehen hat. Hinter der vermeintlich rein formalen Argumentationsweise stehen in der Kurzen Darstellung „materiale“ Voraussetzungen, welche die Begründung und Anordnung des theologischen Fachkanons regieren und ihn einer gemeinsamen, eben inhaltlich bestimmten (!) Funktion unterordnen. „Unerlaßlich ist daher jedem Theologen zuerst eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Theile der Theologie unter sich, und dem eigenthümlichen Werth eines jeden für den gemeinsamen Zwekk.“33 Dieser Zweck liegt in der „Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht“34. Diese Frömmigkeit ist „rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“35. Ein kleiner Nachtrag darf nicht fehlen. Schleiermachers Auffassung vom System der Theologie hat auch methodologische Konsequenzen für eine wissenschaftliche Theologie, die hier zumindest angedeutet werden müssen. Nach Schleiermacher liegt allen „Gestaltungen des Gottesbewußtseins“ eine Idee zugrunde.36 Der Anklang an die Philosophie Platons dürfte nicht zufällig sein.37 Aber auch diese „Idee“ ist nicht mit der historischen Gestalt ihrer Realisierung in einzelnen kirchlichen Gemeinschaften zu verwechseln. Man kann sich dieser Idee nur dadurch annähern, dass man das, „was im Christenthum geschichtlich gegeben ist, und [die] Gegensätze, vermöge deren fromme Gemeinschaften […] von einander verschieden sein“38 können, gegeneinander hält, vergleicht. „[D]as eigenthümliche Wesen des Christentums [läßt] sich [also] eben so wenig rein wissenschaftlich construiren […], als es bloß empirisch aufgefaßt werden kann“39. 32 33 34 35 36 37 38 39
SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 31, 337,19. A. a. O., § 18, 332,14–17. SCHLEIERMACHER: Glaubenslehre (s. Anm. 6), § 3, 19,16f. A. a. O., 19,17–20,3. Vgl. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 34, 339. Vgl. JAESCHKE/ARNDT: Philosophie der Neuzeit 3. Teil 2 (s. Anm. 3), 126.131. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 32, 338,7–9. A. a. O., 338,4–6.
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Dies führt nach Schleiermacher notwendig zu einer doppelten Ausrichtung des Wissenschaftsbetriebs: „Es giebt kein Wissen um das Christenthum, wenn man, anstatt sowol das Wesen desselben in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Auffassung begnügt.“40
Schleiermachers Position steht hier in einem doppelten Gegensatz zum modernen Wissenschaftsbetrieb. Er fordert eine historische Analyse, die auf der Erfassung leitender Ideen beruht und insofern im letzten geschichtsphilosophisch ist, und er fordert eine bestimmte Form von philosophischer Tätigkeit, die den Deutschen Idealismus auszeichnet: „Das Prinzip des Idealismus ist das Selbstbewusstsein […], womit das Bewusstsein seine eigenen Tätigkeiten begleitet.“41 Dessen Tätigkeit ist dem rein empirischen Zugriff grundsätzlich verschlossen. Schleiermacher wäre deswegen zwar sicherlich auch der Kirchensoziologie und den Kulturwissenschaften gegenüber zugewandt gewesen; es ist nicht verwunderlich, dass die Kirchenreformbewegung, sofern sie sich an Schleiermacher anschließen konnte, auch in beidem eine große Offenheit entwickelt hat. Aber alles empirische Denken bedarf nach Schleiermacher einer philosophischen und, mit dieser verbunden, auch einer historischen, auf Ideenerkenntnis zielenden Reflexion. Aus ihr leitet sich kirchenleitendes Handeln im Schleiermacher’schen Sinn ab. „Um eine besonnene und adäquate Kirchenleitungspraxis zu gewährleisten, muss die Theologie im Zusammenspiel von philosophischen und historischen Reflexionen einen konturierten Begriff von dem gewinnen, was das Christentum ist – Schleiermacher spricht von der Bestimmung des ‚Wesens‘ des Christentums – und sie muss in unmittelbar praxisbezogenen Reflexionen Regeln aufstellen, mit deren Hilfe sich dieses Wesentliche in der jeweiligen Gegenwart möglichst vollkommen verwirklichen lässt.“42
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A. a. O., § 21, 334,1–6. Anders BUNTFUß/FRITZ: Einleitung (s. Anm. 1), 12: „Heute würde man von einer kulturphilosophischen und einer religionswissenschaftlichen Bestimmung des Christentums als einer eigentümlichen Erscheinungsform des religiösen Lebens sprechen.“ Die Ersetzung des von Schleiermacher bevorzugten Begriffs Religionsphilosophie durch Religionswissenschaft scheint mir ebenso problematisch zu sein wie die Ersetzung von historischer Theologie als dem „eigentliche[n] Körper des theologischen Studiums, welcher durch die philosophische Theologie mit der eigentlichen Wissenschaft, und durch die praktische mit dem thätigen christlichen Leben zusammenhängt“ (SCHLEIERMACHER: KD2 [s. Anm. 2], § 28, 336,15–18) durch den Begriff der Kulturphilosophie. WILHELM WINDELBAND: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen/Leipzig 31908, 476. Windelband trifft diese Aussage im Kontext seiner Entfaltung der Position Fichtes zur intellektualen Anschauung. BUNTFUß/FRITZ: Einleitung (s. Anm. 1), 12.
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5.
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Schleiermachers Holismus. Eine Zusammenfassung
Schleiermachers Darstellung zeichnet sich durch eine holistische Perspektive aus. Sie entwickelt in der kurzen Darstellung eine theologische Enzyklopädie, die aus einem philosophisch-theologischen Denksystem abgeleitet ist, das unter anderem im Deutschen Idealismus und in einer herrnhutisch geprägten Frömmigkeit wurzelt. In ihr verschmelzen formale und materiale Bestimmungen, aus denen Schleiermacher dann deduktiv seine spezifischen Vorstellungen von philosophischer Theologie ableitet.43 In ihrer Knappheit verweist Schleiermachers Kurze Darstellung insofern auf ein Desiderat, das zu beheben Schleiermacher in seiner Glaubenslehre weiterverfolgt hat: Eine nähere materiale Bestimmung der von ihm so genannten Philosophischen Theologie, für welche die Füllung der Begriffe des Natürlichen und des Positiven besondere Bedeutung besitzt. Die Bestimmung dessen, was „natürlich“ ist, und dessen, was in den Bereich der „positiven“ Setzungen gehört, beschreibt insofern eine Grenze, welche die Historische Theologie nicht überschreiten darf, wenn sie sich nicht dem Vorwurf eines letztlich unbegründbaren Geltungsanspruches auseinandersetzen will. Es ist diese Grenze, die immer und notwendig in jegliche Glaubensgemeinschaften oder „Glaubensweisen“ einen Geltungskonflikt eintragen musste. Denn wenn der begrifflich formulierte Geltungsanspruch einer bestimmten Glaubensweise Forderungen bezüglich der Lehre und des Lebens stellte, die außerhalb dessen lagen, was Schleiermacher allein frommen Gemeinschaften zugestehen wollte, wenn sie „nicht als Verirrungen angesehen werden sollen“44, nämlich dass solche „Vereine als ein für die Entwikkelung des menschlichen Geistes nothwendiges Element nachgewiesen werden können“45, dann kollidierte der religionsphilosophische Anspruch, der in Schleiermachers holistischem Denksystem lag, natürlich mit dem entsprechenden Selbstverständnis der Glaubensgenossenschaft. Zusammenfassend lässt sich deswegen durchaus fragen, ob das Schleiermacher’sche Konzept, das er in der Kurzen Darstellung entwickelt, wirklich noch belastbar ist, wenn man nach Begründungen für das Studium der Theologie an den Universitäten fragt und die verschiedenen theologischen Fachbereiche in einen Begründungszusammenhang bringen will.
43 44 45
Vgl. a. a. O., 9f. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), § 22, 334,10f. A. a. O., 334,11–13.
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6.
Perspektiven und Anfragen
6.1
Perspektiven
Schleiermachers Konzeption ist, um dies vorauszuschicken, dennoch in dreifacher Hinsicht modern und wegweisend. Zum ersten hat Schleiermacher exemplarisch, also implizit im Vollzug seiner Argumentation, deutlich gemacht, dass Theologie und Wissenschaft, Theologie und Philosophie keine getrennten Wege gehen können. Indem Schleiermacher eine philosophische Theologie forderte, zeigte er auf, dass dasjenige, was zum Beispiel bei Konfessionen deren in einer Lehre, Vorstellung oder Frömmigkeit begründete Identität ausmacht, nicht der Selbstklärung entbehren kann, zu der zum Beispiel Sprachphilosophie, Ritualtheorie, die historischen Wissenschaften im engeren Sinn oder die Soziologie beitragen. Zu leichtfertig und schnell wurde etwa in der Wort-Gottes-Theologie aus der Bindung des Evangeliums an den Logos ein prae der Predigt abgeleitet – als ob das „Wort“ als „Zeichen“ allein sprachlich, und als ob Sprache als Ausdruck theologischer Bestimmungen allein begrifflich das Evangelium kommunizieren würden. Die wissenschaftliche Reflexion auf die Bedingungen des eigenen Tuns gehört notwendig zum Studium der Theologie dazu wie zu kirchlicher Praxis. Zum zweiten zeigt Schleiermacher auf, dass Theologie als Wissenschaft nicht anders als holistisch vorgehen und nur aus einem systemischen Ganzen heraus sich selbst verstehen und zum Ausdruck bringen kann. Sie ist also immer auch notwendig „philosophisch“. Das „systemische Ganze“ einer Theologie unterliegt aber ebenso wie die Zeit, in der sie betrieben wird, dem permanenten Wandel. Daraus folgt, dass auch die identitätsbestimmenden und den Zusammenhang theologischen Denkens und kirchlichen Handelns erzeugenden „Prinzipien“ von Glaubensgemeinschaften je nach ihrer „holistischen“ Zuordnung zu einer „wahrheitsanalogen“ Auffassung von Wirklichkeit Sinnverschiebungen erleiden müssen.46 Dies führt zum dritten und letzten Punkt, der aus den beiden vorhergehenden mit Notwendigkeit folgt. Die immer wieder je neue Bestimmung von Orthodoxie und Heterodoxie muss die bleibende – und zugleich nie endgültig lösbare – Aufgabe jeder „Glaubensgenossenschaft“ bleiben. Im Grunde genommen hat Schleiermacher auf die Notwendigkeit einer „archaischen“, auf Ursprungserkenntnisse und Ursprungssituationen zurückgehenden Reflexion hingewiesen, die in einem dialektischen Prozess immer wieder je neu das „Gegebene“ und „Grundlegende“ einer religiösen Gemeinschaft auf seinen Sinngehalt und seine 46
Was dies bedeutet, kann man an Schleiermachers Kurzer Darstellung selbst ablesen; es ist ihr nicht gelungen, auf einen holistischen, oben als „material“ bezeichneten Gesichtspunkt bei der Aufstellung einer „theologischen Enzyklopädie“ zu verzichten.
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Bedeutung für Gegenwart und Zukunft hin überprüft.47 Im Sinne einer philosophischen Phänomenologie gesprochen, konstruiert eben nichts, auch das Christentum nicht, eine für sich stehende, eigene Welt, die in bestimmten kirchlichen „Gestalten“ (wie Worte, Geschichten, Deutungen, Ritualen, Frömmigkeitsformen [!] etc.) einen zeitlos gültigen Ausdruck einer ewigen Wahrheit gefunden hätte. Vielmehr wird durch Schleiermachers Ansatz, Theologie und Philosophie, Theologie und die Wissenschaften sowie Theologie und Kultur grundsätzlich miteinander ins Gespräch zu bringen, aufgezeigt, dass Theologie kein begrifflich gesichertes Residuum ihrer selbst hat, das ihr einen wie auch immer gearteten Besitz ihrer „Wahrheit“ oder „Identität“ oder „Hermeneutik“ oder „Geschichte“ gewährleistet. Man könnte es auch so formulieren: An die Stelle einer aus Prämissen ableitenden Denkweise ist durch Schleiermacher ein dialektisches Prinzip getreten. Er hat dessen innere Notwendigkeit aufgezeigt, ohne freilich die darin liegenden Konsequenzen selbst zu ziehen. Schleiermachers Religionsphilosophie ist nichts weniger als „objektiv“ gewesen. Dass Orthodoxie nie ohne Heterodoxie und Heterodoxie nie ohne Orthodoxie bleiben kann, darf zu den wesentlichen Erkenntnissen gezählt werden, die man aus Schleiermachers Kurzer Darstellung mitnehmen kann.48
6.2
Anfragen
An zwei Punkten, die miteinander in enger Beziehung stehen, hat die Kurze Darstellung allerdings eine problematische Wirkungsgeschichte entfaltet, die letztendlich sogar die Stellung der Theologie an den Universitäten gefährdet und den sachlichen Zusammenhang des theologischen Fachkanons auflöst.
6.2.1
Geltungsanspruch – Holismus
Das erste ist die in der Wendung von der „bestimmten Gestaltung des Gottesbewußtseins“ liegende Reduzierung der Geltungsansprüche religiöser Rede. Dass insbesondere Schleiermachers Vorstellung der Theologie als einer „positiven Wissenschaft“ trotz ihrer scheinbar rein „formalen Gestalt“ in sich „material“ Voraussetzungen formulierte, deren Allgemeingültigkeit zu überprüfen wären, wurde bereits angesprochen. Nach diesen religionsphilosophischen Voraussetzungen sind „bestimmte Glaubensweisen“ nicht gemäß ihrem eigenen Selbstverständnis, beispielsweise aus einer diesen Glaubensweisen innewohnenden dog-
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Zur „archaischen Reflexion“ vgl. JOHN SALLIS: Die Krisis der Vernunft. Metaphysik und das Spiel der Einbildungskraft, Hamburg 1983, 8–15. Vgl. SCHLEIERMACHER: KD2 (s. Anm. 2), §§ 203–208, 398ff. und § 214, 402.
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matischen Lehre oder in Orientierung an einer lex orandi zu interpretieren.49 Vielmehr begrenzt sich die Reichweite der Geltung religiöser Aussagen auf das Feld der religiösen Phänomenologie, also des Gottesbewusstseins oder der religiösen Erfahrung. Schleiermacher hat sich, was sicherlich in Teilen seine Wirkung erklärt, gegenüber religionskritischen Positionen immunisieren können. Seine argumentative Strategie war es, Religion phänomenologisch zu reduzieren, sie aus dem Feld, auf das sich eine weltanschaulich begründete oder moralphilosophisch argumentierende Kritik bezieht, zu entfernen – um auf dem Terrain des „Gottesbewusstseins“ alles als Abartungen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls zu deuten. Er konnte sich dadurch zwar gegen Einwände, die wahrheitsfunktional Religion nicht mit einem bestimmten Geschmack und Gefühl für das Unendliche korrelierten, regelrecht immuniseren. Zugleich hat er aber auch die Kontaktflächen zwischen Religion und Wissenschaft bzw. Philosophie de facto dramatisch eingeschränkt. Im Vergleich mit der Zeit Schleiermachers hat sich in der Gegenwart die Situation grundlegend verändert. Auch Religionskritik erhebt im Regelfall nicht mehr einen quasireligiösen, umfassenden Geltungsanspruch, der sie gegenüber aller „religiösen“ Argumentation gesprächsunfähig macht. So finden sich zum Begriff Religion zwar unterschiedlichste Bedeutungszuweisungen und Deutungen, die durchaus eine religionskritische Komponente enthalten können, wenn etwa „bestimmte Glaubensweisen“ als Funktionen einer dialektischen Beziehung zur sozialen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Wirklichkeit verstanden oder psychoanalytisch gedeutet oder sprachanalytisch relativiert werden.50 Dennoch wird deutlich, dass bezüglich des Phänomens Religion eine zunehmend differenzierte Auffassung Raum gewinnt. Im Hintergrund steht die wachsende Einsicht, dass ebenso wenig wie die Religion auch „wissenschaftliche“ oder „philosophische“ Weltanschauungen einen absoluten Geltungsanspruch erheben können. War es deswegen zur Zeit Schleiermachers vielleicht geboten, für die Trennung von Religion, Wissenschaft und Philosophie einzutreten, so ist es in einer Zeit, in der sich Geltungsansprüche relativieren, vielleicht geboten, den Kontakt und das Gespräch auf Augenhöhe zu suchen. Ist das Gebot der Gegenwart nicht der Diskurs, in dem sich Weltanschauungen begegnen, die zwar Geltungsansprüche erheben, die zugleich aber auch um die begrenzte Reichweite dieser eigenen Geltungsansprüche wissen? Dass solche Begegnungen befruchtend wirken können (und in der Theologie des 20. Jahrhunderts, bis hinein in die Gegenwart), auch befruchtend gewirkt haben, zeigt
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Dies ist der Grund, warum immer die Anschlussfähigkeit Schleiermachers an die Moderne postuliert worden ist. Zugleich hat Schleiermacher aber implizit (!) als Kontext der von ihm geforderten philosophischen Theologie (s)einen religionsphilosophischen Ansatz vorausgesetzt. Vgl. dazu oben, Kapitel 3.
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das Beispiel des gesellschaftspolitisch orientierten Flügels der lateinamerikanischen Befreiungstheologie: Dort hat man – gegen Schleiermacher – im Grunde Theologie als eine positive Wissenschaft zu verstehen gelehrt, deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte, in einer gemeinsam geteilten religiösen Sprache und Rechtsstruktur organisierte gesellschaftliche Sozialform, die in ihrem spezifischen Bezug zu den jeweiligen Klassenverhältnissen und Klasseninteressen sowie durch ihre Funktionsbestimmung in gesellschaftlichen Prozessen analysiert werden muss. Nun soll mit dieser Überlegung weder die philosophische Theologie Schleiermachers diskreditiert noch die Befreiungstheologie in einer ihrer Ausprägungen zur Norm erhoben werden. Es gibt, und dies ist eben die Pointe postmodernen Denkens, viele mögliche Denkwelten, in die das Phänomen Religion eingeordnet werden kann. Sie setzen philosophisch an verschiedensten Stellen an. Aber, und dies scheint mir zur Signatur der Gegenwart zu gehören: Auch wenn diese Denkwelten im Regelfall einen quasireligiösen Wahrheitsanspruch aufgeben, so erheben sie doch damit meist Geltungsansprüche, die zwar nicht deduktiv und linear aus bestimmten Prämissen abgeleitet werden können, aber durch wissenschaftliche oder philosophische Analysen begründet – und diskutiert (!) – werden wollen. Oft beanspruchen sie, „normative Fundamente“ legen zu können, die das Verstehen und Handeln der Welt orientieren. An die Stelle unbedingter Geltungsansprüche oder eines radikalen Begriffsskeptizismus tritt vielerorts der dialektische Diskurs und die Suche nach dem Gespräch. Wenn daher Theologie sich als Wissenschaft verstehen und eine eigenständige Rolle im universitären Diskurs finden will, muss sie, statt für sich ein abgetrenntes Terrain zu beanspruchen, in das Gespräch mit den verschiedensten Denkwelten der Gegenwart treten – allerdings nicht so, dass sie sich einer „philosophischen Theologie“ als leitendem Gesichtspunkt überlassen oder selbst gesprächsunfähig bleiben würde, weil sie nicht fähig wäre, der anderen Position zumindest einen begrenzten Geltungsbereich zuzuerkennen. Vielmehr müsste sie an ihrer Gesprächsfähigkeit arbeiten. Dies würde bedeuten, dass sie in ihren Erlebens-, Lehr- und Lebensformbezügen einen systemischen, holistischen Charakter annehmen müsste, der, je komplexer die wechselseitige Durchdringung dieser Erlebens-, Lehr- und Lebensformbezüge gestaltet wäre, eine Reihe von Kontakt-, Berührungs- und Gesprächspunkten mit Philosophien und Weltanschauungen ergeben würde, die auch auf den Feldern von Lehre und Leben, von Politik, Gesellschaft und Ethos wieder das konstruktive Gespräch ermöglichen würden. Gerade weil die Zeit, zumindest vorläufig und in der westlichen Kultur, vergangen zu sein scheint, in der große Narrationen von allen geteilt werden und an die Möglichkeit geglaubt wird, eine Wahrheit für alle und alles zu finden, bricht wieder ein Interesse daran auf, was „bestimmte Glaubensweisen“ umfassend an Orientierungsleistung erbringen könnten. Zur Menge der holistischen Denkwelten können grundsätzlich auch diejenigen „bestimmten Glaubenswei-
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sen“ gehören, die sich in ihrem (archaischen) Diskurs an bestimmte Ursprungserkenntnisse und Ursprungssituationen zurückbinden. Wenn sie etwas Eigenes zu sagen haben.
6.2.2
Religiöses Bewusstsein – Orte innerer Identifikation
Den zweiten und letzten Punkt, der hier zur Sprache kommen soll, könnte man im weitesten Sinn dem Problemkreis der Phänomenologie zurechnen. Im ersten Paragraphen seiner Kurzen Darstellung geht Schleiermachers Folgerung von bestimmten Glaubensweisen hin zum religiösen Bewusstsein. Legt man dieser Aussage den heute üblichen Sprachgebrauch zugrunde, dann hätte Schleiermacher ein Allgemeines, nämlich die „bestimmte Glaubensweise“, die Menschen in einer bestimmten Glaubensgemeinschaft teilen, mit einem Besonderen, der „Gestaltung des Gottesbewusstseins“ bei den einzelnen Mitgliedern dieser Glaubensgemeinschaft verbunden. Den Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen hatte sich Schleiermacher als durch das „Gattungsbewusstsein“ vermittelt gedacht.51 Es würde bewirken, dass Menschen in einem „Austausch des frommen Selbstbewusstseins“52 jene Emotionen, die sie bei anderen erleben würden, auch bei sich nachbilden würden. Diese Vorstellung der „Nachbildung“, die in Schleiermachers Philosophie eine zentrale stützende Funktion besitzt, dürfte nach heutigem Kenntnisstand weder philosophisch belastbar noch empirsch haltbar sein. Verschiedene Entwürfe philosophischer Phänomenologie, die sich die philosophische Analyse von Bewusstseinsphänomenen zur Aufgabe gemacht haben, aber auch der Kognitionspsychologie und der Soziologie konnten inzwischen entscheidende Einsichten zu dem gewinnen, wie kollektive, an Ereignisse gebundene „Erlebnisse“ und individuelle Dispositionen zusammenhängen. Max Scheler etwa hat in seiner Unterscheidung von Nachfühlen, Miteinanderfühlen, Mitgefühl, Einsfühlung und psychischer Ansteckung eine Morphologie menschlicher Sympathiegefühle entwickelt, die nähere Einsichten in den von Schleiermacher beschriebenen Prozess der „Nachbildung“ erlauben.53 Im Ergebnis weisen bereits diese philosophischen Analysen die Bedeutung von Verbundenheit für die Übernahme von Vorstellungen oder die Wirkung emotionaler Äußerungen auf – je höher Verbundenheit ist, desto stärker ist im Grundsatz die Wirkung dessen, was Menschen wahrnehmen. Sie machen also deutlich, wie stark die emotionale Wirkung kommunikativer Prozesse davon abhängig ist, dass emotionale Verbundenheit oder Gemeinschaftlichkeit bereits vorgegeben sind, damit das Miteinandersein einer religiösen Gemeinschaft so etwas wie einen 51 52 53
Vgl. dazu oben, Kapitel 4. SCHLEIERMACHER: Glaubenslehre (s. Anm. 6), § 6, 57. Vgl. WOLFGANG STEGMÜLLER: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, Stuttgart, 61978, 106–109.
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Prozess der Nachbildung auslöst. Hierin erscheint Schleiermachers Analyse zwar in gewisser Hinsicht bestätigt zu werden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und individuellem Erleben. Andererseits zeigen aber bereits Schelers Analysen, dass wir, wenn wir die Verfasstheit von Menschen und deren Emotionen wahrnehmen, eben nicht nur und auch nicht primär nachbildend „mitfühlen“. Menschen reagieren unvorhersehbar. Statt sich „psychisch anstecken“ zu lassen, können sie auch in ein Fühlen von Zusammengehörigkeit oder in die Distanz oder in den Widerstand gehen oder sich gelangweilt abwenden etc., wenn sie etwas gemeinschaftlich erleben. Schleiermacher hat diesen Sachverhalt, der seine Vorstellung der emotionalen „Nachbildung“ infragestellt, zwar andeutungsweise gesehen, aber doch, wenn man seine diesbezüglichen Ausführungen liest, dramatisch unterschätzt.54 Der Umschlag bestimmter Glaubensweisen in Gottesbewusstsein vollzieht sich, bedeutet dies, weder „nachbildend“ analog55 noch gar als ein selbstwirksames Geschehen. Zudem sind jene Einstellungen, die unser Erleben bestimmen, sehr viel weniger durch spezifische „Ereignisse“ beeinflussbar, als wir oft glauben. Unser Erleben ist vielmehr weitgehend durch Voreinstellungen, Erfahrungen und die eigene, persönliche Verfasstheit grundgelegt, die vor dem liegen, was wir in einem „Ereignis“ wie einem Gottesdienst evozieren und erreichen wollen. Dies zeigen auch empirische Forschungen. Schleiermachers Konnex, mit der er eine ein Allgemeines zum Ausdruck bringende „bestimmte Glaubensweise“ mit den auf ein besonderes, individuelles religiöses Erleben zielenden Gestaltungen des Gottesbewusstseins verbindet, mischt und verwechselt Philosophie mit Empirie. Seine Thesen sind so nicht belastbar. In einem Forschungsprojekt des Instituts zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur der Universität Bayreuth56 wurde beispielsweise herausgearbeitet, dass die Wirkung von Veranstaltungen jeglicher Art, also auch von Gottesdiensten, von einer komplexen Konfiguration frei wählbarer Orte innerer Identifikation abhängt. Es zeigte sich deutlich, dass vorlaufende Bedeutungszuschreibungen wichtiger sind als bestimmte Ereignisse. Die jeweiligen „Orte innerer Identifikation“ bestimmen, wie sich im Menschen Erleben bildet. Identifizieren sich Menschen mit einer Kirche, einem bestimmten
54 55
56
Vgl. a. a. O., § 6, 56f. Wie sich beispielsweise die begriffliche Rede von der allesvergebenden Liebe Gottes in „Gottesbewusstsein“ umsetzt, lässt sich in vielerlei Weise denken. Der eine mag sich über die in dieser Vorstellung liegende Ungerechtigkeit Gottes empören, die andere über solchen Kinderglauben lächeln, und ein drittes davon wirklich berührt sein etc. Entsprechendes gilt für das Erleben der emotionalen Verfasstheit anderer Personen. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes, das unter anderem die Bedürfnisse untersuchte, die beeinflussen, wie Menschen Gottesdienste erleben, wurden veröffentlicht in JEANNETT MARTIN: Mensch – Alltag – Gottesdienst. Bedürfnisse, Rituale und Bedeutungszuschreibungen evangelisch Getaufter in Bayern (Bayreuther Forum Transit 7), Berlin 2007.
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gottesdienstlichen Stil oder einzelnen Stilformen, die im Gottesdienst vorkommen, kann es zwar zu einem positiven Erleben der jeweiligen Veranstaltung kommen. Aber auch dies wäre dann im Regelfall nicht im Sinne einer „Nachbildung“ zu verstehen. Finden sich allerdings im Gottesdienst keine „Orte innerer Identifikation“, fühlt man sich also weder mit der Gemeinschaft derer, die versammelt sind noch mit deren Glaubensinhalten oder deren Frömmigkeit etc. verbunden, bleibt die von Schleiermacher postulierte Nachbildung sogar vollständig aus. Etwas also „nachzufühlen“ oder sich „psychisch anstecken“ zu lassen, weil man (im Sinne Schelers) miteinander fühlt, ist doch ausgesprochen selten. Um dies an einem willkürlich gewählten Beispiel zu konkretisieren: Es lösen in einem Gottesdienst, der einem traditionell volkskirchlichen „Gottesbewusstsein“ (als einer „bestimmten Glaubensweise“) entspricht, Anbetungslieder möglicherweise ein „religiöses Erleben“, vielleicht aber auch Widerstand aus, weil diese Lieder nicht der geprägten Frömmigkeit entsprechen. Aber sogar, wenn diese Gesänge grundsätzlich positiv konnotiert wären: Wäre die Gemeinde immer so intensiv präsent, dass sie die emotionale Signatur und den Inhalt dieser Gesänge „nachfühlen“ würde? – Wäre nicht auch denkbar, dass sich die Gemeindelieder trotzdem mit anderem wie biographischen Ereignissen oder dem schönen Kirchenraum etc., befassen oder nur sehr oberflächlich vom Singen berührt wären? Wann und wie schlägt dann all dies in ein „Gottesbewusstsein“ um? Wollte man die Ergebnisse der Untersuchung des Instituts zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur, aber auch die Ergebnisse von Phänomenologen wie Scheler oder Husserl in Schleiermachers Paragraphen (1) eintragen, müsste man die dort behaupteten bestimmten Glaubensweisen also als Systeme beschreiben, in denen Lehrgebilde (als „begrifflich oder propositional gefasste Textformen von Ideen“), Lebensformen57 (als vielförmige Ausdrucksgestalten dieser „Textformen“) und Lebenswelten (als deren gesellschaftlicher und medialer Kontext) ein Gefüge bilden, das in freier Weise zugleich Gemeinschaft schwächt oder stärkt und, dazu in einem offenen, unbestimmten Wirkungsverhältnis stehend, auch auf die jeweilige Bewusstseinsverfasstheit einwirkt. Sollte dann diese Bewusstseinsverfasstheit als eine „Gestalt des Gottesbewusstseins“ beschrieben werden können, wäre noch lange nicht ausgemacht, ob es dessen gegebene Gestalt stärken oder modifizieren oder transformieren oder sogar auflösen würde. Zwischen dem, was Menschen erleben, und dem, wie das Erlebte dann wirkt, liegt ein garstiger Graben, über den viele Brücken führen. Der Weg der inneren „Nachbildung“ wird eher selten gegangen. 57
Als „Lebensformen“ werden hier in sich gegliederte Gemeinschaften verstanden, die zum Beispiel eine gemeinsame Sprache und Musik, Vorstellungen und Erzählungen, Rituale und Symbole, Orte und Zeitvorstellungen, eine Fest- und Feierkultur sowie Werte etc. teilen. Jede Glaubensgemeinschaft, Gemeinde oder Kirche ist in diesem Sinne notwendigerweise immer auch Lebensform.
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Nun könnte man dem entgegenhalten, dass Schleiermacher genau hier der Kirchenleitung, und damit auch der Praktischen Theologie als jener Wissenschaft, die im Rahmen des Studiums die Studierenden zur Kirchenleitung befähigen soll, ihre zentrale Aufgabe zugewiesen hat. Seine Fokussierung auf das gemeinsam gestaltete religiöse „Ereignis“, das sich bei den Teilnehmenden nachbildet, ist jedoch gegenüber jenen komplexen Zusammenhängen, die zur Bildung religiöser Erfahrung führen oder sie verhindern, schlicht zu undifferenziert und suggeriert eine Machbarkeit, die sich letztlich als Illusion herausstellen dürfte. Lehr- und Lebensform, Lebenswelt und Sozialgestalt sowie die Phämonenologien des Gemeinschafts- und des Gottesbewusstseins lassen sich nicht einfach trennen. Das eine ist auch nicht einfach Ausdruck oder „Nachbildung“ des anderen. Christliche Glaubensweisen bilden immer komplexe Funktionsgefüge. Wenn man jene Grundannahmen, die Schleiermacher also in Paragraph (1) formuliert, expliziert und sie hinsichtlich jener Prämissen befragt, die das Prozessgeschehen beschreiben, das ein religiöses Gottesbewustsein auslösen soll, ergeben sich erhebliche Zweifel an der empirischen Belastbarkeit der dort getroffenen Aussagen. Vielmehr wäre Theologie nur so als positive Wissenschaft zu fassen, dass ihre Teile zu einem Ganzen verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Lebensform, die ihren inneren und ihren geschichtlichen Zusammenhang dadurch besitzt, dass sie eine gemeinsame Tradition (im weitesten Sinn des Wortes) teilt. Die Fächer der Praktischen Theologie (im Sinne Schleiermachers) wären demnach durch Funktionsbereiche zu beschreiben, die zwei Dimensionen unlösbar verbinden: die Dimension der Identitätssicherung und -fortschreibung einer bestimmten Glaubensweise auf der einen und die Dimension ihrer „Symbole“ und „Geselligkeitsformen“, die zusammengebunden sind durch das Bedürfnis der Menschen nach „Orten innerer Identifikation“, auf der anderen Seite.
7.
Zusammenfassung
Die wahrscheinlich wichtigste Anregung Schleiermachers ist, dass er durch die Verbindung von Philosophie, empirischen Wissenschaften und Theologie einen Standpunkt gefunden hat, kirchlichen und „geistlichen“ Gemeinschaften die Möglichkeit zu einer kritischen Selbstdistanzierung zu eröffnen. Dieses Miteinander und Gegenüber von Philosophie, empirischen Wissenschaften und Theologie ermöglicht einen offenen Diskurs, der, wenn er gelingt, die Kirche selbst bereichert und sie in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft klärt. Das Gefühl der Anschlussfähigkeit, das sich einstellt, wenn man liest, wie Schleiermacher die Theologie in der Einleitung zur Kurzen Darstellung als positive Wissenschaft bezeichnet, trügt jedoch. Schleiermachers Theologieauffassung
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unterliegt einer religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise, die zwar auf den Feldern der Moral und der Metaphysik Raum lässt für den wissenschaftlichen Diskurs. Dieser Freiraum ist allerdings nur dadurch gewonnen worden, dass Schleiermacher einen „schneidenden Gegensatz“58 zwischen Religion auf der einen, Metaphysik und Moral auf der anderen Seite postuliert hat, der weder dem Selbstverständnis der meisten Religionen entspricht noch in der Moderne beziehungsweise, um den Zeitraum einzuschränken, in der Gegenwart auch nur im Geringsten auf einen Grundkonsens hoffen darf. Man wird dieses Urteil sogar noch zuspitzen dürfen. Indem Schleiermacher der Theologie als einer kirchlichen Wissenschaft jegliche Geltungsansprüche und Interpretamente zumindest auf den Gebieten der „Moral und Metaphysik“ bestreitet, enthebt er die Theologie der einzigen Funktion, durch die sich ihre Präsenz an den Universitäten begründen ließe: nämlich holistische Deutungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der diese Wirklichkeit begründenen wahrheitsanalogen Vorstellungen anzubieten, die bei aller Erkenntnisskepsis, welche die Gegenwart bestimmt, doch einen Orientierungsanspruch erheben. Darin würde sie dem modernen Verständnis von Methoden- und Ergebnisoffenheit jeglichen wissenschaftlichen Bemühens entsprechen und der Kirche in der Gesellschaft eine konstruktive Rolle zuweisen können. Schleiermacher repräsentiert eine Religionsphilosophie des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, deren Sprache eine Anschlussfähigkeit an den aktuellen Wissenschaftsbetrieb der Universitäten und die gegenwärtig dominierende religiöse Pluralität der evangelischen Volkskirchen nur vortäuscht. Mit seiner Religionsphilosophie lässt sich zumindest in der Gegenwart keine überzeugende Begründung mehr geben, warum (christliche oder protestantische) Theologie als eigenständiges Lehrfach an staatlichen Universitäten noch gelehrt werden sollte.
58
FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799, in: DERS.: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. HERMANN FISCHER u. a. Abteilung I: Schriften und Entwürfe. Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hg. v. GÜNTER MECKENSTOCK, Berlin / New York 1984, 183–326, 211. „Darum ist es Zeit […] mit dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet. […] Sie begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären […], sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“ (ebd.).
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge Arnd Götzelmann
ARND GÖTZELMANN
Eine Kirche, die in einer gesellschaftsdiakonischen Perspektive den Menschen auch jenseits von Kirchenmitgliedschaft nahe sein will, die Menschen mit ihren Nöten und Freuden bei sich haben will, muss – so die hier vertretene These – ihre seelsorglichen Bestrebungen, theologisch-poimenischen Theorien wie kirchlich-diakonischen Praktiken am Alltag der verschiedenen Menschen ausrichten und sich damit an deren je spezifischer Lebenswelt orientieren. Die Ausrichtung muss radikal bei den Betroffenen ansetzen und theologische Bibelinterpretationen bzw. verkündigend-missionarische Ziele ebenso wie therapeutische Konzepte, Gesprächsführungstechniken oder beratende Kompetenzen hintenanstellen. Zukünftig sollte also die theologische und psychologische Theoriebildung und Praxisentwicklung der Seelsorge um einen alltags- und lebensweltorientierten Zugang ergänzt werden. Damit ist die Fruchtbarmachung soziologischer, sozialpolitischer, kommunikationswissenschaftlicher und diakoniewissenschaftlicher Perspektiven für die Poimenik gefragt. Aus dem poimenischen Diskurs bieten sich Konzepte der alltagsorientierten Seelsorge an, wie sie von Christian Möller, Wolfgang Steck, Henning Luther und Eberhard Hauschildt in den 1980er und 1990er Jahren entwickelt wurden. Sie können sinnvoll ergänzt werden durch das Konzept der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch, das er für die Kinder- und Jugendhilfe bzw. Sozialpädagogik / Soziale Arbeit entwickelt hat. Diese Konzepte sollen hier ausgeleuchtet und miteinander fruchtbar gemacht werden, um sie am Ende in den Kontext diakonischer Seelsorge einzubinden.
1.
Alltagsgespräch und Seelsorge
War die Seelsorgetheorie seit den Zeiten der dialektischen Theologie (Barth, Thurneysen u. a. nach dem ersten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre hinein) zunächst ins Fahrwasser des Predigt- und Verkündigungsauftrags geraten, der sich mehr für dogmatische Fragen als für den Alltag der Menschen interessierte, so fixierte sie sich im Zuge der Seelsorgebewegung und der sogen. empirischen Wende der Praktischen Theologie auf psychotherapeutische Prozesse und professionelles Beratungshandeln.
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Hatten sich die Vertreter:innen der beratenden bzw. therapeutischen Seelsorge von der vorangehenden verkündigenden Seelsorge abgesetzt, so rief auch die beratende Seelsorge eine Gegenbewegung hervor. Eine intermediäre Stellung in diesem Spannungsgefüge nahm Helmut Tacke ein, dessen Schriften man als Komplementärreaktion auf die aufkommende Pastoralpsychologie der 1970er und 1980er Jahre in der Tradition der dialektischen Seelsorgetheologie Thurneysens verstehen kann.1 Indem Tacke die Situation der Menschen, die Seelsorge beanspruchen, ernst nimmt, postuliert er – ohne freilich die Begriffe zu verwenden – die Relevanz des Alltags und der Lebenswelt für seinen Ansatz einer partnerschaftlichen Seelsorge als „Gespräch in biblischer Tonart“. In dieser Perspektive forderte dann 1980 auch Christian Möller die Wiederentdeckung des Alltags für die Seelsorgetheorie angesichts einer sich in den 1960er und 1970er Jahren psychotherapeutisch professionalisierenden Seelsorge.2 Um die Jahrtausendwende hat Möller das nochmals ausgeführt mit Beispielen von Menschen, „die auf eine sehr verborgene Weise Seelsorge ausüben und stille Seelsorger des Alltags sind“, wie z. B. der Kneipenwirt, die Notarsgehilfin, der Taxifahrer, die Fußpflegerin, die Friseurin oder früher der Postbote.3 Wolfgang Steck formulierte 1987 eine Grundaussage der alltagsbezogenen Seelsorge, die zugleich insbesondere für eine lebensweltorientierte Seelsorge relevant erscheint: „Die Ursprungssituation des pastoralen Seelsorgegesprächs ist das Alltagsgespräch.“4 Der Alltag, und damit die Lebenswelt der Menschen, wurde in der Praktischen Theologie spätestens in den 1980er Jahren neu zum Thema.5
2.
Alltagssorge und Seelsorge
Henning Luther sah bereits in der Mitte der 1970er Jahre durch das Erscheinen des Kursbuches 41 mit dem Thema „Alltag“ eine „Wende zum Alltag“ eingeleitet, die sich in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen beobachten lasse.6 1
2
3 4
5
6
Vgl. ARND GÖTZELMANN: Helmut Tacke (1928-1988). Partnerschaftliche Seelsorge als „Gespräch in biblischer Tonart“, in: KLAUS RASCHZOK / KARL-HEINZ RÖHLIN (Hg.): Kleine Geschichte der Seelsorge im 20. Jahrhundert. Biografische Essays. Festgabe für Richard Riess zum 80. Geburtstag, Leipzig 2018, 321–327. Vgl. CHRISTIAN MÖLLER: Alltägliche Seelsorge in der christlichen Gemeinde, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 69 (1980), 239–251. Vgl. DERS.: Seelsorge im Alltag, in: Pastoraltheologie 90 (2001), 409–419. WOLFGANG STECK: Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, in: Theologische Zeitschrift 43 (1987), 175–183, 175. Einen guten Überblick zum Thema Alltag und Seelsorge gibt KRISTIN MERLE: Alltagsrelevanz. Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge, Göttingen 2011, 13–62. HENNING LUTHER: Religion und Alltag. Bausteine zur einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 184–211: 185 (Wiederabdruck des Aufsatzes: Die Zwiespältigkeit des
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Luther unterscheidet in seinem Aufsatz Die Zwiespältigkeit des Alltags. Perspektiven der neueren Diskussion zu „Alltag“ und „Lebenswelt“: ein Literaturbericht7 von 1986 zwei Ebenen, denen sich die Vielfalt der Bedeutungen und Intentionen, die sich mit der Hinwendung zum Alltag verbinden, zuordnen lassen: die Gegenstandsebene und die wissenschaftsmethodische Ebene. Bei der Gegenstandsebene geht es darum, das Leben der breiten Bevölkerungsschichten in den Blick zu nehmen, die Ereignisse und den Ablauf des täglichen Lebens inkl. Privatleben und Berufsalltag zu thematisieren und überhaupt die Erfahrungen Betroffener einzubeziehen. Auf der wissenschaftstheoretischen Ebene geht es um „eine kritische Revision des Selbstverständnisses von Theorie und Wissenschaft“ (187). Die wissenschaftliche Heran- und Vorgehensweise soll durch eine Orientierung an Alltag und Lebenswelt verändert werden. Luther sieht hier zwei gegensätzliche Theoriestränge, die das Problem des Alltags unterschiedlich bewerten bzw. das Verhältnis von Wissenschaft und Alltag aus divergierenden Perspektiven deuten. Die marxistische Gesellschaftstheorie auf der einen Seite wende sich kritisch gegen „den Alltag“, denn aufgrund der Entfremdungsverhältnisse werde das Alltagsbewusstsein als „falsches Bewusstsein“ kritisiert, das es ebenso zu überwinden gelte, wie die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse insgesamt. In dieser Perspektive werde der Alltag zum Objekt der Wissenschaft, denn die Gesellschaftstheorie kritisiere sozusagen „den Alltag“. In der Alltagssoziologie Henri Lefebvres etwa findet Luther die genannte Kritik am Alltag exemplarisch vertreten: „Das Alltagsleben der modernen Gesellschaft wird vorrangig durch bürokratische Verwaltung und manipulierende Werbung entfremdet und depraviert. Die ‚bürokratische Gesellschaft des gelenkten Konsums‘ kolonisiert und funktionalisiert die Wünsche und Bedürfnisse der Subjekte“ (189).
Die Subjekte können am Ende nicht mehr zwischen wirklichen und suggerierten Bedürfnissen und deren Befriedigung unterscheiden. Nur durch eine „permanente kulturelle Revolution“, so Lefebvre, könne die „Transformation des Alltäglichen“ bewirkt werden. Diese freilich entstehe wiederum im Alltag selbst. Es kann nicht wundern, dass Kritiker daran beanstanden, dass bei Lefebvre der Alltag gleichzeitig als Ort der Entfremdung und als Ort der Kritik verstanden werde, was widersprüchlich sei. Die Wissenschaft mache sich in dieser Tradition den Alltag zum Gegenstand, sie kläre über den Alltag auf, so Luther: „Der Überlegenheitsanspruch der Theorie vermag das Reflexionsvermögen vorwissenschaftlicher Erfahrung nicht anzuerkennen“ (194). Auf der Basis eines anderen Wirklichkeitsverständnisses gehe interessanterweise die Theologie traditionell einen vergleichbaren Weg im Umgang mit dem Alltag. Auch von ihr werde der Alltag im Kontext der Sünde und der gottfernen Verhältnisse der säkularen Welt zum
7
Alltags. Perspektiven der neueren Diskussion zu „Alltag“ und „Lebenswelt“: ein Literaturbericht, in: Wege zum Menschen 38 (1986), 436–458). LUTHER: Religion und Alltag (s. Anm. 6), 184–211. Quellennachweise oben nachfolgend nur mit Seitenangaben in Klammern.
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verfügbaren Gegenstand, zum Objekt theologischer Kritik, die sich aus einer biblisch-dogmatischen Theorie speise bzw. aus einem Offenbarungsbegriff ableite, der seinen Überlegenheitsanspruch über das vorwissenschaftliche bzw. untheologische Alltagsverständnis formuliere und behaupte. Der Alltag gehöre in dieser Tradition der sündigen Welt an, die durch die Offenbarung durchbrochen werde und zu einem neuen Alltag transformiert werden müsse. Auf der anderen Seite böten insbesondere der Ansatz und die Methoden der kultur- und sozialwissenschaftlichen Ethnologie neue Möglichkeiten, den „autonomen Selbstbegründungsanspruch der Theorie“ (187) und mit ihm zugleich die objektivistischen Theorien der Gesellschaft und die neuzeitliche Subjekt-ObjektSpaltung hinter sich zu lassen. Stattdessen könne nun ein Verständnis von Gesellschaft „aus einer Rekonstruktion des Alltagswissens der beteiligten Subjekte“ (187) gewonnen werden. Luther nähert sich diesem Theoriestrang vonseiten der Phänomenologie. Sie formuliere die Kritik des Alltags an der Wissenschaft, das Alltagsverständnis werde hier zur Instanz von Kritik. Hier führe die Hinwendung zum Alltag zu einer kritischen Selbstreflexion der Theorie. Die den Alltag und das Alltagshandeln erschließenden Kategorien entstammen also nicht einer wie auch immer vorgängigen Theorie, sondern werden aus den Strukturen des Alltags selbst rekonstruiert. Der Laie wird sozusagen zum Experten für den Alltag erhoben, der Theoretiker zum vom Normalmenschen Lernenden degradiert. Kritisch hiergegen eingewandt wird, dieser Ansatz basiere auf einem verkürzenden Subjektivismus, der die gesellschaftliche Realität auf die Binnenperspektive der Betroffenen beschränke. Damit liefere sich die Theorie unkritisch und ungeschützt den Bedingungen des Alltags aus. Diese beiden gegensätzlichen Theoriestränge sieht Luther (200) auf einer höheren Ebene aufgehoben und vereint in den soziologischen Ansätzen von Jürgen Habermas und Bernhard Waldenfels. Habermas führe die beiden Perspektiven in seiner Zuordnung von System und Lebenswelt zusammen, wobei die analytische und objektivistische Beobachterperspektive (von außen und oben) dem System und die subjektivistische verstehende Teilnehmerperspektive (von innen und unten) der Kategorie „Lebenswelt“ zugeordnet werde. In dieser Spannung wird sich m. E. das Konzept einer Alltagsseelsorge bewegen müssen, das das Alltagsverhalten ernst nimmt und aus ihm heraus die Möglichkeiten der Seelsorge rekonstruiert, das aber zugleich auch den Verhältnissen kritisch gegenübersteht, die den Alltag durch Bürokratisierung, Ökonomisierung u. a. m. prägen. Auf ein weiteres Spannungsverhältnis hat Luther in einem anderen Beitrag mit dem Titel Schwellen und Passagen. Alltägliche Tendenzen8 hingewiesen, das im Vorfeld der Entwicklung eines alltagsseelsorglichen Konzeptes wichtig erscheint 8
Posthum abgedruckt in: LUTHER: Religion und Alltag (s. Anm. 6), 212–223, 212f. Quellennachweise oben nachfolgend nur mit Seitenangaben in Klammern.
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– das von Religion und Alltag. Lange Zeit sei Religion besonders aus christlichtheologischer Sicht als das eben Nicht-Alltägliche bzw. Außeralltägliche und damit geradezu als Gegenteil des Alltags verstanden worden. Dem Sonn- und Feiertag, der religiös durch die Gottesdienste qualifiziert wird, steht der Alltag als gottesdienstfreie Zeit gegenüber. Die neuere Religionssoziologie hingegen setze den Alltag komplementär zur Religion, d. h. sie untersuche die Funktion der Religion gerade für den und im Alltag (212). Den Zusammenhang bei gleichzeitiger Differenz von Religion und Alltag sieht Luther biblisch in den Gleichnissen Jesu dargestellt, die eine Art „bezugnehmende Differenz“ zur Welt ausdrücken. Die Gleichnisse wollen Aussagen über Religion, insbesondere das Reich Gottes machen, dabei nutzen sie bewusst keine religiöse Sondersprache, sondern Alltagserfahrungen. In ihren jeweiligen Pointen werde jedoch mittels Überraschungen, Verfremdungen und produktiven Enttäuschungen von Alltagserfahrungen bzw. -erwartungen deutlich gemacht, dass das Reich Gottes sich zwar auf den Alltag bezieht, jedoch etwas anderes ist, das den Alltag durch- und unterbricht. Genau in dieser dialektischen Spannung zwischen Zusammenhang und Differenz im Verhältnis von Religion und Alltag liege die Wirkkraft der Gleichnisse. Bedeutsam werde Religion an den „Passagen des Lebens“ (219), wo sie entweder den Übergang von einer in die nächste Lebensphase rituell steuere bzw. stabilisiere und in die neue Lebensphase hinein verhelfen wolle oder wo sie den eigentümlichen Schwellenzustand, in dem weder die alte noch die neue Ordnung gelte, in seiner Reflexivität offenhalte und als produktive Unterbrechung des Alltags ausgestalte. Religion habe auch ihre Funktion an den Schnittstellen unterschiedlicher sozialer Lebens- und Alltagswelten, da, wo familiär-privater und beruflich-öffentliche Welten aufeinanderstoßen, oder da, wo die verschiedenen „Unterwelten“ etwa des beruflichen oder des privaten Alltags auseinanderdriften und miteinander in Konflikt geraten. Religion kann hier nach Luther (222) wiederum zwei Wege einschlagen und sich entweder einreihen in die Fülle der Sonderwelten, um ihre Nische im Kulturbetrieb zu finden, oder sie kann sich an den Schnittstellen und Reibungsflächen sozialer Lebenswelten und Rollen ansiedeln und dort durch eine Art produktiver Verunsicherung und Differenzerfahrung den Alltag gestalten. So wäre Religion im modernen Alltag nicht immer präsent, aber doch immer wieder: „Nicht der gesamte Alltag ist religiös grundiert, wohl aber wird der Alltag immer wieder religiös. – Religion wird bei Gelegenheit – immer wieder, aber nicht immer (ständig) – thematisch“ (223). Eine Kritik am Begriff der „Alltagssorge“ aus der Sicht einer auf Kommunikation und Solidarität zielenden Seelsorge formuliert Luther im Rückgriff auf Heidegger in seinem Aufsatz Alltagssorge und Seelsorge9 aus dem Jahr 1986. „All9
Original in: Wegen zum Menschen 38 (1986), 2–17, wiederabgedruckt in: LUTHER: Religion und Alltag (s. Anm. 6), 224–238. Quellennachweise oben nachfolgend nur mit Seitenangaben in Klammern.
