Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll im 21.Jahrhundert: Festschrift für Hans-Michael Wolffgang 9783504386139

Hans-Michael Wolffgang, einen Hochschullehrer, Wissenschaftler, Autor, Richter, Berater und insbesondere einen großen Ke

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German Pages 785 [776] Year 2018

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Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll im 21.Jahrhundert: Festschrift für Hans-Michael Wolffgang
 9783504386139

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Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll im 21. Jahrhundert Festschrift für Hans-Michael Wolffgang

AUSSENWIRTSCHAFT, VERBRAUCHSTEUERN UND ZOLL IM 21. JAHRHUNDERT FESTSCHRIFT FÜR HANS-MICHAEL WOLFFGANG ZUM 65. GEBURTSTAG herausgegeben von

Walter Summersberger Matthias Merz Harald Jatzke Markus Achatz

2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06051-0 ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Professor Michael Wolffgang vollendet am 9. Juli 2018 sein 65. Lebensjahr. Dieses Ereignis ist ein willkommener Anlass, ihn als Hochschullehrer, Wissenschaftler, Autor, Richter, Berater und insbesondere als großen Kenner und Förderer des Zoll- und Außenwirtschaftsrechts mit einer Festschrift zu würdigen. Damit verbinden die He­ rausgeber und Autoren ihre Achtung und Bewunderung für die Lebensleistung des Jubilars, von der Zeugnis abzulegen das vorliegende Werk bestimmt ist. Das wissenschaftliche Wirken Michael Wolffgangs galt und gilt auch weiterhin dem Zollrecht, einer Rechtsmaterie, die im Vergleich zu anderen Bereichen des Abgabenrechts seltener im Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen steht. Umso höher sind die Beiträge einzuschätzen, die Michael Wolffgang zu seinem Verständnis und zu seiner Verbreitung – nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Regionen der Welt – geleistet hat. Es liegt auf der Hand, dass das Zollrecht einen Schwerpunkt dieser Festgabe bildet. Darüber hinaus gibt das durch zahlreiche Publikationen bekundete Interesse Michael Wolffgangs am Außenwirtschafts- und Verbrauchsteuerrecht Anlass, einen wesentlichen Teil der Festschrift auch diesen Gebieten zu widmen. Die Herausgeber danken den Autoren und dem Verlag Dr. Otto Schmidt KG recht herzlich für die geleistete Arbeit und die Mühen, die das Erscheinen dieser Festschrift erst ermöglicht haben. Michael Wolffgang wird sein wissenschaftliches Werk und seine Beratertätigkeit auch in Zukunft fortsetzen. Dafür wünschen ihm die Herausgeber, die Autoren, der Verlag Dr. Otto Schmidt KG und viele Ungenannte weiterhin viel Schaffenskraft, Gesundheit, Lebensfreude und privates Glück. München/Köln/Linz im April 2018

Markus Achatz Walter Summersberger Matthias Merz Harald Jatzke

V

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

I. Laudatio Walter Summersberger/Matthias Merz/Harald Jatzke/Markus Achatz Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

II. Außenwirtschaft Thomas Bieber Das GATT als Wegweiser des internationalen Zoll- und Umsatzsteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Dirk Ehlers Beschränkung und Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen – unter besonderer Berücksichtigung der neueren rechtlichen Entwicklungen . . . . . 41 Bartosz Makowicz Der holistische Ansatz für Export Compliance Management . . . . . . . . . . . . . 73 Matthias Merz Interne Compliance Programme in der Exportkontrolle – Modelle im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Stephan Morweiser Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung und ihre Auswirkungen auf das Außenwirtschaftsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Georg Pietsch Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Achim Rogmann Viel Gezeter um CETA. Das Abkommen zwischen Kanada und der EU im Tauziehen zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Nikolaus Voss Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Exportkontrollen in Deutschland und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 VII

Inhalt

III. Zollrecht Klaus Deimel Die Bedeutung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte für das Zollrecht und das Zollverfahrensrecht . . . . . . . . 215 Kai Henning Felderhoff Die Ursprungsregeln in modernen EU-Freihandelsabkommen . . . . . . . . . . . 233 Karl Fuchs Ein neues Zollrecht – systemgestützt oder doch transaktionsbezogen? . . . . . 261 Lothar Gellert / Franziska Hoell Unzulänglichkeiten des HS 2017 am Beispiel der Einreihung von Waren mit mehreren tariflich relevanten Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Michael Lux Zentrale Zollabwicklung (Art. 179 UZK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Bernd-Roland Killmann Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK bei Fehlverhalten der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Elisabeth Frfr. Marschall von Bieberstein-Messerschmidt Zollschuldner oder nicht? Das ist hier die Frage! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Sandra Rinnert Zoll 4.0 – die zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Katja Roth Lebensmittelzubereitung oder Arzneiware – die Abgrenzungskriterien nach der aktuellen EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Christoph Schoenfeld Die verbindliche Zolltarifauskunft im Rechtsschutzsystem des Unionszollkodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Ulrich Schrömbges AEO – Schnittstelle zwischen Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht . . . . . . . 403 Walter Summersberger Kultur – einige Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Christoph Wäger Zentrale Zollabwicklung und steuerrechtliche Vereinfachung . . . . . . . . . . . . 449 Carsten Weerth 30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018): Entwicklung und Anwendung der HS-Nomenklatur, Entstehung neuer Lücken . . . . . . . . . . . . 469 VIII

Inhalt

Peter Witte Der AEO setzt neue, verschärfte Maßstäbe! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Anton Zeilinger Die österreichische Ratspräsidentschaft Juli – Dezember 2018 . . . . . . . . . . . . 503

IV. Verbrauchsteuern und Umsatzsteuer Tobias Bender Die Haftung des Hinterziehers und Hehlers für eigene (Tabak-)Steuerschulden gemäß § 71 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Hans-Jürgen Bleihauer Umsatzsteuer und Zolltarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Matthias Bongartz Das Bestimmungslandprinzip im Verbrauchsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Rainer Brandl / Peter Pichler Der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Hannes Gurtner Versandhandel von Gegenständen aus Drittländern in die EU . . . . . . . . . . . . 579 Nathalie Harksen Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche Geschichte mit Happy End? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Reginhard Henke Wo Zoll und Umsatzsteuer sich berühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Harald Jatzke Fett- und Zuckersteuern in Europa: Rechtliche Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten für moderne Gesundheitsabgaben . . . . . . . . 673 Stefanie Judmaier Das Verfahrensrecht im Zoll und bei den Verbrauchsteuern im Hinblick auf Entscheidungen der Zollbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Georg Kofler Tax Good Governance und die externe Strategie der Union . . . . . . . . . . . . . . 707

IX

Inhalt

Sabine Schröer-Schallenberg Die Bedeutung des Verbotes staatlicher Beihilfen für das Verbrauchsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

V. Lehre Isabell Halla-Heißen „What Teachers do matters“ – Auf das Lehrerhandeln kommt es an . . . . . . . 747 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763

X

Autorenverzeichnis Bender, Tobias Dr., Richter am Finanzgericht, Finanzgericht Hamburg Bieber, Thomas Dr., Assistenzprofessor am Institut für Finanzrecht, Steuerrecht und Steuerpolitik, Johannes Kepler Universität Linz Bleihauer, Hans-Jürgen Prof. a.D. Dr. sc., bis 2012 Dozent am Fachbereich Finanzen der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Münster Bongartz, Matthias RD, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster; Lehrbeauftragter an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Brandl, Rainer Dr., Steuerberater, Partner der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungskanzlei LeitnerLeitner, Lehrbeauftragter am Institut für Finanzrecht, Steuerrecht und Steuerpolitik der Johannes Kepler Universität Linz Deimel, Klaus Vorsitzender Richter am Finanzgericht, Finanzgericht Düsseldorf (Zollsenat), Düsseldorf Ehlers, Dirk Prof. Dr. Dr. h.c., Westfälische Wilhelms-Universität Münster Felderhoff, Kai Henning Dr., Rechtsanwalt, AWB Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Münster Fuchs, Karl Dr., MinR i.R., bis zum Übertritt in den Ruhestand im österreichischen Bundesministerium für Finanzen für Zollrecht und Zollpolitik zuständig Gellert, Lothar Prof. Dr. Dr. h.c., Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster; Ehrendoktor der Universität für Zoll und Finanzen in Dnipropetrowsk/Ukraine Gurtner, Hannes Dr., Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Partner der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungskanzlei LeitnerLeitner, Linz, Mitglied der VAT Expert Group der EU-­ Kommission

XI

Autorenverzeichnis

Halla-Heißen, Isabell Prof. Dr., Leiterin des Studienbereichs Sozialwissenschaftliche Grundlagen und Managementlehre am Fachbereich Finanzen der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Münster; Lehrbeauftragte an der Westfälischen Wilhelms-­ Universität Münster und der Fachhochschule Südwestfalen, Beiratsmitglied des EFA Harksen, Nathalie Dr., Rechtsanwältin, Maître en Droit; Geschäftsführende Gesellschafterin der AWB Rechtsanwaltsgesellschaft mbH; Geschäftsführende Gesellschafterin der AWB Steuerberatungsgesellschaft mbH; Lehrbeauftragte an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster Henke, Reginhard Prof. Dr., Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster Hoell, Franziska Dipl.-FinW (FH), Hauptzollamt Hamburg-Hafen, Zollamt Waltershof Jatzke, Harald Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München; Honorarprofessor an der Eberhard Karls Universität Tübingen; Vizepräsident des DLRG-Landesverbandes Bayern e.V. Judmaier, Stefanie Mag., MA, Referentin für Finanzstrafrecht im Bundesministerium für Finanzen, Wien Killmann, Bernd-Roland Mag.Dr., M.B.L.-HSG, Mitglied des Juristischen Diensts, Europäische Kommis­ sion, Brüssel Kofler, Georg Prof. DDr., LL.M., Vorstand des Instituts für Finanzrecht, Steuerrecht und Steuerpolitik an der Johannes Kepler Universität Linz Lux, Michael Rechtsanwalt, ehemaliger Referatsleiter „Zollverfahren“, Europäische Kommission Makowicz, Bartosz Prof. Dr., Viadrina Compliance Center, Europa Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder Frfr. Marschall von Bieberstein-Messerschmidt, Elisabeth Richterin am Finanzgericht Baden-Württemberg – Außensenate Freiburg Merz, Matthias Geschäftsführender Gesellschafter der AWA AUSSENWIRTSCHAFTS-AKADEMIE GmbH; Geschäftsführender Gesellschafter der AWB Steuerberatungsgesellschaft mbH, Münster XII

Autorenverzeichnis

Morweiser, Stephan Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft, Karlsruhe Pichler, Peter Dr., Steuerberater, Director bei der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungskanzlei LeitnerLeitner, Linz Pietsch, Georg Abteilungspräsident Ausfuhrkontrolle, Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Eschborn Rinnert, Sandra Prof. Dr., LL.M. (Georgetown), Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster; Lehrbeauftragte für Internationales Markenrecht mit Schwerpunkt Zollrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Gegenwärtig Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesfinanzhof, VII. Senat (Zölle und Verbrauchsteuern) Rogmann, Achim Prof. Dr., LL.M., Mitglied des Geschäftsführenden Direktoriums des Instituts für Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht (EIW) an der Brunswick European Law School (BELS), Adjunct Professor an der Murdoch School of Law, Perth (Western Australia) Roth, Katja Dr., Richterin am Bundesfinanzhof, München Schoenfeld, Christoph Präsident des Finanzgerichts Hamburg, Vizepräsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts Schröer-Schallenberg, Sabine Prof. Dr., Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster Schrömbges, Ulrich Dr., Rechtsanwalt und Steuerberater, Member of Tax & Legal Excellence, Schrömbges + Partner, Hamburg Summersberger, Walter Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz (JKU), Vorstand des Forschungsinstituts für Zoll- und Außenwirtschaftsrecht Linz (ZAW-Linz); Kammervorsitzender Richter am österreichischen Bundesfinanzgericht Voss, Nikolaus Rechtsanwalt, Geschäftsführender Gesellschafter der AWB Rechtsanwaltsgesellschaft mbH und der AWB Steuerberatungsgesellschaft mbH, München Wäger, Christoph Dr., Richter am Bundesfinanzhof, München XIII

Autorenverzeichnis

Weerth, Carsten Dr., LL.M. MA, Hauptzollamt Bremen, Lehrbeauftragter an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management Witte, Peter Prof. (em.) Dr., Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Finanzen, Münster; Steuerberater, Of-Counsel der AWB-Steuerberatungesellschaft mbH Zeilinger, Anton Mag.iur., M.A., LL.M., Zollattaché, Ständige Vertretung der Republik Österreich bei der Europäischen Union, Brüssel

XIV

Walter Summersberger / Matthias Merz / Harald Jatzke / Markus Achatz

Laudatio Das Europäische Forum für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll (EFA) feiert mit dem diesjährigen Zollrechtstag in Thun am See in der Schweiz sein dreißigjähriges Bestehen. Hans-Michael Wolffgang feiert im Juli 2018 seinen fünfundsechzigsten Geburtstag. Zwei Jubiläen, die in einer Person gründen und die mit dieser Festschrift geehrt werden sollen. Denn es ist wesentlich der Person und dem Engagement von Hans-Michael Wolffgang zu verdanken, dass das EFA zu seiner jetzigen Form heranreifen und die Zollrechtstage sich kontinuierlich zu einem internationalen Forum für den Austausch zwischen Wissenschaft, Verwaltung, Rechtsprechung und Unternehmensvertretern entwickeln konnten. Hans-Michael Wolffgang wurde 1953 in Münster geboren. Er studierte Rechtswissenschaften an der juristischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster von 1973–1979 und absolvierte 1981 ein Ergänzungsstudium an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Im Jahre 1986 promovierte er in Münster zum Dr. iur. bei Edzard Schmidt-Jortzig zum Thema „Interkommunales Zusammenwirken durch Einbeziehung kreisangehöriger Gemeinden in den Vollzug von Kreisaufgaben“. Dem Verwaltungsrecht nahestehend arbeitete er von 1985 bis 1987 als Justiziar des Kreises Steinfurt. Seine Wurzeln im Zoll- und Außenwirtschaftsrecht liegen in der Aufnahme seiner Tätigkeit als Dozent und Professor begründet, die er von 1988 bis 1994 am Fachbereich Finanzen der Fachhochschule des Bundes wahrgenommen hat. Aber nicht nur die Lehre, sondern auch die Rechtsprechung faszinierte ihn; so arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von 1992 bis 1994 am Bundesfinanzhof in München und übte von 1998 bis 2004 während seiner Zeit an der Universität Münster ein Richteramt am Finanzgericht Münster im Nebenamt aus. Seit 1995 ist er Universitätsprofessor für Öffentliches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, er ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht im Nebenfachstudium und Professor am Institut für Steuerrecht. Zahlreiche Studierende konnte er hier für das Zoll- und Außenwirtschaftsrecht begeistern, einzigartig in der universitären Landschaft in Deutschland. Den wissenschaftlichen Nachwuchs förderte er stets und vor allem auch durch die Begleitung zahlreicher Dissertationen zu diesem Themenkreis. Er war von 2010 bis 2012 Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster und ist seit 2016 an dieser Universität Direktor des Instituts für Zoll- und Außenwirtschaftsrecht. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher Leiter des Studiengangs Master of Customs Administration der Universität Münster und ab September 2018 Leiter des Studiengangs Master of Customs and Compliance an der E.B.S. European Business School in Wiesbaden. Hans-Michael Wolffgang ist Mitglied des Vorstandes und des Wissenschaftli3

Laudatio

chen Beirates der Universitätsgesellschaft Münster e.V. und vernetzt in dieser Funk­ tion regional und überregional Förderer mit der Westfälischen Wilhelms-Universität. Seit 1998 ist Hans-Michael Wolffgang gefragter Ratgeber verschiedenster Regierungen in Mittelosteuropa, Balkan, Naher Osten und Afrika zum Zoll- und Verbrauchsteuerrecht (seit 1998). So hat er an der Zollgesetzgebung zahlreicher Länder mitgewirkt und die Ausbildung afrikanischer Zollbeamter in mehreren Masterkursen in Münster an der Universität ermöglicht und mit hohem persönlichen Engagement gefördert. Er war 1988 Gründungsmitglied der deutschen zolljuristischen Vereinigung, später umbenannt in das Europäische Forum für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll e.V.; war in den Jahren 1998 – 2003 Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, von 2003 bis 2012 Vorsitzender des Vorstands und ist dem Verein seit 2012 weiter als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats aufs Engste verbunden. Das EFA feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Seit 1998 ist Hans-Michael Wolffgang ebenfalls Mitglied im Vorstand des Zentrums für Außenwirtschaftsrecht (ZAR) an der Universität Münster, das den Dialog zwischen der Verwaltung und den Unternehmen durch Exportkontrolltage und Außenwirtschaftstage fördert. Er ist Mitglied der PICARD Advisory Group der Weltzollorganisation, wo er sich maßgeblich mit der Definition und Ausgestaltung der Ausbildungsstandards in der Zollausbildung befasst hat. Er ist Mitbegründer des INCU – International Network of Customs Universities und zugleich Vice President der INCU Management Group, Mitglied des Herausgeberbeirates des World Customs Journal. Hans-Michael Wolffgang hat zahlreiche Veröffentlichungen zum deutschen und europäischen Verwaltungs-, Staats- und Finanzrecht sowie zum Zoll- und Außenwirtschaftsrecht verfasst. So ist er seit ihrem Erscheinen im Jahre 1995 Schriftleiter der Zeitschrift „AW-Prax – Außenwirtschaftliche Praxis“. Daneben hat er „das“ Lehrbuch zum Zollrecht der Europäischen Union (zusammen mit Prof Dr. Peter Witte) verfasst und ist Erstverfasser des Zollrechtsbandes in einem verfahrensrechtlichen Großkommentar (Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO) im Verlag Dr. Otto Schmidt sowie Mitherausgeber des Kommentars zum Außenwirtschaftsrecht (Wolffgang/Simonsen). Dieses beeindruckende Lebenswerk Hans-Michael Wolffgangs zeigt sich nicht nur in der Dichte seines Schaffens. Es ist und war auch immer seine Fähigkeit, Vernetzungen zu bilden und die Materie selbst in den Vordergrund zu stellen. Nicht alleine sein universitäres Wirken in Lehre und Forschung sowie sein offener Zugang für Studierende sind es, die ihn auszeichnen, sondern die von ihm gelebte Erkenntnis, dass es sich bei der Außenwirtschaft, bei den Verbrauchsteuern und beim Zoll um eine Disziplin handelt, die nicht nur von globalem wirtschaftlichen Interesse ist, sondern auch althergebrachte dogmatische Lehren immer wieder hinterfragt, was sich z.B. an der Lehre von der Bestandskraft zeigt oder dem Umstand, dass Zoll weit über übliche Verwaltungskooperationen hinausreicht. Seine Überzeugung, dass die Beschäftigung mit Rechtsfragen des Außenhandels keine rein europäische oder gar deutsche Sichtweise sein kann, nährte sich immer auch aus der Erkenntnis, dass die dynamische 4

Laudatio

Entwicklung einer globalisierten Welt solch eingegrenzte Sichtweisen nicht mehr zulässt. Es kann ihm nicht genug gedankt werden, dass er die Beschäftigung mit Zoll auch aus einer Sichtweise befreit hat, die ausschließlich in Kategorien von Grenzen dachte, und er das Gemeinsame, das Verbindende zwischen Rechtssystemen in den Vordergrund gestellt hat. Überdies hat er durch sein Lebenswerk auch den Beweis erbracht, dass es sich um eine sehr breite und komplexe Disziplin handelt, die im besten Sinne des Wortes wissenschaftswürdig ist. Neben der wissenschaftlichen Durchdringung des europäischen Zoll- und Außenwirtschaftsrechts hat Hans-Michael Wolffgang aber auch die Befassung mit Praxisfragen nicht vernachlässigt und auch sein unternehmerisches Geschick bewiesen. Darüber hinaus verdient sein hilfreiches Wirken in der Rechtsprechung Beachtung. Mit seiner Tätigkeit am Finanzgericht Münster und der Abordnung an den Bundesfinanzhof, an dem er den Zollsenat als wissenschaftlicher Mitarbeiter unterstützte, hat er seine Flexibilität und seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Herausforderungen unter Beweis gestellt. Mit seiner 1992 aufgenommenen Tätigkeit am obersten Steuer- und Zollgericht in Deutschland war er Wegbereiter für mehrere Angehörige der Bundesfinanzverwaltung, die ihm in gleicher Funktion nachfolgten. Dass er neben den akademischen, richterlichen und lehrenden Funktionen seinem Schaffensdrang Ausdruck verleihen und dem Zollwissen in den Unternehmen zur Anwendung und Umsetzung verhelfen wollte, zeigt die Gründung einer Akademie. Er ist Mitbegründer der AWA AUSSENWIRTSCHAFTS-AKADEMIE GmbH, zu der auch die AWA AUSTRIA und die AWA SUISSE gehören, sowie Gründungspartner der AWB Steuerberatungsgesellschaft mbH sowie der AWB Rechtsanwaltsgesellschaft mbH mit Sitz in Münster, München und Hamburg. Es ist darüber hinaus das große Verdienst von Hans-Michael Wolffgang, die Etablierung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zum Zoll- und Außenwirtschaftsrecht in Österreich und hier speziell an der Johannes Kepler Universität Linz durch seinen fachlichen Einsatz in vielfältiger Weise unterstützt zu haben. Man kann mit Fug und Recht den Jubilar in diesem Kontext als Geburtshelfer bezeichnen: So deckte er nicht nur im Rahmen des 2005 an der Johannes Kepler Universität ins Leben gerufenen Lehrgangs für Europäisches Steuerrecht die Lehre für das Fach Europäisches Zollrecht ab, womit Studierenden in Österreich das erste Mal Zollrecht in systematischer Weise auf universitärem Boden näher gebracht werden konnte. Er war vielmehr auch für Markus Achatz ein geschätzter Gesprächspartner und Ideenspender bei der Entwicklung eines strategischen Konzepts zur Implementierung des Faches an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johannes Kepler Universität Linz. Ohne seine Erfahrung, aber auch seine akademische Unterstützung in den erforderlichen Verfahren wäre es wohl nicht möglich gewesen, ab 2011 eine zeitlich befristete Stiftungsprofessur für Zoll-, Verbrauchsteuer- und Außenwirtschaftsrecht ins Leben zu rufen und diese innerhalb weniger Jahre ab 2017 in einen dauerhaften Lehrstuhl umzuwandeln, den Walter Summersberger innehat. Das Zoll-, Verbrauchsteuer- und Außenwirtschaftsrecht hat damit innerhalb des rechtswissenschaftlichen Studiums an der Johannes Kepler Universität seine festen Platz eingenommen, womit die Linzer Fakultät innerhalb Österreichs eine Alleinstellung hat, die dem Wirken des Jubilars zu verdan5

Laudatio

ken ist. Hans-Michael Wolffgang lag und liegt nicht nur die Pflege seines Faches im deutschen Rechtskreis am Herzen, er ist vielmehr seit jeher Botschafter für die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Durchdringung eines Rechtsgebietes, das angesichts seiner praktischen Bedeutung intensiver wissenschaftlicher Bearbeitung bedarf, die an den Universitäten vielfach unterschätzt wird. In Österreich und speziell in Linz ist seine Botschaft jedenfalls auf fruchtbaren Boden gefallen. In seiner gesamten beruflichen Tätigkeit, sei es als Hochschullehrer, Richter, Berater oder Unternehmer, hat er sich mit obengenannten Rechtsgebieten beschäftigt und in einem außerordentlichen Maße die Fortentwicklung dieser Disziplin in der internationalen Lehre und Wissenschaft vorangetrieben. Sein Schwerpunkt lag vor allem im Zoll- und Exportkontrollrecht, in jüngster Zeit hat er auch das Umsatzsteuerrecht mit in den Fokus genommen, insbesondere durch seine Kontakte mit Hans Nieskens und Markus Achatz. In dieser Festschrift soll nicht nur eine Standortbestimmung für das 21. Jahrhundert vorgenommen werden, sondern de lege ferenda auch ein Blick in die Zukunft gewagt werden. Ziel der Festschrift ist es, die Breite dieser Disziplin, das gesamte Spektrum nach außen sichtbar zu machen. Überdies feiern wir ja nicht nur 65 Jahre Hans-­ Michael Wolffgang, sondern auch 50 Jahre Zollunion. Eine Zollunion, die durch das Wirken von Hans-­Michael Wolffgang mitgestaltet wurde. Daher ist es uns eine Freude und Ehre zugleich, in der Festschrift 38 Autorinnen und Autoren versammelt zu haben, die als Weggefährten Hans-Michael Wolffgangs seine akademische und praktische Laufbahn begleitet haben und weiter begleiten. Diese Festschrift hätte ohne den Einsatz vieler Mitwirkender nicht gelingen können. Unser Dank gilt zunächst dem Verlag Dr. Otto Schmidt, der die Idee einer Festschrift in vielfältiger Weise und unbürokratisch gefördert hat. Die Herausgeber danken insbesondere der Lektorin Sabine Kick. Der besondere Dank der Herausgeber gilt zudem auch den vielen Autorinnen und Autoren, allesamt Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter Hans-Michael Wolffgangs, die mit Eifer und Disziplin an dem Projekt mitgewirkt haben. Die Bandbreite und die Qualität des Wirkens des Jubilars spiegeln sich in ihren Beiträgen wieder. Es ist ein schönes Zeichen der Verbundenheit mit Hans-­ Michael Wolffgang, dass sich diese trotz zahlreicher anderer Verpflichtungen um das Gelingen dieser Festschrift bemüht haben und damit unterstreichen, wie sehr sie den Jubilar fachlich und persönlich schätzen.

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Thomas Bieber

Das GATT als Wegweiser des internationalen Zoll- und Umsatzsteuerrechts Inhaltsübersicht

I. Einleitung



II. Überblick über das GATT III. Ausgewählte GATT-Grundsätze 1. Zollbindung a) Zoll vs. inländische Umsatzsteuer b) Listen mit Zollzugeständnissen c) WCO als Motor des Weltzollrechts 2. Zulässigkeit der Einfuhrbesteuerung und Ausfuhrbefreiung 3. Inländerbehandlung a) Grundregel b) Verbot diskriminierender Besteuerung c) Verbot sonstiger Benachteiligungen gleichartiger Gegenstände





4. Meistbegünstigung a) Grundregel b) Ausnahmen 5. Zollwert als Bemessungsgrundlage der Einfuhr a) Grundzüge des Art. VII GATT b) Grundzüge des Zollwertübereinkommens c) Internationale Zollwertgremien 6. Informationsbereitstellung 7. Rechtsanwendungsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit 8. Rechtfertigung von GATT-Verstößen

IV. Ergebnis

I. Einleitung Im Rahmen einer Anhörung vor dem US-Senat im Jahr 1951 warnte der US-Senator Eugene D. Milliken (Colorado): „Anyone who reads GATT is likely to have his sanity impaired.“1 Der Jurist Richard Gardner spitzte diese Aussage einige Jahre später weiter zu und befand, dass „only ten people in the world understand it, and they are not telling anybody“.2 Ungeachtet dieser Bestandsaufnahme war das GATT stetiger Begleiter der wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Jubilars, in denen er die Bedeutung des darin vorgegebenen Ordnungsrahmens für die Auseinandersetzung mit dem Recht des grenzüberschreitenden Warenhandels einerseits und dem europäischen Zollrecht andererseits verdeutlichte.3 Nicht nur für das Zollrecht, sondern auch für das Umsatzsteuerrecht enthält das GATT wichtige Weichenstellungen. Sowohl im Regime der Mehrwertsteuersystemrichtlinie 2006/112/EG als auch in sämtlichen na1 Belege bei Evans, Columbia Law Review 1971, Vol 71/1, 185 (185); Jackson, Sovereignty, the WTO, and Changing Fundamentals of International Law (2006) 81. 2 Gardner, In Pursuit of World Order (1966), Revised Edition, 148 f. 3 Vgl. z. B. Wolffgang, Agreement on implementation of article VII of the GATT 1994 (Agreement on customs valuation): Art. 2-7 CVA und Art. 19-24 CVA, in Wolfrum/Stoll/Hestermeyer (Hrsg.), WTO-Trade in Goods (2011), 903 ff. und 989 ff.; vgl. auch die zahlreichen Bezugnahmen auf das GATT in Witte/Wolffgang (Hrsg.), Lehrbuch des Europäischen Zollrechts (2016).

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Thomas Bieber

tionalen Umsatzsteuergesetzen der EU-Mitgliedstaaten ist die Einfuhr von Gegenständen als steuerbarer Umsatz definiert. Im deutschen Umsatzsteuerrecht findet sich die entsprechende Definition in § 1 Abs. 1 Nr. 4 dUStG. Die wahre Dimension des Einfuhrumsatzsteuerrechts erschließt sich freilich erst durch die Kardinalbestimmung des § 21 Abs. 2 dUStG, die eine sinngemäße Geltung der Rechtsvorschriften für Zölle für die Einfuhrumsatzsteuer anordnet. Alleine aufgrund dieser oberflächlichen Darstellung wird bereits deutlich, dass das Zollrecht auf die Einfuhrumsatzsteuer einwirkt. Auf einer vorgelagerten Ebene hat allerdings bereits das GATT richtungsgebende Funktion. Diese richtungsgebende Funktion des GATT soll Thema des vorliegenden Beitrags sein, wobei das GATT bewusst aus umsatzsteuerrechtlichem Blickwinkel betrachtet werden soll. Der Verfasser hofft, dass diese Sichtweise das Interesse des Jubilars findet.

II. Überblick über das GATT Das GATT 1994 (im Folgenden: GATT) definiert den Ordnungsrahmen für den weltweiten Warenhandel4 und beruht auf dem GATT  1947.5 Das Hauptziel des GATT 1947 bestand darin, die Zolltarife aller Vertragspartner zu binden, um neue oder höhere Zölle zu verhindern.6 Sämtliche Gründungsmitglieder der EWG (Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg und Italien) waren Vertragsparteien des GATT 1947, weshalb sich die Ausgestaltung der EWG am GATT 1947 orientierte und die EWG nach Art. XXIV GATT als Zollunion ausgestaltet wurde.7 Darüberhinaus wurden im Rahmen des GATT 1947 bereits Fragen der Doppelbesteuerung sowie der Gewährung von Rechtsschutz und gegenseitiger Amtshilfe in steuerlichen Fragen thematisiert.8 Um sicherzustellen, dass der internationale Warenhandel diskriminierungsfrei und ohne Wettbewerbsverzerrungen abläuft, enthält das GATT als „magna 4 Vgl. Hoffmann, Theorie des internationalen Wirtschaftsrechts (2009) 50; Weiß in Herrmann/ Weiß/Ohler (Hrsg.), Welthandelsrecht2 (2007), § 11 Rz. 372. 5 Zur historischen Entwicklung des GATT vgl. z. B. Herrmann/Streinz in von Arnauld (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen10 (2014), § 11 Rz. 7 ff.; Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 4 Rz. 90 ff. Anhang 1A WTO-Übereinkommen enthält die Bestimmungen des GATT 1994. Zum GATT 1994 rechnet zunächst der Text des GATT 1947 mit sämtlichen Änderungen vor dem WTO-Übereinkommen. Weiters gehören zum GATT 1994 die Protokolle und Zertifikate im Hinblick auf Zollzugeständnisse, die Beitrittsprotokolle sowie die unter Art. XXV GATT 1947 gewährten „Waivers“, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des WTO-Übereinkommens noch in Kraft sind, die anderen Entscheidungen der vertragsschließenden Teile des GATT 1947 sowie die in Anhang 1A zum WTO-Übereinkommen vorgesehenen Interpretationsbeschlüsse und das Protokoll der Uruguay-Runde. 6 Pohl in Albers u. a. (Hrsg.), HdWW Bd 9 (1982), 648 (658). 7 Vgl. Petersmann, ZaöRV 2005, 543 (569); Herrmann in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU62 (2017), Art. 28 AEUV Rz. 1. 8 GATT, Review of the General Agreement, Proposals by the Government of the Federal Republic of Germany (12 Nov 1954, L/261/Add.1), 52. Deutschland erhoffte sich vom Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den GATT 1947-Vertragsparteien eine Förderung des gegenseitigen Handels und eine Erhöhung der Exporte.

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charta des Weltwarenhandelsrechtes“9 verschiedene Grundsätze. Hervorzuheben sind das Diskriminierungsverbot, das durch die Grundsätze der Meistbegünstigung (Art. I GATT) und der Inländerbehandlung (Art. III GATT) konkretisiert wird10, die Freiheit der Durchfuhr (Art. V GATT), die Heranziehung des Zollwerts als Bemessungsgrundlage der Einfuhr (Art. VII GATT), die Grundsätze der Informationsbereitstellung und der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. X GATT), das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen (Art. XI:1 GATT), die Reziprozität, wonach Verhandlungen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und des wechselseitigen Nutzens stattfinden sollen11, der Abbau von tarifären Handelshemmnissen sowie die Begünstigung der Entwicklungsländer (z. B. Art. XXXVI GATT)12.13 Weiters regelt das GATT auch die Abwehr unfairer Handelspraktiken durch Festlegung von Antidumping- und Antisubventionszöllen (Art. VI GATT).14 Etwaige Verstöße gegen die Vorschriften des GATT können nach den Art. XX, XIX und XXI GATT gerechtfertigt sein. Zudem kann die WTO-Ministerkonferenz den Vertragsstaaten nach Art. IX:3 WTO-Übereinkommen eine befristete Ausnahmegenehmigung zur Abweichung von ihren WTO-rechtlichen Pflichten erteilen. Genehmigungspflichtig ist auch die Bildung von Freihandelszonen und Zollunionen, zumal durch die Errichtung von Präferenzzonen von grundlegenden Pflichten wie der Meistbegünstigung nach Art. XXIV GATT abgewichen werden darf.15

III. Ausgewählte GATT-Grundsätze 1. Zollbindung a) Zoll vs. inländische Umsatzsteuer Zölle sind Abgaben oder Steuern, die wegen des Grenzübertritts einer Ware fällig werden und sich nach dem Zolltarif richten.16 Sie werden an der Grenze im Zeitpunkt 9 Möller, Verrechnungspreis und Zollwert (2004) 128. 10 Bender in Hilf/Oeter (Hrsg.), WTO-Recht (2005), § 9 Rz. 27; Rogmann in Henke (Hrsg.), Verbote und Beschränkungen bei Ein- und Ausfuhr (2000), Rz. 39 ff. 11 Zum Grundsatz der Reziprozität vgl. ausführlich z.  B. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht (1990) 438 ff.; Schollendorf, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO) (2005), 103; der Grundsatz der Reziprozität wird in der Präambel zum WTO-Überein­ kommen erwähnt und wird vor allem in Verhandlungen bei Zollabsenkungsrunden (Art. XXVIII GATT) sowie bei Neubeitritten (Art. XII WTO) angewendet. Für die Rechtsbeziehungen zwischen den WTO-Mitgliedern ist der Grundsatz der Reziprozität bei einseitigen Gegenmaßnahmen nach Art. XXIII GATT bedeutsam. Ausgenommen vom Grundsatz der Reziprozität sind nach Art. XXXVI:8 GATT Entwicklungsländer, deren besondere Bedürfnisse bei Verhandlungen über Zugeständnisse berücksichtigt werden. 12 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 399 ff. 13 Hilf, NVwZ 2000, 481 (484). 14 Vgl. dazu grundlegend Jackson in Jackson/Vermulst (Hrsg.), Antidumping Law and Practice (1989) 1 (1 ff.). 15 Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht (2009)2 Rz. 14. 16 Senti/Hilpold, WTO2 (2017), Rz. 496; Tietje in Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht2 (2015), § 3 Rz. 47; Bender in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 9 Rz. 12.

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der Einfuhr erhoben, stellen eine Bedingung für den Grenzübertritt dar und belasten ausschließlich die eingeführten Produkte, ohne zu einer im Inland auf vergleichbare Waren erhobenen Abgabe in Beziehung zu stehen.17 Zollgleiche Abgaben richten sich nicht nach dem Zolltarif, werden aber ebenso wie Zölle ausschließlich aufgrund des Grenzübertritts der Ware erhoben.18 Von Zöllen und zollgleichen Abgaben, die ausschließlich auf eingeführte Gegenstände zugeschnitten sind und keinen Bezug zur Besteuerung gleichartiger inländischer Gegenstände aufweisen19, sind steuerliche Belastungen abzugrenzen, die für eingeführte Gegenstände und gleichartige inländische Gegenstände gelten und nur aus verwaltungsökonomischen Gründen an der Grenze erhoben werden.20 Nicht als Zoll oder zollgleiche Abgabe gilt ausgehend von diesem Zollverständnis eine Umsatzsteuer, die gleichermaßen die Lieferung von Gegenständen und die Einfuhr von Gegenständen besteuert.21 Eine solche Umsatzsteuer besteuert die Einfuhr von Gegenständen nicht aufgrund des Grenzübertritts, sondern um die eingeführten Gegenstände und die im Inland gelieferten Gegenstände umsatzsteuerlich gleichzustellen und durch die Einfuhrbesteuerung das Bestimmungslandprinzip umzusetzen.22 Der „Umsatzsteuerausgleich“ findet dadurch statt, dass die eingeführten Gegenstände den nationalen Steuersätzen des Bestimmungslandes unterliegen und die Steuern, die im Ursprungsland auf die ausgeführten Gegenstände entfallen sind, rückerstattet werden.23 Der „Umsatzsteuerausgleich“ kann dabei nicht nur beim Grenzübertritt, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden.24 b) Listen mit Zollzugeständnissen Nach Art. II:1 GATT setzt die Erhebung von Zöllen und zollgleichen Belastungen voraus, dass diese in den Zolllisten der WTO-Mitglieder festgelegt sind.25 Die in den Zolllisten festgelegten Zollzugeständnisse sind gem. Art. II:7 GATT und Art. XXIII GATT verbindlich.26 Zudem bilden die nach Art. II:1 GATT eingegangenen Zollverpflichtungen die völkerrechtliche Obergrenze für die Zollerhebung auf Waren aus 17 Jackson, World Trade and the Law of GATT (1969) 281. 18 Mit Beispielen Puth in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 10 Rz. 6. 19 Panel Report, EEC Measures on Animal Feed Proteins, L/4599 - 25S/49, Rz. 4.16 b. 20 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 413 ff. 21 Panel Report, Thailand – Customs and Fiscal Measures on Cigarettes from the Philippines, WT/DS371/R, Rz. 7.598. 22 GATT, Report by the Working Party on Border Tax Adjustments adopted on 2 December 1970, L/3464, Rz. 5; vgl. auch Zimmermann in Hartmann/Metzenmacher (Hrsg.), UStG, § 1 Abs. 1 Nr. 4 Rz. 4. 23 GATT, Report by the Working Party on Border Tax Adjustments adopted on 2 December 1970, L/3464, Rz. 5. 24 GATT, Report by the Working Party on Border Tax Adjustments adopted on 2 December 1970, L/3464, Rz. 5. 25 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 48; Czakert, ZfZ 1998, 326 (326). 26 Schöbener/Herbst/Perkams, Internationales Wirtschaftsrecht (2010), § 12 Rz. 140; Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 48.

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WTO-Ländern.27 Niedrigere Zollsätze können jederzeit festgelegt werden, dürfen jedoch nicht selektiv angewendet werden.28 Auf der zehnten WTO-Ministerkonferenz in Nairobi zwischen dem 15.12 und 19.12.2015 wurde beschlossen, das plurilaterale Übereinkommen über den Handel mit Waren der Informationstechnologie (ITA29) um 201 IT-Waren zu erweitern und die Zölle auf diese IT-Waren schrittweise abzubauen.30 Der Wert des Handels mit diesen 201 Waren beträgt jährlich über 1,3 Billionen Dollar und betrifft etwa 10 % des Weltwarenhandels.31 Die EU erwartet einen Rückgang des Aufkommens aus Zöllen auf diese IT-Waren von insgesamt 1,5 Mrd. Euro.32 Zu den erfassten IT-Waren gehören z. B. Videospielkonsolen, medizinische bildgebende Geräte oder Touchscreens, Halbleiter der neuen Generation, GPS-Navigationssysteme, Rechner und Fernsprechgeräte, aber auch Bauteile und Maschinen für die Herstellung von IT-Waren.33 c) WCO als Motor des Weltzollrechts Die Weltzollorganisation (im Folgenden: WCO) wurde 1994 gegründet und repräsentiert 98 % des Welthandels.34 Vorläuferorganisation der WCO war der 1952 gegründete „Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens“.35 Die WCO ist eine Fachorganisation, die sich ausschließlich und systematisch mit Problemen der Zolltechnik befasst, mit denen Verwaltungen und interessierte Wirtschaftskreise konfrontiert sind.36 Die WCO bezweckt eine weltweite Harmonisierung und technische Fortentwicklung der Zollsysteme.37 Nach Art. III WCO-Gründungskonvention kann sich die WCO mit allen Bereichen des Zollwesens befassen, Harmonisierung fördern, Konventionen vorschlagen, Auslegungsvorschläge vorlegen, bei Streitigkeiten vermitteln, Mitteilungen über Zollbestimmungen und Zollverfahren verbreiten, Regierungen beraten und mit anderen zwischenstaatlichen Organisationen in Zollfragen zu27 Herrmann in G/H/N (Fn. 7), Art. 28 AEUV Rz. 25. 28 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 51. 29 Übereinkommen über den Handel mit Waren der Informationstechnologie (ITA) v. 13.12.1996, ABl. 1997 L 155/3. 30 Ministerial Declaration on the Expansion of Trade in Information Technology Products, WT/MIN(15)/25; vgl. auch den Beschluss (EU) 2016/971 des Rates vom 17.6.2016 über den Abschluss eines Übereinkommens in Form der Erklärung über die Ausweitung des Handels mit Waren der Informationstechnologie (ITA) im Namen der Europäischen Union, ABl. 2016 L 161/2. 31 Philipp, EuZW 2016, 445 (445); vgl. den Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Übereinkommens in Form einer Erklärung über die Ausweitung des Handels mit Waren der Informationstechnologie (ITA) im Namen der Europäischen Union, COM(2016) 122 final, 2. 32 COM(2016) 122 final, 4. 33 Philipp, EuZW 2016, 445 (445). 34 Vgl. zur Bedeutung der WCO allgemein Wolffgang/Dallimore in Herrmann/Terhechte (Hrsg.), European Yearbook of International Economic Law 2012, 613 (613 ff.). 35 Vgl. dazu z. B. Dorsch, ZfZ 1973, 289 (289). 36 EB 1653 BlgNr. 24. GP 2. 37 EB 1653 BlgNr. 24. GP 2.