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tagssorge sorgt sich um das Gelingen der Anpassung an die konventionellen, gesellschaftlich normierten Verhaltenserwartungen“, postuliert Luther und stellt dieser Sorge die Seelsorge gegenüber, die an der Frage aufbreche, „dass das, was Menschsein, gelingendes Leben sein könnte, gerade nicht aufgeht in dem, was vom Horizont des ‚Man‘, vom Horizont konventional vorgegebener sozialer Wirklichkeit vorgezeichnet ist“ (227). Alltagssorge im Sinne von reflexionsfreien Routinisierungen des Alltags, von rastloser Berufsarbeit, von privatisierendem Familismus mache blind gegenüber der Frage, „wie es anders sein könnte“ (228). Seelsorge hingegen durchbreche solche Alltagsroutinen und ergreife „Partei immer auch für den ‚noch nicht vorhandenen Menschen‘, für seine verstellten, unentfalteten Möglichkeiten“ (229). Am Beispiel des Umgangs Jesu mit dem Sabbatgebot erhellt Luther, wie Jesus in kritischem Bewusstsein die konventionellen Lebensregeln verletzte. Ziele Alltagssorge auf „Wiedereingliederung, Realitätsertüchtigung und Anpassung“, so richte sich Seelsorge immer kritisch gegen „Konventionen des Alltags, gegen vorgegebene sozial und religiöse Normen und Rollen – im Interesse des ‚eigentlichen‘ (oder religiös ausgedrückt: ewigen) Lebens“ (231).
Diese kritische Rolle der Seelsorge dem Alltag – verstanden als unhinterfragte Routine von Regeln und Abläufen, als ungestörte Normalität – gegenüber dränge sich dem theologischen Denken von Jesu Reich Gottes Predigt und seinen eschatologischen Verheißungen her auf. Selbstverständlich vollziehe sich christliche Seelsorge auf dem Hintergrund der diakonischen Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse (Die ersten werden die letzten sein …; Die Herrschenden unterdrücken ihre Völker, unter euch aber soll es nicht so sein …, denn ich bin unter euch als ein Diakon) und des Jesuanischen Rufes zur Umkehr, wie Henning Luther es festhält (231). Dass jedoch Seelsorge nur für die Ausnahmesituationen im Alltag zuständig sei, kann man aber für eine exkludierende Aussage halten, die sich auf der Linie des – von Henning Luther selbst angeprangerten – Defizitmodells der Hilfe bewegt: „Seelsorgerelevante Situationen sind per definitionem gerade solche, in denen der fraglose und reibungslose Lebensvollzug eben nicht mehr gesichert und nicht mehr selbstverständlich ist“ (231). Seelsorge wird bei Luther so ausschließlich zur „Bearbeitung von Grenzsituationen“ (232) und „die Begegnung mit von Grenzsituationen betroffenen Menschen führt zur Infragestellung der Normalität“ (233). Recht verstanden müsse die Bearbeitung der Grenzen sich jedoch nicht auf die individuelle Wiederherstellung von Alltäglichkeit und Normalität richten, sondern auf die strukturelle Veränderung des Alltags und des Normalen.
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Alltagsseelsorge
An dieser Stelle setzt sich Eberhard Hauschildt kritisch mit Luthers Vorstellung auseinander, dass sich Seelsorge stets „gegen Konventionen des Alltags“ richte und der „Alltagssorge“ ein Alternativmodell gegenüberstelle. Alltagsseelsorge sei insofern etwas anderes als das, was Luther unter „Alltagssorge“ verstehe, als die Alltagsseelsorge eine „alltägliche Solidarität der Konvention“10 befördere und eben nicht automatisch gegen die Alltagssorgen und Konventionen der Menschen stehe. Demzufolge versucht Hauschildt, Luthers radikale Gegenüberstellung von „Alltagssorge“ und „Seelsorge“ dialektisch aufzuheben und auf der höheren Ebene als „Alltagsseelsorge“ zu versöhnen. Hauschildt knüpft konstruktiv an den oben genannten Gedanken Stecks vom „Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt“ an und prägt den neuen Begriff der „Alltagsseelsorge“.11 Auf der theologischen Basis des allgemeinen Priestertums und empirisch mit sozio-linguistischen Methoden ausgeführt am Beispiel des pastoralen Geburtstagsbesuches, versucht Hauschildt in kritisch-solidarischer Abgrenzung und komplementär-innovativer Ergänzung der sogenannten „verkündigenden Seelsorge“, und der sogenannten beratenden oder „therapeutischen Seelsorge“ ein eigenes Konzept von „Alltagsseelsorge“ zu formulieren.12 Nach dem Konzept Hauschildts ist es wichtig, dass die „Sprache des Alltags“ den seelsorglichen Gesprächsstil dominiere.13 Die „Alltagsseelsorge“ könne gut mit einem Small Talk einsetzen, denn so versichere man sich gegenseitig seiner guten Absichten. Dem Gegenüber solle Raum gelassen werden, sich zu entfalten. Diese Entfaltung könne von den Seelsorgetreibenden durch offene Fragen, eigene kurze Antworten und Überleitungen im Dialog unterstützt werden. Unter „Alltagstherapie“ (13) versteht Hauschildt, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger sich bewusst zurückhalten, um die Gesprächsmöglichkeiten des Gegenübers zu erhöhen. Kleinere Ambivalenzen könnten sozusagen en passant geklärt, größere Probleme dürften zumindest ausgesprochen werden. Der Alltagsmensch sei für alle Themen offen, Religion spiele dabei keine quantitativ herausgehobene Rolle. Wenn sie thematisiert werde, dann in „Redewendungen in geprägter Sprache“ zur Kontingenzbewältigung oder Horizonterweiterung („So ist das eben“), in Aussagen zu „nicht-empirischen Wirkfaktoren“ wie Schutzengeln, Sternbildereinflüssen oder Karma sowie durch „konkrete Erfahrungen 10
11 12
13
EBERHARD HAUSCHILDT: Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches (Arbeiten zur Pastoraltheologie Bd. 29), Göttingen 1996, 386. HAUSCHILDT: Alltagsseelsorge (s. Anm. 10), 386. Vgl. DORIS NAUER: Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001, 281–288. Vgl. EBERHARD HAUSCHILDT: Alltagsseelsorge. Der Alltag der Seelsorge und die Seelsorge im Alltag, in: UTA POHL-PATALONG / FRANK MUCHLINSKY (Hg.): Seelsorge im Plural. Perspektiven für ein neues Jahrhundert, Hamburg 1999, 8–16, 12. Quellennachweise oben nachfolgend nur mit Seitenangaben in Klammern.
454
Arnd Götzelmann
mit Kirche“, „Erlebnisse mit Pfarrerinnen und Pfarrern und oder mit Kasualien“ (13). Zur „Alltagstheologie“ (14) gehört nach Hauschildt, dass man sie wie alle Theorie grundsätzlich nur dann verwende, wenn praktische Probleme zu lösen seien, z. B. in dem Argumentationsgang, warum man sonntags nicht zur Kirche gehe. Werden jedoch theologische Themen angesprochen, dann mit anderen Termini als denen der traditionellen akademischen Theologie. Im Konzept der Alltagsseelsorge wird nach Michael Klessmann das seelsorgliche Handeln aufgewertet, indem die „Trivialität des Gesprächs […] nicht als Defizit gegenüber den ‚Hochformen‘ von Seelsorge zu begreifen (ist), sondern als eigenständige Gattung ‚mit eigener Würde‘“14. Diese seelsorgliche Alltagskompetenz unterscheide sich von den therapeutischen und kerygmatischen Kompetenzen, sei jedoch ebenso relevanter Bestandteil pastoraler Professionalität, die wesentlich darin bestehe, „die Fähigkeit, das professionell Gelernte in den alltäglichen Lebenswelten der Menschen so zur Geltung zu bringen, dass es deren Lebens- und Glaubensmöglichkeiten stärkt“15. Eine Synthese aus dem Hauschildtschen Alltagsseelsorgekonzept und dem auf der lösungsorientierten Kurzzeittherapie Steve de Shazers basierenden Konzept des seelsorglichen Kurzgespräches von Tim H. Lohse versucht Christoph Schneider-Harpprecht herzustellen. Sein Gedanke, „das Kurzgespräch als Methode der Alltagsseelsorge“16 zu verstehen, erscheint für die Praxis anschlussfähig, auch im Sinne einer diakonischen Seelsorge. Denn es muss als Realität angesehen werden, dass es in der Begegnung zwischen Seelsorger:innen und Pastorand:innen in der Regel um kurze, oft spontane und kasuelle Gespräche geht, die vielfach singulär bleiben. Das Ideal der verkündigenden und beratenden Seelsorge hingegen war von der Idee geprägt, dass sich eine Seelsorgebeziehung über mehrere Begegnungen und gesonderte Seelsorgegespräche nach und nach entwickle. Doch die überwiegende Seelsorgepraxis sieht anders aus. Im Ernstnehmen der durchschnittlich überwiegenden Kürze und Einmaligkeit von Seelsorgebegegnungen konvergieren Lohses Methodik eines systemisch ausgerichteten und lösungsorientierten seelsorglichen Kurzgesprächs und Hauschildts Konzept der am Alltag ausgerichteten Seelsorge mit einer „radikal interaktiven“ Methodik in einer produktiven Weise. In dieser Konvergenz sind sie für eine diakonische Seelsorge in alltags- und lebensweltorientierter Perspektive relevant. Die Idee einer „Alltagsseelsorge“ nach Hauschildt grenzt sich in vielfacher Hinsicht und auf verschiedenen Ebenen von anderen Seelsorgeformen einer von 14
15 16
MICHAEL KLESSMANN: Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2008, 54. KLESSMANN: Seelsorge (s. Anm. 14), 54. CHRISTOPH SCHNEIDER-HARPPRECHT: Nachwort: Die Methode des Kurzgesprächs im Rahmen der Alltagsseelsorge, in: TIM H. LOHSE: Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung, Göttingen 2003, 145–155, 147.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
455
ihm als „‚hohe‘ Seelsorge“17 bezeichneten Richtung ab. Folgende Übersicht mag dazu einen Eindruck geben: Seelsorgekonzept / Kategorie Zeit und Kontext Ort
„Alltagsseelsorge“ Alltag und Lebenswelt
„‚hohe‘ Seelsorge“ verkündigende therapeutische Seelsorge Seelsorge Sonntag und Heilsgeschichte
„heilige Orte“, kirchlich-diakonisch: Dienstzimmer im Pfarrhaus, Gesprächsraum im Gemeindehaus, Sprechzimmer einer Beratungsstelle, Kirche Anlass und diffus, spontan, kasuell, intentional, vereinbart, zweckgebunden, Vollzug zufällig, nebenbei, im Zusamin einer kirchlich-pastoralen oder diakomenhang des Alltags nisch-beratenden Sondersituation Wiss. alltagstheoretisch homiletisch psychotherapeuParadigma tisch Thema psychosoziale Wirklichkeit, all- religiöse Fragen psychische tägliche Beziehungsfragen und und theologische Konflikte Lebensprobleme, „über Gott Lebensdeutung und die Welt“ Form Dialog, Bericht, Diskussion, ‚Evangelisations‚Beratungsdialog‘, Austausch, Smalltalk, „auf rede‘, durch Predigt- durch Beratungseinen Schwatz“ setting einseitige setting einseitige Gespräch wird nur konstituiert, und zweckgebunde- Situationsdefinition, wenn jede Seite es will und ne Seelsorgebezie- formelle Auftragsdabei ihre Rolle einnimmt, es hung, Auftrag theo- klärung notwendig kann jederzeit und von jedem logisch vorgegeben Partner beendet werden, Setting wird implizit oder explizit ausgehandelt Institution Gespräch basiert auf PartnerGespräch basiert Gespräch basiert beziehung, Familie, Nachbarauf Predigt an den auf institutionalischaft, „wo ich sie gerade sehe“ Einzelnen und siertem BeratungsVerkündigung im setting im Kontext Kontext von Kirche von Kirche und Diakonie VoraussetVerständnis für den Alltag und Biblische, theologi- Psychotherapeutizungen, nöti- die Lebenswelt der Menschen sche, spirituelle sche Gesprächsfühge Kompeten- im Gemeinwesen, alltägliche Kompetenz rungskompetenz zen Gesprächsführung, hermeneutische Fähigkeiten mit andersartigen und vielfältigen religiösen Deutungsmustern umzugehen Quantitatives Ständig auftretende Begegnun- Ausnahmesituationen, selten Vorkommen gen, häufig
17
überall: Straße, Wohnung, Geschäft, zwischen Tür und Angel
Vgl. HAUSCHILDT: Alltag der Seelsorge (s. Anm. 13), 8–16, 8.
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Rolle der Seel- Reduziert die eigene Darstelsorgerin / des lung, nimmt sich zurück, Seelsorgers erhöht Darstellungsmöglichkeiten und Gesprächsführungskompetenz des Gegenübers und fügt eigene, kleine Deutungen ein
Theologie
Transformiert die Formiert die GePredigtrolle von der sprächssituation als Gruppensituation Beratungssetting, in des Gottesdienstes der der beratende auf die EinzelperSeelsorger die Fühson, führt im Gerung übernimmt, spräch einen dem Gegenüber „Bruch“ (Thurney- aber Raum zur sen) herbei, ab dem Selbstdarstellung Verkündigung gegibt schieht Alltagstheologie: Redewendun- Hohe Theologie: Dogmatik, Predigten, gen in alltäglicher Sprache zur akademisch-religiöse Kunstsprache [und Kontingenzbewältigung („so ist „hohe“ theologische Reflexion von Psydas eben“), Aussagen zu nicht- chotherapie und Beratung] empirischen Wirkfaktoren (Schutzengel, Astrologie, Karma), konkrete Erfahrungen mit / Erwartungen an Kirche und Pfarrer:innen Typologie „Alltagsseelsorge“ – „‚hohe‘ Seelsorge“ (eigene Darstellung in Anlehnung an Hauschildt 1996 und 1999)
Dass Hauschildt hier aber fließende Übergänge sieht sowohl zwischen den „Lagern“ der verkündigenden und der therapeutischen Seelsorge, wie auch zwischen diesen beiden Ausprägungen der von ihm sogenannten „hohen Seelsorge“ und der „Alltagsseelsorge“, wird in seinem Aufsatz von 1999 Alltagsseelsorge. Der Alltag der Seelsorge und die Seelsorge im Alltag18 deutlich. Dort schreibt er von der „Möglichkeit“, „einen Mittelweg zwischen den beiden [Lagern der verkündigenden und der therapeutischen Seelsorge; AGö.] zu suchen“ (9) und weist darauf hin, dass in der Alltagsseelsorge verschiedene Kompetenzen zusammen kommen: „die alltäglichen Kompetenzen der Gesprächsführung“, „theologische Kenntnisse und Grundfähigkeiten in den Methoden therapeutischer Gesprächsführung“ und „eine hermeneutische Fähigkeit […], religiöse Prozesse, die anders sind als die eigenen, zu verstehen und deswegen auch bei ihnen zu helfen, sie zu fördern“ (15). In der Praxis seelsorglichen Handelns dürften diese Kompetenzen unstrittig sein und die beiden Lager der „hohen Seelsorge“ tendenziell mit alltagsseelsorglichen Zugängen amalgamieren. Den Ansatz der Alltagsseelsorge von Hauschildt, versteht Jürgen Ziemer in seiner Seelsorgelehre weniger als „Seelsorgekonzept“ – auch wenn er es unter der Zwischenüberschrift „Alternative Seelsorgekonzepte“ bei der „Differenzierung der Seelsorgelandschaft im 21. Jahrhundert“ ansiedelt –, vielmehr als „ein Phänomen in der Seelsorgearbeit“19. Denn, so Ziemer weiter: 18 19
HAUSCHILDT: Alltag der Seelsorge (s. Anm. 13), 8–16. JÜRGEN ZIEMER: Seelsorgelehre, Göttingen 42015, 128.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
457
„Was in der genannten Weise alltagsseelsorglich geschieht, ist in der pastoralen Praxis unverzichtbar. […] Aber manchmal muss es weitergehen, da wird das alltagsseelsorgliche Geschehen zum Anknüpfungspunkt zu intensiverer Kommunikation.“20
4.
Lebensweltorientierung und Seelsorge
Lohnenswert erscheint es für die poimenische Theoriebildung wie für die seelsorgliche Praxis, das alltagsbezogene durch ein lebensweltorientiertes Konzept sinnvoll zu ergänzen. Ebenso ist die tiefergehende Befassung mit den philosophischen und soziologischen Traditionen des Lebensweltbegriffs bei Edmund Husserl, Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Jürgen Habermas u. a. für die Seelsorge von großer Bedeutung. Sie findet sich in Kristin Merles Tübinger Dissertation gut zusammengefasst und eingeordnet.21 Der katholische Theologe Thomas Henke hat in seiner Freiburger Dissertation von 1993 den Lebensweltbegriff von Jürgen Habermas für die Seelsorge aufgebarbeitet.22 Hier soll jedoch der Anschluss an Hans Thierschs Konzept der Lebensweltorientierung für die Seelsorge fruchtbar gemacht werden. Das ist nicht ganz einfach, denn Thiersch hat – z. T. zusammen mit anderen – seinen Ansatz immer wieder überarbeitet und weiterentwickelt.23 Immer jedoch geht es ihm mit der Idee einer „lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ um die „Fragen danach, wie Menschen ihren Alltag bewältigen“, d. h. um den „Alltag […] [als] Schnittstelle der objektiven gesellschaftlichen Strukturen und der subjektiven Bewältigungsarbeit“24. Thiersch schildert die Genese seiner Begriffsbildung so, „dass ich zunächst mit dem Begriff Alltag gearbeitet habe, später aber habe ich in meinem Konzept auch mit dem Begriff Lebenswelt gearbeitet, der mir für viele Bereiche besser geeignet zu sein scheint. […] im Prinzip verwende ich beide Begriffe nebeneinander und quasi gleichbedeutend.“25
20 21 22
23
24
25
ZIEMER: Seelsorgelehre (s. Anm. 19), 128. Vgl. MERLE: Alltagsrelevanz (s. Anm. 5), 147–263. Vgl. THOMAS HENKE: Seelsorge und Lebenswelt. Auf dem Weg zu einer Seelsorgetheorie in Auseinandersetzungen mit soziologischen und sozialphilosophischen Lebenswelt-Konzeptionen, Würzburg 1994; vgl. die Rezensionen dazu von Eberhard Hauschildt in der Theologischen Literaturzeitung 120 (1995), 176–178, und von Norbert Mette in der Zeitschrift Diakonia 28 (1997), 354. Vgl. z. B. HANS THIERSCH: Alltagshandeln und Sozialpädagogik, in: neue praxis 8 (1978), 6– 25; vgl. DERS.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, Weinheim/München 1992; vgl. DERS. / KLAUS GRUNDWALD / STEFAN KÖNGETER: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, in: WERNER THOLE (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit, Wiesbaden 2012, 175–196. HANS THIERSCH: Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, für meine Enkel skizziert, 2017, 5, in: www.hans-thiersch.de/Hans-Thiersch.de/Veroeffentlichungen.html → Im Internet: Texte (2019). THIERSCH: Konzept (s. Anm. 24), 6.
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Schon im achten Jugendbericht aus dem Jahr 1990 hatte Thiersch seinen Lebensweltorientierungsvorstellungen als „Strukturmaximen der Jugendhilfe“26 einbringen und ihnen damit in diesem Feld große Bedeutung verleihen können. Die dort von ihm gesetzten Maximen finden sich in späteren Arbeiten Thierschs wieder. Es lohnt sich m. E., diese Strukturmaximen der Jugendhilfe einmal durchzugehen auf dem Hintergrund der Frage, ob und auf welche Weise sie zu grundlegenden Maximen der Seelsorge werden könnten. Dabei mag Thierschs Prämisse hilfreich sein: „Die (Struktur-)Maximen sind nicht auf Arbeitsfelder der Jugendhilfe beschränkt; sie zeigen sich auch im Gesundheitswesen, in der Behindertenarbeit, in der Gemeindepsychologie und -psychiatrie, in der Erwachsenenbildung“ (85). Freilich hat Thiersch seinen Ansatz der Lebensweltorientierung selbst nicht auf Seelsorge im Kontext von Theologie und Kirche, sondern stets auf die Kinder- und Jugendhilfe bzw. auf die ganze Sozialpädagogik und Soziale Arbeit bezogen. Fünf Strukturmaximen und eine spätere Erweiterung der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch werden im Folgenden dargestellt und jeweils auf die Seelsorge transferiert.
4.1
Prävention27
Eine noch vorwiegend nachgehende Orientierung, die Aktivitäten erst entfaltet, wenn die Probleme sich zuspitzen und verhärten, soll nach Thiersch durch eine verstärkt präventive Orientierung ergänzt werden. Hier wird unter „primäre Prävention“ eine Art gesellschaftliche Verhältnisprävention verstanden, die auf „lebenswerte, stabile Verhältnisse“ ziele, „die es nicht zu Krisen und Konflikten kommen lassen“. Die „sekundäre Prävention“ betreffe eine gruppenspezifische oder individuelle Verhaltensprävention im Sinne „vorbeugender Hilfen in Situationen, die erfahrungsgemäß belastend sind und sich zu Krisen auswachsen können“. Kirche versucht durch ihre Gemeinschaftsbildung und sozialen Lebens- und Glaubensformen genau solche lebenswerten und stabilen Verhältnisse nach ihrer Möglichkeit mit herzustellen und sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene dafür einzusetzen. Mit der christlichen Diakonie- und Seelsorgetätigkeit werden auch vorbeugende Hilfen in Belastungs- und Krisensituationen angeboten. Die Situationen werden im Achten Jugendbericht dreigeteilt: 1. Biografische Normalsituationen und Lebensübergänge, 2. „unvorhergesehene Veränderun-
26
27
Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe – Achter Jugendbericht, in: Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode, Drucksache 11/6576 vom 06.03.1990, 85–90. Vgl. Achter Jugendbericht (s. Anm. 26), 85f.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
459
gen im Lebensfeld“, wie z. B. Arbeitslosigkeit und Scheidung, 3. „Schicksalsschläge […] wie Krankheit und Tod“. Zweifellos widmet sich die kirchliche Praxis, insbesondere in Form der Seelsorge, allen dieser drei Situationen – mit unterschiedlichen Gewichtungen in verschiedenen kirchlich-diakonischen Arbeitsfeldern. Was der Achte Jugendbericht dann als dreistufige Konsequenz der Präventionsmaxime aufführt, kann auf die Seelsorge transferiert werden: 1. „Notwendig sind zunächst sozialpolitische und kommunalpolitische Aktivitäten zur Gestaltung von Lebensverhältnissen“, also z. B. die Unterstützung der aktuell relevanten Institutionen (Familie, Schule, Arbeitsmarkt) und des „sozialen Netzes in der Gemeinde“ sowie „Angebote zur Bildung, Aufklärung und Gestaltung von Lebensräumen für die Heranwachsenden“ ebenso wie für andere Gruppen in Kirchengemeinde und Gemeinwesen. 2. Es bedürfe verschiedener Angebote, die es Menschen „in kritischen Lebensereignissen erlauben, sich mit ihren Verhältnissen besser zu arrangieren, also Maßnahmen der Beratung, der vorbeugenden Unterstützung, vor allem aber auch gezielte Hilfen zur Erschließung von Ressourcen“. 3. Nachrangig gegenüber 1. und 2., wenn auch besonders wichtig und notwendig, seien „Hilfen in akuten Konflikten und überlasteten […] oder verfahrenen Situationen“. Zwei Probleme des Präventionsansatzes werden noch aufgezeigt: 1. „Alle Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt der Verhütung von Schwierigkeiten […] zu verstehen“, bedeute die Wirklichkeit zu pathologisieren. 2. Der Präventionsbegriff werde sehr weit gefasst und damit schwer greifbar.
4.2
Dezentralisierung / Regionalisierung28
Aus der Institutionalisierungskritik, so Thiersch im Jugendbericht von 1990, sei deutlich geworden, dass eine Zentralisierung von Angeboten zur „Erschwerung der Zugangsmöglichkeiten […] und Nichtnutzung“ führen können. Dieses Problem der Jugendhilfe kennen auch die Kirchen, die sich mehr und mehr aus der Fläche zurückziehen und auf größere Kooperationseinheiten und Spezialangebote in Gemeinde und Region bzw. Kirchenbezirk setzen. „In Gegenzug und Korrektur“, so Thiersch, haben sich „Ansätze zur Dezentralisierung“ entwickelt. Da die Dezentralisierung aber zunächst nur eine „formale Strukturmaxime“ sei, fülle sie sich inhaltlich erst in und mit dem Konzept der Regionalisierung. Dabei gehe es um die „Einbettung der Arbeit in die gleichsam gewachsenen, konkreten und regionalen Strukturen […], z. B. in einem Stadtbezirk […] oder mit seinem Netz kirchlicher Einrichtungen oder mit seinem Geflecht von Nachbarschafts- und Freundschaftssystemen“, aber auch bezogen 28
Vgl. Achter Jugendbericht (s. Anm. 26), 86f.
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auf die „Eigenheiten ländlicher Regionen […], Ausbildung spezifischer Subkulturen“ etc. Auch die Kirche, die christlichen Gemeinden und die diakonischen Akteure wollen sich ja seit vielen Jahren in diese regionalen Strukturen, in die spezifisch geprägten Gemeinwesen und Sozialräume einbringen und hineinverweben. Der Jugendbericht weist hier auf die Problematik hin, dass „gegebene regionale Strukturen […] auch vorurteilsbestimmt, borniert und unzulänglich sein“ können. Es wird die Gefahr benannt, „daß die Verbindung und Stützung einzelner Arbeitsaufgaben jenseits des regionalen Kontextes geschwächt wird“. Deshalb seien „die den regionalen Kontext übergreifenden Absprachen und Regelungen ganz unverzichtbar“. Die Arbeit sei „doppelt zu verorten, im regionalen ebenso wie im fachlich überregionalen Kontext“. Es sei anzustreben, „die regionale Orientierung zu verbinden mit Sicherungen und Absprachen in bezug auf spezielle Kompetenzen und überregionale Zuständigkeiten“. Kirchenverantwortlichen und Hochschultheolog:innen ist dieses Ergänzungsverhältnis von örtlich-regionalen Gemeindestrukturen und gesamtkirchlichen Aufgaben bzw. spezialisierten Diensten nur zu gut bekannt. Die Lösung kann weder in einem einseitigen Regionalprinzip zugunsten der Stärkung der Kirchengemeinden liegen noch in einem spezialisierten Prinzip zentraler Dienste mit ihren „Leuchtturmprojekten“ und Sonderaufgaben. Die Lösung liegt vielmehr genau in der „doppelten“ Vorortung der Arbeit, auch und gerade im Blick auf die Seelsorge. Die pastorale und ehrenamtliche Gemeindeseelsorge kann nicht alles allein bewältigen, sie benötigt komplementär Spezialseelsorgedienste, die sehr unterschiedliche Zielgruppen, Sozialräume und Lebenslagen erreichen und sie benötigt die diakonischen Beratungsstellen und Dienste. Die Maximen der Dezentralisierung und Regionalisierung, transferiert auf eine Kirche der kurzen Wege, eine Seelsorge nah an den Menschen und eine Diakonie für alle, können sich auf die Alltagsbezogenheit des Handelns günstig auswirken. Das ist auch mit der nächsten Maxime verbunden.
4.3
Alltagsorientierung in den institutionellen Settings und in den Methoden29
Sie differenziert sich in drei Dimensionen: 1. „Zugänglichkeit im Alltag“, 2. „Situationsbezogenheit“ und 3. „Ganzheitlichkeit“. Alle drei lassen sich m. E. sinnvoll von der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit auf die Seelsorge und kirchlichdiakonische Arbeit transferieren. „Regional erreichbar“ zu sein bedeutet nach Thiersch, zugleich eine „Zugänglichkeit im Alltag“ zu eröffnen. Dazu seien „institutionelle, organisatorische 29
Vgl. Achter Jugendbericht (s. Anm. 26), 87f.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
461
und zeitliche Zugangsbarrieren abzubauen“ und mit den „Angeboten im Erfahrungsraum der Adressaten“ unmittelbar präsent zu sein. Als Beispiele guter Praxis dafür werden aufgeführt: „lebenswelt- und gemeinwesenorientierte Kindertagesstätten“, „Mütterzentren“, „offene Beratungen“ – mit ihren jeweils „flexiblen Öffnungszeiten, unkomplizierte Beratungen und Hilfen für Gruppentreffs“; aber auch „Straßensozialarbeit und mobile Jugendarbeit“, „Krisenintervention“, „aufsuchende Sozialarbeit in der Prostitutions- und Drogenszene“ sowie „die Verbreitung der sozialpädagogischen Familienhilfe“. Vieles von dieser Submaxime der „Zugänglichkeit im Alltag“ gehört zur langen Tradition sowohl der missionarischen Praxis als auch des sozial-diakonischen Handelns der Kirche. Spätestens seit Johann Hinrich Wicherns Bewegung und Vereinigungen der Inneren Mission wurde deutlich, dass verkrustete Amtsstrukturen einer Allianz von „Thron und Altar“, die auf ein behördliches Verständnis von Kirche mit entsprechenden Komm-Strukturen und auf eine moralisch-kontrollierende Idee setzte, grundsätzlich infrage zu stellen waren und sind. All die im Achten Jugendbericht hier aufgeführten Beispiele lassen sich auch im kirchlich-diakonischen Bereich finden, wenn auch z. T. eher exemplarisch und nicht durchweg in der Fläche. Ich will hier nur auf ein Exempel gesondert hinweisen, an dem ich selbst beteiligt war: das Projekt „Der evangelische Kindergarten als Nachbarschaftszentrum in der Gemeinde“, in dem die Maximen Thierschs, besonders auch der Alltagsorientierung, programmatisch einbezogen wurden.30 Als eine Zugangsbarriere im Alltag der Seelsorge habe ich immer wieder die Zeitnot und Überlastung der Gemeindepfarrer:innen, ihr Gehetzt-Wirken und ihre Allzuständigkeit empfunden. Dadurch wirken sie m. E. auf viele Menschen als nicht wirklich ansprechbar, für eine niederschwellige Seelsorge kaum zugänglich. Anders ist es m. E. bei Seelsorge, die im Kontext von kirchlichen Amtshandlungen (Kasualien) vollzogen wird. Denn hier hat man ein klares Setting, eine Übereinkunft, diese Amtshandlung beiderseits durchführen zu wollen und nimmt sich meist auch die Zeit für die seelsorglichen Aspekte der Taufe, Trauung oder Beerdigung. „Situationsbezogenheit“ bedeutet für Thiersch, den Menschen nicht nur als Individuum zu sehen, sondern ihn „in seinen sozialen Verhältnissen“ und „sozialen Systeme(n)“ zu verstehen. Zwei Beispiele nennt er an dieser Stelle: „Heranwachsende im Kontext ihrer Gruppe, ihrer Clique“ und „Pflege-, Adoptionsund Heimkinder“ auf dem Hintergrund ihrer „vielfältigen Bezüge, aus denen die Kinder stammen“, zu betrachten und zu bearbeiten. 30
FRIEDRICH SCHMIDT / ARND GÖTZELMANN (Hg.): Der evangelische Kindergarten als Nachbarschaftszentrum in der Gemeinde. Dokumentation zum Modellprojekt des Diakonischen Werkes Pfalz (Diakoniewissenschaftliche Studien Bd. 9), Heidelberg 1997; vgl. auch die theologische Dissertation dazu: FRIEDRICH SCHMIDT: Kindergarten als Nachbarschaftszentrum in der Gemeinde. Eine Studie zur Gemeindeentwicklung unter Beteiligung von Kindern und Familien, Waltrup 1999.
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Diese Verknüpfung der Wahrnehmung des Seelsorgeklienten aus psychologisch-individueller, soziologisch-gruppen- und organisationsbezogener sowie politisch-gesellschaftlich-struktureller Perspektive ist für die Seelsorge am Einzelnen wie in der Gruppe wichtig.31 Mit der dritten Submaxime „Ganzheitlichkeit“ der Maxime „Alltagsorientierung“ wendet sich Thiersch gegen die „Vereinzelung“, „Segmentierung und Parzellierung von Problemen, wie sie aus der Spezialisierung in Verwaltungszusammenhängen“ und manchen „pädagogisch-methodisch oder therapeutisch orientierten Arbeitssettings“ hervorgehen. Notwendig sei es vielmehr, „die Realität der Heranwachsenden und ihrer Familien in jener komplexen Verflochtenheit zu sehen, wie sie für Alltagsverständnis und Alltagspragmatik charakteristisch sind“. Eine „Spezialisierung“ von Diensten, Akteuren und Methoden dürfe nicht, „gleichsam im vorhinein, aus der Arbeitslogik von Institutionen begründet werden“, sondern „in der Analyse der Situation und vermittelt mit den komplexen Erfahrungen im Alltag der Adressaten“. Selbstverständlich könnte die Aufteilung diakonischer Beratungsstellen nach Verwaltungszusammenhängen, (Re-)Finanzierungssystematiken und fachlichen Spezialisierungen die von Thiersch transferierte Kritik an der fehlenden „Ganzheitlichkeit“ auf sich ziehen. Ob man diese Kritik auch auf spezialisierte Seelsorgeformen und -angebote beziehen kann, wage ich zu bezweifeln, denn ihre Spezialisierung hat m. E. meist viel mit der „Analyse der Situation“ und der Berücksichtigung der „komplexen Erfahrungen im Alltag der Adressaten“ zu tun. D. h., die Ausdifferenzierung spezialisierter Seelsorge orientiert sich eben i. d. R. an den spezifischen Lebenssituationen und Alltagsbedürfnissen ihrer Zielgruppen. Für die Seeleute oder Binnenschiffer und ihre Familien muss man andere Seelsorgeangebote machen als in den Krankenhäusern, für die Schausteller:innen andere als am Telefon. Viele dieser Zielgruppen- und Sonderseelsorgeangebote ergänzen die Seelsorge in den Kirchengemeinden komplementär, werden aber seit einigen Jahren immer weiter reduziert.
4.4
Integration – Normalisierung32
Was Thiersch mit dieser Maxime im Achten Jugendbericht formuliert hat, war seiner Zeit voraus. Heute würde man den Begriff der Inklusion voranstellen.33 Denn ein lebensweltorientiertes Konzept von Jugendhilfe fordert, 31
32 33
Vgl. dazu die Beiträge in ARND GÖTZELMANN (Hg.): Seelsorge systemisch gestalten. Konstruktivistische Konzepte für die Beratungspraxis in Kirche, Diakonie und Caritas, Norderstedt 2008. Vgl. Achter Jugendbericht (s. Anm. 26), 88f. THIERSCH: Konzept (s. Anm. 24), 15, fügt den Begriff der „Inklusion“ in seiner jüngsten Formulierung der Maxime „Integration“ selbst hinzu.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
463
„nicht [zu] unterscheiden zwischen Kindern/Heranwachsenden/Familien mit besonderen Belastungen, die in ihre [der Jugendhilfe; AGö.] Zuständigkeit fallen, und Kindern/Heranwachsenden/Familien außerhalb ihrer Zuständigkeit“.
Es sollen Hilfsangebote angestrebt werden, „die nicht mit dem Preis der Aussonderung bezahlt werden müssen, sondern intendieren, Hilfen für Menschen mit besonderen Problemen in den Kontext allgemeiner Hilfen zu integrieren“. Die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung, mit Migrationshintergrund, mit Drogensucht etc. sollen nicht ausgegrenzt und abgesondert werden, indem die Institutionen sie separieren. Dieser Blick auf den Umgang mit Menschen kann auch die Seelsorge animieren, inklusiv zu denken und institutionelle Aussonderungen zu überwinden. Dazu mag eine christliche Anthropologie beitragen, die den Menschen als gute Schöpfung Gottes und damit als Gleichen unter Gleichen versteht und ihn im Anschluss an Martin Luther als Sünder und Gerechten zugleich sieht. Denn vor Gott sind wir alle gleich, sollten deshalb auch niemanden abwerten oder absondern, und wir haben alle Fehler, Probleme und Einschränkungen mit den damit verbundenen Erfahrungen – die einen mehr, die anderen weniger. Die Menschen als gleichwertig zu sehen heißt, auch denen mit Respekt und Würde zu begegnen, die mir selbst quer liegen, nicht in mein soziales oder Werte-Milieu passen, meine Lebens-, Glaubens- oder Weltdeutung nicht teilen. D. h. eine „freiwillige „Zuständigkeitsbegrenzung“, die Thiersch für die Jugendhilfe ablehnt, sollte es auch für die christliche Seelsorge nicht geben – keine Limitierung der Seelsorge also ausschließlich auf Gemeindeglieder, Menschen mit ähnlichen Weltanschauungen oder eben solche Menschen, die uns irgendwie liegen und mit denen wir es zunächst einfach zu haben scheinen.
4.5
Partizipation34
Diese Maxime sei „konstitutiv“ für die Jugendhilfe und beziehe sich zunächst auf die „Rechtsposition“. Es geht dabei um „das Recht der Mitbestimmung bei Jugendhilfemaßnahmen“, das „Widerspruchsrecht“ der Kinder und Jugendlichen, auch „im Widerspruch zum ‚Elternrecht‘“. Sodann sollen „Anliegen und Impulse von Kindern und Jugendlichen auch in ihren organisierten Formen der Mitbestimmung aufgegriffen und im Zusammenspiel mit anderen Politikbereichen ernst genommen werden“. In diesem Bereich sind seit den 1990er Jahren vielfältige institutionell verankerte politische Mitbestimmungsmöglichkeiten für Jugendliche eingeführt worden, seien es Jugendparlamente, -stadträte oder feste Sitze für Jugendvertreter:innen in politischen Gremien. Auch für die Kirchen hat sich hier, wenn auch recht langsam, eine Anregung ergeben, in ihre Willensbil34
Vgl. Achter Jugendbericht (s. Anm. 26), 89f.
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dungsgremien Jugendliche und Heranwachsende regelmäßig mit einzubinden. Für den Kindertagesstättenbereich verweist der Achte Jugendbericht mit Thiersch auf „hocheffektive Formen der Mitbestimmung von Eltern“. Mittlerweile gibt es auch Formen der Mitbestimmung von Kindern, z. B. in Kindervollversammlungen oder -ausschüssen. Dazu beigetragen hat auch die 1992 von der BRD ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention. „Freiwilligkeit“, so fordert Thiersch im Achten Jugendbericht, müsse unter der Maxime von Partizipation zur „Basis für Hilfen“ und „zur prinzipiellen Voraussetzung der Jugendhilfe“ werden. Er hat dabei natürlich den Bereich der „unvermeidlichen Nicht-Freiwilligkeit“, etwa, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht, im Blick. Auch Seelsorge ist ohne Partizipation nicht zu denken und nicht zu machen. Sie setzt Freiwilligkeit und eine Art von Mitbestimmung im partnerschaftlichen Umgang der Seelsorgeparteien voraus. Schon die Schwierigkeit, im Deutschen das ‚Objekt‘ der Seelsorge mit z. B. Pastorand:in, Seelsorgesuchende o. ä. sinnvoll zu bezeichnen, erscheint paradigmatisch. Das mag u. a. damit zusammenhängen, dass ohne eine freiwillige Zusammenarbeit keine sinnvolle Seelsorge entstehen kann. Eine Seelsorgepflicht für Gemeindeglieder kann es nicht mehr geben, weder als Beichte noch als modernisierte Form der Kirchenzucht. Seelsorge ist ein partizipatives Geschehen, auch wenn die beiden (oder mehr) Seiten der am Seelsorgegeschehen Beteiligten unterschiedliche Rollen haben.
4.6
Strukturierte Offenheit
Später erweitert Thiersch diese „Strukturmaximen“ des Achten Jugendberichts noch um neue Ideen, Entwicklungen und Beispiele. Interessant für unsere Fragestellung erscheint das ergänzende „Prinzip der strukturierten Offenheit“35. Hierbei gehe es um die Frage der konkreten Umsetzbarkeit in eine spezifische Situation. So fasst er zusammen: „Es braucht, damit man nicht in der Offenheit der Situationen und der Aufgaben gleichsam untergeht, Typisierungen der Situationen und Methoden, und es gibt – durch Wissenschaft und reflektierte Praxis ausgewiesen – bestimmte, gleichsam klassische Konstellationen und Abläufe.“36 Dieses Spannungsgefüge kennt auch die Seelsorge, den Widerspruch nämlich, sich einerseits radikal auf das Gegenüber und die aktuelle Situation einzulassen, ja, auch auf die unverfügbare Wirksamkeit des Heiligen Geistes zu vertrauen, und sich andererseits für die Seelsorge theologisch-multidisziplinär zu bilden und praktisch zu qualifizieren, wozu dann eben durchaus auch solche „Typisierungen“ und „Methoden“ gehören. Das Paradoxon von Struktur/Methode und Unstrukturiertheit/Offenheit als Spannungsfeld zusammenzuhalten 35 36
THIERSCH: Konzept (s. Anm. 24), 17. THIERSCH: Konzept (s. Anm. 24), 17.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
465
und nicht vorschnell zugunsten einer Seite aufzulösen, gehört zur hohen Kunst der Seelsorge. Und so kann es im Seelsorgeprozess eben offene und strukturierte Phasen geben. Wichtig erscheint mir hier, gegen die Tendenzen der Machbarkeit, Leistung und Effizienz, die unsere Gesellschaft zunehmend prägen, zum einen das Prinzip der „Instrumentenlosigkeit“ oder „instrumentenlosen Begegnung“ in der Seelsorge in Erinnerung zu rufen, das in der klinischen Seelsorge formuliert wurde. Der Schweizer Praktische Theologe Christoph Morgenthaler hat das später wieder aufgegriffen: „‚Instrumente‘ der Seelsorge sind das offene Ohr, das weite Herz, die liebevolle Geste, das Gespür für Heruntergeschlucktes, die Beharrlichkeit der Begleitung auch dort, wo nichts (mehr) zu machen ist, der Glaube an einen Gott, der alles umgreift, was Menschen leidvoll ergreift. Sie kann wenig machen und nichts kurieren. Sie ist eine Art ohnmächtige Sorge um das Wohl des ganzen Menschen.“37
Und zum anderen die Metapher des niederländischen Theologen Heije Faber vom „Klinikpfarrer als Clown“ zu bemühen.38
5.
Theologie der Lebenswelten
Eine etwas breitere Vorstellung von Lebenswelt findet sich in der neueren katholischen Praktischen Theologie im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil. Denn die Konzilskonstitution Gaudium et spes aus dem Jahr 1965 hatte in offenbarungstheologischer Perspektive das Evangelium und die menschliche Erfahrung zusammengebracht. Dieser Paradigmenwechsel vom Dogma zur Erfahrung ging zu Beginn des Konzils ein in eine Botschaft an die Welt und führte am Ende des Konzils zu verschiedenen theologischen Botschaften an diverse Zielgruppen. Harald Schwillus resumiert: „Eine solche theologische Botschaft kann dann auch als eine Grundlage für eine Theologie der Lebenswelten verstanden werden, da sie eine Theologie ist, die a) im Plural betrieben wird und b) nicht von einem ehernen Lehrgebäude her deduziert, sondern von den Welten her auf das – ebenfalls in Welten entstandene – Diskursarchiv der Überlieferung von Schrift und Tradition zugreift.“39
Diese theologische Richtung denke „von den Lebenswelten der Menschen und den in ihnen aufspürbaren Gottesbezügen her“, wie es etwa der katholische 37
38
39
CHRISTOPH MORGENTHALER: Sieben Gründe, warum Spitalseelsorge notwendig ist, in: Der Balgrist. Schweizer Kirchenzeitung 12 (2003), 3, www.evang-tg.ch/fileadmin/user_up load/downloads/Kirchenbote/Balgrist_Seelsorge_Gruende.pdf (17.06.2022). HEIJE FABER: Der Pfarrer im modernen Krankenhaus (Handbücherei für Gemeindearbeit Bd. 48), Gütersloh 1970, 22. HARALD SCHWILLUS: Eine Theologie der Lebenswelten? Neuere Entwürfe der Praktischen Theologie aus katholischer Perspektive, in: Wege zum Menschen 74 (2022), 59–70, 64.
466
Arnd Götzelmann
Theologe Michel de Merceau (1987), die katholische Praktische Theologin Maria Widl (2000) und der katholische Pastoraltheologe Christian Bauer (2016) unternommen haben.40 Von da aus könnte auch die Seelsorge ökumenisch weiter befruchtet werden.41
6.
Diakonische Seelsorge
Lange Zeit war Seelsorge auf das Individuum fokussiert. Als der Kommunikationsrahmen wurde in der Regel das Vier-Augen-Gespräch verstanden. Die theologische Aufarbeitung interessierte sich zunächst für die Inhalte des Seelsorgegesprächs. Das Konzept der verkündigenden Seelsorge zielte auf die Ausrichtung des Evangeliums an den Einzelnen. Das Seelenheil der Einzelperson vor Gott und die theologische Aufgabe des Seelsorgers waren die zentralen Themen. Mit der sog. empirischen Wende seit den 1960er Jahren wurden psychologische Wissensbestände und psychotherapeutische Methoden erschlossen: Die Seelsorgetheorie entwickelte sich zur „Pastoralpsychologie“, die Seelsorgepraxis wurde zur Psychotherapie im kirchlichen Kontext. Von Interesse waren nun die Methodik der Gesprächsführung und der Transfer von psychotherapeutischen Verfahren in die Seelsorge. Im Zuge dieser Adaptionsprozesse wurden die anthropologischen Grundlagen und die theologischen Ziele der Seelsorge zu relevanten Themen. Dennoch blieb auch hier der Fokus auf dem individuellen Geschehen zwischen zwei Personen. Mit der Wiederentdeckung der profetisch-politischen oder gesellschaftsdiakonischen Dimensionen des kirchlichen Auftrags und mit der – freilich verzögerten – Rezeption von Ansätzen der systemischen Familientherapie42 durch die Seelsorge in Wissenschaft und Praxis wurde nach und nach die Ausrichtung der Poimenik erweitert. Denn die Einzelperson gestaltet und deutet ihr Leben im Kontext ihrer Familie, Partner- und Nachbarschaft sowie ihres Berufes. Ebenso kam der institutionelle Kontext, in dem Seelsorge sich im Rahmen kirchlicher Aufträge, diakonischer Einrichtungen und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen vollzieht, als eine wesentliche Bedingung von Seelsorge in den Blick. Denn die Wurzeln des Leidens, seelischer und sozialer Not liegen doch auch in gesell-
40 41
42
Vgl. SCHWILLUS: Theologie (s. Anm. 39), 64 und ff. Zu einer lebensweltorientierten Theologie in diesem postvatikanischen Sinn vgl. EVAMARIA FABER (Hg.): Lebenswelt und Theologie. Herausforderungen einer zeitsensiblen theologischen Lehre und Forschung, Fribourg 2012. Hier werden neben der Systematischen Theologie auch verschiedene Felder der Praktischen und Pastoraltheologie mit der Perspektive Lebenswelt bearbeitet, jedoch nicht die Seelsorge. Vgl. CHRISTOPH MORGENTHALER: Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtheorie für die kirchliche Praxis, Stuttgart u. a. 1999, sowie GÖTZELMANN: Seelsorge (s. Anm. 31).
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
467
schaftlichen Prozessen der Ausgrenzung, Entsolidarisierung, Kommerzialisierung, Entfremdung, Vereinzelung, Sinnentleerung u. ä. begründet: Nicht nur das Verhalten prägt den Menschen, sondern auch die Verhältnisse. Mit seiner ersten Maxime der „Prävention“, insbesondere auch der primären Verhältnisprävention, nimmt Thiersch hier seinerseits die gesellschaftlich-strukturellen Prägungen des Menschen in den Blick. In seiner dritten Maxime fordert er eine „Alltagsorientierung in den Settings und in den Methoden“. Seelische, psychische und geistliche Not entsteht zwar sozusagen „im“ Individuum und durch dessen reflexive Deutungsmechanismen. Sie wird aber oft erst begründet oder ausgelöst durch belastende Familien- und Sozialisationsbedingungen, durch traumatische Erlebnisse, an denen andere beteiligt waren, oder durch Folgen gesellschaftlicher Strukturkrisen wie etwa Arbeitslosigkeit, Armut oder Krieg. Auch die Bedingungen in den Institutionen der Gesellschaft, z. B. im Gesundheits- und Sozialwesen oder in der Sozialadministration, verursachen eigene Probleme und Zwänge, die auf die Einzelperson z. T. destruktiv einwirken, auch wenn sie eigentlich dazu dienen sollen, Hilfe zu leisten. Bereits im 19. Jahrhundert wurde diese diakonische Erweiterung der Seelsorge etwa bei Carl Immanuel Nitzsch oder Friedrich Niebergall theologisch reflektiert.43 Im 20. Jahrhundert hat Otto Baumgarten einen wiederum spezifischen „sozialen“ Zugang zur Seelsorge gefunden. 1931 entwarf er eine gesellschaftsbezogene und kirchenpolitisch ausgerichtete protestantische Seelsorgelehre.44 Sein überaus positiver Bezug zum gesellschaftlichen Wandel und seine Forderung nach „Gehorsam gegen die Wirklichkeit“ führen ihn zum Postulat des „sozialen Charakters“ des Seelsorgers.45 Er müsse sozial denken, „um auf die sozialisierten einzelnen zu wirken“46. Den Erfahrungsbegriff aufnehmend, will Baumgarten die Wirklichkeit als „Gewebe des Lebens“ verstehen. Geradezu konstruktivistisch beschreibt er die Wechselwirkungen von Gottes-, Welt- und Selbstbild, wenn er schreibt: „Christentum, Religion überhaupt, ist nicht rein persönlicher, unmittelbarer Verkehr der Seele mit Gott, sondern schließt notwendig Welt- und Selbstbeurteilung
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Zu Konzepten diakonischer Seelsorge vgl. ARND GÖTZELMANN: Zum Verhältnis von Seelsorge und Diakonie. Zuordnungsmodelle, Konzepte und Thesen auf dem Weg zur diakonischen Orientierung der Seelsorge, in: DERS. / KARL-HEINZ DRESCHER-PFEIFFER / WERNER SCHWARTZ (Hg.): Diakonische Seelsorge im 21. Jahrhundert. Zur Bedeutung seelsorglicher Aufgaben für die diakonische Praxis (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Bd. 27), Heidelberg 2006, 18–50. OTTO BAUMGARTEN: Protestantische Seelsorge, Tübingen 1931; vgl. dazu JOACHIM SCHARFENBERG: Otto Baumgarten und die Seelsorge heute, in: WOLFGANG STECK (Hg.): Otto Baumgarten. Studien zu Leben und Werk, Neumünster 1986, 129–145. Vgl. SCHARFENBERG: Otto Baumgarten (s. Anm. 44), 130. BAUMGARTEN: Protestantische Seelsorge (s. Anm. 44), 55.
468
Arnd Götzelmann unter der Idee Gottes mit ein, ist also bedingt durch das Welt- und Selbsterleben, das sich fortgehend entwickelt.“47
Dabei gerät ihm das Individuelle in der Seelsorge nicht aus dem Blick. Das letzte Ziel aller Seelsorge, so meint er, sei, „sich selbst überflüssig zu machen, den Mitbruder zum Subjekt seiner Selbstbestimmung zu erziehen“48. Dietrich Bonhoeffer war es, der schon in den 1920er Jahren den Begriff „diakonische Seelsorge“ formulierte. Er entwickelte ihn in seiner Pastoraltheologie auf dem Hintergrund der Zuordnung von Seelsorge zwischen Verkündigung und Beratung bzw. Diakonie.49 Ende der 1980er Jahre griff Henning Luther das Thema „diakonische Seelsorge“ in seinem gleichnamigen Aufsatz auf.50 Programmatisch ging es ihm ganz im Sinne einer Alltags- und Lebensweltorientierung darum, das Gemeinsame von Diakonie, Seelsorge und Sozialarbeit zu betonen und problematische Trennungen zu überwinden. Denn: „Hinter der Gegenüberstellung von Diakonie und Seelsorge verbergen sich, mehr oder weniger ausdrücklich, trennende Dualismen auf folgenden Ebenen: 1. die Trennung von Wort und Tat, von Fürsorge und Seelsorge, von Lebenshilfe und Glaubenshilfe, von Beratung und Verkündigung, von Diakonie und Theologie, 2. die Trennung von individuellen und sozialen/gesellschaftlichen Aspekten, von personalen und institutionellen Perspektiven.“51
Eberhard Hauschildt postuliert im Anschluss an seine kritische, aber doch anschlusssuchende Auseinandersetzung mit der „verkündigenden“ und der „therapeutischen“ Seelsorge, dass es nahe liege „die Alltagsseelsorge mit der Diakonie zu verknüpfen“:52 – Alltagsseelsorge versuche, mit interdisziplinären Zugängen das Phänomen Alltag in den Blick zu bekommen. – Alltagsseelsorge vollziehe sich dort, wo die Menschen sind, sie nehme die kasuelle bzw. kontingente Begegnungssituation ernst und geht damit kreativ um.
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OTTO BAUMGARTEN: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, 143. BAUMGARTEN: Protestantische Seelsorge (s. Anm. 44), 61. Zu Bonhoeffers Seelsorgelehre vgl. CHRISTOPH ZIMMERMANN-WOLF: Einander beistehen. Dietrich Bonhoeffers lebensbezogenes Glaubensverständnis für gegenwärtige Klinikseelsorge, Würzburg 1991; HANS RÜEGGER: Kirche als seelsorgerliche Gemeinschaft. Dietrich Bonhoeffers Seelsorgeverständnis im Kontext seiner bruderschaftlichen Ekklesiologie, Ms. Theol. Diss., Heidelberg 1990; SABINE BOBERT-STÜTZEL: Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, Gütersloh 1995. HENNING LUTHER: Diakonische Seelsorge, in: Wege zum Menschen 40 (1988), 475–484. LUTHER: Diakonische Seelsorge (s. Anm. 50), 475. HAUSCHILDT: Alltagsseelsorge (s. Anm. 10), 379.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge
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Alltagsseelsorge gebe den Menschen Raum und helfe ihnen zur Gesprächsführungskompetenz, sie knüpfe an die Frömmigkeit und Theologie des Alltags an, um Impulse zu setzen, die das Gegenüber auf Gottes Befreiungs- und Erlösungshandeln verweist. Das Konzept der Alltagsseelsorge, wie es Eberhard Hauschildt ins Gespräch gebracht hat, kann m. E. umso fruchtbarer wirken, wenn es mit anderen Formen, Konzepten oder Perspektiven lebensweltorientierter Seelsorge, wie etwa der diakonischen und systemischen Seelsorge, verbunden wird.
7.
Potenziale einer alltags- und lebensweltorientierten Seelsorge
Nachdem die Ansätze der Alltagsseelsorge und der Lebensweltorientierung in nuce dargestellt wurde, sollen abschließend die Potenziale einer alltags- und lebensweltorientierten Seelsorge für eine diakonisch verstandene Seelsorge thetisch zusammengefasst werden – in den ersten drei Punkten schließe ich mich Klessmann an, der freilich den Begriff der Lebensweltorientierung selbst nicht im Blick hat. – Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge „ist allen Christinnen und Christen aufgetragen, nicht nur den Amtsträgern“53, so können auch alltägliche Gespräche ohne speziell professionelle Qualifizierung als Seelsorge verstanden werden, womit eine klare Abgrenzung von seelsorglichen und anderen Gesprächen schwieriger wird, jedoch der große Vorteil entsteht, dass auf der Basis des allgemeinen Priestertums potenziell alle Gemeindeglieder als Seelsorgerinnen und Seelsorger verstanden werden können. Das wird in der ehrenamtlichen Seelsorge (s. u.) durch entsprechende theologische Begründungen, praktische Organisationsformen und personelle Qualifikationsmaßnahmen versucht zu realisieren. – Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge „gehört zu den alltäglichen Aufgaben des Pfarramtes […] das gesamte pfarramtliche Handeln hat eine seelsorgliche Dimension“54, wodurch die Seelsorge nicht immer als besondere Aufgabe identifizierbar wird. Seelsorgliche Praxis der theologischen Professionellen vor Ort findet also nicht nur in speziellen Seelsorgegesprächen und in der Anleitung und Begleitung von Ehrenamtlichen in der Seelsorge statt, sondern nimmt auch andere Gestalt an, etwa im profetischpolitischen Handeln zugunsten der ausgegrenzten Menschen, in der Ermutigung von Menschen, selbst Verantwortung für ihr Leben und das Gemein-
53 54
KLESSMANN: Seelsorge (s. Anm. 14), 51. KLESSMANN: Seelsorge (s. Anm. 14), 51.
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56
Arnd Götzelmann wesen in Kreisen und Gruppen zu übernehmen, in der Beratung und Aufrichtung be- und unterdrückter Menschen, im Gottesdienst und Predigt als Gelegenheiten, Seelsorge in der Gruppe zu üben, in der Bildungsarbeit mit seelsorglichen Ansprüchen und eben im Alltag der zufälligen Begegnungen und Besuchen. Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge „zielt auf den Alltag der Menschen, vor allem auf deren alltägliche Lebensführungsprobleme“55; damit ist Seelsorge für jeden Menschen im Gemeinwesen offen, besonders aber für die gesellschaftlich marginalisierten Menschen. Indem sie sich nicht zuerst und nicht ausschließlich auf Glaubensfragen oder die Lösung rein psychischer Konflikte bezieht, gewinnt Seelsorge einen psychosozialen und diakonischen Auftrag an den auch materiellen und sozialen Nöten, denen Menschen vielfach unterliegen. Thierschs Maximen der Integration und Partizipation können hier zu Leitlinien werden. Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge ist kurz und als „kleine Lösung“ anwendbar, sie vollzieht sich oft nebenbei und spontan. Diese Bescheidenheit befreit Seelsorgliches von überzogenen kerygmatischen oder psychotherapeutischen Ansprüchen. Seelsorge vermag damit für die Alltagssorgen und die alltäglichen Begegnungen der Menschen in ihrer Lebenswelt zugleich selbstbewusster und aktiver werden, denn sie kann sich auf kleine und bescheidene Optionen einlassen und dennoch auf die Wirksamkeit ihrer Praxis vertrauen. Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge kann an jedem Ort und bei jedem Anlass praktiziert werden, muss also keine Sondersituationen abwarten oder kreieren. Die Befreiungs- und Gerechtigkeitsbotschaft des Evangeliums kann so überall und jederzeit Raum greifen. Ihre Kraft wirkt heute nicht nur in den liturgisch-religiösen Sondersituationen, sondern auch in vielfältigen anderen Möglichkeiten, bei den alltäglichen Begegnungen – im Sinne Thierschs dezentral und regional, partizipativ und integrativ. Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge zielt darauf, Menschen zu einem eigenständigen und sinnerfüllten Leben zu befähigen im Sinne eines ganzheitlichen religiösen Empowerments. Recht verstanden geht es darum, Menschen zu einem selbstbestimmten und hoffnungsvollen Leben zu befreien und sie durch Zuspruch, Beratung und Hoffnungsgeschichten über die Widrigkeiten des Lebens hinaus zu ermächtigen zu einer selbstbewussten Lebenspraxis im Streben nach einem „gelingenderen Alltag“56.
KLESSMANN: Seelsorge (s. Anm. 14), 51, der hier auf HANS-MARTIN GUTMANN: Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chance der Seelsorge in Zeiten der Krise, Gütersloh 2005, 48ff., verweist. THIERSCH 1986, zit. n. Achter Jugendbericht 1990 (s. Anm. 26), 80.
Zur Alltags- und Lebensweltorientierung der Seelsorge –
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57
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Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge lässt sich auf die Themen und Sprachgewohnheiten der Menschen ein und geht mit ihnen wertschätzend und „alltagshermeneutisch“ um. Sie vermeidet sowohl eine kirchlichreligiöse Hochsprache als auch eine wissenschaftlich-akademische Sonderterminologie, die zu Unverständnis und Entfremdung mit weniger Gebildeten führen. Sie schaut, wie Martin Luther es verstand, „dem Volk aufs Maul“, versucht die Sprachgewohnheiten verschiedener sozialer Milieus zu verstehen, sie „liebevoll“, aber nicht distanzlos zu nutzen und ihnen dennoch eigene Impulse zu geben. Eine alltags- und lebensweltorientierte Seelsorge folgt dem „Prinzip der strukturierten Offenheit“, indem sie sich zwar der spezifischen und einzigartigen Seelsorgesituation öffnet, zugleich aber durch Wissenschaft und reflektierte Praxis ausgewiesene Strukturen oder „Typisierungen der Situationen und Methoden“57 kennt, versteht und nutzt.
THIERSCH: Konzept (s. Anm. 24), 17.
Drei Bildungsphasen – ein Pfarrberuf
Drei Bildungsphasen – ein Pfarrberuf
Zur Aufgabe theologischer Bildungsprozesse
Regina Fritz
1.
REGINA FRITZ
Studium – Vikariat – Fortbildung
Das Erwin-Problem ist legendär. Bei einem Trauergespräch fragt die Angehörige des Verstorbenen: „Was wird denn aus Erwin, jetzt, wenn er tot ist?“, woraufhin der Vikar antwortet, er für seinen Teil sei Anhänger der Ganztodtheorie. Die ‚Legende‘ aus dem Jahr 1994 führt die Diskrepanz zwischen der Kenntnis wissenschaftlich-theologischer Konzepte von Tod und Auferstehung und einer dogmatischen Alltagskompetenz im Dienste der Seelsorge vor Augen.1 Nach wie vor formulieren manche Vikar*innen oder erfahrene Pfarrer*innen, dass ihnen das Theologiestudium wenig bis nichts für ihren Beruf ‚gebracht‘ habe. Ähnlich kritisch lauten Voten bezüglich des Vikariats,2 die beklagen, dass dort für eine historisch-heile Pfarrerswelt ausgebildet werde, aber die notwendigen hard facts für den beruflichen Alltag frühestens im Probedienst beim ‚Geschäftsführungskurs‘ oder vom Nachbarkollegen erlernt würden. Kurz: Ein relevanter Konnex zwischen den ersten beiden Bildungsphasen und dem Pfarrberuf wird regelmäßig bestritten. Gleichzeitig boomt bei Fortbildungen das Format „update Theologie“.3 Fortbildungen zu aktuellen theologischen Forschungsdebatten scheinen in hohem Maß das Bedürfnis zu befriedigen, aus der Betriebsamkeit des pastoralen Berufsalltags herauszutreten und durch ein ‚ad fontes‘ in der beruflichen Bildung zu gedanklicher Konzentration und Fokussierung zu gelangen.
1
2 3
Vgl. PETER BUKOWSKI: Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge [1994], Neukirchen-Vluyn 92013, 48f. Vgl. social-media-Kanäle wie z. B. „wasmirimpredigerseminarkeinergesagthat“. Vgl. etwa das Programm auf den websites des Theologischen Studienseminars der VELKD in Pullach oder des Evangelischen Studienseminars Hofgeismar. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Konjunktur wissenschaftlich theologischer Bildung kommt HELMUT AßMANN: Zur Bedeutung der universitären Theologie für das Pfarramt. Beobachtungen und Reflexionen, in: BERND SCHRÖDER (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bildung in Studium, Vikariat und Fortbildung (VWGTH 61), Leipzig 2020, 143–153, 148.
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Regina Fritz
Die Spotlights auf die drei Bildungsphasen des Pfarrberufs werfen die Frage nach deren innerem Zusammenhang auf. Dass Studium, Vikariat und Fortbildung chronologisch aufeinander folgen und in einer Verbindung zueinander stehen, erscheint selbstverständlich.4 Insbesondere die ersten beiden Bildungsphasen werden einander als doppelte Voraussetzung für den Pfarrberuf zugeordnet, landläufig mit den Begriffspaaren ‚Bildung und Ausbildung‘, ‚Theorie und Praxis‘, ‚Theologie und Kirche‘.5 Mag dadurch auch ein Aspekt der jeweiligen Eigenlogik angedeutet sein, wird damit doch die Komplexität jeder Phase unsachgemäß reduziert. Einer differenzierteren Bestimmung war zuletzt im Mai 2019 eine zweitägige Konsultation in Hildesheim gewidmet, bei der sich Vertreter*innen aller drei Bildungsphasen zu den „Herausforderungen für Beruf und theologische Bildung in Studium, Vikariat und Fortbildung“6 verständigten. Als eines der Ergebnisse hält der Mitveranstalter Bernd Schröder fest, dass die in den geltenden Ordnungen insinuierte Zusammengehörigkeit der drei Phasen von niemandem infrage gestellt werde, aber auch nach der Konsultation noch weiter zu klären sei. Denn schon in einer Grundfrage herrsche keine Einigkeit: „Soll sich eine Pfarrbildung ‚aus einem Guß‘ ergeben […] oder führen die Übergänge zwischen den Phasen mit Bedacht ein Moment des Kontrastes oder gar des Bruches mit?“7 Diese konzeptionelle Überlegung gewinnt an Dringlichkeit, wird sie aus Perspektive der Adressat*innen angestellt.8 Diese müssen die in einer Bildungsphase angeeigneten Kenntnisse und Fähigkeiten in die je aktuelle transferieren und damit im neuen Kontext ebenso kreativ wie produktiv umgehen. Darüber hinaus obliegt es ihnen, den angestrebten oder ausgeübten Pfarrberuf im Gesamtkontext der Kirche für sich zu konzeptualisieren, mithin ein konsistentes 4
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6
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Das Selbstverständliche ist selbstverständlich historisch geworden, vgl. Grundsätze für die Aus- und Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Gliedkirchen der EKD (1988), in: Theologische Ausbildung in der EKD: Dokumente und Texte aus der Arbeit der Gemischten Kommission/Fachkommission I zur Reform des Theologiestudiums (Pfarramt und Diplom) 1993–2004, im Auftrag der Gemischten Kommission/Fachkommission I hg. v. MICHAEL AHME / MICHAEL BEINTKER, Leipzig 2005, 11–68. Kirchliche Hochschulen stellen eine programmatische Verbindung von „Theologie und Kirche“ dar. Die vorliegende Festschrift verdeutlicht, dass diese Verhältnisbestimmung auch und gerade hier nötig ist. So der Untertitel der Konsultation und des dazugehörigen Tagungsbands, SCHRÖDER (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden (s. Anm. 3). Zugleich war diese Tagung ein Marker dafür, dass die Verbindung der drei Phasen eben nur scheinbar selbstverständlich ist, war sie doch EKD-weit die erste Konsultation ihrer Art. BERND SCHRÖDER: Ausblick und Aufgaben, in: DERS. (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden (s. Anm. 3), 573–583, 577. Mit dem bildungstheoretischen Paradigma des „berufslebenlangen Lernens“ wird häufig darauf abgezielt, dass das Lernen mit dem Abschluss der zweiten Ausbildungsphase nicht beendet sei und auch von der Dienstgeberin weiteres Lernen eingefordert werden könne. Dabei scheint das hier zur Diskussion stehende Problem weniger präsent, dass das, was im Laufe einer Berufsbiographie eher fragmentiert erlernt wurde, in Einklang zu bringen ist.
Drei Bildungsphasen – ein Pfarrberuf
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Pfarrbild zu entwickeln. Hinsichtlich dieser Anforderungen auf Handlungs- und Reflexionsebene sind die Einzelnen weitgehend sich selbst überlassen. Nun soll in keiner Weise in Abrede gestellt werden, dass in der Bildung der notwendigen Synthese tatsächlich eine (nicht delegierbare) Aufgabe der Einzelnen liegt. Legt man Schleiermachers Begriffs theologischer Bildung zugrunde, geht es eben nicht nur um ein Wissen um das Christentum und dessen Geschichte, sondern mindestens ebenso sehr um das Urteilsvermögen bezüglich seiner gegenwärtigen und künftigen Verfasstheit.9 Denn eine Beurteilung der je aktuellen Situation im Verhältnis zu einem reflektierten Ideal des Christentums ist für die tägliche Ausübung des Pfarrberufs unerlässlich. Die Gestaltung kirchlichen Lebens erfordert eine im Geiste des Christentums begründete normative Vorstellung desselben. Um selbstverantwortet denken und handeln zu können, müssen sich (angehende) Pfarrer*innen eine klar bestimmte Vorstellung davon machen, was für sie als christlich gelten soll und damit orientierend sein kann. Vor dem Hintergrund des komplexen Zusammenhangs theologischer Aussagen und Theorien ist diese Bestimmung eine Synthese, für die dreierlei gilt: Sie ist nötig, sofern nicht rein willkürliche Entscheidungen getroffen werden sollen. Sodann ist sie nie abgeschlossen und selbstredend in jeder der drei Phasen erneut zu erbringen. Und schließlich sind dabei Studierende, Vikarinnen und Pfarrer unvertretbar, sie selbst müssen eine für ihr (künftiges) pastorales Handeln normative Vorstellung vom wesentlich und wesenhaft Christlichen ausbilden. Zweifelsohne ist das leichter gesagt als getan. Die hochgradige Spezialisierung der theologischen Forschung und die immensen Professionalisierungsansprüche im Pfarrberuf lassen die schon zu Schleiermachers Zeiten herausfordernde Aufgabe geradezu unlösbar erscheinen: Forschungen zu den christologischen Hoheitstiteln, Grundlegungen einer Friedensethik, Schlussfolgerungen aus den midi-Studien, Übungen zur liturgischen Präsenz und organisationsentwicklerische Anregungen für die Gemeindeleitung zueinander und zum Pfarrberuf ins Verhältnis zu setzen – das ist wahrlich kein Kinderspiel. Angesichts der Schwierigkeiten, die die angesprochene Synthetisierungsaufgabe darstellt, ist der Blick wieder auf die Lehrpersonen und Verantwortlichen in der Gestaltung von theologischen Bildungsprozessen zu richten. Unabhängig von der „Hildesheimer“ Frage, ob die drei Bildungsphasen gemeinsam oder getrennt zu konzipieren sind, soll im Folgenden erwogen werden, inwiefern Studierende, Vikar*innen und Pfarrer*innen darin unterstützt werden können, sich je und je ein produktives Leitbild vom Christentum zu machen. Dazu 9
Vgl. FRIEDRICH D.E. SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hg. v. DIRK SCHMID, Berlin / New York 1998 (Studienausgabe). Vgl. weiterführend den Aufsatz von MARTIN FRITZ: Schleiermachers Idee theologischer Bildung. Zur Aktualität der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“, in: MARKUS BUNTFUß / MARTIN FRITZ (Hg.): Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (TBT 163) Berlin/Boston 2014, 167– 218, darin besonders 174–176 und 181–184.
476
Regina Fritz
werden im Folgenden drei Ebenen bedacht, auf denen sich die Lernprozesse abspielen und von denen sie geprägt sind. Zuerst sind die strukturellen Rahmenbedingungen nachzuzeichnen, innerhalb derer sich Studium, Vikariat und Fortbildung vollziehen (2). Im Anschluss werden aktuelle Veränderungen in der Diskussion um das Pfarrbild (3) und in der Didaktik (4) umrissen. Bei der Darstellung der drei Ebenen wird jeweils aufzuzeigen sein, inwiefern die für die lernenden Subjekte notwendige Integrationsleistung eher befördert oder gehemmt wird. Schließlich werden die Beobachtungen gebündelt und daraus Rückfragen an die Lehrpersonen abgeleitet (5). Bei allen Überlegungen ist der Beobachtungsfokus grundsätzlich auf die drei genannten Bildungsphasen gerichtet, im Konkreten meist auf die Verbindung von Studium und Vikariat beschränkt.
2.
Strukturelle Selbstabschließungs- und Vernetzungstendenzen
Hinsichtlich ihrer Strukturen sind die drei Bildungsphasen in die kirchlichen Transformationsprozesse involviert. Seit den 1990er Jahren wird beschrieben, wie vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der Konkurrenz anderer (religiöser) Anbieter EKD-weit ein Umbau der Kirchen zu Organisationen erfolgt, um durch definierte Entscheidungsstrukturen, Arbeitsteilung und Zielorientierung effizienter agieren zu können.10 Für die ELKB sind in diesem Zusammenhang die kirchlichen Handlungsfelder zu nennen, in denen inhaltliche Zuständigkeiten definiert und ihrerseits wieder in Funktionsbereiche untergliedert sind, so auch im Bereich der theologischen Bildung. Um einer Abkopplung der verschiedenen Funktionseinheiten voneinander zu wehren, wurden allerhand runde und eckige Tische installiert, an denen sich bis heute regelmäßig Vertreter*innen verschiedener Einrichtungen zusammenfinden, um effektiv(er) zusammenzuarbeiten. Trotz dieser sinnvollen Intention scheint die überkommene Form dieser Gremien für eine wirksame Vernetzung nur bedingt hilfreich, zumindest im direkten Effekt für die Lern- und Arbeitsprozesse der Studierenden, Vikar*innen und Pfarrer*innen. Dem Verhältnis von Intention und Wirkung struktureller Kopplung auf der Makro- und auf der Mesoebene wäre weiter nachzugehen.11 Als gelungenes Beispiel einer strukturell implementierten Verknüpfung von theologischer Wissen-
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11
Zum Organisationsbegriff in der Kirchentheorie vgl. EBERHARD HAUSCHILDT / UTA POHLPATALONG: Kirche. Lehrbuch Praktische Theologie, Bd. 4, Gütersloh 2013 oder auch JAN HERMELINK: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011. Für eine derartige Kooperation stehen programmatisch die EKD-weiten Gremien der „Kirchenkonferenz“, der „Konferenz der Ausbildungsreferentinnen und -referenten der Glied-
Drei Bildungsphasen – ein Pfarrberuf
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schaft und pastoraler Praxis für Studierende sei die Kirchliche Studienbegleitung der ELKB genannt. Sie war EKD-weit die erste ihrer Art und wurde inzwischen in anderen Landeskirchen vielfach nachmodelliert. Dieses Instrument der kirchlichen Personalentwicklung ermöglicht es Studierenden, von Studienbeginn an eine Bindung zur späteren Dienstgeberin aufzubauen und bietet Anstöße, den Konnex zwischen Studium und späterem Beruf zu reflektieren.12 Beobachtbar sind also sowohl strukturelle Trennungen als auch strukturell installierte Formen ihrer Überwindung. Als ein Treiber für Vernetzung scheint die Relevanzkrise des Christentums13 zu wirken. So werden Gespräche über die Ausbildung zum Pfarrberuf zwischen Vertreter*innen von Universität, kirchlicher Hochschule und Kirche derzeit mit hohem wechselseitigem Interesse geführt. Es ist ein Bewusstsein dafür (wieder-)erwacht, dass man aufeinander angewiesen ist. Dieses Bewusstsein artikuliert sich auf basale Weise in wissenschafts- und kirchenpolitischen Debatten. Innerhalb der ELKB etwa wird vor dem Hintergrund des Pfarrbildprozesses und dem ‚Miteinander der Berufsgruppen‘ von kirchenleitender Seite der Pfarrberuf durch die Idee des ‚theologischen Leitens‘ profiliert.14 Damit wird klar kommuniziert, dass die Theologie als Grundlage der pastoralen Praxis verstanden wird und weiterhin verstanden werden soll. Das Studium wird also in seiner wesentlich berufsqualifizierenden Funktion bestätigt. Umgekehrt ist in jüngeren Diskussionen eine Tendenz festzustellen, dass der Kirchenbezug und damit der Bezug auf den Pfarrberuf auch für das universitäre Studium nicht als eine unliebsame Reduktion und Verzweckung der freien wissenschaftlichen Theologie angesehen werden muss, sondern im Gegenteil als deren wissenschaftspolitische Stärkung. In Verteilungsdebatten an Universitäten,
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kirchen der EKD“ und die „Fachkommission I der Gemischten Kommission“, die „nicht unerheblich zu einer koordinierten Dynamik in Fragen theologischer Bildung, Personalentwicklung und Leitbild des Pfarrberufs [beitragen]“, so BERND SCHRÖDER: Pfarrerin oder Pfarrer werden und sein. Eine Einführung, in: DERS. (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden (s. Anm. 3), 15–31, 18. Vgl. http://www.studienbegleitung-elkb.de/theologie-pfarramt/(letzer Zugriff 15.09.2022). Eine 2019/20 durchgeführte Evaluation der KSB der ELKB belegt eine positive Wirkung hinsichtlich der intendierten Vernetzung. Grundlegendes zur KSB, vor allem mit dem Fokus auf die Ausbildung der spirituellen Kompetenz bietet: GERHARD KNODT: Geistliche Existenz. Zur kirchlichen Studienbegleitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in: SABINE HERMISSON / MARTIN ROTHGANGEL (Hg.): Theologische Ausbildung und Spiritualität (WFTR 12), Göttingen 2016, 113–141. Feuilletonistisch zuletzt beschrieben VON SARAH OBERTREIS: Die nachchristliche Generation, in: FAS vom 03.07.2022 (26), 9, aber auch wissenschaftliche aufbereitet etwa auf www.mi di.de. Vgl. STEFAN ARK NITSCHE: Leitung mit Format. Erfahrungen aus dem Prozess „Berufsbild: Pfarrerin, Pfarrer“ und Überlegungen zu einem evangelischen Leitungsverständnis im 21. Jahrhundert, in: STEPHAN MIKUSCH / ALEXANDER PROKSCH (Hg.): Identitäten im Pfarramt. Denkanstöße aus Theorie und Praxis, Leipzig 2019, 109–127 oder auch den Aufsatz Stefan Reimers in diesem Band.
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bei denen ausgehandelt wird, welcher Forschungszweig mit welchen Ressourcen gefördert wird, schneidet die Theologie unter Nutzen- und Relevanzgesichtspunkten im Vergleich zu anderen Wissenschaften oft nicht gut ab. Der Hinweis auf die Ausbildung von Pfarrer*innen und dem damit gegebenen Nutzen für die Gesellschaft kann dem (momentan noch) entgegenwirken.15 Es ist offensichtlich, dass die gesellschaftlichen Transformationsprozesse die verschiedenen Player an einen Tisch bringen. Forciert wird diese Tendenz noch durch den digitalen Wandel. Eine Zusammenkunft auf dem Bildschirm ist für alle Beteiligten leichter organisierbar, ressourcenschonend und somit gut geeignet, auch (vermeintliche) strukturelle Hürden zu überwinden. Zumindest seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 wurden, so scheint es, Vernetzungen intensiviert und vornehmlich im Medium digitaler Kommunikation wahrgenommen. Wird der programmatische Grundsatz, dass erste und zweite Ausbildungsphase aufeinander bezogen sind, derzeit in Strategiedebatten bekräftigt, schlägt er sich auch konkret in der Praxis nieder, wie die Reformprozesse der Vikariate in der EKD belegen. Hier findet durchweg Austausch zwischen Netzwerkpartner*innen statt, und die je andere Perspektive auf den Pfarrberuf wird gezielt als Expertise in die Neukonzeption des Eigenen eingeholt. Was bei den bereits abgeschlossenen Vikariatsreformen etwa der Nordkirche oder der Evangelischen Kirche von Kurhessen Waldeck erfolgt ist, gilt auch für die Reform der zweiten Ausbildungsphase innerhalb der ELKB: Vertreter*innen der akademischen Theologie sind an der konzeptionellen Neuentwicklung beteiligt und diskutieren mit den kirchlich Verantwortlichen das Berufsbild Pfarrer*in, die für das pastorale Tun notwendigen Kompetenzen und die didaktischen Prinzipien des Vikariats. So fließen aktuelle wissenschaftlich-theologische Erkenntnisse in die Konzeption der zweiten Ausbildungsphase ein. Zugleich zeitigt der Reformprozess des Vikariats auch Wirkung auf die erste Ausbildungsphase. Wenn die Kirche für das Vikariat bestimmte (theologische) Kompetenzen voraussetzt, ist damit deren Erwerb durch das Theologiestudium gefordert. Dem kirchlichen Interesse wird mittels der Aufnahmeprüfung in den kirchlichen Dienst Nachdruck verliehen und damit der Anspruch geltend gemacht, dass (auch) das an Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen zu lehren sei, was von der Kirche geprüft wird. Das erste kirchliche Examen wirkt also, wenn auch in begrenztem Rahmen, als ein Steuerungselement für die Verknüpfung der ersten beiden Bildungsphasen.16 15
16
Das bestärkt die Einsicht, dass Nachwuchsgewinnung von „Pfarramtsstudierenden“ gleichermaßen im Interesse von Kirchen und von theologischen Fakultäten bzw. kirchlichen Hochschulen ist. Vgl. allgemein für die ELKB https://www.pfarrer-in-bayern.de/personal entwicklung-151.php (letzter Zugriff 04.08.2022) und als konkretes Format das „TheoTasting. Schnupperwochenende Evangelische Theologie“, eine Kooperationsveranstaltung der Augustana-Hochschule und der ELKB. Es versteht sich, dass die Zusammenhänge im Wechselspiel der verschiedenen Landeskirchen, Fakultäten, Fachbereiche und kirchlichen Hochschulen innerhalb der EKD komplexer sind als es hier einfach scheinen mag.
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Ist bereits der Prozess der Neukonzeption des bayerischen Vikariats17 ein praktisches Beispiel für phasenübergreifende Kooperation, so beinhaltet auch der konkrete Reformvorschlag neue strukturelle Kopplungen zwischen den Bildungsphasen. Beispielsweise ist als Möglichkeit vorgesehen, dass Vikar*innen künftig in speziellen Formaten ihren Fragen aus der pastoralen Praxis und dem kirchlichen bzw. diakonischen Leben gemeinsam mit Vertreter*innen der wissenschaftlichen Theologie nachgehen. Ebenso ist angedacht, dass Fortbildungen dritter Anbieter besucht werden können, bei denen der Austausch mit erfahrenen Berufskolleg*innen und Vertreter*innen anderer Berufsgruppen erfolgt. Der kurze Durchgang der strukturellen Ebene zeigt, dass manche Barrieren aus organisationellen Gründen bestehen, wobei zugleich an ihrer Überwindung gearbeitet wird. Vor dem Hintergrund des Wandels wird aktuell der politische Wille kirchlicher Vertreter*innen und akademischer Theolog*innen erkennbar, bestehende Kopplungstendenzen zu intensivieren und crossfunktionale Vernetzungen zu ermöglichen. Sahen die bisherigen Strukturen in der Regel nur eine chronologische Folge der Bildungsphasen vor, können die Teilnehmenden sie inzwischen stärker auch als synchrone Bildungsangebote wahrnehmen. Ein derartiger generationen- und berufsgruppenübergreifender Erfahrungsaustausch hält zum einen die Fragestellungen von Studierenden, Vikar*innen und Pfarrer*innen stärker kopräsent. Zum anderen fordert gerade diese Vielfalt zur Synthetisierung heraus. Wo (angehende) Pfarrer*innen verschiedene Ansichten und Erfahrungen diskutieren, sind sie zugleich angeregt, das je eigene Bild des Christentums zu profilieren, das ihnen für ihr Denken und Handeln im kirchlichen Kontext Richtung geben kann.
3.
Das eine Pfarrbild unter den vielen
Kirchen- und Pfarrbilder stellen die inhaltliche Grundlage dar, über die eine Verbindung der verschiedenen Bildungsphasen besteht. Banal, und trotzdem zutreffend: Ohne Kirche und Pfarrberuf gäbe es weder das theologische Studium noch das Vikariat noch Fortbildungen für Pfarrer*innen. Nicht allein, aber auch deswegen findet in Fachkreisen eine rege pastoraltheologische Debatte statt.18 17
18
Zu dessen historischer und aktueller Gestalt mit Hinweisen zu den Reformvorschlägen vgl. MANACNUC LICHTENFELD: Für die Zukunft der Kirche. 100 Jahre Predigerseminar Nürnberg 1922–2022, in: KorrBl 137 (2022), 169–173. Zuletzt prominent auf dem Symposion der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI) in Hofgeismar: Der Pfarrberuf. Profil und Zukunft, epd-Dokumentation 30 (2019). Eine erhellende Analyse der pastoraltheologischen Debatte der letzten Jahre bietet JOHANNES GREIFENSTEIN: Die Krise des Pfarrberufs und das pastoraltheologische Krisenmanagement, in: PTh 109 (2020), 484–504. Die jüngste pastoraltheologische Veröffentlichung zum Thema liefert keinen in sich geschlossenen Entwurf, sondern
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Dennoch generieren die Verständigungen darüber nur bedingt eine wirklich vernetzende und für die Subjekte der Bildungsphasen wirksame Gesamtperspektive. Im Regelfall werden an theologischen Fakultäten und kirchlichen Hochschulen pastoraltheologische und kirchentheoretische resp. ekklesiologische Entwürfe diskutiert, die die Praxen zur Darstellung bringen, zu denen im Vikariat Kompetenzen zu erwerben sind, die schließlich in Fortbildungen von Einzelnen auf spezielle Bedürfnisse und Neigungen hin erweitert werden. Auch hier herrscht also ein sequentielles Selbstverständnis der Bildungsphasen vor. Ein Austausch von Vertreter*innen aller Phasen im Ringen um eine Gesamtperspektive auf Kirche und Pfarrberuf findet wenig statt, zumindest selten mit den unterschiedlichen Adressat*innen theologischer Bildung und selten auf eine Weise, die für diese konkrete Bedeutung erlangt. Unterdessen wächst für die Beteiligten jeder der drei Bildungsphasen die Notwendigkeit zu einer Selbstklärung der pastoralen Rolle. Die Bilder vom Pfarrberuf, die stets auch von der eigenen religiösen Sozialisation (und der eigenen pastoralen Praxis) geprägt sind, scheinen in der aktuellen und vor allem für die vermutete künftige kirchliche Lage immer weniger passend, so dass ein schlichtes Nachahmen oder „weiter so“ keine echte Option mehr ist. Die von den Einzelnen mitgeführten Pfarrbilder konkurrieren mit einer Vielzahl von Vorstellungen pastoraler Praxis, die mitunter geradezu gegensätzlich sind. Zu dieser spannungsvollen Diversifizierung tragen verschiedene Faktoren bei. Zum einen treiben die aktuellen kirchlichen Entwicklungsprozesse die pastoraltheologische Diskussion an. So zielen die EKD-weiten Debatten zur interprofessionellen Zusammenarbeit19 auf eine Verständigung darüber, wie die verschiedenen Berufsgruppen am „Auftrag der Kirche“20 mitwirken. Durch diese Diskussionen werden Vertreter*innen bisher marginalisierter Berufsgruppen als wesentliche
19
20
vermisst Aufgabenfelder der Pastoraltheologie vor dem Hintergrund gegenwärtiger Transformationsprozesse, so dass die Lesenden daraus Konsequenzen für ihr Konzeptualisierung des Pfarrberufs ziehen können: FRIEDERIKE ERICHSEN-WENDT/ ADELHEID RUCK-SCHRÖDER: Pfarrer:in sein. Praktische Theologie konkret 5, Göttingen 2022, darin zum „Wiedererwachen des Interesses am Pfarrberuf“ seit ca. 20 Jahren: 70–72. In der ELKB ist dafür der Begriff des „Miteinander der Berufsgruppen“ etabliert. Der entsprechende Prozess ging aus dem Pfarrbildprozess hervor und wurde in den Jahren 2016– 2019 durchgeführt. Vgl. Verschiedene Gaben – ein Geist. Verschiedene Glieder – ein Leib. Verschiedene Dienste – ein Herr. Das Miteinander der Berufsgruppen in der ELKB. Abschlussbericht des Projekts vorgelegt auf der Landessynode in Lindau im März 2019 durch den Projektleiter OKR Dr. Stefan Ark Nitsche, in: https://www.berufsgruppen-miteinan der.de/system/files/dateien/mdb_abschlussbericht.pdf (letzter Zugriff 28.01.2022). Der Begriff des Auftrags ist verankert im Prozess „Profil und Konzentration“ der ELKB und von dort aus in deren weiteren Prozessen aufgenommen. Vgl. dazu die kritischen Hinweise in: MARKUS BUNTFUß: PuK als „Minidogmatik“. Die dogmatische Bedeutung von Leitbildern und strategischen Leitsätzen, in: Profil und Konzentration. Der landeskirchliche Zukunftsprozess. Dokumentation der Akademischen Konsultation 8. November 2018 in Nürnberg, 56–61, 58, in: https://puk.bayern-evangelisch.de/downloads/18-11-23-dokumentationakademische-konsultation.pdf (letzter Zugriff 28.01.2022).
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Akteure im kirchlichen Leben gewürdigt. Zugleich hat diese Würdigung einen destabilisierenden Effekt auf die Berufsgruppe der Pfarrer*innen. Pointiert formuliert: Wenn irgendwie alle am kirchlichen Auftrag teilhaben, welche spezifische Rolle kommt dann eigentlich Pfarrer*innen zu? Die in der protestantischen Tradition verhandelte Verhältnisbestimmung zwischen allgemeinem Priestertum und geordnetem Amt wird durch die Pluralisierung der „Ämter“ erheblich komplexer und erfordert eine neue Profilierung des Pfarrberufs. Pastoraltheologischer Klärungsbedarf erwächst aber nicht nur kirchlicherseits, sondern wird auch durch Entwicklungen an den theologischen Fakultäten und kirchlichen Hochschulen hervorgerufen. Hier zeichnet sich eine zunehmende Pluralisierung der Studiengänge ab, die zum Pfarrberuf führen. Im Allgemeinen ist heute der Trend zu beobachten, dass Berufsbiographien weit weniger geradlinig verlaufen als lange Zeit üblich. Wurde einst der erlernte Beruf bis zur Rente ausgeübt, ist es inzwischen durchaus gang und gäbe, nach einigen Jahren der Praxis im Erstberuf einen zweiten Beruf zu erlernen, um neuen Neigungen nachgehen und inzwischen erworbene Kompetenzen gewinnbringender einsetzen zu können.21 Für die kirchliche Praxis bedeutet diese Entwicklung, dass sich der Pool potenzieller Pfarrer*innen durch sogenannte ‚Spätberufene‘ erweitert. Dies wiederum konvergiert mit dem personalplanerischen Interesse der Landeskirchen, die dem absehbaren Pfarrermangel begegnen wollen und müssen. Vor diesem Hintergrund haben sich in den letzten Jahren die Studiengänge und Vikariatsformate erheblich ausdifferenziert, so dass inzwischen eine Vielzahl an Zugängen zum Pfarrberuf besteht. Die ELKB eröffnet seit 1999 im Studiengang ‚Pfarrverwalter‘ an der Augustana-Hochschule auch Personen mit einem nichttheologischen Erstberuf den Zugang zum Pfarrberuf.22 Eine etwas andere Konzeption liegt beispielsweise in Marburg (seit 2007) und Heidelberg (seit 2013) vor, wo es möglich ist, berufsbegleitend Theologie zu studieren und mit einem ‚Master‘ abzuschließen. Anfangs herrschte in manchen Landeskirchen gegenüber diesen neuen Studiengängen Skepsis und nicht überall wurden die Absolvent*innen der Masterstudiengänge zum Pfarrberuf zugelassen. Mit der „Rahmenstudienordnung und Rahmenprüfungsordnung für den Weiterbildungsstudiengang Evangelische Theologie mit dem Abschluss ‚Master of Theological Studies‘ (M.Th.St.)“23 ist 2018 eine EKD-weit einheitliche Grundlage geschaffen, auf der theologische Fakultäten und kirchliche Hochschulen Studiengänge für Quereinsteiger*innen einrichten können. Allerdings entsprechen „Umfang und 21
22
23
Im Hintergrund steht die Idee von New Work, nach der gilt: „Die klassische Karriere hat ausgedient, die Sinnfrage rückt in den Vordergrund.“ https://www.zukunftsinstitut.de/ dossier/megatrends/#12-megatrends (letzter Zugriff 04.08.2022). Vgl. https://augustana.de/studium/pfarrverwalterinnen.html (letzter Zugriff 04.08.2022), wo auch vom früheren „Seminar für Spätberufene“ berichtet wird, aus dem der Studiengang Pfarrverwalter hervorging. http://evtheol.fakultaetentag.de/PDF/Rahmenstudienordnung%20Master%20of%20Theo logical%20Studies.pdf (letzter Zugriff 15.09.2022).
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Vertiefungsgrad“ der theologischen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Masterabsolventen in der Regel nicht dem einer Absolventin eines „grundständigen“ Theologiestudiums, so dass die Rahmenstudienordnung eine Nachqualifizierung in Vikariat und Probedienst vorsieht.24 Damit ist für den Master of Theological Studies vorausgesetzt, dass das Maß an theologischer Kompetenz, das für die pastorale Praxis erforderlich ist, nur über alle drei Bildungsphasen hinweg erreicht werden kann. Neben den verschiedenen Varianten innerhalb der „ersten“ Ausbildungsphase, haben sich auch ergänzende Optionen für die „zweite“ Ausbildungsphase etabliert. So führen etwa in der ELKB auch das „Fortbildungsvikariat“ und das „Ehrenamtsvikariat“ in den Pfarrberuf.25 Als jüngstes Sondervikariat innerhalb der EKD hat das „Nachqualifizierungsvikariat“ von sich Reden gemacht, mit dem die Nordkirche für „kirchlich bewährte Mitarbeitende“ eine Kombination von Masterstudiengang und Vikariat anbietet, ein Weg zum Pfarrberuf, der einem dualen Ausbildungssystem ähnelt.26 Sowohl aus den kirchlichen Debatten um Interprofessionalität als auch durch die erhebliche Diversifizierung in der theologischen Bildungslandschaft erwächst ein produktiver Klärungs- und Profilierungsdruck bezogen auf das Pfarrbild. Denn die Neukonzeptionen von Studiengängen und Vikariaten bedeuten eine Vervielfältigung der Wege in den Pfarrberuf, die einerseits eine Bereicherung darstellt, andererseits die Frage nach der Einheit des Pfarrberufs virulenter werden lässt. Nicht nur auf pastoraltheologischer Ebene stellt sich die Frage nach der pastoralen Identität, sondern ganz konkret am Ort derer, die auf den Beruf zugehen oder ihn ausüben: Wie ist das eigene Pfarrbild zu beschreiben im Verhältnis zu Vertreter*innen anderer kirchlicher Berufsgruppen und wie im Verhältnis zu Personen mit anderen Bildungswegen, aber demselben Beruf(sziel)? In der Debatte darum, was einen Pfarrer, eine Pfarrerin ausmacht, hat sich der Aspekt der „theologischen Leitung“ herauskristallisiert. Kirchenleitende Personen wie auch ehrenamtlich Tätige fordern sie sehr deutlich von Pfarrer*innen ein. Diese sehen in der Leitung allerdings nicht unbedingt ihre zentrale Aufgabe, wie mehrere Untersuchungen belegen.27 Womöglich stellt nicht 24
25
26 27
I § 1 (4) Rahmenstudienordnung und Rahmenprüfungsordnung für den Weiterbildungsstudiengang Evangelische Theologie mit dem Abschluss ‚Master of Theological Studies‘ (M.Th.St.). Vgl. https://www.pfarrer-in-bayern.de/fortbildungsvikariat-192.php und https://www. pfarrer-in-bayern.de/vikariat-im-ehrenamt-290.php (letzter Zugriff 05.08.2022)]. https://www.pfarrberuf-nordkirche.de/alternative-wege (letzter Zugriff 04.08.2022). Der Abschlussbericht des Pfarrbildprozesses der ELKB dokumentiert, dass nur 30 % der Pfarrer*innen, aber 90 % der Kirchenvorsteher*innen die (Gemeinde-)Leitung als wesentliche pastorale Aufgabe verstehen, vgl. Berufsbild Pfarrerin, Pfarrer, Abschlussbericht des Projektleiters OKR Dr. Stefan Ark Nitsche vorgelegt auf der Landessynode in Schweinfurt im November 2015, 9, http://www.berufsbild-pfr.de (letzter Zugriff 04.08.2022). In eine
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die Diskrepanz von Fremd- und Selbstdeutung ein Problem dar, sondern die Unschärfe dessen, was mit dem Begriff der (theologischen) Leitung gefasst werden soll. Denn auch wenn seit Schleiermacher der Pfarrberuf als Leitungsberuf verstanden wird, zeichnet sich auch in jüngeren pastoraltheologischen Debatten noch kein Konsens zur inhaltlichen Füllung des fraglichen Topos für den gegenwärtigen kirchlichen Kontext ab.28 Wenn Studierende, Vikar*innen und Pfarrer*innen vor die Aufgabe gestellt sind, sich gerade für ihr Leitungshandeln in der Kirche eine normative Vorstellung vom Christentum zu machen, dann schließt das ein konturiertes Pfarrbild grundlegend mit ein. Folglich müssen die Pluralisierung der Pfarrbilder und der Werdegänge zum Pfarrberuf in den Bildungsphasen zum Thema werden und zwar dergestalt, dass die Diskussionsrunden eben diese Vielfalt abbilden und konkret werden lassen. Durch eine Vermessung des weiten pastoraltheologischen Feldes, die generationenübergreifend und sensibel für unterschiedliche Berufsbiographien erfolgt, wird die Suche nach dem einen und eigenen Pfarrbild durch den Eindruck der Vielzahl von Pfarrbildern zunächst erschwert. Womöglich wächst aber zugleich die Erkenntnis, dass die aktuelle Ungewissheit bezüglich des eigenen Standpunktes für viele Studierende, Vikar*innen und Pfarrer*innen gleichermaßen gilt, ebenso wie die Ungewissheit über das „Ergebnis“ des aktuellen Wandels im Pfarrberuf. Genau diese Verbundenheit mag den nötigen Mut zur Selbstklärung befördern.29
28
29
ähnliche Richtung weisen empirische Untersuchungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD unter Pfarrer*innen. Stephan Pohl-Patalong fasst zusammen, dass „ein angespanntes Verhältnis der Befragten zum Thema ‚Leitung‘ deutlich [werde], und zwar sowohl in ihrem Verhältnis zu denjenigen, von denen sie geleitet werden als auch in Bezug auf ihr eigenes Leitungshandeln. Diese Haltung trägt aus unserer Sicht mit Sicherheit zur Überlastung bei, weil Auseinandersetzungen um Leitung oder fehlende Leitung sehr viel Energie verschleißen.“ STEPHAN POHL-PATALONG: Die diffuse Vielfalt der Erwartungen. Beobachtungen von Organisationsberatern zu den Stressfaktoren im pastoralen Beruf, in: Zufrieden – gestresst – herausgefordert. Pfarrerinnen und Pfarrer unter Veränderungsdruck, i. A. des sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD hg. v. GUNTHER SCHENDEL, Leipzig 2017, 94–115, 106. Vgl. SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung (s. Anm. 9), § 5. Den pastoraltheologischen Fokus ganz auf das Leitungsthema richtet JAN HERMELINK: Von der theologischen zur kybernetischen Kompetenz. Aufgaben und Qualifikationen der Pfarrerin, des Pfarrers im Gefüge kirchlicher Akteure, in: SCHRÖDER (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden (s. Anm. 3), 445–461. In der weiteren Diskussion um theologische Leitung wird es auch darum gehen, sie mit der Debatte um „Geistliche Leitung“ ins Verhältnis zu setzen, vgl. dazu immer noch aktuell EKD, Geistlich Leiten – Ein Impuls. Kirche im Aufbruch, epd-dokumentation 6 (2012). Der hier angedeutete Effekt, dass Ungewissheit verbinden und neue Energie freisetzen kann, war in den Hochphasen der Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 gerade für die zweite Bildungsphase gut beobachtbar: Plakativ gesprochen waren sonst Vikar*innen Berufsanfänger*innen und Mentor*innen sowie Studienleitende berufserfahrene Lehrende. Nun waren alle Beteiligten gemeinsam Anfänger*innen in der Frage nach der kirchlichen Arbeit unter pandemischen Bedingungen. Inwiefern diese Disruption nachhaltige didaktische Wirkung gezeitigt hat, wäre zu untersuchen.
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Subjektorientierung in der Didaktik
Bei der Überlegung, was den Einzelnen dazu dient, sich in ihrem jeweiligen Kontext eine produktive Leitvorstellung vom Christentum zu machen, ist selbstredend auch die Ebene der Didaktik zu bedenken. Dabei soll der Fokus zunächst auf die ersten beiden Bildungsphasen gerichtet sein. Lange Zeit war hier wie da eine starke Sachlogik leitend, mit dem Ziel der theologischen Allgemeinbildung bzw. dem Generalistentum in der pastoralen Praxis. Fragen nach einem Bildungskanon und den zu lernenden Inhalten spielten eine wichtige Rolle. Die Didaktik der ersten beiden Bildungsphasen war aber nicht nur in hohem Maß durch diesen Sachbezug gekennzeichnet, sondern auch durch je historisch und kontextuell bedingte Reflexionskulturen geprägt. Dem theorieorientierten, auf gedankliche Konsistenz zielenden Lernen im Studium folgte im Vikariat ein erfahrungsbasiertes und auf reflektierte Praxis ausgerichtetes Lernen.30 Beides ruft Bilder auf, die längst zum Klischee geronnenen sind: Studierende, die über neunzig Minuten eine Vorlesung hören, ohne je ein Wort zu sagen. Daneben der Kurs von Vikar*innen, der sich um eine gestaltete Mitte schart und Wahrnehmungen zu einem gegebenen Sachverhalt teilt. Dem mögen nie reale Sozialformen des Lernens entsprochen haben. Das Körnchen Wahrheit der imaginierten Bilder liegt darin, dass die Lernenden – strikt nach Phasen getrennt – oft als primär passive Rezipienten vorgestellt waren, denen man die jeweils als adäquat erachtete Bildung angedeihen lassen wollte. Bezüglich der curricularen Sachlogik und der phasenspezifischen Sozialformate und Methoden zeichnet sich seit geraumer Zeit Bewegung ab. Die didaktischen Problemstellungen ändern sich: „Gestalten wir Bildung für das Gestern oder für das Morgen? Fragen wir ‚was‘ oder ‚wie‘? Sind wir gesättigt oder neugierig? Bewerten wir oder ermöglichen wir? Vermitteln wir Antworten oder suchen wir nach Lösungen?“31 Insbesondere die letzte Frage bringt den Wandel in der Didaktik auf den Punkt. Es geht nicht (nur) um Wissensvermittlung der Lehrenden an die Lernenden. Vielmehr werden die Lernenden als die zentralen Akteure ihrer Bildungsprozesse verstanden. Sie sind es, die entscheiden, was sie als relevante Aspekte ihrer theologischen Bildung aufnehmen und in ihr Leitideal vom Christentum integrieren – und was nicht. Der Blickwechsel auf die Subjekte theologischer Bildung hat weitreichende Implikationen. Es ist zur zentralen didaktischen Aufgabe der Lehrenden geworden, den „Bildungswert des Bildungsgegenstands aus der Perspektive der sich
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Zu den Gegenüberstellungen vgl. BERND SCHRÖDER: Ausblick und Aufgaben, in: DERS. (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden (s. Anm. 3), 573–583, 577. NELE HIRSCH: [#eBildungslabor], Tweet vom 23. Juni 22.
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Bildenden“32 auszuweisen.33 Als didaktischer Ansatz, der diesem Anspruch in besonderer Weise nachkommt, darf die Kompetenzorientierung angesehen werden. Demnach geht es in allen Bildungsprozessen darum, dass die Lernenden sich Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten aneignen, um sie in variablen Situationen mit der notwendigen Haltung selbstständig anwenden zu können.34 Sie zielen also darauf, dass die Lernenden in neuen, unbekannten Kontexten selbstverantwortet denken und handeln und zu eigenständigen Lösungen der in diesen Kontexten einschlägigen Fragen gelangen. Während die Subjektorientierung in der Didaktik für die ersten beiden Bildungsphasen einen echten Wandel darstellt, ist sie in der dritten Phase deutlich besser eingeübt: Fortbildungen für Pfarrer*innen sind schon immer als Erwachsenenbildungsangebote konzipiert und immer auch an der (vermuteten) Nachfrage orientiert. Die Anliegen der Lernenden auch in der ersten und zweiten Bildungsphase aufzunehmen, bedeutet, sie in Einklang mit den Interessen der Lehrenden zu bringen. Das ist nicht trivial: Studierende treffen an den Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen auf Lehrpersonen, die immer auch Forschende sind und daher (mitunter recht spezifische) Eigeninteressen verfolgen, die mit einem meist viel allgemeinerem Interesse der Studierenden konkurrieren. Vikar*innen sehen sich in Predigerseminaren Vertreter*innen der späteren Dienstgeberin und deren Erwartungen gegenüber. Ein Interessenausgleich zugunsten eines gelingenden Bildungsprozesses erfordert zuallererst von den Lehrpersonen eine Selbstzurücknahme im Steuerungswillen dessen, was (im Detail) zu lernen sei. Mögliche didaktische Konsequenzen sind etwa die Kombi-
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OLIVER REIS: Kompetenz- und professionsorientierte Didaktik. Grundformen des Theologiestudiums, in: SCHRÖDER (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden (s. Anm. 3), 465–476, 466. Um diese Perspektive zu erhellen, wird regelmäßig Anleihe genommen an dem sozialtheoretischen Interpretament der „Generationen“, mit deren Hilfe bestimmte Alterskohorten bezogen auf ähnliche Lebens- und Interessenlagen beschrieben werden. Der aktuell teils noch im Studium, vor allem im Vikariat und teils schon in Fortbildungen befindliche Personenkreis wird als „Generation y“ typisiert. Der Generation y werden (je nach Modell leicht variierend) die Geburtenjahrgänge zwischen 1980 und 1999 zugeordnet. Als deren charakteristische „Merkmale“ firmieren unter anderem ein ausgeprägtes Bewusstsein für die eigene „Singularität“ (Reckwitz) sowie das Bedürfnis nach Freiheit und Flexibilität. Dem entspricht die Beobachtung, dass einseitig vorgegebene Lerninhalte von Studierenden und Vikar*innen kritisch hinterfragt werden. Die Rede von der Generation y hat nicht nur in der Didaktik, sondern auch in der Pastoraltheologie Eingang gefunden, vgl. JULIA KOLL: Eine neue Generation im Pfarrberuf. Was die Kirche von ihrem Nachwuchs lernen kann, in: DPfbl 2 (2018), 64–69. Am weitesten verbreitet dürften Überlegungen zur Generationenfrage in der freien Wirtschaft sein, wo Unternehmer*innen junge Arbeitskräfte halten und gewinnen wollen. Vgl. exemplarisch STEFFI BURKHART: Die spinnen, die Jungen! Eine Gebrauchsanweisung für die Generation Y, Offenbach 2016. Vgl. z. B. REIS, Kompetenz- und professionsorientierte Didaktik (s. Anm. 32). Die kritische Diskussion zur Kompetenzorientierung hinsichtlich einer Ökonomisierung von Lernprozessen sei hier nur benannt.