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sammenarbeiten. Insbesondere entwickelte die WCO die Bereiche des Zollwerts, der Nomenklatur, der Zolltechnik und der Schmuggelbekämpfung fort.38 2. Zulässigkeit der Einfuhrbesteuerung und Ausfuhrbefreiung Art. II:2(a) GATT lässt die Erhebung einer Umsatzsteuer auf die Einfuhr von Gegenständen zu. Verpflichtend vorgeschrieben wird eine Umsatzbesteuerung der Einfuhr allerdings nicht.39 Nach Art. II:2 (a) GATT setzt die Erhebung einer Umsatzsteuer auf die Einfuhr eines Gegenstands voraus, dass diese Umsatzsteuer Teil eines nationalen Umsatzsteuersystems ist oder einer nationalen Umsatzsteuer entspricht, die gem. Art. III:2 GATT ein gleichartiges einheimisches Produkt belastet oder eine Ware belastet, aus der das importierte Produkt hergestellt oder erzeugt wurde. Entscheidend ist nicht die technische Eingliederung der Besteuerung des Einfuhrumsatzes in das nationale UStG, sondern die umsatzsteuerliche Belastungsgleichheit zwischen eingeführten und nationalen Gegenständen.40 Geht man davon aus, dass eine in ein nationales UStG integrierte Besteuerung des Einfuhrumsatzes weder als Zoll noch als zollgleiche Abgabe noch als nicht tarifäres Handelshemmnis i. S. d. Art. XI GATT, sondern als eine der inländischen Steuerbelastung gleichwertige Abgabe i. S. d. Art. II:2 (a) GATT zu qualifizieren ist41, ist damit lediglich die grundsätzliche Zulässigkeit der Besteuerung bestätigt, aber die endgültige GATT-Konformität noch nicht festgestellt. Art. II:2 (a) GATT verlangt nämlich zusätzlich, dass die Besteuerung des Einfuhrumsatzes in Einklang mit Art. III:2 GATT zu bringen ist42, was auch aus einer Anmerkung zu Art. III GATT hervorgeht.43 Auf die Vereinbarkeit mit Art. III GATT ist in Kap. III.3 näher einzugehen. Das GATT lässt sowohl eine Umsatzbesteuerung als auch eine Umsatzbefreiung der Ausfuhr von Gegenständen zu.44 Sofern WTO-Mitglieder nach ihren nationalen Umsatzsteuersystemen Umsatzsteuerbefreiungen für die Ausfuhr vorsehen, sind diese anhand der welthandelsrechtlichen Subventionsvorgaben zu prüfen.45 Grundsätzlich dürfen nach Art. XVI:4 GATT bei der Ausfuhr von anderen Waren als Grundstoffen weder mittelbar noch unmittelbar Subventionen gleich welcher Art gewährt werden, 38 Eckpfeiler sind z. B. das Zolltarifschema für die Einreihung der Waren in die Zolltarife vom 15.12.1950, das Internationale Übereinkommen zur Vereinfachung und Harmonisierung der Zollverfahren vom 18.5.1973 sowie das Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren vom 14.6.1983. 39 Vgl. Floyd, JWT 1973, 489 (497). 40 Appellate Body Report, India – Additional and Extra-Additional Duties on Imports from the United States, WT/DS360/AB/R, Rz. 175. 41 Puth in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 10 Rz. 6 u. § 30 Rz. 29; Panel Report, Thailand – Customs and Fiscal Measures on Cigarettes from the Philippines, WT/DS371/R, Rz. 7.598. 42 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 12 Rz. 509; van den Bossche, The Law and Policy of the World Trade Organization (2008)2 349. 43 Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (17). 44 Vgl. zu den WTO-rechtlichen Rahmenbedingungen der Ausfuhr Herrmann/Würdemann in Summersberger (Hrsg.), Die Ausfuhr im Abgaben-, Finanzstraf- und Außenwirtschaftsrecht (2017) 23 (23 ff.). 45 Vgl. Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (8 f.).

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die den Verkauf dieser Waren bei der Ausfuhr zu einem Preis ermöglichen, der unter dem vergleichbaren Inlandspreis einer gleichartigen Ware liegt.46 Art. 1 Abs. 1.1 lit. a SCM-Übereinkommen definiert eine Subvention als finanzielle Beihilfe von einem WTO-Mitglied oder einer hierzu angewiesenen privaten Stelle, durch die der Empfänger einen Vorteil erhält.47 Art. 1 Abs. 1.1 lit. a sublit. ii SCM-Übereinkommen nennt als finanzielle Beihilfe den Verzicht oder die Nichterhebung von normalerweise zu entrichtenden Steuern. Unter diese Definition fällt sowohl eine Umsatzsteuerbefreiung als auch ein Umsatzsteuerrabatt an der Grenze für ins Ausland ausgeführte Waren.48 Die Empfänger der Umsatzsteuerbefreiung oder des Umsatzsteuerrabatts können Waren ohne Umsatzsteuerbelastung oder mit reduzierter Umsatzsteuerbelastung ins Ausland ausführen und werden dadurch bessergestellt, als wenn sie den vollen Umsatzsteuerbetrag zu tragen hätten.49 Nach Fußnote 1 i.V.m. Anhang I lit. g SCM-Übereinkommen50 gelten Umsatzsteuerbefreiungen und Umsatzsteuererstattungen allerdings nicht als Subvention, sofern diese nicht über die Umsatzsteuer hinausgehen, die auf die Erzeugung und Verteilung gleichartiger, zum inländischen Verbrauch verkaufter Waren erhoben wird. Würden Umsatzsteuerbefreiungen und Umsatzsteuererstattungen als Subvention gelten, wäre die Ausfuhr von mit Umsatzsteuer belasteten Gegenständen gegenüber Ländern, die keine Umsatzsteuer erheben, benachteiligt.51 Die Befreiung oder Erstattung für die ausgeführten Gegenstände darf allerdings nicht höher sein als die Umsatzsteuer, die auf die Lieferung von gleichartigen Gegenständen im Inland entfällt.52 Fußnote 1 i. V. m. Anhang I lit. g SCM-Übereinkommen gestattet somit im Ergebnis die Einführung kompensatorischer Umsatzsteuerprämien53 bei der Ausfuhr.54 Das GATT bestimmt weder eine verpflichtende Umsatzbesteuerung der Einfuhr noch eine verpflichtende Umsatzsteuerbefreiung der Ausfuhr, sondern lässt diese lediglich zu.55 Die jeweiligen WTO-Mitglieder sind bei der Gestaltung ihrer Umsatzsteuersysteme weder an das Ursprungslandprinzip noch an das Bestimmungslandprinzip gebunden.56 Das GATT ist nicht darauf zugeschnitten, Doppelbesteuerungen zu verhindern.57 Das jeweilige WTO-Mitglied wird im Einklang mit Art. 1 Abs. 1.1 lit. a sublit. ii i.V.m. Fußnote 1 i.V.m. Anhang I lit. g SCM-Übereinkommen eine Steu46 Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (9). 47 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 165. 48 Cooper in FS Vanistendael (2008) 179 (180 f.); Volmert, Border Tax Adjustments (2011) 86. 49 Volmert, Border Tax Adjustments (2011) 86. 50 Anhang I lit. g SCM-Übereinkommen bezieht sich allgemein auf „indirekte Steuern“‚ und rechnet hierzu die Verkaufssteuern, Verbrauchsteuern, Umsatzsteuern, Mehrwertsteuern, Konzessionssteuern, Grenzabgaben und alle Steuern, die nicht zu den direkten Steuern und Eingangsabgaben zählen. 51 Widmer, Dumping und dumpingähnliche Tatbestände im Aussenhandel (1961), 123. 52 Vgl. Chandra/Long, J Public Econ 2013, Vol 102, 13 (14); Volmert, Border Tax Adjustments (2011), 87. 53 Zum Begriff der kompensatorischen Prämie vgl. Widmer, Dumping und dumpingähnliche Tatbestände im Aussenhandel (1961), 123. 54 Vgl. James, The Rise of the Value-Added Tax (2015), 79; Rom, JWT 1968, 544 (555 f.). 55 Floyd, JWT 1973, 489 (497). 56 Krauss, JWT 1976, 145 (152). 57 Schön, RIW 2004, 50 (58).

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erbefreiung der Ausfuhr vorsehen, wenn eine umsatzsteuerliche Mehrfachbelastung der ausgeführten Gegenstände vermieden werden soll.58 Obgleich eine Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip oder nach dem Ursprungslandprinzip kein tragender Leitgedanke bei der Gestaltung des GATT war59, war die Einführung eines gemeinsamen europäischen Umsatzsteuersystems, dessen Zugang einer Umsatzsteuerbefreiung der Ausfuhr und einer Besteuerung des Einfuhrumsatzes einzelnen WTO-Mitgliedern (z.B. der USA60) fremd war61, konfliktbehaftet. Dass die flexible Ausgestaltung des GATT grundsätzlich unterschiedliche Zugänge bei der umsatzsteuerlichen Behandlung des Einfuhrumsatzes und der Ausfuhr zulässt, verdeutlicht z.B. das chinesische UStG, das einerseits die Einfuhr von Gegenständen nach China besteuert62, aber andererseits die Ausfuhren aus China nicht vollständig von der Umsatzsteuer entlastet.63 Nach dem chinesischen UStG unterliegen Ausfuhren aus China zwar einem Umsatzsteuersatz von 0 %.64 Allerdings sind die Vorsteuern, die auf die Eingangsumsätze zur Herstellung von chinesischen Exportgütern anfallen, nicht vollständig anrechenbar oder erstattungsfähig.65 Je nach Warenkategorie wird die Umsatzsteuer vollständig, teilweise oder gar nicht rückerstattet.66 Die nicht erstattungsfähige chinesische Umsatzsteuer ist eine Kostenbelastung für das exportierende Unternehmen.67 Die Produktionskosten des exportierenden Unternehmens erhöhen sich um die nicht erstattungsfähige Vorsteuer.68 Dem GATT, das lediglich einer überkompensatorischen Umsatzsteuerrückerstattung entgegensteht, widerspricht eine solche Vorgehensweise jedoch nicht. 58 Schön, RIW 2004, 50 (58). 59 Floyd, JWT 1973, 489 (498). 60 Vgl. dazu eingehend Schön, RIW 2004, 50 (59 ff.); in jüngerer Zeit spielte allerdings der Gedanke einer Befreiung von Exporten und einer Besteuerung von Importen unter dem Schlagwort „Border adjustment“ eine Rolle bei Reformüberlegungen des amerikanischen Körperschaftsteuersystems, vgl. dazu Becker/Englisch, Ubg 2017, 69 (71); Becker/Englisch, Wirtschaftsdienst 2017, 103 (104); Auerbach/Devereux/Keen/Vella, Destination-Based Cash Flow Taxation, WP 17/01, 1 (13 f). 61 Vgl. ausführlich Grossmann, JWT 1978, 452 (452 ff.). 62 Feldt/Klün/Brutscheidt/Plikat/Gerhard, Mehrwertsteuerrecht europäischer Staaten und wichtiger Drittstaaten (2014)3 97 f.; EY, Worldwide VAT, GST and Sales Tax Guide 2016, 163. 63 Vgl. Schenk/Thuronyi/Cui, Value Added Tax (2015) 465. 64 Art. 2 Abs. 3 Interim Regulations of the People’s Republic of China on Value Added Tax, Decree of the State Council of the People’s Republic of ChinaNo. 538. 65 Feldt/Klün/Brutscheidt/Plikat/Gerhard, Mehrwertsteuerrecht europäischer Staaten und wichtiger Drittstaaten (2014)3 89f; von dem Bongart/Stein, IStR 2008, 728 (729); Chandra/ Long, J Public Econ 2013, Vol 102, 13 (21) haben auf Basis von chinesischen Firmendaten für den Zeitraum 2000-2006 einen direkten Zusammenhang zwischen der Höhe der Umsatzsteuererstattungen und dem Exportvolumen nachgewiesen; Chen/Mai/Yu, China Economic Review 2006, 226 (235) weisen für China für den Zeitraum 1985-2002 eine positive Korrelation zwischen den Umsatzsteuerrückerstattungsquoten einerseits und den Exporten, dem Endverbrauch im Inland und den Devisenreserven andererseits nach. 66 James, The Rise of the Value-Added Tax (2015) 138; von dem Bongart/Prautzsch, IStR-LB 2009, 10 (10); Chan, Tax Notes International 2006, 247 (258 ff.). 67 Vgl. von dem Bongart/Stein, IStR 2008, 728 (729); vgl. zur genauen Berechnung EY, Worldwide VAT, GST and Sales Tax Guide 2016 169 ff. 68 Von dem Bongart/Stein, IStR 2008, 728 (729).

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3. Inländerbehandlung a) Grundregel Nach dem Grundsatz der Inländerbehandlung gem. Art. III:1 GATT dürfen innere Abgaben und andere Belastungen sowie Vorschriften über die Angebots-, Verkaufsund Nutzungsbedingungen nicht derart angewendet werden, dass dadurch die inländische Produktion geschützt wird. Art. III:1 beschreibt das Ziel der gesamten Vorschrift und enthält die Grundlage für das in Art. III:2 GATT näher beschriebene Diskriminierungs- und Protektionsverbot.69 Verboten sind Maßnahmen, die den Zugang zum inländischen Markt erschweren oder verhindern. Art. III:1 GATT soll gleiche Wettbewerbsbedingungen für eingeführte und inländische Gegenstände schaffen und verbietet eine Unterscheidung nach der Gegenstandsherkunft.70 Art. III:1 GATT definiert den Begriff der „inneren Abgabe“ nicht.71 Dieser erschließt sich allerdings aus Art. II:2(a) GATT sowie aus verschiedenen welthandelsrechtlichen Quellen. Art. II:2(a) GATT ermöglicht die Erhebung einer Abgabe auf die Einfuhr, die einer inneren Abgabe gleichwertig ist. Hierunter fällt eine Umsatzsteuer, die auf eingeführte und inländische Gegenstände erhoben wird. Die GATT Working Party on Border Tax Adjustments sowie Anhang I SCM-Übereinkommen zählen die Umsatzsteuer zu den „indirekten Steuern“.72 Da sich Art. III:1 GATT auf „innere Abgaben“ bezieht, dürfte hierunter eine nationale Umsatzsteuer fallen, die gleichermaßen auf eingeführte Gegenstände und gleichartige nationale Gegenstände anzuwenden ist.73 Die Umsatzsteuer, die auf die eingeführten Gegenstände erhoben wird, bleibt auch dann eine „innere Abgabe“, wenn sie für die eingeführten Gegenstände zum Zeitpunkt und am Ort der Einfuhr erhoben wird.74 Nicht nur umsatzsteuerliche Belastungen an sich, sondern auch die Mechanismen bei der Erhebung der Umsatzsteuer können unter das Diskriminierungsverbot fallen.75 Nicht unter den Abgabenbegriff des Art. III:1 GATT fallen Zölle; diese sind das einzig zulässige tarifäre Handelshemmnis.76 Art. III:1 lässt sich somit im GATT-Gefüge derart einordnen, dass die WTO-Mitglieder ausschließlich Zölle i. S. d. Art. II:1 GATT, aber keine Abgabenbelastungen, Gesetze und Verordnungen zum Schutz der inländischen Produktion anwenden dürfen. Art. III:1 GATT untersagt sowohl de jure- als auch de facto-Diskriminierungen.77 De jure-Diskriminierungen sind Diskriminierungen, die in nationalen Rechtsnormen 69 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 12 Rz. 511; Schön, RIW 2004, 56. 70 Epiney, DVBl 2000, 77 (80). 71 Vgl. Schön, RIW 2004, 50 (53). 72 GATT, Report by the Working Party on Border Tax Adjustments adopted on 2 December 1970, L/3464, Rz. 14. 73 Anmerkung zu Art. III in Anlage I zum GATT; van den Bossche, The Law and Policy of the World Trade Organization2 (2008) 349; Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (17). 74 Anmerkung zu Art. III in Anlage I zum GATT; Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (17). 75 Panel Report, Measures Affecting the Export of Bovine Hides and the Import of Finished Leather, WT/DS155/R, Rz. 11.143 f. 76 Jenzen, Energiesteuern im nationalen und internationalen Recht (1998), 351. 77 Englisch, Wettbewerbsgleichheit (2008), 473 f.

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ausdrücklich festgeschrieben sind und auf die Gegenstandsherkunft abstellen.78 Beispiele für eine de jure-Diskriminierung sind Subventionen, die nur für den Verkauf inländischer Waren gewährt werden79, oder eine nationale Energiesteuer, die für die Einfuhr von ausländischen Waren höhere Steuersätze vorsieht als für inländische Waren.80 De facto-Diskriminierungen sind versteckte Diskriminierungen, die wirtschaftlich betrachtet zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung führen.81 Eine de facto-Diskriminierung liegt dann vor, wenn Gegenstände formal zwar gleich behandelt werden, aber die Vorteile tatsächlich nur Gegenständen einer bestimmten Herkunft gewährt werden.82 De facto-Diskriminierungen sind dementsprechend schwerer nachzuweisen als de jure-Diskriminierungen. b) Verbot diskriminierender Besteuerung Art. III:2 GATT verbietet sämtliche möglichen Formen von umsatzsteuerlicher Diskriminierung.83 Art. III:2 erster Satz GATT enthält ein Diskriminierungsverbot für gleichartige Waren. Art. III:2 zweiter Satz GATT enthält ein Protektionsverbot für nicht gleichartige Waren.84 Nach Art. III:2 erster Satz GATT dürfen eingeführte Waren keiner höheren Umsatzsteuer unterliegen als gleichartige inländische Waren. Selbst wenn die eingeführten Gegenstände nur einer geringfügig höheren Umsatzsteuer unterliegen und die Höherbesteuerung sich nicht auf die Handelsströme ­auswirkt, liegt ein Verstoß gegen Art. III:2 GATT vor.85 Die handelspolitische Bedeutung der Einfuhr spielt für die Anwendung von III:2 erster Satz GATT keine Rolle. Nicht gleichartige Waren dürfen unterschiedlich besteuert werden, sofern die inländische Erzeugung dadurch nicht protektioniert wird. Was „Gleichartigkeit“ heißt, ­definiert Art. III:2 erster Satz nicht.86 Tendenziell werden Waren eher als nicht gleichartig eingestuft, um den Anwendungsbereich des Art. III:2 GATT nicht einzuschränken.87 Die Gleichartigkeit von Produkten wird anhand der „Eigenschaften, ­Natur und Qualität eines Produkts“, der „Endverwendungsmöglichkeiten“, der „Neigungen und Gewohnheiten von Verbrauchern“ sowie der „Zolltarifklassifikation“ be78 Rodriguez Cuadros, GTCJ 2016, 62 (63). 79 Panel Report, Italy  – Discrimination against imported agricultural machinery, L/833 7S/60. 80 Panel Report, United States  – Taxes on Petroleum and Certain Imported Substances, L/6175 - 34S/136. 81 Englisch (Fn. 77), 473 f. 82 Berrisch in Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch (2003), 101 Rz. 98. 83 Panel Report, Argentina – Measures Affecting the Export of Bovine Hides and the Import of Finished Leather, WT/DS155/R, Rz. 11.141. 84 Schön, RIW 2004, 50 (54 ff. u. 56 ff.). 85 Vgl. Hufbauer, JWT 2010, 763 (765); Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8,10,11/AB/R, 23; GATT Working Party Report, Brazilian Internal Taxes, GATT/CP.3/42, Rz. 16; Panel Report, United States – Taxes on Petroleum and Certain Imported Substances, L/6175 - 34S/136, Rz. 5.1.9. 86 Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (34). 87 Vgl. Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8,10,11/AB/R, 19 f.; Altemöller, RabelsZ 2000, 213 (223).

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stimmt.88 Diese Kriterien indizieren lediglich, ob Produkte gleichartig sind oder nicht.89 Falls die eingeführten Waren unter dieselbe Tarifposition fallen, kann dies bereits stark für eine Gleichartigkeit sprechen.90 Letztlich müssen aber sämtliche Kriterien kumulativ vorliegen.91 Jedes Kriterium ist „mehr oder weniger wichtig“92 und für jeden Einzelfall gesondert zu prüfen. Die Beurteilung der Gleichartigkeit beruht daher auf einer individuellen Ermessensentscheidung.93 Nach der welthandelsrechtlichen Spruchpraxis ist eine nationale Maßnahme nach Art. III:2 erster Satz GATT anhand eines zweistufigen Verfahrens zu prüfen (sog. two-­ step approach).94 Zuerst ist zu prüfen, ob Gegenstände gleichartig i. S. d. Art. III:2 erster Satz GATT sind.95 Trifft dies zu, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die eingeführten Gegenstände höher besteuert werden als die inländischen Gegenstände.96 Trifft dies ebenfalls zu, liegt ein Verstoß gegen Art. III:2 erster Satz GATT und damit gegen das Prinzip der Inländerbehandlung vor.97 Nach Art. III:2 erster Satz ist 88 GATT, Report of the Working Party on Border Tax Adjustments adopted on 2 December 1970, L/3464, Rz. 18; Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/ DS8,10,11/AB/R, 21; Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (34); zur Bedeutung der Zollklassifikation für die Bestimmung der Gleichartigkeit vgl. Altemöller, RabelsZ 2000, 213 (228 f). 89 Appellate Body Report, European Communities – Measures Affecting Importation of Certain Poultry Products, WT/DS69/AB/R, Rz. 109. 90 Jenzen (Fn. 76), 343. 91 Bender in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 9 Rz. 57; Appellate Body Report, European Communities – Measures Affecting Asbestos and Asbestos-Containing Products, WT/DS135/AB/R, Rz. 109. 92 Quick/Lau, Journal of International Economic Law 6 (2) 2003, 419 (429). 93 Appellate Body Report, European Communities – Measures Affecting Asbestos and Asbestos-Containing Products, WT/DS135/AB/R, Rz. 101; Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8,10,11/AB/R, 21; Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (34). 94 Panel Report, Argentina – Measures Affecting the Export of Bovine Hides and the Import of Finished Leather, WT/DS155/R, Rz. 11.183. 95 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 76. 96 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 76. 97 Ein anderes Verfahren zur Bestimmung der Gleichartigkeit ist der „aims and effects“-Test. Danach verstößt eine unterschiedliche Behandlung und Besteuerung von Produkten gegen Art. III GATT, wenn diese auf den Schutz inländischer Produktion gerichtet ist oder eine derartige Wirkung hervorruft. Getestet wird der Zweck („aim“) und die Wirkung („effect“) der hoheitlichen Maßnahme. Bezweckt oder bewirkt die Maßnahme den Schutz der heimischen Wirtschaft, liegen gleichartige Produkte und eine unzulässige Ungleichbehandlung vor. Werden hingegen Produkte aus anderen Gründen, z.B. dem Schutz von Menschen, Tieren oder Pflanzen, unterschiedlich behandelt und geht damit keine protektionistische Wirkung einher, werden sie als nicht gleichartig angesehen. Der „aims and effect“-Test wurde jedoch wieder verworfen, sodass nicht mehr die Rechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme bei der Gleichartigkeit geprüft wird, sondern die Beschaffenheit der Waren verglichen wird. Vgl. dazu Jenzen (Fn. 76), 346 ff.; Epiney, DVBl 2000, 77 (79); Quick/Lau, Journal of International Economic Law 6 (2) 2003, 419 (426 f); Berrisch in Prieß/Berrisch (Fn. 82), S. 86 Rz. 40 und S. 87 Rz. 41; Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8,10,11/AB/R; Altemöller, RabelsZ 2000, 213 (226 f); Bender in Hilf/ Oeter (Fn. 10), § 9 Rz. 59; Appellate Body Report, European Communities – Measures Affecting Asbestos and Asbestos-Containing Products, WT/DS135/AB/R, Rz. 113.

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nicht die nominelle Steuerbelastung, sondern die tatsächliche Steuerbelastung zu vergleichen.98 Dass eingeführte und nationale Gegenstände den gleichen Umsatzsteuersätzen unterliegen, schließt einen Verstoß gegen Art. III:2 erster Satz nicht aus. Ein Verstoß könnte dennoch vorliegen, wenn die Bemessungsgrundlage für die eingeführten Gegenstände nach einer anderen Methode ermittelt wird, die trotz gleicher Steuersätze zu einer höheren Steuerbelastung für die eingeführten Gegenstände führt.99 Liegen keine gleichartigen Waren vor, ist das Protektionsverbot des Art. III:2 zweiter Satz GATT zu prüfen.100 Art. III:2 zweiter Satz GATT ist i. V. m. einer in der Anlage I zum GATT abgedruckten Anmerkung101, die gem. Art. XXXIV GATT Bestandteil des GATT ist102, auszulegen.103 Art. III:2 zweiter Satz GATT erfordert nicht die Gleichartigkeit von Gegenständen, sondern direkt konkurrierende oder substituierbare Gegenstände.104 Der Anwendungsbereich von Art. III:2 zweiter Satz GATT ist damit potenziell größer als jener des Art. III:2 erster Satz GATT. Schließlich sind die gleichartigen Gegenstände eine Untergruppe der konkurrierenden oder substituierbaren Gegenstände.105 Eine Besteuerung der Einfuhr ist mit Art. III:2 zweiter Satz GATT vereinbar, wenn das eingeführte und das nicht gleichartige inländische Erzeugnis einer ähnlichen Besteuerung unterliegen. Es ist, sofern die beiden Gegenstände nicht gleichartig i. S. d. Art. III:2 erster Satz GATT sind, keine vollständige Belastungsgleichheit gefordert, sofern sich die Belastungsdifferenzen nicht protektionistisch auswirken.106 Die Beweislast, dass sich eine umsatzsteuerliche Schlechterstellung des ausländischen Gegenstands nicht protektionistisch auswirkt, trägt das beklagte WTO-Mitglied.107 Eine Protektion i. S. d. Art. III:2 zweiter Satz GATT wird nicht bereits dadurch bewirkt, dass ein WTO-Mitglied gestaffelte Steuersätze anwendet und die Staffelung an den Alkoholgehalt der Erzeugnisse knüpft.108 Das WTO-Mitglied 98 Panel Report, Argentina – Measures Affecting the Export of Bovine Hides and the Import of Finished Leather, WT/DS155/R, Rz. 11.183. 99 Panel Report, Argentina – Measures Affecting the Export of Bovine Hides and the Import of Finished Leather, WT/DS155/R, Rz. 11.183. 100 Schön, RIW 2004, 50 (56 ff.). 101 Die Anmerkung lautet: „Eine den Vorschriften des ersten Satzes der Ziffer 2 entsprechende Steuer ist nur dann als mit den Bestimmungen des zweiten Satzes nicht vereinbar anzusehen, wenn zwischen dem belasteten Erzeugnis und einem unmittelbar damit in Wettbewerb stehenden Erzeugnis oder einem Erzeugnis, das unmittelbar an seine Stelle gesetzt werden kann und nicht mit einer ähnlichen Steuer belastet ist, Konkurrenz besteht“. 102 Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht3 (2012) § 2 Rz. 323. 103 Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (34 f). 104 Demaret/Stewardson, JWT 1994, 5 (35). 105 Berrisch in Prieß/Berrisch (Fn. 82), 88 Rz. 46. 106 Schön, RIW 2004, 50 (56). 107 Schön, RIW 2004, 50 (57). 108 Vgl. Appellate Body Report, Chile – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS87/AB/R. Der Streitfall betraf eine chilenische Verbrauchsteuer auf Alkohol, die auf Basis des Wertes und des Alkoholgehaltes eines Getränkes erhoben wurde. Die Staffelung der Steuersätze bewirkte, dass auf ein lokales chilenisches Produkt mit einem Alkoholgehalt von 35 % gerade noch ein günstiger Steuersatz anzuwenden war, wohingegen die eingeführten Konkur-

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muss jedoch begründen, inwiefern diese Maßnahme steuerlich gerechtfertigt ist, wenn der Verdacht einer protektionistischen Wirkung besteht.109 Insbesondere hat das betreffende WTO-Mitglied darzulegen, dass sich diese Wirkungen aus handelspolitisch neutralen Elementen des Steuersystems erklären lassen.110 Umsatzsteuerliche Diskriminierungen i. S. d. Art. III:2 GATT können darin bestehen, dass für die Lieferungen inländischer Gegenstände ein niedrigerer Umsatzsteuersatz gilt als für eingeführte Gegenstände oder dass für die Lieferung inländischer Gegenstände eine generelle Umsatzsteuerbefreiung besteht, die für eingeführte Gegenstände nicht gilt.111 Weiters ist von einem Verstoß gegen Art. III:2 GATT auszugehen, wenn eine Umsatzsteuerbefreiung für die Einfuhr von Gegenständen davon abhängt, dass ein dem eingeführten Gegenstand vergleichbarer Gegenstand im Einfuhrland nicht hergestellt wird.112 Dass sowohl der Einfuhrumsatz als auch die Lieferung inländischer Gegenstände dem gleichen Umsatzsteuersatz unterliegen, schließt einen Verstoß gegen Art. III:2 GATT nicht aus, wenn für die Lieferungen inländischer Gegenstände eine teilweise Umsatzsteuerrückerstattung vorgesehen ist.113 Ein nicht gewährter Vorsteuerabzug für die Lieferung von eingeführten Gegenständen am inländischen Markt eines WTO-Mitglieds kann ebenfalls einen Verstoß gegen Art. III:2 GATT begründen.114 renzprodukte einem höheren Steuersatz unterlagen. Ziele der chilenischen Alkoholsteuer waren unter anderem die Erzielung von Steuereinnahmen und die Eindämmung des Alkoholverbrauchs. Der chilenische Gesetzgeber konnte allerdings nicht ausreichend begründen, inwiefern das System der Steuerstaffelung der Erreichung dieser Ziele diente. Der Appellate Body schließt nicht aus, dass dieses System gerechtfertigt sein könnte. Im Ergebnis ist es für den Appellate Body jedoch plausibel, dass eine Protektion der chilenischen Alkoholerzeugung vorliegt. 109 Vgl. Appellate Body Report, Chile – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS87/AB/R. Der Appellate Body äußert seinen Verdacht, indem er feststellt, dass die Intervalle der Steuerstaffelung Bruchlinien aufweisen. 110 Schön, RIW 2004, 50 (57) wonach die Nennung eines Lenkungszwecks nicht ausreicht, um eine steuerliche Ungleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Erzeugnissen zu rechtfertigen. Vielmehr muss sich das nationale Verbrauchsteuergesetz auch tatsächlich zur Erreichung des Lenkungszwecks eignen. 111 Peru – Tax Treatment on Certain Imported Products – Request for Consultations by Chile, WT/DS255/1; WTO 2011, Working Party on the Accession of the Russian Federation, WT/ACC/RUS/70, WT/MIN(11)/2, Rz. 411 ff.; Panel Report, Russia – Tariff Treatment of Certain Agricultural and Manufacturing Products, WT/DS485/R. Obwohl Russland seit 12.8.2012 der WTO angehört, wendet es laut dem Panel Bericht z. B. noch höhere Zölle auf Einfuhren von Papierprodukten, Kühlschränken und Palmöl aus anderen europäischen Ländern an. 112 Vgl. Kindsvater, WiRO 2016, 257 (261) wonach eine Umsatzsteuerbefreiung bei der Einfuhr von Medizinprodukten nach Russland nur dann greift, wenn die fehlende analoge Produktion derartiger Produkte in Russland zollamtlich bestätigt ist. 113 Request for Consultations, China – Value-Added Tax on Integrated Circuits, WT/DS309/1, G/L/675, S/L/160. 114 Vgl. Rodriguez Cuadros, GTCJ 2016, Vol II, Iss 2, 62 (69). Nach der chinesischen Umsatzsteuerpraxis mussten Unternehmer, die lizensierte Gegenstände nach China einführten, für die Erlaubnis, diese Gegenstände am chinesischen Markt zu handeln, Lizenzgebühren

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c) Verbot sonstiger Benachteiligungen gleichartiger Gegenstände Nach Art. III:4 erster Satz GATT darf die Einfuhr von Gegenständen keiner ungünstigeren Behandlung unterliegen, als sie gleichartigen Gegenständen einheimischen Ursprungs auf dem inneren Markt gewährt wird. Der Günstigkeitsvergleich bezieht sich auf sämtliche Gesetzesbestimmungen, Verwaltungsanordnungen oder Vorschriften für den Verkauf, das Verkaufsangebot, den Ankauf, die Beförderung, die Verteilung und die Verwendung dieser Gegenstände. Die eingeführten Waren dürfen somit hinsichtlich der absatzrelevanten Rechts- und Verwaltungsvorschriften nicht schlechtergestellt werden als gleichartige Waren inländischer Herkunft. Ob die eingeführten Gegenstände weniger günstig behandelt werden, beurteilt sich nach der welthandelsrechtlichen Spruchpraxis danach, ob die betreffende Maßnahme die Wettbewerbsbedingungen auf dem relevanten Markt für die eingeführten Gegenstände verschlechtert.115 Trifft dies zu, dann liegt eine ungünstigere Behandlung i.S.d. Art. III:4 GATT vor. Die Feststellung einer ungünstigeren Behandlung setzt nicht voraus, dass empirische Belege über die tatsächlichen Auswirkungen der streitigen Maßnahme im Binnenmarkt des betreffenden WTO-Mitglieds vorliegen.116 Formale Unterscheidungen oder bloße Regelungsunterschiede zwischen eingeführten Gegenständen und gleichartigen inländischen Gegenständen begründen noch keinen Verstoß gegen Art. III:4 GATT.117 Nach der welthandelsrechtlichen Spruchpraxis verstößt es beispielsweise gegen Art. III:4 GATT, wenn der Weiterverkauf eingeführter Gegenstände im Inland administrativen Bestimmungen (z. B. Berichts- und Aufzeichnungspflichten oder Strafen und anderen Sanktionen) unterliegt, die für die Lieferung inländischer Gegenstände nicht gelten.118 Art. III:4 GATT erstreckt sich nach der welthandelsrechtlichen Spruchpraxis auch auf Diskriminierungen im Bereich der direkten Steuern.119 Die Begriffe der Gesetzesbezahlen. Die Einräumung von Lizenzrechten durch ausländische Unternehmen unterliegt in China einer indirekten Steuer, die nicht als Vorsteuer geltend gemacht werden kann. Diese nicht abziehbare Vorsteuer ist Bestandteil der Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer, die beim Verkauf des eingeführten Gegenstands am chinesischen Markt anfällt. Der Verkauf gleichartiger chinesischer Produkte unterlag hingegen keiner zusätzlichen indirekten Steuer, sondern nur der nationalen Umsatzsteuer. 115 Appellate Body Report, Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef, WT/DS161/AB/R, Rz. 137. 116 Appellate Body Report, Thailand  – Customs and fiscal measures on cigarettes from the Philippines, WT/DS371/AB/R, Rz. 129. 117 Appellate Body Report, Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef, WT/DS161/AB/R, Rz. 137; Appellate Body Report, European Communities – Mea­ sures Affecting Asbestos and Asbestos Containing Products, WT/DS135/AB/R, Rz. 100. 118 Appellate Body Report, Thailand  – Customs and fiscal measures on cigarettes from the Philippines, WT/DS371/AB/R, Rz. 137 und 140. 119 Vgl. Panel Report, Argentina – Measures Relating to Trade in Goods and Services, WT/ DS453/R; Panel Report, United States  – Tax Treatment for Foreign Sales Corporations, WT/DS108/RW; Ecker/Koppensteiner, SWI 2009, 142 (143); Daly, The WTO and Direct Taxation (2005) 5.

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stimmungen, Verwaltungsanordnungen oder Vorschriften sind nicht auf eine bestimmte Steuerart zugeschnitten.120 Art. III:4 GATT greift daher, wenn Gesetzesbestimmungen, Verwaltungsanordnungen oder Vorschriften so angewendet werden, dass sie für eingeführte Erzeugnisse zu einkommensteuerlichen Nachteilen führen.121 4. Meistbegünstigung a) Grundregel Der Grundsatz der Meistbegünstigung i.S.d. Art. I GATT bezweckt die Gleichstellung aller WTO-Mitglieder122 und spiegelt die in Art. 2 I UN-Charta verankerte völkerrechtliche Grundidee der souveränen Gleichheit der Staaten wider.123 Nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung ist jeder Vorteil, der der Einfuhr eines Gegenstands aus einem WTO-Land oder Nicht-WTO-Land gewährt wird, sogleich und unbedingt gleichartigen Gegenständen, die aus einem anderen WTO-Land stammen oder für ein anderes WTO-Land bestimmt sind, einzuräumen.124 Die WTO-Mitglieder dürfen einander nicht gegenüber anderen WTO-Mitgliedern oder Nicht-WTO-Mitgliedern schlechterstellen. Die WTO-Mitglieder müssen daher auch die einem Nicht-WTOMitglied eingeräumte Behandlung an die anderen WTO-Mitglieder weitergeben.125 Umgekehrt dürfen die WTO-Mitglieder die untereinander gewährten Vorteile an Nicht-WTO-Mitglieder weitergeben, jedoch sind sie dazu nicht verpflichtet.126 Die günstigere Behandlung, die ein WTO-Mitglied irgendeinem WTO-Mitglied oder Nicht-WTO-Mitglied gewährt, ist unverzüglich und bedingungslos auf gleichartige Waren auszudehnen, die ein anderes WTO-Mitglied ein- oder ausführt.127 Der Günstigkeitsvergleich erstreckt sich nach Art. I:1 erster Satz GATT auf Zölle, Zollgebühren, Importsteuern, Maßnahmen zur Erhebung von Zollabgaben und andere Gebühren beim Im- und Export von Waren, Vorschriften, Förmlichkeiten und Maßnahmen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren sowie auf alle in Art. III:2 und Art. III:4 GATT genannten fiskalischen und nicht fiskalischen innerstaatlichen Maßnahmen.128 Damit erstreckt sich der Günstigkeitsvergleich auch auf die umsatzsteuerlichen Vorteile, die bei der Einfuhr von Gegenständen gewährt werden.129 Derartige Vorteile können 120 Panel Report, Canada  – Certain Measures Affecting the Automotive Industry, WT/ DS139/R, Rz. 10.80. 121 Panel Report, United States – Tax Treatment for Foreign Sales Corporations, WT/DS108/ RW, Rz. 8.143. 122 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 380 und 387; Grätz, KJ 2006, 39 (42). An zahlreichen Stellen des GATT wurde das Meistbegünstigungsprinzip in Form von speziellen Meistbegünstigungsverpflichtungen umgesetzt, wie z. B. in den Art. III:7, IV(b), V, IX:1, XIII:1 und XX GATT. 123 Johst, Die zentralamerikanische Zollunion (2010), 142. 124 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 380. 125 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 382. 126 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 382. 127 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 389. 128 Bender in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 9 Rz. 31. 129 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 389.

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durch die Anwendung von ermäßigten Steuersätzen, Umsatzsteuerbefreiungen oder Umsatzsteuererstattungen entstehen. Beispielsweise verstößt es gegen Art. I GATT, wenn ein WTO-Mitglied die Herstellung von Gegenständen aufgrund technologischer Beschränkungen in bestimmte WTO-Länder auslagert und bei der Einfuhr der fertiggestellten Gegenstände aus diesen Ländern eine teilweise Umsatzsteuererstattung vorsieht.130 Maßstab für die allen WTO-Mitgliedern einzuräumende umsatzsteuerliche Behandlung bei der Einfuhr ist das jeweils am besten behandelte Land.131 Das Meistbegünstigungsprinzip verbietet eine Ungleichbehandlung aufgrund des Ursprungs einer Ware und erfasst sowohl de jure- als auch de facto-Diskriminierungen.132 Eine Verletzung des Meistbegünstigungsgrundsatzes kann nicht durch Besserstellung anderer Erzeugnisse ausgeglichen werden. Formale Gleichstellung reicht nicht aus, vielmehr ist ein gleiches wirtschaftliches Ergebnis erforderlich.133 Die Vorteile, Vergünstigungen, Vorrechte oder Befreiungen sind allen Mitgliedern gleichzeitig, ohne zeitliche Verzögerung und ohne Gegenleistung zu gewähren.134 Verkürzend wird von „Handelsvorteilen“135, „Vorteilen“136 oder „Privilegien“137 gesprochen, die anderen Staaten gewährt werden. Jedoch ist die Prüfung dieses Tatbestandsmerkmals in der Praxis meist unproblematisch.138 Als Vorteile betrachtet werden beispielsweise die Außerkraftsetzung der Zölle auf Rindfleisch aufgrund eines Zertifikats von einer bestimmten Regierung139, die Befreiung von Bearbeitungsgebühren auf Waren aus bestimmten Ländern140, die automatische Rückwirkung der Aufhebung eines existenten Ausgleichszolls, ohne dass das betreffende WTO-Mitglied einen Antrag auf die Überprüfung der Schädigung stellen muss141, sowie die Begünstigungen sowohl bei den Zöllen als auch bei den inneren Abgaben.142 Der Grundsatz der Meistbegünstigung bezweckt ausschließlich eine Gleichbehandlung der ausländischen Waren untereinander.143 Bevorzugungen inländischer Waren

130 Request for Consultations, China – Value-Added Tax on Integrated Circuits, WT/DS309/1, G/L/675, S/L/160. 131 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 381. 132 Bender in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 9 Rz. 34. 133 Grätz, KJ 2006, 39 (42). 134 Berrisch in Prieß/Berrisch (Fn. 82), 100 f. Rz. 95 ff.; Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 383. 135 Grätz, KJ 2006, 39 (42). 136 Berrisch in Prieß/Berrisch (Fn. 82), 100 Rz. 93 137 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 380. 138 Berrisch in Prieß/Berrisch (Fn. 82), 100 Rz. 93. 139 Panel Report, European Economic Community – Imports of Beef from Canada, L/5099 28S/92, Rz. 4.2-4.3. 140 Panel Report, United States – Customs User Fee, L/6264 - 35S/245, Rz. 122. 141 Panel Report, United States – Denial of Most-Favoured-Nation Treatment as to Non-Rubber-Footwear from Brazil, DS18/R - 39S/128, Rz. 6.9. 142 Panel Report, Indonesia  – Certain Measures Affecting the Automobile Industry, WT/ DS54/R, Rz. 14.139. 143 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 385.