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nation von Pflichtprogramm und Wahlprogramm oder ein differenziertes Angebot von Lern- und Arbeitssettings in heterogenen Gruppen. Hinsichtlich der Didaktik zeigt sich, dass in der dritten Bildungsphase bisher schon stark die Perspektive der Teilnehmenden einbezogen wird. Für die erste und zweite Bildungsphase besteht in der Subjektorientierung noch Nachholbedarf. Es gilt, Lernsettings passgenau zu gestalten sowie flexible und stärker individualisierte Bildungsprozesse zu ermöglichen – nicht um einer didaktischen Mode willen, sondern um der Bildungsaufgabe der Teilnehmenden willen, eine individuelle, reflektierte und möglichst förderliche Leitvorstellung des Christentums zu generieren.
5.
Leitfragen für Lehrende
Die kurzen Skizzen zur strukturellen, inhaltlichen und didaktischen Ebene der drei Bildungsphasen zeigen Tendenzen, die die geforderte Synthetisierungsleistung von (angehenden) Pfarrer*innen unterstützen. Ist in organisationeller Perspektive einerseits noch ein „Neben- und Nacheinander“ beobachtbar, werden andererseits Strukturen beweglicher und Systeme stärker miteinander vernetzt. Dadurch bieten sich mehr Gelegenheiten zu generationen- und phasenübergreifendem Austausch. Dieser Austausch kann dazu anregen, den eigenen Blick zu weiten und zugleich in der Vielzahl der Ansichten eine eigene Position zu finden, auch und gerade bezogen auf das eigene Pfarrbild, in das die teils umstrittene Leitungsfunktion von Pfarrer*innen als integraler Bestandteil einzubeziehen ist. Auf der Ebene der Didaktik werden allerorten Anstrengungen unternommen, die die lernenden Subjekte zentral miteinbeziehen. In diesem Sinn passgenauere Bildungsprozesse ermöglichen ein stärker selbstgesteuertes und nachhaltigeres Lernen. Um die aufgezeigten Tendenzen konstruktiv weiter zu fördern, kommt es wesentlich auch auf die Lehrpersonen an.35 Auf sie sei daher zum Schluss noch der Blick gerichtet anhand einer anekdotischen Beobachtung aus der zweiten Bildungsphase. Viele Vikar*innen halten es (ausdrücklich oder dem Anschein nach) in Kurseinheiten im Predigerseminar für nur bedingt hilfreich, wenn eine Diskussion zu kirchlichen Papieren oder einzelnen wissenschaftlich-theologischen Thesen eröffnet wird. Für die damit eigentlich intendierte Ausbildung einer eigenständigen theologischen Position im Sinne einer Aneignung ist das offensichtlich zu wenig. Ein beliebiges Bespiel: Für einen Austausch zum Thema 35
Nach seiner maximal breitenwirksamen Metastudie zu Lernprozessen „Visible learning“ aus dem Jahr 2009 hat John Hattie verstärkt Rolle und Funktion von Lehrpersonen erforscht, insofern diese – nach den Lernenden – die zweitwichtigsten Faktoren in Bildungsprozessen darstellen. Vgl. JOHN HATTIE / KLAUS ZIERER: Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis, Baltmannsweiler 2016.
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Ordination werden das VELKD-Papier „Ordnungsgemäß berufen“ und/oder Einzelpositionen gelesen.36 Damit sehen sich Vikar*innen zwar durchaus von kirchlicher und wissenschaftlich theologischer Seite informiert. Doch werden Studienleitende eindringlich gefragt: „Wie sehen Sie das denn?“, und es folgt meist sofort die Präzisierung, man wolle die konkrete Position des*der Studienleitenden hören, nicht um sich ihr unmittelbar anzuschließen, sondern um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dabei wird aber offensichtlich gar nicht primär die Kundgabe eines inhaltlichen Standpunkts erwartet. Damit wäre wieder nicht mehr gewonnen als eine weitere Information. Es scheint vielmehr darum zu gehen, an der Person der Studienleitenden als Vertreter*innen der Kirche abzulesen, wie sie die eigene theologische Position gefunden haben und mit deren Konsequenzen umgehen. Viele Vikar*innen suchen anscheinend für das Herausbilden und Formen ihrer Standpunkte weniger Sachgehalte als ‚Role Models‘ für das Generieren einer Position und den Umgang mit Sachgehalten.37 Mit Bezug auf den bereits zitierten Tweet: Die nötige Orientierung bietet weniger das „was (ist dein Standpunkt)?“, also die Frage nach dem Inhalt, als das „wie (bist du dazu gekommen)?“, also die Frage nach dem modus operandi.38 Ein Grund für das gestiegene Interesse an Rollenmodellen auch in der theologischen Bildung mag darin liegen, dass der Selbstanspruch vieler Vikar*innen in Sachen Positionierung hoch ist, insofern sie ihre Standpunkte „authentisch“39 vertreten wollen. Die Bildung bzw. Aneignung einer Position erfolgt zu einem hohen Maß im Abgleich mit der eigenen Person. Dem Kriterium der persönlichen Stimmigkeit ist im Verhältnis zum Kriterium der Übereinstimmung mit einem kirchlichen Konsens oder der theologischen Tradition erhebliche Bedeutung zugewachsen.40 Vor diesem Hintergrund ist die Suche nach Orientierung 36
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Lutherisches Kirchenamt der VELKD, „Ordnungsgemäß berufen“. Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD zur Berufung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach evangelischem Verständnis, Hannover 2006. DOROTHEA WENDEBOURG / GUNTER WENZ: Nur ein Streit um Worte? Wer in der evangelischen Kirche den Gottesdienst leiten darf, in: Zeitzeichen 8 (2005), 54f. Diese Beobachtung aus den Praxisvollzügen in einem Predigerseminar lässt sich fachwissenschaftlich belegen und nachlesen etwa bei REIS: Kompetenz- und professionsorientierte Didaktik (s. Anm. 32), 475. Die hier skizzierte Beobachtung steht in ihrer Konsequenz dem Vorschlag von Christan Albrecht nahe, der eine praxeologische Perspektive für das Theologiestudium einbringt, CHRISTIAN ALBRECHT: Probleme statt Ideen. Zur Integration praxeologischer Perspektiven in das Theologiestudium, in: CHRISTIAN ALBRECHT / REINER ANSELM: Differenzierung und Integration. Fallstudien zu Präsenz und Praktiken eines Öffentlichen Protestantismus, Tübingen 2020, 147–163. Eine ebenso kurze wie instruktive Diskussion der Authentizität im Pfarrberuf bieten ERICHSEN-WENDT / RUCK-SCHRÖDER: Pfarrer:in sein (s. Anm. 18), 113–121. Zur hier angedeuteten Vermittlungsaufgabe von Individuum und Allgemeinheit im Pfarrberuf vgl. unübertroffen CHRISTIAN ALBRECHT: Gebildete Souveränität. Pastoraltheologische Argumente für die neue Einübung eines alten Zieles theologischer Ausbildung, in: ZThK 114 (2017), 315–329.
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nur allzu verständlich. Denn wenn eine Position überwiegend durch die Person begründet ist (oder dem Selbstanspruch nach derart begründet werden muss), steht mit der Position immer auch die Person infrage. Damit ist Positionierung ein riskantes Unterfangen geworden. Der nötige Mut dazu kann entstehen, wenn Lehrpersonen in der Funktion von Rollenmodellen transparent machen, auf welche Weise sie zu ihren Positionen kommen und damit ihre Muster des Gelingens und Scheiterns aufzeigen. Die skizzierte Beobachtung zum Ringen um einen Standpunkt auf einem begrenzten Themenfeld lässt sich ohne Weiteres übertragen auf die zur Rede stehenden Aufgabe, sich im Sinne der theologischen Bildung je und je eine bestimmte Vorstellung des Christentums zu machen. Es geht für Lernende aktuell vielleicht mehr als bisher darum, dass Lehrende sich auch als Personen zeigen – und das nicht nur in der zweiten Bildungsphase. Zu dieser These lassen sich für die Akteure jeder Bildungsphase Leitfragen generieren: Der Dozent an der Universität und ganz sicher der Dozent an der kirchlichen Hochschule kann sich im Anschluss an Schleiermachers enzyklopädischer Frage klären, wo und wie er seine Veranstaltung in Verbindung und Abgrenzung zu den anderen theologischen Fächern versteht. Darüber hinaus scheint es geboten, dass er sich und den Studierenden auf die Frage zu antworten vermag, inwiefern er die in seiner konkreten Veranstaltung traktierten theologischen Gehalte mit aktuellen kirchlichen Entwicklungen und den Anforderungen im Pfarrberuf ins Verhältnis setzt. In ähnlicher Weise muss die Studienleiterin im Predigerseminar sich und gegenüber den Vikar*innen Rechenschaft darüber ablegen, wie sie die Transformationsprozesse in Kirche und pastoraler Praxis vor dem Hintergrund ihrer theologisch begründeten Idee vom Christentum erlebt und deutet. Sodann mögen sich in der Fortbildung tätige Pfarrer*innen darüber Auskunft geben, wo und wie sie aus einem ‚update Theologie‘ ein ‚upcycling Theologie‘ machen, durch das für sie aus Wissen ein Verstehens- und Deuteinstrument für die kirchliche und berufliche Lebenswirklichkeit erwächst. Die hier genannten Fragen mögen abstrakt und prima facie äußerlich scheinen, in jedem Fall nicht den Kern der Forderung zu treffen, dass sich Lehrende mitunter auch als Personen zeigen. Allerdings sind ernsthafte Antworten auf diese Fragen überhaupt nur möglich, wenn sie an einem bestimmten Sachverhalt und eben in persona konkret werden. Wo Lehrende zu erkennen geben, wie sie das Christentum vor dem Hintergrund ihres theologischen Wissens und ihres theologischen Urteilsvermögens erschließen, führen sie den Lernenden die vornehmliche theologische Aufgabe vor Augen. So können Lernende Bildungsprozesse nachvollziehen, die sie selbst zu leisten haben.
Machen ist wie wollen – nur krasser
Machen ist wie wollen – nur krasser Sabrina Wilkenshof
SABRINA WILKENSHOF
Der Liturg steht am Altar, der Gottesdienst beginnt: „Wir wollen vor Dich treten und Dir sagen, was unser Herz belastet. Wir wollen Deine Nähe spüren und aus Deiner Vergebung leben!“ „Na, dann mach doch! Warum willst Du nur und machst es nicht einfach!“, würde ich am liebsten laut rufen. Aber ich sitze im Gottesdienst einer fremden Gemeinde in der letzten Bank und kann mir nicht vorstellen, dass diese Reaktion jetzt passend wäre. Aber ich halte das bloße Wollen nicht mehr aus. Ich will (ich will nämlich auf der anderen Seite sehr wohl auch etwas) beten. Ich will Gottesdienst feiern. Da sein. Die einzige Stunde in dieser Woche, in der grade niemand etwas von mir will (!), will ich hier sein. In dieser Kirche. Die Orgel hat gespielt und die anderen wollen anscheinend jetzt dasselbe wie ich. Nicht alleine sein mit ihren religiösen, menschlichen, alltäglichen, existenziellen Gefühlen. Aus irgendeinem Grund brauchen wir, die wir hier sind, alle den Sonntag, 10 Uhr, dazu, um unsere Fragezeichen zu klären, unsere Hoffnungen zu füttern und das Gedachte und Gemachte der letzten Woche irgendwie zusammenzubringen. Und wir waren der Ansicht, dass das hier ein guter Ort dafür wäre. (Die Konfirmand*innen in der 3. Reihe links wollten heute eigentlich lieber ausschlafen, aber für Ausschlafen gibt es keine Unterschrift auf dem zusammenkopierten hellblauen Heftchen.) Ja, wir wollen das. In unterschiedlichen Färbungen und Schattierungen und dennoch haben wir ein irgendwie geartetes religiöses Interesse, das wir gerne hier ausleben wollen. Aber wir schweigen dabei. Wir ziehen es auch vor, größtenteils zu schweigen, denn darum sind wir in einen landeskirchlichen Gottesdienst gegangen. Das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis sprechen wir gerne mit, das ist unpersönlich genug. Aber den Rest – den soll jemand anders für uns sprechen. Für ungefähr 50 Minuten geben wir den Job des Deutens, Nachdenkens, Formulierens an jemand anderen ab, an den oder die mit dem Talar, der oder die alles macht: aus der Bibel lesen, beten, Abendmahl verteilen. Ach ja, das ist auch gut: aufstehen, essen und trinken, die anderen vielleicht ein bisschen anschauen dabei. Sogar den feierlichen Händedruck machen wir mit. Aber: Den ganzen Rest – das Deuten, Beten, Aussprechen: Das macht bitte die Person da vorne. Also mach es auch! Warum willst Du nur vor Gott treten? Du bist doch grade da, oder? Warum willst Du nur sagen, was Dein Herz belastet? Sag es doch einfach! Und bitte, sag es wirklich. Ich bin sicher, ich kann auch etwas damit anfangen: Mit Deiner Wut über Deine Unfähigkeit. Mit Deiner Ungeduld. Mit Deiner Traurigkeit über die verpassten Chancen. Das alles hab ich auch.
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Sabrina Wilkenshof
Und die neben mir genauso. Ich will keine Platzhalter hören. Keine Aufbewahrungsboxen für Gefühle, Lebensfragen und Schicksalsmomente – sondern ich will die Inhalte selbst. Und ich will, dass Du da vorne etwas damit machst. Wirf den Schmerz auf den Boden und trample darauf herum. Wirf Deine Freude in den Himmel und sing Gloria dazu. Kleb die ausgerissenen Seiten wieder zusammen und von mir aus, nimm dazu den Goldkleber nach Kintsugi, den wir inzwischen alle kennen. Aber bitte: Mach es. Im Gottesdienst und auch sonst in der Kirche. Mehr machen, weniger wollen! Meine Forderung nach „mehr machen“ beinhaltet dabei nicht, weniger zu reflektieren, weniger wissenschaftlich nachzuforschen, oder weniger theoriebegründet zu handeln. Es geht mir vielmehr darum, dem Reflektieren, Beschreiben und Erklären wieder den Ort zurückzugeben, den es verdient hat und im Gegenzug einen Ort zu schaffen, der frei von dieser beschreibenden Sprache und der ihr innewohnenden Zurückhaltung ist: Im Gottesdienst geht es nicht darum, zu erklären, wie das Leben zur Zeit Jesu sich gestaltete oder wie die Tauftheologie des Paulus funktioniert. Das alles wissen Pfarrerinnen, Prädikanten und Lektorinnen, sie müssen das aber nicht weitergeben als das Wissen aus Büchern. Der Theologe und Schriftsteller Christian Lehnert erzählt davon, wie die hastig dahingelesene Evangeliumslesung in einer bis auf drei Menschen leeren Dorfkirche im sächsischen Land ihn berührt hat – während die Pfarrerin innerlich schon beim nächsten Gottesdienst in einer halben Stunde war. Der biblischen Lesung war das egal. Den verstaubten Fenstern, in denen sich das Licht bricht und dem rostroten Teppich zwischen den Bankreihen auch. Lehnert spricht von der Liturgie als einer „Gottesgebärerin“, die „zugleich eine Gottesgeburt [sei]“1. Beides sei unmittelbar aufeinander bezogen. Und auf diesem Wege werde auch der liturgische Sprecher als solcher erst geboren: „Die Formel folgt nicht einem Sprecher – sie geht dem voraus, was ich sei. Wer da betet, wird erst in den Worten wirklich. Singe ich? Werde ich gesungen? […] Und ich spreche mit, werde gesagt, bin eine Vermehrung des Wortes […]. Wenn es ,mich‘ als Betenden gibt, dann nur von Gott her, der ,mich‘ als einen solchen ansieht.“2 Wenn der Liturg nur „vor Gott treten will, nur nah sein will, nur geheilt werden will“, wie ich es zu Beginn meines Beitrags beschrieben habe, vergisst er eben das: Dass es ihn als Betenden im Gottesdienst nur von Gott her gibt. Indem er so zögerlich und vorsichtig formuliert, negiert er die Gewissheit, aus der heraus er beten könnte. Lehnert insistiert: Im Gottesdienst geht es nicht um Vermutungen. „Zur Sprache sollen letzte Gewissheiten kommen, seien sie auch nur so subjektiv empfunden. ,Ich glaube …‘, heißt hier, dass ein tiefes und bedingungsloses Ver-
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CHRISTIAN LEHNERT: Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 2017, 12. A. a. O., 71.
Machen ist wie wollen – nur krasser
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trauen artikuliert wird, eine Daseinsorientierung, die den Grund der Seele berührt.“3 Liturgen und Liturginnen haben die Möglichkeit, Zeugen und Zeuginnen des Heiligen zu sein, ohne ihr eigenes Suchen und Fragen, ihr Nichtwissen zu verleugnen. Die Leerstellen ihres Glaubens werden sichtbar, wenn sie predigen, erzählen, zweifeln und fragen. Sie müssen aber neben den klaren Gewissheiten des Glaubens stehen um auch als solche erkannt zu werden. Das Vollmundige der Sprache des Glaubens darf nicht verwässert und verwischt werden durch das Wollen, durch das Vielleicht und durch das Bisschen. Man kann nicht ein bisschen taufen, zögerlich Abendmahl feiern oder nebenbei gesegnet werden. Es braucht kein Orangenblütenöl im Taufwasser, damit es besser riecht, es braucht kein selbstgebackenes Brot beim Abendmahl, damit es besser schmeckt und man braucht kein Konfetti beim Segen, damit er sichtbar wird – und gleichzeitig sind das Feinheiten, die Pfarrerinnen und Pfarrer heutzutage ausprobieren, um die heiligen Momente ihrer Gottesdienste noch sinnlicher erfahrbar werden zu lassen. Eben weil sie zum Ausdruck bringen wollen, dass es nicht um Worte geht und auch nicht um die Bedingungen, die die Menschen, die zum Gottesdienst kommen, mitbringen. Liturginnen und Liturgen, die auf diese Art und Weise im Gottesdienst kreativ werden, wollen betonen, dass Gottes Nähe unbeschränkt und bedingungslos ist und unterstreichen die greifbaren Zeichen deswegen umso dicker. Auf der Social Media Plattform Instagram, die neben Werbefläche und Fotoalbum auch immer mehr Sinnstiftungsportal ist, gewinnen immer mehr Menschen jeden Alters auf diversen Profilen einen Eindruck von dieser neuen Art der Glaubenskommunikation, indem sie den Aktivitäten junger und älterer Pfarrer*innen dort folgen. Diese erzählen von ihrem Gemeindealltag, von Organisationsoverload, Dienstbesprechungen, dem alltäglichen Chaos zu Hause und immer wieder auch von ihren eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen in ihrem Arbeitsalltag. Sie sind offen und ehrlich, ohne die seelsorgerische Verschwiegenheit zu gefährden, rollenbewusst und trotzdem zugänglich. Und sie bekommen Nachrichten mit Botschaften wie: „Bei Dir würde ich auch mal gern in einen Gottesdienst gehen.“ Ich glaube, die Gottesdienste dieser Kolleginnen und Kollegen sind größtenteils gar nicht so anders als die üblichen landläufigen Gottesdienste. Aber durch das Hintergrundwissen über die persönlichen Empfindungen ihrer Pfarrerinnen und Pfarrer, entsteht bei den User*innen der Eindruck, hier wäre jemand besonders echt, nahbar und ehrlich – auch im Gottesdienst. Das mag oftmals eine Illusion sein, was aber zählt ist: Menschen, die religiösen Inhalten und kirchlichen Sinnstiftungsangeboten offen gegenüberstehen, wollen in den meisten Fällen nicht informiert oder unterrichtet werden, sondern auf die Glaubenswege derer mitgenommen werden, die bereits dort sind, wo es interessant sein könnte. Mit Bildern, Geschichten, Eindrücken, Emotionen – und dann immer wieder auch mit Texten, die davon er3
A. a. O., 144f.
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Sabrina Wilkenshof
zählen. Show don’t tell – die alte Qualitätsregel für guten Journalismus ist auch ein Qualitätsmerkmal kirchlicher Kommunikation. Dabei geht es nicht darum, dass wir „bessere Gottesdienste“ feiern müssen, damit mehr Leute zu uns kommen, sondern darum, als kirchliche Akteure offen zu zeigen, was uns begeistert und trägt. Ich vermisse das Machen in der Kirche. Und das, obwohl ich eine große Liebhaberin von Worten bin. Oder vielleicht gerade deshalb: Religiöse Sprache hat immer eine performative Dimension, etwa in der Offenbarung biblischer Gottesbilder oder der johanneischen Logos-Theologie. Die Performanz religiöser Sprache hat ihren Ursprung in Erzählungen vom konkreten Handeln Gottes, das wir in in Metaphern und Bildern wiederfinden: In der Geborgenheit eines Weidenkörbchens oder eines Fischbauches. Da umgeben die dunkelgrünen Wasser die, die sich davonretten. Sie bleiben drei Tage im Bauch des Fisches oder solange, bis man sie findet. Andere wieder werden satt vom Manna, das vom Himmel fällt. Oder vom Brot, das sich vermehrt, so dass es für alle reicht, nach was auch immer sie gerade hungern. Und die Nähe Gottes, die der Liturg, den ich eingangs zitiert habe, spüren will? Vielleicht ist sie so wie bei Zachäus, der erst einmal Abstand brauchte, um besser zu sehen. Und dann darf Zachäus runter kommen von seinem hohen Ross, das eigentlich ein Baum ist und sich an seinen eigenen gedeckten Tisch setzen. Mit Wein spülen sie die salzigen Tränen runter und das Brot tunken sie in glänzende Aussichten. Er und Jesus, Meister der Performanz. Performative Sprache in der Kirche muss genau das sein: elementar, nah und klar. Damit ist sie unbeabsichtigt jesuanisch, barrierefrei und zeitlos. Und das Beste daran: Sie wird uns direkt zum Handeln selbst führen. Dazu, nicht mehr mit dem Abendmahl zu geizen, nur weil der zweite Gottesdienst ja auch noch vor 12 Uhr und Schweinebraten zu Ende sein muss. Dazu, das Taufbecken jeden Sonntag randvoll zu machen, so als ob wir drei Kinder taufen dürften. Stattdessen kühlen wir eben unsere erhitzten Gemüter darin und denken daran, ein kleines katholisches Fläschchen damit zu füllen und es uns auf den Schreibtisch zu stellen, zur Abkühlung, wenn der Kopf raucht. Das Licht der Welt zünden wir an. Mit Fackeln, die wir auf die Kirchenvorstandsklausur mitnehmen, als wären wir auf einer Kinderfreizeit und als würden wir uns danach Gruselgeschichten erzählen. Das tun wir ja schließlich auch, wenn wir Stellen streichen müssen und es so wenige Jugendliche gibt und schon lange niemand mehr den Tischkicker benutzt hat. Also los, ziehen wir los mit den Fackeln und werfen sie danach ins Lagerfeuer. Es knistert und es wärmt und genauso soll es sein in unseren Gottesdiensten. Dass viele etwas wollen und es dann auch erleben: Die Geborgenheit und die Stille. Sattwerden an Leib und Seele. Ich selber merke immer wieder, wie konservativ ich in liturgischen Fragen (geworden) bin: Ich würde nie im Leben Badeschaum ins Taufwasser kippen und ich will keine kleinen Regenbögen auf meinem Beffchen. Aber von mir aus lasse ich mich auch mit Konfetti segnen, wenn mir dabei zugesagt wird: „Du lebst in Gottes Nähe, aus Vergebung und in Freiheit. Du bist gesegnet.“
Evangelische Hochschule für angewandte Wissenschaft
Evangelische Hochschule für angewandte Wissenschaft
Aspekte zu einem eigenständigen Hochschultyp aus der Sicht einer Hochschulleitenden
Barbara Städtler-Mach
1.
BARBARA STÄDTLER-MACH
Kirchliche Hochschule und Hochschulen in evangelischer Trägerschaft: eine Unterscheidung der Begrifflichkeiten
Das 75-jährige Bestehen der Augustana-Hochschule Neuendettelsau ist neben der persönlichen Erinnerung an Studien- und eigene Lehrzeiten an dieser Hochschule ein willkommener Anlass, über den Hochschultyp ‚Kirchliche Hochschule‘ nachzudenken. Kirchliche Hochschulen sind Hochschulen, die – häufig staatlich anerkannt und teilweise auch staatlich refinanziert – in Trägerschaft der evangelischen oder katholischen Kirche stehen. Üblicherweise wird bei dem Wort Kirchliche Hochschulen an diejenigen gedacht, die im Wesentlichen das Theologiestudium und die entsprechenden Promotionsmöglichkeiten anbieten. Die geschichtliche Entstehung und ihr damit verbundenes Profil ist vor allem bei den Hochschulen, die ein Theologiestudium anbieten, vergleichbar. Der Ansatzpunkt für die Hochschulen, die nach 1945 entstanden sind, war ganz überwiegend die von staatlicher Einflussnahme unabhängige Möglichkeit zum Studium für zukünftige kirchliche Berufe.1 Daneben gibt es die Hochschulen – vielfach bislang als Fachhochschulen benannt –, die die Qualifikation in sozialen, pädagogischen und pflegerischen Berufen anbieten. Gerade durch das Spektrum von diakonischen Arbeitsfeldern, für die an diesen Hochschulen studiert werden kann, sind diese Hochschulen durch eine große Nähe zu Kirche und Diakonie oder Caritas gekennzeichnet. Der vorliegende Beitrag im „Blumenstrauß“ verschiedener Publikationen zum 75. Geburtstag der Augustana-Hochschule hat den zweitgenannten Hoch1
KLAUS RASCHZOK: 60 Jahre Augustana-Hochschule Neuendettelsau, in: HEMUT UTZSCHNEIDER (Hg.): 60 Jahre augustana in neuendettelsau. Dokumentation der Beiträge und Reden zum Jubiläumsjahr (Erträge. Sonderheft), Neuendettelsau 2007, 15–17.
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Barbara Städtler-Mach
schultyp zum Gegenstand. Die Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft, um die es in diesem Beitrag wesentlich geht, sind die ‚Hochschulen für angewandte Wissenschaft‘. Ich zeige am Beispiel der Evangelischen Hochschule Nürnberg auf, welche Entwicklungen in den letzten Jahren vollzogen wurden, worin das Profil dieses Hochschultyps liegt und was sein besonderer Beitrag für Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft sein kann. Die Entscheidung, meinen Beitrag zum Jubiläumsband der Augustana-Hochschule diesem Hochschultyp zu widmen, hat zwei Gründe. Der eine Grund ist ein fachlicher: Die Evangelische Hochschule Nürnberg, die Augustana-Hochschule Neuendettelsau und die Hochschule für Kirchenmusik Bayreuth sind die drei Hochschulen, die in der Trägerschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern existieren. Zwischen der Augustana-Hochschule und der Evangelischen Hochschule Nürnberg besteht dabei noch ein besonderer Zusammenhang: In der Grundordnung der Evangelischen Hochschule wird festgestellt: „Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben wirkt die Hochschule mit anderen Hochschulen und sonstigen Einrichtungen im kirchlichen und staatlichen Bereich zusammen. Eine besondere, vertraglich zu regelnde Zusammenarbeit besteht mit der AugustanaHochschule.“2 Es gibt also eine kirchengesetzlich geordnete Kooperation dieser beiden Hochschulen – auch wenn der Vertrag, den das Gesetz vorsieht, noch nicht verfasst und abgeschlossen ist. Der zweite Grund für diesen Beitrag im Jubiläumsband der Augustana-Hochschule ist ein persönlicher: Verschiedene Stationen meines akademischen Lebens – Beginn und Ende des Theologiestudiums, Promotion, Habilitation, Lehrstuhl-Vertretung – sind mit der Augustana-Hochschule verbunden. Gleichzeitig war ich über ein Vierteljahrhundert Professorin, Dekanin, Vizepräsidentin und zuletzt Präsidentin an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Ich habe also meinen eigenen Werdegang an einer Kirchlichen Hochschule vollzogen und gleichzeitig an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften in evangelischer Trägerschaft gelehrt, geforscht und sie acht Jahre lang geleitet. In eben dieser Mischung: erlebte Geschichte in der Augustana-Hochschule und gleichzeitig gestaltete Verantwortung für die Evangelische Hochschule Nürnberg, blicke ich auf diesen Gesamtkomplex.
2
EVANGELISCH-LUTHERISCHE KIRCHE IN BAYERN (Hg.): Grundordnung der Evangelischen Hochschule für angewandte Wissenschaften – Evangelische Fachhochschule Nürnberg, Kirchliches Amtsblatt 3/2014, 91–98, 91.
Evangelische Hochschule für angewandte Wissenschaft
2.
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Hochschulen für angewandte Wissenschaften in evangelischer Trägerschaft
Der größte Teil der Hochschulen in evangelischer Trägerschaft in Deutschland gehört zum Typ ‚Hochschule für angewandte Wissenschaften‘. Im Folgenden werden diese Hochschulen im Allgemeinen, dann im Speziellen hinsichtlich der Trägerschaft dargestellt.
2.1
Hochschulen für angewandte Wissenschaften
Zunächst ist vom Begriff her darzustellen, worum es bei diesem Hochschultyp geht. Der Name selbst ist aktuell nicht in allen Bundesländern gleich, wodurch mancherorts und vor allem in manchen Köpfen Unklarheit und falsche Vorstellungen entstehen. Noch immer werden diese Hochschulen in manchen Bundesländern als Fachhochschulen bezeichnet – mit einem Namen aus den 1970er Jahren, der beispielsweise in Bayern nicht mehr genutzt wird. Blicken wir zunächst auf das Grundverständnis dieses Hochschultyps: Bei den Fachhochschulen geht es ganz wesentlich darum, die Ausrichtung an einem wissenschaftlichen Beitrag in Lehre und Forschung anzuerkennen. Aus diesem Grund hat aktuell der Sprecherkreis der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) im Rahmen der Hochschulrektorenkonferenz ein Positionspapier eingebracht, das für eine bundesweit einheitliche Benennung plädiert.3 Darin wird zunächst konstatiert: „Seit den Gründerjahren der ersten Fachhochschulen gegen Ende der 1960er Jahre hat sich dieser damals neu eingeführte Hochschultyp maßgeblich verändert und sich in Struktur, Ausrichtung und Selbstverständnis entscheidend weiterentwickelt.“ Entsprechend dieser Veränderung hat die Mitgliederversammlung der HAWs bei der Hochschulrektorenkonferenz im November 2021 beschlossen, einen einheitlichen Namen zu gebrauchen: Der Begriff „Fachhochschule (FH)“ soll möglichst zeitnah in allen Bundesländern und insbesondere in allen Landeshochschulgesetzen durch die einheitliche Verwendung der Bezeichnung „Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW)“ abgelöst werden. „Mit HAW“ – so heißt es weiter – „verbinden wir nicht nur die Etablierung einer neuen Bezeichnung, sondern bringen vor allem die substanzielle, qualitative Weiterentwicklung auch in Folge des Bologna-Prozesses unserer Hochschulen zum Ausdruck.“4 Auch die Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft haben sich dieser veränderten Hochschulbezeichnung angepasst. Zuletzt wurde der Name der 3
4
HOCHSCHULREKTORENKONFERENZ (Hg.): Hochschulen für Angewandte Wissenschaften: Etablierung einer einheitlichen Hochschultypbezeichnung, o. O. 2022. Ebd.
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Barbara Städtler-Mach
größten der evangelischen Hochschulen, der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe im Sommersemester 2022 geändert.
2.2
Hochschulen für angewandte Wissenschaften in evangelischer Trägerschaft
Aktuell studieren an den Hochschulen in kirchlicher – also katholischer und evangelischer Trägerschaft – ca. 23 000 Studierende in Bachelor- und Masterstudiengängen. Die Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands in kirchlicher Trägerschaft sind zu einem Verbund zusammengeschlossen, der in Anlehnung an die bundesweite Hochschulrektorenkonferenz (HRK) den Namen „Rektorenkonferenz der kirchlichen Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands (RKHD)“ trägt. Zu den Hochschulen zählen auf evangelischer Seite die Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg, die Evangelische Hochschule Berlin, die Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, die Evangelische Hochschule Dresden, die Evangelische Hochschule Darmstadt (EHD) mit den Standorten Darmstadt und Hephata (Schwalmstadt), die Evangelische Hochschule Ludwigsburg, die Evangelische Hochschule Freiburg und die Evangelische Hochschule Nürnberg. Auf katholischer Seite zählen zur RKHD die Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO) mit den Standorten Köln, Münster, Paderborn und Aachen, die Katholische Hochschule Mainz, die Katholische Hochschule Freiburg und die Katholische Stiftungshochschule (KSH) München und Benediktbeuren. Dieser Zusammenschluss von staatlich refinanzierten Hochschulen in Trägerschaft der evangelischen oder katholischen Kirche hat das Ziel, „die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedhochschulen zu fördern sowie diese bei übergeordneten Fragen zu unterstützen und zu beraten. Die RKHD vertritt die gemeinsamen Interessen der Mitgliedshochschulen gegenüber den relevanten gesellschaftlichen, kirchlichen, hochschulpolitischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.“5
Die Selbstdarstellung der RKHD macht deutlich, dass diese Hochschulen in evangelischer und katholischer Trägerschaft ganz bestimmte Professionen akademischer Bildung vertreten: „Zum Angebot gehören Studiengänge in den Bereichen Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Wirtschaft und Management sowie Religion.“ Da diese Hochschulen mit gra5
REKTORENKONFERENZ KIRCHLICHER HOCHSCHULEN FÜR ANGEWANDTE WISSENSCHAFTEN DEUTSCHLANDS (Hg.): Positionspapier (www.rkh-d.de/src/pdf/positionspapier-rkhd-2020.pdf, zuletzt abgerufen am 28.07.2022).
Evangelische Hochschule für angewandte Wissenschaft
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duellen Unterschieden alle staatliche Mittel zur Verfügung haben, sind sie dem „öffentlichen Bildungsauftrag“ verpflichtet.6 Während die Leitungspersonen und überwiegend auch die Lehrenden einer christlichen Kirche angehören (müssen), ist eine Kirchenmitgliedschaft keineswegs Voraussetzung für einen Studienplatz an einer dieser Hochschulen. Diversität hinsichtlich Religion und Weltanschauung wird begrüßt. Studierende dieser Hochschulen verpflichten sich lediglich, für die Dauer ihres Studiums die jeweilige Trägerschaft der Hochschule anzuerkennen. Gleichzeitig geben diese Hochschulen klarstellend Auskunft über ihre Ausrichtung: „Christliche Menschenbilder, Menschenwürde und Menschenrechte bilden das Leitbild, an dem sich die Lehre, Forschung und Transfer orientieren. Die Vermittlung von Fachwissen und Reflexionskompetenz mit dem Anspruch einer umfassenden Persönlichkeitsbildung geben Orientierung für die Lehre. Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden und anderen Kulturen gehören zum grundlegenden Selbstverständnis aller Mitglieder der Hochschule.“7
Neben der RKHD existiert ein Verbund von Hochschulen in ausschließlich evangelischer Trägerschaft: die Rektorenkonferenz Evangelischer Hochschulen (REF; das Akronym bezieht sich noch auf die frühere Bezeichnung ‚Fachhochschule‘ und ist aus Bekanntheits- und pragmatischen Gründen trotz der veränderten Hochschulbezeichnung beibehalten worden). Im Gegensatz zum Zusammenschluss der RKHD zählen zur REF auch Hochschulen in evangelischer Trägerschaft, die nicht staatlich refinanziert werden. Das Anliegen der REF ist es, sämtliche evangelische Hochschulen zu vertreten, insbesondere mit den Trägern der jeweiligen Landeskirchen. Kirchliche und damit auch evangelische Hochschulen, deren Leistungsspektrum auch an vergleichbaren Hochschulen in staatlicher Trägerschaft existieren, stehen dabei in einer beständigen Konkurrenz sowohl gegenüber den staatlichen Hochschulen wie auch anderen kirchlichen Bildungseinrichtungen. Lautet die ausgesprochene oder nur verdeckt gestellte Frage der einen: „Was ist bei euch anders?“, heißt es im Kreis der evangelischen Anbieter: „Was ist bei euch evangelisch?“ In die eine wie die andere Richtung muss sich die Evangelische Hochschule immer wieder neu beweisen. Nicht zuletzt entstehen die Nachfragen zum Profil und zur Bedeutung angesichts der Vergabe von Finanzmitteln. Gegenüber staatlichen Hochschulen erleben kirchliche Hochschulen, dass sie bei bestimmten Förderlinien nicht berücksichtigt werden bzw. sich nicht bewerben können.
6 7
Ebd. Ebd.
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3.
Barbara Städtler-Mach
Evangelische Hochschule Nürnberg
Im Weiteren werde ich die Überlegungen zu einer Hochschule für angewandte Wissenschaften in evangelischer Trägerschaft an der Evangelischen Hochschule Nürnberg exemplifizieren. Sie steht stellvertretend für diesen Hochschultyp und zeigt mit ihrem gegenwärtigen Profil Chancen und Herausforderungen, wie sie – mit graduellen Unterschieden – bei diesen Hochschulen im Allgemeinen existieren.
3.1
Zur Geschichte
Die heute unter dem Namen „Evangelische Hochschule Nürnberg“ formierende Hochschule wurde formal am 1. Mai 1995 gegründet.8 Ihre Vorläufereinrichtung war die Evangelisch-soziale Frauenschule in Nürnberg, die 1927 gegründet und von der Diakonisse Schwester Marie Meinzolt geleitet wurde. Im Zuge der NSGesetzgebung wurde diese – im damaligen Sprachgebrauch – „Ausbildungsstätte für Fürsorgerinnen“ 1939 geschlossen. In Folge der gesellschaftlichen Situation in Bayern (wie in ganz Deutschland) entstand in den Jahren ab 1945 ein großer Bedarf an diakonischem Engagement und Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der durch die NS-Politik zum Erliegen gekommenen Arbeitsfelder der Diakonie. Damit verbunden war ein Anstieg an qualifiziertem Personal in diesen Einrichtungen und Beratungsstellen. Die bislang tätigen Mitarbeitenden aus diakonischen Gemeinschaften reichten zahlenmäßig nicht mehr aus, der Bedarf an Fachkräften in sozialpädagogischen und heilpädagogischen Arbeitsfeldern stieg enorm an. Parallel dazu verlagerte sich die professionelle ‚Soziale Arbeit‘ in den sogenannten freien Markt, also hin zu Mitarbeitenden ohne eine Bindung an eine diakonische oder kirchliche Dienstgruppe.9 Durch den Anstoß verschiedener diakonischer Einrichtungen begründete die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern 1947 eine Frauenschule neu als Katechetisches und Soziales Seminar mit Sitz in Neuendettelsau, ebenfalls unter der Leitung von Schwester Marie Meinzolt und von 1957–1967 unter der von Frau Dr. Marie-Luise Hegel.
8
9
Die geschichtliche Darstellung beruht auf verschiedenen originalen Schriftstücken, die in der Evangelischen Hochschule hinterlegt sind, sowie auf einer Zusammenfassung in der Veröffentlichung der HRK und der Rektorenkonferenz der Rektoren und Präsidenten kirchlicher Fachhochschulen Hochschulführer der kirchlichen Fachhochschulen von 1996. BARBARA STÄDTLER-MACH: Diakonie und Mission, in: GERHARD MÜLLER / HORST WEIGELT / WOLFGANG ZORN (Hg.): Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. Bd. 2: 1800–2000, St. Ottilien 2000, 439–453.
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Als Nachfolgeeinrichtung des Katechetischen und Sozialen Seminars wurde 1967 das Evangelische Sozialinstitut in Nürnberg gegründet. Es war ein Zusammenschluss der Höheren Fachschule für Sozialarbeit, der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik und einer Fachschule für Sozialpädagogik und stand unter der Leitung von Dr. Heiner Schiller. Wesentlich für die Gründung, vor allem aber auch für die inhaltliche Lehre dieser Einrichtung war die zunehmende Professionalisierung in den sozialen Berufen. Die letzten dreißig Jahre des 20. Jahrhunderts waren von einem unübersehbaren Wandel geprägt, der in diesen Berufen mit der Formel „von der Nächstenliebe hin zur Dienstleistung“ beschrieben werden kann.10 Durch die Umwandlung der Höheren Fachschulen und Polytechnika in Bayern zu den sogenannten Fachhochschulen im Jahr 1971 entstand für unseren Bereich in diesem Jahr die Evangelische Stiftungsfachhochschule in Nürnberg. Sie wurde von der Evangelischen Erziehungsstiftung getragen und hatte ihren Sitz in einem als ‚Villa‘ bezeichneten Gebäude in der Burgschmietstraße 10 im Viertel St. Johannis. Parallel dazu entstand 1972 an der Augustana-Hochschule der Fachhochschulstudiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit mit den beiden Standorten Neuendettelsau (untergebracht in dem als ‚Wache‘ bezeichneten Gebäude) und München-Pasing. Der Teil in Neuendettelsau wurde 1981 aufgegeben, so dass der Studiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit ausschließlich in München-Pasing angeboten werden konnte. Durch Initiative der Augustana-Hochschule sowie der Diakonie Neuendettelsau kam es 1996 zur Gründung des Studiengangs Pflegemanagement, der zum Wintersemester 1996/97 seinen Betrieb in Räumen der Diakonie Neuendettelsau aufnahm. Neben der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, die bereits zum Wintersemester 1995/96 den ersten Pflegestudiengang startete, war die (damalige) Evangelische Fachhochschule die erste Hochschule in Bayern, die einen Pflegestudiengang anbot. Die nunmehr an drei Standorten verteilten Studiengänge Sozialpädagogik, Religionspädagogik und kirchliche Bildungsarbeit sowie Pflegemanagement der Evangelischen Fachhochschule sollten aus Ressourcengründen an einem Standort zusammengeführt werden. Bei der Frühjahrstagung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern im März 1997 in Ansbach kam der Beschluss zustande, alle drei Studiengänge am Standort Nürnberg zusammenzulegen. Die dafür erforderliche große Immobilie wurde durch den Kauf des Gebäudes Bärenschanzstraße 4 in Nürnberg-Gostenhof erworben. In der vorlesungsfreien Zeit vor dem Studienjahr 1998/99 zogen
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BARBARA STÄDTLER-MACH: Zukunft des Helfens und der Dienstleistung, in: HEINZ SCHMIDT / KLAUS D. HILDEMANN (Hg.): Nächstenliebe und Organisation. Zur Zukunft einer polyhybriden Diakonie in zivilgesellschaftlicher Perspektive, Leipzig 2012, 349–365.
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die drei Studiengänge mit Mobiliar, Bibliotheken, Büroausstattung für Verwaltungsmitarbeitende und Lehrende aus drei verschiedenen Standorten in eine Hochschule zusammen. Die Zusammenführung der drei Studiengänge – später Fachbereiche, dann Fakultäten – verlief nicht ohne Reibungen, da jeder der drei Studiengänge ein eigenes Profil, eine selbstständige Geschichte und vor allem eine ungleiche Größe hatte. Von den 632 Studierenden entfielen 150 Studienplätze auf den Studiengang Soziale Arbeit (bzw. auf die beiden Studiengänge Soziale Arbeit in Vollzeit und Soziale Arbeit als berufsbegleitender Studiengang) und je 35 auf die Studiengänge Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit sowie Pflegemanagement. Seit 1998 ist die Evangelische Hochschule kontinuierlich gewachsen. Das Angebot ihrer Studiengänge wurde im Zuge der Bologna-Reform auf Bachelor- und Masterstudiengänge umgestellt. Durch eine Änderung der Grundordnung wurden mit dem Wintersemester 2014/15 die drei damaligen Fakultäten aufgelöst. Dadurch sollte zum einen die Administration der Hochschule verschlankt werden, zum anderen wurde damit die Synergie der Studiengänge strukturell vereinfacht. Aktuell (Wintersemester 2022/23) bietet die Evangelische Hochschule Nürnberg ihre Lehre in elf Bachelor- und vier Masterstudiengängen an. Durch die Neuausrichtung des Hochschulgesetzes für Bayern 2006 ist zu den Kernaufgaben die Forschung getreten. Entsprechend der an der Hochschule vertretenen Denominationen und Forschungsschwerpunkte einzelner Professorinnen und Professoren erfolgt die Forschung derzeit in vier Forschungsinstituten und einem AnInstitut mit der Rummelsberger Diakonie („Wichern-Institut“).
3.2
Aktuelle Entwicklungen der Evangelischen Hochschule Nürnberg
Die aktuelle Entwicklung der Evangelischen Hochschule Nürnberg lässt sich an verschiedenen Schwerpunkten darstellen: Interdisziplinarität, Internationalisierung, Profilierung als ‚Care-Hochschule‘. An verschiedenen Stellen wird die Interdisziplinarität der Hochschule angestrebt und umgesetzt. Sie zeigt sich zum Beispiel in einer möglichen Kombination des Studiums der Sozialen Arbeit mit dem Bachelor-Studiengang Diakonik. Wie unterscheidet sich das Studium Soziale Arbeit in einer staatlichen Hochschule gegenüber einer evangelischen? Die Durchdringung der Fachlichkeit mit Grundsatzfragen und Inhalten der Theologie kann gerade am Beispiel dieser Fächerverbindung deutlich gemacht werden. Inwiefern die Fachlichkeit im Sozialen mit den Aussagen theologischer Reflexion zusammenzubringen ist, stellt eine große Herausforderung dar. Sie begegnet auch den Studiengängen an den
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Katholischen Hochschulen, was vor einigen Jahren auch zu einem gemeinsam herausgegebenen Handbuch geführt hat.11 Ein weiterer Aspekt der gegenwärtigen Entwicklung ist der Ausbau der Internationalität. Die Evangelische Hochschule Nürnberg unterhält mit zahlreichen Hochschulen im europäischen und außereuropäischen Ausland lebendige Kooperationen. Mehrfach wurden Summer Schools zu bestimmten Themen wie beispielsweise ‚Dementia care‘ durchgeführt. Derzeit werden verschiedene englischsprachige Lehrveranstaltungen über die Methode der Zoom-Konferenzen mit Partnerhochschulen weltweit angeboten. Die durch die (zwangsweise) in der Corona-Pandemie erworbenen Fähigkeiten des Umgangs mit digitalen Tools werden als Möglichkeiten zur Internationalisierung zunehmend genutzt.12 Das trifft sowohl für Lehrveranstaltungen als auch für Gastvorträge sowie die Planung und Präsentation von internationalen Forschungsprojekten zu. In besonderer Weise arbeitet die Evangelische Hochschule an ihrem Profil als ‚Care-Hochschule‘. Mit dem Begriff ‚Care‘ werden mittlerweile nicht nur die Care-Berufe und -Arbeitsfelder im Gesundheitsbereich beschrieben, sondern ganz umfassend die Gestaltung des Gesundheits- und Sozialwesens. Damit stellt sie ein Gegengewicht zu den politisch vielfach stark geförderten ‚MINT-Fächern‘ dar. Beispielsweise hat der Freistaat Bayern mit der „High Tech Agenda“ der Entwicklung von Technologien den klaren Vorzug vor der Förderung von Geistesund Sozialwissenschaften gegeben. Dem treten Hochschulen in evangelischer Trägerschaft – die Evangelische Hochschule in Nürnberg in führender Position – entgegen. Unter anderem ist hier die Kampagne „Take care!“ zu nennen, die bundesweit die Aufmerksamkeit auf die unzureichenden Rahmenbedingungen der Care-Berufe gelenkt hat.13
4.
Zum Profil einer Hochschule in evangelischer Trägerschaft
Die Hochschulen in evangelischer Trägerschaft partizipieren an dem Prozess der Profilbildung und Profildarstellung, wie er sich in allen evangelischen Bildungseinrichtungen und ganz allgemein allen Einrichtungen in kirchlicher und diakonischer Trägerschaft vollzieht. Sinn dieses Profilbildungsprozesses ist es, das jeweils Besondere einer Hochschule darzustellen – zum einen in der Außensicht 11
12
13
RAINER KROCKAUER / STEPHANIE BOHLEN / MARKUS LEHNER (Hg.): Theologie und Soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München 2006. FLORIAN RAMPELT u. a.: Bologna Digital – die digitale Transformation im Europäischen Hochschulraum gestalten, in: HOCHSCHULFORUM DIGITALISIERUNG (Hg.): Digitalisierung in Studium und Lehre gemeinsam gestalten. Innovative Formate, Strategien und Netzwerke, Open Access, Wiesbaden 2021, 139–161. Siehe unten 4.2.
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von Studienbewerber:innen oder Bewerber:innen zur Mitarbeit in der Hochschule, zum anderen zur immer wieder aktualisierten Vergewisserung für diejenigen, die in dieser Hochschule arbeiten und studieren. Grundsätzlich sind die Aufgaben einer Hochschule in den rechtlichen Grundlagen der jeweiligen Länder innerhalb Deutschlands beschrieben. Für den Freistaat Bayern ist dies das Bayerische Hochschulgesetz von 2006.14 Zusätzlich formulieren die Hochschulen je eigene Profile, mit denen sie sich darstellen und unter Umständen auch voneinander abgrenzen. Die Kernaufgaben einer Hochschule sind mit Lehre und Forschung beschrieben. Im Rahmen der Hochschulen für angewandte Wissenschaften hat sich seit den 1990er Jahren der Begriff ‚Third Mission‘ durchgesetzt: die neben diesen beiden Kernaufgaben dritte Aufgabe zur Wahrnehmung der Verantwortung einer Hochschule für die Gesellschaft. Damit werden vielfach unter anderem Aufgaben wie Engagement für die Region der Hochschule, zivilgesellschaftliche Forschungskooperationen, Auftragsforschung und Wissenschaftskommunikation beschrieben.15 Hochschulen in evangelischer Trägerschaft beschreiben darüber hinaus auch die Besonderheiten, die mit ihrer Zugehörigkeit bzw. ihrer Trägerschaft durch die Evangelische Kirche begründet werden. Hier sind durchaus Vergleiche mit den Selbstdarstellungen diakonischer Einrichtungen zu sehen. Die Evangelische Hochschule Nürnberg hat 2009 in einem längeren LeitbildErstellungsprozess ihre Leitziele formuliert und in ihrem Senat verabschiedet, die 2012 nochmals bearbeitet wurden.16 Die grundsätzliche Betrachtungsweise konzentriert sich auf das „Handeln in Lehre, Forschung und Weiterbildung“17. Im Einzelnen werden dabei folgende Größen ins Spiel gebracht. Der christliche Bildungsbegriff, die Studienangebote als akademische Berufsqualifikation, Übernahme von Verantwortung in gesellschafts-, berufs- und kirchenpolitischen Diskursen und eine beständige Weiterentwicklung der Qualität.18 Die Leitlinien werden nach zehn Jahren erneut einer Reflexion unterzogen und weiterentwickelt. Die Darstellung des Profils der Evangelischen Hochschule Nürnberg in unserem Zusammenhang orientiert sich an der bereits formulierten Linie, nimmt aber eine etwas andere Schwerpunktsetzung vor und geht ein großes Stück darüber hinaus.
14 15
16 17 18
Bayerisches Hochschulgesetz (BayHSchG) vom 23.05.2006. GEMEINNÜTZIGES CENTRUM FÜR HOCHSCHULENTWICKLUNG (Hg.): Katalog von Facetten von und Indikatoren für Forschung und Third Mission an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (Arbeitspapier 189), Gütersloh 2016. Vgl. www.evhn.de/hochschule/portrait (zuletzt abgerufen 26.07.2022). Ebd. Ebd.
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4.1
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Zum Menschenbild
Zur Beschreibung einer Organisation, die mit dem Adjektiv evangelisch versehen wird, gehört die Darstellung des Menschenbildes, das allem Handeln zugrunde liegt. Im Begriff ‚Bildung‘ wird etymologisch veranschaulicht, dass es um ein Bild des Menschen geht. In der christlichen Theologie ist hier vorrangig an die Schöpfung des Menschen durch Gott als dessen ‚Ebenbild‘ zu denken. Nun gibt es zur Formulierung dessen, was als theologisches, biblisches oder auch evangelisches Menschenbild bezeichnet wird, zahlreiche Ansätze. Die Grundlinien werden dabei inhaltlich vergleichbar und – im günstigsten Fall – weitgehend deckungsgleich sein. Natürlich können sowohl der Ausgangspunkt als auch die inhaltliche Beschreibung variieren. 2003 hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) dargestellt, dass es aus christlicher Perspektive keinen Bildungsbegriff ohne Bezug auf ein christliches Menschenbild gibt.19 Dabei ist auch festzuhalten, dass es kein normierendes Menschenbild geben kann. Der Bezug auf die biblischen Grundlagen, die Beschreibung dessen, was als ‚christliches Menschenbild‘ vorausgesetzt wird, sind immer wieder neu zu verstehen und zu vermitteln. Für die Beschreibung in unserem Kontext sind zwei Kategorien zu nennen, die gerade in der Nähe theologischer und pädagogischer Anthropologie, wie sie in einer Hochschule naturgemäß von Bedeutung ist, anschlussfähig sind. Das Menschenbild einer Hochschule in evangelischer Trägerschaft ist offen und ressourcenorientiert. Grundsätzlich wird danach gefragt – aufseiten der Verantwortlichen wie auch der einzelnen Lehrenden –, welches Potenzial in einem Menschen ruht und durch Bildung und Begegnung zum Leben erweckt und fruchtbar gemacht werden kann. Der Text des Kinderspiels „Ich sehe was, das du nicht siehst“ wird im übertragenen Sinn verwendet: Ich sehe in den Studierenden und auch in den Mitarbeitenden Potenziale, die sie zu einem Menschen machen, den sie selbst vielleicht nicht sehen und möglicherweise nicht einmal erahnen. Grundsätzlich Entwicklung für möglich zu halten, gerade im Bildungsbereich auch bei denen, deren Rahmenbedingungen nicht auf den ersten Blick für eine Bildungskarriere sprechen, gehört zu den Grundannahmen einer Hochschule in evangelischer Trägerschaft. Sie beinhaltet neben der grundsätzlichen Perspektive, immer die Möglichkeiten vor den Grenzen zu sehen, insbesondere auch die Entwicklungsbedingungen des Menschen.20 In besonderer Weise ist diese Sichtweise in Zeiten der Digitalisierung gefordert. Digitalisierung ist an der 19
20
EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift, Gütersloh 2003. WOLFGANG STARK: Empowerment reloaded – ein neuer Blick auf Empowermentprozesse vor dem Hintergrund von Nachhaltigkeit und Bürger*innenbeteiligung, Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 1 (2020), 51–63.
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Evangelischen Hochschule Nürnberg einerseits Bestandteil des Hochschullebens selbst, insbesondere in der Umsetzung von ‚Blended Learning‘, wie es seit den sogenannten Corona-Semestern (Sommersemester 2020 bis Sommersemester 2022) in allen Hochschulen und Universitäten zunehmend an Raum gewonnen hat. Andererseits sind digitalisierte Arbeitsformen selbst Bestandteil der Lehre, die zeitgemäß auf die entsprechenden Arbeitsfelder vorbereitet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Grundlage einer Evangelischen Hochschule auf einem Menschenbild biblisch-theologischer Herkunft basiert, das immer wieder für die aktuellen Herausforderungen der praktischen Hochschulrealität entfaltet wird.
4.2
Zur ethischen Ausrichtung – Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung
Ein wesentlicher Bestandteil des Lehrens und Studierens an der Evangelischen Hochschule Nürnberg betrifft die Auseinandersetzung mit der eigenen ethischen Haltung zu den wesentlichen Fragen des Lebens. Alle Studiengänge verfügen über Module im Bereich von Anthropologie und Ethik, die auch prüfungsrelevant sind. Selbstverständlich geht es dabei nicht um die Vorstellung, mit theologischen oder anderen weltanschaulichen Inhalten „indoktriniert“ zu werden. Die Offenheit gegenüber dem jeweiligen Menschen, wie sie in der anthropologischen Grundhaltung zum Ausdruck kommt, wird in der Vermittlung ethischer Aussagen fortgesetzt. Hier ist eine Parallele zum „Beutelsbacher Konsens“ zu sehen, der für die politische Bildung jede Form der Indoktrination ablehnt.21 Ethische Inhalte werden vorgestellt – sowohl in Theorien gelehrt als auch in Praxisbeispielen als Transfer gedacht –, um den Studierenden eigene ethische Haltungen zu ermöglichen. Insbesondere in den Bereichen, für die die Evangelische Hochschule Nürnberg in ihren Studiengängen qualifiziert, sollen dabei ethische Kenntnisse erworben und eine eigene ethische Haltung reflektiert und vertreten werden. Aus diesem Grund sind in den Studien- und Prüfungsordnungen aller Bachelor- und Masterstudiengänge Module zur Ethik und zur ethischen Urteilsfindung vorgesehen. Nun werden grundlegende Werte und deren Vermittlung auch für Bildungseinrichtungen in anderer als einer evangelischen Trägerschaft für konstitutiv angesehen. Die sogenannte Wertebildung ist ein Gegenstand ganz unterschiedlicher Hochschulen. Insbesondere im Bereich von Forschung hat sich ethisches Denken einen stabilen Platz erobert: Forschungsprojekte, insbesondere solche, 21
HANS-GEORG WEHLING: Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: SIEGFRIED SCHIELE / HERBERT SCHNEIDER (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, 173–184.
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für die eine öffentliche Finanzierung oder Zuwendungen von Stiftungen beantragt werden, kommen in ihrer Antragstellung ohne ein Ethik-Votum nicht mehr aus. Anders gesagt: Gerade von Institutionen, die sich der Gesamtgesellschaft gegenüber verpflichtet sehen, werden Nachweise ethischen Denkens und ganz konkret die Übernahme ethischer Verantwortung eingefordert. Die Evangelische Hochschule Nürnberg ist eine der wenigen Hochschulen, die über eine eigene Ethik-Kommission verfügt. Die Kommission ist aus Mitgliedern der verschiedenen an der Hochschule vertretenen Denominationen zusammengesetzt und erstellt Gutachten für interne und externe Forschungsvorhaben. Um den Stellenwert der Bereitschaft zur Übernahme zur Verantwortung neben den genannten Beispielen von Lehre und Forschung zu konkretisieren, soll noch ein aktuelles Projekt angeführt werden: 2021 zählte die Evangelische Hochschule Nürnberg zusammen mit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und Diakonie Deutschland, dem Bundesverband der Diakonie in Deutschland, zu den Initiatorinnen der Aktion „Take care“.22 Mit dieser Aktion wurde bundesweit auf die Bedeutung der Sozial- und Gesundheitsberufe aufmerksam gemacht. In zahlreichen Aktionen, die von vielen diakonischen Einrichtungen und evangelischen Bildungsträgern entwickelt und durchgeführt wurden, wurde die Bedeutung der Sozial- und Gesundheitsberufe öffentlich dargestellt. Der gesellschaftliche Bedarf an diesen Berufen – der sogenannte Fachkräftemangel – war ein wesentlicher Inhalt der Take care-Beiträge.
4.3
Zur Kommunikation
Die Kommunikation innerhalb der Evangelischen Hochschule und die mit Menschen und Organisationen außerhalb der Hochschule stellt ein weiteres Merkmal der Evangelischen Hochschule Nürnberg dar. Dabei geht es um mehr als gut gestaltete Regeln für Beratungen, Sitzungen, Telefongespräche und Brief- sowie Mailverkehr. Kommunikation wird hier als grundlegende Beziehung zwischen Menschen verstanden. Sie verdankt sich der Vorstellung, dass alles Leben in Beziehungen vor sich geht und dass für theologisch ausgerichtete Gestaltung von Beziehungen das Wort und auch die non-verbale Kommunikation entscheidend ist. Wenn „Am Anfang das Wort“ war, wie das Johannes-Evangelium es beschreibt (Joh 1,1), bedeutet dies auch die grundlegende Voraussetzung der Bereitschaft zum Verstehen. Kommunikation in einem evangelischen Sinn stellt also gleichermaßen das Verstehen von Texten und das Verstehen von Menschen
22
DIAKONIE DEUTSCHLAND (Hg.): www.takecare-aktion.de (zuletzt abgerufen am 28.07.2022).
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dar. Was Heribert Prantl anlässlich der beabsichtigten Schließung der Evangelischen Journalistenschule in Berlin schreibt, kann als Aussage über die Bedeutung von Kommunikation auch für die Evangelische Hochschule gelten: „Kirche ist Kommunikation. Im Anfang war das Wort. Das heißt: Ohne Kommunikation gibt es keine Mission, keine Klarheit, keine Wahrheit. Im Anfang war das Wort. Das heißt: Kirche ist eine Gemeinschaft, die vom Wort lebt wie keine andre.“23 Gleichzeitig bedeutet eine verantwortete Kommunikation auch die bewusste Gestaltung von Beziehungen. Dabei wird hier an Beziehungen im weitesten Sinn gedacht: Sowohl die Reflexion des eigenen Ichs im Sinne von Innehalten, Zielbestimmung, Vergewisserung, als auch die Beziehungen zu anderen Menschen, zur Umwelt im weitesten Sinn und auch zu Gott sind hier im Blick. Wer bin ich – so lautet die immer wieder zu reflektierende Frage – als Lehrende:r und Studierende:r in dieser Evangelischen Hochschule? In hohem Maße ist dabei die Aufgabe der Hochschule sowohl durch Lehrende wie durch Strukturen, die Entwicklung der Studierenden zu befördern. „Es ist Aufgabe kirchlicher Studienbegleitung und Personalentwicklung“ – so schreibt Ralf Frisch, seit 2011 Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, zur Frage der evangelischen Professionalität – „bestimmte Gaben noch intensiver als gegenwärtig zu entdecken und zu fördern, ohne die Studierenden ihrer studentischen und akademischen Freiheit zu berauben.“24
4.4
Zum Bildungsverständnis
Die Frage, was denn ein evangelisches Bildungsverständnis beinhaltet, stellen sich alle Bildungseinrichtungen von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule in evangelischer Trägerschaft. Wenn das Bildungsverständnis aus einer sowohl theologischen wie pädagogischen Perspektive heraus exploriert wird, entsteht die mindestens ebenso bedeutende Frage, wie sich denn dieses Bildungsverständnis in einer überwiegend säkularen Welt vermittelt.25 Grundsätzlich – darin sind sich die vorhandenen wissenschaftlichen und pragmatischen Ansätze einig – ist Bildung an einer Evangelischen Hochschule mehr als Wissensvermittlung. Die konkrete Umsetzung des Bildungsverständnisses der Evangelischen Hochschule wird in den Leitzielen sowohl mit der Übernahme von Verantwortung für Bildungsprozesse als auch mit der Qualifi-
23 24
25
HERIBERT PRANTL: Vom Heiligen Geist verlassen, Christ und Welt, Nr. 14 vom 31.03.2022, 3. RALF FRISCH: Evangelische Professionalität: Sorgfalt, Liebe, Stil, Profil und Konzentration, in: DERS.: Was fehlt der evangelischen Kirche? Reformatorische Denkanstöße, Leipzig 2017, 256–259, 258. Vgl. zum Ganzen ANNETTE SCHEUNPFLUG: Evangelische Bildung heute – 500 Jahre nach der Reformation, Zeitschrift für Pädagogik 63 (2017), 5–28.
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zierung zur Berufstätigkeit und wissenschaftlichen Weiterentwicklung beschrieben.26 Peter Bubmann, selbst von 1999–2002 Professor an der Evangelischen Hochschule, beschreibt unter der Überschrift „Die Unverzichtbarkeit des Bildungsbegriffs aus christlicher Perspektive“ die Grundlinien eines evangelisch verstandenen Bildungsbegriffes: „Bildung zielt auf die Wahrnehmung und Gestaltung der eigenen Freiheit und Humanität, also auf Lebenskunst und Lebensstil. Der ganze Mensch soll sich in seinen Lebensmöglichkeiten frei entfalten können. […] Bildung wird […] verstanden als gesteigerte Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungskompetenz und mithin als Realisierung von mehrdimensional begriffener Freiheit. Zu solcher umfassenden humanen Bildung anzuleiten, ist das Ziel aller Erziehung und Bildungsanstrengungen.“27
Das Ziel, die Studierenden zu einem selbstverantworteten Studium anzuleiten, wird ab dem Wintersemester 2022/23 durch das Studium Generale verwirklicht. Ziel ist es dabei, den Studierenden parallel zu dem Fachstudium, für das sie sich entschieden haben, eine weiterreichende Bildung zukommen zu lassen. Die dafür angebotenen Lehrveranstaltungen gliedern sich in die Blöcke „Nachhaltige Bildung“, worunter vielfältige Perspektiven zur nachhaltigen Gestaltung der Welt versammelt sind, und „Bildung in Verantwortung“. Im Studium Generale wird interdisziplinär und studiengangsübergreifend gemeinsam studiert bzw. gelehrt. Dadurch sollen die Studierenden auf den interdisziplinären und kooperativen Umgang mit den großen, komplexen, lokalen und globalen Zukunftsaufgaben vorbereitet werden. In diesem Sinn vermittelt das Studium Generale im Rahmen des Bildungsverständnisses der Evangelischen Hochschule Nürnberg in gleicher Weise Inhalte evangelisch verstandener Bildung und zentrale Zukunftskompetenzen. Zusammenfassend wird festgehalten: Die Evangelische Hochschule Nürnberg ist als werteorientierte Hochschule eine bedeutsame Hochschule für angewandte Wissenschaften im Spektrum staatlicher Hochschulen einerseits und leistet einen unverzichtbaren Beitrag für Bildung innerhalb der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern andererseits.
26 27
Vgl. www.evhn.de/hochschule/portrait (s. Anm. 16), 3. PETER BUBMANN: „Glaubensbildung“ – Terminologische und Theoretische Annäherungen, in: MARTIN FRIEDRICH / HANS JÜRGEN LUIBL (Hg.): Glaubensbildung. Die Weitergabe des Glaubens im europäischen Protestantismus, Leipzig 2012, 89–104, 95.
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5.
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Künftiges Szenario: Kooperation mit der Augustana-Hochschule
Es ist deutlich geworden, dass die Evangelische Hochschule Nürnberg ein eigenständiges Profil entwickelt und ständig fortschreibt. Das betrifft zum einen die Fachexpertise in den einzelnen Studiengängen und Forschungsgebieten, zum anderen die Darstellung einer dem ‚Evangelischen‘ angemessenen Ausrichtung der Strategie als auch der alltäglichen Vollzüge einer Hochschule. Was bisher außerhalb der Betrachtung lag, ist die Tatsache, dass es insgesamt drei Hochschulen in der Trägerschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gibt. Die Augustana-Hochschule und die Hochschule für Kirchenmusik gehören neben der Evangelischen Hochschule Nürnberg zu diesen dreien, jeweils mit einer anderen Hochschulausrichtung und den damit verbundenen Studierenden, Lehrenden und Kooperationspartnern. Dabei steht die Evangelische Hochschule Nürnberg in einer betont nahen Beziehung zur Augustana-Hochschule. Die Grundordnung der Evangelischen Hochschule sieht eine „bevorzugte Kooperation“ zwischen beiden Hochschulen vor. Bislang ist die dafür nach der Grundordnung vorgesehene schriftliche Vereinbarung zur Gestaltung dieser Kooperation nicht erfolgt.28 Gleichwohl existieren auf mehreren Ebenen Synergien und Kooperationen. Besonders hervorzuheben ist der Zusammenschluss in der Digitalisierung beider Hochschulen, insbesondere in der Nutzung einer gemeinsamen Moodle-Plattform. Auch inhaltlich gab und gibt es immer wieder gemeinsame Vorhaben in Lehre und Forschung. Exemplarisch sei hier die Kooperation zum Thema „Religiosität im Alter“ genannt.29 Gerade angesichts der Entwicklung und Profilbildung der Evangelischen Hochschule, wie sie hier aufgezeigt wurde, lassen sich Überlegungen für eine zukünftige Kooperation anstellen. Sie werden hier in Thesenform vorgelegt, um den Charakter einer Diskussionsgrundlage deutlich zu machen. 1. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen einerseits und die Expertisen der Augustana-Hochschule und der Evangelischen Hochschule Nürnberg andererseits können mit Blick auf ein Miteinander der Berufsgruppen innerhalb und außerhalb der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern strategisch genutzt werden. 2. Inhaltlich lassen sich zwischen der Evangelischen Hochschule Nürnberg und der Augustana-Hochschule Neuendettelsau weitere Synergien herstellen. 28 29
Siehe oben Anm. 2. Gemeinsam mit dem Institut für Gerontologie und Ethik (Prof. Dr. Barbara Städtler-Mach), dem Lehrstuhl für Praktische Theologie (Prof. Dr. Klaus Raschzok) und der Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern (Dr. Jens Colditz) wurde auf der Grundlage einer eigenen Erhebung zur Religiosität im Alter 2012 eine gemeinsame Veranstaltung in der Evangelischen Hochschule Nürnberg durchgeführt: „Mit dem Alter kommt der Psalter? – Ein Symposium zur Religiosität 66plus“.
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Das gilt vor allem für die Gestaltung von Lehre in den Bereichen Religionspädagogik und Ethik, ebenso auch in Diakonik und Interkultureller Theologie. Zum einen können die Lehrenden an beiden Hochschulen in Austausch der Lehre treten, zum anderen können bei künftigen Besetzungen der Professuren die Studiengänge an beiden Hochschulen berücksichtigt werden. 3. Auch in verschiedenen Forschungsbereichen lassen sich Querschnittsthemen darstellen, die durch die gemeinsame Bearbeitung an Profil gewinnen. Neben der Durchführung von Forschungsprojekten wird die erforderliche Infrastruktur einschließlich der erforderlichen Rechtsgrundlagen für gemeinsame Promotionen verfolgt. Das (voraussichtlich ab 2022) geltende Hochschulinnovationsgesetz in Bayern schafft die entsprechenden Rahmenbedingungen. 4. Langfristig könnte die Kooperation in eine neue Form einer Hochschule in der Trägerschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern münden. Das bestechende Ziel einer solchen Hochschule ist die Gewährleistung evangelisch verantworteter Lehre und Forschung in einem genuinen Portfolio der Kirche. 5. Entscheidend wird die Zukunftsvision einer Kirchlichen Hochschule sein, die sich mit vereinten Personalressourcen, Lehrangeboten und Forschungsbeiträgen ein Alleinstellungsmerkmal schafft. Das 75-jährige Bestehen der Augustana-Hochschule Neuendettelsau darf zu Recht mit freundlichen Gratulationen, denen sich die Autorin anschließt, begangen werden. Dem Glückwunsch ad multos annos ist der Wunsch anzufügen, eine zukunftsfähige Hochschule zu gestalten. Aus meiner Sicht können sich die beiden Hochschulen in ihrer je eigenen Geschichte und ihrem Profil befruchten und gemeinsam an Stärke gewinnen. Dies wird der Arbeit der Hochschulen nach innen und der Bedeutung und Wahrnehmung von außen zuträglich sein.
Theologie als Dialogpartnerin der Diakonie in Transformationsprozessen
Theologie als Dialogpartnerin der Diakonie in Transformationsprozessen Mathias Hartmann
1.
MATHIAS HARTMANN
Das Leitbild: Theologie als Dialogpartnerin der Diakonie
Anlässlich ihres 75-jährigen Jubiläums reflektiert die Augustana-Hochschule in dieser Festschrift ihre Funktion zwischen wissenschaftlicher Theorie und kirchlicher bzw. diakonischer Praxis. Im Folgenden soll am Beispiel von Diakoneo, dem größten diakonischen Unternehmen in Süddeutschland, dargestellt werden, wie Diakonie auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen reagieren und wie sie durch den Dialog mit Vertreter*innen der Theologie wichtige Impulse in diesem Transformationsprozess bekommen kann. Dabei soll deutlich werden, in welcher Weise sich die Theologie als Dialogpartnerin der Diakonie in diesen fundamentalen Veränderungen einbringen kann, damit sie einerseits ihren eigenen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden und andererseits den Erfordernissen der diakonischen Praxis Rechnung tragen kann.
2.
Aktuelle Herausforderungen
Die aktuelle gesellschaftliche Situation ist durch einen Relevanzverlust der verfassten christlichen Kirchen und eine Bedeutungszunahme von Diakonie und Caritas gekennzeichnet. Am 2. Mai 2019 wurde eine zu diesem Zeitpunkt viel diskutierte Studie des „Forschungszentrums Generationenverträge“ an der Uni Freiburg veröffentlicht.1 Die darin enthaltene Projektion prognostiziert für das Jahr 2060 eine Halbierung der Kirchenmitgliederzahlen und damit auch der finanziellen Möglichkeiten der Kirchen in Deutschland. Zum größten Teil liegt die Ursache für diese Entwicklung nicht im demographischen Wandel, sondern in kirchenspezifischen Faktoren. Kurz gesagt: „Es treten mehr Menschen aus als in die Kirche ein. Den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon.“2 In den letzten drei 1
2
Vgl. DAVID GUTMANN / FABIAN PETERS: #Projektion2060. Die Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer, Neukirchen-Vluyn 2021. A. a. O., 11.
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Mathias Hartmann
Jahren wurde diese Entwicklung durch die Coronapandemie und die Aufdeckung der aus Sicht der Öffentlichkeit mangelhaften kirchlichen Aufarbeitung der Missbrauchsskandale v. a. in der römisch-katholischen Kirche noch verstärkt. Gegenläufg zu diesem Trend wächst die Zahl der Menschen, die Dienstleistungen, wie z. B. Pflege, medizinische Therapie, Assistenz und Bildung, von zur Diakonie bzw. Caritas gehörenden Einrichtungen und Unternehmen in Anspruch nehmen, seit Jahren stark – und damit auch die Zahl der Menschen, die bei Diakonie und Caritas arbeiten. Die Auswirkungen dieser langjährigen Entwicklung lässt sich gut an Zahlen verdeutlichen. Die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten ist in der Diakonie mit etwa 600 000 (2020: 599 770 // 2016: 525 707) mehr als doppelt so hoch wie in der verfassten Kirche (2020: 240 870 // 2018: 241 261 // 2016: 235 959). Dabei erwirtschaften die fünf größten Diakonischen Unternehmen in Deutschland – Die Johanniter, Agaplesion, v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Johannesstift Diakonie und Diakoneo – gemeinsam in etwa so viel Umsatz wie alle 20 Landeskirchen der EKD zusammen Kirchensteuereinnahmen (ca. 5,7 Mrd. €) verbuchen können. Allerdings erwirtschaften sie diesen Umsatz mit nur etwa 85 000 Mitarbeitenden – weniger als einem Sechstel (genau 14,1 %) der Gesamtzahl der Mitarbeitenden in der Diakonie in Deutschland. Der Gesamtumsatz und damit die wirtschaftliche Relevanz aller diakonischen Einrichtungen und Unternehmen in Deutschland lässt sich wegen der Vielzahl der unterschiedlichen Träger nicht genau bestimmen. Aber bereits die aufgeführten Zahlen machen deutlich, dass die unterschiedlichen Entwicklungen von Kirche und Diakonie in den letzten Jahrzehnten inzwischen zu deutlich voneinander abweichenden Größenverhältnissen geführt haben. 6000
Hauptamtlich Beschäftige 2020
700.000 600.000 500.000 400.000 300.000 200.000 100.000 0
In Mio. €
5000 4000 3000 2000 1000 0
Diakonie
Kirche
Umsatz der 5 größten Kirchensteuereinnahmen Diakonischen der 20 Landeskirchen im Unternehmen in 6-Jahres Durchschnitt Deutschland (2016-2021)
Abbildung 1: Umsätze der fünf größten diakonischen Unternehmen in Deutschland, Quelle: Eigene Recherche, Jahresberichte der Unternehmen von 2020/21; Kirchensteuereinnahmen der 20 Landeskirchen im 6-Jahres-Durchschnitt (2016–2021), Quelle: Evangelische Kirche in Deutschland (2022): Kirchensteuerstatistik 2021 – Statistischer Bericht, https://www.ekd.de/
Theologie als Dialogpartnerin der Diakonie in Transformationsprozessen
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ekd_de/ds_doc/Steuerstatistik_Bericht_2021.pdf (Aufruf: 17.08.2022) // Hauptamtlich Bechäftigte in 2020 – Diakonie, Quelle: Diakonie Deutschland (2020): Diakonie in Zahlen, https:// www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/Infografiken/Infografik_Diakonie_in_Zah len_2021_print.pdf (Aufruf: 17.08.2022), Hauptamtlich Beschäftigte in 2020 – Kirche, Quelle: Evangelische Kirche in Deutschland (2020): Statistik über Beschäftigte am 1.1.2020, https:// www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Bericht_Besch%c3%a4ftigte_2020.pdf (Aufruf: 17.08.2022).
Für diakonische Unternehmen ist der Relevanzverlust der Kirchen herausfordernd, weil sie in Bezug auf ihre Werteausrichtung immer weniger auf die Wahrnehmung und prägende Kraft der kirchlichen Arbeit setzen können. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass die Zahl der Mitarbeitenden, die noch mit christlichen Begriffen und Inhalten vertraut sind, auch in der Diakonie deutlich rückläufig ist. Verstärkt wird dieser Trend durch die zunehmende Diversität und Multikulturalität in der deutschen Gesellschaft. Beides führt dazu, dass die Mitarbeiterschaft in der Diakonie inzwischen deutlich heterogener ist als noch vor einiger Zeit. Parallel zu dieser Entwicklung haben sich in den letzten 30 Jahren aus Sicht der Diakonie die Rahmenbedingungen im Sozial- und Gesundheitswesen drastisch verändert. Diese Veränderung wird in der Regel als „Ökonomisierung des Sozialen“ bezeichnet und begann mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995, wurde u. a. mit der Einführung der DRG-Abrechnung im Krankenhausbereich in den Jahren 2003/2004 fortgesetzt und betrifft aktuell durch die noch nicht vollständig abgeschlossene Umsetzung des 2016 verkündeten Bundesteilhabegesetzes auch den Bereich der Dienste für Menschen mit Behinderung. Zur Entwicklung des Sozial- und Gesundheitswesens zu einem Markt, auf dem das Leistungsprinzip und Wettbewerb zwischen den Leitungsanbietern Grundlage des Angebots sind, kamen weitere Entwicklungen hinzu, wie die zunehmende Regulierung im Gesundheits- und Sozialmarkt auf nationaler und europäischer Ebene, die verstärkte Konkurrenz bei enger werdenden Rahmenvorgaben, die steigenden Qualitätsansprüche bei Kund*innen und Aufsichtsbehörden und die generell enorm hohe Veränderungsgeschwindigkeit in der Gesellschaft. Als Reaktion auf diese und weitere Veränderungen ist es zunehmend notwendig, diakonische Unternehmen multirational zu führen. Dies bedeutet, dass die verschiedenen in den Unternehmen aufeinandertreffenden fachlichen Denkmuster und Logiken – zum Beispiel aus der Ökonomie, der Medizin, der Pflegewissenschaft, der Sozialpädagogik und auch aus der Theologie – miteinander in Abgleich zu bringen und bei strategischen und operativen Entscheidungen zu berücksichtigen sind.3 Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen kommen für diakonische Einrichtungen und Unternehmen individuelle Transformationsprozesse
3
Vgl. BEATE HOFMANN / MARTIN BÜSCHER (Hg.): Diakonische Unternehmen mutirational führen, Baden-Baden 2017.
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dazu, die ebenfalls zu besonderen Situationen führen. Bei Diakoneo, dem größten diakonischen Unternehmen in Süddeutschland, war dies ein Vorhaben, das in der inzwischen über 168–jährigen Unternehmensgeschichte einmalig ist. Im Jahr 2019 fand nach einem knappen Jahr Vorbereitung die Fusion des Ev.-Luth. Diakoniewerks Neuendettelsau mit dem Diakoniewerk Schwäbisch Hall statt. Die beiden wirtschaftlich stabilen Diakoniewerke, die beide durch die Kaiserswerther Diakonissentradition geprägt waren, entschieden sich, die zukünftigen Herausforderungen des Sozial- und Gesundheitswesens in Zukunft gemeinsam anzugehen und zusammen aus den bis dato selbstständigen mittelgroßen Unternehmen den Unternehmensverbund Diakoneo zu bilden. Und so entstand zum 1. Juli 2019 ein mit knapp über 10 000 Mitarbeitenden und etwa 650 Mio. € Umsatz zu den fünf größten diakonischen Unternehmen in Deutschland gehörender Sozial- und Gesundheitskonzern. Neben dem neuen Unternehmensnamen wurde eine neue Marke etabliert, eine neue Satzung verabschiedet und eine neue Organisationsstruktur implementiert. Die Zentralen Dienste (Finanzen, Personal und Recht, Unternehmenscontrolling, Bau und Immobilien, Unternehmenskommunikation, IT etc.) der beiden bisherigen Unternehmen wurden in einem anderthalbjährigen Integrationsprozess zusammengeführt und im Jahr 2021 wurde der neue Zentrale Dienst Unternehmensentwicklung gegründet, der mit der Etablierung eines unternehmensweiten Strategiekreislaufs und der Weiterentwicklung der werteorientierten Führung der Entwicklung von Diakoneo bereits wesentliche Impulse gegeben hat.4 Zu den oben skizzierten gesamtgesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen kam in den Jahren seit 2020 die Aufgabe der Bewältigung der Auswirkungen der weltweiten Corona-Pandemie hinzu. Schon vorher wahrnehmbare Probleme, wie z. B. der Fachkräftemangel oder die nicht auskömmliche Finanzierung der Pflege oder der Krankenhausversorgung spitzten sich zu, so dass für alle Sozial- und Gesundheitseinrichtungen in Deutschland umfangreiche Ausgleichszahlungen des Staates notwendig wurden – ohne die ein Kollaps des Systems stattgefunden hätte. Aus heutiger Sicht betrachtet, wirkte die Corona-Pandemie wie ein Katalysator für schon vor der Pandemie notwendige Transformationsprozesse – sei es auf gesamtgesellschaftlicher oder individueller Unternehmensebene.
3.
Dialog zwischen Theologie und Diakonie
Wie lässt sich nun in diesen fundamentalen Transformationsprozessen ein Dialog zwischen Theologie und Diakonie führen, der nicht nur angemessen, sondern auch aus Sicht der Diakonie weiterführend sein kann? Dies soll an einem 4
Vgl. MATHIAS HARTMANN: Handbuch Führungsethik. Teil II: Leadership im Fusionsprozess, Stuttgart 2021, 16ff.
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Beispiel verdeutlicht werden: Im Jahr 2019 hielt Prof. Dr. Christian Albrecht, Professor für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München, auf der Konferenz der Theologischen Vorstände des Kaiserswerther Verbandes in Neuendettelsau einen Vortrag zum Thema Interkulturelle Perspektiven diakonischer Arbeit in der deutschen Gesellschaft und stellte seine dabei aufgestellten Thesen den Konferenzteilnehmer*innen zur Verfügung. Sie lauteten: „Die gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderung besteht vor allem darin, angesichts volatil gewordener Zugehörigkeiten mit den Phänomenen unauflöslicher und auch konflikthafter Vielfalt umzugehen. Diakonie und Kirche sind dabei in ihrem Selbstverständnis von einer unterschwelligen Sehnsucht nach Homogenität bestimmt. 1. Diese unterschwellige Bestimmtheit durch das Paradigma der Homogenität zeigt sich nicht zuletzt in den innerdiakonischen Überlegungen zur Interkulturalität, in denen die faktische Offenheit für religiöse und kulturelle Pluralität in Spannung steht zur Vorstellung der Differenz zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘. 2. Am Beispiel der Diskussion um die konfessionelle Bindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie zeigt sich, dass die gegenwärtige Praxis der Offenheit gegenüber religiöser und weltanschaulicher Pluralität der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch den formal ansetzenden reformatorischen Kirchenbegriff, wie er in CA VII ausgeführt ist, gut begründbar ist. 3. Auch die Frage nach der evangelischen Identität der Diakonie im Horizont ihrer Interkulturalität ließe sich in Analogie zur ganz formal ansetzenden reformatorischen Bestimmung des Begriffs der Kirche verstehen: Die Diakonie ist der Zusammenschluss all derjenigen Menschen, die sich im Namen des evangelischen Christentums den in Not und Bedürftigkeit geratenen Menschen mit praktischem sozialen Hilfehandeln zuwenden. 4. Faktisch agiert die Diakonie in der Gesellschaft der Gegenwart durch eine religiös und kulturell plurale Mitarbeiterschaft, für eine religiös und kulturell plurale Klientel und mit religiös und kulturell pluralen Kooperationspartnern. Das macht sie vertrauenswürdig und zeigt ihre gesellschaftliche Kompetenz. Die evangelische Identität der Diakonie in der Gegenwartsgesellschaft wird nicht erst produziert in der Verneinung ihrer durch gesellschaftliche Entwicklungen bedingten pluralen Gestalt, sondern sie wird bestätigt in dem gelassenen, unaufgeregten und unängstlichen Umgang mit dieser mittlerweile eben pluralen, durch innere Interkulturalität bestimmten Identität. 5. Aus einem solchermaßen modifizierten Selbstverständnis der Diakonie folgt vor allem die Aufgabe der entschlossenen Selbstauskunft: eine Bildungsaufgabe.“5
Der in diesen fünf Thesen zusammengefasste Vortrag war dabei kein singulärer Kontakt zwischen dem Vertreter der wissenschaftlichen Theologie und den Vertreter*innen der Diakonie – vielmehr hatten in den Jahren zuvor zahlreiche Begegnungen zwischen Christian Albrecht und Führungskräften aus der Diakonie 5
Der Autor bedankt sich herzlich für die Bereitstellung des Manuskripts: CHRISTIAN ALBRECHT: Interkulturelle Perspektiven diakonischer Arbeit in der deutschen Gesellschaft, Vortrag gehalten bei der Konferenz der theologischen Vorstände des Kaiserswerther Verbandes in Neuendettelsau am 24.01.2019.
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stattgefunden. So ist Christian Albrecht zum Beispiel auch der wissenschaftliche Berater von Diakoneo, der Rummelsberger Diakonie und dem Augustinum bei der Veranstaltung der alljährlich am Buß- und Bettag stattfindenden Tagung der drei diakonischen Unternehmen für Führungskräfte aus Diakonie und Kirche – und auch gleichzeitig deren Moderator und Gastgeber in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Durch diesen immer wiederkehrenden Kontakt und fachlich-inhaltlichen Dialog gelingt es immer wieder, dass die theologischen Impulse Christian Albrechts, die auf der einen Seite auf einer klaren Beschreibung und Analyse der Wirklichkeit diakonischer Unternehmen beruhen und andererseits die wissenschaftlich-theologische Perspektive empathisch mit ihr in Dialog bringen, für die Diakonie sehr oft anregend und zukunftsweisend sind. Dabei ist es hilfreich, dass der Dialog vonseiten des Praktischen Theologen mit viel Sympathie und Wertschätzung für die diakonische Arbeit geführt wird und ihm andererseits vonseiten der beteiligten Diakoniker*innen viel Respekt und Wertschätzung für seine wissenschaftliche theologische Arbeit entgegengebracht wird. So ist es nicht verwunderlich, dass aus dieser gemeinsamen Arbeit bereits einige interessante Dokumentationsbände der Tagung entstanden sind.6 Für den Verfasser ist dieser beschriebene Dialog ein gelungenes Best-Practice-Beispiel dafür, wie sich die Theologie mit klarer Analyse, empatischer Positionierung und mutigen Impulsen als Dialogpartnerin der Diakonie profilieren kann. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es neben dem beschriebenen langjährigen Kontakt zu dem Vertreter der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München selbstverständlich auch gute Kontakte und einen fachlichen Austausch mit Vertreter*innen der Augustana-Hochschule Neuendettelsau und des Fachbereichs Theologie der FAU Erlangen-Nürnberg gibt, die alle in unterschiedlicher Weise als Dialogpartner*innen der Diakonie aktiv sind.
4.
Diakonische Transformationen
Angeregt und begleitet durch den Dialog zwischen Theologie und Diakonie gestalten die diakonischen Unternehmen ihre Zukunft, indem sie die aktuellen Herausforderungen annehmen und Transformationsprozesse einleiten und durchführen. Dies führt zu Veränderungen zum Beispiel in der Konzeption, Struktur, Organisation und Strategie der diakonischen Unternehmen. Im Folgenden sollen zwei Beispiele für Transformationen bei Diakoneo erläutert werden, die durch die aktuellen Herausforderungen verursacht wurden und kon6
Vgl. etwa CHRISTIAN ALBRECHT (Hg.): Wieviel Pluralität verträgt die Diakonie?, Tübingen 2013; oder CHRISTIAN ALBRECHT (Hg.): Wozu ist die Diakonie fähig?, Tübingen 2016.
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zeptionelle Veränderungen am diakonisch-spirituellen Profil und an der Unternehmensführung zur Folge haben.7
4.1
Vom geistlichen Anspruch zum Diakonisch spirituellen Profil von Diakoneo
Schon von Anfang an ist die diakonische Arbeit bei Diakoneo mit einem spirituellen Profil verbunden. So begriffen die Gründer der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, Pfarrer Wilhelm Löhe, und der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall, Pfarrer Hermann Faulhaber, im 19. Jahrhundert die aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Herausforderungen dringend notwendige diakonische Arbeit als Ausdruck einer christlichen Grundhaltung und einer Berufung für den Dienst am Nächsten. Dieser Dienst wurde vor allem von Frauen geleistet, die als Diakonissen ausgebildet und eingesegnet wurden, damit einer christlichen Gemeinschaft beitraten und neben ihrer diakonischen Arbeit ein gemeinsames spirituelles Leben führten – unter anderem mit Bibelstudium, Tagzeitengebeten und Gottesdiensten. Diese Spiritualität war evangelisch-lutherisch geprägt – wie die Gründer selbst und die meisten der Frauen, die in die Diakonissenanstalt kamen. In den nachfolgenden Jahrzehnten veränderte sich diese spirituelle Prägung und auch das Konzept der Gemeinschaft immer wieder mit der Veränderung der Rahmenbedingungen für die diakonische Arbeit und den sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen (Gründung der Verbandsschwesternschaften, „freie“ Mitarbeitende, kirchliches Arbeitsrecht, Diakonische Bildung, Diakoniewerke, Management etc.). Zwei Jahre nach der Fusion der beiden Diakoniewerke aus Neuendettelsau und Schwäbisch Hall zum größten diakonischen Unternehmen in Süddeutschland ist es an der Zeit, auch die Art der Spiritualität neu zu bestimmen, die das Miteinander der Mitarbeitenden und Klient*innen bei Diakoneo und die Außenwirkung des Unternehmens prägen soll. Dabei sollen einerseits die Traditionen beider ehemaligen Werke eine Rolle spielen, andererseits die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und die aktuellen Rahmenbedingungen der diakonischen Arbeit, die von Diakoneo geleistet wird. Zuallererst aber sollen die Bedürfnisse von Mitarbeitenden und Klient*innen bei der Bestimmung des Diakonisch-Spirituellen Profils von Diakoneo Berücksichtigung finden. Aktuell nimmt die Vielfalt an kulturellen und religiösen Hintergründen bei Mitarbeitenden und Klient*innen von Diakoneo stark zu. 7
Diese zwei Beispiele sind Teil eines Vortrags, den der Verfasser am 26. Juli 2022 auf der Tagung der International Löhe Society in Dubuque/Iowa zum Thema „Von der Diakonissenanstalt des 19. Jahrhunderts zum diakonischen Unternehmen im 21. Jahrhundert: Diakonische Arbeit in Neuendettelsau im Wandel der Zeit“ gehalten hat.
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Diakoneo begreift diese Diversität als große Chance, auch die diakonische Arbeit vielfältiger und multiperspektivischer gestalten zu können – sie muss sich auch im Diakonisch-Spirituellen Profil widerspiegeln.8 In der obigen Beschreibung des Diakonisch-Spirituellen Profils von Diakoneo, die im Oktober 2021 vom Kuratorium beschlossen wurde, kommen die historischen Wurzeln der Spiritualität von Diakoneo, aber auch die Notwendigkeit einer Neubestimmung zum Ausdruck. Nach der sehr offenen Definition von Spiritualität als einer „nach Sinn und Bedeutung suchenden Lebenseinstellung“ und einer Benennung der gesellschaftlichen Herausforderungen als Grundlage der Neubestimmung werden die Leitlinien zum Diakonisch-Spirituellen Profil formuliert: „SPIRITUELLE ANGEBOTE BEI DIAKONEO SIND … … UNTERSTÜTZEND UND ORIENTIEREND Gemeinschaftlich gelebte Spiritualität gibt Halt, Struktur und Sicherheit. Mitarbeitende und Klient*innen tanken Kraft und gewinnen durch Besinnung auf die gemeinsamen Werte ethische Orientierung. Durch spirituelle Angebote und Symbole bei Diakoneo sollen die gemeinsame Identität und der Zusammenhalt gestärkt werden – im Unternehmensalltag, aber auch in schwierigen Phasen und bei großen Veränderungen. … EVANGELISCH GEPRÄGT UND MULTIRELIGIÖS OFFEN Die spirituellen Angebote für Mitarbeitende und Kund*innen bei Diakoneo kommen aus einer christlichen Tradition und sind christlich geprägt – es ist eine Spiritualität mit erkennbar evangelischen Wurzeln und ökumenischer Offenheit. Die Vielfalt der Prägungen, die die Mitarbeitenden und Klient*innen von Diakoneo mitbringen, bestimmt dabei auch die Vielfalt der spirituellen Ausdrucksformen, die bei Diakoneo vorkommen – von traditionell bis modern, von konservativ bis liberal. Die spirituellen Angebote bei Diakoneo sind zielgruppengerecht, einladend und inklusiv. Wenn zur Zielgruppe des Angebots Menschen anderer Religionen oder nichtreligiöse Menschen gehören, wird sensibel darauf geachtet, dass diese durch die Angebotsgestaltung nicht vereinnahmt oder ausgegrenzt werden. Bei Diakoneo werden auch Angehörige anderer Religionen und nichtreligiöse Menschen mit ihren spirituellen Bedürfnissen ernstgenommen und deren Ausdruck ermöglicht. … LEBENSBEJAHEND UND LEBENSBEGLEITEND Durch die bei Diakoneo gelebte Spiritualität kommen die Liebe zum Leben sowie die Wertschätzung für das Leben und alle Menschen zum Ausdruck. Sie ist prägend für eine Willkommenskultur, die für Diakoneo charakteristisch und für Mitarbeitende und Klient*innen ein wichtiges ‚Plus‘ ist. Wichtige Stationen im Berufsleben von Mitarbeitenden, im Leben von Klient*innen und wichtige Ereignisse im Unternehmen werden bei Diakoneo durch ein spirituelles Angebot oder Ritual begleitet.
8
Vgl das Diakonisch-Spirituelle Profil von Diakoneo, Oktober 2021; abrufbar unter https://www. diakoneo.de/spiritualitaet/diakonisch-spirituelles-profil (letzter Zugriff 16.09.2022).
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… VERSTÄNDLICH UND MODERN Die spirituellen Angebote von Diakoneo sind niedrigschwellig und auch für Menschen verstehbar, die keine christliche Prägung oder Erfahrung mit christlicher Spiritualität mitbringen. Sie nehmen kulturelle und inhaltliche Impulse aus der Gesellschaft auf und setzen sich mit ihnen auseinander.“9
Diese Leitlinien sollen einerseits darauf hinwirken, dass Spiritualität bei Diakoneo als einladend und niedrigschwellig wahrgenommen wird und anderseits sollen sie dabei helfen, dass die Offenheit für die spirituellen Bedürfnisse von Kund*innen und Mitarbeitenden auch in Zukunft ein wesentliches Profilmerkmal ist, das Diakoneo von anderen nicht-diakonischen Mitbewerbern im Sozialund Gesundheitswesen unterscheidet. Damit wird ein Aspekt des diakonischen Profils aus der Vergangenheit aufgenommen und für die Zukunft von Diakoneo als Diakonisches Unternehmen weiterentwickelt.
4.2
Von der patriarchalischen zur werteorientierten systemischen Unternehmensführung
In den meisten im 19. Jahrhundert entstandenen diakonischen Anstalten und Institutionen wurde in dieser Zeit nach dem Vorbild der bürgerlichen Großfamilie geführt. Dies wurde an den Bezeichnungen der einzelnen Protagonist*innen deutlich. Da gab es die Schwestern und die Brüder, den Hausvater, die Hausmutter und alle gehörten zur Dienstgemeinschaft, die ein geistliches Konstrukt war. Jede*r hatte ihre*seine Funktion und Rolle. Autorität wurde nicht hinterfragt. Das, was der Patriarch anordnete, wurde akzeptiert. Er war gleichzeitig geistlicher und weltlicher Leiter der Gemeinschaft und wurde durch die Oberin in diesen Aufgaben unterstützt. Dieses Bild prägte auch die diakonische Arbeit in der Diakonissenanstalt Neuendettelsau lange Zeit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Auch in der Zeit des Diakoniewerks ab den 1970er Jahren, in der Leitung schon auf mehrere Schultern übertragen war und die Verantwortung durch ein Gremium wahrgenommen wurde, wirkte dieses Bild noch nach und wurde nur nach und nach von einem moderneren Verständnis von Unternehmensführung abgelöst. Heute sind in der Führung von Diakoneo andere Leitbilder maßgebend. Einem systemischen Führungsverständnis folgend, werden werte- und sinnorientierte Führungskonzepte gepflegt und verfolgt.10 Dabei ist das auf Robert Greenleaf zurückgehende Führungskonzept „Servant Leadership / Dienendes Führen“ eine wesentliche Orientierungshilfe, die auch gut zum diakonischen Profil des Unternehmens passt. Im Sinne dieses Konzeptes wurden im Jahr 2021 9 10
A. a. O., 15–19. Vgl. HARTMANN: Handbuch Führungsethik (s. Anm. 4), 36ff.
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mit den Führungskräften Führungsleitlinien entwickelt, die zur Orientierung beim alltäglichen Führungshandeln dienen. Diese Führungsleitlinien lauten:
Abbildung 2: Die Führungsleitlinien von Diakoneo
Im Nachgang der Tagung der Leitenden im Jahr 2021 wurde die Wertekommunikation bei Diakoneo in einem durch die Unternehmensentwicklung verantworteten intensiven Diskussions- und Beteiligungsprozess überarbeitet und gebündelt. Neben dem sinnorientierten Claim „Diakoneo – weil wir das Leben lieben“ und der Unternehmensvision wurden die drei Kernwerte von Diakoneo erarbeitet.
WAS UNS BESONDERS MACHT
EMPATHISCH Wir versetzen uns in andere Menschen hinein und nehmen ihre persönlichen Bedürfnisse ernst. Dadurch gelingt uns ein wertschätzender Umgang miteinander.
VIELFÄLTIG & INKLUSIV
MUTIG
Wir empfinden die Einzigartigkeit jedes Menschen als Bereicherung. Deshalb beziehen wir jede*n Einzelne*n in unser Handeln ein.
Wir brechen Grenzen auf und entwickeln Diakoneo kreativ und zukunftsorientiert weiter. Durch innovative und nachhaltige Lösungen schaffen wir langfristig Sicherheit.
UNSER WERTEVERSTÄNDNIS
UNSER DIAKONISCH-SPIRITUELLES PROFIL
Werte sind unsere Überzeugungen, Haltungen und Ideale. Sie bestimmen wie wir wirken wollen und prägen unser Handeln.
Unsere Kernwerte basieren auf unserem Diakonisch-Spirituellen Profil. Es beschreibt unser Verständnis von Spiritualität und ist Teil unserer Identität.
Abbildung 3: Die Diakoneo Kernwerte
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Damit diese werteorientierte Kommunikation für alle Stakeholder, insbesondere aber für die Mitarbeitenden von Diakoneo, nachvollziehbar und unterstützbar ist, wurden die Marke, die Vision und die Kernwerte ganz bewusst ohne spezifisch christliche Begriffe, wie z. B. Nächstenliebe, formuliert. Vom Selbstverständnis her kommt aber das christliche Profil durch die benannten und beschriebenen Werte zum Ausdruck.
5.
Die Zukunft des Dialogs von Theologie und Diakonie
Wie gezeigt wurde, steht die Diakonie vor bzw. mitten in fundamentalen Transformationsprozessen, die einerseits durch besondere gesellschaftliche Entwicklungen und andererseits durch die Veränderungen der Rahmenbedingungen verursacht sind. In diesen Transformationsprozessen kann die wissenschaftliche Theologie – insbesondere die Praktische Theologie – eine wichtige Dialogpartnerin sein, wenn sie sich gründlich analytisch mit der Realität der Diakonie beschäftigt, sich empathisch und hilfreich positioniert und dadurch Impulse gibt, die von diakonischen Vertreter*innen als Reibungspunkte oder aber als hilfreicher Rückenwind verstanden werden können. Während das Verhältnis von Diakonie und Kirche vor einer Neubestimmung steht, da sich die organisatorischen Rahmenbedingungen deutlich auseinanderentwickelt haben und die schrumpfende Kirche nach ihrem neuen Selbstverständnis in einer säkularer werdenden Welt sucht, könnte der Dialog von Theologie und Diakonie in Zukunft intensiver werden, da die Gestaltungsmöglichkeiten aber auch -notwendigkeiten einer wachsenden Diakonie in einer diverseren und pluraleren Gesellschaft immer größer werden. Es könnte spannend sein, die sich neu ergebenden Möglichkeiten zu nutzen und in einen noch intensiveren Dialog zu treten – jede*r mit seiner*ihrer Perspektive.
Interkulturelle und ökumenische Beiträge
Ökumenische Theologie als gemeinsames Zeugnis der Hoffnung in den Brüchen der Zeit
Ökumenische Theologie als gemeinsames Zeugnis der Hoffnung
MARTIN KIRSCHNER / KONSTANTIN KAMP
Martin Kirschner / Konstantin Kamp
1.