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sind nicht an Art. I GATT zu messen.144 Der Meistbegünstigungsgrundsatz enthält daher ein Diskriminierungsverbot auf horizontaler Ebene.145 b) Ausnahmen aa) Zollunion Neben den allgemeinen Ausnahmen des Art. XX GATT sind vom Meistbegünstigungsgrundsatz besondere Ausnahmen möglich. Dazu zählen nach Art. XXIV:4–10 GATT die Ausnahmen für Freihandelszonen und Zollunionen.146 Sowohl die Mitglieder einer Freihandelszone als auch die Mitglieder einer Zollunion gewähren sich untereinander besondere Privilegien (z. B. Zollfreiheit), die sie nicht auf Dritte ausdehnen wollen.147 Eine Zollunion i.  S.  d. Art. XXIV GATT sind die EU oder der Golf-Kooperationsrat (GCC) mit den Mitgliedstaaten Bahrain, Katar, Kuweit, Oman, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.148 Die Bildung einer Zollunion setzt nach Art. XXIV:5(a) GATT voraus, dass die mit der Bildung dieser Zollunion eingeführten Zölle insgesamt für den Handel mit den Vertragspartnern, die keine Partner einer solchen Zollunion sind, keine höhere allgemeine Belastung darstellen. Zudem dürfen die Bestimmungen für den Außenhandel nicht einschränkender sein als die Zölle und die Bestimmungen, die vor der Bildung einer solchen Union und vor dem Abschluss einer vorläufigen Vereinbarung in den Mitgliedstaaten dieser Union auf den Aussenhandel angewendet wurden.149 Nach der welthan­ delsrechtlichen Spruchpraxis fallen unter die anderen Handelsvorschriften i.  S.  d. Art.  XXIV:5(a) GATT nahezu alle Regelungen, die sich auf den Handel auswirken können.150 Dazu zählen neben den vom WTO-Recht erfassten außenwirtschaftlichen Regelungen auch handelsbezogene innerstaatliche Vorschriften.151 Art. XXIV:5(a) GATT bezieht sich somit generell auf die Auswirkungen der gegenüber Nichtmitgliedern der Zollunion unternommenen Maßnahmen.152 Art. XXIV:8(a) GATT definiert 144 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 385. 145 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 385. 146 Jene Übereinkommen, die den Integrationsstand einer Freihandelszone nicht erreichen, fallen nicht unter Art. XXIV GATT. Für jene Übereinkommen, die über den Integrationsstand einer Zollunion hinausgehen sollen, ist die Zollunion ein notwendiges Durchgangsstadium. 147 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 402; oV, JWT 1968, 581 (584). 148 Malkawi, GTCJ 2015, 189 (189 u. 191) mit vertiefenden Ausführungen zur WTO-rechtlichen Einstufung des GCC, der nicht nur nach Art. XXIV GATT sondern auch nach der Ermächtigungsklausel notifiziert wurde. 149 Stoll, ZaöRV 1994, 241 (302). 150 Panel Report, Turkey – Restrictions on Imports of Textile and Clothing Products, WT/ DS34/R, Rz. 9.120; Appellate Body Report, Turkey – Restrictions on Imports of Textile and Clothing Products, WT/DS34/AB/R, Rz. 49 ff. 151 Panel Report, Turkey – Restrictions on Imports of Textile and Clothing Products, WT/ DS34/R, Rz. 9.120; Appellate Body Report, Turkey – Restrictions on Imports of Textile and Clothing Products, WT/DS34/AB/R, Rz. 49 ff. 152 Mathis, Regional Trade Agreements in the GATT/WTO – Article XXIV and the Internal Trade Requirement (2002) 251.

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eine Zollunion dahingehend, dass zwei oder mehrere Zollgebiete durch ein einziges Zollgebiet ersetzt werden. In diesem einzigen Zollgebiet sind nach Art. XXIV:8(a)(i) GATT die Zölle und die anderen den Außenhandel einschränkenden Bestimmungen (ausgenommen, soweit erforderlich, die nach den Art. XI, XII, XIII, XIV, XV und XX  GATT zulässigen Beschränkungen) für den Hauptteil des Außenhandels zwischen den Mitgliedstaaten der Union oder zumindest für den Hauptteil des Außenhandels mit den aus diesen Ländern stammenden Erzeugnissen zu beseitigen.153 Zusätzlich sind nach Art. XXIV:8(a)(ii) GATT im Wesentlichen gleiche Tarife und sonstige Bestimmungen von jedem Mitglied der Union im Handelsverkehr mit Gebieten, die dieser nicht angehören, anzuwenden. Gegenüber Nicht-Mitgliedern der Zollunion dürfen nach Art. XXIV:8(a) GATT ­Zölle erhoben werden, ohne dass gegen den Grundsatz der Meistbegünstigung verstoßen wird. Fraglich ist, ob auch umsatzsteuerliche Maßnahmen innerhalb einer Zollunion vom Meistbegünstigungsgrundsatz ausgenommen sind. Der Zollbegriff des Art. XXIV:8(a)(i) GATT umfasst alle öffentlich-rechtlichen Abgaben, die auf den grenzüberschreitenden Handelsverkehr von Waren erhoben werden154, wie z.B. Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrzölle sowie Abgaben zollgleicher Wirkung.155 Die Umsatzsteuer, die auf die Einfuhr von Gegenständen aus Drittländern erhoben wird, um eine Gleichstellung mit innerhalb der Union gelieferten Gegenständen zu erreichen, ist keine zollgleiche Abgabe. Allerdings bezieht sich Art. XXIV:5(a) GATT nicht nur auf Zölle, sondern auch auf nationale Regelungen mit außenwirtschaftlichem Bezug, die nicht einschränkender sein dürfen als vor der Bildung der Zollunion. Unter diese sonstigen handelsbezogenen Regelungen i.S.d. Art. XXIV:5(a) GATT sind wohl auch steuerrechtliche und damit auch umsatzsteuerrechtliche Regelungen einzuordnen.156 Dieser Sichtweise folgend, fallen umsatzsteuerliche Begünstigungen unter die Begünstigungen, die sich die Mitglieder einer Zollunion gegenseitig gewähren dürfen, ohne diese Begünstigungen auf Nicht-Mitglieder der Zollunion ausdehnen zu müssen. MaW: Der Meistbegünstigungsgrundsatz ist innerhalb einer Zollunion i.S.d. Art. XXIV:8(a) GATT nicht auf umsatzsteuerliche Begünstigungen anwendbar. Danach ist eine umsatzsteuerliche Begünstigung, die eine Zollunion für die Einfuhr von Gegenständen aus einem Drittland vorsieht, zwar auch jedem anderen Drittland zu gewähren. Die umsatzsteuerlichen Begünstigungen, die sich die Mitglieder einer Zollunion gegenseitig gewähren, sind jedoch nicht auf Drittländer auszudehnen. Die umsatzsteuerliche Privilegierung von Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten ist daher aufgrund der Gestaltung der EU als Zollunion i.S.d. Art. XXIV:8(a) GATT vom Meistbegünstigungsgebot des Art. I GATT abgeschirmt.157

153 Johst (Fn. 123), 194. 154 Johst (Fn. 123), 195. 155 Vgl. Steinberger, GATT und regionale Wirtschaftszusammenschlüsse (1963) 141; Haller, Mercosur – Rechtliche Würdigung der außenwirtschaftlichen Beziehungen und Vereinbarkeit mit dem Welthandelssystem (2001) 323. 156 Vgl. Marceau/Reiman, Legal Issues of Economic Integration 2001, 297 (321); in diese Richtung auch Ecker/Koppensteiner, SWI 2009, 142 (144). 157 Englisch, UR 2007, 540 (544).

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bb) Waiver Nach Art. XXV:5 GATT können die WTO-Mitglieder unter besonderen Umständen gemeinschaftlich auf die GATT-Verpflichtungen eines anderen WTO-Mitglieds verzichten oder diese erlassen („waiver“).158 Erlassen werden kann auch die Verpflichtung zur Gewährung der Meistbegünstigung, sodass „waiver“ vielfach zum Abschluss präferenzieller Handelsbeziehungen beantragt wurden.159 Meist beantragen Mitglieder für regionale Handelsabkommen (regional trade agreements; RTA) den Erlass eines „waiver“, wenn sie die Voraussetzungen des Art. XXIV GATT160 oder der Ermächtigungsklausel161 nicht erfüllen können. Während Art. XXIV GATT die Bildung einer Zollunion oder Freihandelszone verlangt, können mit einem „waiver“ auch nur einzelne Sektoren zwischen regionalen Handelspartnern liberalisiert werden.162 Die Gewährung eines „waiver“ setzt nach Art. IX:1 WTO-Übereinkommen einen Beschluss der WTO-Ministerkonferenz voraus, der von drei Vierteln der Mitglieder gebilligt werden muss.163 Zusätzlich sind alle „waiver“, die nach Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens erteilt wurden, zeitlich zu befristen.164 Ausnahmsweise können „waiver“ gem. Art. XXIV:10 GATT für regionale Handelsabkommen erteilt werden, wenn in der Integrationsgemeinschaft Länder sein sollten, die keine WTO-Mitglieder sind. cc) Ermächtigungsklausel Am 28.11.1979 wurde im Rahmen der Tokio-Runde eine Ermächtigungsklausel („Enabling Clause“) beschlossen, die gem. Art. I:4(b) GATT als Teil des GATT anzusehen und zwischen Entwicklungsländern anzuwenden ist.165 Die Ermächtigungsklausel legitimiert Verstöße gegen Art. I:1 GATT.166 Präferenzen für Entwicklungslän158 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 403; Johst, Die zentralamerikanische Zollunion (2010) 160. 159 Vgl. Jackson, World Trade and the Law of GATT (1969), 537; Onguglo in Mashayekhi/Ito (Hrsg.), Multilateralism and Regionalism (2005), 33 (40 f). 160 Vgl. dazu oben. 161 Vgl. dazu sogleich unten. 162 So z. B. die EGKS und das Abkommen zwischen Kanada und den USA bezüglich des Automobilsektors, für die in den Jahren 1952 und 1965 „waiver“ erteilt wurden; vgl. hierzu Onguglo in Mashayekhi/Ito (Hrsg.), Multilateralism and Regionalism (2005) 33 (40); Then de Lammerskötter, WTO und Regional Trade Agreements (RTAs) (2004) 133. 163 Stoll, ZaöRV 1994, 241 (263). 164 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 16 Rz. 746; Onguglo in Mashayekhi/Ito (Hrsg.), Multilateralism and Regionalism (2005) 33 (41). 165 Zur Rolle und Behandlung von Entwicklungsländern in der WTO vgl. Eberhard, Diskriminierende Gleichbehandlung von Entwicklungsländern in der WTO? (2008); Gallagher, Guide to the WTO and Developing Countries (2000); für eine Analyse der GATT-Vorschriften aus dem Blickwinkel von Entwicklungsländern vgl. Ünsal, Die Ausnahmen von der Meistbegünstigungsklausel zugunsten der Entwicklungsländer im Rahmen des GATT (1999), 20 ff. 166 Eberhard, Diskriminierende Gleichbehandlung von Entwicklungsländern in der WTO? (2008) 89.

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der sind danach nicht im Wege der Meistbegünstigung auch an die anderen WTO-Mitglieder weiterzugeben.167 Bis zur Einführung der Ermächtigungsklausel wurden im GATT die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Länder im Hinblick auf Entwicklungsstufen, Faktorausstattungen, Marktgröße und Effizienz sowie Diversifikation von Produktionsstrukturen nicht berücksichtigt.168 Die Ermächtigungsklausel bezieht sich sowohl auf Präferenzzölle nach dem allgemeinen Präferenzsystem, demzufolge Industriestaaten bestimmte Importe aus Entwicklungsländern von Zöllen befreien können, als auch auf die Besserstellung hinsichtlich nicht tarifärer Handelshemmnisse.169 Zudem können sich Entwicklungsländer aufgrund präferenzieller Abkommen gegenseitig Zollbegünstigungen einräumen.170 Für die wirtschaftlich schwächsten Länder können zusätzliche Maßnahmen getroffen werden wie z. B. die Einräumung von besonderen Importquoten.171 Die Vorzugsbehandlung ist allerdings nicht unumstritten, denn neben den begrüßenswerten Aspekten einer ­gesonderten Berücksichtigung und wirtschaftlichen Förderung von Entwicklungsländern kann eine Vorzugsbehandlung den Strukturwandel in diesen Ländern be­ hindern und ineffiziente Zustände aufrechterhalten.172 Trotzdem blieben die präferenziellen Abkommen von den Reformen der Uruguay-Runde unberührt und sind nach wie vor GATT-Bestandteil.173 5. Zollwert als Bemessungsgrundlage der Einfuhr a) Grundzüge des Art. VII GATT Art. VII GATT und das hierzu vereinbarte Übereinkommen zur Durchführung des Art. VII (im Folgenden: Zollwertübereinkommen174) legen allgemeine Grundsätze für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Einfuhr fest.175 Art. VII:1 GATT definiert den Zollwert als Bemessungsgrundlage der Einfuhr von Gegenständen. Der Zollwert einer eingeführten Ware ist nach Art. VII:2(a) GATT nach dem wirklichen Wert der eingeführten Ware, auf die der Zoll angewendet wird, oder nach dem wirklichen Wert einer gleichartigen Ware zu bestimmen. Der Zollwert darf hingegen nicht nach dem Wert von Waren einheimischen Ursprungs oder nach willkürlich angenommenen oder fiktiven Werten bestimmt werden. 167 Zur Unschärfe des Tatbestandsmerkmals „Entwicklungsländer“ vgl. Eberhard, Diskriminierende Gleichbehandlung von Entwicklungsländern in der WTO? (2008) 92 ff. 168 Onguglo in Rodríguez Mendoza/Low/Kotschwar (Hrsg.), Trade rules in the making: challenges in regional and multilaterial negotiations (1999) 109 (110). 169 Jessen, Zollpräferenzen für Entwicklungsländer (2004) 9. 170 Johst (Fn. 123), 162. 171 Johst (Fn. 123), 162. 172 Vgl. Beise, Die Welthandelsorganisation (WTO): Funktion, Status, Organisation (2001) 101. 173 Vgl. Appellate Body Report, European Communities – Conditions for the Granting of Tariff Preferences to Developing Countires, WT/DS256/AB/R. 174 Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994, ABl 1994 L 336/119. 175 Friedrich/Fey, Intertax 1988, 380 (385).

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Der „wirkliche Wert“ ist nach Art. VII:2(b) GATT der Preis, zu dem in einem von der Gesetzgebung des Einfuhrlandes bestimmten Zeitpunkt und Ort diese Waren oder gleichartige Waren im normalen Handelsverkehr unter Bedingungen des freien Wettbewerbs verkauft oder angeboten werden. Soweit der Preis dieser Waren oder gleichartiger Waren von der Menge abhängt, auf die sich ein bestimmtes Geschäft bezieht, soll der zugrunde zu legende Preis nach der vom Einfuhrland einmal bindend getroffenen Wahl sich beziehen entweder auf vergleichbare Mengen oder auf Mengen, die für den Importeur wenigstens ebenso günstig festgesetzt sind, als wenn das größte Volumen genommen würde, zu dem tatsächlich zwischen dem Ausfuhrland und dem Einfuhrland Handelsgeschäfte in der betreffenden Ware durchgeführt worden sind. Wenn es unmöglich ist, den wirklichen Wert nach Art. VII:2(b) GATT zu bestimmen, so ist der Zollwert nach Art. VII:2(c) GATT aufgrund eines nachprüfbaren Wertes festzulegen, der dem Zollwert möglichst nahekommt.176 Der Zeitpunkt der Zollwertermittlung entscheidet darüber, welche Frachtkosten in den Zollwert miteinfließen.177 Die meisten WTO-Mitglieder ermitteln den Zollwert anhand der cif-Methode, die neben dem Warenwert die Transport- und Versicherungskosten einbezieht.178 Andere WTO-Mitglieder wenden die fob-Methode an, die Transport- und Versicherungskosten ausschließt und daher zu einem niedrigeren Zollwert führt.179 Sowohl die cif-Methode als auch die fob-Methode stehen in Einklang mit Art. VII GATT.180 Der Zollwert jeder eingeführten Ware soll nach Art. VII:3 GATT keine Umsatzsteuer enthalten, die in dem Ursprungs- oder Herkunftsland erhoben wird, falls die Einfuhrware davon befreit oder der Betrag dieser Umsatzsteuer erstattet worden ist oder erstattet werden soll. Wechselkursumrechnungen erfolgen nach Art. VII:4(a) und (b) GATT nach einem vom Internationalen Währungsfonds festgesetzten oder anerkannten Wechselkurs.181 b) Grundzüge des Zollwertübereinkommens Art. 1 bis 7 Zollwertübereinkommen bestimmen die Methoden der Zollwertermittlung. Die Bewertungsmethoden sind in der anzuwendenden Reihenfolge angeführt. Die vorrangig anzuwendende Methode der Zollwertermittlung ist nach Art. 1 Zollwertübereinkommen die Transaktionswertmethode. Subsidiär heranzuziehen sind der Transaktionswert gleicher Waren (Art. 2 Zollwertübereinkommen), der Transaktionswert gleichartiger Waren (Art. 3 Zollwertübereinkommen), der Preis, zu dem 176 Kritisch Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 435. 177 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 436. 178 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 436. 179 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 436. 180 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 436. 181 Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 437.

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die Waren in dem Zustand, in dem sie eingeführt wurden, an einen unabhängigen Käufer im Einfuhrland verkauft werden (Art. 5 Zollwertübereinkommen), oder die Methode des errechneten Werts (Art. 6 Zollwertübereinkommen). Art. 7 Zollwert­ übereinkommen regelt schließlich, wie der Zollwert ermittelt wird, wenn er nicht nach den Art. 1 bis 6 Zollwertübereinkommen ermittelt werden kann. Die nach Art. 7 Zollwertübereinkommen ermittelten Zollwerte sollen möglichst auf bereits früher ermittelten Zollwerten beruhen.182 Der Transaktionswert ist nach Art. 1 Abs. 1 Zollwertübereinkommen der Preis, der bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Einfuhrland tatsächlich gezahlt wurde oder zu zahlen ist. Dieser Preis erhöht sich gegebenenfalls um jene Positionen, die in Art. 8 Zollwertübereinkommen aufgezählt sind. Art. 1 Abs. 1 lit. a bis d Zollwertübereinkommen zählt verschiedene Gründe auf, die eine Anwendung der Transaktionswertmethode ausschließen. Expemplarisch herausgegriffen werden soll der Ausschlusstatbestand des Art. 1 Abs. 1 lit. d Zollwertübereinkommen, wonach der Käufer und der Verkäufer nicht miteinander verbunden sein dürfen und bei vorhandener Verbundenheit der Transaktionswert nur unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt werden kann. Art. 15 Abs. 4 Zollwertübereinkommen definiert abschließend acht Tatbestände der Verbundenheit.183 Eine Verbundenheit von Käufer und Verkäufer i.S.d. Art. 15 Abs. 4 Zollwertübereinkommen ist nach Art. 1 Abs.  2 lit. a Zollwertübereinkommen allein kein Grund für die Nichtanerkennung des Transaktionswerts. Bei festgestellter Verbundenheit sind die Begleitumstände des Kaufgeschäfts zu prüfen und ist der Transaktionswert anzuerkennen, wenn die Verbundenheit den Preis nicht beeinflusst hat. Sofern die Zollverwaltung jedoch aufgrund der vom Importeur oder aufgrund anderer Informationen vermutet, dass die Verbundenheit den Preis beeinflusst hat, teilt sie dies dem Importeur mit und gibt ihm ausreichende Gelegenheit zur Gegenäußerung. Auf Antrag des Importeurs sind ihm die Gründe schriftlich mitzuteilen. Die Transaktionswertmethode ist nach Art. 1 Abs. 2 lit. b Zollwertübereinkommen dann anzuerkennen, wenn der Importeur darlegt, dass dieser Wert einem der nachfolgenden, im selben oder annähernd im selben Zeitpunkt bestehenden Wert sehr nahekommt: (i) dem Transaktionswert bei Verkäufen an nicht verbundene Käufer gleicher oder gleichartiger Waren zur Ausfuhr in das gleiche Einfuhrland; (ii) dem Zollwert gleicher oder gleichartiger Waren, der nach Art. 5 Zollwertübereinkommen festgesetzt wurde, oder (iii) dem Zollwert gleicher oder gleichartiger Waren, der nach Art. 6 182 Vgl. Anhang I Anmerkung 1 zu Art. 7 Zollwertübereinkommen. 183 Danach gelten Personen nur dann als verbunden, wenn: a) sie der Leitung des Geschäftsbetriebes der jeweils anderen Person angehören; b) sie Teilhaber oder Gesellschafter von Personengesellschaften sind; c) sie sich zueinander in einem Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis befinden; d) eine beliebige Person unmittelbar oder mittelbar fünf Prozent oder mehr der im Umlauf befindlichen Wertpapiere oder Aktien beider Personen besitzt, kontrolliert oder innehat; e) eine von ihnen unmittelbar oder mittelbar die andere kontrolliert; f) beide von ihnen unmittelbar oder mittelbar von einer dritten Person kontrolliert werden; g) sie zusammen unmittelbar oder mittelbar eine dritte Person kontrollieren; oder h) sie Mitglieder derselben Familie sind.

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Zollwertübereinkommen festgesetzt wurde. Beim Preisvergleich sind die Handelsstufe, die Menge, die Hinzurechnungen nach Art. 8 Zollwertübereinkommen sowie die Kosten, die der Verkäufer bei Verkäufen an nicht verbundene Käufer trägt, zu berücksichtigen. Auf schriftlichen Antrag ist dem Importeur von der Zollverwaltung des Einfuhrlandes schriftlich mitzuteilen, auf welche Weise der Zollwert der Waren des Importeurs ermittelt wurde.184 Das Zollwertübereinkommen hindert die Zollverwaltungen der GATT-Mitglieder nicht, sich von der Richtigkeit oder Genauigkeit von Angaben, Erklärungen oder Unterlagen zu überzeugen, die für die Zollwertermittlung abgegeben wurden.185 c) Internationale Zollwertgremien Nach Art. 18 Zollwertübereinkommen wurden für die Durchführung des Art. VII GATT ein Ausschuss für den Zollwert (im Folgenden: Zollwertausschuss) und ein Technischer Ausschuss für den Zollwert (im Folgenden: Technischer Zollwertausschuss) eingesetzt. Der Zollwertausschuss besteht aus Vertretern jeder Vertragspartei und behandelt Fragen zur Anwendung des Systems der Zollwertermittlung. Die vom Zollwertausschuss getroffenen Entscheidungen wurden in Anhang 23 ZK-DVO als „Erläuternde Anmerkungen zur Ermittlung des Zollwerts“ übernommen. Hierdurch wurden die Entscheidungen des Zollwertausschusses in den EU-Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares Unionsrecht. Ein vergleichbarer Anhang 23 ZK-DVO ist im UZK-Regime nicht mehr vorgesehen. Dennoch ist nach Ansicht der österreichischen Finanzverwaltung Anhang 23 ZK-DVO weiter anzuwenden.186 Der Technische Zollwertausschuss soll auf technischer Ebene die einheitliche Auslegung und Anwendung des Zollwertübereinkommens sicherstellen (Art. 18 i.  V.  m. Anhang II Zollwertübereinkommen). Zu den Aufgaben des Technischen Zollwertausschusses zählen u. a. die Untersuchung technischer Probleme, die bei der Anwendung der Bewertungssysteme der Vertragsparteien regelmäßig vorkommen, sowie die Untersuchung von Bewertungsvorschriften und Bewertungsverfahren.187

184 Art. 16 Zollwertübereinkommen. 185 Art. 17 Zollwertübereinkommen. 186 Vgl. in diesem Zusammenhang die Belege in der Arbeitsrichtlinie ZK-0690, 10-18 (Nachweismöglichkeiten von Art. 134 Abs. 2 und 3 UZK-IA); 10-21 (Zur Verfügung gestellte Gegenstände und Leistungen i.S.d. Art. 71 Abs. 1 lit. b UZK i.V.m. Art. 135 Abs. 1 UZK-IA); 10-31 (Transaktionswert gleicher Waren i.S.d. Art. 74 Abs.  2 lit. a UZK i.V.m. Art. 141 UZK-IA); 10-32 (Berichtigungen) oder 10-34 (Gewinn und Gemeinkosten). 187 Vgl. Anhang II Abs. 2 lit. a und lit. b Zollwertübereinkommen.

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6. Informationsbereitstellung Art. X GATT unterscheidet zwischen der Pflicht zur Veröffentlichung von Rechtsund Verwaltungsvorschriften und ihrer individuellen Anwendung.188 Erreicht werden soll ein besserer Informationszugang und eine einheitliche Verwaltungspraxis der WTO-Mitglieder.189 Nach Art. X:1 GATT haben die WTO-Mitglieder ihre allgemein anwendbaren Bestimmungen über den Handel zu veröffentlichen.190 Die zu veröffentlichenden Informationen müssen adäquat sein und eine vollständige Durchdringung der Materie erlauben.191 Veröffentlichungspflichtig nach Art. X:1 GATT sind sämtliche Vorschriften für die Tarifierung, die Ermittlung des Zollwerts, die Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Einfuhr von Gegenständen und die anzuwendenden Zoll- und Steuersätze sowie die Beschränkungen oder Verbote für ein- oder ausgeführte Erzeugnisse.192 Veröffentlichungspflichtig sind für die Union und für einen EU-­ Mitgliedstaat die Vorschriften des UZK, der MwStSystRL, der VSystemRL, der nationalen Zoll- und Umsatzsteuergesetze (für die Ermittlung des Zollwerts und die Anwendung der Steuersätze) sowie die Verwaltungsanweisungen (z. B. Arbeitsrichtlinien) oder die Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur.193 In der welthandelsrechtlichen Spruchpraxis wurde bereits ein Verstoß gegen Art. X:1 GATT bejaht, wenn ein WTO-Mitglied die Vorschriften für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage für den Einfuhrumsatz nicht vollständig darlegt.194 So reicht es für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage von eingeführten Zigaretten nicht aus, dass ein WTO-Mitglied nur die verschiedenen Komponenten des Mindestverkaufspreises für Zigaretten veröffentlicht.195 Darzulegen ist vielmehr auch, wie diese einzelnen Komponenten ermittelt werden.196 188 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 63; Weiß in H/W/O (Fn. 4), § 11 Rz. 499 ff. 189 Vgl. Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 64; Puth in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 10 Rz. 57 mwN; Bolhöfer, WCJ 2008, 31 (33). Diese räumen ein, dass Art. X GATT ein praktisch schwer erreichbares Ziel formuliert. Tendenziell seien die Kosten für die administrative Abwicklung einer Einfuhr oder Ausfuhr höher als die zu entrichtenden Zölle. Optimierungspotentiale bestünden u.a. bei der Güterabwicklung an Häfen, bei den zollrechtlichen Rahmenbedingungen sowie beim Einsatz elektronischer Verfahren. 190 Appellate Body Report, European Communities – Measures Affecting Importation of Certain Poultry Products, WT/DS69/AB/R, Rz.  113; Vorschriften, die nur ein bestimmtes Unternehmen oder einen bestimmten wirtschaftlichen Vorgang betreffen, fallen nicht unter Art. X:1 GATT. 191 Panel Report, European Communities and its Member States – Tariff Treatment of Certain Information Technology Products, WT/DS375/R, Rz. 7.1082. 192 Vgl. Limbach, Uniformity of Customs Administration in the European Union (2015) 51. 193 Panel Report, European Communities and its Member States – Tariff Treatment of Certain Information Technology Products, WT/DS375/R, Rz. 7.1026 f.; 7.1029 f. 194 Panel Report, Thailand - Customs and Fiscal Measures on Cigarettes from the Philippines, WT/DS371/R. 195 Panel Report, Thailand - Customs and Fiscal Measures on Cigarettes from the Philippines, WT/DS371/R Rz. 7.789. 196 Panel Report, Thailand - Customs and Fiscal Measures on Cigarettes from the Philippines, WT/DS371/R Rz. 7.789.

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Die Veröffentlichungspflicht betrifft nach Art. X:1 GATT sämtliche rechtswirksamen Vorschriften. Nicht nur formal verkündete Vorschriften (z.  B. im BGBl.), sondern auch eine bestehende Verwaltungspraxis sind zu veröffentlichen.197 Aus österreichischer Sicht erscheint diese Veröffentlichungspflicht insbesondere mit der elektronischen Veröffentlichung sämtlicher Gesetze und Verwaltungsanweisungen (UStR 2000; zollrechtliche Arbeitshilfen) im RIS198 und in der FINDOK199 erfüllt. Eine Veröffentlichung in unterschiedlichen Sprachen schreibt Art. X:1 GATT nicht vor. Die Veröffentlichung soll unverzüglich erfolgen. Was „unverzüglich“ bedeutet, definiert Art. X:1 GATT nicht. Ob eine Veröffentlichung unverzüglich erfolgte, ist einzelfallbezogen zu entscheiden.200 Relevant ist die Zeitspanne zwischen dem Inkrafttreten und der Veröffentlichung einer Vorschrift.201 Im Schrifttum wurde vereinzelt202 hinterfragt, ob ein Verstoß gegen die Veröffentlichung von Zoll- und Umsatzsteuervorschriften i. S. d. Art. X:1 GATT einen Schadenersatzanspruch begründen kann. Verletzt ein WTO-Mitglied seine Informationspflicht i. S. d. Art. X:1 GATT schuldhaft und schädigt sich ein Wirtschaftstreibender aufgrund der fehlenden Informationen, so könnte ein Amtshaftungsanspruch vor einem innerstaatlichen Gericht grundsätzlich unmittelbar mit der Verletzung der Informationspflicht begründet werden. Nach dem Wortlaut des Art. X:1 GATT dient die Veröffentlichungspflicht nämlich gerade nicht nur der Information der Mitgliedstaaten, sondern ausdrücklich auch der Information der Unternehmen.203 Letztlich wird – insbesondere mit Blick auf die EuGH-Rechtsprechung zur fehlenden Individualwirkung des GATT – eine unmittelbare Berufung auf Art. X:1 GATT aber nur dann möglich sein, wenn der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung des Art. X:1 GATT eine unmittelbare Berufung auf Art. X:1 GATT vorsieht.204 Mit dem „Trade Facilitation Agreement“ (TFA205) vom 27.11.2014 wurden die Vorgaben des Art. X GATT modernisiert. Das TFA wurde mit Beschluss des Rates vom 197 Panel Report, European Communities and its Member States – Tariff Treatment of Certain Information Technology Products, WT/DS375/R, Rz. 7.1048. 198 RIS, abrufbar unter https://www.ris.bka.gv.at/default.aspx [Stand: 31.12.2017]. 199 FINDOK, abrufbar unter https://findok.bmf.gv.at/findok?execution=e1s3 [Stand: 31.12.2017]. 200 Panel Report, European Communities and its Member States – Tariff Treatment of Certain Information Technology Products, WT/DS375/R, Rz. 7.1074. 201 Panel Report, European Communities and its Member States – Tariff Treatment of Certain Information Technology Products, WT/DS375/R, Rz. 7.1074. 202 Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht (2005) 194. 203 Schwartmann (Fn. 202), 194 (195). 204 Schwartmann (Fn. 202), 194 (195). 205 Im Dezember 2013 beendeten die WTO-Mitglieder auf der Ministerkonferenz in Bali ihre Verhandlungen über ein Abkommen über Handelserleichterungen. Der Allgemeine Rat beschloss am 27.11.2014 im Konsens aller (damaligen) 160 WTO-Mitglieder das TFA. Das TFA über Handelserleichterungen tritt in Kraft, sobald zwei Drittel der Unterzeichner-Staaten die Ratifikation abgeschlossen haben; für eine umfassende Analyse des TFA vgl. Wolffgang/Kafeero, WCJ 2014, 27 (27 ff.); Zeugner, Das WTO Trade Facilitation-Übereinkommen v. 7.12.2013 (2014), 14 ff.

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1.10.2015206 ratifiziert und trat am 22.2.2017 in Kraft.207 Die Regelungen des TFA sind nach Aufnahme in die Anlage zum WTO-Übereinkommen gem. Art. II:2 WTO-Übereinkommen für alle WTO-Mitglieder verbindlich und somit auch Gegenstand der Streitbeilegung gem. Art. 1.1 i.V.m. Anhang 1 DSU. Die im TFA verhandelten Handelserleichterungen sollen die Deklaration von Waren vereinfachen und die Arbeitsabläufe und -verfahren bei den Zollbehörden vereinheitlichen.208 Das TFA besteht aus zwei Kernteilen. Teil I (Art. 1–12 TFA) enthält zwölf Maßnahmen und Verpflichtungen zur Einführung von Handelserleichterungen.209 Teil II (Art. 13–22 TFA) betrifft 206 Beschluss (EU) 2015/1947 des Rates v. 1.10.2015 über den Abschluss  – im Namen der Europäischen Union – des Protokolls zur Änderung des Übereinkommens von Marrakesch zur Errichtung der Welthandelsorganisation, ABl 2015 L 284/1. 207 Vgl. WTO 2017, WTO’s Trade Facilitation Agreement enters into force, abrufbar unter https://www.wto.org/english/news_e/news17_e/fac_31jan17_e.htm [Stand: 31.12.2017]. 208 Cachet, GTCJ 2017, 74 (74). 209 In weiterer Folge wird exemplarisch nur die Regelung des Art. 1 TFA herausgegriffen. Überblicksmäßig können die Inhalte der Art. 2-12 TFA folgendermaßen skizziert werden: Nach Art. 2 TFA können sich Händler und andere interessierte Parteien in den Entstehungsprozess von Vorschriften involvieren, bevor ein Gesetz oder eine Vorschrift angewendet wird. Art. 2.1 und 2.2 TFA lässt Kommentierungen und gemeinsame Konsultationen zu. Art. 3 TFA verpflichtet die Zollbehörden, auf Nachfrage der Unternehmen zeitnah eine verbindliche Vorabauskunft zur Klassifizierung und zur Herkunft einer Ware mit allen relevanten Informationen innerhalb angemessener Zeit zu erteilen. Die zolltarifliche Einreihung einer Ware bestimmt z.B. die Höhe der Abgabensätze, die Höhe der EUSt, die Notwendigkeit einer Einfuhr- oder Ausfuhrgenehmigung oder die Vorlage eines Ursprungszeugnisses. Mit der verbindlichen Auskunft wird die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit des grenzüberschreitenden Warenverkehrs verbessert und Verzögerungen bei der Zollabwicklung reduziert. Nach Art. 6.1.2 und Art. 6.1.3 TFA sollen sämtliche Informationen, die Gebühren und Belastungen betreffen, in Übereinstimmung mit Art. 1 TFA in einer angemessenen Zeit vor dem Inkrafttreten der Gebühren und Belastungen veröffentlicht werden. Nach Art. 6.1.4 TFA soll jedes Mitglied regelmäßig die Gebührenhöhe überprüfen, um diese gegebenenfalls zu senken. Art. 6.2 TFA begrenzt die Gebühren auf eine für die Einfuhr oder Ausfuhr individuell erbrachte spezifische Dienstleistung. Art. 6.3 TFA modifiziert die Voraussetzungen des Art. VIII:3 GATT für Strafzahlungen bei Verletzungen von nationalen Zollvorschriften. Nach Art. 7.1 TFA sollen die WTO-Mitglieder sicherstellen, dass Dokumente und alle relevanten Informationen elektronisch vor Ankunft der Ware übermittelt werden können, um die Freigabe der Waren zu beschleunigen. Zusätzlich sollen gem. Art. 7.2 TFA Gebühren oder Steuern elektronisch entrichtet werden können. Sind Steuern oder sonstige Abgaben noch nicht entrichtet, kann eine Ware dennoch nach Art. 7.3 TFA durch den Zoll freigegeben werden. Nach Art. 7.4.1 TFA hat jedes Mitglied ein Risikomanagementsystem für entsprechende Zollkontrollen aufzubauen. Risikomanagementsysteme sind gem. Art. 7.4.2 TFA so auszugestalten, dass willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierungen oder eine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels vermieden werden. Die Zollkon­ trollen sollen gem. Art. 7.4.3 TFA vorrangig solche Sendungen betreffen, die ein hohes Risiko darstellen. Art. 7.4.4 TFA listet beispielhaft mögliche Kriterien für eine Risikobewertung auf. Weiters bestimmt Art. 7.5 TFA Maßnahmen zur nachträglichen Überwa-

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Das GATT als Wegweiser des internationalen Zoll- und Umsatzsteuerrechts

die Übergangsfristen und die technische Unterstützung für Entwicklungsländer und die am schwächsten entwickelten Länder bei der Umsetzung der Maßnahmen.210

chung von Waren zur Einhaltung von Zöllen und Vorschriften, um den Handel zu beschleunigen. Art. 7.7 TFA ermöglicht Erleichterungen für autorisierte Händler. Nach Art. 7.7.1-7.7.2 TFA gelten solche Händler als autorisiert, die spezifische Kriterien erfüllen und zusätzliche Erleichterungen bei der Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr erhalten. Art. 7.7.3 TFA zählt auf, wie autorisierte Händler besonders von erleichterten Voraussetzungen im Handelsverkehr profitieren. Hierbei werden gem. Art. 7.7.4 TFA die Mitglieder angehalten, bestimmte Schemata für autorisierte Händler auf Grundlage von internationalen Standards zu entwickeln. Zuletzt treffen Art. 7.8 TFA Maßnahmen für beschleunigte Versendungsverfahren und Art. 7.9 TFA Maßnahmen für verderbliche Waren. Art. 9 TFA verpflichtet die Mitgliedstaaten, den grenzüberschreitenden Warenverkehr dadurch zu beschleunigen, dass die notwendigen Kontrollen der Waren auch bei Zollstellen im Inland stattfinden können. Nach Art. 10.1 TFA soll der Umfang von Förmlichkeiten und Dokumentationspflichten bei der Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr reduziert werden. Zu überprüfen ist, ob die auferlegten Pflichten immer noch einen schnellen Warenhandel gewährleisten und darauf abzielen, Zeit und Kosten zu reduzieren. Daneben sind alternative Förmlichkeiten und Dokumentationspflichten zu prüfen. Kopien von benötigten Dokumenten sollen gem. Art. 10.2 TFA zukünftig akzeptiert werden. Nach Art. 10.3 TFA haben die Mitglieder die Förmlichkeiten und Verfahren bei der Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr von Waren zu standardisieren. Art. 10.3 TFA gibt jedoch noch keine verbindlichen Vorgaben für die internationalen Standards vor. Nach Art. 10.3.3 TFA obliegt es dem Ausschuss (Art. 23.1 TFA), verbindliche Standards zur Handelserleichterung festzulegen. Nach Art. 10.4.1 TFA sollen die Mitglieder ein „Single Window“ errichten, um den Datenund Dokumentenfluss über eine einheitliche Stelle abzuwickeln. Dieser Datenfluss soll möglichst elektronisch abgewickelt werden. Art. 10.5 und Art. 10.6 TFA regeln schließlich Vorversandkontrollen und Zollagenten. Art. 11 TFA bestätigt zunächst die Freiheit der Durchfuhr gem. Art. V GATT. Danach dürfen Durchfuhren nicht anders behandelt werden als diejenigen Waren, die direkt in das Bestimmungsland verbracht werden. Ergänzend zu Art. V GATT wurden neue Regelungen vereinbart, die u. a. die Mitgliedstaaten anhalten, den Transitverkehr bei der Zoll­ abwicklung physisch von den übrigen Importen zu trennen (Art. 11.5 TFA), die Formalitäten auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren (Art. 11.6 TFA), keine weiteren Kontrollen auf dem Transitwege durchzuführen (Art. 11.7 TFA), Vorabanmeldungen auch beim Transitverkehr zuzulassen (Art. 11.9 TFA), das Transitverfahren mit dem Verlassen der Ware aus dem Hoheitsgebiet unmittelbar zu beenden sowie alle Garantien zeitnah zurückzugeben (Art. 11.10 TFA). Art. 12 TFA regelt die Zusammenarbeit der Zollbehörden der WTO-Mitglieder untereinander. Kernziel ist, dass die Behörden enger zusammenarbeiten und sich zum Austausch von Informationen unter Sicherstellung der Vertraulichkeit der Informationen verpflichten. Die WTO-Mitglieder werden durch Art. 12.1.1 TFA ermutigt, die Entwicklung von Compliance-Systemen in den Unternehmen zu fördern. Diejenigen Unternehmen, die ein solches System freiwillig etablieren, sollen dadurch u. a. die Möglichkeit erhalten, unter gewissen Umständen unrichtige Angaben selbstständig und straflos zu korrigieren. Gleichzeitig können Staaten strengere Maßnahmen für nicht konforme Händler festlegen. 210 Auf die Art. 13-22 TFA wird in weiterer Folge nicht näher eingegangen.

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Art. 1 TFA regelt die Veröffentlichung und Verfügbarkeit von Informationen.211 Nach Art. 1.1 TFA sind sämtliche für den Handel notwendigen Informationen und Dokumente nicht nur den am Handel beteiligten Akteuren, sondern jeder interessierten Partei in einfacher Weise bereitzustellen. Im Unterschied zu Art. X:1 GATT können sich nicht nur Behörden und Unternehmen informieren, sondern alle interessierten Parteien.212 Dazu soll jedes WTO-Mitglied sicherstellen, dass gem. Art. 1.2 TFA Informationen auch über das Internet abgerufen werden können.213 Nach Art. 1.3 TFA sind weiters Auskunftstellen einzurichten, bei denen sich alle interessierten Parteien informieren können.214 Diese Auskunftsstellen müssen in einer angemessenen Zeit antworten. Nach Art. 1.4 TFA sollen zudem die WTO-Mitglieder den nach Art. 23.1 TFA einzurichtenden Ausschuss darüber informieren, wo die Informationen i. S. d. Art. 1.1–1.3 TFA oder die Kontaktdaten der Auskunftsstellen abrufbar sind. Art. X GATT enthielt eine solche Bestimmung über eine Notifizierung von Maßnahmen bisher nicht.215 7. Rechtsanwendungsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit Nach Art. X:3(a) GATT hat jeder Vertragspartner sämtliche Verwaltungsvorschriften, Gesetze sowie Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen, die nach Art. X:1 GATT zu veröffentlichen sind, einheitlich, unparteiisch und gerecht anzuwenden. Art. X:3(a) GATT fordert Rechtsanwendungsgleichheit.216 Die nach Art. X:3(a) GATT vorgeschriebene einheitliche, unparteiische und gerechte Verwaltungspraxis steht im Spannungsfeld zum dezentralen Verwaltungsvollzug und Rechtsschutz innerhalb der EU-Mitgliedstaaten.217 Im Streitbeilegungsverfahren „EC-Selected Customs Matter“218 wurde hinterfragt, ob die dezentrale Vollziehung des Zollrechts innerhalb der EU-Mitgliedstaaten mit Art. X:3(a) GATT in Einklang steht.219 Vorgebracht wurde, dass ein EU-Mitgliedstaat bei der Zollklassifizierung Verwaltungsvorschriften anwendete, die in anderen EU-Mitgliedstaaten nicht angewendet wurden, dass Zollklassifizierungen aus anderen EU-Mitgliedstaaten im betreffenden EU-Mitgliedstaat nicht anerkannt wurden und dass der betreffende EU-Mitgliedstaat innerstaatlich die Vorschriften über den Zollwert unterschiedlich anwendete.220 Letztlich wurden diese 211 Zeugner (Fn. 205), 15. 212 Zeugner (Fn. 205), 15. 213 Vergleichbare Bestimmungen zur Veröffentlichung von Informationen enthält Kyoto II, allerdings beschränkt sich das TFA auf grundlegende Verfahrensbeschreibungen, Zollverfahren, Dokumentenerfordernisse und Auskunftsstellen. Damit soll eine allgemeine Verfügbarkeit und Abrufbarkeit von Informationen sichergestellt werden. 214 Zeugner (Fn. 205), 15. 215 Zeugner (Fn. 205), 16. 216 Dierksmeier, EG-Zollrecht im Konflikt mit dem Recht der WTO (2007) 26. 217 Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 63 und § 15 Rz. 142. 218 Panel Report, European Communities - Selected Customs Matters, WT/DS315/R. 219 Weiß, ZfZ 2009, 150 (156); Tietje in Tietje (Fn. 16), § 3 Rz. 63; Appellate Body Report, European Communities - Selected Customs Matters, WT/DS315/AB/R. 220 Weiß, ZfZ 2009, 150 (156); Panel Report, European Communities - Selected Customs Matters, WT/DS315/R, Rz. 7.276, 7.380 ff.

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Kritikpunkte durch den Appellate Body nicht bestätigt.221 Art. X:3(a) GATT verpflichtet die WTO-Mitglieder zwar zur einheitlichen Rechtsanwendung, jedoch nicht zur Schaffung einer zentralen Zollverwaltung.222 Art. X:3(a) GATT lässt Unterschiede in der Zollverwaltung z. B. aufgrund unterschiedlicher Ermessensübung zu, solange daraus nicht auf systematische, zwangsläufige Uneinheitlichkeit geschlossen werden kann.223 Darüberhinaus setzt ein Verstoß gegen Art. X:3(a) GATT voraus, dass unterschiedliche Verwaltungspraktiken den Handel wesentlich beeinflussen.224 Umsatzsteuerlich kann aufgrund der Kritik an der dezentralen Vollziehung des Zollrechts hinterfragt werden, inwieweit die Anwendung unterschiedlicher Steuersätze in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten in Einklang mit Art. X:3(a) GATT steht.225 Zwar widerspricht eine unterschiedliche Ermessensübung noch nicht der Vorgabe einer einheitlichen Rechtsanwendung i. S. d. Art. X:3(a) GATT, jedoch ist die Anwendung unterschiedlicher Steuersätze durch das Wahlrecht des Art. 98 MwSystRL dem unionsrechtlichen Umsatzsteuersystem inhärent. Danach kann ein EU-Mitgliedstaat auf die Einfuhr eines Gegenstands einen ermäßigten Steuersatz anwenden. Ein anderer EU-Mitgliedstaat kann die Einfuhr desselben Gegenstands jedoch dem Normalsteuersatz unterwerfen. Durch das Wahlrecht des Art. 98  MwSystRL ist damit eine zwangsläufige Uneinheitlichkeit bei der Anwendung der Steuersätze innerhalb der vorgegebenen Bandbreite innerhalb der Zollunion vorprogrammiert226, die der Vorgabe des Art. X:3(a) GATT nach einer einheitlichen Rechtsanwendung zuwiderläuft. Ein heterogenes Umsatzsteuersatzsystem innerhalb der Zollunion ist damit über ein  Harmonisierungsproblem227 hinaus auch ein völkerrechtliches Problem i.  S.  d. Art. X:3(a) GATT. Art. X:3(b) GATT enthält weitere Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit. Jeder Vertragspartner hat danach Gerichte, Verwaltungsgerichte oder Schiedsgerichte oder Instanzen aufrechtzuerhalten oder ehestmöglich einzusetzen, die unverzüglich die auf dem Zollgebiet getroffenen Verwaltungsmaßnahmen überprüfen und berichtigen. Diese Gerichte oder Instanzen sollen von den ausführenden Verwaltungsbehörden unabhängig sein. Eine Berufung muss innerhalb angemessener Frist möglich sein. Ein Verstoß gegen Art. X:3(b) GATT liegt beispielsweise vor, falls ein WTO-Mitglied keine unabhängigen Gerichte oder Verfahren zur raschen Überprüfung von zollrechtlichen Entscheidungen vorsieht oder einführt.228 221 Weiß, ZfZ 2009, 150 (156). 222 Weiß, ZfZ 2009, 150 (156). 223 Weiß, ZfZ 2009, 150 (156). 224 Appellate Body Report, European Communities - Selected Customs Matters, WT/DS315/ AB/R, Rz. 4.562. 225 Weerth, ZFZ 2008, 178 (183) prüft die unterschiedlichen Steuersätze zwar nicht vor dem Hintergrund des GATT, beurteilt ihre Divergenz aber als „Problem der Zollunion“. 226 Vgl. auch Henze in Englisch/Nieskens (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2010 (2011) 7 (10). 227 Vgl. de la Feria, VAT and the EC internal market: the shortcomings of harmonisation (2009) 1 (28). 228 Appellate Body Report, Thailand  – Customs and fiscal measures on cigarettes from the Philippines, WT/DS371/AB/R.

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Nach  Art. 4.1 TFA gewährleisten die WTO-Mitglieder in zollrechtlichen Verwaltungsakten Rechtsmittel und Rechtsschutz für jede Person. Während Art. X:3(b) GATT offenlässt, wem der Anspruch eines Rechtsmittels zusteht, hält Art. 4.1 TFA fest, dass „jeder Person“ eine behördliche oder gerichtliche Überprüfung eines Verwaltungsaktes ermöglicht werden soll.229 Dies spricht dafür, dass Art. X:3(b) GATT einen Anspruch auf Rechtsmittel für jedermann vorsieht.230 Nach Art. X:3(c) erster Satz GATT sind vorhandene innerstaatliche Regeln, die die Anforderungen des Art. X:3(b) GATT nicht vollständig erfüllen, nicht zu ersetzen. Die Vertragsparteien müssen aber nach Art. X:3(c) zweiter Satz GATT die anderen Mitglieder auf Antrag über das eigene Vorgehen informieren, damit diese die Einhaltung des Art. X:3(b) GATT überprüfen können. 8. Rechtfertigung von GATT-Verstößen Die WTO-Mitglieder können zur Verfolgung wichtiger politischer oder sozialer Ziele von den GATT-Grundsätzen abweichen.231 Grundlegende Vorschrift für die Rechtfertigung von Verstößen gegen GATT-Grundsätze ist Art. XX GATT.232 Art. XX GATT zählt zulässige Abweichungen auf233 und definiert einen Zwei-Stufen-Test: Zunächst muss das von einer Maßnahme verfolgte Ziel unter Art. XX GATT fallen, also eines der in Art. XX:a–j GATT genannten Schutzgüter betreffen und die Maßnahme zur Zielerreichung notwendig sein.234 Zu den Schutzgütern zählen u. a. die öffentliche Moral235, die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen236, Kulturgüter237, natürliche Ressourcen238 oder die Vollziehbarkeit von Gesetzen und Verwaltungspraktiken.239 Zusätzlich zu den in Art. XX:a–j GATT aufgezählten Schutzgütern definiert die Präambel („Chapeau“) zu Art. XX GATT die allgemeinen Anforderungen für ein Abweichen von den GATT-Grundsätzen.240 Von den Grundsätzen des GATT darf somit nur dann abgewichen werden, wenn eine Ausnahme des Art. XX:a–j GATT vorliegt und die allgemeinen Voraussetzungen der Präambel erfüllt sind.241 Die allge229 Zeugner (Fn. 205), 17. 230 Zeugner (Fn. 205), 17. 231 Bender in Hilf/Oeter (Fn. 10), § 9 Rz. 66. 232 Englisch (Fn.  77), 668; zur Entstehungsgeschichte des Art. XX GATT vgl. Thiedemann, WTO und Umwelt (2004) 11 ff. 233 Dierksmeier, EG-Zollrecht im Konflikt mit dem Recht der WTO (2007) 251. 234 Appellate Body Report, Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef, WT/DS161/AB/R, WT/ DS 169/AB/R, Rz. 135 ff.; Appellate Body Report, EC - Measures Affecting Asbestos and Asbestos Containing Products, WT/DS 135/AB/R, Rz. 192. 235 Art. XX:a GATT. 236 Art. XX:b GATT. 237 Art. XX:f GATT. 238 Art. XX:g GATT. 239 Art. XX:d GATT. 240 Herrmann in H/W/O (Fn. 8), § 12 Rz. 523; Terhechte, JuS 2004, 1054 (1055). 241 Appellate Body Report, United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline, WT/DS2/AB/R, 22; Appellate Body Report, United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R, Rz. 118 ff.

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meinen Voraussetzungen der Präambel sollen sicherstellen, dass die in Art. XX:a–j GATT aufgezählten Ausnahmen nicht zu einer willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung oder einer verschleierten Handelsbeschränkung führen.242 Der Diskriminierungsbegriff der Präambel zu Art. XX GATT unterscheidet sich von den Diskriminierungsbegriffen der Art. I oder Art. III GATT.243 Sichergestellt werden soll eine ausgewogene Balance zwischen den eingegangenen Verpflichtungen einerseits und dem Recht der Mitglieder andererseits, sich auf die Ausnahmen der Art. XX:a–j GATT zu berufen. Überprüft wird die Anwendung der Maßnahme, nicht aber das gesetzliche Regelwerk, auf dem diese beruht.244 Es ist grundsätzlich zulässig, dass z. B. ausländische Waren aus administrativen Gründen anders behandelt werden als inländische Waren, sofern eine solche unterschiedliche Behandlung durch besondere Gründe gerechtfertigt ist.245 Die Präambel beinhaltet eine Kooperationspflicht nach „Treu und Glauben“ zwischen den einzelnen Mitgliedern, die grundsätzlich multilaterale Maßnahmen anstreben sollen.246 Alternative Maßnahmen müssen vom betroffenen WTO-Mitglied nur dann angewendet werden, wenn sie diesem vernünftigerweise zur Verfügung stehen.247 Die Ausnahmen der Art. XXI GATT betreffen die nationale Sicherheit. Hierunter fallen beispielsweise Maßnahmen, die mit spaltbaren Stoffen in Zusammenhang stehen oder die auf Verpflichtungen auf der Grundlage der UN-Charta beruhen oder die sich auf den Handel mit militärischen Gütern beziehen. Nach der „escape clause“ des Art. XIX GATT können die WTO-Mitglieder zum Schutz einheimischer Wirtschaftszweige besondere Notmaßnahmen gegenüber Einfuhren treffen, falls Waren in solchen Mengen und unter solchen Bedingungen eingeführt werden, dass den inländischen Produkten ein ernsthafter Schaden droht.248 Die Anwendung dieser Ermächtigung ist aber an besondere Verfahrensvorschriften gebunden. Ein Staat, der solche Notmaßnahmen setzen will, muss grundsätzlich die betroffenen WTO-Mitglieder informieren. Nach dem „Agreement on Safeguards“249 besteht eine zeitliche Grenze zwischen vier und acht Jahren für die Aufrechterhaltung solcher Maßnahmen und können die betroffenen Drittstaaten entweder Gegenmaßnahmen ergreifen oder Schadenersatz verlangen.

242 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 12 Rz. 534 f. 243 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 12 Rz. 536. 244 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 12 Rz. 536. 245 Herrmann in H/W/O (Fn. 4), § 12 Rz. 536. 246 Appellate Body Report, US – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R. 247 Wenn diese Maßnahmen sehr kostenintensiv sind, stellen sie keine geeignete Alternative dar; vgl. hierzu Appellate Body Report, US-Measures Affecting the Cross-Border Supply of Gambling and Betting Services, WT/DS285/AB/R, Rz. 308. 248 Vgl. Panel Report, United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Certain Steel Products, WT/DS248/R, Rz. 10.36 ff. 249 Das Agreement on Safeguards ist ein im Anhang 1A zum WTO-Übereinkommen enthaltenes multilaterales Übereinkommen zum Warenhandel.

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Nach der Verzichtsklausel (waiver clause) des Art. XXV:5 GATT können die WTO-­ Mitglieder mit 2/3-Mehrheit in außergewöhnlichen Situationen ein anderes WTO-­ Mitglied von seinen GATT-Verpflichtungen befreien und diesem WTO-Mitglied einseitige Schutzmaßnahmen erlauben.

IV. Ergebnis Das GATT lässt die Erhebung einer Umsatzsteuer auf die Einfuhr von Gegenständen zu, sofern diese nicht wie ein Zoll oder eine zollgleiche Abgabe wirkt. Wesentliches Kriterium ist die Integration der Einfuhrbesteuerung in das innere Umsatzsteuersystem. Ergeben sich zwischen den eingeführten ausländischen Gegenständen und den Lieferungen der inländischen Gegenstände unterschiedliche Besteuerungsergebnisse, sind diese am Grundsatz der Inländerbehandlung nach Art. III GATT zu prüfen. Dieser verbietet jegliche umsatzsteuerliche Höherbelastung von eingeführten ausländischen Gegenständen gegenüber gleichartigen inländischen Gegenständen sowie die umsatzsteuerliche Protektion inländischer Gegenstände gegenüber eingeführten ausländischen Konkurrenzwaren. Weiters dürfen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eingeführte ausländische Gegenstände am Inlandsmarkt nicht ungünstiger sein als für gleichartige inländische Gegenstände. Der Grundsatz der Meistbegünstigung i. S. d. Art. I GATT verpflichtet die WTO-Mitglieder dazu, jeden umsatzsteuerlichen Vorteil, der bei der Einfuhr eines Gegenstands aus einem WTO-Land oder Nicht-WTO-Land gewährt wird, auf die Einfuhren aus sämtlichen anderen WTO-Ländern auszudehnen. Haben die WTO-Mitglieder allerdings eine Zollunion gebildet, so müssen die umsatzsteuerlichen Vorteile, die innerhalb der Zollunion gewährt werden, nicht auf die Nicht-Mitglieder der Zollunion ausgedehnt werden. Allerdings sind die WTO-Mitglieder einer Zollunion weiterhin dazu verpflichtet, die umsatzsteuerlichen Vorteile, die ein WTO-Mitglied einer Zollunion einem anderen Nicht-Mitglied der Zollunion gewährt, auch allen anderen Nicht-Mitgliedern der Zollunion zu gewähren. Das GATT steht weiters der Erhebung einer Umsatzsteuer auf die Durchfuhr von Gegenständen entgegen, bestimmt den Zollwert als umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage der Einfuhr und verpflichtet zu einer umfassenden Information über die auf die Einfuhr von Gegenständen angewendeten Umsatzsteuersätze sowie über die Ermittlungsmethoden der umsatzsteuerlichen Bemessungsgrundlage. Über die Informationsbereitstellung hinaus enthält das GATT den Grundsatz der einheitlichen Rechtsanwendung. Dieser Grundsatz verbietet zwar keine unterschiedlichen umsatzsteuerlichen Verwaltungspraktiken zwischen den Mitgliedstaaten einer Zollunion, schließt jedoch Vorschriften aus, die zwangläufig zu einer uneinheitlichen Rechtsanwendung führen.

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Beschränkung und Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen – unter besonderer Berücksichtigung der neueren rechtlichen Entwicklungen Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Grundsätzliche Zulässigkeit einer Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer 1. Vereinbarkeit einer Beschränkung mit dem Völkerrecht 2. Vereinbarkeit einer Beschränkung mit dem Europäischen Unionsrecht a) Schutz ausländischer Investitionen durch die Grundfreiheiten b) Schutz ausländischer Investitionen durch die Unionsgrundrechte 3. Vereinbarkeit einer Beschränkung mit dem nationalen Verfassungsrecht a) In Betracht kommende Grund­ rechte b) Beschränkung der Grundrechte und Rechtfertigung einer Beschränkung III. Kompetenz zur Beschränkung des ­Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer





1. Unionsrechtliche Kompetenzen a) Kompetenzgrundlagen b) Geplante handelspolitische ­Maßnahmen 2. Mitgliedstaatliche Kompetenzen

IV. Regelungen des deutschen Außen­ wirtschaftsrechts 1. Entwicklung der Beschränkungs­ normen 2. Sektorübergreifende Prüfung von ­Unternehmenserwerben a) Gegenstand der Prüfung b) In Betracht kommender Erwerberkreis c) Maßstab der Prüfung d) Behördliche Benachrichtigungen und Meldepflicht e) Unbedenklichkeitsbescheinigung f) Eröffnung und Durchführung des Prüfungsverfahrens g) Rechtsfolgen

V. Fazit

I. Einleitung Im Jahre 2016 kam der Augsburger Roboterhersteller KUKA AG ins Gerede, weil der chinesische Midea-Konzern sich anschickte, den deutschen Hochtechnologiekonzern zu übernehmen.1 Hiergegen regte sich erheblicher Widerstand. Der „Ausverkauf “ zukunftsträchtiger deutscher Spitzenunternehmen durch chinesische Investoren könne nicht länger hingenommen werden. So habe die chinesische Wirtschaft allein im Jahre 2015 Firmenübernahmen im Wert von 12,6 Mrd. Dollar in Deutschland eingefä-

1 Das Übernahmeangebot von der MECCA INTERNATIONAL (BVI) LIMITED, einer Tochter des Midea-Konzerns, wurde am 18.5.2016 veröffentlicht.

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delt.2 Auch fehle es an der Einhaltung fairer Wettbewerbsbedingungen. Beispielsweise handelten die chinesischen Käufer vielfach auf Anweisung und/oder mit finanzieller Unterstützung ihres Staates.3 Ferner gebe es keine Reziprozität, weil deutsche Investoren, die sich in China betätigen wollen, in der Regel zu Joint Ventures mit einer Kapitalbeteiligung von oftmals nur 49 % gezwungen würden. Verwiesen wird auch auf das Beispiel anderer Staaten4, die sehr viel stringenter den Schutz ihrer Wirtschaft betreiben sollen – so die Vereinigten Staaten von Amerika durch das dort zur Entscheidung über Unternehmenskäufe berufene „Committee on Foreign Investment in the United States“ (CFIUS)5. Demgegenüber ist insbesondere von den Wirtschaftsverbänden, verschiedenen Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern darauf hingewiesen worden, dass gerade Deutschland mit seiner überaus starken Exportwirtschaft auf eine Freiheit der Märkte angewiesen ist, die Internationalisierung nicht zurückgenommen werden dürfe und Protektionismus der falsche Weg sei. Zudem sicherten ausländische Investitionen sowohl den Zugang zu dringend benötigtem Kapital als auch Arbeitsplätze in Deutschland. Mittlerweile ist die Unternehmensübernahme der KUKA AG durch Midea erfolgt. Nachdem die Werbung des Bundesministers für Wirtschaft und Energie für ein Gegenangebot der deutschen oder europäischen Wirtschaft zum Ankauf von KUKA keinen Widerhall gefunden hatte, sah dieser nach einer Vorprüfung keinen Anlass mehr, ein förmliches Prüfverfahren einzuleiten. Abgeschlossen werden konnte die Übernahme aber erst, nachdem auch die US-amerikanische Behörden (CFIUS und Directorate of Defense Trade Controls, DDTC) ihre Zustimmung erteilt hatten. Diese war davon abhängig gemacht worden, dass KUKA zuvor sein Flugzeugindustrie-Geschäft in Amerika an ein amerikanisches Unternehmen verkauft. Dies zeigt zugleich, dass ausländische Unternehmenskäufe wegen der regelmäßig grenzüberschreitenden

2 Nach Angaben der EU erreichten die Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen in der EU im Jahre 2015 fast 470 Mrd. Euro. Die Anteile von Brasilien und China haben von 0,2 bzw. 0,3 % im Jahre 1995 auf 2,2 bzw. 2,0 % im Jahre 2015 zugenommen. Wesentlich höher liegt die Quote der Investoren aus den Ländern USA, Schweiz und Kanada. Insgesamt werden nur 0,4 % der EU-Unternehmen von Investoren aus Nicht-EU-Ländern kontrolliert. Allerdings sind diese Unternehmen im Schnitt wesentlich größer als die Unternehmen, die im Eigentum von EU-Investoren stehen. Sie machen rund 13 % des Gesamtumsatzes, 11 % der Wertschöpfung und 6 % der Gesamtbeschäftigung in der EU aus. Vgl. COM (2017) 494, S. 3 ff. 3 Zur Rolle der Staatsfonds vgl. Schäfer in Schäfer/Bläschke, Die Aktivitäten von Staatsfonds in Deutschland, Hans-Böckler-Stiftung, S. 32 ff. Ferner Martini, DÖV 2008, 314 ff. 4 In der EU existieren nur in nicht ganz der Hälfte der Mitgliedstaaten Regelungen über die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen. Vgl. COM (2017) 494, S. 8. 5 Rechtsgrundlage ist das Exon-Florio Amendment zum Defense Production Act von 1950 (50 U.S.C. App. 2170 i.d.F. des Foreign Investment and National Security Act von 2007). Näher dazu Metzger, RIW 2014, 794  ff.; Heinrich/Jalinous, AG 2017, 526  ff.; Seibt/Kulenkamp, ZIP 2017, 1345 ff. (die darauf hinweisen, dass es zwar eine hohe Zahl von CFIUS-Verfahren gibt, in denen bisher aber nur 3 Untersagungen ausgesprochen wurden, weil die beteiligten Unternehmen oftmals von dem Erwerb des Unternehmens nach Einleitung eines Verfahrens Abstand nehmen).

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Beschränkung und Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen

Betätigung bedeutender Unternehmen oftmals nicht nur das Land betreffen, in dem sich der Hauptsitz des Unternehmens befindet. Das Beispiel KUKA ist kein Einzelfall.6 Vielmehr handelt es sich bei dem Erwerb oder der beabsichtigten Übernahme inländischer Unternehmen durch Ausländer in marktwirtschaftlich ausgerichteten Industriestaaten um einen Vorgang, der zur Tagesordnung gehört. Im Folgenden soll den dabei auftauchenden vielfältigen Rechtsfragen nachgegangen werden. Dass dies auch im Interesse des Jubilars liegt, dem sich der Autor vor allem aus langjähriger Zusammenarbeit im Zentrum für Außenwirtschaftsrecht der Universität Münster und der gemeinsamen Veranstaltung von 18 Außenwirtschaftsrechtstagen und 12 Exportkontrolltagen verbunden weiß, darf vorausgesetzt werden. Gegenstand der Ausführungen sind nicht die Bestandschutzregelungen von Auslands­ investitionen, sondern nur die den Marktzugang gewährleistenden und begrenzenden Vorschriften. Zunächst wird die grundsätzliche Zulässigkeit einer Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer – jeweils einschließlich ausländischer Unternehmen  – untersucht (II.). Sodann wird das Augenmerk auf die Kompetenz zur Beschränkung des Erwerbs (III.) und die Regelungen des deutschen Außenwirtschaftsrechts (IV.) gelenkt. Ein Fazit schließt die Ausführungen ab (V.). Wegen der Komplexität der angesprochenen Materie und des nur begrenzt zur Verfügung stehenden Raums muss es mit einem Überblick sein Bewenden haben. Weitgehend ausgespart bleibt die Übernahme von Rüstungsunternehmen. Besonders berücksichtigt werden sollen aber die neueren rechtlichen Entwicklungen.

II. Grundsätzliche Zulässigkeit einer Beschränkung des Erwerbs ­inländischer Unternehmen durch Ausländer Eine Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer ist nur rechtmäßig, wenn sie mit dem vorrangig geltenden Recht vereinbar ist. Sperrwirkungen könnten sich aus dem Völkerrecht (1.), dem Europäischen Unionsrecht (2.) sowie dem nationalen Verfassungsrecht (3.) ergeben.

6 Ähnlich spektakulär war in jüngerer Zeit z.B. der Versuch der Grand Chip Investment GmbH, einer Tochtergesellschaft des chinesischen Investmentfonds Fujian Grand Chip Investment, den Hersteller von Anlagen für die Halbleiterindustrie AIXTRON SE zu übernehmen. Der Versuch scheiterte an dem US-amerikanischen Verbot der Übernahme des US-Geschäfts (nachdem zuvor das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie – vermutlich wegen Informationen der US-Sicherheitsbehörden  – eine Unbedenklichkeitsbescheinigung nach § 58 AWV widerrufen und eine Wiederaufnahme des Prüfverfahrens angekündigt hatte).

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1. Vereinbarkeit einer Beschränkung mit dem Völkerrecht Das Völkerrecht geht weder dem Primärrecht der Europäischen Union noch dem deutschen Verfassungsrecht vor7, während sich dies für das einfache Recht anders darstellen kann.8 Doch ist sowohl das Unionsrecht als auch das nationale Recht einschließlich des Europäischen Primärrechts und des Verfassungsrechts grundsätzlich völkerrechtsfreundlich auszulegen, selbst wenn es erst nach Inkrafttreten eines völkerrechtlichen Rechtssatzes erlassen worden sein sollte.9 Mittelbar kommt dem Völkerrecht auf diesem Wege somit doch ein – wenn auch begrenzter – Vorrang zu. Eine universell geltende allgemeine Garantie der Außenwirtschaftsfreiheit und damit auch des Marktzugangs von Ausländern kennt das Völkerrecht nicht.10 Dementsprechend stehen jedenfalls das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts einer Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen nicht entgegen. Der völkerrechtliche Eigentumsschutz erfasst zwar das Erworbene und schützt damit den Veräußerer vor direkten oder indirekten Enteignungen, garantiert aber keinen Marktzugang für Auslandsinvestitionen.11 Nichts anderes gilt für den durch Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleisteten Eigentumsschutz.12 Als ergiebiger erweisen sich die speziell auf die Wirtschaft bezogenen völkerrechtlichen Verträge. Das gilt zunächst für das Welthandelsrecht (WTO-Recht). Während sich das Übereinkommen über handelsbezogene Investitionsmaßnahmen13 (TRIMs) nur auf den Warenverkehr bezieht, erfasst das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen14 (GATS) auch grenzüberschreitende Dienstleistungserbringungen „mittels kommerzieller Präsenz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds“15 und damit den Marktzugang16 sowie die Inländer(gleich)behandlung17. Eine Beeinträchtigung ist unter anderem gegeben, wenn die Anzahl der Dienstleistungserbringer18 oder die Beteiligung ausländischen Kapitals durch prozentuale Höchstgrenzen19 beschränkt wer 7 Für das Unionsrecht ergibt sich dies aus dem Gegenschluss zu Art. 218 Abs. 11 S. 2 AEUV, für das Verfassungsrecht aus Art. 25, 59 Abs. 2 GG. 8 Vgl. Art. 216 Abs. 2 AEUV; 25 GG. 9 Vgl. EuGH v. 10.9.1996  – Rs. C-61/94  – Kommission/Deutschland, Slg. 1996, I-3989, Rz. 52; v. 14.7.1998 – Rs. C-284/95 – Safety Hi-Tech Srl, Slg. 1998, I-4301, Rz. 22; BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (317); 112, 1 (26 f.); 128, 326 (368 ff.). 10 Allgemein zur völkerrechtlichen Außenwirtschaftsfreiheit Epping, Die Außenwirtschaftsfreiheit, 1998, S. 596 ff. 11 Schill, AöR 135 (2010), 498 (524). 12 Zum Schutz von Unternehmensbeteiligungen vgl. Kaiser in Karpenstein/Mayer, Konven­ tion zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 1 ZP I, Rz. 21. Vgl. ferner zum Eigentumsschutz: II. 2 b) und 3 a). 13 ABl. EG 1994 L 336/100. 14 ABl. EG 1994 L 336/191. 15 Art. 1: 2 lit. c) GATS. 16 Art. XVI GATS. 17 Art. XVII GATS. 18 Art. XVI: 2 lit. a) GATS. 19 Art. XVI: 2 lit. f) GATS.

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den, was vollständige Verbote einschließt. Hierbei ist indessen zu berücksichtigen, dass nach dem Positiv-Listen-Ansatz des GATS20 Verpflichtungen nur entstehen, wenn sie von den Vertragsparteien übernommen worden sind. Soll der Erwerb inländischer Unternehmen durch Ausländer beschränkt werden, wird die Vertragspartei im Normalfall eine entgegenstehende vorherige Verpflichtung nicht eingehen. Hinzu kommt, dass Eingriffe in die GATS-Verpflichtungen unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt werden können. So sind Beschränkungen für den Handel mit Dienstleistungen unter der Voraussetzung, dass die Maßnahmen nicht in einer Weise angewendet werden, die ein Mittel zur willkürlichen oder unberechtigten Diskriminierung unter Ländern, in denen gleiche Bedingungen herrschen, oder eine versteckte Beschränkung für den Handel mit Dienstleistungen darstellen würden, insbesondere zulässig, wenn sie dazu dienen die öffentliche Moral oder öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, d.h. eine „wirkliche, ausreichend schwerwiegende Bedrohung der Grundwerte der Gesellschaft“ abzuwenden.21 Ferner erlaubt Art. XIVbis Maßnahmen der Vertragsmitglieder, die diese zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen für notwendig erachten. Schließlich haben private Investoren aus dem Ausland keine Möglichkeit, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, da die Streit­beilegungsgremien der WTO nur von Mitgliedern (Staaten und der Europäischen Union) angerufen werden können. Multilaterale Verpflichtungen, Ausländer bei der Beteiligung an inländischen Unternehmen mit Inländern grundsätzlich gleich zu behandeln, enthalten auch die vom Ministerrat der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Beschlüsse mit bindender Wirkung22 für die 35 Mitgliedstaaten verabschiedeten Kodizes über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs23 und des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs24. Doch werden die Vertragsstaaten nicht daran gehindert, die Maßnahmen „for the maintenance of public order or the protection of public health, morals and safety, the protection of essential security interests or the fulfillment of its obligations relating to international peace and security” zu treffen.25 Zudem gibt es keinerlei Art von Rechtsschutz. In den bilateralen Investitions(schutz)abkommen ist zum Teil ein Zugangsrecht für Auslandsinvestitionen vorgesehen worden. So berechtigt Art. VII lit. b) des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika26 ausländische Staatsangehörige und Gesellschaften – von bestimmten Ausnahmen abgesehen27 – dazu, Mehrheitsbeteili20 Vgl. statt vieler Ohler in Herrmann/Weiß/Ohler (Hrsg.), Welthandelsrecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 862; Krajewski in Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht I, 3. Aufl. 2012, § 6 Rz. 11. 21 Art. XIV, lit. a) GATS m. Fn. 1. 22 Vgl. Art. 5 lit. a) des Übereinkommens über die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BGBl. 1961 II, S. 1150. 23 Art. 2 lit. a) i.V.m. Annex Code of Liberalisation of Capital Movements. 24 Art. 2 lit. a) i.V.m. Annex Code of Liberalisation of Current Invisible Operations. 25 Art. 3 der Codes. 26 BGBl. 1956 II, S. 487. 27 Vgl. Art. VII Abs. 2 des Vertrages.

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gungen an Gesellschaften des anderen Vertragsteils zu erwerben. Grundsätzlich enthalten die Investitionsschutzverträge aber kein vom nationalen Recht losgelöstes völkerrechtliches Zugangsrecht für Auslandsinvestitionen.28 Beispielsweise soll nach Art. 2 Abs.  1 des Deutschen Mustervertrages 200929 über die Förderung und den ­gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen jeder Vertrag zwar nach Möglichkeit in ­seinem Hoheitsgebiet Kapitalanlagen von Investoren des anderen Vertragsstaats fördern, lässt diese Kapitalanlagen aber nur „in Übereinstimmung mit seinen Rechts­ vorschriften“ zu. Der im Vertrag vorgesehenen völkerrechtlichen Schiedsgerichtsbarkeit bleibt dann nur die Überprüfung, ob im Einzelfall die nationalen Regelungen richtig angewendet worden sind.30 Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Wirtschaftsvölkerrecht zwar bestrebt ist, den Erwerb inländischer Unternehmen durch Ausländer zuzulassen31, die bestehenden Regelungen aber sehr lückenhaft sind und den Staaten ein breiter Spielraum belassen wird, der für Beschränkungen genutzt werden darf. 2. Vereinbarkeit einer Beschränkung mit dem Europäischen Unionsrecht Weiterhin muss eine Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem Unionsrecht vereinbar sein. Sperrwirkung können insbesondere die – dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV vorgehenden32  – Grundfreiheiten der Union (a) sowie daneben unter Umständen auch die Unionsgrundrechte (b) entfalten. a) Schutz ausländischer Investitionen durch die Grundfreiheiten Nach Art. 345 AEUV lassen die Unionsverträge zwar die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten unberührt. Doch führt dies nicht dazu, dass die Eigentumsordnungen den Grundprinzipien der Union entzogen sind.33 Dementsprechend wird der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nicht eingeschränkt.

28 Vgl. auch Martini, DÖV 2008, 314 (321 - Investitionsschutzverträge schützen ausschließlich die bereits getätigte, nicht die geplante Investition); Schill, AöR 135 (2010), 498 (533); Pottmeyer in Wolffgang/Simonsen/Rogmann, AWR-Kommentar, Außenwirtschaftsverordnung, §§ 55-59 Rz. 66 (Erg.-Lfg. 2016). 29 Der Mustervertrag 2009 ist abrufbar unter http://www.iilcc.uni-koeln.de/fileadmin/institute/ iilcc/Dokumente/matrechtinvest/VIS_Mustervertrag.pdf, vgl. auch IPrax 2011, 206. Zur Kompetenz für den Abschluss von Freihandelsabkommen vgl. nunmehr Art. 207 Abs. 1 AEUV; EuGH v. 16.5.2017 – C-2017/376, ECLI:EU:C:2017:376 – Gutachten 2/15. 30 Schill, AöR 135 (2010), 498 (533). 31 Vgl. auch die Leitsätze der G20-Staaten für die Gestaltung globaler Investitionspolitik, Anhang III, abrufbar unter http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/july/tradoc_154790. pdf. 32 Vgl. Art. 18 Abs. 1 AEUV (unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge). 33 EuGH v. 16.5.2017 – C-2017/376, ECLI:EU:C:2017:376 – Gutachten 2/15, Rz. 107.

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aa) In Betracht kommende Grundfreiheiten Der grenzüberschreitende Erwerb von Unternehmen wird teils von der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), teils von der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) geschützt. Art. 49 AEUV verbietet Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats. Gleichgestellt sind die Gesellschaften (Art. 49 Abs. 2 i.V.m. 54 Abs. 2 AEUV). Erfasst werden gem. Art. 49 Abs. 2 AEUV unter anderem die Gründung und Leitung von Unternehmen. Dazu gehört auch die Unternehmensübernahme.34 Die Kapitalverkehrsfreiheit bezieht sich auf „alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs“ und damit auch auf Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einem Unternehmen.35 Obwohl beide Grundfreiheiten somit den Unternehmenserwerb betreffen, weicht der Schutzbereich in verschiedener Hinsicht voneinander ab. So erstreckt sich die Niederlassungsfreiheit wegen des Erfordernisses einer selbständigen Tätigkeit – im Gegensatz zur Kapitalverkehrsfreiheit – nicht auf Portfolioinvestitionen, d.h. Investitionen, die getätigt werden, ohne dass eine Einflussnahme auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens beabsichtigt ist.36 Entscheidend ist nicht nur die Absicht, vielmehr muss ein Unternehmen oder ein Anteilseigner einen die Tätigkeit des Unternehmens bestimmenden Einfluss erlangen (also zumindest einen Kontrollerwerb).37 Personell können sich auf die Niederlassungsfreiheit nur Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sowie diejenigen Gesellschaften berufen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden sind und eine spezifische Unionsbindung in Gestalt ihres satzungsmäßigen Sitzes, ihrer Hauptverwaltung oder ihrer Hauptniederlassung innerhalb der Union haben (Art. 54 Abs. 1 AEUV).38 Die Anknüpfungspunkte für die Ansässigkeit sind alternativ.39 Somit können sich zwar nicht die in einem Drittland gegründeten Gesellschaften, wohl aber ihre im Unionsgebiet gegründeten und hier integrierten Tochtergesellschaften auf die Niederlassungsfrei-

34 Labitzke, Die Beschränkung von Auslandsinvestitionen in deutsche Rüstungsunternehmen, 2011, S. 90. 35 Vergleiche auch RL 88/361/EWG mit Anhang I, Rubrik I (Direktinvestition einschließlich der Beteiligung an neuen oder bereits bestehenden Unternehmen). Zur Zulässigkeit einer Konkretisierung des Begriffs Kapitalverkehr nach Maßgabe des Sekundärrechts vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-367/98 – Kommission/Portugal, Slg. 2002, I-4731, Rz. 37; v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99  – Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I-4731, Rz.  36; v. 4.6.2002  – Rs. C-503/99 – Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-4731, Rz. 37; v. 2.6.2005 – Rs. C-174/04 – Kommission/Italien, Slg. 2005, I-4933, Rz. 27; v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05 – Kommission/ Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rz. 18. 36 Zum Begriff der Portfolioinvestition vgl. EuGH v. 16.5.2017  – C-2017/376, ECLI:EU:C:2017:376 – Gutachten 2/15, Rz. 227. 37 Vgl. auch Korte in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 49 AEUV Rz. 35. 38 Vgl. dazu Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 54 AEUV Rz. 7, 10; Tiedje in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 54 Rz. 32. 39 Vgl. Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 54 AEUV Rz. 15 (2011).

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heit berufen.40 Unerheblich ist die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter oder Geschäftsführer.41 Dagegen geht der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit weiter, weil Art. 63 Abs. 1 AEUV nicht nur Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ verbietet. Die Abgrenzung oder Zuordnung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ist weder in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch im Schrifttum eindeutig geklärt.42 Nicht selten ist eine verdrängende Wirkung der einen oder anderen Freiheitsgewährleistung angenommen worden.43 Grundsätzlich schließen sich die Grundfreiheiten aber auch dann, wenn es sich um einen einheitlichen Vorgang handelt, schon wegen ihrer unterschiedlichen Normzwecke nicht aus, sodass sie im Überschneidungsbereich nebeneinander anwendbar sind, es sei denn, dass die Handlungsweise nach dem Schwerpunkt eindeutig einer Grundfreiheit zuzuordnen ist.44 Ein solch eindeutiger Schwerpunkt lässt sich im Falle einer Beschränkung des Erwerbs von Unternehmen nicht feststellen. Dies spricht für eine parallele Anwendung beider Grundfreiheiten, soweit es nicht nur um Portfolioinvestitionen oder Drittlandunternehmen geht, die von der Niederlassungsfreiheit nicht erfasst werden. Umstritten ist, ob der Schutzumfang der Kapitalverkehrsfreiheit in Bezug auf den Rechtsverkehr mit Drittländern von vorneherein geringer als im Fall des Verkehrs zwischen den Mitgliedstaaten zu veranschlagen ist.45 Hierfür könnte geltend gemacht werden, dass es insoweit nicht um die Verwirklichung des Binnenmarktes geht und Außenstehende ohne Reziprozitätserfordernis und ohne Einflussmöglichkeit auf den Rechtsetzungsprozess in Drittstaaten durch Einbeziehung in subjektive Rechtgewährleistungen eine privilegierte Stellung erhalten.46 Doch findet eine solch einengende 40 Unselbständige sekundäre Niederlassungen (Zweigstellen, Agenturen) sind bei Erfüllung der Ansässigkeitskriterien zwar wie die gleichgestellten Gesellschaften nach Art. 54 Abs. 1 AEUV zu behandeln. Doch kommt ein Erwerb inländischer Unternehmen durch rechtlich unselbständige Untergliederungen einer ausländischen Gesellschaft nicht in Betracht. Vgl. auch § 55 Abs. 2 S. 3 AWV, wonach Zweigniederlassungen und Betriebsstätten eines unionsfremden Erwerbers nicht als unionsansässig i.S.d. sektorübergreifenden Prüfung von Unternehmenserwerbungen gelten. 41 Vgl. auch Müller-Graff (Fn. 38), Art. 54 AEUV Rz. 10. 42 Vgl. von Wilmowsky in Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 12 Rz. 51 ff.; Korte (Fn. 37), Art. 49 AEUV Rz. 35; Bröhmer in Calliess/Ruffert (Fn. 37), Art. 63 AEUV Rz. 18 ff. 43 Vgl. für den Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit EuGH v. 6.6.2000  – Rs.  C-35/98  – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071; ebenso v. 11.9.2014  – C-47/12, ECLI:EU:C:2014:2200 – Kronos, NJW 2015, 222; andererseits für die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit EuGH v. 8.3.2001  – Rs. C-397/98  – Metallgesellschaft, Slg. 2001, I-1727. 44 Vgl. Ehlers in Ehlers (Fn. 42), § 7 Rz. 76. 45 Vgl. EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-101/05 – Skatteverket/A, Slg. 2007, I-11531, Rz. 31, 37; v. 13.11.2012 – C-35/11, ECLI:EU:C:2012:707 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Rz. 100. 46 Bröhmer in Callies/Ruffer (Fn. 37), Art. 63 AEUV Rz. 35.