Einführung: Krisenszenarien und die Notwendigkeit umfassender Umkehr
Die Erde ist in Gefahr. Wie ein roter Faden ziehen sich durch die täglichen Nachrichten die Stichworte, die das Ausmaß der gegenwärtigen Bedrohung erahnen lassen: Beinahe stündlich erreichen uns neue Meldungen vom Schrecken des Krieges, der seit dem russischen Angriff im Februar 2022 in der Ukraine tobt.1 Die Bilder von getöteten und verletzten Zivilisten, von zerbombten Wohngebieten und eingekesselten Städten weisen in aller Drastik auf eine Eskalation der Gewalt hin, die sich nicht in der Ferne, sondern mitten in Europa ereignet. Zugleich werden die Folgen des Krieges auch hierzulande durch die sichtbare Präsenz von Kriegsflüchtlingen, die Energiekrise, die immense Inflationsrate und damit verbundene Preissteigerungen, die gerade einkommensschwache Bevölkerungsgruppen vor existenzielle Herausforderungen stellen, immer deutlicher spürbar. Der Krieg ist indessen nur der sichtbarste Ausdruck einer tieferliegenden Gefährdung des Zusammenlebens. Ihre Symptome zeigen sich nicht nur in der Ukraine, sondern ebenso in den verschiedenen Weltregionen zwischen Ost und West wie im Globalen Süden.2 Dabei verbinden sich soziale und politische Konflikte mit kulturellen Kämpfen um Anerkennung und Hegemonie, die quer
1
2
Der Aufsatz wurde im Sommer 2022 verfasst. Wir freuen uns, mit ihm die Verbundenheit der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit der evangelischen Schwesterfakultät der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau anlässlich ihres 75. Jubiläums zum Ausdruck bringen zu können. Die hier vertretenen Thesen sind freilich weder für die katholische Theologie noch für die Eichstätter Fakultät repräsentativ, sondern liegen allein in der Verantwortung der Autoren. Vgl. aus der Fülle der Deutungen zu den ineinandergreifenden Krisen: MARTIN KIRSCHNER (Hg.): Europa (neu) erzählen. Inszenierungen Europas in politischer, theologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive (Transformation transdisziplinär 2), Baden-Baden 2022, 19–70; PHILIPP THER: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation (edition suhrkamp 2744), Berlin 2019; ANDREAS RECKWITZ: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne (edition suhrkamp 2735), Berlin 2019; JASON W. MOORE: Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und Akkumulation des Kapitals, Berlin 2020.
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Martin Kirschner / Konstantin Kamp
durch Gesellschaften und Religionen verlaufen.3 Hinter alldem steht die grundlegendere Gefahr, die von unserem Lebens- und Wirtschaftsstil für das Leben auf dem Planeten insgesamt ausgeht: Der sich beschleunigende Klimawandel, der zunehmende Biodiversitätsverlust, die Wasserknappheit und nicht zuletzt das Überschreiten von „Kipppunkten“, das zu weitreichenden Veränderungen des Erdsystems mit gravierenden Folgen für das Leben führt,4 zeigen, dass die Krise planetarische Dimensionen hat und den gesamten „bewohnten Erdkreis“ betrifft.5 In ihr wird nicht nur die Tiefe der Eingriffe des Menschen in das Erdsystem deutlich, wie es der Begriff ‚Anthropozän‘ als Bezeichnung des gegenwärtigen erdgeschichtlichen Zeitalters zum Ausdruck bringt.6 Sie konfrontiert zugleich mit den Schattenseiten einer Zivilisation, deren Programm von Vernunft und Fortschritt eng mit dem Streben nach Herrschaft, mit Kolonialismus, Kapitalismus und einer Ausbeutung der Natur verbunden ist.7 Wer in dieser Situation, die „einen tiefgreifenden Kultur- und Strukturwandel“8 im Sinne einer „Großen Transformation“9 erfordert, Theologie treibt, kann dies nicht einfach unter Absehung von der Krise tun. Wenn zutrifft, dass sich 3
4
5
6
7
8 9
Andreas Reckwitz konstatiert ein Gegeneinander von „zwei konträr aufgebaute[n] Regime[n] der Kulturalisierung“ (RECKWITZ: Ende der Illusionen [s. Anm. 2], 30). Auf der einen Seite steht „ein kosmopolitisches Kulturverständnis, das man als Hyperkultur bezeichnen kann“ (ebd.), auf der anderen Seite ein „mit einem Innen-Außen-Dualismus“ arbeitender „Kulturessenzialismus“, der vom „Modell homogener Gemeinschaften, die als imagined communities in die Welt gesetzt werden“ (a. a. O., 31), ausgeht. Vgl. dazu a. a. O., 29–61. Vgl. dazu TIMOTHY M. LENTON u. a.: Tipping elements in the Earth’s climate system, in: PNAS 105 (2008), 1786–1793; ULRICH RANKE: Klima und Umweltpolitik, Berlin 2019, 58–62. Für eine bündige Charakteristik der mit dem Klimawandel verbundenen Krisen vgl. MARKUS VOGT: Christliche Umweltethik. Grundlagen und zentrale Herausforderungen, Freiburg i. Br. 2021, 76–109. Vgl. zur Anthropozän-Debatte einführend BRIGITTE BERTELMANN / KLAUS HEIDEL: Leben im Anthropozän. Christliche Perspektiven für eine Kultur der Nachhaltigkeit, München 2018; EVA HORN / HANNES BERGTHALLER: Anthropozän zur Einführung, Hamburg 32022; M. VOGT: Umweltethik (s. Anm. 5), 110–146. Für eine Kritik des Anthropozän-Diskurses vgl. JÜRGEN MANEMANN: Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014. Die Reichweite und Komplexität der Krise nötigt dazu, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen mit naturwissenschaftlichen und erdgeschichtlichen Erkenntnissen zu verbinden, so dass die Auseinandersetzung mit den hegemonialen Strukturen und kulturellen Folgen der Globalisierung auf die planetarische Dimension hin geöffnet wird und die Tiefenhistorie der Erde und des Lebens einbeziehen muss. Vgl. DIPESH CHAKRABARTY: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter, Berlin 2022. Damit sind auch Philosophie und Theologie als Orientierungs- und Integrationswissenschaften in neuer Weise gefordert. VOGT: Umweltethik (s. Anm. 5), 22. Zum Begriff der „Großen Transformation“, der sich in gegenwärtigen Debatten immer wieder findet, um die Notwendigkeit eines fundamentalen gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Wandels zu beschreiben, vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, Berlin 22011 sowie UWE SCHNEIDEWIND: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a. M. 2018.
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dieser „Wandel in allen betroffenen Dimensionen“10 vollziehen muss, dann muss sich auch die Theologie so formieren, dass sie zu einem adäquaten Umgang mit der Fragilität des Menschen und der Gefährdung des Planeten beiträgt. Dabei dürfte es kaum darum gehen, aus der Theologie unmittelbare Handlungsanweisungen zur Lösung der Krise abzuleiten.11 Stattdessen gilt es, den Gottesglauben so zu buchstabieren, dass er im Angesicht der Krise als eine Ressource der Hoffnung erfahrbar wird.12 Ein so verstandener Glaube zielt nicht auf Wahrung von Besitzständen oder Durchsetzung des eigenen Standpunktes, sondern befähigt dazu, sich der krisenhaft-gebrochenen Wirklichkeit und der eigenen Ohnmacht im Vertrauen auf den alles Seiende übersteigenden und gerade darum Rettung verheißenden Gott zu stellen. Das wird umso dringlicher, als Kirche, Theologie und auch Glaubensüberlieferung selbst in einer tiefen Krise sind. Diese verweist auf die geistliche Dimension der bisher benannten Krisenphänomene. Sie spiegelt Transformationskonflikte und Säkularisierungstendenzen der Moderne, aber auch Missstände in den Kirchen: Rückgang religiöser Praxis, Mitgliederschwund, Mangel an hauptamtlichem Personal, Richtungskämpfe um die Mitte der eigenen Botschaft, qualitative Missstände in Gottesdiensten und Seelsorge sind Probleme, die die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gleichermaßen betreffen. Hinzu kommt die epochale Vertrauenskrise, die gegenwärtig insbesondere die römisch-katholische Kirche in Folge des Bekanntwerdens tausendfachen sexuellen, körperlichen und geistlichen Missbrauchs durch Kleriker sowie dessen Vertuschung erfasst. Machtmissbrauch im Namen 10
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WOLFGANG LUCHT: Verwüstung oder Sicherheit: Die Erde im Anthropozän, in: BRIGITTE BERTELMAN / KLAUS HEIDEL (Hg): Leben im Anthropozän. Christliche Perspektiven für eine Kultur der Nachhaltigkeit, München 2018, 39–52, 50. Das schließt freilich nicht aus, dass die Theologie bestimmte Theoriebestände einer Revision unterziehen muss, weil diese zur Krise beigetragen haben. Das gilt nach VOGT: Umweltethik (s. Anm. 5), 53 besonders für die „imperiale Deutung des Naturverhältnisses auf der Basis von Genesis 1“ (ebd.), die maßgeblich die Ausbeutung der Natur begünstigt habe. Für den eng mit den hier vorgetragenen Überlegungen zusammenhängenden Ansatz einer performativen und messianischen Wendung politischer Theologie vgl. MARTIN KIRSCHNER: Überlegungen zu einer performativen und messianischen Wendung Politischer Theologie angesichts der Krise Europas, in: Crosscultural Studies of Religion and Theology / CSRT (2022, im Erscheinen), einsehbar unter DOI: 10.25598/csrt/2022-11. Ein solcher Ansatz wäre im Gespräch mit den Entwürfen einer performativ und topologisch ausgerichteten systematischen Theologie zu vertiefen, wie sie Hans-Joachim Sander (HANS-JOACHIM SANDER: Glaubensräume – Topologische Dogmatik. Bd. 1: Glaubensräumen nachgehen, Ostfildern 2019) und Gregor Maria Hoff (GREGOR MARIA HOFF: Glaubensräume - Topologische Fundamentaltheologie. Bd. II/1: Der theologische Raum der Gründe, Ostfildern 2021) vorgelegt haben. Ferner sei auf den Ansatz von Johannes Hoff (JOHANNES HOFF: Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i. Br. 2021) verwiesen, der auf die metaphysischen und theologischen Wurzeln der gegenwärtigen Krise mit einer Rückbesinnung auf eine holistische Spiritualität der Unterscheidung im Rahmen einer post-konfessionellen Experimentaltheologie antwortet, die auf eine zeitgenössische Erneuerung klassischen Weisheitsstrebens zielt.
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Gottes und die Verkehrung des Evangeliums treffen das christliche Gotteszeugnis in seinem Kern, insofern hier Gotteszeugnis und Vollzug des Glaubens zugleich in Anspruch genommen und pervertiert und vergiftet werden.13 Der vorliegende Text setzt bei dieser umfassenden Krisenwahrnehmung an und möchte einen Beitrag zur Gewinnung eines Theologieverständnisses leisten, das zu deren Bearbeitung dienlich ist. Dabei greift er mit der Ökumene ein Thema auf, das schon vom Publikationsort dieses Textes her naheliegt. In Anbetracht der planetarischen Krise plädiert der vorliegende Text für ein Verständnis von Ökumene im weitesten und zugleich grundlegenden Sinn, dem es, der ursprünglichen Wortbedeutung entsprechend, um den „ganzen bewohnten Erdkreis“14 geht. Wird Ökumene so verstanden, befasst sie sich mit dem Zusammenleben der Menschen untereinander und mit allen Geschöpfen im „gemeinsamen Haus“15 der Erde, die angesichts der sozioökologischen Krise unserer Zivilisation und der drohenden ökologischen Katastrophe als ein verwundbares, zerbrechliches und unendlich kostbares komplexes System erscheint, von dem wir selbst Teil sind und dessen fein austariertes Gleichgewicht wir zerstören. Wie eine sol13
14
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Gerade in einer performativen Perspektivierung, die davon ausgeht, dass sich in der „Performanz des Zeichens ‚Gott‘ […] seine Wirklichkeit durch[setzt]“ und dass sich die Bezeugung Gottes als der „unbegrenzten schöpferischen Lebensmacht“ gerade angesichts der Erfahrungen von „Vernichtung des Lebens“ bewähren muss, wird deutlich, dass der mit Missbrauch verbundene Vertrauensverlust die „Grundlagen der Erfahrbarkeit Gottes“ zerstört, so HOFF: Glaubensräume II/1 (s. Anm. 12), 404. Angesichts der Gefährdung des bewohnten Erdkreises durch Krieg, Unrecht und Zerstörung der Lebensgrundlagen, einer „Stunde der Erprobung für die ganze oikumene“ (Apk 3,10), gilt 33 Jahre nach dem Hoffnungsjahr 1989 umso schärfer, was damals auf der ersten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel formuliert wurde: „Wir sind uns der tödlichen Bedrohung bewußt, vor der die Menschheit heute steht. Aber Gott ist ein Gott des Lebens, der vom Werk seiner Hände nicht abläßt. Vielmehr ruft Gott uns auf, von Ungerechtigkeit, Gewalt und Ausbeutung abzulassen. Gottes Ruf zur Umkehr ist die Tür zum Leben“ (Europäische Ökumenische Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“ [Basel, 15.– 21. Mai 1989], Dokument Nr. 1; zitiert nach: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [Hg.]: Europäische Ökumenische Versammlung. Frieden in Gerechtigkeit. Basel, 15.–21. Mai 1989. Das Dokument. Die Botschaft. Brief von Johannes Paul II. [Arbeitshilfen 70], Bonn 1989). Der Begriff der „Sorge um das gemeinsame Haus“ in der Enzyklika „Laudato si´“ scheint uns treffender als die Formulierung der „Bewahrung der Schöpfung“, die statisch-defensiv formuliert ist und doch zugleich eine gewisse Selbstüberschätzung zum Ausdruck bringt, als läge die Erhaltung der Schöpfung in der Macht der Geschöpfe. Demgegenüber ist die Formulierung „Sorge um das gemeinsame Haus“ sowohl auf das Bild des Lebenshauses und seiner Zerrüttung durch Sünde und Gewalttat in der Urgeschichte der Genesis transparent (vgl. KARL LÖNING / ERICH ZENGER: Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 135–173) wie auf eine Ethik der Sorge im umfassenden Bereich der Verwaltung der Güter (Haus, oikos – in Verschränkung von Ökonomie, Ökologie und weisheitlichen Kosmovisionen [Öko-Sophie]); die Enzyklika verbindet die Rezeption wissenschaftlicher Klimaforschung mit einer Öffnung für weisheitliche und indigene Weltdeutungen und Vorstellungen „guten Lebens“.
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che ökumenische Theologie „mit dem Gesicht zur Welt“ (Johann Baptist Metz) aussehen könnte, wollen wir im Folgenden skizzieren. Ausgehend von der Diagnose einer „Krise der Ökumene“ (2) schlagen wir eine Weitung des Gegenstandsbereichs ökumenischer Theologie vor, der eine Wendung der theologischen Perspektive hin zur Performativität des Glaubens angesichts der Gefährdungen der Zeit entspricht. Das korrespondierende Theologieverständnis (3) umreißen wir an vier klassischen Funktionen der Theologie: Als Rede von Gott zielt sie in der Differenz von Zeichen und Bezeichnetem auf die Wirklichkeit Gottes (3.1); dazu reflektiert sie den Glaubensvollzug (3.2) und sucht als Explikation des Evangeliums den Glauben als Heilsbotschaft zu entfalten (3.3), deren universale Hoffnungsperspektive im kirchlichen Zeugnis verwurzelt ist, das daher kritisch zu reflektieren ist (3.4). Die Überlegungen münden in das Plädoyer für eine ‚kenotische‘, ‚schwache‘ Gestalt von Theologie, in der konfessionelle Traditionen, Bekenntnisbildung und dogmatische Grenzziehungen daraufhin gelesen werden, wie sie den Vollzug des Glaubens, Prozesse der Unterscheidung und ein gemeinsames Zeugnis der Hoffnung ermöglichen.
2.
Die Krise der Ökumene – eine Chance für die Theologie?
Dass das Ringen um Wiedererlangung der Einheit der Kirche gegenwärtig nur noch schleppend vorangeht, wird schon seit längerem konstatiert.16 Die Krise der Ökumene ist dabei eng mit der generellen Krisendynamik der Gegenwart verwoben. Das zeigt sich aktuell besonders deutlich mit Blick auf die Orthodoxie: Der Krieg in der Ukraine zerreißt die zuvor schon belastete Beziehung der Orthodoxen Kirchen untereinander, das plurale Miteinander der Kirchen, das sich in der Ukraine seit 1991 ausgebildet hat, vor allem aber das Verhältnis zum Moskauer Patriarchat, das sich distanzlos mit der Politik des Kreml verbündet und als Kriegspartei erscheint. In der Folge ist auch das Verhältnis der traditionell „westlichen“ Kirchen zur russischen Orthodoxie höchst angespannt. Stellt man diese Verschränkung von politischer und ökumenischer Krise in Rechnung, 16
Vgl. nur die Einschätzung bei THOMAS BREMER: Ökumene und ökumenische Theologie im Umbruch, in: DERS. / MARIA WERNSMANN (Hg.): Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch (QD 259), Freiburg i. Br. 2014, 18–36, 18: „Es herrscht Konsens darüber, dass ‚die Ökumene‘ in einer Krise ist.“ Es gibt freilich auch gegenteilige Einschätzungen. So spricht ULRICH H. J. KÖRTNER: Ökumene im 21. Jahrhundert, in: REBEKKA A. KLEIN (Hg.): Gemeinsam Christsein. Potenziale und Ressourcen einer Theologie der Ökumene für das 21. Jahrhundert (Dogmatik in der Moderne 34), Tübingen 2020, 17–40, 19 im Kontext des 500-jährigen Reformationsjubiläums gar von einem „neuen Frühling“ der Ökumene, räumt jedoch zugleich ein, „dass entscheidende theologische Fragen nach wie vor ungelöst sind.“
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drängt sich der Eindruck auf, dass das Ziel einer sichtbaren Einheit der Kirche heute in weite Ferne gerückt ist. Doch auch wer die Rede von einer Krise der Ökumene für überzogen hält, weil sie das oft gute Miteinander unterschiedlicher Konfessionen vor Ort und die Früchte des weltweiten Dialogs der Kirchen ausblendet,17 kann kaum leugnen: Die ökumenische Euphorie, die vor allem die Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil begleitet hatte, ist inzwischen verflogen. Was der Grund für diesen ökumenischen Stimmungswandel ist, wird indes kontrovers diskutiert. Unstrittig ist, dass die kirchenamtliche Rezeption der im ökumenischen Dialog erzielten Konsense und Konvergenzen nicht den Erwartungen der an ihrer Erarbeitung Beteiligten entspricht.18 Die Krise der Ökumene ist insofern vor allem eine Krise der sog. „Konsensökumene“.19 Doch woran liegt das – und wie ist mit diesem Befund umzugehen? Sind primär nicht-theologische Faktoren für die mangelnde kirchenamtliche Rezeption verantwortlich, so dass die heutige Problematik des ökumenischen Dialogs nicht in der Konsensökumene selbst, sondern beispielsweise in der kirchlichen Angst vor Identitätsverlust oder in konfessionell divergierenden Mentalitäten zu suchen ist?20 Oder weist die Nicht-Rezeption auf ein prinzipielles Defizit der Konsensökumene hin, insofern sie die Grunddifferenzen, die allen Dialogen zum Trotz zwischen den Konfessionen bestehen, vorschnell überspielt?21 Ist mit anderen Worten ein „Paradigmenwechsel von der Konsensökumene zur Differenzökumene“ notwendig, für die ganz grundsätzlich „die Idee einer sichtbaren Einheit der Kirchen auf dem Prüfstand steht“22?
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Vgl. KURT KOCH: Auf dem Weg zur Einheit der Christen. Elementare Herausforderungen in der Ökumene heute, in: DERS.: Gottes Freude und Freude an Gott. Perspektiven heutiger Glaubensverantwortung, Freiburg i. Br. 2020, 435–355, 435. Zu dieser Einschätzung kommt beispielsweise BERND JOCHEN HILBERATH: Kontroversen – Konvergenzen / Konsense – Differenzen. Zum Wandel von Methode und Geist in der Ökumenischen Theologie, in: ThQ 200 (2020), 268–284, 269f. Zum Selbstverständnis und Ziel der Konsensökumene vgl. THEODOR DIETER: Was ist und zu welchem Ende betreibt man Konsensökumene?, in: BERND JOCHEN HILBERATH u. a. (Hg.): Vielfältiges Christentum. Dogmatische Spaltung – kulturelle Formierung – ökumenische Überwindung, Leipzig 2016, 189–215. Vgl. dazu HILBERATH: Kontroversen (s. Anm. 18), 270f.; MICHAEL HUBER / PETER SCHÜZ (Hg.): Ökumene der konfessionellen Mentalitäten. Interdisziplinäre Vorüberlegungen in theologischer Absicht (Beiträge aus dem Zentrum für Ökumenische Forschung München 8), Münster u. a. 2020. Auf die Bedeutung nicht-theologischer Faktoren hat schon früh Peter Lengsfeld in seiner Theorie ökumenischer Prozesse hingewiesen (vgl. etwa PETER LENGSFELD [Hg.]: Ökumenische Theologie. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 1980, 36–67). Zu seinem Ansatz vgl. MARIA WERNSMANN: Praxis, Probleme und Perspektiven ökumenischer Prozesse. Ein Beitrag zur Theoriebildung (ÖR.B 107), Leipzig 2016. Vgl. KARL-HEINZ MENKE: Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus, Regensburg 2012, 29. ULRICH H. J. KÖRTNER: Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005, 12.
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Der vorliegende Beitrag gibt keine Antwort auf diese Fragen, sondern schlägt einen Perspektivwechsel vor. Er geht von der Beobachtung aus, dass sich mit Konsens- und Differenzökumene zwar unterschiedliche Modelle ökumenischer Theologie gegenüberstehen, die mit Blick auf die zugrundeliegende theologische Methode aber eine erstaunliche Übereinstimmung zeigen. Diese Übereinstimmung liegt im Gegenstandsbereich, der der ökumenischen Theologie zugeschrieben wird: Beiden Modellen zufolge beschäftigt sich ökumenische Theologie primär mit doktrinären Fragen, also mit Glaubensinhalten, welche in ihren theoretischen Voraussetzungen und praktischen Folgen in konkreten Kirchenstrukturen in den Blick kommen.23 Das lässt sich hinsichtlich der Konsensökumene gut am Beispiel des von vielen Vertretern präferierten Modells des „differenzierenden Konsenses“24 zeigen: Hier wird, vereinfacht gesagt, mit Blick auf kontroverse Lehren versucht, die bestehenden Unterschiede zwischen den Konfessionen zu identifizieren, diese aber durch Verweis auf einen Konsens im Grundsätzlichen als nicht mehr kirchentrennend auszuweisen.25 Zwar scheint dieses Vorgehen auf den ersten Blick mit einer gewissen Relativierung der Lehre bzw. ihrer Ausdrucksgestalt verbunden zu sein, insofern lehrhafte Differenzen als komplementär und damit legitim anerkannt werden.26 Entscheidend ist jedoch, dass diese Anerkennung nur vor dem Hintergrund eines Grundkonsenses möglich ist, der selbst wiederum doktrinärer Natur ist. Ein solcher Fokus auf die Glaubenslehre wird auch durch die beschriebene Einbeziehung nicht-theologischer Faktoren nicht überwunden, wenn diese die Validität der Konsensökumene voraussetzt und lediglich deren mangelnde kirchenamtliche Rezeption zu bearbeiten versucht. Ähnlich wie die Konsensökumene setzt auch die Differenzökumene bei Glaubensinhalten an, doch liegt hier der Schwerpunkt auf solchen Lehren, die auf fundamentale und daher durch Konsense nicht überbrückbare Unterschiede zwischen den Konfessionen hinweisen. Die Differenzökumene zielt auf die Identifikation solcher konfessioneller „Grunddifferenzen“ und will diese theologisch
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Damit soll nicht verschwiegen werden, dass es in der heutigen ökumenischen Theologie auch vielfältige Versuche gibt, ökumenische Theologie so zu fassen, dass sie nicht auf dogmatische Fragen enggeführt wird. Für eine Übersicht vgl. STEFAN DIENSTBECK: Ökumenischer Dialog 2.0? Anfragen an Methodik und Zielvorstellungen ökumenischer Theologie angesichts neuer Herausforderungen, in: REBEKKA KLEIN / LISANNE TEUCHERT (Hg.): Ökumene in Bewegung. Neue Perspektiven der Forschung, Leipzig 2021, 59–74. Zu den Wurzeln des Konzepts des „differenzierenden Konsenses“, das zunächst unter dem Namen „differenzierter Konsens“ in die Diskussion Eingang fand, vgl. HARALD WAGNER (Hg.): Einheit – aber wie? Zur Tragfähigkeit der ökumenischen Formel vom „differenzierten Konsens“ (QD 184), Freiburg i. Br. 2000. Für eine detaillierte Beschreibung vgl. WOLFGANG THÖNISSEN: Funktionsweisen des ökumenischen Dialogs, in: THOMAS BREMER / MARIA WERNSMANN (Hg.): Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch (QD 259), Freiburg i. Br. 2014, 76–95, 85–90. Vgl. a. a. O., 87.
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bearbeiten.27 Was dabei als Grunddifferenz gilt, fällt im Einzelnen unterschiedlich aus: So kann beispielsweise auf die interkonfessionell abweichende Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz im Verständnis der Einheit der Kirche verwiesen werden.28 In diesem Sinne stellt etwa der reformierte Theologe Ulrich H. J. Körtner das evangelische Modell einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit, das die eine Kirche als allein im Glauben gegebene und sichtbar „nur in, mit und unter den Bedingungen ihrer Ausdifferenzierung in Konfessionen und Denominationen“29 existierende Größe fasst, dem „römisch-katholische[n] Konzept eines Ökumenismus der Re-Integration der nicht-katholischen in die römische Kirche“30 gegenüber. Zwischen beiden Verständnissen besteht aus seiner Sicht eine „Grunddifferenz“31, die zu einer grundlegenden Reflexion auf das adäquate Verständnis von kirchlicher Einheit Anlass gibt. Von einer „Grunddifferenz“ spricht auch der katholische Theologe Karl-Heinz Menke, doch verortet er sie in den unterschiedlichen Denkformen beider Konfessionen.32 Als Hauptunterschied benennt er eine abweichende Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch: Während die katholische Theologie für Menke in ihrer „wesentlich sakramentalen Denk- und Lebensform“ von „einer direkt proportionalen Bestimmung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln“ ausgehe, sei für den Protestantismus der Gedanke der „Alleinwirksamkeit des Erlösers“ ausschlaggebend.33 Unabhängig davon, wie man diese Versuche, eine Grunddifferenz zwischen den Konfessionen zu ermitteln, im Einzelnen bewertet,34 liegt die Versuchung nahe, die unterschiedlichen Formen der Vermittlung von Einheit und Vielfalt bzw. Freiheit und Gnade ihrerseits wie doktrinelle Unterschiede auf der Metaebene zu behandeln, so dass sich von hierher ökumenische Differenzen und entsprechende Identitäten in Abgrenzung von der Gegenposition konstruieren lassen. Der eigentliche Gegenstand der ökumenischen Theologie bleibt dann die Glaubenslehre. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise der Ökumene zeichnet es sich ab, dass ein solches, primär an Glaubenslehren orientiertes Verständnis von Ökumene in der Gegenwart nur bedingt weiterführt. Damit seien in keiner Weise die beeindruckenden Erfolge um die Annäherung der christlichen Kirchen, die auf Basis eines solchen Verständnisses in den vergangenen Jahrzehnten erzielt 27
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Für eine Charakteristik und kritische Diskussionen dieses Ansatzes im Gegenüber zu Konsensökumene vgl. WERNSMANN: Praxis (s. Anm. 20), 354–363. Vgl. dazu KÖRTNER: Ökumene (s. Anm. 22), 22–31. A. a. O., 31. A. a. O., 42. A. a. O., 22. Vgl. MENKE: Sakramentalität (s. Anm. 21), 20f. A. a. O., 22. Für eine kritische Diskussion des Ansatzes Körtners vgl. BERND OBERDORFER: Konsensökumene? Differenzökumene? Ökumene der Profile? Ulrich Körtners Beitrag zur neueren Diskussion um Leitvorstellungen des ökumenischen Gesprächs, in: KuD 55 (2009), 39–51.
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wurden, bestritten. Die krisenhafte Dynamik der Gegenwart erfordert unseres Erachtens jedoch eine Verschiebung der Perspektive ökumenischer Theologie. In welche Richtung eine solche Veränderung des Gegenstandsbereichs der Ökumene aus unserer Sicht gehen sollte, haben wir oben bereits angedeutet. Wir plädieren dafür, Ökumene im Sinne des ganzen „bewohnten Erdkreises“ und von der Sorge für das „gemeinsame Haus“ her zu denken und sie auf den Vollzug des Glaubens als ein Zeugnis von Hoffnung auszurichten. Welche Konsequenzen sich daraus für die ökumenische Theologie ergeben, sei hier in drei Thesen knapp umrissen: 1) Die primäre Herausforderung der Ökumene liegt in der grundlegenden Gefährdung des bewohnten Erdkreises. Die Krisen und Herausforderungen innerchristlicher Ökumene sind hierauf zu beziehen. Dem entspricht, dass Glaube und Kirche keine Selbstzwecke, sondern auf das Heil der Menschen und das Lob (die „Ehre“) Gottes ausgerichtet sind. Es sind relationale und relative Größen, die aus der Zuwendung Gottes leben, diese bezeugen und menschliches Handeln in eine Perspektive eschatologischer Hoffnung rücken. 2) Die Fragen um Konsens, verbleibende Dissense und um eine mögliche Schärfung der Profile rücken damit in die zweite Reihe. Sie sind der grundlegenden Herausforderung unterzuordnen, wie Christen angesichts der Herausforderungen und Gefährdungen des Zusammenlebens und Überlebens öffentlich Zeugnis der Hoffnung geben können, die sie erfüllt.35 Im Horizont der Zuwendung Gottes fordert die Sorge um das Zusammenleben im gemeinsamen Haus eine Umkehr und Erneuerung des Glaubens, die sich in der Praxis einer auch sozialen und politischen Liebe und Freundschaft realisiert und bewähren muss. 3) Dies führt dazu, die ökumenischen Bemühungen in den umfassenderen Horizont des kommenden Reiches Gottes (als Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander sowie mit allem Lebendigen und der Erde als unserem „Lebenshaus“) zu stellen und die Fragen von Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) im Horizont der Bemühung um „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ zu bearbeiten. Dem entspricht ein Kirchenverständnis, das weniger in Wesensbegriffen und Definitionen denn prozessual als Verständigung im Glauben, in Prozessen konziliarer bzw. synodaler Unterscheidung, von kollektiver Umkehr und Erneuerung her zu denken ist. Dabei geht es nicht um eine Ablösung der Konsensökumene oder um ein Überspielen lehrmäßiger Differenzen: Die doktrinäre Dimension des Glaubens bleibt wichtig, sowohl im Sinne ihrer regulativen und vor Verkürzungen schützenden 35
Vgl. 1Petr 3,15 im ursprünglichen, biblischen Kontext, der diese „ἀπολογία“ und den „λόγον περὶ τῆς ἐν ὑμῖν ἐλπίδος“ nicht intellektualistisch verkürzt, sondern als öffentliches Zeugnis im Kontext geschichtlicher Kämpfe, von Bedrängnis und Gewalt verortet.
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Funktion, vor allem aber, insofern sie die Inhaltlichkeit des Glaubens trägt, seine Ausrichtung auf Christus in Orientierung an den Symbola und einem unverkürzten Bekenntnis des Glaubens. Gerade angesichts der Erosion des Glaubens, der oft rudimentären Kenntnisse des Glaubens auch innerhalb der Gemeinden und in einer Situation, wo die Differenzen und Konfliktlinien im Verständnis des Glaubens weniger zwischen den Konfessionen als quer durch sie hindurch zwischen unterschiedlichen Hermeneutiken und Glaubensstilen verlaufen, scheint es uns jedoch notwendig, die doktrinäre Dimension konsequent auf den Vollzug des Glaubens und auf die Evangelisierung zu beziehen und auszurichten. Dies entspricht einerseits der verbreiteten Suche nach einer tragenden Spiritualität, andererseits begegnet es der Gefahr, doktrinäre Gehalte und inhaltliche Differenzen auf Identitätsmarker zur Gruppenbildung und Abgrenzung zu reduzieren. Die Ausrichtung auf den gelebten Glauben und auf die (Selbst-)Evangelisierung ist natürlich keineswegs neu. Die Fragen von Mission und Evangelisierung, das gemeinsame Zeugnis des Glaubens, der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung sind von Beginn an ein Motor der ökumenischen Bewegung und haben sie durchgängig begleitet. Indem wir eine Hinwendung zur Performativität des Glaubens und der Theologie vorschlagen, suchen wir jedoch das systematische Gewicht der Vollzugsformen des Glaubens deutlicher zu fassen. Der doktrinäre Aspekt, Dogmen und theologische Explikationen sind (regulativ, reflexiv und explikativ) auf diesen Glaubensvollzug hingeordnet.36 Einer solchen performativen Wendung folgend, muss auch Theologie anders konzipiert werden. Gegenüber einer Ausrichtung an objektivierbaren und eindeutig identifzierbaren Glaubenslehren bindet Theologie in einem performativen Verständnis die Glaubensinhalte wie die Glaubenssubjekte und Glaubensgemeinschaft(en) an den Vollzug von Glauben, Hoffen und Lieben zurück, in welchem sich Subjektivität, Objektivierungen und Sozialformen des Glaubens je neu konstituieren und transformieren.37 36
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Die fides quae lässt sich dann als Ausdruck, Funktion und Präzisierung der fides qua verstehen, wurzelnd in der fides ecclesiae, die jedoch nicht als feststehende konfessionelle Identität, sondern als eine dynamische, in kommunikativen Prozessen (synodal) sich entwickelnde und auf den universalen Heilswillen und die eschatologische Wahrheit Gottes hin geöffnete Größe gedacht werden muss. Die ökumenische Bewegung ist dann Teil solcher Verständigung über die fides ecclesiae – über Konfessionsgrenzen hinweg. Vgl. zu einem solchen fundamentalen Verständnis von Performativität, das sich nicht auf bestimmte Sprachhandlungen oder theaterwissenschaftlich-ästhetische Kontexte reduzieren lässt: PETER ZEILLINGER: Disillusioning Reason – Rethinking Faith. Saint Paul, Performative Speech Acts and the Political History of the Occident in Agamben and Foucault, in: GERRIT JAN VAN DER HEIDEN u. a. (Hg.): Saint Paul and Philosophy. The Consonance of Ancient and Modern Thought, Berlin/Boston 2017, 95–113; PETER ZEILLINGER: Offenbarung als Ereignis. Zeitgenössische Philosophie, die Rede von Gott und das Sprechen der Bibel, in: SaThZ 21 (2017), 25–101; ANNA MARIA RIEDL: Judith Butler and Theology, Leiden u. a. 2021; SIBYLLE TRAWÖGER: Ästhetik des Performativen und Kontemplation. Zur Relevanz eines
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3.
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Ein performatives Verständnis ökumenischer Theologie
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, ein solches performatives Verständnis von ökumenischer Theologie aus der theologischen Innenperspektive und auf einer prinzipiellen Ebene wenigstens in einigen Grundzügen zu umreißen.38 Dies soll in vier Schritten geschehen: 1) als „Rede von Gott“ betrachtet Theologie die ganze Wirklichkeit „sub ratione Dei“, sei es, insofern sie über Gott selbst oder über die Welt im Verhältnis zu ihm handelt.39 Sie lässt sich 2) als „Glaubenswissenschaft“ verstehen, die der Bewegung des „Glaubens, der Verstehen sucht“ (fides quaerens intellectum) im Sinne des Anselm von Canterbury folgt. Sie zielt dabei 3) auf das Heil des Menschen und lässt sich in diesem Sinn im Anschluss an Martin Luther als eine praktische Wissenschaft verstehen, die sich auf das Evangelium richtet, um dem erlösungsbedürftigen, in Sünde verstrickten Menschen den rechtfertigenden Gott zu erschließen.40 Dabei reflektiert sie 4) die Vermittlungsgestalten des Heils in der Perspektive der kommenden Gottesherrschaft, indem sie diese – im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil – in ihrem sakramentalen Charakter als „Zeichen und Werkzeug für die
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kulturwissenschaftlichen Konzepts für die Systematische Theologie, Paderborn 2019; sowie die topologische Fundamentaltheologie von HOFF: Glaubensräume II/1 (s. Anm. 12), bes. 353–452 und die Überlegungen zu einer performativen Politischen Theologie in MARTIN KIRSCHNER (Hg.): Subversiver Messianismus. Interdisziplinäre Agamben-Lektüren (Academia Philosophical Studies 70), Baden-Baden 2020; DERS.: Europa (s. Anm. 2); DERS.: Überlegungen (s. Anm. 12). Dies wäre dann an exemplarischen theologischen Themenfeldern und in Blick auf den Inhalt christlicher Hoffnung durchzuführen. Andererseits wäre ein solches performatives Verständnis von Theologie vor der Außenperspektive der Wissenschaften und einer säkularen Öffentlichkeit zu plausibilisieren. Vgl. zu letzterem die Studie von HOFF: Glaubensräume II/1 (s. Anm. 12). Vgl. THOMAS VON AQUIN: STh I q.1, a.7c: „Omnia autem pertractantur in sacra doctrina sub ratione Dei vel quia sunt ipse Deus; vel quia habent ordinem ad Deus, ut ad principium et finem.“ Vgl. MARTIN LUTHER: Enarratio Psalmi LI (1532), WA 40,2, 327,11–328,1: „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator.“ Zur Bedeutung dieser Stelle vgl. DIETRICH KORSCH: Theologische Prinzipienfragen, in: ALBRECHT BEUTEL (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, 353–362, 356: „Hierin zeigt sich […], daß Luther eine Erkenntnis Gottes und des Menschen gar nicht abgesehen von der richtenden und rettenden Begegnung von Gott und Mensch und also unabhängig von der Ereignung des Heils für zulässig hält. Jede bloß beschreibende Sichtweise, jede distanziert reflektierende Haltung Gott gegenüber verfehlt Gott selbst, weil sie die Situation des Menschen vor Gott verkennt. Damit wird deutlich, daß ‚der rechtfertigende Gott‘ und ‚der sündige Mensch‘ nicht Näherbestimmungen von ‚Gott‘ und ‚Mensch‘ sind, sondern gerade die jeweilige Wesensbestimmung ausmachen.“
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innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts“41 begreift und darin die eigene konfessionelle Basis auf eine ökumenische Theologie (auch im angesprochenen weiten, planetarischen Sinn) hin öffnet und überschreitet.
3.1
Die Unverfügbarkeit Gottes
Als Rede von Gott ist der Theologie ihr Gegenstand wesentlich entzogen. Sie arbeitet mit dem Wort ‚Gott‘ und seiner Bedeutung, zielt darin aber auf die Wirklichkeit Gottes, die das Wort bezeichnet, sowie auf die Beziehung, in der alles Geschaffene zu dieser Wirklichkeit als ihrem Woher und Wohin steht.42 Theologie kann dabei jedoch nur von Gott reden, weil dieser zuerst gesprochen hat:43 Wissenschaftliche Theologie bleibt eine verspätete, nachträgliche Reflexion auf das in ihr performativ vorausgesetzte und beanspruchte Wort Gottes.44 Dieses 41
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Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“, Art. 1; hier und im Folgenden werden die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils zitiert nach: HThKVatII 1 (2004). Vgl. dazu KARL RAHNER: Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums, (KRSW 26), Zürich u. a. 1999, 48–90. Gregor Maria Hoff entwickelt sein performatives Verständnis von Theologie an diesem prekären Bezug von Zeichen und Wirklichkeit Gottes. In der Theologie gelte es, den „Glauben im Raum der Gründe“ so zu reflektieren, dass „ihr konstitutiver Gottesbezug namhaft wird“, so dass „sich im Gebrauch des Zeichens ‚Gott‘ als eine dem Menschen vorgegebene Wirklichkeit erschließt“, deren Erfahrung als Möglichkeit vorausgesetzt und theologisch in Anspruch genommen werden muss. Dazu bezieht sich die Theologie auf die „erkenntniskonstitutiven Referenzen des Glaubens“ (in der klassischen Gestalt der „loci theologici“) und prüft an ihnen „die Autorität von Glaubenserfahrungen und die epistemische Dignität von Glaubenspropositionen“ (HOFF: Glaubensräume II/1 [s. Anm. 12], 493f.). Zur Voraussetzung des „Deus dixit“ vgl. KARL BARTH: Kirchliche Dogmatik I/1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Zürich 81964, 114–124. Für die Priorität der Rede Gottes vor aller menschlichen Gotteserkenntnis vgl. auch WOLFHART PANNENBERG: Systematische Theologie, Bd. I, Göttingen 1988, 207: „Menschliche Gotteserkenntnis […] kann nur unter der Bedingung wahre, der göttlichen Wirklichkeit entsprechende Erkenntnis sein, daß sie in der Gottheit selbst ihren Ursprung hat. Gott kann nur erkannt werden, wenn er sich selbst zu erkennen gibt. […] Würde die Gotteserkenntnis des Menschen so gedacht, daß der Mensch aus eigener Kraft der Gottheit das Geheimnis ihres Wesens entreißt, so wäre die Gottheit des Gottes von vornherein verfehlt.“ Dies muss Konsequenzen für die Form von Theologie haben, die in ihrer Ausdrucksgestalt wie in ihrer Durchführung auf ihre unverfügbare Basis im Handeln Gottes transparent bleiben muss. „Wer von ‚Gott‘ spricht, beansprucht einen Standpunkt, der in der Welt zugleich über sie hinausführt. […] Im Gebrauch des Zeichens ‚Gott‘ vollzieht sich damit performative Transzendenz – ein Sphärenübergang, der einerseits wiederum nur kontingenten Sinn erschließt, andererseits eine eigene Unausweichlichkeit mit den Sinnbezügen des Deutungswesens Mensch besitzt“ (HOFF: Glaubensräume II/1 [s. Anm. 12], 81). Gregor Maria Hoff verweist in seinem performativen und topologischen Verständnis von Theologie auf die
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Wort Gottes ist der Theologie nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur im Offenbarungszeugnis, in dem Gottes Wort und die Antwort des Menschen in einer Weise verschränkt sind, dass das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann, wobei Gott das Geschehen ermöglicht, es sich aber im Handeln des Menschen realisieren muss und nur in ihm zugänglich ist.45 Das Wort Gottes wie das geschichtliche Gotteszeugnis sind dabei performative Größen: Sie setzen Wirklichkeit und bewirken, was sie vollziehen, einmal im Modus des schöpferischen Anfangs bzw. des wirksamen Offenbarungswortes; einmal im Modus der menschlichen Antwort und im Handeln aus prophetischer bzw. apostolischer Sendung, wobei das eine nicht vom anderen getrennt werden kann.46 Christlicher Glaube und Theologie gehen dabei von einem geschichtlichen Ereignis aus, bei dem diese Verschränkung und Transparenz von Gottes Wort und menschlicher Antwort, von göttlicher Selbstmitteilung und menschlichem Zeugnis eine performative Einheit bilden, wie sie größer nicht gedacht werden kann: In Jesus Christus erkennt der christliche Glaube das Zeugnis eines Menschen, der ganz von Gott her und für die Menschen lebt, in allem uns gleich, außer der Sünde; dem entspricht das Bekenntnis, dass in diesem Menschen das schöpferische und offenbarende Wort Gottes selbst Fleisch wird und unter uns
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Paradoxie des Anfangs (vgl. a. a. O., 78–89): „‚Gott‘ wird präsent, aber im Modus seiner Nichtgegebenheit“ (a. a. O., 78). Damit ist Theologie auf einen paradoxen Anfang bezogen, den sie nicht einholen und über den sie nicht verfügen kann, dem sie nur responsiv nachdenken kann: „Theologie kann von Gott nur wirklich sprechen, also seine Existenz bestimmend und verbürgend, wenn Gott spricht, sich also ein Zugang zu ihm in seiner Transzendenz nicht nur denken lässt, sondern wenn sich Gott geschichtlich vermittelt“ (a. a. O., 83). Vgl. HANS URS VON BALTHASAR: Gott redet als Mensch, in: DERS.: Verbum caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln 31990, 73–99, 98: „an der Antwort haben wir das Wort“; EMMANUEL LÉVINAS: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992, 341: „die Offenbarung geschieht durch denjenigen, der sie empfängt, durch das inspirierte Subjekt.“ Dies verweist darauf, dass sich die Wirklichkeit Gottes nur in der geschöpflichen Wirklichkeit mit-erfahren lässt, dies aber in umfassender, keinen Bereich ausschließender Weise. Das heißt aber andererseits, dass sich Vernunft und Glaube, Natur und Übernatur, Freiheit und Gnade nicht voneinander trennen und in „Reinform“ gegenüberstellen lassen, vielmehr beide miteinander verschränkt sind. Dies führt zwar mitten in kontroverstheologische Fragen, jedoch vor allem, insofern die Wendung zu einer solchen Trennung in der franziskanischen Theologie der Spätscholastik und in der Moderne in unterschiedlichem Maße und zeitverzögert konfessionell rezipiert wurde und Theologie und Glaubensvollzug geformt hat. Eine solche Auseinandersetzung mit den Denkformen der westlichen Moderne auf dem Problemniveau der Gegenwart stellt sich konfessionsübergreifend und erfordert eine kritische Revision der eigenen Denkform. Diese Herausforderung einer kritischen Aufarbeitung der westlichen Moderne im Aufgreifen der weisheitlichen Traditionen des ersten Jahrtausends bricht gerade in den Konflikten zwischen westlichem und östlichem Christentum auf, die nicht auf antiwestliche und antimoderne Ressentiments oder eine gegenläufige Apologetik westlicher Moderne reduziert werden dürfen. Vgl. in dieser Perspektive den herausfordernden Entwurf von HOFF: Verteidigung des Heiligen (s. Anm. 12).
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wohnt, so dass hier Gott selbst begegnet und sich seine Gnade und Wahrheit ereignen (Joh 1,1–18).47 Die Performativität des fleischgewordenen Wortes in der Einheit von Worten und Taten48 geschieht dabei in der Vollmacht Gottes, wie sie in der exousía Jesu zum Ausdruck kommt, die jedoch in der Ablehnung durch die religiös und politisch Herrschenden mit der Macht des Bösen, von Lüge, Verrat und Gewalt konfrontiert wird und sich im Zeugnis vergebungsbereiter Liebe bis in Leid und Tod hinein entäußert, bis hin zum Schandtot am Kreuz (Phil 2,6–10). Die Performativität des Wortes Gottes nimmt die paradoxe Gestalt des Kreuzes an, die auch das christliche Gotteszeugnis prägt. Christliche Theologie erkennt Gott also nicht nur als Grund und Ziel aller Wirklichkeit, der durch sein Wort die Welt erschafft und erhält, sich ihr mitteilt und offenbart, sondern sie bekennt darüber hinaus, dass dieser Gott sich in seinem Wort in die Geschichte hinein entäußert bis hin zum Tod, dass er gleichwohl Gott bleibt und dieses Geschehen in seiner Beziehungsmacht trägt, so dass der Tod in der Auferweckung Jesu Christi von seiner Lebensmacht überwunden wird und die Geschichte in der Kraft seines Geistes von innen her verwandelt wird. Gott wird damit nicht als ein abstraktes, weltenthobenes Prinzip gedacht, aber auch nicht als Ideal oder Postulat des Menschen, sondern wird selbst als eine „performative Größe“ bezeugt und reflektiert: als ein Beziehungsgeschehen, das die Geschichte nicht nur ermöglicht und trägt, sondern zugleich in sie eintritt, sich ihr aussetzt und in der Beziehung zu seinen Geschöpfen sein Gottsein geschichtlich zugleich riskiert und realisiert.49
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In Christus fallen also göttliche Selbstmitteilung und menschliches Zeugnis zusammen, während sie nach Karl Barth im Medium der Schrift zwar aufeinander bezogen, aber unterschieden sind. Christus ist insofern (in unserer Diktion) der Höchstfall der hier beschriebenen performativen Einheit. Vgl. KARL BARTH: Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1–8) (Karl Barth Gesamtausgabe 2,3), Zürich 1976, 9: „Als Medium erfordert das Historische, das Menschenwort des Offenbarungszeugnisses unsere ganze gesammelte, ernste Aufmerksamkeit. Aber eben: als Medium, nicht um seiner selbst willen und nicht als aus sich selber zu verstehen, sondern als Zeugnis, das selber des Zeugnisses bedarf, des Zeugnisses wartet – des Zeugnisses, das ihm sein Gegenstand geben muß. Und dieses Geben ist Ereignis, ist Handlung, Handlung Gottes im strengsten Sinn des Begriffs. Der Sinn unseres Handelns als Hörer und Erklärung des Evangeliums steht und fällt mit Gottes eigenem Handeln durch das Werkzeug, mit dem wir es zu tun haben.“ Vgl. die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, Dei Verbum, Art. 2. Weil sich in der Offenbarung wirklich Gott selbst geschichtlich kundgibt, fallen für Karl Barth Offenbarungssubjekt und Offenbarungsinhalt wie die Bedingungen der Möglichkeit ihres Ankommens beim Menschen zusammen. Das veranlasst ihn, die Trinitätslehre bereits in den Prolegomena seiner Dogmatik abzuhandeln. Vgl. BARTH: Dogmatik I/1 (s. Anm. 43), 312. Dabei wäre unseres Erachtens die paradoxale Struktur, das kenotische Moment und die Verwiesenheit auf das Wirken des Geistes konsequenter herauszustellen und auf die Form der Theologie und des Theologietreibens zu beziehen, so dass die von Hegel entlehnte dialektische Hintergrundstruktur in ein performatives Verständnis von Glauben und Theologie überführt wird. Dies wäre in Auseinandersetzung mit HOFF: Glaubensräume
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3.2
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Der Glaubensvollzug als Basis
Indem das Ereignis der Offenbarung Gottes nur an seiner geschichtlichen Bezeugung greifbar wird, ist Theologie als Gottesrede auf den Vollzug des Glaubens und seine konkreten, expliziten Ausdrucksformen in der Glaubensgemeinschaft verwiesen: im Leben der Gemeinde, auf dem Weg der Kirche als Volk Gottes unter den Völkern, in verschiedenen Kulturen, Zeiten und Kontexten. So ist Theologie „Glaubenswissenschaft“: Reflexion des Glaubens in seinen geschichtlichen Gestalten und konfessionellen Ausprägungen. Dieser Glaube jedoch ist nichts, was statisch vorliegt oder selbstbezüglich mit sich selbst identisch wäre, sondern er drückt seinerseits eine Beziehung aus. Anselm spricht vom Glauben als einem „tendere in Deum“50. Der Glaube zielt nicht auf den Glauben, sondern auf die Gemeinschaft mit Gott. Er ist in seiner Beziehung zum Ganzen der Wirklichkeit und in der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe auf die je größere Wahrheit Gottes und seine je umfassendere Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gerichtet, die Ausdruck einer Liebe ist, die das Heil aller Geschöpfe will, dem Verlorenen nachgeht (Lk 15) und die Glaubenden zum Mitvollzug dieser Bewegung einlädt. Diese Selbstüberschreitung des Glaubens nötigt zur kritischen Reflexion seiner Ausdrucksformen und Konzepte, um ihn von Missverständnissen und der Gefahr des Götzendienstes zu reinigen. Anselm bringt dies in der Formel „fides quaerens intellectum“ zum Ausdruck, dem Glauben, der Verstehen sucht. Er fasst die angestrebte Einsicht als ein „Mittleres zwischen Glauben und Schau“.51 Karl Barth spricht im Anschluss an Anselm vom „Begehen der Mittelstrecke zwischen der stattgefundenen Kenntnisnahme und der ebenfalls schon stattgefundenen Bejahung“52 der Offenbarung. Es geht also um einen Weg zwischen dem im Glaubensakt vorausgesetzten, jedoch immer bruchstückhaft bleibenden, mit Irrtümern und Verwechslungen vermischten Verständnis des Glaubens („Kenntnisnahme“) und der im Glaubensakt sich vollziehenden Bejahung, die sich auf die Offenbarung Gottes selbst richtet. Dieser Klärungsprozess verweist auf die Fähigkeit reflexiver und kritischer Vernunft im Suchen nach Einsicht. Theologie
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II/1 (s. Anm. 12), 364–380 und mit HOFF, Verteidigung des Heiligen (s. Anm. 12), bes. 326– 331, 419–421, 534–535, näher zu entwickeln. Vgl. ANSELM VON CANTERBURY: Monologion, 76; hier und im Folgenden werden die Werke Anselms zitiert nach: ANSELM VON CANTERBURY / ANSELMUS CANTUARENSIS: Opera omnia. Hg. von FRANCISCUS SALESIUS SCHMITT, 5 Bde., Secovii 1938–1951. Vgl. für das Folgende MARTIN KIRSCHNER: Gott – größer als gedacht. Die Transformation der Vernunft aus der Begegnung mit Gott bei Anselm von Canterbury, Freiburg u. a. 2013, 293–321. ANSELM VON CANTERBURY: Cur Deus homo, Commendatio operis ad Urbanum Papam II, Opera omnia II, 40; vgl. dazu KIRSCHNER: Gott (s. Anm. 50), 19.296f.307. KARL BARTH: Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms (Karl Barth Gesamtausgabe 13), Zürich 1981, 24.