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Schutzbestimmung des Drittlandverkehrs im Wortlaut des Art. 63 AEUV keinen Anklang. Soweit Unterschiede zwischen dem Binnenmarkt- und Drittlandverkehr bestehen, beurteilt sich die Rechtmäßigkeit von Beschränkungsmaßnahmen nach den Rechtfertigungsgründen. bb) Beeinträchtigung der Grundfreiheiten und ihre Rechtfertigung Die Grundfreiheiten der Europäischen Union enthalten Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote.47 Wird der Erwerb inländischer Unternehmen durch Ausländer einer benachteiligenden Sonderregelung unterstellt, liegt sowohl eine Diskriminierung als auch eine Beschränkung (jedenfalls der Kapitalverkehrsfreiheit) vor. Nach Art. 52 Abs. 1 und 65 Abs. 1 lit. b) Alt. 3 AEUV dürfen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit unter anderem aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beeinträchtigt werden. Beide Begriffe sind unionsrechtlich auszulegen und eng zu verstehen. Einerseits muss ein Grundinteresse der Gesellschaft betroffen sein, andererseits eine qualifizierte Gefährdung vorliegen.48 Ferner dürfen die Grundfreiheiten über die geschriebenen Beschränkungsmöglichkeiten hinaus auch durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls begrenzt werden.49 Eine wirtschafts-, arbeitsmarkt- oder finanzpolitische Zwecksetzung – zum Beispiel Stärkung der nationalen Wirtschaft oder Sicherung einheimischer Arbeitsplätze – reicht nicht aus.50 Schließlich müssen die getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sein51 und den Erfordernissen der Rechtssicherheit52 genügen. Soweit die Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig und der Verkehr mit dritten Ländern betroffen ist, sind die Unterschiede im Vergleich zum Kapitalverkehr innerhalb der Union – wie ausgeführt53 – bei der Auslegung der Rechtfertigungsgründe zu berücksichtigen.54 Zur Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen kann jeder Mitgliedstaat der Union nach Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV die seines Erachtens erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Doch dürfen diese Maßnahmen auf dem Binnenmarkt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten 47 Ehlers (Fn. 42), § 7 Rz. 24 ff. 48 Zur Beschränkung vgl. EuGH v. 13.5.2003  – Rs. C-463/00  – Kommission/Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rz. 34; v. 10.11.2011 – C-212/09, ECLI:EU:C:2011:717 – Kommission/Portugal, ZIP 2012, 221, Rz. 83; v. 8.11.2012 – C-244/11, ECLI:EU:C:2012:694 – Kommission/ Griechenland, EuZW 2013, 29, Rz. 67. 49 Grundlegend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. C-120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, Rz. 8. 50 Vgl. auch Art. 65 Abs. 3 AEUV; ferner z.B.: Hasselbrink, GmbHR 2010, 512 (516); Seibt/ Wollenschläger, ZIP 2009, 833 (839); Pottmeyer (Fn.  28), §§  55-59 AWV Rz.  43; Stein/ Thoms, Außenwirtschaftsgesetz, 2014, § 4 AWG Rz. 9; Simonsen in Wolffgang/Simonsen/ Rogmann (Fn. 28), § 4 AWG Rz. 78. Vgl. auch Art. 65 Abs. 3 AEUV. 51 Vgl. statt vieler Craig/de Búrca, EU Law, 6. Aufl. 2015, S. 556 ff. (563). 52 Vgl. EuGH v. 14.3.2000 – Rs. C-54/99 – Église de Scientologie, Slg. 2000, I-1335, Rz. 21 f.; v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 – Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rz. 50.; Schäfer/ Voland, EWS 2008, 166 (171). 53 II. 2. a) aa). 54 Von Wilmowsky (Fn. 42), § 12 Rz. 49.

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Waren nicht beeinträchtigen. Die wesentlichen Sicherheitsinteressen können sowohl der äußeren wie der inneren Sicherheit entstammen.55 Die Bestimmung des Art. 346 AEUV wird zum Teil als Kompetenzvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten in der Außen- und Sicherheitspolitik angesehen.56 Doch hat der EuGH zu Recht angenommen, dass sich aus Art. 346 AEUV kein allgemeiner, dem Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten lässt, der jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnimmt.57 Dementsprechend ist davon auszugehen, dass Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV einen kompetenziellen und inhaltlichen Rechtfertigungsgrund für mitgliedstaatliche Maßnahmen enthält.58 b) Schutz ausländischer Investitionen durch die Unionsgrundrechte Neben den Grundfreiheiten können auch die Unionsgrundrechte Schutzwirkungen zugunsten von Investoren entfalten, die einen Erwerb inländischer Unternehmen anstreben. Ein solcher Schutz kann sich insbesondere aus den Art. 15 bis 17 GRCh er­ geben. Das Verhältnis von Art. 15 und 16 GRCh zueinander ist nicht hinreichend geklärt. Vieles spricht dafür, dass jedenfalls die durch Art. 16 geschützte unternehmerische Freiheit als lex specialis der durch Art. 15 garantierten Berufsfreiheit anzusehen ist.59 Der Europäische Gerichtshof scheint die Berufswahl Art. 15 GRCh, die Modalitäten selbständiger Berufstätigkeit Art. 16 GRCh zuordnen zu wollen.60 Auf die Wirtschaftsgrundrechte kann sich „jede Person“ unter Einschluss von juristischen Personen und Personenvereinigungen berufen.61 Somit sind auch ausländische Unternehmen aus Drittländern Grundrechtsträger. Jedoch ergibt sich aus keiner der ­genannten Grundrechtsgewährleistungen ein Recht von Drittstaatsangehörigen auf Zutritt zum Binnenmarkt.62 Wohl aber wird nach Art. 17 GRCh das Recht der inländischen Unternehmer geschützt, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum in das Ausland zu verkaufen. Weitere Schutzwirkungen können sich aus der Garantie der Vereinigungsfreiheit (Art. 12 GRCh) und den Gleichheitssätzen ergeben (Art. 20 und 21 GRCh), die ebenfalls Jedermannsrechte verbürgen. Den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte regelt Art. 51 Abs.  1 GRCh. Wie noch zu zeigen sein wird (III. 1. b)) schränkt die Union den Erwerb von Unternehmen 55 Wegener in Calliess/Ruffert (Fn. 37), Art. 346 AEUV Rz. 4. 56 Wolffgang, DVBl. 1996, 277 (278); a.A. Reuter, RIW 1996, 719 (720). 57 EuGH v. 4.3.2010 – Rs. C-38/06 – Kommission/Portugal, Slg. 2010, I-1569, Rz. 62. 58 Vgl. auch Richter, Die Rüstungsindustrie im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2007, S.  50  ff.; Labitzke (Fn.  34), S.  42  ff.; Karpenstein in Schwarze, EU-Kommentar, Art. 346 AEUV Rz. 2. 59 Str., wie hier Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 16 Rz. 4a. Vgl. auch Vosgerau in Stern/Sachs, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 16 Rz. 20. 60 Vgl. EuGH v. 30.6.2016  – C-134/15, ECLI:EU:C:2016:498  – Lidl, Rz.  26; vgl. dazu auch Germelmann/Gundel, BayVBl. 2017, 649 (654). 61 Art. 16 GRCh regelt die Grundrechtsberechtigung nicht ausdrücklich. Doch kann diese nicht anders als in den verwandten Normierungen der Art. 15 und 17 GRChr bestimmt werden (jede Person). 62 Vgl. Jarass (Fn. 59), Art. 16 GRCh Rz. 10 f.

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durch Ausländer – abgesehen von eher am Rande liegenden sektoralen Vorschriften – bisher nicht ein. Dies dürfte sich in Zukunft allerdings ändern (II. 1. b)). Verpflichtungsadressaten der Unionsgrundrechte sind ferner die Mitgliedstaaten, wenn sie das Recht der Union durchführen. Durchgeführt wird das Unionsrecht, wenn es das Handeln der Mitgliedstaaten anleitet.63 Das ist auch der Fall, wenn die Grundfreiheiten eingeschränkt werden und es um das unionsrechtlich zulässige Ausmaß der Beschränkung geht.64 Auch wenn die Beschränkung der Grundfreiheiten „im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen“ zu erfolgen hat (Art. 52 Abs.  2 GRCh), schließen sich Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte nicht aus. Vielmehr sind die Schranken der Grundfreiheiten auch im Lichte der Unionsgrundrechte zu bestimmen.65 3. Vereinbarkeit einer Beschränkung mit dem nationalen Verfassungsrecht a) In Betracht kommende Grundrechte Begrenzt deutsches Recht den Erwerb inländischer Unternehmen durch Ausländer, schränkt dies zwar den nach §  1 Abs.  1 S.  1 AWG einfachgesetzlich normierten Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit ein. Doch gibt es keine Selbstbindung des Gesetzgebers, sodass die Rechtmäßigkeit gesetzlicher Beschränkungen nicht am Maßstab des einfachen Rechts, sondern der Verfassung – namentlich der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips – zu messen sind. Schutzwirkungen entfalten auch auf nationaler Ebene vor allem die wirtschaftsbezogenen Freiheitsgrundrechte. Der Erwerb von Unternehmen berührt die berufliche Vertrags- und Dispositionsfreiheit sowie die Veräußerung und die Nutzung des bzw. Verfügungsbefugnis über das Eigentum(s). Den einschlägigen Grundrechtsschutz vermitteln die Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG. Bei der Abgrenzung der beiden genannten Verfassungsnormen stellt das Bundesverfassungsgericht darauf ab, ob der Schwerpunkt eher auf dem Erwerb (dann Art. 12 GG) oder dem Erworbenen liegt (dann Art. 14 GG).66 Wiederum dürfte sich kein relevanter Schwerpunkt ausmachen lassen, weil es sowohl auf den Erwerber als auch auf den Veräußerer ankommt, sodass von einer Idealkonkurrenz auszugehen ist.67 Soweit Art. 12 Abs. 1 GG einschlägig ist, wird die Berufsausübung (nicht Berufswahl) tangiert. Der ausländische Investor kann sich vor Erwerb der inländischen Unternehmensanteile nicht auf Art. 14 Abs. 1 GG berufen, vielmehr ist der Anwendungsbereich der Vorschrift erst eröffnet, wenn Eigentum bereits rechtmäßig erworben wurde und aufgrund hoheitlicher Anordnung wieder rückübereignet werden muss68 oder

63 Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1434). 64 Vgl. Ehlers (Fn. 42), § 14 Rz. 75. 65 Vgl. Ehlers (Fn. 42), § 14 Rz. 23. 66 Vgl. BVerfGE 88, 366 (377); 102, 26 (40); 126, 112 (135). 67 Zur grundsätzlichen Zulässigkeit einer Idealkonkurrenz vgl. BVerfGE 50, 290 (361 f.); 128, 1 (82). 68 Vgl. auch Schäfer/Voland, EWS 2008, 166 (168).

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wenn die Eigentumsnutzung anderweitig beschränkt wird. 69 Art. 12 Abs. 1 (i.V.m. Art. 19 Abs. 3) GG schützt wegen der Einwirkung des Unionsrechts neben den Deutschen und inländischen juristischen Personen zwar auch die EU-Bürger und juristische Personen aus den EU-Staaten70 im Anwendungsbereich des Unionsrechts, nicht aber die sonstigen Ausländer (und ausländische juristische Personen). Das gilt zumal dann, wenn es sich um juristische Personen des öffentlichen Rechts (wie z.B. Staatsfonds) handelt. Anderes dürfte wiederum für die Tochtergesellschaften von privaten Unternehmen aus Drittländern mit Sitz in einem anderen EU-Staat anzunehmen sein. Zudem werden die Ausländer (nicht aber die ausländischen juristischen Personen) durch die in Art. 2 Abs.  1 GG garantierte allgemeine Handlungsfreiheit geschützt71 (mag dieser Schutz auch geringer ausgeprägt sein als bei Deutschen und EU-Bürgern bzw. juristischen Personen aus EU-Staaten). Neben den Wirtschaftsgrundrechten sind Art. 3 GG und 9 GG zu berücksichtigen. Art. 3 GG wird als Jedermannsgrundrecht, Art. 9 GG als Deutschengrundrecht garantiert. Juristischen Personen aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union kann aus den gleichen Gründen wie im Fall des Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG die Berufung auf diese Grundrechte nicht versagt werden. Für die sonstigen juristischen Personen aus dem Ausland greift wiederum die Sperrwirkung des Art. 19 Abs. 3 GG ein. b) Beschränkung der Grundrechte und Rechtfertigung einer Beschränkung Ein Eingriff in die Freiheitsgrundrechte liegt zum einen vor, wenn der Erwerbsvorgang imperativ beschränkt wird (z.B. durch Meldegebote, eine Verpflichtung zur Vorlage von Unterlagen, eine Untersagung des Erwerbs oder durch den Erlass von sonstigen Anordnungen72). Zum anderen kann der Grundrechtsgebrauch auch durch eine lediglich mittelbar-faktische Nachteilszufügung beeinträchtigt werden.73 Letzteres trifft jedenfalls auf die bezweckten schwerwiegenden Behinderungen der Grundrechtsausübung zu. Die genannten Wirtschaftsgrundrechte werden nicht vorbehaltslos gewährleistet, lassen also gesetzliche Beschränkungen zu, wobei es auf die Gewichtigkeit der verfolgten Gemeinwohlbelange und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit ankommt. 69 A.A. Kloepfer, Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz, 1970, S. 46 ff. (wonach das Erwerbsrecht als Entsprechung des Veräußerungsrechts von Art. 14 Abs.  1 GG erfasst wird). 70 BVerfGE 129, 78 (97). Nach der Rspr. des BVerfG kann sich auch eine erwerbswirtschaftlich tätige inländische juristische Person des Privatrechts, die vollständig von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union getragen wird, wegen der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in Ausnahmefällen auf die Eigentumsfreiheit berufen. Vgl. BVerfG, NJW 2017, 217 (218 ff.). 71 Zur Anwendung von Art. 2 Abs. 1 GG auf Ausländer im Schutzbereich derjenigen Freiheitsrechte, die allein Deutschen zustehen, vgl. statt vieler Jarass in Jarass/Pieroth, 14. Aufl. 2016, Art. 2 GG Rz. 7. 72 Vgl. §§ 55 Abs. 4, 57, 59 Abs. 1 AWV. 73 Allgemeine Auffassung. Vgl. Sachs in Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Vor Art. 1 Rz. 83 ff.

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Art. 3 Abs. 3 GG verbietet eine auf die „Heimat“ oder „Herkunft“ abstellende Benachteiligung. Eine staatsangehörigkeitsbezogene Differenzierungen und damit eine unterschiedliche Behandlung von inländischen und ausländischen Investoren wird davon jedoch nicht erfasst.74 Doch müssen sachliche Gründe die nach Art. 3 Abs. 1 GG zu beurteilende Ungleichbehandlung rechtfertigen. Da Personengruppen und nicht nur Gegenstände ungleich behandelt werden, genügt eine bloße Willkürprüfung nicht. Vielmehr sind erhöhte Anforderungen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu stellen.75 Schließlich müssen Beschränkungen des Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip76 ergebenden Bestimmtheitsgebot77 genügen, was für den Erlass von Rechtsverordnungen in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG eine Präzisierung erfahren hat.

III. Kompetenz zur Beschränkung des Erwerbs inländischer ­Unternehmen durch Ausländer Die Kompetenz für eine Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen durch Ausländer kann im Unionsgebiet von vornherein nur der Europäischen Union oder dem betroffenen Mitgliedstaat zustehen. 1. Unionsrechtliche Kompetenzen a) Kompetenzgrundlagen Nach dem in Art. 5 Abs. 2 EUV normierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, welche die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Verfügt die Union über eine Zuständigkeit, kann es sich um eine ausschließliche (Art. 3 AEUV), geteilte (Art. 4 AEUV) oder parallele (Art. 4 Abs. 3, 4; 209 Abs. 2 AEUV) handeln. Im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit ist gem. Art. 2 Abs. 1 AEUV nur die Union ermächtigt, gesetzgeberisch tätig zu werden und verbindliche Rechtsakte zu erlassen. Die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur tätig werden, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden, oder wenn sie Rechtsakte der Union durchführen. Zur ausschließlichen Zuständigkeit der Union gehört die gemeinsame Handelspolitik (Art. 3 Abs. 1 lit. e) AEUV) und der Abschluss internationaler Übereinkünfte nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 2 AEUV. Die in das auswärtige Handeln der Union einge-

74 Vgl. auch Schill, AöR 135 (2010), 498 (512 m. Nachw. in Fn. 68). 75 Allgemein zum Prüfprogramm des BVerfG Osterloh/Nußberger in Sachs (Fn. 73), Art. 3 GG Rz. 8 ff. 76 Vgl. insbesondere Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG. 77 Vgl. z.B. BVerfGE 31, 255 (264); 81, 70 (88); 87, 287 (317 f.); 131, 88 (123).

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bundene78 gemeinsame Handelspolitik erstreckt sich nach Art. 207 Abs.  1 AEUV auch auf Regelungen für „ausländische Direktinvestitionen“ (nicht für Portfolioinvestitionen79) und damit ebenfalls auf den Marktzugang von Ausländern. Die handelspolitische Kompetenz zur Regelung von Direktinvestitionen ist der Europäischen Union erstmalig im Vertrag von Lissabon verliehen worden, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Mangels entgegenstehender Vorschriften gelten die zuvor erlassenen unionsrechtskonformen mitgliedstaatlichen Regelungen weiter.80 Dies ist mittlerweile für die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Investitions(schutz)verträge (die nunmehr weitestgehend in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen) anerkannt81, muss aber auch ansonsten gelten. Doch könnten die nach dem 1. Dezember 2009 erlassenen nationalen Regelungen über ausländische Direktinvestitionen mangels einer Kompetenz der Mitgliedstaaten als ungültig, jedenfalls unanwendbar anzusehen sein.82 Dies hängt von der Reichweite der Unionskompetenzen für Direktinvestitionen ab. Gem. dem Prinzip der Einheit der Unionsverträge sind alle Vertragsbestimmungen so zu interpretieren, dass sie anderen Bestimmungen nicht widersprechen. Grenzen der Unionskompetenz nach Maßgabe des Art. 207 AEUV ergeben sich zunächst aus den Art. 346, 347 AEUV, die den Mitgliedstaaten ungeachtet der sonstigen Vorschriften der Verträge das Recht geben, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen zu wahren.83 Werden die tatbestandlichen Voraussetzungen eingehalten, tritt Art. 207 AEUV zurück.84 Im Übrigen kommt es maßgeblich auf das Verhältnis der handelspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union zu den Vorschriften über die Grundfreiheiten, insbesondere über die Kapitalverkehrsfreiheit an. Wie ausgeführt85 gestattet Art. 65 Abs. 1 lit. b) Alt. 3 AEUV den Mitgliedstaaten, die Kapitalverkehrsfreiheit auch im Verhältnis zu Drittländern einzuschränken, um die unerlässlichen Maßnahmen treffen zu können, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind. Dagegen sieht Art. 207 AEUV eine solche Kompetenz der Mitgliedstaaten nicht 78 Vgl. die Überschrift des Fünften Teils Titel I AEUV. 79 Vgl. EuGH v. 16.5.2017 – C-2017/376, ECLI:EU:C:2017:376 – Gutachten 2/15, Rz. 225 ff. 80 In Deutschland die §§ 4 f. AWG; 55 ff. AWV. 81 Vgl. VO (EU) Nr. 1219/2012. Nach Art. 2 der VO sind alle von Mitgliedstaaten mit Drittstaaten abgeschlossenen bilateralen Investitionsverträge der Kommission zu notifizieren. Gem. Art. 3 der VO würden die bilateralen Investitionsschutzabkommen nach Notifizierung aufrechterhalten werden oder in Kraft treten, bis ein bilaterales Investitionsschutzabkommen zwischen der Union und demselben Drittland in Kraft tritt. Näher zum Ganzen Boysen in von Arnauld (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen, 2014, § 9 Rz. 29; Bungenberg, ebenda, § 13 Rz. 19 ff. 82 Zur Unterscheidung von Unanwendbarkeit und Ungültigkeit mit dem Unionsrecht kollidierenden mitgliedstaatlichen Rechts im Falle einer fehlenden Kompetenz der Mitgliedstaaten vgl. Ehlers in Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 2 Rz. 117. 83 Vgl. Wolffgang, DVBl. 1996, 277 (278). 84 Vgl. auch II. 2. a) bb). 85 II. 2. a) bb).

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vor.86 Denkbar wäre es, Art. 207 AEUV als speziellere Norm anzusehen. Doch würde dann Art. 65 Abs. 1 lit. b) Alt. 3 AEUV für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern vollständig verdrängt werden. Dies wird der Einheit der Unionsverträge nicht gerecht. Zudem wäre es systemwidrig, wenn die Mitgliedstaaten im Binnenmarkt Beschränkungen vorsehen dürfen, die im Außenverkehr nicht gelten. Die Gefahr, dass die ausschließlichen handelspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union ausgehöhlt werden, lässt sich durch die ohnehin gebotene restriktive Bestimmung der den Mitgliedstaaten zugestandenen Handlungsmöglichkeiten nach Art. 65 Abs. 1 lit. b) Alt. 3 AEUV begegnen, sodass für eine gemeinsame Handelspolitik der Union ausreichend Raum bleibt. Hinzu kommt, dass nach Art. 207 Abs. 6 AEUV die Ausübung der durch diesen Artikel übertragenen Zuständigkeiten im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik keine Auswirkungen auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten haben soll. Dies wird man dahingehend zu verstehen haben, dass die im Vertrag vorgesehenen Abgrenzungen von Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten unangetastet bleiben.87 Im Ergebnis werden somit die Beschränkungsbefugnisse der Mitgliedstaaten nach Art. 65 Abs.  1 lit. b) Alt. 3 AEUV im Drittlandsverkehr durch die erweiterten handelspolitischen Kompetenzen der Union nicht verdrängt. Hiervon gehen auch die Kommission der Euro­päischen Union88 und die Mitgliedstaaten89 aus. Soweit neben der Kapitalverkehrsfreiheit auch die Niederlassungsfreiheit berührt wird – was nur der Fall ist, wenn Erwerber aus der Europäischen Union betroffen sind (z.B. die in der Union ansässigen Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen90) –, geht es schon tatbestandlich nicht um die das auswärtige Handeln der Union regelnde gemeinsame Handelspolitik. b) Geplante handelspolitische Maßnahmen Unberührt bleibt die Möglichkeit der Europäischen Union von ihren handelspolitischen Zuständigkeiten  – oder anderen Kompetenzen, wie nach Art. 50 oder 215 AEUV – Gebrauch zu machen. Art. 207 AEUV lässt nach Absatz 2 autonome Maßnahmen und nach Absatz 3 (i.V.m. Art. 218 AEUV) vertragliche Abmachungen mit Drittländern zu. Nicht geklärt ist das Verhältnis zu Art. 64 Abs. 2 AEUV. Vieles spricht dafür, Art. 207 AEUV für die Regelung von Direktinvestitionen als speziellere Norm

86 Vgl. Weiß in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn.  39), Art. 207 AEUV Rz.  75 (Oktober 2016). Näher zur ausschließlichen Zuständigkeit für ausländische Direktinvestitionen Herrmann, EuZW 2010, 207 ff. 87 So auch ausdrücklich Beuttenmüller, Ritsumeikan Law Review 2011, 281 (289); ebenso Labitzke (Fn. 34), S. 84. Vgl. auch BGHSt 54, 275 Rz. 102; Simonsen in Wolffgang/Simonsen/ Rogmann (Fn. 28), § 4 Rz. 2, 13. 88 COM (2017) 487, S. 5. 89 Vgl. das Schreiben der Wirtschaftsminister aus Deutschland, Italien und Frankreich im Februar 2017 an die Kommission der EU, Proposals for ensuring an improved level playing field in trade and investment, abrufbar unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Down​ loads/E/eckpunktepapier-proposals-for-ensuring-an-improved-level-playing-field-in-­ trade-and-investment.pdfblob=publicationFile&v=4. 90 Vgl. II. 2. a) aa).

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anzusehen.91 Doch kommt es hierauf im vorliegenden Kontext nicht entscheidend an. Von vereinzelten, zumeist sektorspezifischen Vorschriften abgesehen92 hat die Europäische Union bisher keine Bestimmung über den Erwerb inländischer Unternehmen durch Ausländer erlassen. Doch haben sich der deutsche, der französische und italienische Wirtschaftsminister am 13. Februar 201793 an die Union mit dem Anliegen gewandt, dass der Unionsgesetzgeber tätig wird, „in order to prohibit foreign investments which threatens public security and public order”. Die gegenwärtigen mitgliedstaatlichen Initiativen seien nicht ausreichend.94 Im März 2017 haben zehn Abgeordnete des Europäischen Parlaments aus den Ländern Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Polen und Rumänien der Europäischen Kommission eine Gesetzesinitiative zugeleitet, die in dieselbe Richtung ging.95 Am 10. Mai 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission das Reflexionspapier „Die Globalisierung meistern“96, das neben dem Bekenntnis für eine offene Welthandelsordnung eine Untersuchung über die Regulierung ausländischer Investitionen ankündigte. Sowohl der Europäische Rat97 als auch das Europäische Parlament98 haben die Initiative begrüßt. Am 13. September 2017 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Europäischen Union – neben einer Mitteilung der Kommission über die Offenheit für ausländische Direktinvestitionen bei gleichzeitigem Schutz grundlegender Unionsinteressen99  – vorgelegt.100 Die Mitgliedstaaten können (müssen aber nicht) einen Überprüfungsmechanismus für die ausländischen Direktinvestitionen aus Gründen der „Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“ vorsehen (Art. 3 Abs. 1). Welche Faktoren berücksichtigt werden können, wird beispielhaft erläutert (Art. 4). Abgestellt werden darf auch darauf, ob der ausländische Investor von der Regierung eines Drittlands kontrolliert wird (auch in Form beträchtlicher Finanzausstattung). Ferner soll geregelt werden, welche grundlegenden Anforderungen der Überprüfungsmechanismus erfüllen muss (z.B. Transparenz, Nichtdiskriminierung zwischen 91 Ebenso Cottier/Trinberg in von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn.  38), Art. 207 AEUV Rz. 65. 92 Vgl. COM (2017) 487, S. 10; COM (2017) 494, S. 9 f. 93 Vgl. Fn. 89. 94 Vorgeschlagen wird eine Intervention “where the decision for the envisaged direct in­ vestment by third country does not comply with market rules (e.g. through investment instructions; through state-funded takeovers based on political programmes; through the requirement for state approval for investments) or the envisaged direct investment is made possible or is facilitated by state subsidies and this results in a market disturbance (e.g. through government loans which do not reflect market conditions)”. Im August 2017 haben die genannten Länder die Vorschläge in einem Konzeptpapier konkretisiert. 95 B[8-0000/2017]. 96 COM (2017) 240. 97 Schlussfolgerungen EUCO 8/17 Rz. 17. 98 Vgl. Entschließung v. 5.7.2017, Europäisches Parlament 2014-2019, B[8-0000/2017] v. 20.3.2017. 99 COM (2017) 494. 100 COM (2017) 487. Vgl. auch die Rede von EU-Kommissionspräsident Juncker zur Lage der Union 2017 v. 13.9.2017, abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-poli​ tical/files/state-union-2017-brochure_de.pdf.

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den Drittländern, Fristenbestimmungen, Schutz vertraulicher Informationen, Rechtsschutz101). Vorgesehen ist eine Notifizierung der Überprüfungsmechanismen und eine jährliche Berichterstattung (Art. 7) sowie ein Kontrollmechanismus zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission sowie den Mitgliedstaaten untereinander, mit dessen Hilfe sich die Genannten gegenseitig über die Überprüfungsmaßnahmen benachrichtigen (Art. 8). Die Kommission soll aus Gründen der Sicherheit oder öffentlichen Ordnung selbst solche ausländischen Direktinvestitionen (und nicht nur die mitgliedstaatlichen Maßnahmen) überprüfen dürfen, die sich auf Projekte oder Programme von Unionsinteresse auswirken „dürften“ (Art. 3 Abs. 2): insbesondere wenn EU-Mittel in erheblicher Höhe oder zu einem wesentlichen Anteil bereitgestellt werden oder Rechtsvorschriften der Union in Bezug auf kritische Infrastrukturen und Technologien oder Ressourcen einschlägig sind. Es ist jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt102 damit zu rechnen, dass die wesentlichen Grundzüge des Verordnungsvorschlages in das geltende Recht überführt werden. 2. Mitgliedstaatliche Kompetenzen Soweit mitgliedstaatliche Beschränkungsmaßnahmen in Betracht kommen, liegt die Gesetzgebungskompetenz in Deutschland nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG dafür in den Händen des Bundes. Zum „Zahlungsverkehr mit dem Ausland“ i.S.d. Vorschrift gehört nach zutreffender Ansicht des Bundesverfassungsgerichts103 jedenfalls kraft Sachzusammenhangs auch der (gesamte) Kapitalverkehr und damit die Regelung grenzüberschreitender Unternehmensbeteiligungen.

IV. Regelungen des deutschen Außenwirtschaftsrechts 1. Entwicklung der Beschränkungsnormen Das im Außenwirtschaftsgesetz von 1961104 erstmals kodifizierte deutsche Außenwirtschaftsrecht bekennt sich zwar zum Grundsatz der Freiheit des Außenverkehrs (I.  3. a)), regelt im Übrigen aber zugleich und vor allem die Zulässigkeit von Beschränkungen dieses Verkehrs. Bereits das Gesetz von 1961 ermöglichte eine Abwehr schwerwiegender Einwirkungen aus fremden Gebieten (§  6) und Beschränkungen zum Schutz der Sicherheit und der auswärtigen Interessen (§ 7). Durch das 2004 erlassene Elfte Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung105 wurde für den Erwerb von Unternehmen, die Kriegswaffen oder bestimmte andere strategisch bedeutsame Rüstungsgüter herstellen oder entwickeln, eine Beschränkungsmöglichkeit vorgesehen (§ 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 AWG a.F.). 101 Vgl. Art. 6 des VO-Vorschlags. 102 Manuskriptabschluss im Oktober 2017. 103 BVerfGE 110, 33 (47 f.). Vgl. auch Uhle in Maunz/Dürig, Art. 73 GG Rz. 113 (April 2010), wonach sich der Zahlungsverkehr auf sämtliche Formen grenzüberschreitender Geldbewegungen bezieht. 104 BGBl. I, S. 481. 105 BGBl. I, S. 1859.

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Im Jahre 2009 sind die Beschränkungsbefugnisse erweitert und nunmehr auch auf den Erwerb von Unternehmen unabhängig von der Wirtschaftsbranche bezogen worden (§ 7 Abs. 2 Nr. 6 AWG a.F.).106 Nach dem Erlass des neuen Außenwirtschaftsgesetzes vom 6.6.2013107 finden sich die einschlägigen Regelungen nunmehr in den §§ 4 bis 7 AWG, wobei die §§ 6 und 7 AWG das Vorgehen mittels eines Verwaltungsaktes betreffen. Gem. der grundlegenden Vorschrift des §  4 Abs.  1 AWG können durch Rechtsverordnungen Rechtsgeschäfte und Handlungen unter anderem beschränkt werden, um die wesentlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten (Nr.  1) oder die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland i.S.d. Art. 36, 52 Abs. 1 und des Art. 65 Abs. 1 AEUV zu gewährleisten (Nr. 4). Präzisierend normiert § 5 Abs. 2 AWG die Zulässigkeit von Beschränkungen des Erwerbs inländischer Unternehmen bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit und § 5 Abs. 3 AWG die Zulässigkeit von Beschränkungen des Erwerbs zwecks Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen. Das Nähere regelt die Außenwirtschaftsverordnung, die anknüpfend an die Absätze 2 und 3 des § 5 AWG zwischen der sektorübergreifenden (§§ 55-59 AWV) und der sektorspezifischen (§§ 60-62 AWV) Prüfung unterscheidet. Der sektorspezifischen Prüfung unterfallen die rüstungs- bzw. wehrtechnischen Unternehmen. Die Bundesregierung und der Bundesrat haben die Auffassung vertreten, dass die bisherigen Beschränkungsnormen nicht ausreichen. Nachdem sich die Wirtschaftsminister von Deutschland, Italien und Frankreich im Februar 2017 an die Euro­ päische Union mit dem Ziel gewandt haben, unionsrechtliche Beschränkungsvorschriften zu erlassen108, verabschiedete der Bundesrat am 16.3.2017 eine Entschließung, wonach die Kontroll- und Untersagungsmöglichkeiten am Grundsatz der Reziprozität festgemacht sowie Direktinvestitionen auch dann geprüft und untersagt werden sollen, wenn letztere nicht in erster Linie von marktwirtschaftlichen Überlegungen getrieben sind, sondern etwa von staatlichen und strategischen Vorgaben zum Ankauf von Schlüsseltechnologien oder wenn sie staatlich subventioniert werden.109 Die Bundesregierung hat zwar mit Erlass der 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 14.7.2017110 das Investitionsprüfungsrecht an die ge­ stiegenen Herausforderungen angepasst, aber weder das Thema Reziprozität des Marktzugangs noch dasjenige der Einführung von Prüfkriterien im Falle staatlich veranlasster Direktinvestitionen aufgegriffen111. Vielmehr soll offenbar abgewartet werden, bis die Europäische Union gesetzgeberisch tätig wird.112

106 BGBl. I, S. 770. Vgl. dazu Müller/Hempel, NJW 2009, 1638 ff.; Seibt/Wollenschläger, ZIP 2009, 833 ff.; Traugott/Strümpell, AG 2009, 186 ff.; Voland, EuZW 2009, 519 ff. 107 BGBl. I, S. 1482. 108 Vgl. Fn. 89. 109 BR-Drs. 98/17, S. 2. 110 BAnz AT, 17.7.2017 V1 i.V.m. BGBl. I 2017, S. 2728. 111 Vgl. auch Seibt/Kulenkamp, ZIP 2017, 1345 (1356). 112 Vgl. III. 1. b).

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2. Sektorübergreifende Prüfung von Unternehmenserwerben Im Folgenden kann nur ein Überblick über die sektorübergreifende Prüfung von ­Unternehmenserwerben gegeben werden. Die sektorspezifische Überprüfung bleibt außer Betracht. a) Gegenstand der Prüfung Geprüft werden kann der Erwerb inländischer Unternehmen und die unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an einem inländischen Unternehmen. Hierunter sind i.S.d. Außenwirtschaftsrechts Organisationseinheiten oder Teile von Organisationseinheiten113 zu verstehen, die wirtschaftliche Zwecke verfolgen. Ebenso wenig wie auf die Rechtsform kommt es auf die Größe des Unternehmens an. Durch den Erwerb kleiner Unternehmen wird zwar in der Regel die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik nicht gefährdet. Doch kann sich dies im Einzelfall anders darstellen, sodass der Verzicht auf Größenvorgaben gerechtfertigt ist. Inländisch ist ein Unternehmen, wenn es sich um eine juristischen Person respektive Personengesellschaft mit Sitz oder Ort der Leitung im Inland handelt.114 Ein Erwerb bezieht sich auf das gesamte Unternehmen, eine Beteiligung auf den Erhalt von Anteilen. Anknüpfungspunkt ist der schuldrechtliche Vertrag über den Erwerb.115 Eine Beteiligung setzt nicht notwendiger Weise einen Share Deal voraus, vielmehr kann es sich auch um einen wirtschaftlich gleichzustellenden Asset Deal handeln.116 Im Falle einer mittelbaren Beteiligung erfolgt die Übertragung über eine zwischengeschaltete Rechtsperson oder teilrechtsfähige Person. Die Beteiligung muss nach dem Erwerb gem. § 56 Abs. 1 AWV 25 % der Stimmrechte erreichen oder überschreiten. Damit wird auf eine feste Erheblichkeitsschwelle abgestellt, die keine Beherrschung garantiert, aber dem Erwerber jedenfalls eine gesellschaftsrechtlich relevante Sperrminorität gibt.117 Unerheblich ist, ob der Erwerber bereits zuvor Anteile unterhalb der 25 %-Schwelle besaß. Die niedrige Beteiligungsquote ist mit den Grundfreiheiten und Grundrechten der Union sowie den nationalen Grundrechten vereinbar, weil sich die Erlangung eines relevanten Einflusses nicht an einer starren Quote festmachen lässt, auch eine Sperrminorität bereits die öffentliche Ordnung gefährden kann und Zahlenvorgaben der Rechtssicherheit dienen.118 Für die Berechnung der Stimmrechtsanteile enthalten die Absätze 2 und 3 des § 56 AWV nähere Regelungen. Umstritten ist, ob nur das erstmalige Erreichen oder Überschreiten der 25 %-Schwelle die Kontrollbefugnis auslöst oder auch spätere Aufstockungen überprüft werden dürfen.119 Nahe liegt ein Erst113 Mausch-Liotta in Sachs/Pelz (Hrsg.), Außenwirtschaftsrecht, 2017, § 55 AWV Rz. 14. 114 § 2 Abs. 15 Nr. 2 AWG. 115 Vgl. § 55 Abs. 3 S. 1 AWV. 116 Pottmeyer (Fn. 28), §§ 55-59 AWV Rz. 13; Mausch-Liotta (Fn. 113), § 55 AWV Rz. 17. 117 Vgl. z.B. §§ 111 Abs. 4 S. 4, 179 Abs. 2 S. 1, 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG. 118 Krit. Krolop, vgl. die Zusammenfassung seiner Stellungnahme in BT-Drs. 16/11898, S. 9. Dieser schlägt vor, erst eine Prüfung bei einer Beteiligung an einem gebietsansässigen Unternehmen von 30 % bei börsennotierten und von mehr als 50 % bei nichtbörsennotieren Unternehmen einsetzen zu lassen. 119 Vgl. Mausch-Liotta (Fn. 113), § 56 AWV Rz. 10.

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Recht-Schluss. Doch widerspricht eine Ausdehnung der sektorübergreifenden Prüfung i.S.d. Erfassung von Aufstockungen jenseits des Schwellenwerts dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes.120 b) In Betracht kommender Erwerberkreis Gem. § 5 Abs. 2 AWG i.V.m. § 55 Abs. 1 S. 1 AWV findet eine sektorübergreifende Prüfung von Unternehmenserwerben im Grundsatz nur statt, wenn der Erwerber ein Unionsfremder ist. Darunter sind Personen oder Personengesellschaften zu verstehen, die keine Unionsansässigen sind.121 Der Kreis der Unionsansässigen ist in § 2 Abs.  18 AWG legal definiert. Zumeist handelt es sich um natürliche Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in der Europäischen Union oder um juristische Personen oder Personengesellschaften mit Sitz oder Ort der Leitung in der Europäischen Union. Hinsichtlich der Zweigniederlassungen und Betriebsstätten eines unionsfremden Erwerbers, die ihre Leitung oder Verwaltung in der Union haben, wird auf der Grundlage des § 3 Abs. 3 Nr. 4 AWG abweichend von § 2 Abs. 18 Nr. 3 und 4 AWG auf das ausländische Mutterunternehmen abgestellt. Ferner gehören Unionsansässige zum relevanten Erwerberkreis, wenn es Anzeichen für eine missbräuchliche Gestaltung des Erwerbs (etwa mittels einer Briefkastenfirma) oder für ein Umgehungsgeschäft gibt, um – zumindest auch122 (d.h. ungeachtet anderer objektiver Gründe123) – eine Prüfung zu unterlaufen (§ 55 Abs. 2 S. 1 AWV). Im Falle einer missbräuchlichen Inanspruchnahme ist die Berufung auf die Grundfreiheiten nicht statthaft.124 Auch der Verordnungsvorschlag der EU-Kommission125 erlaubt den Mitgliedstaaten Maßnahmen gegen eine Umgehung der Prüfungsmechanismen und der Überprüfungsbeschlüsse zu treffen (Art. 5). In Anlehnung an eine – das Steuerrecht betreffende – Entscheidung des Europäischen Gerichtshof126 hat die 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung den Missbrauchstatbestand beispielhaft (also nicht abschließend) konkretisiert (§ 55 Abs. 2 S. 2 AWV). Anzeichen für eine Umgehung liegen danach vor, wenn der Erwerber mit Ausnahme des Erwerbs nach §  55 Abs.  1 AWV keiner nennenswerten eigenständigen Wirtschaftstätigkeiten nachgeht oder innerhalb der Europäischen Union keine auf Dauer angelegte eigene Präsenz unterhält. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegbare Vermutung für ein Missbrauchs- oder Umgehungsgeschäft.127 Im Übrigen wird eine Präsenz in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) wiederum derjenigen in der Europäischen Union gleichgestellt (§ 55 Abs. 2 S. 4, 5 AWV), sodass Erwerber aus Island, Lichtenstein, Norwegen und der Schweiz nicht der sektorübergreifenden Prü120 Im Ergebnis ebenso Traugott/Strümpell, AG 2009, 186 (191); Walter, RIW 2013, 847 (849). 121 § 2 Abs. 19 AWG. 122 Der Zusatz wurde durch die 9. VO zur Änderung der AWV eingefügt. 123 Vgl. Runderlass Außenwirtschaft Nr. 5/2017, BAnz. v. 17.7.2017, S. 3. 124 Vgl. Ehlers (Fn. 42), § 7 Rz. 79. 125 Vgl. Fn. 100. 126 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury-Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 34 ff. 127 Vgl. auch Runderlass Außenwirtschaft Nr. 5/2017 (Fn. 123), S. 6. Krit. Walter, RIW 2017, 650 (654).