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bewegt sich als ein unabgeschlossener Prozess in dieser Spannung von Glauben und Vernunft, vom Glauben, der Verstehen sucht und der darin auf die Wirklichkeit Gottes zielt, im Ausgreifen auf eine je größere Wahrheit und Gerechtigkeit. Deshalb braucht die Theologie einerseits die kirchlich-konfessionelle Verankerung in der Erfahrung des Glaubens, andererseits muss sie sich der kritischen wissenschaftlichen Reflexion und den Anfragen anderer Disziplinen aussetzen, um als kritische Selbstaufklärung zum Vollzug des Glaubens beizutragen. Dieser Vollzug geschieht in der doppelten Spannung vom Glauben zur Vernunft als credo ut intelligam und von der Vernunft zum Glauben als intelligo ut credam, dass der Glaube nicht unvernünftig sei, die Vernunft ihre Basis im lebensweltlich verankerten Vertrauen nicht verliert und Glaube wie Vernunft sich selbst überschreiten auf die Wahrheit hin, auf die sie zielen. Theologie ist damit nicht nur nachträgliche Reflexion des Glaubensvollzugs in der Antwort auf das Ereignis der Offenbarung im Zeugnis, sondern sie ist auch Teil dieses Vollzugs, insofern noch Metareflexion und Kritik einer Erkenntnis dienen, die im Horizont der geschichtlichen Realisierung der Gottesherrschaft und des umfassenden Gotteslobs stehen.53
3.3
Die Ausrichtung am Evangelium als Heilsbotschaft
Die eigentliche Problematik und Dramatik der Theologie entfaltet sich dann nicht von der Entzogenheit Gottes oder der Endlichkeit des Menschen her, sind doch beide Voraussetzung der Glaubensbeziehung, sondern sie resultiert aus dem Widerspruch der Sünde, der Erfahrung des Bösen und der Verstrickung des Menschen darin. Die eingangs skizzierte Zivilisationskrise konfrontiert mit dieser Erfahrung, in die das Christentum und die Kirchen selbst verstrickt sind. Die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche und der orthodoxe „Bruderkrieg“ in der Ukraine stellen das scharf vor Augen. Theologie und Kirche operieren nicht von einem Standpunkt jenseits dieser Verstrickung, können nur in selbstkritischer Reflexion und in je neuer „Umkehr“ das Evangelium zur Geltung bringen, und gerade konfessionelle Differenzen im ökumenischen Dialog können als kritisches Korrektiv wirken und solche Umkehr anstoßen. Die existenzielle Zuspitzung theologischer Reflexion in der Suche nach dem rechtfertigenden Gott im Bewusstsein der eigenen Verstrickung in Sünde und Schuld als Teil 53
Hier wäre der Zusammenhang von Mystik und Politik, von Spiritualität und geschichtlichem Gestaltungsauftrag deutlicher herauszuarbeiten, als es bei HOFF: Verteidigung des Heiligen (s. Anm. 12), geschieht, der in seiner Kritik an theologischen Fehlentwicklungen des 2. Jahrtausends die Orientierung an Heiligkeit als dem spirituellen Erbe des ersten Millenniums betont, die geschichtliche, an Weltveränderung, Befreiung und der Erwartung des kommenden Reiches orientierte Spiritualität jedoch abwertet, wie sie sich im 2. Millennium entwickelt hat.
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der Erlösungsbedürftigkeit der Welt hat schon Anselm in Cur Deus homo scharf herausgearbeitet,54 mit Luther wird sie zum Dreh- und Angelpunkt reformatorischer Theologie.55 Die soziale, politische und strukturelle Dimension solcher Verstrickung im Bösen wurde im 20. Jahrhundert durch die verschiedenen Formen politischer Theologie, die Theologien der Befreiung und kontextuellen Theologien herausgearbeitet. Das Evangelium ist nicht nur private Erlösungsbotschaft, sondern eine öffentliche Machtbotschaft, die politische und religiöse Herrschaft infrage stellt, in eine neue Gemeinschaft mit Gott ruft, die Menschen heilt und zur Freiheit befreit. Die Evangelien laden zum Nach- und Mitvollzug dieser Botschaft ein, die in Christus verkörpert ist und mit der anbrechenden Gottesherrschaft proklamiert wird (vgl. Mk 1,15).56 Die Verkündigung des Evangeliums durch Paulus entspringt der Erkenntnis des Gekreuzigten als dem Auferstandenen und Herrn und führt von hierher in eine messianische Wende in der Existenz des Paulus wie in seinem Verständnis der Torah, von Schrift und Gesetz. Paulus verbindet dabei die Rechtfertigung des Sünders mit dem Eintritt in eine neue Existenzform, die zugleich die Gemeinschaft der Glaubenden als messianische Gemeinschaft konstituiert, die wiederum auf die Verwandlung der Welt und ihrer Herrschaftsverhältnisse hindrängt.57 Gerade in Blick auf persönliche Rechtfertigung wie politische Befreiung ist die performative Dimension des Glaubens und seiner theologischen Reflexion entscheidend: Tut und bewirkt christliche Soteriologie, was sie behauptet? Ist die Formulierung einer Rechtfertigungslehre oder einer politischen Theologie so auf Verkündigung, Gnadenerfahrung und politische Befreiungspraxis bezogen, dass sie deren Anspruch auf der Ebene der Reflexion zur Geltung bringt und zu54 55
56 57
Vgl. KIRSCHNER: Gott (s. Anm. 50), 86f.268–291.393–436. Vgl. OSWALD BAYER: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 34f.: „Manchen gilt als Gegenstand der Theologie schlicht und umstandslos ‚Gott‘ […]. Eine demgegenüber unerträglich enge Bestimmung scheint zu treffen, wer wie Luther den Gegenstand – das ‚subiectum‘ – der Theologie in dem ‚sündigen Menschen und dem rechtfertigenden Gott‘ sieht. Im Sinne von Luthers Gegenstandsbestimmung kommt es darauf an, die Verbaladjektive (sündiger Mensch und rechtfertigender Gott) nicht als akzidentielle, hinzukommende sondern als essentielle, wesensbestimmende ‚Adjektive‘ zu nehmen. Der Mensch ist danach, streng theologisch bedacht, wesentlich der, der von Gott angeklagt und freigesprochen wird. Umgekehrt ist Gott im entscheidenden der, der den Menschen anklagt und freispricht. Kosmologische und politische Fragen etwa werden zu theologischen erst im Zusammenhang der angesprochenen Gegenstandsbestimmung. Trifft diese zu, dann hat sie Konsequenzen, die nicht überschätzt werden können. Es ist dann von der Präzision dieser Bestimmung jeder theologische Satz betroffen. So wird von Luther die Schöpfungslehre, die Christologie, die Lehre vom Weltgericht als der Weltvollendung jeweils als Rechtfertigungslehre gefasst.“ Vgl. HOFF: Glaubensräume II/1 (s. Anm. 12), 31–51. Vgl. a. a. O., 355–362. Vgl. dazu auch die philosophische und politische Rezeption des Paulus: SABINE BIEBL / CLEMENS PORNSCHLEGEL (Hg.): Paulus-Lektüren (Religiöse Ordnungsmodelle der Moderne 1), München 2013; GERRIT JAN VAN DER HEIDEN u. a. (Hg.): Saint Paul and Philosophy. The Consonance of Ancient and Modern Thought, Berlin/Boston 2017.
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gleich Kriterien der Unterscheidung formuliert, um auf praktischer und spiritueller Ebene die „Geister zu unterscheiden“ und so einem Missbrauch des Evangeliums entgegenzuwirken? Wenn alle Theologie im Spannungsfeld von Sünde und Rechtfertigung, von eigener Verstrickung in die Strukturen des Bösen und der Befreiungsbotschaft des Evangeliums operiert, dann muss diese Spannung der Form ihrer Theoriebildung eingeschrieben sein, so dass diese die eigene Korrekturbedürftigkeit, die Notwendigkeit je neuer Umkehr im Wirken der Gnade, mitkommuniziert. Vielleicht liegt hier die eigentliche Herausforderung: Dass das, was über Gott, seine Transzendenz und Unverfügbarkeit, seine Gnade und befreiende Zuwendung, kirchlich bekannt und theologisch gelehrt wird, nicht nur der „Anwendung“ und Umsetzung in der Praxis von Glauben und Kirche bedarf, sondern den Modus und die Form prägt, wie Dogmen und Lehren formuliert und interpretiert werden, wie eine Verständigung über den Glauben innerhalb der Kirchen, im ökumenischen Dialog und im öffentlichen Zeugnis erfolgt. Die christliche Erlösungs- und Befreiungsbotschaft kann nicht einfach konstatiert, als Lehre behauptet oder für die eigene Konfession beansprucht werden, sie erweist ihre Wirklichkeit, indem sie performiert, immer wieder neu verkündet und vollzogen wird, und zwar so, dass dieser Vollzug tut, was er sagt und sagt, was er tut. Dies überschreitet die Grenzen konfessioneller Identität, ebenso die Grenzen von Kirchen und Religionen und drängt hin zu einer Spiritualität, die aus den Ressourcen konfessioneller Glaubenspraxis schöpft, ohne sich von konfessionellen Grenzziehungen und Identifikationen bestimmen zu lassen.58
3.4
Die Basis in der Glaubensgemeinschaft als dynamische Größe
Eine solche performative ökumenische Theologie lässt den eigenen konfessionellen Standpunkt und Ort, Überzeugungen, Lehren und Riten der eigenen Kirche nicht einfach hinter sich, sondern mobilisiert diese und nutzt die Ressourcen der eigenen Tradition, um die Gotteshoffnung des Glaubens zum Ausdruck zu bringen, sie öffentlich zu bezeugen und darin Zeichen und Werkzeug der kommenden Gottesherrschaft zu sein.59 Das Glaubensverständnis und die Bekenntnisformeln verlieren damit nicht an Bedeutung, sie werden vielmehr auf die Performativität des Wortes Gottes in seiner Offenbarung und im geschichtlichen Zeugnis dieser Offenbarung bezogen, um den Vollzug des Glaubens in der Geschichte zu ermöglichen und zu orientieren. Auch Dogmen und Lehrent58
59
Vgl. dazu die Anstöße bei HOFF: Verteidigung (s. Anm. 12), 319–543 zur „Spiritualität in einer post-konfessionellen Welt“, welche an der Tradition Unterscheidungskriterien einer orthodoxen Praxis gewinnt, ohne diese auf konfessionelle Distinktionen auszurichten. Vgl. Lumen gentium 1, 8f. und 48.
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scheide werden dadurch nicht verabschiedet oder entwertet, sondern sie markieren bleibend gültige, die Glaubensgemeinschaft bindende Sprachregelungen, die den Glauben vor Verkürzungen schützen und auf die Fülle des Geheimnisses Gottes verweisen, wie es sich in der Offenbarung bezeugt, im Geist entfaltet und eschatologisch erwartet wird, ohne in den Formulierungen des Glaubens zureichend eingeholt werden zu können.60 Das Ringen um Annäherung und Verständigung zwischen den Kirchen und die Suche nach Anerkennung in differenzierendem Konsens, um auf dem Weg zur vollen Einheit der Kirchen voranzukommen und den Glauben, Taufe und Herrenmahl gemeinsam feiern zu können, behalten damit ihre Notwendigkeit und ihr Gewicht. Indem sie jedoch vom Ereignis der Offenbarung in ihrem Zeugnis her und auf den Vollzug des Glaubens hin verstanden werden, bedürfen sie einer Ausdrucks- und Kommunikationsform, die der Unverfügbarkeit Gottes und dem Bewusstsein der eigenen Grenzen und Verstrickungen im Gottwidrigen Ausdruck verleiht und sich in der Ausrichtung am Evangelium selbst zu relativieren und zu überschreiten weiß. Es ist dann gerade die Orientierung an der „Sache“ der Theologie – an Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit in seiner vergebenden und befreienden Zuwendung zum Menschen –, die das entschiedene Bekenntnis zur eigenen Überzeugung mit der Anerkenntnis der eigenen Grenzen und der Bereitschaft zum Lernen an den Stärken der Anderen verbindet. Die Perspektive ökumenischer Verständigung läge dann weniger im Konstatieren erreichter Konsense als in einem Lernen an Differenzen, welches in der bezeugenden Verständigung über den Glauben auf die größere Wahrheit Gottes zielt und damit gegenüber den beanspruchten Positionen einen dritten Raum eröffnet. Eine solche „arme“ oder „schwache“ Form des Zeugnisses, die nicht aus einer quasi-souveränen Position auf hinreichend begründbare und identifizierbare Lehren zurückgreift, die responsiv auf das Ereignis des Evangeliums in seine Unverfügbarkeit bezogen ist und darin je neu zu wagen und zu verantworten ist,61 wäre unseres Erachtens auch eine Voraussetzung dafür, das christliche Zeugnis der Hoffnung in den Brüchen der Gegenwart zu erneuern. Diese Form des Zeugnisses erlaubt es nämlich, die eigene Ratlosigkeit, das Aporetische der 60
61
Das hier vorgeschlagene Dogmenverständnis berührt sich mit dem Dogmenverständnis bei HANS URS VON BALTHASAR: Die Wahrheit ist symphonisch. Aspekte des christlichen Pluralismus (Krit. 29), Einsiedeln 1972, 55–63, der alle Dogmen auf das eine Mysterium des Offenbarseins der göttlichen Liebe zurückführt. Das Dogma hat dabei den Zweck, verkürzende Interpretationen, die diese Liebe kleiner denken, als sie ist, zurückzuweisen. Ebenso lassen sich Berührungspunkte mit dem Dogmenverständnis bei GEORGE A. LINDBECK: The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age. 25th Anniversary Edition, Louisville (KY) 2009 feststellen, der Dogmen primär eine regulative Funktion für den religiösen Diskurs und die Praxis des Glaubens zuschreibt. Vgl. dazu die philosophische Annäherung an ein Denken des Ereignisses und an die Performativität des Zeugnisses bei ZEILLINGER: Disillusioning Reason (s. Anm. 37); DERS.: Offenbarung (s. Anm. 37).
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Situation zuzulassen und auf Augenhöhe, ohne Selbstgerechtigkeit oder den Anspruch auf höhere Einsicht, in einen Dialog mit den verschiedenen Religionen, Weltanschauungen und säkularen Überzeugungen zu treten. Das Vertrauen richtet sich dann nicht auf die eigene Glaubensposition, sondern darauf, dass im Zeugnisgeben und im Dialog sich die Kraft des Evangeliums selbst erweist62 – vielleicht in einer neuen, überraschenden Weise, die auch zur Selbstkorrektur nötigt. Kirchlich und ökumenisch rücken damit die Verständigungsprozesse im Glauben ins Zentrum, wie sie in der Hinwendung der katholischen Kirche zur Synodalität gerade in einer offenen, ‚experimentellen‘, auch sehr gefährdeten Weise erprobt und weiterentwickelt werden. Dem korrespondieren nicht nur die umfangreichen Erfahrungen, die in unterschiedlicher Weise in der reformatorischen und orthodoxen Tradition mit Formen der Synodalität gesammelt wurden, sondern auch die Bemühungen um eine Ökumene „von unten“, verbunden mit konfessionsübergreifenden konziliaren Prozessen, im Ringen um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Kirche als Glaubensgemeinschaft kann hier in ihrer Vielgestaltigkeit und als dynamische Größe wahrgenommen werden, die sich zugleich als Teil der Zivilgesellschaft in einer globalen Welt wahrnimmt und deren erste Sorge der Einheit der Menschen mit Gott und untereinander und mit allen Geschöpfen gilt.
62
Das biblische Modell im Hintergrund bildet das „Wort vom Kreuz“ bzw. das „Zeugnis in Schwäche“, wie es Paulus in den beiden Korintherbriefen angesichts der Konflikte mit der Gemeinde zugleich zur Geltung bringt und reflektiert.
To Speak of the Reformation from Latin America
To Speak of the Reformation from Latin America
Intercontextuality in the Sixteenth Century and Today1
Karla Ann Koll
KARLA ANN KOLL
In April of 2017, the Latin American Biblical University (UBL) held a conference on the Reformation and processes of social reform. Two years earlier, our faculty began debating these issues. Were we going to hold an event to mark the fivehundredth anniversary of Martin Luther’s work? Immediately, other questions arose. Why should we be speaking of something that happened so long ago in other contexts? These questions brought to my mind a conversation I had more than twenty-five years earlier with theologian Richard Shaull, who had come to the Latin American Biblical Seminary (SBL)2 to teach a course on the Protestant Reformation and liberation theology. Shaull expressed frustration at the fact that the students of the SBL felt the Reformation had no relevance for the lives of their churches or their own theological reflection.3 Several UBL faculty members affirmed the importance of certain achievements readily associated with the Reformation. We noted the changes that took place as the reformers expressed the liturgy in the language of the people and moved the preaching of God’s Word to the center of the celebration. Access to the Bible, translated into local languages and widely distributed due to the invention of the printing press, marked an important development in the life of the churches and in the history of the Biblical text itself. However, other voices among us questioned whether we should be celebrating the Reformation at all. Wasn’t the Reformation implicated in the beginning of western modernity? Didn’t Luther serve as an apologist for the emerging capitalist order, especially in his condemnation of the peasants’ rebellion? Speaking of the Reformation pushed us to evaluate the presence here in Latin America of those churches that trace their roots to the Protestant Reformation. Didn’t Protestantism arrive as 1
2
3
This article was originally published in Spanish as KARLA ANN KOLL: Hablar de la Reforma desde América Latina: La intercontextualidad en el siglo XVI y hoy, in: Vida y pensamiento 37/1–2 (2017), 11–22. Republished with permission. In 1997, the Latin American Biblical Seminary (SBL) became the Latin American Biblical University (UBL). For Shaull’s work on the convergences between the Reformation and liberation theology, see RICHARD SHAULL: La Reforma y la teología de la liberación (Colección Historia de la Iglesia y la Teología), San José 1993.
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part of the neocolonialism that began in the nineteenth century? Doesn’t Protestantism form part of the coloniality of power that we need to deconstruct in our search for liberating visions for the peoples of the continent? In the end, we did not answer these questions. Instead, we came to see the anniversary of the Reformation as an opportunity we could not ignore to reflect on the relationship between religious reforms and social change in different contexts. We did not attempt to resolve the debate as to whether the religious changes in Europe in the sixteenth century preceded or resulted from the social, economic, and political transformations. We could affirm that the reformers themselves and the faith communities that embraced various reform movements in the sixteenth century were seeking not only to change religious practices, but also to transform their societies. This left us wondering how to speak of the Reformation from Latin America. In what follows, I propose two frameworks, which are interrelated, that not only permit us to speak about the Reformation from this context, but demand that we do so.
1.
In the Sixteenth Century
Justo Gonzalez, in his book Mapas para la historia futura de la iglesia (Maps for the Future History of the Church), reminds us that in May of 1521, “when the Imperial Diet of Worms promulgated its edict against Luther, Hernan Cortes was laying siege to the imperial city of Tenochtitlán”.4 Gonzalez asks which of these two events would be more important for the history of Christianity in the future. However, in order to understand the relationship between the conquest of America by the Iberian powers and the Protestant Reformation in western Europe, it is not enough to affirm that these events, which were separated by thousands of kilometers, happened in the same chronological moment. A contribution that can help us rethink our understanding of the sixteenth century comes from the work of Scott Hendrix, a retired Lutheran historian who taught at Princeton Theological Seminary. Hendrix relates how his own efforts to rethink his approach to the study of the Reformation began with the question from a student. “Why”, asked Gretchen Cranz, a student at the Gettysburg Lutheran Seminary, “did Luther speak so much about what is Christian?”5 Hendrix began to reread the texts of the reformers and to pay attention to how they spoke of what is Christian and who are Christians. In his book Recultivating the Vineyard: The Reformation Agendas of Christianization, he concluded that we can speak of the religious movements of the sixteenth century as projects of Christianization. Without a doubt, Europe had been Christianized in the Middle 4 5
JUSTO GONZÁLEZ: Mapas para la historia futura de la iglesia, Buenos Aires 2001, 16. SCOTT H. HENDRIX: Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, Louisville (Kentucky) 2004, xii.
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Ages, but neither the societies nor the religious practices were sufficiently Christian in the eyes of the reformers. For the Protestant reformers, the process of Christianization had been seriously deficient, while those groups that would later be identified as the radical Reformation believed that Christianization had failed. Catholic reform movements sought to deepen the process of Christianization with new efforts and renewed institutional forms.6 Clearly, these different Christianization projects took place in a variety of contexts marked by economic conditions and configurations of political power undergoing radical changes. The macrohistorical framework offered by Hendrix allows us to see the religious reforms in Europe and the imposition of Christianity in Latin America through the conquest as parallel projects of Christianization. While Luther and other reformers used the terms “pagans” and “idolators” for the people in Europe whose religious practices they judged to be deficient, the missionaries who accompanied the Spanish conquistadors faced the challenge of converting the “pagan” peoples who had been forcibly incorporated into the Atlantic world into Christians. This was the principal problem Bartolome de Las Casas encountered: The Spanish who had come to America were not really Christians. Instead, Las Casas believed they were idolators who came seeking gold rather than to serve Christ.7 Given that these Christianization efforts responded to a shared logic, it is possible to present Las Casas as another reformer of the sixteenth century, as Joel Morales Cruz has done,8 or to find convergences in the positions of Las Casas and Luther, as Lauri Emilio Wirth has written9. Asking what is or what should be authentic and true Christianity opened up the possibility of constructing different answers at the theological level as well as in terms of the liturgical practices and communal life of the Christian communities. We can take our reflection beyond the work of Hendrix to examine the interaction between religious subjects and institutionalized forms of power. At one extreme, we see an affirmation of religious subjectivity in many groups who appropriated Christian faith in new ways in the European context. They developed new practices and articulated new theological visions to justify these practices. As Peter Matheson affirms by paraphrasing the prophet Joel (2,28), it was a time the young had visions and the elders dreamed dreams. News of formerly unknown lands full of gold, peoples, and fantastic animals contributed
6 7 8
9
Cf. opc. cit., xv–xxiii.1–35. Cf. GUSTAVO GUTIÉRREZ: Dios o el oro en las Indias. Siglo XVI (CEP 95), Lima 1989. Cf. JOEL MORALES CRUZ: Spaniards in the Americas. Las Casas among the Reformers, in: DALE T. IRVIN (Ed.): The Protestant Reformation and World Christianity, Grand Rapids (Michigan) 2017, 39–64. Cf. LAURI EMILIO WIRTH: Martín Lutero, Bartolomé de las Casas, y la fe del otro, in: MARTIN HOFFMANN et al. (Ed.): En Radicalizando la Reforma. Otra teología para otro mundo, San José / Buenos Aires 2016, 127–155, 143–150.
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to the expectations of radical change.10 This religious imagination was fed, and at times manipulated, not only through sermons and tracts, but also through the images that circulated on printed sheets. Women and men insisted on maintaining their new religious practices even to the point of putting their lives at risk. Thousands suffered horrendous deaths. The systems of power fixed the limits of these processes of appropriation in Europe, as the peasant followers of Thomas Müntzer learned. At the other extreme of the spectrum, we find the imposition of a version of Christianity on a population. In many places in Europe during the first decades of the sixteenth century, it was possible to go to bed one night as a Catholic and to wake up the next morning as a Protestant, or vice versa, due to the decision of a prince or the city magistrates. The processes of confessionalization tied to the consolidation of the early modern states in the second half of the sixteenth century responded to agendas of centralized control which imposed even more limits on the space for dissident visions and practices. Here in Latin America, we know the brutality with which the Iberian powers imposed Christianity. However, even here, amid the demographic collapse that the aboriginal peoples suffered after the invasion, there were spaces of appropriation where the subjugated communities expressed their creativity as religious subjects. They adopted the male and female saints who arrived from Europe by giving them local histories and new identities. Female figures that had represented the divine appeared to the peoples in new forms that could be recognized by the authorities of colonial Christendom. The peoples elaborated complex ritual systems, such as costumbre11 in Guatemala, by incorporating elements of Christianity in the weaving of their spiritualities. In this way, they forged new religious identities.
2.
Intercontextuality
Together with this macrohistorical framework, I also wish to reflect on intercontextuality. The term appears to have been invented in 1996 by Arjun Appadu10
11
Cf. PETER MATHESON: Reforming from Below, in: ID. (Ed.): Reformation Christianity (A People’s History of Christianity 5), Minneapolis (MN) 2006, 1–19, 4. Among the Maya peoples of Guatemala, costumbre refers to the social and religious practices that have been received from the ancestors. It includes ceremonies, both private and increasingly held in public, centered in prayer and the burning of copal in a ritual fire, as well as the structures of religious and civil authority that guide the religious and political life of the community. Costumbre has been an important space of resistance. Cf. C. MATTHEWS SAMSON: Re-enchanting the World. Maya Protestantism in the Guatemalan Highlands (Contemporary American Indian Studies), Tuscaloosa (Alabama) 2007, 153 note 23; ROBERT S. CARLSEN: The War for the Heart and Soul of Mayan Highland Town. Revised Edition, Austin (TX) 2011
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rai, a social anthropologist from India who has written about globalization.12 However, Appadurai did not develop a definition of the word. This term has been used in literary criticism, even though Appadurai himself has stressed that intercontextuality and intertextuality are not the same, as intercontextuality goes far beyond texts to examine practices and forms of power that cross various contexts.13 In the sixteenth century, we are well acquainted with the forms of power that emerged from the European context and reached America. In terms of religion, I only want to mention the religious orders. The same orders that produced the majority of the leaders of the Protestant Reformation – the Franciscans, the Dominicans, the Augustinians – were the same orders that took on the task of fighting against Protestant groups in Europe and the work of evangelizing the peoples of America. The Dominican Thomas de Vio, Cardenal Cayetano, who interrogated Luther in Augburg in 1518, supervised the sending of members of his order to the New World.14 As a theoretical basis for our efforts to speak of the Protestant Reformation from Latin America, I suggest the work of Jose Medina, a Spanish philosopher located in the United States, on intercontextuality.15 Discursive contexts, Medina reminds us, always have connections with other contexts. There is a constitutive intercontextuality, given that a particular context is always defined in relation to other contexts. The contextuality and contextualization of which we speak so often in our theological work are possible precisely because we can distinguish between contexts, locations other than the one we are in. Medina points to two fundamental characteristics of intercontextuality. On one hand, contexts have a constitutive incompleteness which means they can never be complete within themselves. There are always cracks or windows that connect to other contexts. Meanings are elusive and they can never be contained within a single context. Each context exists in a continual process of being completed by other contexts. On the other hand, the interaction between subjects within each context produces an uncontainable excess of meaning that seeks to flow to other contexts through the agency of people and groups that speak. In this way, the reconstruction of meaning, its appropriation and adaptation, move from one context to another.16 The transhistorical dimension of intercontextuality allows us to examine the discourses produced in the past with the freedom to adapt or reject those meanings according to our questions and our needs. 12
13 14
15
16
Cf. ARJUN APPADURAI: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization (Public Worlds 1), Minneapolis (Minnesota) 1996. Cf. loc. cit., 187. Cf. ALICIA MAYER: Lutero en el Paraíso. La Nueva España en el espejo del reformador alemán, México D. F. 2008, 53. Cf. JOSÉ MEDINA: Speaking from Elsewhere. A New Contextualist Perspective on Meaning, Identity and Discursive Agency, Albany (NY) 2006. Cf. loc. cit., 46–51.
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Even when efforts are made to impede the flow of ideas from one context to another, as we see in the prohibitions against Protestant books in Latin America during the colonial period, the Reformation still influenced the processes of Christianization in the continent. Lauri Emilio Wirth points to two horizons of meaning that were present in the collective imagination of the groups who sought to evangelize the peoples of America. “On one hand, the so-called New World presented itself to the Roman Catholic missionaries as a privileged space for the establishment of a Christianity that would be morally superior to European Christendom in the process of disintegration. On the other hand, they imagined it would be possible to renew European Christendom itself through this colonial Christianity that had not been contaminated by the fundamental principles of the Protestant Reformation. This situation mainly transformed the central theses of Lutheran theology into a threat that required permanent vigilance on the part of strategists carrying out the colonization and Christianization of the continent.”17
The Mexican historian Alicia Mayer, in her book Lutero en el paraíso. La Nueva España en el espejo del reformador alemán (Luther in Paradise. New Spain in the Mirror of the German Reformer), explores this collective imagination through historical Works, sermons, documents of the Inquisition, and artistic works from the beginning of the conquest to the first years of independence. The figure of the arch-heretic Luther is used in a variety of ways, always negative, on the social, political and religious levels. We find one example in the Historia Eclesiástica Indígena by Gerónimo de Mendieta (1528[?]–1604), who compares Luther, the one causing great losses to Christendom, with Hernan Cortes as the one who opened the door for the conversion of many souls.18 Roman Catholic identity in New Spain was constructed over and against this negative image of divided European Christendom. On one level, we continue to speak about the Reformation from Latin America because, since to founding of the Atlantic world through European expansion, Latin American has been the other place from which the Reformation has been discussed. However, I believe the most important reason for continuing to speak of the religious reforms of the sixteenth century, as well as the following centuries, is that we continue to dream of reforming our faith communities and of transforming our societies. On this continent in which the overwhelming majority of the population identify as believers, any effort at social transformation has to take into account the religious perspectives and sensibilities, as well as the power of the religious institutions. I suspect that those of us who find ourselves in spaces dedicated to theological reflection have an enduring hope – even though we know Christianity has been part of oppressive structures – that faith in the God of Jesus can contribute to the struggle for life with justice and dignity. 17 18
WIRTH: Martin Lutero (cf. note 9), 128. My Translation. Cited in MAYER: Lutero (cf. note 14), 123.
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As Pablo Moreno has noted, the Reformation of the sixteenth century was a process of inculturation that produced a series of theologies we should understand as contextualized reflections developed in response to concrete situations.19 Confessionalization and the division of Europe into confessional state territories converted these theologies into weapons used to attack others. We no longer dream, as the leaders of the magisterial Reformation did, of a renewed Christendom. Instead, we join together with the radical Reformation to seek the end of Christendom and the construction of lay states that serve the common good, as well as faith communities that support struggles for justice. We do not offer our contextualized theologies as expressions of absolute truth. Rather, they are the places from which we enter into dialogue with other perspectives. Just like the people who sought to reform the church in the sixteenth century, we claim our right to dissent from inherited forms of Christianity and to resist the power of religious institutions that not only seek to prescribe the content of our faith and our ways of thinking, but also to control our bodies. As happened in the Reformation, we are looking for the emergence of new discursive fields. From what other places and from which new spaces does speech come today? Where are the groups who are demanding their right to selfexpression as well as the right to construct knowledge from their bodies and their experiences? Where are the voices that transgress norms and point to forms of resistance? We should look for the liminal spaces, those cracks and windows between contexts, to open them wide and allow those discourses that have been silenced and ignored to offer meaning in new contexts as they challenge our theologies and the process of theological thinking itself. Since the forms of power that structure our lives and relationships transverse many contexts, the process of decolonizing our faith requires us to build new intercontextual relationships that open up possibilities for subversion and new ways of thinking. With this in mind, the UBL dedicated its 2017 conference on the Reformation, to the memory John A. Mackay. As a leader of Latin American Protestantism in the first decades of the twentieth century, Mackay dreamed of reforming both church and society. Mackay arrived as a missionary from Scotland to Peru in 1917 and he worked in Latin America for fifteen years. In his writings, Mackay offered an interpretation of the Protestant Reformation to the churches in Latin America.20 However, he understood that the religious reforms needed in Latin America could not be based only on the Reformation. These reforms needed to 19
20
Cf. PABLO MORENO: Recuperando memorias. Textos comentados de la reforma del siglo XVI, San Salvador 2006. Cf. JOHN A. MACKAY: The Other Spanish Christ. A Study in the Spiritual History of Spain and South America, New York 1932; ID.: Prefacio a la teología cristiana. Transl. GONZALO BÁEZCAMARGO. México D. F. 1945.
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draw from other sources such as Spanish mysticism as well as autochthonous sources. Mackay also recognized that historic Protestantism was failing to capture the hearts of Latin Americans. As early as 1932, he became one of the first Protestant observers of the Latin American religious field to recognize the importance of Pentecostalism for the continent’s religious future. Mackay longed to see churches committed to justice. He taught a generation of Protestants to think theologically, not from the balconies of their ecclesiastical and academic institutions, but rather from the roads on which women and men struggle for life.21 On these roads in Latin America and the Caribbean today there are a multitude of voices offering their pain and their dreams for the future to challenge our theological work. We hope that our efforts to reflect on the Reformation and other reforms will serve to celebrate this polyphony as well as contribute to the efforts to construct more just societies and churches that stand in solidarity.
21
Cf. loc. cit. For an introduction to John Mackay’s theology and its relationship to Latin American liberation theology, cf. KARLA ANN KOLL: The theology of John A. Mackay as Praeparatio libeationis, in: ThTo 73 (2016), 105–116.
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“
Tanz als Embodiment-Spiritualität: Chance für interreligiöses Lernen
Heike Walz
HEIKE WALZ
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“1 Die Tänzerin und Choreographin Kimerer L. LaMothe aus den USA knüpft in ihrer Religions-Tanzphilosophie an obiges Zitat aus Friedrich Nietzsche’s (1844– 1900) Werk „Also sprach Zarathustra“ (1886) an. Er schätzte die Leichtigkeit des Tanzes und des Lachens: „Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich […], jetzt tanzt ein Gott durch mich.“2 Tanzen sei lebensbejahend und könne dazu beitragen, lebensfeindlichem Ressentiment zu widerstehen, nämlich Gefühlen der Verzweiflung über die eigene Ohnmacht, die zu Gewalt und Hass gegenüber anderen Menschen, Ethnien und Religionen führen können.3 Dahinter steht die Annahme, das Christentum sei eine lebensfeindliche, körperlose und tanzfeindliche Religion. Ein Beispiel in der Gegenwart wäre der Skandal um den Argentinischen Tango beim Street-Flashmob 2014 auf dem Petersplatz in Rom zu Ehren von Papst Franziskus’ 78. Geburtstag.4 Das Christentum gilt als eine der wenigen Religionen, die Tanz offiziell aus der religiösen Praxis ausgeschlossen hat. Dies wirft Fragen auf, zum Beispiel: Wie verhält sich
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FRIEDRICH NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Erster Teil, neu hg. und eingeleitet von Felix Christen, 19. vollst. neu bearb. Aufl., Stuttgart 2014, 43. Ebd. Vgl. KIMERER L. LAMOTHE: Does your God dance? The Role of Rhythmic Bodily Movement in Friedrich Nietzsche’s Revaluation of Values, in: HEIKE WALZ (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 81–94; KIMERER L. LAMOTHE: Why We Dance. A Philosophy of Bodily Becoming, New York 2015. Vgl. KATHRYN DICKASON: Ringleaders of Redemption. How Medieval Dance Became Sacred, Oxford Studies in Historical Theology, New York 2021, 1.
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die christliche Tanzskepsis zur Inkarnation, zur Menschwerdung Gottes in Jesus Christus?5 Gleichzeitig boomt seit Jahrzehnten die Suche nach körperorientierter Spiritualität in und außerhalb der Kirchen. Yoga, Qi Gong, Tai Chi, Feldenkrais, Körperarbeit, etc. haben in Deutschland großen Zulauf. Auch kirchliche Einrichtungen bieten dies an, aber können die Kirchen die Sehnsucht nach einer lebendigen, leibhaften und heilenden Spiritualität stillen? Manche Frauen wenden sich lieber anderen religiösen (Tanz-)Traditionen zu.6 Tanzen liegt jedoch auch nicht jeder Person. Tanzmuffel bevorzugen vielleicht andere körperorientierte Spiritualitätspraxen. Wie sehr Menschen auf leibhaftige soziale Beziehungen angewiesen sind, ist im Zuge des Digitalisierungsschubs infolge der COVID-19-Pandemie umso deutlicher geworden. Menschen spüren existenzielle Alltagserfahrungen, insbesondere derzeitige Krisen, am eigenen Leib. Viele möchten die erlösende Botschaft des Evangeliums leibhaftig erleben. Betrifft die ambivalente Haltung gegenüber dem Tanzen als körperlicher religiöser Praxis wirklich nur das Christentum in Westeuropa? Wird Tanz auch in anderen Religionsgemeinschaften kontrovers debattiert? Um dieser Frage nachzugehen, lud ich 2020 internationale Expert:innen zu Tanz aus verschiedenen kulturell-religiösen Traditionen zur Forschungskonferenz „Dance with God or the Devil? Interreligious and Intercultural Debates on Dance and Religion(s)“ ein.7 Manche Ergebnisse überraschten: „‚Alle Religionen tanzen, mit Ausnahme des Christentums.‘ Diese Aussage scheint zu einfach zu sein. Sie tendiert dazu, die unsichtbare Geschichte der christlichen ‚Tanzkirchen‘, die ‚Tanzrevivals‘ in vielen Kirchen und die Konflikte über das Tanzen in anderen religiösen Traditionen zu übersehen.“8 Im Christentum in Westeuropa gab es zumindest im Mit-
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Vgl. ebd., 2. Vgl. beispielsweise ANGELA M. YARBER: Embodying the Feminine in the Dances of the World’s Religions, New York et al. 2011, x; HEIKE WALZ: Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) in the Perspective of Religious Studies and Intercultural Theology, in: DIES. (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 27–67, hier: 47f. Vgl. den daraus hervorgegangenen Sammelband HEIKE WALZ (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022 und meinen Konferenzbericht: HEIKE WALZ: Dance with God or the Devil? Interreligious and Intercultural Debates on Dance and Religion(s). Internationale Forschungskonferenz 1.–7. März 2020 an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, in: Zeitschrift Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft, vol. 46, no. 2 (2020), 420–426. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 37 (Übersetzung aus dem Englischen H. W.).
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telalter ‚tanzende Kirchen‘.9 Auch in anderen Religionen, beispielsweise im Judentum, Hinduismus, Islam oder Buddhismus, gehen die Meinungen über Tanz auseinander; ähnlich verhält es sich in der globalen charismatisch-pfingstlichen Bewegung.10 Postkoloniale Wiederaneignungen von Tanz als Tanzrevivals finden im globalen Süden im Christentum in Afrika, Asien und Lateinamerika seit dem 20. Jahrhundert fast überall statt, aber es wird auch kontrovers diskutiert, welche Tänze angemessen erscheinen.11 In vielen Kirchen in der südlichen Hemisphäre wird heutzutage getanzt. In der nördlichen Hemisphäre sind Frauen seit dem 20. Jahrhundert die Vorreiterinnen. Schon seit mehr als fünfzig Jahren feiern sie sinnlich-körperliche feministische Liturgien mit Tanz und reflektieren sie theologisch und kulturwissenschaftlich.12 Tanz kann zudem für interkulturelle und interreligiöse Begegnungen einen „Dritten Raum“ eröffnen, wie zahlreiche Beiträge im Konferenzband zeigen.13 Der postkoloniale Denker Homi Bhabha14 hinterfragt mit dieser politischen Kategorie binäre Logiken und die Gegensatzpaare (z. B. Körper versus Geist), die für westlich-europäisches Denken meist charakteristisch sind.15 Dem Dritten Raum wohnt das Potenzial inne, kulturelle und religiöse Identitäten und Bedeutungen neu auszuhandeln, insbesondere im Kontext von Migrations- und Fluchtbewegungen. In meiner eigenen Tanzerfahrung und Biographie spielt der Argentinische Tango eine zentrale Rolle, der in Argentinien seit dem 19. Jahrhundert zur 9
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PHILIP KNÄBLE: Canons & Choreographies. The Myth of the Medieval Church adverse to Dancing, in: HEIKE WALZ (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 139–153; DERS.: Eine tanzende Kirche. Initiation, Ritual und Liturgie im spätmittelalterlichen Frankreich, Köln u. a. 2016; vgl. das eingangs zitierte Buch von Dickason. Vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 30. Vgl. z. B. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 29–31. Vgl. BRIGITTE ENZNER-PROBST: Frauenliturgien als Performance. Die Bedeutung der Corporealität in der liturgischen Praxis von Frauen, Neukirchen-Vluyn 2008; TATJANA K. SCHNÜTGEN: Tanz zwischen Ästhetik und Spiritualität. Theoretische und empirische Annäherungen, Göttingen 2019. Vgl. u. a. KARIN SCHLAPBACH: Dancing with Gods. Dance and Initiation in Ancient Greek Religious Praxis, in: HEIKE WALZ (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 213–235; DOMINIKA HADRYSIEWICZ: In-Between Śiva and Jesus. Indian Classical Dance as a „Third Space“, in: HEIKE WALZ (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 337–350. Vgl. JONATHAN RUTHERFORD: The Third Space. Interview with Homi Bhabha, in: DERS (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference, London 1990, 207–221. Vgl. CORNELIA SIEBER: Der ‚dritte Raum des Aussprechens‘ – Hybridität – Minderheitendifferenz. Homi K. Bhabha: „The Location of Culture“, in: JULIA REUTER / ALEXANDRA KARENTZOS (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 97–108, hier: 98.
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„transkulturellen Sprache“ der Migrant:innen wurde und verschieden religiös konnotiert war.16 In den Kirchen wird hierzulande seit dem 20. Jahrhundert mit mehr oder weniger ‚säkularen‘ Tänzen experimentiert, z. B. mit Modern Dance, Ausdruckstanz, zeitgenössischem Tanz, Biodanza, Techno, Argentinischem Tango,17 etc. Im vorliegenden Beitrag führe ich diese Überlegungen fort:18 Inwiefern kann Tanzen als grenzüberschreitende Körpersprache interreligiöse Lernchancen eröffnen? Inwiefern bietet der Tanz gerade als umstrittenes Thema die Möglichkeit, sich über existenzielle Fragen als embodied Menschsein interkulturell und intereligiös auseinanderzusetzen? Hierfür stelle ich interreligiöse Tanzprojekte aus der Praxis vor und argumentiere, dass künstlerisch-ästhetische,19 spirituelle und zugleich politische Formen des interreligiösen Dialogs mehr beachtet werden sollten (1). Im zweiten Schritt geht es um die Schwierigkeit, in christlicher Theologie und europäischer Religionswissenschaft Tanz als religiös wahrzunehmen und ein ganzheitliches Körper- und Geistverständnis im Sinne des Embodiment vorauszusetzen. Dies hängt u. a. mit der europäisch-christlichen Missions- und Kolonialgeschichte zusammen (2). Anhand von drei Beispielen – dem klassischen indischen Hindu-Tanz, dem islamischen Derwischtanz im Sufismus und Tanz in afrobrasilianischen Religionen – rege ich einen vertieften interreligiösen Lernprozess (deep learning)20 an, was Tanz religiös bedeuten kann (5), nämlich eine Embodiment-Spiritualität im Tanz als Ekstase (4).
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Vgl. meinen Buchbeitrag: HEIKE WALZ: Argentinischer Tango als postmigrantische Sprache des Lebens. Zwischen afrikanischer Tradition und Spiritualität. Zur Tanzforschung in dekolonialer Religionswissenschaft (erscheint 2022/23). Zurzeit bereite ich mit Theolog:innen aus der Schweiz einen Tango-Gottesdienst vor, der am 13. November 2022 in Bern stattfinden wird. Teile hieraus habe ich anlässlich der Tagung „Interreligiosität und Diversität“ der Deutschen Sektion der European Society for Women in Theological Research (30.9.– 2.10.2022) vorgetragen. Der Islamischen Theologin Prof. Dr. Rana Alsoufi danke ich für ihre anregende Replik auf meinen Vortrag und die daran anschließenden Diskussionen. Derzeit arbeite ich an einem Buchprojekt zu Tanz als Spiritualität in verschiedenen Religionen. Mit dem Begriff ‚künstlerisch‘ beziehe ich mich auf gestalterische Arbeit zu Bewegung und Tanz, während ‚ästhetisch‘ den „die Sinne einbeziehenden“ Umgang mit Materialen bezeichnet und weniger ergebnisorientiert ist; vgl. MONA-SABINE MEIS: Allgemeine Grundlagen der künstlerisch-ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit, in: MONA-SABINE MEIS / GEORG-ACHIM MIES (Hg.): Künstlerisch-ästhetische Methoden in der Sozialen Arbeit. Kunst, Musik, Theater, Tanz und digitale Medien, 2. aktualisierte Aufl., Stuttgart 2018, 19–86, hier: 21. Hier lehne ich mich an das Konzept des deep learning der Komparativen Theologie an, vgl. beispielsweise FRANCIS X. CLOONEY SJ: Comparative Theology. Deep Learning Across Religious Borders, Hoboken, N. J. 2010.
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Interreligiöse Tanzprojekte (Inter-Dance): Körpersprache im Tanz über Grenzen hinweg Tanzen bringt Menschen einander näher. Im Tanz drücken wir unser Innerstes aus, über die Grenzen von Sprache oder Religionen hinweg.21
Tanzen kann interkulturelle und interreligiöse Begegnungen ermöglichen, so erleben es Frauen im Projekt „TanzBRÜCKEN“ der Brücke-Köprü in Nürnberg, dem christlich-islamischen Begegnungszentrum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Freitags treffen sich Frauen aus verschiedenen Ländern, um mit den Tanzlehrerinnen Feride Akgül und Dagmar Stadelmeyer Tänze auszuprobieren, u. a. orientalischen Tanz, jüdisch-sephardische, griechische oder indigene Tänze und Klänge.22 Während meiner Forschungskonferenz besuchten wir das interreligiöse Frauenprojekt, das von Gülsan Çiçek, eine der muslimischen Mitarbeiterinnen in der Brücke-Köprü, gegründet wurde. Feride Akgüls orientalischen Tanz mitzuerleben, hat uns tief beeindruckt.23 Im Austausch mit den Frauen aus türkischen, afghanischen und deutschen Herkunftsfamilien fragten wir danach: Welche Bedeutung haben ihre Tanzerfahrungen für sie? Tanzen sei Ausdruck der Freude über die Schöpfung Gottes, sagten die einen. Für andere stand der heilsame Ausgleich zu ihrem Alltagsstress im Zentrum. Zusammen zu tanzen, schlägt Brücken zwischen den Frauen, es schafft Gemeinschaft, darin waren sie sich einig.24 Auch das „Interreligiöse Frauenprojekt“ im „Haus der Religionen“ in Hannover experimentiert unter der Leitung eines multireligiösen Frauenteams, einer Baha’i, Jüdin, Christin, Muslima, Buddhistin und Hindu, mit Tanz als spiritueller Kraftquelle für den Alltag.25 Angesichts von Flucht, Migration und Integration bietet das Programm Dancing to ConnectSM (DtC) mit unbegleiteten minderjährigen geflüchteten Jugendlichen in Deutschland „ein nonverbales Ausdrucksmittel“, um „Gräben zu
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https://www.evangelische-termine.de/detail-bt?ID=6071488 [Zugriff: 24.09.2022]. Vgl. ebd. Das Video, das Franka Plößner zur Konferenz gedreht hat, enthält eine Sequenz aus der Performance, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=nnvdTCy05_M [Zugriff: 24.09.2022]. Vgl. HEIKE WALZ: Introduction, in: DIES. (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 11–23, hier: 13. Vgl. https://www.haus-der-religionen.de/sites/default/files/flyer_frausingendfassung.pdf; https://www.haus-der-religionen.de/de/angebote/interreligioeses-frauenprojekt [Zugriff: 24.09.2022].
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überbrücken“ und „Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen“.26 Auch das Programm Interreligious Dance des Jesuitenordens in Jordanien versucht, das Selbstwertgefühl junger Leute zu stärken und angesichts von Krieg, Hass und Rassismus in den Herkunftsländern Friedensarbeit zu leisten.27 Tanz kann so einen Beitrag zur „postmigrantischen Gesellschaft“28 leisten, indem Migrationsprozesse gesellschaftlich Anerkennung finden und sich die Gesellschaft insgesamt verändert.29 Auch für Erinnerungsarbeit, Konfliktbearbeitung und Versöhnung nach genozidaler Gewalt und Unrecht eignen sich Tanzprojekte, wie Björn Krondorfer am Beispiel des Jewish-German Dance Theatre von 1985–1989 beschreibt, das mit Modern Dance und experimentellem Tanz versuchte, die Sprachlosigkeit angesichts des Holocaust zu überwinden.30 Frauen „aus mehreren indonesischen Provinzen, Ländern und Religionen wie dem Bali-Hinduismus, Buddhismus, Islam, Christentum, Judentum, Konfuzianismus und ethnischen Glaubensgruppen“31 tanzen auf Bali zusammen. Anlässlich des Events Sharing Arts & Religiosity unterstreicht die Religionswissenschaftlerin Kusumita Pederson die Rolle von Tanz als Kunst: „Warum sind die Künste für die interreligiöse Verständigung so wichtig? Religiöse Bedeutung und spirituelle Wahrheit sind niemals nur verbal und begrifflich. […] Bedeutung und Wahrheit sind nicht nur zu ‚erklären‘, sondern durch symbolische Bilder und Handlungen darzustellen und auszudrücken. […] verkörpert und dargeboten in physischer Form, Farbe, Klang, Bewegung, Duft und Geschmack. […] Durch Sehen, Berühren, Hören, Gesten, Tanzen, Riechen, Essen und Trinken können sie wahrgenommen werden.“32 Künstlerisch-ästhetische Dialoge, ausgehend von bildender Kunst, Musik, Theater und Tanz, ermöglichen eine sinnlich-körperliche interreligiöse Begegnung, 26
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Battery Dance: Refugee Integration, https://batterydance.org/dancing-to-connect/ [Zugriff: 24.09.2022]. Die jungen Leute erarbeiten unter Anleitung professioneller Tanzkünstler:innen eigene Choreographien, vgl. https://batterydance.org/dancing-to-connect/ [Zugriff: 24.09.2022]. Vgl. das Video „Society of Jesus, Interreligious Dance“: https://www.youtube.com/watch ?v=uBsouvBhj90 [Zugriff: 24.09.2022]. Vgl. zum Begriff NAIKA FOROUTAN: Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld 2021. Vgl. auch NAIKA FOROUTAN: Die postmigrantische Gesellschaft, in: Heft „Integration in der postmigrantischen Gesellschaft“, bpb (20.04.2015), https://www.bpb.de/themen/ migration-integration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft/ [Zugriff: 21.03.2022]. Vgl. BJÖRN KRONDORFER: Experimental Drama and the Holocaust. The Work of the JewishGerman Dance Theatre and its Application to the Teaching of the Holocaust, in: ZEV GARBER u. a. (Hg.): Methodology in the Academic Teaching of the Holocaust, Lanham 1988, 231– 259. DIANE BUTLER: On Women and the Praxis of Interreligious Dialogue through the Arts, International Journal of Interreligious and Intercultural Studies (IJIIS) 2:1 (2019), 11–26, hier: 21 (Übersetzung aus dem Englischen H. W.). Ebd., 22 (Übersetzung aus dem Englischen H. W.).
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welche die intellektuelle begleiten und herausfordern kann. Es handelt sich um Dialoge des Lebens im Alltag, spirituelle Dialoge zu meditativen und mystischen Erfahrungen und politisch-ethische Dialoge zu Versöhnung und Erinnerungsarbeit nach traumatischen Gewalt- und Unrechtssituationen. Es geht nicht darum, institutionelle oder theologische Dialoge33 zu ersetzen, aber auf ihnen liegt oft der Schwerpunkt, da sie meist von männlichen religiösen Repräsentanten geführt werden. In der Schweiz rief Doris Strahm bereits vor fünfzehn Jahren einen interreligiösen Think-Tank von Frauen ins Leben und forderte, den interreligiösen Dialogen von Frauen auch in der Theoriebildung mehr Gewicht zu verleihen. Alltagserfahrungen, Spiritualität, Rituale, ethische Anliegen und vor allem gemeinsames Handeln bieten einen existenziellen Zugang für interreligiöse Begegnungen.34 Hier möchte ich die künstlerisch-ästhetische35 Dimension unterstreichen. Bislang wurde vor allem zur Musik geforscht.36 Künstlerisch-ästhetische Dialoge sind zugleich politisch.37 In autoritären Staatssystemen ist politisches Sprechen häufig nur durch symbolische Handlungen, beispielsweise Performancetanzkunst, möglich, da die Meinungsfreiheit in der Öffentlichkeit und den Medien eingeschränkt wird. Das bekannteste Beispiel ist die Punk-Rock-Band Pussy Riot, die 2012 in Russland mit ihrer feministischen Aktion „Punk-Gebet“ die enge Verbindung zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Staat kritisierte und dies trotz Inhaftierungen bis zur Gegenwart tut.38 Ein anderes Beispiel ist die internationale Kampagne One Billion Rising für ein Ende der Gewalt gegen Frauen und Mädchen, welche seit 2012 von der New 33
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Vgl. zu den Formen z. B. ULRICH DEHN: Annäherungen an Religion. Religionswissenschaftliche Erwägungen und interreligiöser Dialog, Berlin 2014, 76; vgl. zu Theorien des interreligiösen Dialogs REINHOLD BERNHARDT: Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen, Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 16, Zürich 2019. Vgl. DORIS STRAHM: Damit es anders zwischen uns wird. Interreligöser Dialog als Beitrag zu einem friedvollen Zusammenleben (2008), 1–11, https://www.doris-strahm.ch/Strahm_ 017.pdf [Zugriff: 29.09.2022]; DORIS STRAHM / MANUELA KALSKY (Hg.): Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006. Vgl. auch die neueren Forschungsrichtungen Aesthetics of Religion und Material Religion in: ISABELLA SCHWADERER / KATHARINA WALDNER: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Annäherungen an das Unaussprechliche. Ästhetische Erfahrung in kollektiven religiösen Praktiken, Bielefeld 2021, 7–16, 8; vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 50f. Vgl. VERENA GRÜTER: Klang – Raum – Religion. Ästhetische Dimensionen interreligiöser Begegnung am Beispiel des Festivals Musica Sacra International, Zürich 2017; REINHOLD BERNHARDT / VERENA GRÜTER: Musik in interreligiösen Begegnungen (Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 14), Zürich 2019. Vgl. die Ausstellung im Deutschen Tanzarchiv in Köln: „Das Echo der Utopien“ (2015– 2017): https://www.deutsches-tanzarchiv.de/museum/rueckblick/das-echo-der-utopientanz-und-politik/ausstellung/ [Zugriff: 24.09.2022]. Vgl. JOACHIM WILLEMS, Pussy Riots Punk-Gebet. Religion, Recht und Politik in Russland, Berlin 2013; https://www.youtube.com/watch?v=ALS92big4TY [Zugriff: 24.09.2022]. Vgl. das Interview von Lucia Baumann zu ihrer derzeitigen Deutschlandtour: https://kreuzerleipzig.de/2022/09/08/jede-kann-eine-bunte-balaclava-aufsetzen [Zugriff: 04.10.2022].
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Yorker Künstlerin und Feministin Eve Ensler mit einer Tanzperformance initiiert wurde.39 Meine Wahrnehmung ist von langjährigen Erfahrungen in Argentinien geprägt. Hier werden bei politischen Demonstrationen Tanzperformances aufgeführt, was auf Spanisch mit der Redewendung poner el cuerpo40 (sich körperlich exponieren) ausgedrückt wird. Seit der letzten Militärdiktatur (1976–1983) war damit gemeint: „Die Darbietung des eigenen Körpers bedeutete, sich angesichts von Zensur, Verlust und Verschwindenlassen zu entblößen und sich sogar völlig ins Rampenlicht zu stellen.“41 Tanzen wird häufig dann unterdrückt und verboten, wenn bestehende Ordnungen infrage gestellt werden. Tanz kann aber auch machtpolitisch instrumentalisiert werden, um gesellschaftliche Ordnungen zu bestätigen, wie beispielsweise in der Nazizeit in Deutschland.42 Trotz dieser Ambivalenz des Tanzes bietet er zusätzlich zur verbalen Ausdrucksmöglichkeit eine sinnlich-körperliche. Meine Arbeitsdefinition von ‚Tanz‘, die für Veränderung durch das interkulturell-interreligiöse Arbeiten offen bleiben soll, spiegelt dies wider: ‚Tanz‘ verstehe ich als ‚Performance rhythmischer Körperbewegungen (meist zu Musik)‘, die Bedeutung erzeugt.43 Tanzwissenschaftlich gesehen wird „Wissen in Bewegung“44 erzeugt, die der Theologie und Religionswissenschaft eine zusätzliche Quelle, zu Texten und Bildmaterial, bietet. Jeder Tanz kann für eine explizit ‚religiöse‘ oder ‚spirituelle‘ Interpretation offen sein.45 Mit ‚spirituell‘ sind im Folgenden persönliche und individuelle Formen der Religiosität46 gemeint, während sich „religiös“ auf eine bestimmte Tra-
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dition innerhalb einer Gemeinschaft bezieht.47 Während Tanz hierzulande eher als private säkulare Freizeit-, Sport- oder Kulturveranstaltung gilt, wird Tanz in internationalen Debatten als Kunst, religiöses Ritual und Unterhaltung48 verstanden. Außerhalb der westlich-europäischen, christlich geprägten Diskurse werden Religiosität und Säkularität nicht strikt getrennt. Religion und Kultur gehen häufig ineinander über. Manchmal werden dieselben Tänze sowohl in einem Ritual als auch zur Unterhaltung getanzt.49 Interreligiöse und interkulturelle Tanzprojekte und die Theoriebildung hierzu bezeichne ich als Inter-Dance. ‚Inter‘ steht für Zwischenräume, in denen Beziehungen, Deutungen und Identitäten angesichts von sprachlichen, kulturellen, religiösen, sozialen, politischen, altersbedingten, rassistischen und geschlechtlichen Barrieren und Konflikten neu ausgehandelt werden. Tanz als ganzheitliche embodied Sprache kann zum friedlichen Zusammenleben in einer religiös pluralen Gesellschaft beitragen. Da in der europäischen Missions- und Kolonialgeschichte christliche Ambivalenzen gegenüber Tanz in andere Kontinente exportiert wurden, ist eine Dekolonialisierung des Denkens vonnöten, was ich nun skizzieren möchte.
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Tanz im Christentum: Eine dekoloniale Perspektive auf Tanz und Embodiment Eine auffällige und beunruhigende Gemeinsamkeit der meisten Tänze, die in World Dance Cultures besprochen werden, besteht darin, dass sie durch koloniale Herrschaft unwiderruflich verändert oder beschädigt wurden; die Gesellschaften, in denen sie sich entwickelten, mussten oft darum kämpfen, zu überleben.50
Patricia Leigh Beaman zeigt in ihrem Buch über World Dances Cultures, dass viele Ritualtänze weltweit unter kolonialherrschaftlichen Einflüssen eine Entwicklung „vom Ritual zum Spektakel“51 durchmachten, insbesondere in Indien, auf 47
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Unter Religion verstehe ich im weiteren Sinne Deutungen der Wirklichkeit, die sie transzendieren, vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), hier: 27, Anm. 5. Vgl. UJI NIGERIA CHARLES / AWUAWUER TIJIME JUSTIN: Towards the Theories and Practices of Dance Art, International Journal of Humanities and Social Sciences 4:4 (2014), 251–259, hier: 251. Vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 32–34 und als Beispiel NKOSINATHI SITHOLE: The Sacred Dance as Miracuous Praxis in Ibandla lamaNazaretha, in: HEIKE WALZ (Hg.): Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 175– 192. Vgl. PATRICIA LEIGH BEAMAN: World Dance Cultures. From Ritual to Spectacle, London / New York 2018, XIX (Übersetzung aus dem Englischen H. W.). So der Untertitel; vgl. auch WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 33.
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Bali und Java, in Kambodscha, China und Japan, im Pazifik, in Lateinamerika und der Karibik sowie in Afrika und in nordafrikanischem arabischem Umfeld wie auch in der Türkei und Spanien. Kontroversen über das Tanzen hängen häufig mit den interreligiösen und interkulturellen „contact zones“52 zusammen. Möglicherweise wiederholt sich hier, dass die christliche Identität in den ersten Jahrhunderten durch Abgrenzung hervorgebracht wurde.53 Kirchenväter hatten Tanzen verboten, in antijudaistischer Haltung gegenüber jüdischen Tanztraditionen und mit der Intention, Einflüsse aus griechischen Mysterienreligionen, gnostischen Bewegungen oder abgespaltenen Gruppierungen zurückzudrängen. Volkstanz, Leichenschmaus, Totentanz oder Siegestänze am Grab der Märtyrer:innen galten untrennbar mit andersreligiösem Gedankengut verbunden.54 Nichtsdestotrotz wurden bislang existierende christliche Tanzpraktiken zu wenig erforscht. Neuere kirchengeschichtliche Forschungen zeigen eine komplexere und mehrdeutige Geschichte des Tanzes im Christentum in Westeuropa, bis hin zu Balltänzen der Kirchenhierarchie in Frankreich.55 Seit dem 16. Jahrhundert übertrugen europäische Missionar:innen das Schema der Identität durch Abgrenzung auf indigene lateinamerikanische, afrikanische und asiatische Religionen und Tanz zurück, oft auch Hand in Hand mit der Kolonialisierung. Gleichwohl war die Missions- und Kolonialgeschichte im Blick auf Tanz nicht homogen, sondern ein kontroverses Feld. Am Tanz wurden Kämpfe um Deutungsmacht ausgefochten. Manche Missionar:innen verboten indigene Tänze und Musik im christlichen Gottesdienst und die Teilnahme an Tänzen bei indigenen Trauer- und Initiationsritualen, beispielsweise in afrikanischen Kirchen im 19. Jahrhundert.56 Andererseits nahmen Missionare der Franziskaner- und Dominikanerorden in Lateinamerika indigene Gesänge, Tanz, Pan-
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MARY LOUISE PRATT: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London / New York 22008 (1992), 8; vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 38. Vgl. CAMILLE LEPEIGNEUX: The Indictment of Dance by Christian Authors in Late Antiquity. The Example of the Dance of Herodias’ Daughter (Mt 14; Mk 6), in: HEIKE WALZ (Hg.), Dance as Third Space. Interreligious, Intercultural, and Interdisciplinary Debates on Dance and Religion(s) (Research in Contemporary Religion Series RCR, vol. 32), Göttingen 2022, 97– 112, u. a. 109. Vgl. CARL ANDRESEN: Altchristliche Kritik am Tanz – ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirche gegen heidnische Sitte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte Vierte Folge X, LVVII. Band (1961), 217–262, insbesondere 251–254; RONALD A. SEQUEIRA: Klassische indische Tanzkunst und christliche Verkündigung. Eine vergleichende religionsgeschichtlich-religionsphilosophische Studie, Freiburg 1978, 251. Vgl. KNÄBLE: Canons & Choreographies (s. Anm. 9), 145ff. Vgl. MARKUS ROSER: Die Leistung afrikanischer Missionare zur Ekklesiogenese im Spannungsfeld primärer und sekundärer Religionserfahrung. Biographische Beispiele aus der Zentralafrikanischen Republik, in: BENJAMIN SIMON / HENNING WROGEMANN (Hg.): Konviviale Theologie, Frankfurt a. M. 2005, 108–128, 113.
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tomime und Theater in ihre Liturgien auf.57 Aus postkolonialer Sicht wurden Missionstanzpolitiken nicht nur mit Macht durchgesetzt und die tanzenden Körper der Gläubigen im Foucault’schen Sinne diszipliniert, reguliert und kontrolliert,58 sondern die Rolle von Tanz auch neu ausgehandelt. Tanz ist ein „Brennglas“59 für rassistische, exotisierende und geschlechtsspezifische Kolonialpolitiken und Missionstheologien, aber auch für antikolonialen Widerstand, insbesondere seit dem 20. Jahrhundert. Unabhängige Kirchen im globalen Süden inititierten Tanzrevivals, bei denen autochthone religiöse Tanzformen in christliche Glaubenspraxen einflossen. Tanzen entwickelte sich archäologischen Forschungen zufolge seit der Steinzeit als ein menschliches Ausdrucksmittel. Auf „Ritzungen, Zeichnungen und Malereien“60 sind Formen kultischer Tänze zu erkennen. Tanz ist religionsgeschichtlich vor allem in Grenzsituationen des Lebens zu finden, in rites de passage (Übergangsriten) anlässlich von Geburt, Pubertät, Hochzeit oder Bestattung. Tanzend überwinden Menschen krisenhafte Schwellensituationen.61 Als Element sinnstiftender Rituale kann Tanzen eine „Resonanzerfahrung“62 hervorrufen. Das Christentum in Westeuropa hat, soweit wir dies bislang wissen, keine offiziellen sakralen Tanztechniken entwickelt, die in der Bibel, durch sakrale Tanzschulen, Klöster oder mündlich als festes Schema tradiert worden wären, anders als im Hinduismus, in afrikanischen Religionen, im Judentum, in indigenem Schamanismus und im islamischem Sufismus.63 Tanz ist infolgedessen in der europäisch-westlich, meist christlich geprägten Religionswissenschaft64 randständig geblieben, da sie meint, zwischen religiösen und säkularen Sphären klar unterscheiden zu können. Außerhalb der europäisch-westlichen Weltwahrnehmung ist dies eher nicht der Fall. Somit leistet die Auseinandersetzung mit Tanz als „Wissen in Bewegung“65 einen Beitrag zur Dekolonisierung des Wissens (decolonization of knowledge) in der europäisch-westlichen Religionswissenschaft und Theologie.66 Tanz ist eine Art und Weise, sich auf „die Welt des Sensiblen zu beziehen, die zum Schweigen 57
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Vgl. GAUVIN ALEXANDER BAILEY: Art on the Jesuit Missions in Asia and Latin America 1542– 1773, Toronto/Buffalo et al. 1999, 37. Vgl. MICHEL FOUCAULT: Discipline and Punish. The Birth of the Prison, New York 1977. Vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 51; vgl. 51–53. HELMUT STUMPFOHL: Der Tanz in der Religion, in: Almogaren XXIV–XXV (1993–94), 311–333, hier: 314, https://mdc.ulpgc.es/utils/getfile/collection/almog/id/402/filename/64.pdf [Zugriff: 04.10.2022]. Vgl. CLEMENS RUTHNER: Grenzwertig im Dawischen. Liminalität als Denkraum, in: Ars & Humanitas 13:2 (2019), 26–39, hier: 31. JÖRG RÜPKE: Ritual als Resonanzerfahrung, Stuttgart 2021; Tanz erwähnt Rüpke nicht. Vgl. hierzu die Beiträge in WALZ (Hg.): Dance as Third Space (s. Anm. 6), 195ff. Vgl. hierzu ausführlicher WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 44–53. GEHM u. a.: Wissen in Bewegung (s. Anm. 44). Vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 51–53.
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gebracht wurde“, so der dekoloniale Denker Walter Mignolo aus Argentinien/ USA in seinen Überlegungen zu einer Decolonial AestheSis.67 Tanz bietet eine alternative dekoloniale Epistemologie, im Sinne eines movement turn.68 Somit wohnt der Thematisierung von Tanz im interreligiösen Dialog das Potential inne, in der Theologie und Religionswissenschaft das Denken im Sinne einer epistemologischen Wende zu verändern. Dies betrifft auch dualistische Diskurse zu Geist und Körper wie auch zu Religion und Tanz. Im interreligiösen Dialog kann sich herausstellen, dass sie westlich-europäisch und christlich geprägt sind. Beispielsweise sind dualistische Körperkonzepte der jüdischen Vorstellung in der Hebräischen Bibel fremd, ebenso eine Abwertung der Körperlichkeit.69 Jedoch wurde „[ü]ber lange Zeit […] die ‚hebräische Anthropologie‘ im Spiegel oder mit der Brille der klassisch-griechischen Philosophie betrachtet“70. Auffällig ist, dass sich hiesige Diskurse zur Körpersoziologie und Tanzphilosophie an dualistischen Körperdiskursen abarbeiten und ‚Leibkörperlichkeit‘ stark machen. So schreibt Mónica Alarcón: „Man ist der eigene Leibkörper, aber das Sein dieses Leibkörpers kann auch als ein Ding unter anderen gedacht werden.“71 Um Tanz beschreibbar zu machen, greift sie auf die Unterscheidung der Innen- und Außenperspektive zurück, wie sie in den Diskursen Leib sein und einen Körper haben aufscheint.72 Auf der einen Seite steht der ‚Leib‘ in der Leibphänomenologie in der Rezeptionsgeschichte von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) dafür, wie ich den eigenen, lebendigen Leib von innen spüre, was von Außen nicht einholbar ist. Gefühle können den Leib ergreifen.73 Dieser Leibbegriff erfasst die subjektive Dimension im Tanz, wenn sich der Eindruck einstellt: Es tanzt mich. Auf der anderen Seite gehen kritische Körpertheorien wie die dekonstruktivistische Theorie von Judith Butler74 davon aus, dass Körperlichkeit nicht natür67
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WALTER MIGNOLO / ROLANDO VAZQUEZ: Decolonial AestheSis. Colonial Wounds / Decolonial Healings, in: SocialText 15 (2013), https://socialtextjournal.org/periscope_article/deco lonial-aesthesis-colonial-woundsdecolonial-healings/ [Zugriff: 07.04.2022] (Übersetzung aus dem Englischen H. W.). Turn to Movement: https://wp.nyu.edu/esferas/current-issue/turn-to-movement-intro duction/ (Zugriff: 07.04.2022). Vgl. ANDREAS WAGNER: Art. Körper (AT), in: Wibilex, 2013, 1–20, insbesondere 5f., http:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/23856/ [Zugriff: 28.9.2022]. Ebd., 4. Vgl. MÓNICA ALARCÓN: Die Ordnung des Leibes. Eine tanzphilosophische Betrachtung, Würzburg 2009, insb. 6–12; vgl. auch ROBERT GUGUTZER: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012. Bernard Waldenfels schreibt, dass die „Ausdrücke ‚Leib‘ und ‚Körper‘ [...] ein sprachliches Kapital [bilden], das man nicht einfach verschleudern sollte, indem man vom ‚Körper‘ spricht, wenn man den ‚Leib‘ meint“, BERNHARD WALDENFELS: Leibliches Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie, Frankfurt a. M. 2000, 15. Vgl. HERMANN SCHMITZ: Der Leib, Berlin/Boston 2011, 89–96. Vgl. JUDITH BUTLER: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 2004.
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lich ist, sondern durch historische, politische, soziale, kulturelle und geschlechtliche machtförmige Diskurse performativ hervorgebracht wird, und zwar auf allen drei Ebenen sex, gender und desire. Der Körper wird hier als politische Kategorie gedacht.75 Tanzperformances können infolgedessen Diskurse der binären Zweigeschlechtlichkeit zementieren oder parodieren. Leibphänomenologische und poststrukturalistische Körperdiskurse werden in Diskursen zur ‚Leibkörperlichkeit‘ in Anspruch genommen, um die Verschränkung zwischen dem eigenleiblichen Spüren und der Macht gesellschaftlicher Diskurse zusammenzudenken:76 „Der Leib wird gemäß dem in den Körper eingelassenen (sozialen) Empfindungsprogramm gespürt.“77 Subjektiv gefühlte Tanzerfahrungen sind demzufolge auch nur diskursiv zugänglich, was gerade für spirituelle und religiöse Tanzerfahrungen relevant ist. In der Theaterwissenschaft tritt die Intention, eine möglichst ganzheitliche Betrachtungsweise auf Körper im Tanz zu entwickeln, noch deutlicher zutage. In der Theater- und Tanzperformances gibt es Erika Fischer-Lichte zufolge bereits seit dem 18. Jahrhundert den Begriff der „Verkörperung/embodiment“.78 Die Dialektik des leiblichen In-der-Welt-Seins der Performancekünstler:innen und ihrer Körper, die sie performativ hervorbringen, macht die heutige Theater- und Performancekunst als „embodied mind“79 stark. Auf ähnliche Weise versuchen Embodiment-Diskurse, die in Forschungen zur Verkörperung in der Psychologie, Kognitionswissenschaft, Neurobiologie und Körperarbeit derzeit diskutiert werden, Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche beziehungsweise zwischen Körper und Gehirn zu beschreiben. Sie hängen insofern mit der Theorie der Leibköperlichkeit zusammen, als sie versuchen, dichotome Konstruktionen des Menschseins und der Körperlichkeit zu überwinden.80 Manche französische Philosophen wie Jean-Luc Nancy (1940– 2021) behaupten sogar, Tanzen sei Denken.81 Dies mag auf den ersten Blick überzogen klingen, aber solche Embodiment Diskurse legen die Frage nahe: Sind Bemühungen um ein ganzheitliches Körperverständnis ein westlich-europäisches und christliches Problem? Existiert dieses Problem auch in anderen religiösen Traditionen und welche Bedeutung hat Tanzen dort? 75
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Vgl. JUDITH BUTLER: Gender trouble. Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1995, 187. Vgl. ULLE JÄGER: Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, Königstein 2004, insb. 111–168. Ebd., 154. Vgl. ERIKA FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, 130; vgl. 130– 160. Ebd., 159. Vgl. MARIA STORCH u. a.: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 22002. „Sans aucune tricherie, sans aucune facilité, je peux dire que quand je pense, je danse“, JEAN-LUC NANCY, Seul(e) au monde, in: MATHILDE MONNIER / JEAN-LUC NANCY, Allitérations. Conversations sur la danse (avec la participation de Claire Denis), Paris 2005, 81–103, 101.
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3.
Heike Walz
Indischer klassischer Tanz, Derwischtanz im Sufismus und Ritualtanz im Candomblé
Hierzu habe ich drei religiöse Tanztraditionen ausgewählt, die mehr oder weniger etabliert sind und auf eine lange Tradition zurückblicken: Der klassische Tanz im indischen Hinduismus, der Derwischtanz im islamischen Sufismus und Ritualtänze im afrobrasilianischen Candomblé. Sie lassen sich der Kategorie ‚Ritualtanz‘ zuordnen, auch wenn sie vergnüglich und unterhaltend sein können: „Denn in Ritualtänzen sind es die Götter, die tanzen, nicht die Menschen.“82 Die drei Beispiele können interreligiös offen sein, was aber nicht heißt, dass sie es in allen Kontexten auch sein müssen. Andersgläubige können in diesem Fall zuschauen oder dürfen sogar mitmachen, ohne Mitglied zu werden. Der Jesuit und klassisch ausgebildete Tänzer Dr. Saju George arbeitet in den Slums in Kolkatta in Indien mit Jugendlichen, um mit ihnen, gleich welcher religiöser Prägung, den klassischen indischen Elitetanz zu lehren.83 Der Mevlânâ Verein e. V. in Nürnberg veranstaltet unter der Leitung von Scheich Süleyman Bahn zwei Mal im Jahr ein Sema, an dem Menschen aller Religionen und Weltanschaungen willkommen sind.84 Zusammen mit Theologiestudierenden war ich schon mehrmals in ihrer Sufi-Gemeinschaft zu Gast. Die Candomblé-Gemeinschaft in Berlin lädt Gäste zu bestimmten Ritualfeiern zu Ehren einer/s Orixá ein,85 was ich ebenfalls miterleben durfte. Anhand dieser Beispiele lässt sich fragen: Tanzen die Gottheiten? Wurden die Tänze durch die jeweilige Kolonialgeschichte verändert? Ließe sich von einem „spirituellen Embodiment“86 sprechen? Welche Lernchancen ergeben sich aus christlicher Sicht? Zunächst wende ich mich dem klassischen indischen Hindu-Tanz zu.87
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AXEL MICHAELS, Wenn Götter tanzen. Zum Verhältnis von Ritual und Tanz, in: GABRIELE BRANDSTETTER / CHRISTOPH WULF (Hg.), Tanz als Anthropologie, München/Paderborn 2007, 146–158, hier: 157. Vgl. WALZ: Dance as Third Space (s. Anm. 6), 13. Vgl. http://www.mevlana-ev.de/cbcms/ [Zugriff: 29.09.2022]; vgl. WALZ, Dance as Third Space (s. Anm. 6), 14. Vgl. https://candomble-berlin.de [Zugriff. 29.09.2022]. Diesen Begriff entleihe ich bei MAJA STORCH u. a.: Spirituelles Embodiment. Stimme und Körper als Schlüssel zu unserem wahren Selbst, München 2021. ‚Hinduismus‘ ist bekanntlich ein umstrittener Begriff für eine Vielfalt an HinduTraditionen, die nur „Familienähnlichkeiten“ haben, vgl. ANGELIKA MALINAR: Hinduismus. Studium Religionen, Stuttgart 2009, 23.
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Klassischer indischer Tanz Bharata natyam
Der klassische indische Tanzstil Bharata natyam88 wurde ursprünglich von einer Devadasi, einer gebildeten Tempeltänzerin, täglich beim Tempelritual getanzt, aber auch am Hof und bei Festivals. Im Sanskrit bedeutet natya sowohl Tanz als auch Drama. Tanz und Drama gehören zusammen, da Episoden aus dem Leben von Hindu-Gottheiten getanzt dargestellt werden. Religionsgeschichtlich wird Bharata natyam auf göttlichen Ursprung zurückgeführt, u. a. auf Shiva, den Gott des Tanzes.89 Anweisungen in der Schrift Natyasastra (200 v. Chr. bis 200 n. Chr.) werden bis heute verwendet. Der britische koloniale Einfluss im 19. Jahrhundert führte zu einer Säkularisierung. Der Tempeltanz verlor an Ansehen. Die Devadasis wurden der Prostitution bezichtigt. Seit etwa 1930 kam es zu einem Revival in der Elite der Brahmanenkaste und seit den 1960er Jahren ist der Tanz wieder populär. Charakteristisch war eine klare Geschlechtertrennung: Frauen tanzten, Männer waren die Tanzmeister und Musiker. Heute sind beide Rollen geschlechtergemischt. Zwar wird er noch in Tempeln anlässlich religiöser Feste getanzt, aber nicht vor Götterbildern oder als Teil der Rituale. In den letzten Jahren werden auch nichthinduistische, zeitgenössische und sozialkritische Themen dargestellt.90 Die ursprüngliche „Rolle des religiösen Vermittelns“91 im Tanz, als Unterweisung im Tempel, hat sich sehr gewandelt und teilweise säkularisiert. Religiös hat der Bharata natyam eine „kosmogenische Funktion“92: Shiva lässt die Welt durch seinen kosmischen Tanz entstehen, bewahrt sie und zerstört sie wieder. Shivas Tanz hält „den endlosen Kreislauf des Werdens und Vergehens aufrecht“93. Shiva ist auf vielen südindischen Bronzestatuen um 1100 n. Chr. abgebildet.94 Im Mythos heißt es: Wenn Nataraja, eine tanzende Inkarnation der Gottheit Shiva, aufhört zu tanzen, dann bleibt das ewige Rad stehen, dann ist das Ende der Welt gekommen. Kulkānti Barboza zufolge lässt sich im Tanz Moksha (Befreiung) erreichen, indem der ständige Daseinskreislauf (Samsara) von Geburt, Tod und Wieder88
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Vgl. KULKĀNTI BARBOZA: „Der dreigliedrige Pfad der Erkenntnis im indischen Tanz“, in: THOMAS SCHREIJÄCK / KNUT WENZEL (Hg.): Christus in den Kulturen. Anstöße des II. Vatikanums für eine Theologie der Inkulturation in Indien, Ostfildern 2014, 175–187, hier: 175. Vgl. SEQUEIRA: Klassische indische Tanzkunst (s. Anm. 54), 82f. Vgl. ANNE-MARIE GASTON: Bharata Natyam. From Temple to Theatre, New Delhi 1996, insbesondere 15–17. SEQUEIRA: Klassische indische Tanzkunst (s. Anm. 54), 216. THEO SUNDERMEIER: Es ist ein Tanz im Himmel. Christus der Tänzer Meister ist. Eine interkulturelle Meditation, in: JÜRGEN MOLTMANN / THEO SUNDERMEIER (Hg.), Totentänze. Tanz des Lebens, Frankfurt a. M. 2008, 43–82, 63. BARBOZA: Der dreigliedrige Pfad (s. Anm. 88), 175. Vgl. KONRAD MEISIG: Shivas Tanz. Der Hinduismus, Freiburg i. Br. 1996/2003, 123.
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geburt beendet wird.95 Der Tanz vereint die drei hinduistischen Heilswege in sich, den mystischen (bhakti), den ritualistischen und den asketischen.96 Durch den Tanz ist bereits zu menschlichen Lebzeiten eine „Identifikation mit dem Göttlichen (und somit Erlösung) möglich“97. Von den Tanzenden wird die strengste körperliche und geistige Disziplin verlangt, wie bei einem Yogi, der sich um die liebende Hingabe an Gott bemüht. Wer selber einmal versucht, die Fußstellungen und Handgesten des Bharata natyam zu machen, merkt sofort, dass der indische Tanz ein hartes, jahrelanges Training erfordert. Im Bharata natyam spielen der Gefühls- und Körperausdruck, die Musik, der Rhythmus, der Tanz und das Schauspiel zusammen. Im Zentrum stehen Bewegungen der Körperglieder und symbolische Handgesten, sog. Mudras, die sowohl im alltäglichen Leben, in der religiösen Praxis, bei Darstellungen von Gottheiten und im Tanz verwendet werden.98 Bharata natyam kann als „ästhetische Erfahrungs- sowie Darstellungsform indischer Religiosität und Spiritualität“99 gedeutet werden. Wenn eine Devadasi für ihre Gottheit tanzt, flößt sie sozusagen das Tempelbild ein.100 Ihr Körper wird zum Vehikel für Rasa, übersetzt als „ästhetisches Aroma“ oder „Entzücken“. Die Tänzerin empfängt dieses Entzücken von der Gottheit als „blessing power“101 und löst es durch den Tanz bei den Zuschauenden aus. Malavika Sarukkai schildert diese Erfahrung so: „Der Tanz ist etwas Größeres als man selbst. Die Tänzerin ist nur das Instrument. Man muß seinen Körper reinigen und die Gedanken säubern und den Geist dieser Energie von Schönheit, Ästhetik und Ewigkeit durch sich fließen lassen.“102 Hier ließe sich von einer Embodiment-Spiritualität in der Ekstase, in Form des ästhetisch-religiösen Entzückens, sprechen, welche die ambivalenten Geschlechterhierarchien und die Kastenordnung nicht aufhebt. Nun wende ich mich dem Derwischtanz im Sufismus zu.
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Vgl. BARBOZA: Der dreigliedrige Pfad (s. Anm. 88), 186. Vgl. ebd., 176. Ebd. Vgl. SEQUEIRA: Klassische indische Tanzkunst (s. Anm. 54), 213–215. BARBOZA: Der dreigliedrige Pfad (s. Anm. 88), 176. „Through dance they infused the temple image with their own awakened personality“ (JEFFREY LIDKE: „Dancing Forth the Divine Beloved. A Tantric Semiotics of the Body as Rasa in Classical Indian Dance“, Sutra Journal, vol. 1.2: December [2015], 1–11, in: http://www. sutrajournal.com/dancing-forth-the-divine-beloved-by-jeffrey-lidke [Zugriff: 04.10.2022], 8). Vgl. ebd. Zit. nach HELGA BARBARA GUNDLACH SONNEMANN: Religiöser Tanz. Formen – Funktionen – aktuelle Beispiele (Religionswissenschaftliche Reihe, Bd. 13), Marburg 2000, 75.
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Derwischtanz im islamischen Sufismus
Der Derwischtanz im Sufismus, der islamischen Mystik,103 bezeichnet „die innere Dimension des Islam“,104 wurde aber häufig der rationalen islamischen Theologie gegenübergestellt.105 Im Mainstream der Islamischen Theologie wird der Sufismus, und insbesondere der Drehtanz, kritisch betrachtet. Nicht alle Richtungen des Sufismus praktizieren den Tanz. Getanzt wird in den Sufiorden, Pilgerzentren und Sufizentren in der Türkei, aber auch in Indien, USA und Europa, auch im Rahmen touristischer Darbietungen.106 Sufismus wird u. a. vom Arabischen „Suf“ (Wolle) abgeleitet, da die Sufis ein wollenes Gewand trugen. Im 9. Jahrhundert entwickelten die Sufis die Vorstellung von einem geistigen Pfad, der über verschiedene Stufen zur Vereinigung mit Gott führt. Meditative Praktiken wie die beständige Nennung des göttlichen Namens (Dhikr), Musik, Gesang oder Tanz sollten den Suchenden helfen, sich ganz auf Gott zu konzentrieren, bis hin zur vollkommenen „Entwerdung“ (Fana). Der Derwischtanz wird meist auf den Mystiker Mevlana Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (ca. 1207–1273) zurückgeführt,107 der im 13. Jahrhndert in Anatolien in Konya wirkte und als Islamwissenschaftler lehrte. Rumis Liebe zu dem älteren Asketen Schamsuddin Tabrizi im Jahr 1244 gilt als Auslöser für die Entwicklung des Drehtanzes. Tradiert wurde der Derwischtanz vom Mevlevi Orden, den Rumis Sohn 1283 gründete.108 Der Tanz besteht aus Drehbewegungen des Körpers um die eigene Achse gegen den Uhrzeigersinn, als „grundlegende Bewegungsart der Natur, im Mikround Makrokosmos“109, die sich bereits im Erbgutaufbau der Doppelhelix befindet. Drehungen in einer Kreisbahn und um die eigene Achse symbolisieren Drehbewegungen der Planeten in ihrer Umlaufbahn um die Sonne, aber auch die ewigen Kreisläufe des Lebens und der Natur. Im Drehtanz geschieht die liebende Vereinigung mit dem Kosmos, Gott und den Menschen. Zunächst drehen sich die Derwische langsam, mit der inneren Aufmerksamkeit auf das Herz gerichtet, denn „das Herz des Menschen dient
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Vgl. GERHARD SCHWEIZER: „Mein Herz ist offen für jede Form.“ Eine Reise in die Mystik der Sufis und Derwische, Freiburg i. Br. 2014, 9–11 und 15–22. ANNEMARIE SCHIMMEL: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 52014, 7. Vgl. BÄRBEL BEINHAUER-KÖHLER: „‚Gerechtigkeit‘ als religiöses Konzept und seine Varianten im Islam“, in: MARKUS WITTE (Hg.), Gerechtigkeit, Tübingen 2012, 157–186, hier: 178. Vgl. SCHWEIZER: „Mein Herz“ (s. Anm. 103), insbesondere 81–95. Vgl. SCHWEIZER: „Mein Herz“ (s. Anm. 103), 16–19 und 23. Vgl. SCHWEIZER: „Mein Herz“ (s. Anm. 103), 74–80. RHAMI ORÜÇ GÜVENÇ / ANDREA AZIZE GÜVENÇ, Der heilsame Tanz der Derwische. Mit praktischer Anleitung zum orientalischen Drehtanz, Irisiana 2013, 4 (Audio-CD mit Booklet).
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Allah als Zentrum“110. Dann zeigt die Handinnenfläche der rechten Hand nach oben zum Himmel wie eine Schale, um Gottes Wohltätigkeit zu empfangen, während die linke Hand zur Erde zeigt und damit Gottes Gaben weitergibt. Darin drückt sich die Liebe zur Menschheit aus. „Während sich der Derwisch von rechts nach links dreht, umarmt er symbolisch in Liebe die gesamte Menschheit.“111 Der spezifische Rhythmus (usul) und die Fußtechnik bewegt die Tänzer:innen so, dass „das Kreisen nahezu gleichmäßig erfolgt“112. Der „Tanz“ heißt raqs113 und ist Teil des Rituals des Sema oder Sama, des „mystischen Hörens“ der tanzenden Semazen. So besteht „die Hauptaufgabe spiritueller Musik darin, die Seele des Mystikers zu berühren und ihn durch ein Konzert (sama) und allmähliche Versetzung in Ekstase (hal, wajd) Gott näher zu bringen“114. Die Begriffe „hal (Ekstase) und wajid (‚Finden des göttlichen Geliebten‘) begreifen die Ekstase als ein Gnadengeschenk Gottes“115. Verstand, Herz und Leib vereinigen sich.116 Auch hier ließe sich von einer Embodiment-Spiritualität durch Ekstase sprechen: „In der sich zum Wirbeln steigernden Spiralbewegung steigt die Seele des Derwischs langsam zu Gott auf, und Gott kommt herab zum Menschen.“117 Ein Charakteristikum des Derwischtanzes ist seine Offenheit für Andersgläubige, da man im Sufismus davon ausgeht, dass das Göttliche in jeder Religion wirkt.118 Rumi schrieb: „Ob gottlos, ob Heide, ob Parse, wer du auch seist, komm!“119 In seinem Großen Diwan schreibt er: „Mein Herz ist offen für jede Form. […] Ich übe die Religion der Liebe.“120 Als drittes Beispiel geht es um den afrobrasilianischen Tanz.
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„Der Derwischtanz“. Sema – Horche …, in: http://sufi-zentrum-koeln.de/sufi-praktiken/ sema.php [Zugriff: 04.01.2016]. Vgl. auch GERHARD SCHWEIZER, „Mein Herz …“ (s. Anm. 103), 12. http://www.anatolienmagazin.de/?p=477 [Zugriff: 4.1.2016]. www.eslam.de/begriffe/t/tanzende_derwische.htm [Zugriff: 07.01.2016]. JÜRGEN WASIM FREMBGEN: Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam, München 2000, 170. FREMBGEN: Reise zu Gott (s. Anm. 113), 167. Ebd., 180. Vgl. www.eslam.de/begriffe/t/tanzende_derwische.htm [Zugriff: 07.01.2016]. FREMBGEN: Reise zu Gott (s. Anm. 113), 177. SCHWEIZER, „Mein Herz“ (s. Anm. 103), 28f. SCHWEIZER, „Mein Herz“ (s. Anm. 103), 44. SCHWEIZER, „Mein Herz“ (s. Anm. 103), 47.
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Tanz im afrobrasilianischer Candomblé
Afro-brasilianische Religionen sind seit dem 16. Jahrhundert infolge des kolonialen transatlantischen Sklav:innenhandels entstanden.121 Da die Sklav:innen ihre afrikanischen Religionen nicht ausüben durften, feierten sie sie als Überlebensund Widerstandspraxis unter dem Deckmantel römisch-katholischer Glaubenspraxis. Dadurch floss beides in komplexen Interaktions- und Übersetzungsprozessen ineinander. Tanz ist in afrikanischen Traditionen ebenfalls eng mit Musik, vor allem Trommeln, verbunden. Im Candomblé sind Ritualfeiern ohne Musik und ohne Tanz undenkbar. Dies illustriert „auf eindrucksvolle Weise, wie Tanz als spirituelles Medium als Schlüssel in der Kommunikation zwischen Menschen und Göttern dient“122. In der westafrikanischen Tradition der Yoruba können die Menschen zum höchsten Schöpfergott Olorun (Olodumare) keinen Kontakt aufnehmen, sondern zu den Orixás. Sie sind von Gott Olorún geschaffene Gottheiten, die mit einer Naturkraft (Donner, Meer etc.) in Verbindung stehen. Oft zeigen sie menschliche Züge, gehören aber der unsichtbaren Welt der Axé, der Lebensenergie an, die durch religiöse Rituale aufgeladen werden muss. Sonst werden die Götter zu leeren Idolen. Ori bedeutet „Kopf“ und Xá lässt sich mit „Geist“ übersetzen.123 Jeder Mensch hat einen persönlichen Orixá, der die Persönlichkeit ausmacht, den Körper regiert und nicht unbedingt dem Geschlecht der Person entsprechen muss. Durch das Ifá-Orakel erfährt die im Candomblé iniitierte Person ihre Bestimmung. Orixás werden für den Menschen nur wahrnehmbar, wenn sie sich in einem menschlichen Medium ‚verkörpern‘. Hierzu werden Rituale und Feste zu Ehren eines weiblichen oder männlichen oder androgynen Orixá gefeiert, bei denen der rituelle Tanz im Zentrum steht. Mit jeder und jedem Orixá ist ein bestimmtes Tanzmuster verbunden, das „als wiederkehrendes Motiv in ihren Tanz eingeflochten“124 ist. Im Tanz wird der Mythos aus der Vergangenheit in die Gegenwart gebracht und neu interpretiert. Das Ritual gibt den Anhänger:innen Orientierung in moralischen und ethischen Fragen.125 Das Beeindruckende am Candomblé ist die Kraft der Ritualfeier, das von dem Ritualmeister, dem Babalorixá, geleitet wird. Ein/e Orixá ergreift Besitz von einem 121
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Vgl. MAÏRA MUCHNIK, Le tango des Orixás. Sociologie des religions d’origine brazilienne à Buenos Aires, Paris 2004, 11. NAVINA JOLLY / MARCELO NASCIMENTO: Tanz und Spiritualität in afro-brasilianischen Religionen, in: DAGMAR ELLEN FISCHER u. a. (Hg.): Tanz, Bewegung & Spiritualität, Leipzig, 2009, 138– 156, hier: 139. Vgl. JOLLY/NASCIMIENTO: Tanz und Spiritulität (s. Anm. 122), 138. Ebd., 140. Vgl. ebd., 141.
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menschlichen Medium. Durch den Tanz gerät das Medium in eine Verzückung und fällt in Trance. Die Embodiment-Spiritualität in der Ekstase der ‚Besitzergreifung‘ wird hier besonders deutlich. Der Schmerzwiderstand des Mediums sinkt. Es kommt zu einer Steigerung der Ausdauer, körperlichen Veränderungen, Schweißausbrüchen und einer erhöhten Körpertemperatur und Herzfrequenz, was durch die Trommelmusik, Gesang und Tanz provoziert wird. Der/die Orixá kommuniziert so religiöse Inhalte und Anweisungen. Der Leibkörper ist das Medium, „um Immaterielles zu materialisieren“126. Das Tanzritual dient als Bindeglied zwischen dem unsichtbaren Bereich und der sichtbaren Welt. Abschließend formuliere ich interreligiöse Lernchanchen durch diese Art von Embodiment-Spiritualität.
4.
Interreligiöses Deep Learning: Ekstase im Tanz als Embodiment-Spiritualität
Im indischen klassischen Tanz, im Derwischtanz und im Candomblé tanzen Gottheiten in den Leibkörpern von Menschen, ganz im Sinne von Nietzsche. Sie werden zum göttlichen Gefäß, in dem Gottheiten tanzend präsent werden. Embodiment in der Spiritualität geschieht durch Ekstase, welche die Grenzen des Verstandes und der Körperlichkeit überschreitet. Ekstase wird mit folgenden Begriffen beschrieben: raza auf Sanskrit, verbunden mit ästhetischem Entzücken; hal und wajid auf Arabisch als Gnadengeschenk Allahs und êkstase auf Portugiesisch, da der/die Orixá von dem tanzenden Medium Besitz ergreift. In der Ekstase geschieht eine unfassbare, temporäre ‚Vereinigung‘ der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Fast erinnert dies an die (hier jedoch einmalige) Inkarnation in Jesus Christus im Christentum. Die Leibkörper dienen als Medien, die von unsichtbarem göttlichem Wirken in Ekstase ergriffen werden. „Trance“ wird seit Mitte des 20. Jahrhunderts als „veränderter Bewusstseinszustand“127 verstanden. Insgesamt ist eine enge Verbindung zwischen Tanz, Musik und Theater auffällig. Tanzende Leibkörper werden zu Kommunikationsund Darstellungsmedien religiöser Mythen. Die drei Tänze bedienen sich tradierter, relativ festgelegter Tanzbewegungsmuster, welche solche außergewöhnliche Erfahrungen der Ekstase bewirken. In (post-)modernen Tänzen ist dies umgekehrt, da hier innere Gefühle und Ideen in freierer Form ausgedrückt werden.
126 127
Ebd., 144. ROBIN BACHMANN, Die Tarantella und die Entgrenzung des Selbst. Auseinandersetzung mit der Forschung um veränderte Bewusstseinszustände ausgehend von einem italienischen Tanz, in: Materialdienst. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen, 76:2 (2013), 58.
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“
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Die europäische Kolonisation führte beim indischen Tanz zu säkularisierenden Tendenzen. Ähnliches geschah in der Türkei durch das Verbot des Sufitanzes. Afrobrasilianische Religionen sind durch den Kolonialismus erst entstanden und lassen sich am stärksten als postkoloniales Widerstandsritual beschreiben. Der indische Tanz hingegen war lange Zeit Teil der religiösen Hierarchie der Priesterkaste der Brahmanen, wird aber heutzutage auch für sozialkritische Inhalte in Anspruch genommen. Der Derwischtanz im Sufismus gilt bis heute als ‚nicht-orthodoxe‘ Praxis. Diese religiösen Tanzpraxen bedeuten nicht, dass automatisch Geschlechterhierarchien transformiert oder die Zweigeschlechtlichkeit unterlaufen würden. Im Candomblé ist dies gleichwohl möglich, da es androgyne Orixás gibt und gewöhnlich die Diversität der Sexualitäten keine Probleme bereitet. Die gute Nachricht für Tanzmuffel lautet: In allen drei Traditionen werden die Tanzenden von Zuschauenden begleitet. Sie sind aber nicht einfach passiv, sondern es ereignet sich „leibliche Kommunikation“.128 Neurowissenschaftlich gesehen bringt das Zuschauen des Tanzes das „Gehirn dazu, jene Bewegungsabläufe zu simulieren, die wir auf der Bühne sehen. Unser Gehirn partizipiert an der motorischen Leistung der Tänzer.“129 Beeindruckend ist, dass alle drei Tanzformen interreligiös offen sind. Künstlerisch-ästhetische, spirituelle und religiöse Dimensionen greifen ineinander. Gesellschaftliche Hierarchien und Barrieren werden nicht automatisch überschritten, aber vielleicht lässt sich tatsächlich sagen: „Die Andersartigkeit der Kunst – ihre schöne, kraftvolle und manchmal grenzüberschreitende Andersartigkeit – birgt die Fähigkeit, bisher unbekannte Wege zum Leben zu erwecken, um das immer vielfältiger werdende Ereignis namens ‚interreligiöser Dialog‘ zu verstehen.“130
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Vgl. ROBERT GUGUTZER: Leibliche Kommunikation im Tanz, in: MICHAEL GROßHEIM (Hg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/ München 2008, 316–331. Interview mit dem Neurophysiologen Wolf Singer, in: www.fehe.org/index.php?id=248 [Zugriff: 04.10.2022]. MARY W. ANDERSON: Art and Inter-Religious Dialogue, in: CATHERINE CORNILLE (Hg.): The Wiley-Blackwell Companion to Inter-Religious Dialogue, Chichester/West Sussex 2013, 99– 116 (Übersetzung aus dem Englischen H. W.).
Verzeichnis der Beitragenden
Verzeichnis der Beitragenden Verzeichnis der Beitragenden
CHRISTOPH ASMUTH, Jahrgang 1962, Dr. phil. habil., Dr. h. c., ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. HEINRICH BEDFORD-STROHM, Jahrgang 1960, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. MARKUS BUNTFUß, Jahrgang 1964, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. KATHY EHRENSPERGER, Jahrgang 1956, PhD, ist Inhaberin der Forschungsprofessur für Neues Testament in jüdischer Perspektive am Abraham Geiger Kolleg der Universität Potsdam. REGINA FRITZ, Jahrgang 1974, Dr. theol., Pfarrerin, ist seit 2018 stellvertretende Leiterin des Evangelisch-Lutherischen Predigerseminars in Nürnberg und war von 2008 bis 2012 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. ARND GÖTZELMANN, Jahrgang 1961, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Privatdozent für Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule und Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. REIMER GRONEMEYER, Jahrgang 1939. Dr. theol. Dr. rer. soc., Pastor, ist Professor i. R. für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. MATHIAS HARTMANN, Jahrgang 1966, Dr. diac., Executive MBA, ist seit 2015 Vorstandsvorsitzender der Diakonie Neuendettelsau und seit 2019 Vorstandsvorsitzender von Diakoneo. DANIEL HOFFMANN, Jahrgang 1989, Pfarrer, ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neues Testament der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. BEATE HOFMANN, Jahrgang 1963, Dr. theol. habil., Pfarrerin, ist Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.
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Verzeichnis der Beitragenden
HANS-PETER HÜBNER, Jahrgang 1961, Dr. jur., ist Oberkirchenrat und Leiter der Abteilung E (Gemeinden und Kirchensteuer) im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Honorarprofessor für Kirchenrecht an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. TOBIAS JAMMERTHAL, Jahrgang 1989, Dr. theol., MA (Dunelm.), Pfarrer, ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kirchen- und Dogmengeschichte der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. CLAUDIA JANSSEN, Jahrgang 1966, Dr. theol. habil., Pfarrerin, ist Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. KONSTANTIN KAMP, Jahrgang 1991, Mag. theol., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theologie in Transformationsprozessen der Gegenwart an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. SONJA KELLER, Jahrgang 1984, Dr. theol., Pfarrerin, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. MARTIN KIRSCHNER, Jahrgang 1974, Dr. theol. habil., ständiger Diakon, ist Inhaber der DFG-Heisenberg-Professur „Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart“ an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt Ingolstadt. KARLA ANN KOLL, Jahrgang 1959, PhD, Pastorin, ist Professorin für Mission und Geschichte an der Lateinamerikanischen Bibeluniversität in San Jose / Costa Rica. WOLFGANG KRAUS, Jahrgang 1955, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Professor i. R. für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. VOLKER LEPPIN, Jahrgang 1966, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Horace Tracy Pitkin Professor of Historical Theology an der Divinity School der Universität Yale. MARKUS MÜLKE, Jahrgang 1971, Dr. phil. habil., ist Privatdozent für Klassische Philologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Hochschuldozent für Klassische Philologie an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. KONRAD MÜLLER, Jahrgang 1957, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Privatdozent für Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau und Leiter des Gottesdienst-Instituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Verzeichnis der Beitragenden
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MICHAEL PIETSCH, Jahrgang 1967, Dr. theol. habil., Pfarrer ist Inhaber des Lehrstuhls für Altes Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. ANNEKATHRIN PREIDEL, Jahrgang 1957, Dr. rer. nat., ist Präsidentin der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. STEFAN REIMERS, Jahrgang 1966, Pfarrer, ist Oberkirchenrat und Leiter der Abteilung F (Personal) im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und ständiger Vertreter des Landesbischofs. CHRISTIAN ROSE, Jahrgang 1975, Dr. theol., Pfarrer, ist Wissenschaftlicher Assistent im Fach Altes Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau und Supervisor nach den Standards der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv). ANDREAS SCHMIDT, Jahrgang 1966, Kirchenmusikdirektor, ist Hochschulkantor und Dozent für Kirchenmusik an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. UTA SCHMIDT, Jahrgang 1968, Dr. theol. habil., Pfarrerin, ist Professorin für Feministische Theologie und Gender Studies an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. GURY SCHNEIDER-LUDORFF, Jahrgang 1965, Dr. theol. habil., Pfarrerin, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. WOLFGANG SCHÜRGER, Jahrgang 1964, Kirchenrat Dr. theol. habil., Pfarrer, ist seit 2009 Beauftragter für Umwelt- und Klimaverantwortung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Privatdozent an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. STEFAN SEILER, Jahrgang 1960, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist außerplanmäßiger Professor für Altes Testament und Hochschuldozent für Biblisches Hebräisch und Biblisches Aramäisch an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. BARBARA STÄDTLER-MACH, Jahrgang 1956, Dr. theol. habil., Pfarrerin, ist Präsidentin der Evangelischen Hochschule Nürnberg. CHRISTOPH STROHM, Jahrgang 1958, Dr. theol. habil., Pfarrer, ist Inhaber des Lehrstuhls für Reformationsgeschichte und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
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Verzeichnis der Beitragenden
HEIKE WALZ, Jahrgang 1966, Dr. theol. habil., Pfarrerin, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Interkulturelle Theologie, Missions- und Religionswissenschaft an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. JOHANNES WEIDEMANN, Jahrgang 1991, Pfarrer, ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. SABRINA WILKENSHOF, Jahrgang 1985, Dr. theol., ist Pfarrerin im Regionaleinsatz im Dekanat Traunstein.