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fung unterfallen. Zum Unionsgebiet  – im Gegensatz zu dem Gebiet von Drittländern  – gehören auch die Zollgebiete der Europäischen Union mit Einschluss von Helgoland.128 Wie sich die Rechtslage nach dem Brexit darstellen wird, bleibt abzuwarten. c) Maßstab der Prüfung Die sektorübergreifende Prüfung dient der Ermittlung, ob der Unternehmenserwerb die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.129 Wie sich nicht nur aus der vorrangig geltenden Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit, sondern auch aus den §§ 4 Abs. 1 Nr. 4, 5 Abs. 2 S. 2 AWG ergibt, sind die Begriffe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht i.S.d. nationalen Polizei- und Ordnungsrechts, sondern des Unionsrechts auszulegen. Die Grundfreiheiten können zwar auch aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls begrenzt werden.130 Da das nationale Recht aber nur auf die öffentliche Ordnung oder Sicherheit i.S.d. Unionsrechts abstellt, ist eine diesbezügliche Gefährdung alleiniger Prüfungsmaßstab. Die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgreifend131 verlangt § 5 Abs. 2 S. 2 AWG, dass eine tatsächlich und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.132 Im Rahmen der unionsrechtlichen Vorgaben verbleibt den Mitgliedstaaten ein Konkretisierungs- und Ausgestaltungsspielraum133, den man als unionsrechtlich determinierten Beurteilungsspielraum bezeichnen kann. Bis zur 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung wurde dieser indessen nicht normativ präzisiert. Ob dies dem unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit genügte134, war nicht zweifelsfrei.135 Nunmehr regelt § 55 Abs. 1 S. 2 AWV ausdrücklich, wann eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegen kann. Die Aufzählung ist zwar nicht abschließend („insbesondere“). Doch können aus den geregelten Fallkonstellationen Rückschlüsse auf weitere anzuerkennende Gefährdungstatbestände gezogen werden. Dies wird den Bestimmtheitsanforderungen gerecht. Die aufgeführten Beispielsfälle zeigen, dass es um den Schutz deutscher Sicherheitsinteressen gehen muss. Eine Verfolgung lediglich wirtschaftlicher, arbeitsmarktpolitischer oder finanzieller Interessen reicht nicht aus.136 Abgestellt wird auf die versorgungsrelevanten Schlüsselinfrastrukturen. Dementsprechend wird das Prüfungsrecht auf den Erwerb von oder die Beteiligung an Unternehmen bezogen, „die Kritische Infrastrukturen betreiben, die branchenspezifische Software zum Betrieb von Kritischen Infrastrukturen entwickeln, die 128 Vgl. § 2 Abs. 8 AWG. 129 § 55 Abs. 1 S. 1 AWV. 130 Vgl. II. 2. a) bb). 131 Ausf. Pottmeyer (Fn. 28), §§ 55-59 AWV Rz. 43 f. m. w. Nachw. 132 Vgl. bereits II. 2. a) bb). 133 Vgl. etwa EuGH v. 4.12.1974 – Rs. C-41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rz. 18/19. 134 Vgl. EuGH v. 14.3.2000 – Rs. C-54/99 – Église de scientologie, Slg. 2000, I-1335, Rz. 21 ff.; v. 4.6.2002  – Rs. C-483/99  – Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rz.  50; Ress/­ Ukrow in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 39), Art. 65 AEUV Rz. 57 (Januar 2014). 135 Krit. Martini, DÖV 2008, 314 (320 f.). 136 Vgl. auch Seibt/Wollenschläger, ZIP 2009, 833 (839); Hasselbrink, GmbHR 2010, 512 (516).

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mit Überwachungsmaßnahmen nach § 110 des Telekommunikationsgesetzes (TKG) betraut sind, die Cloud-Computing-Dienste erbringen oder als Schlüsselunternehmen der Telematikinfrastruktur Zulassungen für Komponenten oder Dienste (Produkte) der Telematikinfrastruktur besitzen“.137 Gem. § 2 Abs. 10 S. 1 des in Bezug genommenen Gesetzes über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSIG) sind Kritische Infrastrukturen Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon, die den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen angehören und von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden. Das Nähere ergibt sich aus der Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSIG (BSI-KritisV), die im Anhang Anlagenkategorien und Schwellenwerte festsetzt.138 Die Regelung des § 55 Abs. 1 S. 2 AWV steht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Einklang.139 Für die Anerkennung weiterer Gefährdungstatbestände ist ein strenger (unionsrechtlicher) Maßstab anzulegen. d) Behördliche Benachrichtigungen und Meldepflicht Von seinen Prüfrechten kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie nur Gebrauch machen, wenn es von dem Unternehmens- oder Beteiligungserwerb Kenntnis erhält. Dies kann beispielsweise durch Mitteilung anderer Behörden geschehen. So „kann“ das Bundeskartellamt Angaben, die im Rahmen einer Zusammenschlusskontrolle von Unternehmen gemacht worden sind, gem. § 50c Abs. 3 S. 1 GWB an das Bundesministerium übermitteln, soweit dies zur Verfolgung der in § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5 Abs. 2 AWG genannten Zwecke erforderlich ist. Bei Abgabe eines Übernahmeangebots an ein börsennotiertes Unternehmen ergibt sich eine Mitteilungspflicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aus § 7 Abs. 1 S. 2 WpÜG. Kommt eine Mitteilung anderer Behörden nicht in Betracht, war das Ministerium bis zum Inkrafttreten der 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf freiwillige Anzeigen, Anträge auf Unbedenklichkeitsbescheinigungen gem. § 58 AWV140 oder andere Informationen etwa in Gestalt von Medienveröffentlichungen oder Anzeigen von Konkurrenzunternehmen angewiesen. Um die Belastung der Unternehmen gering zu halten, bestand anders als bei der sektorspezifischen Investiti137 So die Zusammenfassung Runderlass Außenwirtschaftsrecht Nr. 5/2017 (Fn. 123), S. 2. 138 Vgl. dazu auch Walter, RIW 2017, 650 (651), wonach sich auch bei einem Nichterreichen der Schwellenwerte Anhaltspunkte für eine mögliche Prüfung ergeben können. 139 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 – Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I-4731, Rz. 47; v. 4.6.2002 – Rs. C-503/99 – Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-4731, Rz. 46; v. 13.5.2003 – Rs. C-463/00 – Kommission/Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rz. 34; v. 10.11.2011 – C-212/09, ECLI:EU:C:2011:717  – Kommission/Portugal, ZIP 2012, 221 Rz.  83; v. 8.11.2012  – C-244/11, ECLI:EU:C:2012:694 – Kommission/Griechenland, EuZW 2013, 29 Rz. 67. Näher dazu EU-Kommission COM (2017) 487, S. 5 ff.; Sedlaczek/Züger in Streinz (Fn. 38), Art. 65 AEUV Rz. 37. 140 Vgl. IV. 2. e).

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onsprüfung141 keine Meldepflicht. Durch die 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung ist nunmehr eine Meldepflicht in Bezug auf den Erwerb oder eine mindestens 25%ige Beteiligung an einem Unternehmen i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 2 AWV eingeführt worden (§ 55 Abs. 4 AWV). Dies wurde damit begründet, dass es um besonders kritische Übernahmen geht und deshalb eine Kenntnis geboten sei, bevor sich die vom Beteiligungserwerb möglicherweise ausgehenden Gefahren für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit verwirklicht haben oder ihre Verwirklichung nicht mehr verhindert werden kann.142 Gemeldet werden muss nur der Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages.143 Die Verpflichtung zur Einreichung von Unterlagen setzt gem. § 57 AWV voraus, dass das Prüfungsrecht zuvor ausgeübt worden ist.144 Nicht geregelt wurde, wer meldepflichtig ist. Denkbar wäre anknüpfend an § 55 Abs. 3 S. 1 AWV sowohl den Erwerber als auch das vom Erwerb betroffene inländische Unternehmen in die Pflicht zu nehmen.145 Doch wird auch eine Unbedenklichkeitsbescheinigung nach § 58 Abs. 1 S. 1 AWV nur dem Erwerber erteilt146 und eine Untersagung des Erwerbs oder eine Anordnung zwecks Gewährleistung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich diesem gegenüber ausgesprochen.147 Zudem liegt die Parallele zur Bestimmung des § 60 Abs. 3 S. 3 AWV nahe, die nur den unmittelbaren Erwerber als Meldepflichtigen nennt. Somit obliegt die Meldung de lege lata nur dem Erwerber. Der Verstoß gegen die Meldepflicht ist nicht bußgeldbewährt. Die Meldepflicht greift in die (Niederlassungs- und/oder) Kapitalverkehrsfreiheit des Erwerbers ein, dient aber der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung und genügt den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit, zumal sie die Frist des § 55 Abs. 3 S. 1 AWV in Gang setzt und dies auch im Interesse des Erwerbers (sowie des Veräußerers) liegt. Ob die Erwartung der Bundesregierung realistisch ist, dass mit der Normierung der Meldepflicht im Anwendungsbereich der sektorübergreifenden Prüfung nur etwa zehn zusätzliche Meldungen pro Jahr eingehen werden, erscheint fraglich. Soweit es um den Erwerb von anderen als den in § 55 Abs. 1 S. 2 AWV genannten Unternehmen geht, ist das Bundesministerium nach wie vor auf eine anderweitige Informationserlangung (vor allem also auf freiwillige Anzeigen) angewiesen. Eine generelle Meldepflicht für den Erwerb inländischer Unternehmen durch Ausländer ab einer Beteiligungsquote von 25 % wäre mit der Kapitalverkehrsfreiheit kaum vereinbar. Zur Erlangung von Rechtssicherheit ist ein Erwerber gut beraten, auch die Übernahme von Unternehmen, die nicht unter § 55 Abs. 1 S. 2 AWV fallen, auf freiwilliger Basis anzuzeigen (sofern er nicht ohnehin eine Unbedenklichkeitsbescheinigung einholt). Ferner steht es auch dem Veräußerer frei, das Ministerium zu benachrichtigen.

141 §60 Abs. 3 S. 1 AWV. 142 Vgl. Runderlass Außenwirtschaft Nr. 5/2017 (Fn. 123), S. 7. 143 Krit. Slobodenjuk, BB 2017, 2306 (2307). 144 Vgl. IV. 2. f). 145 Vgl. auch Walter, RIW 2017, 650 (653). 146 Vgl. IV. 2. e). 147 IV. 2. g) cc).

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e) Unbedenklichkeitsbescheinigung Um möglichst schnell Rechtssicherheit zu erlangen, kann der Erwerber (gegebenenfalls über den bevollmächtigten Veräußerer) – auch schon vor Abschluss des schuld­ rechtlichen Vertrages über den Erwerb oder die Beteiligung148 – nach § 58 Abs. 1 S. 1 AWV einen schriftlichen Antrag auf Unbedenklichkeitsbescheinigung mit den Angaben nach Satz 2 der Vorschrift stellen. Stehen dem Erwerb keine Bedenken im Hinblick auf die öffentliche Ordnung oder Sicherheit entgegen149, ist die ihrer Rechtsnatur nach einen begünstigenden Verwaltungsakt darstellende Bescheinigung zu erteilen. Sie gilt gem. § 58 Abs. 2 AWV als erteilt, wenn das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie das Prüfverfahren nicht innerhalb von zwei Monaten eröffnet. Die dem Ministerium eingeräumte Überlegungsfrist ist durch die 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung um einen Monat verlängert worden. Dies wurde damit begründet, dass einerseits der gestiegenen Komplexität der Erwerbsvorgänge Rechnung getragen werden, andererseits vermieden werden müsse, dass wegen einer zu kurz bemessenen Frist allein zum Zwecke der Fristwahrung Prüfverfahren eröffnet werden.150 Die nunmehr geltende, rechtlich zulässige Zwei-Monats-Frist gibt dem Erwerber aber immer noch die Möglichkeit, die Ablauffrist des § 55 Abs. 3 S. 1 AWV um einen Monat zu verkürzen. Zudem wird mit der positiven Kenntniserlangung des Ministeriums  – auch dann, wenn es keiner Meldung nach § 55 Abs. 4 AWV bedurfte – die Fünf-Jahres-Frist des § 55 Abs. 3 S. 6 AWV ausgeschlossen. Wird die Bescheinigung später nach Maßgabe der §§ 48, 49 VwVfG zurückgenommen oder widerrufen151, dürfte regelmäßig die nachträgliche Eröffnung eines Prüfverfahrens wegen des Ablaufs der Frist nach § 55 Abs. 3 S. 1 AWV ausgeschlossen sein.152 Rechtspolitisch empfiehlt es sich, das Aufgreifen des Verfahrens trotz des Ablaufs der Drei-Monats-Frist des § 55 Abs. 3 S. 1 AWV zuzulassen, wenn der Erwerber die Unbedenklichkeitsbescheinigung durch Täuschung, Drohung oder Bestechung erlangt hat. Auch dann dürfen aber nicht mehr als fünf Jahre seit Abschluss des schuld­ rechtlichen Vertrages vergangen sein (§ 55 Abs. 3 S. 6 AWV). f) Eröffnung und Durchführung des Prüfungsverfahrens Erfährt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie von dem nach Maßgabe der Außenwirtschaftsverordnung relevanten Erwerb eines inländischen Unternehmens „kann“ es ein Prüfverfahren einleiten. Dem Ministerium kommt somit ein Entschließungsermessen darüber zu, ob es von seiner Prüfbefugnis Gebrauch machen oder davon absehen will. Das Ermessen ist pflichtgemäß auszuüben. Da es auch um wirtschaftspolitische Einschätzungen geht, besitzt das Ministerium einen weiten Er148 Mausch-Liotta (Fn. 113), § 58 AWV Rz. 1. 149 Dies kann auch der Fall sein, wenn die Stimmrechtsanteile des § 56 AWV nicht erreicht werden. 150 Runderlass Außenwirtschaft Nr. 5/17 (Fn. 123), S. 5. 151 Für einen Beispielsfall vgl. Fn. 6. 152 Vgl. auch Voland, EuZW 2009, 519 (522); Seibt/Wollenschläger, ZIP 2009, 833 (843).

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messensspielraum.153 Eine Ermessensreduzierung auf null scheidet sowohl im Hinblick auf ein Tätigwerden als auch ein Nichttätigwerden regelmäßig aus. Wird ein Verfahren eingeleitet, muss aber jedenfalls die Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit in Betracht kommen können. Beabsichtigt das Bundesministerium das Prüfverfahren zu eröffnen, hat es sich intern nach § 19 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien mit denjenigen Bundesministerien abzustimmen, deren Geschäftsbereiche ebenfalls berührt werden. Die Entscheidung, das Prüfverfahren zu eröffnen, muss dem unmittelbaren Erwerber und – nach Inkrafttreten der 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auch – dem vom Erwerb betroffenen inländischen Unternehmen schriftlich mitgeteilt und in Form einer Zustellung bekanntgegeben werden (§  55 Abs.  3 S.  1-3 AWV). Die Mitteilung ist ein sowohl verfahrensgestaltender als auch materiell-rechtlich wirkender Verwaltungsakt mit belastender Wirkung. Letzteres ergibt sich (insbesondere) daraus, dass das schuldrechtliche Rechtsgeschäft über den Erwerb des inländischen Unternehmens oder eine Beteiligung an dem Unternehmen nach § 15 Abs. 2 AWG mit Eröffnung des Prüfverfahrens bis zum Ablauf unter der auflösenden Bedingung steht, dass das Bundesministerium den Erwerb innerhalb der Frist untersagt. Dies gilt auch dann, wenn das schuldrechtliche Geschäft einer ausländischen Rechtsordnung unterworfen worden ist.154 Die Einleitung des Prüfverfahrens muss innerhalb einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der positiven Kenntnis des Ministeriums vom Abschluss des schuld­ rechtlichen Vertrages mitgeteilt werden.155 Im Falle einer behördlichen Benachrichtigung (z.B. durch das Bundeskartellamt156) beginnt die Frist mit dieser. Im Falle eines Angebots i.S.d. Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes beginnt die Frist mit dem Erlangen der Kenntnis von der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe des Angebots oder mit dem Erlangen der Kenntnis von der Veröffentlichung der Kontrollerlangung.157 Nach Ablauf der Ausschlussfrist darf ein Prüfverfahren nicht mehr durchgeführt werden. Das Ministerium kann die Frist ausnutzen, ist also nicht gehalten, den Erwerber oder das betroffene Unternehmen sofort nach der Entscheidung über die Einleitung eines Prüfverfahrens zu unterrichten.158 Kommt es zu dem Ergebnis, dass ein Einschreiten nicht erforderlich ist, bedarf es keiner förmlichen Bescheidung, weil das Prüfverfahren ohnehin durch Fristablauf endet.159 Um Rechtssicherheit zu erlangen, darf ein Prüfverfahren seit der 9. Änderungsverordnung zur Außenwirtschaftsverordnung nicht mehr nach Ablauf von fünf Jahren seit 153 Ebenso Mausch-Liotta (Fn. 113), § 55 AWV Rz. 29. 154 Vgl. Mausch-Liotta (Fn. 113), § 55 AWV Rz. 50. 155 Bis zur Klarstellung durch die 9. VO zur Änderung der AWV, dass es auf die tatsächliche Kenntniserlangung ankommt, wurde zum Teil angenommen, dass es sich um eine objektive Frist handelt, Kenntniserlangung also nicht erforderlich war. Vgl. z.B. Besen/Slobodenjuk, BB 2012, 2390 (2393). 156 Vgl. IV. 2. d). 157 Vgl. § 55 Abs. 3 S. 5 AWV (i.V.m. §§ 10 Abs. 1 S. 1, 35 Abs. 1 WpÜG). 158 A.A. Voland, EuZW 2009, 519 (521 f.). 159 Ebenso Pottmeyer (Fn. 28), §§ 55-59 AWV Rz. 40.

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Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages eröffnet werden.160 Dies gilt auch dann, wenn der Abschluss des Vertrages meldepflichtig war, die Meldung aber unterblieben ist. Wird das Prüfverfahren eröffnet, ist der unmittelbare Erwerber gem. § 57 S. 1 AWV zur Vorlage von Unterlagen verpflichtet. Für die Sprachfassung gilt §  23 VwVfG. Doch kann sich das Ministerium wegen der bloßen Sollbestimmung des Absatzes 2 S. 1 der Vorschrift mit einer anderen als der deutschen Sprache zufrieden geben.161 Da es sich bei der Informationspflicht um eine Obliegenheit handelt, rechtfertigt die Nichteinreichung oder nicht vollständige Einreichung von Unterlagen eine Untersagung des Erwerbs. Art und Umfang der Unterlagen ist durch eine im Bundesanzeiger bekanntgemachte Allgemeinverfügung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie bestimmt worden (§ 57 S. 2 AWV).162 Im Einzelfall kann das Ministerium weitere Unterlagen anfordern (§  57 S.  3 AWV). Durch die 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung ist der Kreis der Informationspflichtigen auf mittelbar beteiligte Erwerber und das inländische Zielunternehmen ausgedehnt worden. g) Rechtsfolgen aa) Untersagung und Anordnung Um die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten, kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie den Erwerb des inländischen Unternehmens gem. § 59 Abs. 1 S. 1 AWV untersagen oder diesbezügliche Anordnungen treffen. Es handelt sich hierbei um eine Kopplungsvorschrift. Auf der Tatbestandsebene kommt dem Ministerium ein limitierter Beurteilungsspielraum nach Maßgabe des Unionsrechts163, auf der Handlungsebene ein Ermessensspielraum zu. Beide Spielräume sind wegen des schwerwiegenden Eingriffs in die Grundfreiheiten bzw. die Unionsgrundrechte und nationalen Grundrechte164 begrenzt. Zum einen muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grund­ interesse der Gesellschaft berührt165, zum anderen die getroffenen Maßnahmen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen, insbesondere erforderlich sein und in einem angemessenen Verhältnis zu dem erstrebten Erfolg stehen. Die Untersagung enthält ein Erwerbsverbot, das zugleich zivilrechtliche Bedeutung hat und im Wege des Eintritts einer auflösenden Bedingung das schuldrechtliche Erwerbsgeschäft unwirksam macht.166 Im Falle von Anordnungen werden weniger belastende hoheitliche Maß-

160 § 55 Abs. 3 S. 6 AWV. 161 Vgl. auch Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 23 Rz. 7. 162 BAnz AT 6.9.2013 B1. 163 Vgl. IV. 2. c). 164 Vgl. II. 2. u. 3. 165 Vgl. II. 2. a) bb); IV. 2. c). 166 Vgl. IV. 2. f).

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nahmen getroffen, z.B. Standortgarantien ausgesprochen oder bestimmte Geschäftsfelder vom Erwerb ausgeklammert.167 Ihrer Rechtsnatur nach stellen sowohl die Untersagungen als auch die Anordnungen Verwaltungsakte dar. Für den Erlass ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zuständig. Doch bedarf dieses der Zustimmung der Bundesregierung (§ 59 Abs. 1 S. 2 AWV). Hierbei handelt es sich um ein nicht selbständig angreifbares Verwaltungsinternum, nicht um einen Verwaltungsakt. Anders als früher168 bedarf es der Zustimmung der Bundesregierung nur, wenn der Erwerb untersagt oder durch eine Anordnung beschränkt wird, nicht dagegen, wenn das Bundesministerium davon absehen will. Statt des Erlasses von Verwaltungsakten kann sich das Bundesministerium auch anderer Handlungsformen bedienen, z.B. informell auf die Beteiligten zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einwirken oder einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit dem am Erwerb beteiligten Unternehmen abschließen.169 Im Falle der Inanspruchnahme anderer Handlungsformen dürfte eine Zustimmung der Bundesregierung wegen der fehlenden einseitigen Verbindlichkeit der Maßnahmen nicht erforderlich sein. bb) Verwaltungsverfahren Vor Erlass der Maßnahmen bedarf es einer ordnungsgemäßen Durchführung des Verwaltungsverfahrens (Frühverfahrens). An dem Verwaltungsverfahren ist nicht nur der Erwerber, sondern auch der Veräußerer zu beteiligen, weil der Ausgang des Verfahrens im Falle einer Untersagung rechtsgestaltende Wirkung für ihn hat (Unwirksamwerden des schuldrechtlichen Rechtsgeschäfts mit Erlass der Untersagungsverfügung170). Eine besondere Benachrichtigung oder Hinzuziehung nach Maßgabe des § 13 Abs. 2 VwVfG ist nicht erforderlich, weil der Veräußerer bereits mit Zustellung der Mitteilung über die Eröffnung des Prüfverfahrens gem. § 55 Abs. 3 S. 3 AWV zu dem Verwaltungsverfahren hinzugezogen worden ist. Im Verwaltungsverfahren ist insbesondere eine Anhörung der Beteiligten nach § 28 VwVfG geboten. Ihnen muss Gelegenheit gegeben werden, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Die Einreichung der vom Ministerium verlangten Unterlagen (§ 57 AWV) stellt noch keine derartige Äußerung dar. Haben die Beteiligten tatsächliche Angaben gemacht, kommt ein Absehen von der Anhörung gem. § 28 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG nur in Betracht, wenn sich das Ministerium nicht auf andere tatsächliche Gesichtspunkte stützen will.

167 Vgl. Mausch-Liotta (Fn. 113), § 59 AWV Rz. 19 f. 168 Vgl. Mausch-Liotta (Fn. 113), § 59 AWV Rz. 2. 169 Vgl. auch § 59 Abs. 2 AWV. 170 Vgl. § 15 Abs. 2 AWG.

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cc) Adressat der Maßnahmen Nach § 59 Abs. 1 S. 1 AWV kann das Bundesministerium den Erwerb gegenüber dem unmittelbaren Erwerber untersagen oder Anordnungen erlassen. Somit wird nur der Erwerber und nicht der Veräußerer als Adressat des Verwaltungsaktes angesehen und offenbar auch nur eine Bekanntgabe an den Erwerber für notwendig gehalten. Doch ist diese Betrachtungsweise zu eng. Mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes gegenüber dem Erwerber erlangt dieser zwar (äußere) Wirksamkeit (bzw. rechtliche Existenz171). Eine Bekanntgabe ist aber auch gegenüber dem Veräußerer geboten, weil der Verwaltungsakt ebenfalls ihm gegenüber wegen des Unwirksamwerdens des schuldrechtlichen Vertrages über den Erwerb172 rechtsgestaltende Wirkung hat und daher im Falle fehlender Bekanntgabe nicht bestandskräftig wird, sondern bis zum Ablauf der Rechtsschutzverwirkung noch angefochten werden kann. dd) Fristen Bis zum Erlass der 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung musste eine Maßnahme nach § 59 Abs. 1 S. 1 AWV innerhalb einer Zwei-MonatsFrist nach Eingang der vollständigen Unterlagen gem. § 57 AWV getroffen werden. Nunmehr gilt eine Vier-Monats-Frist. Die Verlängerung der Frist wurde mit der gestiegenen Komplexität von Erwerbsvorgängen und der gebotenen Einholung der Entscheidung der Bundesregierung begründet.173 Die nunmehr geltende Fristbestimmung ist trotz der Verlängerung mit dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Grundsatz der Rechtssicherheit174 vereinbar. Die Dienstleistungsrichtlinie der Europäischen Union175, die für Genehmigungsverfahren auch Vorgaben für die einzuhaltenden Fristen enthält176, ist nicht anwendbar, da es nicht um Dienstleistungen geht und es sich bei dem Erwerber jedenfalls grundsätzlich um einen Unionsfremden handelt177. Zudem ist das Erwerbsgeschäft nicht genehmigungsbedürftig, vielmehr von Anfang an bis zum Erlass der Untersagungsverfügung wirksam. Die Frist beginnt erst mit Eingang der vollständigen Unterlagen zu laufen. Ob Vollständigkeit vorliegt, bestimmt sich nach der Allgemeinverfügung des § 57 S. 2 AWV.178 Verlangt das Ministerium gem. § 57 S. 3 AWV später weitere – d.h. zusätzliche, nicht in der Allgemeinverfügung genannte  – Unterlagen, wird dadurch der Fristbeginn 171 Zur Unterscheidung von äußerer Wirksamkeit und rechtlicher Existenz vgl. Ehlers in Krebs (Hrsg.), Liber amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 2 f. 172 § 15 Abs. 2 AWG. 173 Vgl. aus Runderlass Außenwirtschaft Nr. 5/17 (Fn. 123), S. 7. 174 Vgl. z.B. BVerfGE 72, 200 (242); 131, 268 (309 f.). 175 RL 2006/123/EG. 176 Vgl. Art. 13 Abs. 3 u. 4 RL 2006/123/EG. 177 Vgl. demgegenüber Art. 2 Abs. 1 RL 2006/123/EG, wonach die Dienstleistungsrichtlinie (nur) für Dienstleistungen gilt, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. 178 A.A. Slobodenjuk, BB 2017, 2306 (2307). Vgl. auch Flaßhoff/Glasmacher, NZG 2017, 489 (491).

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Beschränkung und Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen

nicht herausgeschoben. Ansonsten hätte es das Ministerium in der Hand, die Prüffrist auf unbestimmte Zeit zu verlängern.179 Zur Vermeidung einer Untersagung oder Anordnung kann das Ministerium nach der durch die 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung neu erlassenen Vorschrift des § 59 Abs. 2 AWV mit dem am Erwerb Beteiligten während des Prüfverfahrens Verhandlungen über eine vertragliche Regelung führen. Der Ablauf der Vier-Monats-Frist ist für die Dauer der Verhandlungen gehemmt. Dies dient auch dem Interesse der am Erwerb beteiligten Unternehmen, weil verhindert wird, dass das Ministerium die Verhandlungen abbricht, um einen drohenden Fristablauf zu vermeiden. Beginn und Abschluss der Verhandlungen sind auch ohne ausdrückliche normative Anordnung zu dokumentieren. Um Rechtssicherheit zu erlangen, können sich sowohl Erwerber als auch Veräußerer ferner den Beginn der Frist schriftlich bestätigen lassen. ee) Rechtsschutz Die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erlassenen Verwaltungsakte können (vor dem Verwaltungsgericht Berlin180) mit der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage angegriffen werden. Da es sich beim Bundesministerium um eine oberste Bundesbehörde handelt, ist ein Vorverfahren nach §  68 Abs.  1 S.  2 Nr.  1 VwGO nicht statthaft. Klagebefugt sind gem. § 42 Abs. 2 VwGO sowohl der Erwerber als auch der Veräußerer. Dagegen steht Dritten (wie z.B. Tochterunternehmen oder Zulieferern) ein Klagerecht nicht zu. Die Anfechtungsklage hat nach §  80 Abs.  1 VwGO aufschiebende Wirkung, sofern die Verwaltungsakte nicht gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt worden sind. Ein mit der Verpflichtungsklage durchsetzbarer Anspruch von Konkurrenten auf Erlass eines Verwaltungsaktes durch das Bundesministerium besteht mangels einer Klagebefugnis nicht. ff) Ahndung von Zuwiderhandlungen sowie Durchsetzung einer ­Untersagung oder Anordnung Schuldhafte Zuwiderhandlungen gegen eine vollziehbare Untersagungsverfügung oder eine Anordnung nach § 59 Abs. 1 AWV stellen gem. den §§ 19 Abs. 3 Nr. 1 lit. a), Abs. 6 AWG, 81 Abs. 1 Nr. 6 AWV eine Ordnungswidrigkeit dar und können mit einer Geldbuße bis zu 500.000 Euro geahndet werden. Gem. § 17 Abs. 4 OWiG soll die Geldbuße den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen. Reicht das gesetzliche Höchstmaß nicht aus, kann es überschritten werden. Beteiligen sich mehrere an einer Ordnungswidrigkeit, handelt nach § 14 Abs. 1 S. 1 OWiG jeder von ihnen ordnungswidrig, sodass auch der Veräußerer als Beteiligter mit erfasst werden kann.181

179 Mausch-Liotta (Fn. 113), § 57 AWV Rz. 12. 180 § 52 Nr. 2 S. 1 VwGO. 181 Vgl. Mausch-Liotta (Fn. 113), § 59 AWV Rz. 28.

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Dirk Ehlers

Zur Durchsetzung der Untersagung kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie die in § 59 Abs. 3 AWV genannten Maßnahmen ergreifen, also die Ausübung des Stimmrechts untersagen bzw. einschränken (Nr. 1) oder einen Treuhänder bestellen (Nr. 2), der die Rückabwicklung eines bereits vollzogenen Erwerbs – nach Maßgabe des § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB – herbeiführt. Die Stimmrechtsuntersagung oder -beschränkung sind ihrerseits Verwaltungsakte, die mit den Mitteln des Verwaltungszwangs (Zwangsgeld oder Ersatzzwangshaft182) durchgesetzt werden können. Zugleich stellt ein Zuwiderhandeln eine Ordnungswidrigkeit dar. Zwar verweist §  81 Abs. 1 Nr. 6 AWV (neben § 59 Abs. 1 S. 1 und § 62 AWV) nur auf § 59 Abs. 2 Nr. 1 AWV. Die Vorschrift gibt es indessen nicht. Sie findet sich nunmehr ohne Rechtsänderung in § 59 Abs. 3 Nr. 1 AWV. Da dem Verordnungsgeber offensichtlich ein Redaktionsversehen unterlaufen und die Verschiebung für Jedermann erkennbar ist, liegt keine dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterliegende „Strafbarkeitslücke“183 vor.184 Wenn statt einer Untersagung des Erwerbs andere Anordnungen getroffen wurden, kommt ebenfalls Verwaltungszwang für die Durchsetzung in Betracht. Durch die 9. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung wurde klargestellt, dass die Bestellung eines Treuhänders auf Kosten des Erwerbers erfolgt.

V. Fazit Als Resümee lässt sich festhalten, dass die Zeichen der Zeit auf eine Intensivierung der Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen hinauslaufen. Die jüngste Novelle zur Außenwirtschaftsverordnung hat zwar die Investitionsprüfungsrechte des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie  – insbesondere durch die Einführung einer (begrenzten) Meldepflicht auch für den Bereich der sektorspezifischen Prüfung von Unternehmenserwerben sowie die Verlängerung der Prüfungs- und Handlungsfristen – gestärkt. Die Änderungen sind aber sachangemessen und bewegen sich im Rahmen der völkerrechtlichen, unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben. Positiv zu beurteilen ist vor allem die Konkretisierung der Belange der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Nicht aufgegriffen worden sind bisher Vorschläge, die sektorübergreifende Prüfung auch und gerade darauf abzustellen, ob die Reziprozität des Marktzugangs gewahrt wird und ob sich die ausländischen Staaten einer nichtmarktwirtschaftlichen Einflussnahme enthalten. Es handelt sich bei der Novellierung der Außenwirtschaftsverordnung indessen nur um einen Zwischenschritt. Aller Voraussicht nach wird die Europäische Union künftig erstmalig Vorschriften für die 182 §§ 11, 16 VwVG. 183 Zur Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf das Ordnungswidrigkeitenrecht vgl. BVerfGE 81, 132 (135); 87, 309 (411). 184 Vgl. zur Relevanz eines gesetzgeberischen Redaktionsversehens und zur Berichtigung BVerfGE 105, 313 Rz.  56  f.; BGH, NStZ 2001, 379 (380); Dannecker in Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2007, § 1 StGB Rz. 167 f.; Klesczewski, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2. Aufl. 2016, Rz. 72; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2017, Rz. 245.

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Beschränkung und Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen

Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen erlassen. Da es sich wegen der mitgliedstaatlichen Kompetenzen nur um einen Rahmen handeln kann und es zudem weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen bleiben soll, ob sie einen Überprüfungs­ mechanismus für ausländische Direktinvestitionen einrichten, ist nicht mit einem unionsweit einheitlichen „level playing field“ zu rechnen. Jedoch will sich die EU-Kommission künftig eigene Prüfungsrechte für den Fall vorbehalten, dass das Unionsinteresse berührt wird. Für die weitere Entwicklung sollte ungeachtet protektionistischer Tendenzen in Drittländern darauf geachtet werden, dass die Kontrolle nicht kontinuierlich weiter verschärft wird und das Bekenntnis zur Offenheit für ausländische Direktinvestitionen auf der Strecke bleibt. So viel Offenheit wie möglich und nur so viel Kontrolle wie unbedingt notwendig sollte auch hier das Motto lauten.

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Bartosz Makowicz

Der holistische Ansatz für Export Compliance Management Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Begriffserklärung 1. Compliance, CMS und Export ­Compliance 2. Mensch im Vordergrund III. Aktuelle Entwicklungen 1. Entwicklung in Deutschland 2. Entwicklung in anderen Ländern 3. Entwicklungen in der EU 4. Globale Entwicklungen – Standards werden wichtiger III. Der holistische Ansatz



1. Die Führung – die Verantwortung 2. Integrierte Risikosteuerung 3. Integrierte Richtlinien und Verhaltenskodizes 4. Integrierte Kommunikation 5. Integrierte Berichterstattung 6. Integriertes Krisenmanagement, Evaluation und Verbesserung

IV. Umsetzung und Vorteil des holistischen Ansatzes 1. Vorteile des holistischen Ansatzes 2. Bedeutung der Standards

V. Zusammenfassung

I. Einleitung Holismus bedeutet eine Ganzheitslehre, in der natürliche Systeme und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Teile betrachtet werden. Eine holistische Behandlung bezeichnet sinngemäß eine solche, bei der der gesamte Mensch im Vordergrund steht und nicht nur seine bestimmten Körperteile oder Organe. Wird der Mensch durch eine Organisation ersetzt und die durch die Organisation geschaffenen Risiken als Ganzes betrachtet, so ergibt dies einen holistischen Ansatz bei der Einrichtung von entsprechenden Managementsystemen, im Rahmen derer die bestehenden Risiken der Organisation verwaltet werden. Der vorliegende Aufsatz hat zum Ziel, die aktuellen Wege aufzuzeigen, welche die Compliance-Entwicklung auf der nationalen und globalen Ebene beschreitet, und erläutert, weswegen es höchste Zeit dafür ist, dass Export Compliance dem Compliance-Zug zusteigt und mit diesem gemeinsam weiterfahren sollte, weswegen es sich also lohnt, Compliance-Risiken der Exporte im Rahmen integrierter (holistischer) Compliance Management Systeme zu verwalten.

II. Begriffserklärung Zunächst seien aber die hier verwendeten Grundbegriffe erläutert. Zu betonen ist, dass in Ermangelung von Legaldefinitionen die nachfolgenden Begriffe in Anlehnung

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an den internationalen Standard ISO 19600 Compliance Management Systems1 ausgeführt oder um eigene Definitionen des Verfassers ergänzt werden. 1. Compliance, CMS und Export Compliance Als Compliance wird zunächst die Einhaltung von verbindlichen Verpflichtungen definiert, zu denen solche des verbindlichen Rechts, aber auch solche Regeln gehören können, die Organisationen einhalten möchten.2 In diesem Aufsatz werden zwar primär exportierende Unternehmen behandelt, die Rede ist jedoch stets von Organisationen, d. h. auch z. B. Verbänden, Institutionen, Vereinigungen. Diese Vorgehensweise basiert auf dem ersten erwähnenswerten Trend in der weltweiten Compliance-Entwicklung, dass nicht nur Unternehmen, sondern diverse Organisationsarten Compliance Management Systeme (weiter als CMS) einführen. In Deutschland sind es neben den privatwirtschaftlichen Organisationen auch Verbände, Stiftungen, Bundesministerien oder kirchliche Organisationen.3 Wird der Compliance-Begriff um den Export-Begriff ergänzt, so kann Export Compliance als Einhaltung aller mit Exporten zusammenhängenden Vorschriften (insbes. des Abgaben- und Exportkontrollrechts) bezeichnet werden. Schließlich ist anzumerken, dass der Begriff der Compliance streng von einem Compliance Management System zu unterscheiden ist, bei dem es sich um die Gesamtheit von Maßnahmen auf Prozess- und Strukturebene einer Organisation handelt, welche zum Zwecke implementiert werden, eine nachhaltige Kultur der Integrität in der Organisation zu schaffen und zu erhalten. 2. Mensch im Vordergrund An der Stelle ist erstmalig der Begriff der Kultur erwähnt worden. Zu betonen ist in dem Zusammenhang, dass ein effektives CMS untrennbar mit Werten und Kultur der Mitglieder der Organisation verbunden ist.4 Ein CMS sollte, nur so kann der holistische Ansatz umgesetzt werden, als ein an Werten orientiertes Managementsystem implementiert werden. Hierzu seien zwei gewichtige Argumente erwähnt: Zum einen sind es die Werte, die als Teil der Kultur eines Menschen darüber entscheiden, wie sich dieser verhält, mit anderen Worten also, ob er Regeln einhalten oder brechen wird. Zum anderen kann ein CMS, in dem Werte nicht beachtet werden, kontraproduktiv wirken: Es wird schnell einleuchten, dass ein CMS, welches ohne Einbeziehung der Mitglieder der Organisation einseitig „von oben“ auferlegt wird, auf eine geringere Akzeptanz stoßen wird als ein solches, welches unter Partizipation der Mit1 Abrufbar unter: www.iso.org. 2 Vgl. Ziff. 3.14–3.17 ISO 19600 CMS. 3 Vgl. Comply. 4/2016 mit Schwerpunktbeiträgen zum Thema Compliance jenseits der Privatwirtschaft, Hefte abrufbar unter: www.comply-online.de. 4 Ausführlich zum werteorientierten Ansatz bei Makowicz, The global compliance management systems: a practical approach to compliance across cultures, in: Business Compliance 6/2015, 35 ff.

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glieder entworfen und unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse eingeführt wurde.5 Es sei somit festgehalten, dass im Fokus eines CMS Menschen stehen.

III. Aktuelle Entwicklungen Die nachfolgenden Beispiele belegen, dass Compliance nicht nur auf der nationalen und internationalen Ebene, sondern auch innerhalb der Europäischen Union und in anderen Ländern deutlich an Bedeutung gewinnt. Zwar sind die Ansätze divers, doch bleibt die ihnen zugrunde liegende Überlegung gleich: Compliance ist gut und sollte gefördert werden. Es soll nicht zu einer weiteren Bürde oder Bürokratismus in Organisationen führen, sondern ganz im Gegenteil: die Prozesse vereinfachen und für Optimierung und mehr Transparenz sorgen. 1. Entwicklung in Deutschland Die bisherigen Initiativen hierzulande, mit welchen vorgeschlagen wurde, Compliance über Belohnungssysteme zu unterstützen, sind bisher vom Gesetzgeber nicht weiterverfolgt worden. Zwar gingen die Vorschläge in unterschiedliche Richtungen, so schlug der nordrhein-westfälische Justizminister die Einführung einer Verbandsstrafe6 und die Verbände, der Bund der Unternehmensjuristen und das Deutsche Institut für Compliance die Reform des Ordnungswidrigkeitsgesetzes (OWiG) vor.7 Sie enthielten jedoch die gleiche Compliance fördernde Funktion: Bei der Sanktionenzumessung sollten die nachgewiesenen Compliance-Bemühungen zur Milderung oder gar Enthaftung führen. Zwar führten die Vorschläge in die Sackgasse, dass die Reformtendenzen aber richtig waren, stellt die jüngste Rechtsprechung des BGH unter Beweis. Die Justiz scheint die Entwicklung der Compliance-Anreize inzwischen in die Hand genommen zu haben, so hat neulich der BGH in einem bahnbrechenden Urteil entschieden, dass effiziente Compliance Management Systeme bei der Zumessung von Sanktionen nach OWiG zu berücksichtigen sind.8 Damit schloss sich der BGH nicht nur der in vielen anderen Ländern bestehenden Entwicklung, sondern auch den Empfehlungen, die durch internationale Organisationen ausgesprochen werden, an.9 Dass Werte und Compliance integrale Bestandteile einer modernen Governance-Struktur darstellen, hat inzwischen auch die Regierungskommission Corporate Governance Kodex eingesehen und den DCGK entsprechend erweitert. Am 7.2.2017

5 Mehr zu dem Ansatz bei Freiesleben, Community Compliance, in Compliance Praxis 2014, 61 ff. 6 Zu finden unter: https://www.justiz.nrw.de. 7 Zu finden bei https://www.dico-ev.de/ und http://www.buj.net/index.php/de/home-buj. 8 BGH v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16. 9 Mehr dazu weiter unter Pkt. III.4.

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ist die aktuelle Fassung10 in Kraft getreten, in der zwei wesentliche Compliance-Aspekte angesprochen werden: Zum einen wird durch den Verweis in der Präambel auf den Grundsatz des ehrbaren Kaufmanns die Regel der Integrität und Ehrlichkeit in den Vordergrund gestellt.11 Der Leitfaden ist damit zum werteorientierten Kodex geworden. Zum anderen sind die Empfehlungen hinsichtlich der Compliance-Struktur erweitert worden. So werden derzeit der risikobasierte Ansatz sowie die Einrichtung eines Hinweisgebersystems explizit empfohlen.12 Die jüngsten Kodexreformen stellen unter Beweis, dass Compliance von der deutschen Governance-Struktur nicht mehr wegzudenken ist. Ferner stimmt die Entwicklung auch deswegen positiv, weil sie Hand in Hand mit der Rechtsprechung geht, welche indirekt ebenfalls die Einrichtung von CMS fordert. 2. Entwicklung in anderen Ländern Eine ähnliche und sich noch schneller entwickelnde Tendenz ist auch in anderen Ländern zu beobachten. Die nachfolgend erwähnten Beispiele stammen zwar aus dem Bereich der Korruptionsbekämpfung, ihre Ausstrahlungswirkung auf die übrigen Compliance-Bereiche dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein. Zunächst erwähnenswert ist die Lage in Großbritannien. Das Königreich entschied sich 2010 für die Einführung des bisher strengsten Anti-Korruptionsgesetzes in Form des sog. UK Bribery Act (kurz: UKBA). Das Gesetz sieht persönliche Haftung von Organisationsmitgliedern sowie Verbandshaftung vor, zugleich aber sind Mechanismen vorgesehen, welche Sanktionsmilderung oder Enthaftung bei nachgewiesenen Compliance-Bemühungen vorsehen. Das britische Justizministerium hat den Rechtsanwender nicht im Stich gelassen und relativ kurzzeitig nach Inkrafttreten des UKBA Richtlinien dazu erlassen, wie solche Bemühungen auszusehen haben, damit sie berücksichtigt werden können.13 Das UKBA selbst und die Richtlinien dürften hierzulande nicht unbekannt sein, findet das Gesetz schließlich über seine exterritoriale Anwendbarkeit auch auf deutsche Unternehmen Anwendung. Ähnliche Entwicklungen, auch wenn einige Jahre später, sind in Frankreich und in Spanien zu beobachten. Der spanische Gesetzgeber führte eine Änderung des eigenen Strafgesetzbuches durch und verankerte dort eine aus dem UKBA bekannte Konstruktion. Das Land ist einen Schritt weiter gegangen und hat den internationalen Compliance-Standard ISO 19600 CMS als einen spanischen Standard angenommen und sieht hierin den entscheidenden Referenzrahmen für die Prüfung der Möglich-

10 Abrufbar unter: http://www.dcgk.de//files/dcgk/usercontent/de/download/kodex/170424_ Kodex.pdf. 11 Vgl. Präambel zum DCGK. 12 Vgl. Ziff. 4.1.3 DCGK, abrufbar unter: http://www.dcgk.de/de/. 13 Guidance about procedures which relevant commercial organisations can put into place to prevent persons associated with them from bribing, abrufbar unter: https://www.justice. gov.uk/downloads/legislation/bribery-act-2010-guidance.pdf.

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keit von Sanktionsmilderungen oder Enthaftung.14 Ebenfalls ist der französische Gesetzgeber in eine ähnliche Richtung tätig geworden. Mit dem neuen Gesetz unter der Bezeichnung SAPIN II sind nicht nur Enthaftungsmöglichkeiten vorgesehen. Unternehmen, die bestimmte Kriterien erfüllen, und alle öffentlichen Einrichtungen wurden darüber hinaus zur Einführung von Hinweisgebersystemen gesetzlich verpflichtet.15 3. Entwicklungen in der EU Nach und nach wird die Compliance-Entwicklung auch durch den Gesetzgeber der Europäischen Union aufgegriffen und gefördert. Zu bemerken ist allerdings, dass die Initiativen auch hier eher punktuell und ohne einen einheitlichen Ansatz erfolgen. Es seien an der Stelle nur zwei Beispiele genannt. Zum einen erwähnenswert ist die sog. CSR-Richtlinie,16 welche inzwischen in Deutschland in das nationale Recht umgesetzt worden ist, indem unter anderem die Regelungen des HGB angepasst und ergänzt worden sind. Die Richtlinie regelt die sog. nicht finanziellen Berichtserstattungspflichten, wonach bestimmte Unternehmen künftig etwa über ihre Antikorruptions-Bemühungen werden informieren müssen. Der neue § 289d HGB erwähnt dabei explizit, dass die Kapitalgesellschaft für die Erstellung der nicht finanziellen Erklärung nationale, europäische oder internationale Rahmenwerke nutzen kann, was die Tür für die Verwendung der ISO-Standards öffnen kann. Die Richtlinie stellt einen wesentlichen Schritt in Richtung der Verrechtlichung des Bereichs der Corporate Social Responsibility dar.17 Des Weiteren erwähnenswert ist die Neuregelung des Datenschutzrechts durch die Datenschutzgrundverordnung (weiter als DSGVO) der Europäischen Union.18 Die DSGVO wird ab Mai 2018 gelten und erfordert von den Unternehmen jetzt schon zum Teil erhebliche Anpassungen ihrer Systeme an die neuen Regelungen. Auch nach der erwähnten VO sind Managementsysteme erforderlich, welche sich mit Datenverwaltung und Datenschutz befassen und als Teil eines ganzheitlichen CMS gestaltet werden können.

14 Ausführlich dazu bei Tauschwitz/Torneo, Die Kodifizierung von Compliance in Spanien, in Comply. 4/2015, 72 ff. 15 Ausführlich bei Querenet-Hahn, Neues Anti-Korruptionsgesetz in Frankreich, in Comply. 1/2017, 51 ff. 16 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABlEU L 330/1 v. 15.11.2015. 17 Ausführlich dazu bei Wolfmeyer, Steuerung von Corporate Social Responsibility durch Recht, Frankfurt a. M. 2016. 18 Verordnung EU/2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABlEU L 119/1 v. 4.5.2016.

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4. Globale Entwicklungen – Standards werden wichtiger Die Entwicklung auf der globalen Ebene betrifft insbesondere die Aktivitäten internationaler Organisationen. Diese waren in den letzten Jahren insbesondere im Bereich der Korruptionsprävention sehr aktiv. Viele von ihnen, darunter die OECD oder die ICC, haben Richtlinien und Leitfäden dazu veröffentlicht, wie insbesondere multinationale Organisationen, darunter Unternehmen, ihre Antikorruptions-Programme aufbauen können. Zwar stammen die Leitlinien von diversen Organisationen, doch lassen sich ihre wesentlichen Empfehlungen auf gemeinsame Nenner bringen19, welche wiederum von den Standards der ISO erfasst und um weitere Empfehlungen und Anforderungen ergänzt worden sind. Die ISO-Standards genießen global und in den einzelnen Ländern eine hohe Anerkennungskraft und ein erhebliches Durchsetzungspotenzial. Dies stellt etwa die bekannteste Managementnorm ISO 9001 Qualitätsmanagement unter Beweis, welche in den Achtzigerjahren veröffentlicht wurde. Nach zögerlicher Akzeptanz sind inzwischen weit über 1 Mio. Unternehmen weltweit nach dem Standard zertifiziert worden.20 Im Compliance-Bereich ist die ISO im Jahre 2012 erstmalig aktiv geworden mit der Initiierung eines Verfahrens zur Erarbeitung einer Grundnorm – der Ende 2014 veröffentlichten ISO 19600 Compliance Management Systems. Die Grundnorm ist Ende 2016 um eine Spezialnorm aus dem Bereich der Korruptionsprävention – die ISO 37001 Anti-Bribery Management Systems – ergänzt worden. In dem Ende 2016 gegründeten ständigen Gremium, dem Technischen Komitee 30921, werden derzeit  die Normen revidiert und neue Normen im Bereich der Governance und des Whistleblowing erwogen. Diese Entwicklungen lassen zwei wesentliche Rückschlüsse ziehen: Zum einen, ähnlich wie auch in Deutschland22, wird Compliance als ein fester Bestandteil der Governance angesehen. Zum anderen zeigen die vielfältigen Aktivitäten der ISO und eine rege Beteiligung ihrer Mitgliedstaaten an der Entwicklung der Normen, dass ein konkreter Bedarf und Interesse daran auf der globalen Ebene bestehen.

III. Der holistische Ansatz Wie oben ausgeführt, gewinnt Compliance und damit ein CMS nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, in der EU sowie auf der globalen Ebene erheblich an Bedeutung. Was hat all dies nun aber mit Export Compliance zu tun? Der hier verfolgte holistische Ansatz hat zum Ziel, dass unternehmensspezifische Compliance-Risiken, darunter auch die Risiken der Export Compliance, keinem getrennten sog. Stand-Alone-System unterliegen, sondern im Rahmen eines integrierten CMS 19 Grundlegend dazu bei Zentes, Das Sieben-Säulen-Modell der Korruptionsprävention  – Leitfaden zum Aufbau eines unternehmensinternen Anti-Korruptionsprogramms, Heidelberg 2017. 20 Quelle: www.iso.org. 21 Mehr dazu unter: https://www.iso.org/committee/6266703.html. 22 Vgl. die Ausführungen zum Verhältnis zwischen CMS und DCGK, unter Pkt. III.1.

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verwaltet werden sollten23, in dem diese Risiken ganzheitlich erfasst und entsprechend im Rahmen des CMS, d. h. seiner Strukturen und Prozesse, verwaltet werden. Im Nachfolgenden seien einige Grundelemente eines CMS24 dargestellt und erörtert, wie in dem Rahmen auch Risiken der Export Compliance im Sinne eines holistischen Ansatzes verwaltet werden könnten. 1. Die Führung – die Verantwortung Die bekanntlich entscheidende Rolle nicht nur im Außenwirtschaftsrecht als Ausfuhrverantwortliche, sondern auch in einem CMS, spielt die Unternehmensführung. Die Führung der Organisation sollte ein CMS nicht nur durch Zurverfügungstellung von entsprechenden Ressourcen, Schaffung von Zugängen für die Compliance-Funktion sowie ihr aktives Bekenntnis ermöglichen, sondern das System ständig unterstützen und kontrollieren, schließlich kann sie für die Systemverfehlungen auch zur persönlichen Haftung herangezogen werden.25 Das einheitliche Bekenntnis soll sich sinngemäß auf sämtliche Compliance-Verpflichtungen der Organisation beziehen, also auch diejenigen aus dem Bereich der Export Compliance. Alleine der erste Schritt macht deutlich, dass es kaum Sinn macht, die Export Compliance Systeme aus dem Bereich der allgemeinen CMS auszugliedern. 2. Integrierte Risikosteuerung Dieselbe Feststellung gilt auch für die weiteren CMS-Elemente, hier die einheitliche Risikosteuerung. Ziel und Aufgabe des Compliance Risk Managements (CRM) liegt darin, die für die Organisation verbindlichen Verpflichtungen zu erfassen und auf der Basis entsprechende CMS-Maßnahmen zu entwerfen, mit denen diese Risiken maßgeschneidert und effektiv adressiert werden können. Die Regelungen und Verpflichtungen aus dem Bereich des Zoll- und Exportrechts können mit denselben methodischen Schritten, wie bei allen anderen Compliance-Risiken, erfasst und evaluiert werden. Alleine aus Kostengründen und zur Vermeidung von Doppelung von Prozessen sei geboten, ein einheitliches CRM einzuführen, im Rahmen dessen sämtliche Compliance-Risiken, auch die der Export Compliance, behandelt werden. 3. Integrierte Richtlinien und Verhaltenskodizes Sowohl in dem allgemeinen Compliance-Bereich als auch im Bereich der Export Compliance werden sog. Compliance-Richtlinien oder Verhaltenskodizes praktiziert. Sie dienen dem Zweck, die bestehenden Regeln in einer einfachen Sprache zusammenzufassen und sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen, damit diese sich über die in deren Bereichen geltenden Compliance-Verpflich23 Ausführlich zur Integration des ICP mit dem CMS bei Makowicz, Integrierte Managementsysteme zur Steuerung außenwirtschaftsrechtlicher Risiken: Warum macht die Integration des ICP in das CMS Sinn?, in Der Zoll-Profi 3/2016, 2 ff. 24 Die Grundelemente sind der ISO 19600 CMS wahlweise entnommen worden. 25 Beispielhaft dafür vgl. LG München v. 10.12.2013 – 5HK O 1387/10, 5HK O 1387/10, abrufbar unter: https://openjur.de/u/682814.html.

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tungen schnell einen Überblick verschaffen können. Hierzu bietet sich ein einheitliches Dokument an, in dem die Compliance-Verpflichtungen und die sich aus ihrer Nichteinhaltung ergebenden Risiken und Folgen situationsspezifisch dargestellt werden. Auch dies erfordert einen holistischen Ansatz, mit dem sämtliche eine bestimmte Situation betreffenden Regeln abgebildet werden. Hierzu können etwa im Bereich der Vertriebsabteilung die Risiken der Export Compliance gehören. Auch insofern ist also eine einheitliche und integrierte Vorgehensweise geboten. 4. Integrierte Kommunikation Es liegt auf der Hand, dass die Kommunikation den wesentlichen Bestandteil eines jeden CMS ausmacht. Dies geht auch auf den werteorientierten Ansatz zurück. Wenn einerseits ausgeführt wurde, dass Werte über das menschliche Verhalten, also die Entscheidung, Regeln zu brechen oder sie einzuhalten, entscheiden, so müssen andererseits die kommunikativen Maßnahmen bezwecken, dies zu beeinflussen. Im Vordergrund stehen hier diverse Kommunikationskanäle, inkl. E-Mails, Newsletter, aber auch Quiz oder Schulungen, mit denen Mitglieder der Organisation über die Compliance-Verpflichtungen, über das CMS, die Unternehmenswerte und Risiken informiert werden. Auch in dem Bereich ist es höchst geboten, die Risiken einheitlich zu betrachten, damit die Mitglieder der Organisation diese ernsthaft und auf höchster Ebene von herausragender Bedeutung wahrnehmen, damit das Bewusstsein entsprechend sensibilisiert und eine nachhaltige Compliance-Kultur, in dem Zuge auch für die Export Compliance, gefördert wird. 5. Integrierte Berichterstattung Eine ähnliche Zielsetzung hat die einheitliche Berichterstattung. Werden die Compliance-Berichte in die jährlichen Lageberichte integriert, so werden die Compliance-­ Themen von den Adressaten der Berichte auf gleich hoher Ebene wahrgenommen und verankert wie die sonstigen operativen Themen. Erfolgte zuvor eine Integration der Export Compliance in das einheitliche CMS, so werden auch die Export-Themen entsprechend vermittelt werden können, was zur Folge haben kann, dass das jeweilige Bewusstsein der Mitglieder der Organisation für diese Themen noch stärker sensibilisiert wird. 6. Integriertes Krisenmanagement, Evaluation und Verbesserung Ein holistischer Ansatz bietet sich ferner im Bereich der letzten prozessualen Schritte im Rahmen eines CMS an, nämlich der Evaluation und Verbesserung. In dem Zusammenhang erwähnenswert ist ferner ein integriertes Krisenmanagementsystem. Eine Compliance-Verfehlung ist in der Regel vielschichtig, d.h., die Realisierung eines Compliance-Risikos kann in der Verletzung diverser Compliance-Verpflichtungen liegen. So kann etwa eine Ware ins Ausland ausgeliefert werden, indem für das Geschäft zuvor Schmiergelder gezahlt wurden, Daten in einer ausländischen Cloud gespeichert wurden, die nicht den Standards des EU-Rechts entspricht, und die Ware schließlich auch noch falsch verzollt und in einen Staat geschickt wurde, der auf einer 80

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Blacklist steht. Dies macht deutlich, dass mit einer Handlung oder auch Unterlassen Regelungen des Korruptions-, Datenschutz-, Zoll- und Außenwirtschaftsrechts verletzt werden könnten. Solche Situationen können nur im Rahmen eines einheitlichen Krisenmanagementsystems effektiv gehandhabt werden. Schließlich, wenn schon die übrigen Elemente integriert worden sind, ist es nur konsequent, wenn die Systemevaluation und die zwingend notwendige ständige Verbesserung des Systems nach einem holistischen Ansatz erfolgen.

IV. Umsetzung und Vorteil des holistischen Ansatzes Der hier verfolgte holistische Ansatz entspricht nicht nur der Unternehmensrealität, besser als die Schaffung und Doppelung von Systemen und Systemelementen, sondern bringt viele weitere Vorteile mit sich, deren Erreichung noch realistischer wird, wenn Unternehmen ihre integrierten CMS gemäß den anerkannten ISO-Standards gestalten. 1. Vorteile des holistischen Ansatzes Die einheitliche Betrachtung der Organisationen und damit der Unternehmen in Bezug auf die Steuerung von Compliance-Risiken bringt erhebliche Vorteile mit sich, von denen nur wesentliche erwähnt werden. Erstens kann die Integration zu sichtbaren Ersparnissen führen. Werden dieselben Elemente für verschiedene Funktionen verwendet, so entstehen keine zusätzlichen Prozesskosten. Zweitens bewirkt die Integration eine Optimierung. So kann im Zuge der Vereinheitlichung ermittelt werden, welche Elemente doppelt oder dreifach bestehen, und diese entsprechend optimiert werden. Drittens kann der holistische Ansatz die betriebliche Managementstruktur deutlich vereinfachen, damit mehr Transparenz schaffen, welche wiederum auf größere Akzeptanzbereitschaft seitens der Mitglieder stoßen kann. Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz, das Optimierungspotenzial sowie Transparenzsteigerung sind die wesentlichen Vorteile der Integration. Hinzu tritt selbstverständlich die Steigerung der Effektivität und Effizienz solcher Systeme. 2. Bedeutung der Standards Nicht von unerheblicher Bedeutung sind schließlich für den holistischen Ansatz die ISO-Standards, darunter insbesondere die Grundnorm ISO 19600 CMS. Die Norm verfolgt zum einen selbst einen holistischen Ansatz. So hat die ISO vor einigen Jahren für alle Managementnormen eine einheitliche Struktur vorgegeben, die sog. High Level Structure (HLS). Dies hat zur Folge, dass sowohl bei etwa der ISO 9001 Qualitätsmanagement als auch bei der ISO 31000 Risikomanagement oder eben der ISO 19600 CMS die gleichen Prozesselemente und Strukturen als Basis empfohlen werden. Der erhebliche praktische Nutzen einer einheitlichen Struktur liegt auf der Hand: Bei jedem nach ISO-Standard eingeführten Managementsystem können die in der betrieblichen Struktur bestehenden Elemente mitverwendet werden. So können neue Managementsysteme in das bestehende Unternehmensumfeld leicht eingefügt werden. 81

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Auch abgesehen hiervon verfolgt ISO 19600 für ihren eigenen Anwendungsbereich ebenfalls einen einheitlichen Ansatz. Der Standard ist dafür vorgesehen, im Rahmen eines nach seinen Empfehlungen implementierten CMS sämtliche in der Organisa­ tion bestehenden Compliance-Risiken zu verwalten, darunter solche aus den Bereichen des Wettbewerbsrechts, Datenschutzes, Korruption, Umwelt und  – eben der Export Compliance. Zwar hat ISO auch einen Spezialstandard für Korruptionsprävention veröffentlicht, doch stellt dieses lediglich eine Ergänzung um Anforderungen dar, die Unternehmen erfüllen können, wenn sie ihre Systeme zusätzlich zu den Grundelementen des ISO 19600 um spezifische Aspekte der Korruptionsprävention ergänzen möchten. Neben ihrer besten Eignung für die Umsetzung des holistischen Ansatzes bringen die Standards eine ganze Reihe an weiteren Vorteilen. Organisationen, die ISO-Standards einführen, stellen unter Beweis, ihre Systeme nach dem globalen „state of art“ implementiert zu haben. Ihre Systeme sind für ausländische Geschäftspartner schneller erkennbar, was zu mehr Vertrauen und Vermeidung von weiteren Prüfungen führen kann. In Anbetracht der oben erwähnten Entwicklungen, die belegen, dass Compliance national, international und global an Bedeutung gewinnt, können auch die Standards künftig eine wichtigere Rolle denn je spielen. Als Beleg dafür seien nur zwei Beispiele genannt: Zum einen wurde in dem erwähnten Urteil des BGH entschieden, dass CMS bei der Zumessung von Sanktionen mildernd zu berücksichtigen sind, jedoch fehlt in Deutschland ein anerkannter Standard, nach dem die Richter im konkreten Sachverhalt prüfen könnten, welche Elemente zu einem effektiven CMS gehören. Hier könnte ISO 19600 künftig als ein Referenzrahmen gelten. Ähnlich verhält es sich bei den bereits bestehenden nicht finanziellen Berichtspflichten, bei denen im HGB die Nutzung von internationalen Rahmenwerken explizit vorgesehen ist.

V. Zusammenfassung Die Bezeichnung Deutschlands und der hinter der Bezeichnung stehenden Unternehmen als Exportweltmeister verpflichtet. Deutsche Unternehmen sollten ebenfalls Meister der Export Compliance sein und alle einschlägigen Risiken effektiv erkennen und steuern. Hierzu bieten sich bestens integrierte Compliance Management Systeme an, bei denen ebenfalls die Risiken der Export Compliance behandelt werden können, um damit diverse Integrationsvorteile zu nutzen. Compliance hat national, international und global erheblich an Bedeutung gewonnen, und der Trend wird weiterhin anhalten. Der holistische Ansatz ermöglicht, dass Unternehmen systematisch mit ihren Risiken umgehen, diese erkennen und effektiv steuern. Können effektive CMS nachgewiesen werden, so werden sie auch im Falle der Verfehlung zu einer Sanktionsmilderung führen und vielfältige Vorteile generieren können. Die bestehenden ISO-Standards bieten dabei nicht nur für Unternehmen bestens geeignete Orientierungshilfen an, sie können künftig auch von der Justiz und Behörden als Referenzrahmen herangezogen werden. Der Bedarf ist bereits jetzt vorhanden. 82

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Interne Compliance-Programme in der Exportkontrolle – Modelle im Vergleich Inhaltsübersicht

I. Einführung, historische Entwicklung und aktueller Anspruch an interne Exportkontroll-Compliance-Programme 1. Einleitung 2. Historische Entwicklung des Compliancebegriffs im Außenwirtschaftsrecht 3. Übertragung der historisch gewachsenen Anforderungen auf heutige Ausführer

II. Entstehung von Export-Compliance-­ Programmen 1. Nunn-Wolfowitz Task Force Report a) Bekenntnis der Unternehmensführung/Management Commitment b) Export-Compliance-Gremium/ Compliance Council c) Export-Compliance-Personal/­ Export Compliance Personnel d) Export-Compliance-Dokumen­ tation im Unternehmen e) Export-Compliance Intranet f) Ausbildung/Schulung/Training g) Umgang mit Genehmigungen h) Genehmigungsabwicklung/­ Implementierung von „License ­Authorizations“ i) Record Keeping/Dokumentation und Aufbewahrung



j) Audits 2. Wassenaar Best Practice a) Commitment to comply b) Structure and Responsibility c) Export Screening Procedures d) Shipment Control e) Performance review f) Training g) Record Keeping h) Reporting und Corrective Action

III. Compliance-Programme und deren Anforderungen im Vergleich 1. Einleitung 2. USA a) Gesetzliche Grundlagen b) Export-Compliance-Modelle des BIS und des DDTC 3. Deutschland und Europäische Union a) Rechtsgrundlagen / Pflichten zur Einführung von Compliance-Programmen b) Exportkontroll-Compliance-Modelle in Deutschland c) Beurteilung von Compliance-­ Programmen im Rahmen der ­Offenlegung bestimmter Verstöße im Sinne des § 22 Abs. 4 AWG 4. Fazit

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I. Einführung, historische Entwicklung und aktueller Anspruch an ­interne Exportkontroll-Compliance-Programme 1. Einleitung Dem Begriff der „Compliance“ und der „Corporate Governance“ als Unternehmensverfassung kommt seit jeher eine hohe Bedeutung in Wirtschaft und Recht zu.1 Er wird in der Unternehmenspraxis kultiviert durch die Unternehmenspraxis in Gestalt einer Compliance-Kultur.2 Diese orientiert und spiegelt sich aktuell je nach Aktionsradius der Wirtschaftsbeteiligten in den regulativen Anforderungen diverser, sich teilweise überlagernden Rechtskreise.3 Zahlreiche Fälle der „Non-Compliance“ von Einzelpersonen oder Unternehmen, werden aktuell medienwirksam kommuniziert. Daher mag der Eindruck entstehen, dass Compliance, Compliance-Kultur und Compliance-Management noch keine nennenswerte Historie aufweisen. Bei genauerer Betrachtung finden jedoch zahlreiche dieser neuartig anmutenden Organisationsund Rechtsprinzipien ihren Ursprung in etablierten Handelsgrundsätzen Kontinentaleuropas im frühen Mittelalter. Das mit den Hansekaufleuten und in den Gilden seinen Anfang nehmende Leitbild des „Ehrbahren Kaufmanns“ versinnbildlichte Tugenden wie Integrität, Aufrichtigkeit und Verantwortlichkeit. Verstärkt wurde dies durch die seit dem elften Jahrhundert aufkommenden Kaufmannsgilden. Nach dem Prinzip der freiwilligen Selbstbindung erließen sie bereits Verhaltensvorschriften, deren Missachtung bzw. Einhaltung negativ sanktioniert wurde. Dem seither entwickelten Verständnis des ehrbaren Kaufmanns entsprechen solche Unternehmer, die nicht nur im geschäftlichen Verkehr nach dem Grundsatz von Treu und Glauben handeln, sondern darüber hinaus ein Bewusstsein für ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben und versuchen, dieser Verantwortung gerecht zu werden.4 Der Bogen zur heutigen Zeit wird mit der Aufnahme dieser Grundsätze in den Deutschen Corporate Governance Kodex geschlagen, in dem nunmehr verankert ist, dass gute Unternehmensführung sich durch legales und ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten auszeichnet.5 Dieses Prinzip der Befolgung und Einhaltung bestimmter Verhaltensgebote und -verbote entspricht dem grundlegenden Gedanken dessen, was man heute gemeinhin unFür die Vorbereitungen und Literaturrecherchen zu diesem Beitrag danke ich meinem Mitarbeiter, Herrn Dipl. iur. Johannes Damm, Münster. 1 Hauschka/Moosmayer/Lösler, Einführung/Grundlagen der Compliance, in: Hauschka, Corporate Compliance, 3. Aufl., S. 5 ff. 2 Wendt, Compliance-Kultur – Grundlagen und Evaluierung, in: Hauschka, Corporate Compliance, 3. Aufl. 3 Wendt (Fn. 2), S. 278ff. 4 Kixmöller, Der ehrbare Kaufmann: Was haben Leitbilder von Berufsgruppen mit dem My­ eispiel thos zu tun und inwiefern haben sie in der heutigen Realität Bestand? Dargestellt am B des Ehrbaren Kaufmanns, S. 19ff., unter https://www.uni-frankfurt.de/43516904/Ehrbarer_ Kaufmann.pdf 5 Präambel des „Deutscher Corporate Governance Kodex“ in der Fassung vom 7.2.2017, ­unter: http://www.dcgk.de/de/kodex/aktuelle-fassung/praeambel.html zuletzt abgerufen am 1.11.2017.

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ter dem Begriff „Compliance“ versteht6. Dabei muss das Bestreben um normkonformes Verhalten nicht nur auf das jeweils geltende (Gesetzes-)Recht beschränkt sein, sondern kann auch die Bemühung um die Einhaltung unternehmensinterner Richtlinien einschließen.7 2. Historische Entwicklung des Compliancebegriffs im Außenwirtschaftsrecht Erstmals wurden in Deutschland wesentliche Elemente dessen, was man heute als Compliance im Außenwirtschaftsrecht versteht, im Kontext des Falls „Hippenstiel-­ Imhausen“ medienwirksam bedeutsam. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre baute nach entsprechenden Medienberichten der deutsche Unternehmer Dr. Jürgen Hippenstiel-Imhausen als Geschäftsführer der Firma „Imhausen Chemie“ eine Giftgasanlage für das Libysche Militär in Rabta. Der Fall macht deutlich, wie seinerzeit berichtet, unter Verschleierung des tatsächlichen Bestimmungsprojektes die geringfügigen Exportkontrollmechanismen der Firma Imhausen Chemie umgangen und das Unternehmen für die illegalen Beschaffungsversuche des Libyschen Staates genutzt wurde.8 Ende der achtziger Jahre wurden dann, nicht zuletzt aufgrund der gemachten Erfahrungen in den vorgenannten Fällen, die Vorschriften des deutschen Außenwirtschaftsgesetzes ergänzt und die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen insbesondere auch von der Zuverlässigkeit des Ausführers abhängig gemacht. Zur Konkretisierung der Zuverlässigkeitsprüfung hatte die damalige Bundesregierung am 28.11.1990 die „Grundsätze zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern“ beschlossen9. Danach mussten Ausführer genehmigungspflichtiger Güter auf Vorstands- bzw. Geschäftsführungsebene einen Ausfuhrverantwortlichen benennen.10 Mit diesen Maßnahmen und der Verankerung der Verantwortung auf höchster Managementebene sollte verhindert werden, dass durch illegale Ausfuhren in diesem Bereich die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt, das friedliche Zusammenleben der Völker gestört oder die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland belastet werden. Damit war der Grundstein gelegt, Compliance-Verantwortung in der Exportkontrolle auf höchster Managementebene zu verankern. Seither hat sich vieles im Umfeld der Ausfuhrverantwortung deutscher Exporteure verändert. Globale Produktions-, Lieferungs- und Beschaffungsprozesse erfordern 6 Beutel/Hötzl, Compliance im Außenwirtschaftsverkehr, AW-Prax 2016, S. 67. 7 Hauschka in: Hauschka, Corporate Compliance, 3. Aufl., § 1 Rz. 2. 8 Ausführlich zum Fall Rabta: Ricke, Präventive Maßnahmen bei der Ausfuhr von Gütern (Diss.), EFA-Schriftreihe, Band 47, 2011, S.  43ff.; weitere Fälle in den 80er Jahren (Fritz Werner GmbH- Iran; HDW- Südafrika; Hanauer Nuklearfabrik NTG- Pakistan; MBB-Irak und Brasilien) nachzulesen bei Pietsch, Die Bekämpfung illegaler Rüstungsexporte, Kritische Justiz 1991, S. 478. 9 Grundsätze der Bundesregierung zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und sonstigen rüstungsrelevanten Gütern vom 29. November 1990 (BAnz. S. 6406). 10 Pietsch (Fn. 8), S. 480f.

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einen nahezu 360° Blick auf die betroffenen Rechtskreise, über das deutsche Recht hinaus. Extraterritorial greifende Regelungen z.B. des US-Rechts in Bezug auf Güter-, Personen- und Länderlisten, deren Geltung aus Sicht der USA auch im Ausland beansprucht wird, stellen Wirtschaftsunternehmen vor umfangreiche transaktionsbezogene Herausforderungen, will man eine 360°-Compliance erreichen. Daher soll in diesem Beitrag exemplarisch untersucht werden, welche Anforderungen aus US-Sicht und aus deutscher Sicht an Exportkontroll-Compliance-Prozesse zu legen sind. 3. Übertragung der historisch gewachsenen Anforderungen auf heutige ­Ausführer Nach Änderungen des deutschen und europäischen Außenwirtschaftsrechts wurde die am 1.8.2001 aktualisierte Fassung des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle nun mit Bekanntmachung vom 27.7.2015 überarbeitet und die Formulare zur Benennung des Ausfuhrverantwortlichen „AV 1“ und zur Delegation der Zeichnungsbefugnis „AV 2“ angepasst. Die Änderungen betreffen Verweise auf die aktualisierten Normen sowie Klarstellungen in den Formularen.11 Allerdings wurden im Benennungsformular AV1 die Erläuterungen zum Ausfuhrverantwortlichen konkretisiert. Danach hat der Ausfuhrverantwortliche zur Wahrung seiner Pflichten ein funktionierendes innerbetriebliches Exportkontrollsystem (ICP) zu installieren. Den Ausfuhrverantwortlichen müssen in Deutschland viele Unternehmen weiterhin ­benennen; auch wird die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz weiter von sachlichen und persönlichen Voraussetzungen des Ausführers und in besonderen Fällen weiterhin von der Benennung des Ausfuhrverantwortlichen abhängig gemacht. Die fortschreitende Internationalisierung der Güterproduktion und des Handels hat zur Folge, dass das Außenwirtschaftsrecht in den vergangenen Jahren weiterhin an Bedeutung gewonnen hat. Auch in Deutschland wickelt ein wachsender Teil der Unternehmen seine Geschäfte über internationale Liefer-, Logistik- und Vertriebsketten ab. Dabei müssen die Wirtschaftsbeteiligten heute nicht nur das nationale Außenwirtschaftsrecht Deutschlands, sondern auch das supranationale Recht der Europäischen Union und die völkerrechtlich geprägten Regelungen der Vereinten Nationen kennen und befolgen. Diese ineinandergreifenden und mitunter komplexen Regelungssysteme stellen dabei eine immer größere Herausforderung für die Wirtschaftsbeteiligten dar12. Dennoch gilt der Grundsatz: Unternehmen sind für ihre Auslandsgeschäfte selbst verantwortlich13. Teilnehmer am Außenwirtschaftsverkehr sind verpflichtet, geltendes Recht, mithin auch die Vorschriften des Exportkontrollrechts einzuhalten 11 Bekanntmachung zu den Grundsätzen der Bundesregierung zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern vom 27. Juli 2015 http://www.bafa.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aussenwirtschaft/afk_ausfuhrverantwor​ tlicher_bekanntmachung.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 12 HADDEX Ord. 1 Teil I Rz. 70. 13 HADDEX Ord. 1 Teil I Rz. 1.

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und nicht zu verletzen. Unternehmen und den verantwortlichen Personen obliegt es also, Maßnahmen zu ergreifen, die sicherstellen, dass Mitarbeiter aus dem unter­ nehmerischen Verantwortungsbereich heraus bei Ausführung betriebsbedingter Tätigkeiten keine Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begehen. Dem Ausfuhrver­ antwortlichen obliegt dabei die Organisationspflicht, die Personalauswahlpflicht, die Personalweiterbildungspflicht sowie die Überwachungspflicht. Verstöße im Außenwirtschaftsrecht werden strafrechtlich sanktioniert und führen auch verwaltungsund zivilrechtlich zu schwerwiegenden Konsequenzen. Aber nicht nur im Bereich der Exportkontrolle, auch im Bereich des Zoll- und Logistiksektors haben Sicherheitskonzepte zur Sicherheit in der internationalen Lieferkette Niederschlag gefunden und werden mittlerweile global ausgerichtet. Diese zunehmende Globalisierung und die veränderte internationale Sicherheitslage haben die Weltzollorganisation (WZO) veranlasst, mit einem „Framework of Standard to Secure and Facilitate Global Trade“ (SAFE)14 weltweite Rahmenbedingungen für ein modernes effektives Risikomanagement in den Zollverwaltungen zu schaffen. Auf europäischer Ebene wurden seinerzeit die sicherheitspolitischen Aspekte des SAFE durch Sicherheitsänderungen zunächst im Zollkodex und in der Zollkodex-Durchführungsverordnung umgesetzt. Seit dem 1.5.2016 finden die Bestimmungen des Zollkodex der Union (UZK), der Durchführungsverordnung (IA), der Delegierte Verordnung (DA) und die Übergangsbestimmungen (TDA) Anwendung. Die Einführung des Zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten (AEO – Authorised Economic Operator) stellt ein wesentliches Element des EU-Sicherheitskonzepts dar.15 Das Prinzip des AEO ähnelt den bisher vorgestellten zuverlässigen Akteuren: Der AEO weist Strukturen und Prozesse nach, die ihn als besonders zuverlässig und vertrauenswürdig gelten lassen, wofür er einen Status bescheinigt bekommt und dafür besondere Vergünstigungen im Rahmen der Zollabfertigung in Anspruch nehmen kann.16 Zur Förderung der Ziele der Exportkontrolle, zum Schutz der verantwortlichen Personen im Unternehmen, zur Sicherung verwaltungsrechtlicher Privilegien im Bereich des Zoll- und Außenwirtschaftsrechts und nicht zuletzt zur Vermeidung von Imageund Vermögensschäden ist es unerlässlich, dass Unternehmen alle zumutbaren Handlungen ergreifen, um drohende Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht zu verhindern17.18 Dieses Bestreben um ein normgerechtes, an Compliance orientiertes Verhalten ist daher ein ureigenes Interesse eines langfristig handelnden und auf Nachhaltigkeit bedachten Wirtschaftsbeteiligten. Die auf diesen Erwägungen beru14 http://www.wcoomd.org/en/topics/facilitation/instrument-and-tools/tools/safe_package. aspx, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 15 http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zugelassener-Wirtschaftsbeteiligter-AEO/­ zugelassener-wirtschaftsbeteiligter-aeo_node.html, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 16 Zur (Teil-)Übertragung der Grundsätze des AEO auf das Außenwirtschaftsrecht vgl. unten unter 4. 17 Zu den Gründen für die Einrichtung es ICP siehe ausführlich ab S. 4 ff. des BAFA Merkblatts zum ICP http://www.bafa.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aussenwirtschaft/afk_ merkblatt_icp.pdf?__blob=publicationFile&v=3 ,abgerufen am 1.11.2017. 18 Pfeil/Mertgen, Compliance im Außenwirtschaftsrecht, 2016, Kap. H Rz. 2.

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hende Gesamtheit von Maßnahmen nimmt regelmäßig komplexe und aufeinander abgestimmte Strukturen an, welche in der Fachliteratur und mittlerweile auch in der Behördenpraxis als „Internal Compliance Programm“ (ICP)19 bezeichnet werden. Im Bereich des Zollrechts werden die für den AEO-notwendigen Maßnahmen als Bewilligungsvoraussetzungen im Gesetz definiert (Art. 39a – e UZK i.V.m. Art. 24 – 28 IA)20. Eine steigende technische Komplexität der Ausfuhrgüter, unsichere politische Situationen in Ländern und Regionen auf dem Weltmarkt und deren unvorhersehbare Entwicklung; gestufte und länderübergreifende Entwicklung und Fertigung auch sensibler Güter oder mit sensiblen Technologien, erhöhen das Risiko, gegen geltendes Außenwirtschaftsrecht zu verstoßen. Steigende Transaktionshäufigkeit verursacht einen steigenden Prüfungsaufwand. Diesem Aufwand kann in einer effizienten Weise nur durch die Installation eines systematisch strukturierten ICPs begegnet werden. Ein ICP als unternehmensinternes Kontroll- und Prozesssystem dient dazu, die Einhaltung des geltenden Rechts systematisch und lückenlos zu fördern. Dabei gilt der Grundsatz, dass es kein allgemeines ICP gibt, welches die Bedürfnisse aller Unternehmen gleichermaßen erfüllt. Vielmehr bedarf es der Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls. Nur so kann ein zielgenaues ICP entwickelt und angemessen etabliert und gelebt werden.21 Im Folgenden sollen die ausgewählten ICP-Modelle für den Bereich der Exportkon­ trolle überblicksartig vorgestellt und eingeordnet werden. Dabei werden insbesondere die Unterschiede in Ansatz, Aufbau und Wirkung aufgezeigt.

II. Entstehung von Export-Compliance-Programmen 1. Nunn-Wolfowitz Task Force Report Der US-amerikanischen Elektronik Konzern „Hughes“ erteilte im Jahr 1999 dem ehemaligen US Senator Sam Nunn und dem damals als Botschafter tätigen, späteren Weltbank Präsidenten Paul Wolfowitz den Auftrag, ein Compliance-Modell für die Implementierung einer „best practice“ im Bereich der konzernweiten Exportkon­ trolle zu entwickeln. Die so ins Leben gerufene „Nunn-Wolfowitz Task Force“22 legte dem Vorstand von Hughes nach halbjährlicher Forschung im Juli 2000 ihren „Report“ vor. Dieser gilt mittlerweile nicht nur in internationalen Fachkreisen, über die

19 Bzw. Internal Compliance Systems. 20 Die Bewilligungsvoraussetzungen umfassen die bisherige Einhaltung der zoll- und steuerrechtlichen Vorschriften; ein zufriedenstellendes Buchführungssystem; die nachweisliche Zahlungsfähigkeit; angemessene Sicherheitsstandards; praktische oder berufliche Befähigung. 21 Merz, Compliance im Außenwirtschaftsrecht, in: Hauschka, Corporate Compliance, 3. Aufl., § 32 Rz. 13ff. 22 Im Folgenden: Task Force.

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USA hinaus als Grundlagenwerk und Geburtsstunde der heutigen Exportkontroll-­ Compliance-Systeme. Die Untersuchungen der Task Force umfassten neben einer Bestandsaufnahme des geltenden US Exportkontrollrechts zahlreiche Interviews mit Vertretern der regulierenden Behörden23 und der betroffenen Wirtschaftsbeteiligten. In ihrem Report24 identifiziert die Task Force zwölf Schlüsselbereiche, die für ein ganzheitliches Compliance-System im Bereich der Exportkontrolle zu beachten sind. a) Bekenntnis der Unternehmensführung/Management Commitment Als ersten und grundlegenden Schritt in Richtung Compliance sieht die Task Force in ihrem Bericht ein Bekenntnis (engl. „commitment“) der Unternehmensführung zur Compliance als unerlässlich an. Nur wenn es gelingt, die Einhaltung von Exportkontrollvorschriften als gewichtiges Unternehmensziel zu verankern, stoßen Compliance-­ Maßnahmen nach dem Report unternehmensweit in den nachgeordneten administrativen und operativen Bereichen auf Akzeptanz und Beachtung. Daher ist neben klar formulierten und kommunizierten Compliance-Zielen auch die aktive Einbindung eines oder mehrerer Mitglieder der Unternehmensführung in innerbetrieblichen Exportkontrollorganen25 unerlässlich; insbesondere in überwachender oder verwaltender Tätigkeit. Ebenso grundlegend ist die Bereitstellung der erforderlichen finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen. Den Exportkontrollorganen sind Mittel zu gewähren, die den operativen Anforderungen an sie gerecht werden und zugleich attraktive Arbeitsbereiche für Mitarbeiter schaffen. Die erforderlichen Kompetenzen und Weisungsrechte sind ihnen von der Unternehmensführung einzuräumen. b) Export-Compliance-Gremium/Compliance Council Als koordinierendes Compliance Organ sehen die Ergebnisse der Task Force ein sog. Compliance-Gremium vor. Dieses, geführt von einem leitenden, fachlich und bereichsübergreifend weisungsbefugten Angestellten und besetzt mit Mitarbeitern exportkontrollrelevanter Bereiche26 trifft sich anlassbezogen oder regelmäßig quartalsweise zur Evaluation der innerbetrieblichen Exportkontroll-Compliance und befasst sich mit zugehörigen übergeordneten Fragestellungen. Es erstellt der Unternehmensführung einen jährlichen Bericht über die Aktivitäten der Exportkontroll-Compliance. Neuentwicklungen von Produkten, die in Bezug auf Genehmigungspflichten relevant sind, neue Anwendungs- und Verwendungsbereiche von Produkten in neuralgischen Endverwendungen, Länder- und Marktberichte in Bezug auf Krisen oder politische Entwicklungen können Eckpfeiler der Prüfroutinen für eine präventive und nachhaltige Kontrolle sein. 23 U.S. Department of Commerce, U.S. State Department und U.S. Department of Defense. 24 www.usexportcompliance.com/Papers/nunnwolfowitz.pdf, zuletzt abgerufen am 1.11.2017 25 Etwa in einem „Exportkontroll-Gremium“; so der Vorschlag der Task Force. 26 Syndikus oder Chief Compliance Officer, Innenrevision, Exportkontrollabteilung, u.a.

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c) Export-Compliance-Personal/Export Compliance Personnel Die Qualität eines Compliance-Programms steht und fällt neben seiner inhaltlichen Akzeptanz mit den ausführenden Personen. Daher sind bzgl. des Personaleinsatzes drei wesentliche Komponenten zu beachten: Die angemessene Anzahl der Exportkontrollmitarbeiter, ausreichende und aktuelle Qualifikation der Mitarbeiter und organisatorisch effektive Integration in die Unternehmensprozesse. Letzteres bedeutet insbesondere, dass bei der Wahl der örtlichen und strukturellen Eingliederung der Exportkontrollabteilung darauf zu achten ist, die Entstehung möglicher Interessenkonflikte zu vermeiden. So ist es ganz grundsätzlich geboten, die für Compliance zuständigen Abteilungen von denjenigen zu trennen, die überwacht werden sollen.27 Bezogen auf die Exportkontrolle entstehen solche Zielkonflikte regelmäßig zwischen den für Vertrieb und Versand zuständigen Abteilungen einerseits und der Export­ kontrollabteilung andererseits. Hier ist eine, auch räumliche Trennung in aller Regel angezeigt. Sam Nunn und Paul Wolfowitz stellen in ihrem Report fest, dass ein Vorgehen, wie es viele der von ihnen in den USA untersuchten Unternehmen bereits betreiben, sinnvoll ist. Dort berichten die Exportkontrollorgane regelmäßig direkt an den general counsel, dieser entspricht der Rechtsabteilung oder der Stellung eines Syndikusanwalts. Gleichzeitig benennt der Report ein Defizit bei der Attraktivität von Stellen in der Exportcompliance. Viele Unternehmen hätten Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter für den Bereich Exportcompliance zu gewinnen. Hier müssten verstärkt Anreize geschaffen werden28. d) Export-Compliance-Dokumentation im Unternehmen Für ein unternehmensweites, einheitliches Vorgehen ist es unverzichtbar, die betrieblichen Exportkontrollmechanismen in einem Handbuch bzw. einer Unternehmensrichtlinie niederzulegen. Dieses sollte neben der Zusammenfassung exportkontrollrelevanter Vorschriften und grundsätzlichen betrieblichen Compliance-Strukturen alle relevanten Verfahrensabläufe und Zuständigkeiten aufzeigen. Dabei sind insbesondere die Abläufe bei der Produktklassifizierung, Check- und Prüflisten im Sinne einer „Know-your-customer-guidance“, Red-flag-Checklisten zur Transaktionsvorprüfung sowie die Genehmigungsbeantragung und -anwendung, wie auch Ansprechpartner, deren Vertreter und Zuständigkeiten zu berücksichtigen. Die Handbücher sind in einer verständlichen Sprache zu verfassen und allen betroffenen Mitarbeitern zugänglich zu machen. e) Export-Compliance Intranet Viele Unternehmen haben nach Ergebnissen des Reports mit einer Export-Compliance Intranet Seite gute Erfahrungen gemacht. Auf einer solchen können die wesentlichen Exportkontrollmechanismen des Unternehmens dargestellt werden, wie etwa 27 Ausführlich Meier-Greve, Zur Unabhängigkeit des sog. Compliance Officers, CCZ 2010, S. 216ff. 28 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 13.

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die Corporate Export Compliance Policies, die Kontaktdaten der betrauten Mitarbeiter sowie der zuständigen Behörden, Vorlagen der wichtigsten Formulare, etc. Ebenfalls kann die Dokumentation der Ausfuhrgenehmigungen dort digital verwaltet werden, sodass alle betroffenen und für den Zugriff berechtigten Mitarbeiter jederzeit Einblick in Umfang, Ausnahmen und Nebenbedingungen der erteilten behördlichen Genehmigungen nehmen können. Weiterhin kann ein solch digitales Angebot auch dahingehend erweitert werden, dass dort interaktive Übungsprogramme angeboten und Feedback-Mechanismen eingerichtet werden. Dringend zu beachten ist, dass die Aktualisierung der digitalen Inhalte sichergestellt und eine ausreichende Computersicherheit gewährleistet ist. f) Ausbildung/Schulung/Training29 Die Unternehmensbefragungen ergaben, dass ein ganz überwiegender Teil der berichteten Exportkontrollverstöße auf unzureichender oder fehlender Schulung der verantwortlichen Mitarbeiter beruhte. Ein hohes Compliance-Bewusstsein und ein hoher Wissenstand der Mitarbeiter sind daher zentrale Elemente, um Verstöße zu vermeiden. Um Trainingsprogramme jedoch effizient zu gestalten, ist es erforderlich, diese zentral zu organisieren und die einzelnen Trainingseinheiten aufeinander abzustimmen. Zuständig für die übergeordnete Planung des unternehmensweiten Trainingsprogramms könnte bspw. das Compliance-Gremium sein. Dieses erwägt und plant das „Ob, Wie, Wer“ von Schulungen, sorgt dafür, dass die Bildungshistorie mitarbeiterbezogen dokumentiert wird und berichtet der Unternehmensführung über die erfolgten Ausbildungsmaßnahmen. Die konkrete Ausgestaltung und Durchführung von Ausbildungseinheiten hat durch eigene oder externe, auf dem Gebiet der Exportkontrolle qualifizierte Personen zu erfolgen. Dabei sollten je nach Tätigkeitsfeld der Mitarbeiter und Intensität der exportkontrollrechtlichen Fragestellungen unterschiedliche Schulungsangebote eingerichtet werden. Von Einführungs- über Fortgeschrittenen- bis hin zu Profitrainings ist auf die individuellen Anforderungen an das jeweilige Unternehmen und der betroffenen Mitarbeiter (Technische Bewertung und Klassifizierung von Gütern; Transaktionsbewertung; Administration und Vertragsprüfung, spezielle Länderschulungen bzgl. Embargoregularien etc.) bedarfs­ gerecht abzustellen. Eine Wissensstandsüberprüfung im Anschluss an Schulungen, sowie jährliche Refresher- und Updateangebote komplementieren das Schulungsprogramm. Nicht zu vernachlässigen ist auch im Hinblick auf etwaige Verstöße eine minutiöse Dokumentation der angebotenen und absolvierten Schulungsmaßnahmen. Sofern aufgrund bestimmter Güter bzw. Empfangsländer, oder aufgrund vorangegangener Verstöße ein besonderer Risikobereich im Unternehmen auszumachen ist, sind dort häufiger und individuell auf das besondere Risiko zugeschnittene Trainings durchzuführen.

29 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 18ff.

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g) Umgang mit Genehmigungen30 Ebenso von zentraler Bedeutung ist die Organisation der Beantragung und Verwaltung von Ausfuhr-/ Verbringungsgenehmigungen. Dabei sind verschiedene Verfahrensschritte zu unterscheiden und aufeinander abzustimmen. Um die erforderliche Genehmigung zu beantragen, muss zunächst geprüft werden, welche Vorgänge genehmigungspflichtig sind. Die Ansatzpunkte dazu variieren je nach Tätigkeitsfeld des Unternehmens. Der Report schlägt als möglichen Prüfungsansatz vor, zunächst bei jeder auslandsbezogenen Tätigkeit zu vermuten, dass diese genehmigungspflichtig sei. Diese Vermutung kann sodann im Laufe der Prüfung entkräftet werden. Die Prüfungsschritte und Ergebnisse sollen möglichst mit Begründung dokumentiert werden. Bei Uneinigkeit über die Genehmigungspflicht eines Vorgangs sind klare Eskalationsstufen festzulegen. Alle Unternehmensbereiche die mit der Exportkontrolle in Berührung kommen, müssen über bestehende Genehmigungspflichten informiert werden31. Es muss im Unternehmen das erforderliche Prozessverständnis für die Tätigkeit der Exportkontrollabteilung geschaffen werden, damit dieser die für die Prüfung einer Genehmigungspflicht notwendigen Daten und Informationen zur Verfügung gestellt werden. Neben güterbezogenen Daten gilt es auch, personenbezogene Daten einer systematischen Prüfung anhand der einschlägigen Sanktionslisten zuzuführen. Um die Qualität, Einheitlichkeit und Effizienz des Genehmigungsverfahrens zu steigern, kann es sich anbieten, dieses teilweise zu automatisieren. Eine solche Lösung unterstützt das Genehmigungsverfahren durch die Erstellung von Vorlagen und erhöht die Verfügbarkeit von Informationen durch eine zentrale Datensammlung. Die erteilten Genehmigungen müssen systematisch verwaltet und überwacht werden. Dabei ist sicherzustellen, dass Gültigkeitsdauer, Wertgrenzen und sonstige Nebenbestimmungen beachtet werden. Sofern über eine Genehmigung wiederkehrend Ausfuhren getätigt werden, bietet sich ein standardisierter Prozess an, um eine im Einzelfall fehlerhafte Verwendung einer Genehmigung zu vermeiden. Um alle Vorgänge in Bezug auf den Umgang mit genehmigungspflichtigen Gütern und den Genehmigungen selbst zu überwachen, bedarf es regelmäßig einer mehrschichtigen Prüfung. Diese beginnt damit, dass zugekaufte und eigengefertigte Güter frühzeitig auf Basis technischer Expertise klassifiziert werden. Diese Einstufungen müssen durch die Leitung der Exportkontrollabteilung überprüft werden. Dabei stellen Nunn und Wolfowitz fest, dass ein Problem regelmäßig darin besteht, dass die Exportkontrollorgane zu spät in die Prozesse mit einbezogen werden. Sobald Exportkontrollpersonal rechtzeitig mit einem Vorgang betraut ist – zeigt die Praxis – kommt es nur noch sehr vereinzelt zu Verstößen gegen das Exportkontrollrecht.

30 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 21ff. 31 Z.B. auch das Marketing, die für Vertragsgestaltung zuständige Abteilung und technische Abteilungen sowie die Personalabteilung.

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Sollten Unternehmen für einen bestimmten Bereich ein erhöhtes Risiko für Compliance-Verstöße identifizieren, empfiehlt es sich, eine Art Notrufsystem einzurichten, um kurzfristig Auskünfte und Entscheidungen der Exportkontrollabteilung zu erhalten. h) Genehmigungsabwicklung/Implementierung von „License ­Authorizations“32 Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass es für viele Unternehmen scheinbar schwieriger war, eine bestehende Genehmigung ordnungsgemäß abzuwickeln, als diese zu beantragen und zu erhalten. Damit Ausfuhren im Einklang mit den bestehenden Genehmigungen erfolgen, ist es notwendig, eine systematische Genehmigungsverwaltung und einen formalisierten Prozess der Genehmigungsanwendung zu entwickeln. Für jede Genehmigung ist nach Zustellung ein „license administration plan“ zu verfassen, der neben den betroffenen Gütern und dem Genehmigungszeitraum auch Begrenzungen und Nebenbestimmungen erfasst. Über diese Bestimmungen sind die für die Abwicklung zuständigen Mitarbeiter zu unterrichten. Es bietet sich an, eine schriftliche Bestätigung der Mitarbeiter einzuholen, dass die entsprechende Unterrichtung vor dem Versand bzw. der Ausfuhr erfolgt ist. Um die tatsächlichen Warenbewegungen zu dokumentieren, sollte über jede Ausfuhr ein Exportprotokoll angefertigt werden, welches die Ausfuhrdaten erfasst und einheitlich dokumentiert. Daneben sind auch sämtliche Frachtpapiere und an den Empfänger adressierte Dokumente ggf. als Kopie aufzubewahren. i) Record Keeping/Dokumentation und Aufbewahrung33 Die Dokumentation außenwirtschaftsrechtlich relevanter Vorgänge ist in die bestehenden Dokumentationsprozesse des Unternehmens zu integrieren, wobei sich die Exportdokumentation durch drei Bereiche charakterisiert. Zunächst die allgemeine, auf den Export bezogene Dokumentation. Diese beginnt mit der Identifikation dokumentationsbedürftiger Vorgänge, definiert wie und durch wen diese dokumentiert werden und bestimmt die Dauer und Art der Aufbewahrung. Sodann gilt es – insbesondere im Anwendungsbereich des US-Amerikanischen Exportkontrollrechts – die relevante Kommunikation vornehmlich mit ausländischen Kunden zu dokumentieren. Im US Recht, hat dies im Bereich der Vorschriften über den Umgang mit „Foreign Nationals Issues“ eine besonders große Bedeutung. Zuletzt sollte auch ein System für die Dokumentation der Kommunikation mit Behörden entwickelt werden.

32 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 25ff. 33 Engl. Recordkeeping, Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 29f.

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j) Audits34 Alle von Nunn und Wolfowitz befragten Unternehmen führen regelmäßig Exportkontroll-Audits durch. Auch hier gilt: Der Erfolg von Audits hängt entscheidend von der Fachkunde und Erfahrung der Auditoren ab. Sachgerechte Aussagen über Defizite eines Compliance-Programms kann nur derjenige treffen, der weiß wie und wo er nach solchen Defiziten suchen muss. Eine ausgewogene Kombination aus spezialisierten, externen Beratern einerseits und unternehmensinternen Auditoren andererseits wird der Aufgabe häufig am besten gerecht. Vorteile eines internen Assessments sind der logistisch flexible Einsatz und die Vertrautheit mit den internen Vorgängen. Interne Audits können daher häufiger und nach Bedarf kurzfristig erfolgen. 2. Wassenaar Best Practice Mit dem Ende des Kalten Krieges änderte sich der Fokus der multilateralen Exportkontrollbemühungen. Ein auf den Ost-West-Konflikt zugeschnittenes Exportkon­ trollregime wie seinerzeit das COCOM35 wurde den internationalen Sicherheitsbedürfnissen nicht mehr gerecht. Im November 1993 einigten sich die ehemaligen COCOM Staaten im niederländischen Ort Wassenaar darauf, ein Nachfolgeregime zu gründen. Dieses sog. Wassenaar Arrangement wurde 1996, auch von vielen Staaten der ehemaligen UdSSR, in Wien unterzeichnet36 und ist eines der zentralen internationalen Exportkontrollregime. Es soll einen Beitrag zur regionalen und internationalen Sicherheit und Stabilität leisten, indem es sich um eine größere Transparenz und Verantwortung im Umgang mit konventionellen Waffen und Dual-use Gütern bemüht. Regelmäßig verständigen sich die partizipierenden Staaten auf die „List of Dual-Use Goods and Technologies“ und die „Munitions List“. Diese werden von den nationalen Gesetzgebern bzw. von der Europäischen Union im Rahmen der Außenwirtschaftsgesetzgebung berücksichtigt. So werden etwa die vom Wassenaar Arrangement erfassten Dual-Use Güter durch die Legislativorgane der Europäischen Union in die Anhänge der derzeit geltenden VO (EG) Nr. 428/2009 (sog. EG-Dual-use-Verordnung) überführt und damit zu geltendem Recht in den Mitgliedstaaten der Union. Davon losgelöst erarbeiten die Wassenaar Staaten gemeinsam sog. „Best Practice ­ uidelines“, die teilweise an die Staaten selbst, teilweise an einzelne WirtschaftsbeteiG ligte adressiert sind. Sie sollen als unverbindliche Empfehlungen eine einheitliche Umsetzung der gemeinsamen Regelungsziele unterstützen und ein „level playing field“ schaffen. 2011 beschloss das Plenum die “Best Practice Guidelines on Internal Compliance Programmes for Dual-Use Goods“. Dieser Beschluss führt in einer Liste die zentralen Elemente eines Compliance-Programms im Bereich der Dual-Use Güter Kontrolle auf, dabei werden insgesamt acht, nachfolgend näher erläuterte Bereiche als Standard eines Best Practise definiert. 34 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 31f. 35 Coordinating Committee on Multilateral Export Controls. 36 Derzeit haben 41 Staaten unterzeichnet, www.wassenaar.org.

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Mit den Bast Practise wollen die Mitglieder des Wassenaar Arrangements erreichen, dass mit der Einrichtung von ICP in den Unternehmen der Ausführer erreicht werden kann, die Rechtsvorschriften und Verfahren für die innerstaatliche Ausfuhrkon­ trolle verbindlich zu machen. Gleichzeitig soll eine Reduzierung der Risiken ihrer Beteiligung an unzulässigen Ausfuhren, die den Zwecken des Wassenaar Arrangements zuwiderlaufen, sowie der Beteiligung von Endempfängern wie Terroristen und kritischer Empfangsländer herbeigeführt werden.37 In einer systematischen, tabellarischen Darstellung werden sogenannte „Basis Elemente“ eines ICP, sowei dazu an einigen Punkten „Optionale / Zusätzliche Elemente“ sowie „Anmerkungen“ zu einzelnen Elementen aufgeführt. Kern der Darstellung sind neben organisatorischen Rahmenbedingungen in den Abschnitten 1 und 2 die sog. Screening Elemente ab Abschnitt 4. a) Commitment to comply Wie schon der Task Force Report von Nunn und Wolfowitz aus dem Jahre 2000, sehen auch die Best Practice des Wassenaar Arrangements aus dem Jahr 2011 vor, dass sich in einem ersten Schritt die Unternehmensführung schriftlich und uneingeschränkt zur Exportkontroll-Compliance bekennt. Darauf aufbauend soll flächendeckend ein Bewusstsein für die Compliance-Ziele des Unternehmens geschaffen werden. b) Structure and Responsibility Sodann ist eine interne Organisationsstruktur für den Bereich der Exportkontrolle einzurichten. Die zuständige Einheit sollte unabhängig von den Bereichen installiert sein, die tendenziell in Interessenkonflikten mit der Exportkontrolle stehen, wie etwa dem Vertrieb. Als zentrales Compliance-Organ führen die Wassenaar Best Practice den sog. „Chief Export Control Officer“ (CECO) ein38. Diese Funktion sollte ein „senior representative director“ bekleiden. Dem Grunde nach umfassen die Pflichten des CECO sowohl strategische, als auch operative Aufgaben. Es liegt in seiner Verantwortung, ein Export-Compliance-Programm zu entwickeln, einzuführen und zu überwachen. Ferner obliegt ihm das generelle Export Control Management, das heißt die operative Durchführung der einzelnen Compliance-Maßnahmen. Beginnend bei der Klassifikation von Gütern und dem Screening von Personen, über die Genehmigungsbeantragung, bis hin zur Abwicklung der Ausfuhren ist er für die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben verantwortlich. Die Einbindung eines Mitgliedes der Unternehmensführung auf dieser operativen Stufe scheint praxisfern und übertrieben. Sie entspricht auch nicht dem, was die Was37 http://www.wassenaar.org/wp-content/uploads/2015/06/2-Internal-Compliance-Program​ mes.pdf, zuletzt abgerufen am 1.11.2017 38 Nummer 2.1.1.

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senaar Best Practice bezwecken. Vielmehr soll dadurch sichergestellt werden, dass zu jedem Zeitpunkt die Verantwortung für die Export Compliance eindeutig zugeordnet ist. Zunächst liegt sie ausnahmslos beim CECO. Je nach Unternehmensform kann diese Stelle eine Stabsstelle sein, die direkt unterhalb der Geschäftsführung, dem Vorstand, aber über den operativen Bereichen installiert ist. Dieser hat die Möglichkeit, die operative Compliancearbeit in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße an einen „Export Control Manager“ (ECM) zu übertragen und ihm bei Bedarf eine „Export Control Unit“ zuordnen. Diese sukzessive Übertragung/Delegation der Verantwortung hat zur Konsequenz, dass soweit der CECO nicht für die erforderliche Einrichtung von Complianceorganen sorgt, die Verantwortung bei ihm verbleibt und auch beim Wegfall von Complianceorganen wieder an ihn zurückfällt. Soweit ein ECM vorgesehen ist, muss diese Stelle ebenfalls mit den erforderlichen Kompetenzen/Weisungsrechten ausgestattet und im Unternehmen bekannt gemacht werden. Der ECM seinerseits führt die Exportkontrolloperationen nach Weisung des CECO selbstständig durch. Je nach Unternehmensstruktur und – tätigkeit, kann es sinnvoll sein – unabhängig von der Frage nach der Einrichtung einer Exportkontrollabteilung – in den einzelnen Business Units einen Export Control Officer zu benennen. Diesem käme die Aufgabe zu, Anweisungen des CECO oder des ECM in den jeweiligen Abteilungen bekannt zu machen und die Exportkontrollprozesse zu kommunizieren und zu trainieren, soweit sie für die jeweilige Abteilung relevant sind. c) Export Screening Procedures39 Im dritten Abschnitt benennen die Best Practice einzelne Prozessschritte, welche in der Exportkontroll-Compliance zu beachten sind; unter anderen nennt die Best Practice folgende Prüfelemente (Screening Elements): Klassifizierung der betroffenen Güter und Technologien, Screening der Endverwendung und des Endverwenders, Transaktionsbewertungen, um eine nichtgeplante Weiterleitung der Güter zu erkennen bzw. zu verhindern, sowie die Beantragung und Überwachung erforderlicher Genehmigungen. Es empfehle sich, einzelne Prozesse mit entsprechenden Softwarelösungen zu unterstützen und Check-Listen für den Prüfungsablauf zu entwickeln. d) Shipment Control Bevor die Güter zum Versand abgefertigt werden, soll eine finale Überprüfung erfolgen40. Dazu soll festgestellt werden, dass von den Klassifizierungs- und Screeningvorgängen Ergebnisse vorliegen, dass Anzahl und Güter mit den Angaben in den Versanddokumenten und der Ausfuhranmeldung übereinstimmen und dass etwaige Bestimmungen aus behördlichen Genehmigungen eingehalten werden.

39 Punkte 3.1 – 3.6. 40 Selbiges gilt für alle anderen außenwirtschaftsrechtlich relevanten Vorgänge wie etwa: Technologietransfers, technische Unterstützung, Durchfuhren, Bereitstellen.

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e) Performance review Auch nach den Empfehlungen der Wassenaar Best Practice sollte ein Unternehmen die eigenen Compliance Bemühungen einem Monitoringplan zuordnen und regelmäßig auditieren. Nur so kann festgestellt werden, ob die Prozesse richtig umgesetzt werden und ob alle gesetzgeberischen Vorgaben angemessene Berücksichtigung finden. Solche Reviews sollen in regelmäßigen Abständen41 erfolgen und entweder von einer Abteilung durchgeführt werden, die vom Vertrieb getrennt ist, oder von externen Spezialisten. Hintergrund ist, wie schon bei Nunn und Wolfowitz beschrieben, die Vermeidung von Zielkonflikten. f) Training Die an den Exportkontrolltransaktionen beteiligten Personen, sowie die für die Einhaltung der internen Vorgaben verantwortlichen Personen müssen geschult und weitergebildet werden. Die Teilnahme an internen Inhouse Seminaren und externen Angeboten muss dokumentiert werden. Unterschiedliche Medien (Web Based Training, Präsenztraining) und unterschiedliche inhaltliche und strukturelle Facetten müssen entwickelt und angeboten werden. g) Record Keeping In Bezug auf den Umgang mit und die Aufbewahrung von Dokumenten ergeben sich aus den Wassenaar Best Practice Empfehlungen, die auf Basis geltenden Rechts bestehenden, gesetzlichen Aufbewahrungsvorschriften zu ermitteln und diese revisionssicher umzusetzen. Exemplarisch als von diesen Dokumentationsvorschriften umfasst, werden folgende Dokumente und Belege genannt: Genehmigungen, End-use-Zertifikate; Handelsrechnungen; Zollpapiere; Klassifizierungsunterlagen und Nachweise der elektronischen Übermittlung (z.B. log-files). h) Reporting und Corrective Action Für den Umgang mit etwaigen selbst erkannten Verstößen gegen exportkontrollrechtliche Vorschriften oder gegen innerbetriebliche Compliance-Prozesse empfehlen die Wassenaar Best Practice folgende Schritte: Verstöße oder der Verdacht von Verstößen sind zunächst umgehend an den CECO bzw. den ECM zu melden. Dieser prüft die gemeldeten Sachverhalte hinsichtlich des tatsächlichen Vorliegens von Verstößen gegen gesetzliche Vorschriften. Soweit ein Verstoß festgestellt wurde, sollen – nach den Empfehlungen der Best Practice – die zuständigen Behörden von dem Verstoß in Kenntnis gesetzt werden. Sodann sind in einem dritten Schritt Maßnahmen zu ergreifen, um die Ursache(n) für den Verstoß abzustellen. Dazu nennen die Best Practice Empfehlungen ausdrücklich auch die Möglichkeit, Disziplinarmaßnahmen gegen verantwortliche Mitarbeiter zu erlassen.

41 Die Best Practice schlägt beispielhaft vor, die Reviews jährlich durchzuführen.

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III. Compliance-Programme und deren Anforderungen im Vergleich 1. Einleitung Die ersten Compliance-Bestrebungen sind im Bereich der Exportkontrolle vermutlich zur Zeit des kalten Krieges in den USA entstanden42. Die damals von der US-Administration gegen Staaten der UdSSR verhängten Wirtschaftsbeschränkungen verlangten von den Unternehmen die Beachtung umfangreicher und sanktionsbewährter Verbote und Beschränkungen. Eine Teilnahme am internationalen Warenverkehr, die einerseits das geltende Exportkontrollrecht wahrte, ohne den gleichzeitigen Verlust der Konkurrenzfähigkeit, erforderte von den US Unternehmen die Entwicklung und Einrichtung systematischer Exportkontrollprozesse.43 Im Zuge dieser Entwicklung etablierten sich erste Ansätze einer systematischen Exportkontrollorganisation innerhalb der Unternehmen. Diese Compliance Elemente haben sich im Laufe der Zeit zu ganzheitlichen Compliance-Ansätzen weiterentwickelt und waren somit der Grundstein der heutigen ICPs. Mittlerweile sind Unternehmen bei der Einrichtung eines ICPs nicht mehr nur ihrem eigenen Geschick überlassen, sondern finden Orientierung bei den Export-Compliance Modellen staatlicher Behörden. Aus diesen Modellen können Maßnahmen und Strukturen entnommen und auf das eigene Unternehmen angepasst werden. Sowohl das Bureau of Industry and Security, das dem Department of Commerce zugehörig ist, als auch das Bureau of Political-Military Affairs aus dem Bereich des Department of State haben eigene Compliance Modelle im Bereich der Exportkontrolle entwickelt und veröffentlicht. 2. USA a) Gesetzliche Grundlagen aa) Rechtsgrundlagen / Pflichten zur Einführung von Compliance-Programmen Das US-amerikanische Exportkontrollrecht enthält in vergleichbarer Weise wie das deutsche und europäische Recht eine Trennung zwischen Dual-Use Gütern und Rüstungsgütern. Die wesentlichen Bestimmungen für den Umgang mit Dual-use-Gütern und zivielen Gütern sind in den „Export Administration Regulations“ (EAR) enthalten. Regelungswerk für Rüstungsgüter und -services sind insbesondere die „International Traffic in Arms Regulations“ (ITAR). Die EAR enthalten keine ausdrückliche Pflicht zur Einrichtung eines Export-Compliance-Programms. §  758.3 EAR normiert die Pflicht aller am Handel mit Dual-Use Gütern Beteiligten zur Einhaltung der Vorschriften. Dabei sind die Betroffenen ausdrücklich frei, sich nach den eigenen Vorstellungen zu strukturieren und Funktionen 42 Hauschka (Fn. 7), § 1 Rz. 39. 43 Makowicz in: Makowicz, Praxishandbuch Compliance Management, Stand 10. Erg.-Lfg. Juni 2017, Band 1, Kap. 1, S. 5f.

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und Aufgaben, so wie sie es für notwendig halten, zu delegieren; vorausgesetzt alle Vorgänge erfolgen im Einklang mit den Bestimmungen.44 Diese ergeben sich insbesondere aus dem Umfang der Einhaltung der sog. 10 General Prohibitions, niedergelegt in § 736 EAR. Bedingungen, die die Erteilung von Genehmigungen oder die Nutzung von Lizenzausnahmen von dem Vorliegen eines Export-Compliance-Programms abhängig machen, bestehen in den EAR nicht. Auch die Vorschriften über den Handel mit Rüstungsgütern enthalten keine ausdrückliche Pflicht, ein umfangreiches Compliance-Programm im Bereich der Exportkontrolle zu implementieren. Jedoch bestimmt §  120.25 ITAR, dass Unternehmen, die mit entsprechenden Gütern umgehen, einen sog. „Empowered Offical“ gegenüber den Behörden benennen müssen. Betrachtet man die Funktion des Empowered Officials aus der Sicht eines ganzheitlichen Compliance-Programms, so kann sie als ein Compliance-Organ oder als einzelne Compliance-Maßnahme gesehen werden. Ohne die Unternehmen rechtlich unmittelbar zu binden, veröffentlichen die zuständigen Behörden Empfehlungen für die Einrichtung eines ICPs für den Bereich Exportkontrolle. Dazu haben sowohl das Bureau of Industry and Security (BIS), welches als Teil des Department of Commerce für die Verwaltung des EAR zuständig ist, als auch das zum State Department gehörende Bureau of Political Military Affairs, welches für Rüstungsgütergeschäfte zuständig ist, Export Compliance Guidelines bekannt gegeben. bb) Rechtsfolgen und Vorteile von Compliance-Programmen Wie bereits beschrieben, sind in den EAR die Nachweise existierender Export-Compliance-Programme im exportierenden Unternehmen keine Bedingung für die Erteilung von Genehmigungen oder zur Nutzung der in § 740 EAR (License Exceptions) beschriebenen Lizenzausnahmen. Allerdings sehen die US-Behörden, namentlich das BIS den Erfolg eines ICP eher in dem Schutz der Interessen der USA und damit im Schutz vor unkontrolliertem Abfluss von Dual-use-Gütern und Technologien in die Hände von Personen, die diese Güter gegen die USA einsetzen: „Having an Export Management and Compliance Program will help prevent our U.S.-origin dual-use goods and technologies from being used against us, and in that regard, the jobs of all involved with exporting have a national security component to them.“45

44 § 758.3 EAR – Responsibilities of Parties to the Transaction: “All parties that participate in transactions subject to the EAR must comply with the EAR. Parties are free to structure transactions as they wish, and to delegate functions and tasks as they deem necessary, as long as the transaction complies with the EAR.” 45 COMPLIANCE GUIDELINES: HOW TO DEVELOP AN EFFECTIVE EXPORT MANAGEMENT AND COMPLIANCE PROGRAM AND MANUAL des BIS, Stand 2011, S. 144: https://www.bis.doc.gov/index.php/forms-documents/compliance-training/export-­ management-compliance/7-compliance-guidelines/file, zuletzt abgerufen am 1.11.2017.

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In § 746.5 EAR wird jedoch die freiwillige Selbstanzeige beschrieben und kursorisch bewertet; die Selbstanzeige, zu der das BIS im Gesetzeswortlaut des § 736.5 (a) EAR stark ermutigt, wird als sanktionsmildernder Umstand bei der Verhängung administrativer Sanktionen durch das Office of Export Enforcement beim BIS beschrieben. Inzident wird damit das Vorliegen auch einzelner Elemente von internen Compliance-­ Programmen – nämlich die Erkenntnisgewinnung und der Offenlegungsprozess sowie die offen gelegten Erkenntnisse privilegiert. Ob die Erkenntnisse zufällig gewonnen wurden, oder das Ergebnis strukturierter Monitorings oder Audits sind, ist keine Bedingung in den Offenlegungskriterien. In die gleiche Richtung, teilweise mit identischem Wortlaut geht § 127.7 ITAR. Danach unterstützt die Behörde nachdrücklich die Offenlegung von Informationen, wenn die Person, die offenlegt, der Auffassung ist, dass sie gegen Ausfuhrkontrollbestimmungen der ITAR oder gegen eine Verordnung, Anordnung oder Inhalte von Lizenzen verstoßen haben könnten. Die Behörde kann auch hier eine freiwillige Offenlegung als mildernden Faktor bei der Bestimmung der Verwaltungssanktionen in Erwägung ziehen, die gegebenenfalls verhängt werden sollten. Wenn ein Verstoß nicht gemeldet wird, kann dies zu Umständen führen, die die nationale Sicherheit und die außenpolitischen Interessen der USA beeinträchtigen. Das stellt wiederum einen nachteiligen Faktor bei der Bestimmung der angemessenen Sanktionierung über solche Verstöße dar. Auch hier führt die Offenlegung zu einer sanktionsmildernden Beurteilung des Sachverhalts; die Ursache für die Offenlegung (z.B. als Ergebnis eines strukturierten Monitoring- oder Auditprozesses) ist jedoch nicht näher beschrieben. Wenngleich das Export-Compliance-Programm auch in den ITAR keine Bedingung ist, wird das Vorliegen eines solchen bei den zuständigen Behörden jedoch forciert. So gibt es beispielsweise das sog. „Company Visit Program CVP“ das Directorate of Defense Trade Controls (DDTC).46 Das CVP hat mehrere Zwecke. Erstens stellt das CVP sicher, dass das DTCC versteht, wie Compliance-Programme in Übereinstimmung mit den ITAR im geprüften Unternehmen umgesetzt werden. Zweitens ermöglicht das Programm dem DDTC, Informationen zu sammeln, um die Weiterentwicklung der Genehmigungspolitik und -praxis des DDTC zu unterstützen. Schließlich nutzt das DTCC die Besuche vor Ort, um Best Practices der Export-Branche zu sammeln, zu bewerten und zu verbreiten, einzelnen Unternehmen Feedback zu ihren Compliance-Programmen zu geben und branchenweit Informationen zu Compliance-Programmen auszutauschen. Ausdrücklich handelt es sich laut DDTC beim CVP nicht um ein Audit oder eine behördliche Inspektion.47 Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass es diverse Referenzen der Behörden gibt, die das Vorliegen eines internen Export-Compliance-Programms erwarten las46 http://www.pmddtc.state.gov/compliance/cvp.html, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 47 Für die Jahre 2015 und 2016 hat die Behörde ihre Besuchsberichte aus dem CVP Program zusammen mit den maßgeblichsten Erkenntnissen veröffentlicht: http://www.pmddtc.­ state.gov/compliance/documents/CVP_REPORT_2015-2016.pdf, zuletzt abgerufen am 1.11.2017.

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sen; es ist jedoch weder in den EAR noch in den ITAR erkennbar eine Bedingung zur Erteilung von Genehmigungen oder Vereinfachungen. b) Export-Compliance-Modelle des BIS und des DDTC aa) Bureau of Industry and Security – Export Compliance Guidelines48 Die Empfehlungen des Bureau of Industry and Security (BIS) sehen acht einzelne Compliance Elemente vor, wobei sich mehrere dieser Elemente inhaltlich im Wesentlichen mit den korrespondierenden Pendants des Nunn-Wolfowitz Task Force Reports, sowie der Wassenaar Best Practice überschneiden. So sehen die BIS Guidelines auch vor, dass Compliance in einem ersten Schritt nur durch einen „tone from the top“, also einem Commitment der Unternehmensführung initiiert werden kann. Auch die Compliance-Elemente „Export Authorization“, „Recordkeeping“, „Training“ und „Audits“ werfen keine signifikanten Unterschiede zu oben dargestellten Compliance-Modellen auf. Im Folgenden werden Besonderheiten der BIS Guidelines einzeln dargestellt. (1) Risk Assessment Von herausragender Bedeutung für die erfolgreiche Einrichtung eines Compliance-­ Programms und daher ein besonderer Schwerpunkt der BIS Guidelines ist das Thema „Risk Assessment“49. Die zutreffende Identifizierung der bestehenden und potentiellen Compliance-Risiken bildet die Grundlage für die Ausarbeitung der spezifischen Compliance-Prozesse. Das BIS nennt dazu drei Bereiche, die für die Identifizierung von Compliance-Risiken in der Exportkontrolle zu berücksichtigen sind: Export Item, Organization Operations und Customer. Erster Anknüpfungspunkt für Compliance-Risiken ist das Ausfuhrgut (Export Item) selbst. Durch die Erfassung auf entsprechenden Güterlisten bestehen besondere Anforderungen hinsichtlich des grenzüberschreitenden Handels. Daher besteht im Hinblick auf das betroffene Gut insbesondere die Gefahr einer ungenehmigten Ausfuhr oder des Verstoßes gegen ein Export / Reexportverbot aus dem Kreis des § 736 EAR (Ten General Prohibitions). Aber auch die Organisationsstruktur eines Unternehmens selbst kann Ursache für Compliance-Risiken in der Exportkontrolle sein. Unter dem Begriff „Organization Operations“ weist das BIS deshalb darauf hin, dass durch fehlende oder ungenaue organisatorische Strukturen die Möglichkeit eines Verstoßes erhöht wird. Mangelnde Aufsicht, schlechte Kommunikation und unbestimmte Rollen können für einen Verstoß ursächlich werden. Auch Interessenkonflikte entlang der Entscheidungskette 48 https://www.bis.doc.gov/index.php/forms-documents/pdfs/1641-ecp/file, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 49 BIS Guidelines S. 13.

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können der Effektivität eines Compliance-Programms im Wege stehen. Beim Aufbau des Compliance-Programms ist daher darauf zu achten, keine neuen – auf strukturellen Schwächen des Compliance-Programms beruhenden – Risiken zu schaffen. Transaktionsbezogene Compliance-Risiken in Bezug auf die betroffenen Geschäftspartner sind ebenfalls Elemente transaktionsbasierter Prüfungen. Exportkontrollvorschriften knüpfen vielfach an die Endverwendung, den Endverwender und das Bestimmungsland an. Diese Vorschriften einzuhalten, erfordert von den Unternehmen, dass sie den Umgang mit den vorhandenen Informationen über Empfänger und Verwender50, beabsichtigte Verwendung und Destination im Rahmen des Compliance-­ Programms organisieren. Zu den Details und den Screeningelementen kann in Bezug auf die Organisationsansätze auf das oben Gesagte verwiesen werden. (2) Handling export violations and taking corrective actions Compliance-Programme sollen die Wahrscheinlichkeit von Zuwiderhandlungen minimieren und gleichzeitig Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit gewährleisten. Häufig sind die Programme daher auf präventive Maßnahmen ausgerichtet. Dabei wird oft vernachlässigt, Prozesse zu etablieren, die den Umgang mit Verstößen und Verdachtsfällen regeln51. Um jedoch die nachteiligen Folgen von Exportkontrollverstößen für das Unternehmen zu mindern, ist es erforderlich, diese Zuwiderhandlung frühzeitig zu erkennen (early detection) und schnell Maßnahmen zu treffen, welche die Ursachen des Verstoßes beheben (early action). Um außerhalb von Audits und Stichproben Verstöße möglichst frühzeitig zu erkennen, muss den Mitarbeitern ein Meldewesen (reporting procedures) zur Verfügung gestellt werden, über das sie – ggf. anonym – auf etwaige Verstöße und Noncompliance hinweisen können. Ein solches Meldewesen wird von den Mitarbeitern erfahrungsgemäß jedoch nur angenommen, wenn sie durch die Unternehmensführung dazu ermutigt werden und diese sich überzeugend zur Compliance bekennt. Für individuelle Lösungen nennt das BIS mögliche Anlaufstellen für Verdachtsmeldungen: Die Exportkontrollabteilung (export compliance office), die Rechtsabteilung (legal department), oder eine ‚Ethik-Hotline‘. Es ist sicherzustellen, dass allen – jedenfalls am Exportgeschäft beteiligten – Mitarbeitern die Kontaktaufnahme (Whistle­blowing) mit der zuständigen Meldestelle möglich ist. Die Aufklärung der eingehenden Hinweise muss nach festgeschriebenen Revisionsabläufen erfolgen. Zuständigkeiten für die interne Nachforschungen sind geeignetem, und hierfür benanntem, neutralen Personal zuzuweisen. Dieses entscheidet über das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ einer Nachforschung, führt diese durch und dokumentiert die Ergebnisse. Es ist festzulegen, wann und wie die Unternehmensführung über festgestellte Verstöße unterrichtet wird. 50 Unter https://2016.export.gov/ecr/eg_main_023148.asp Portal der International Trade Administration (zuletzt abgerufen am 1.11.2017) – hier stellen die USA ihre Sanktionslisten in konsolidierten Fassungen zur Partnerprüfung kostenfrei bereit. 51 BIS Guidelines S. 33.

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Daran anschließend nennt das BIS in seinem Empfehlungen ausdrücklich den oben bereits beschriebenen Weg der „Voluntary Self-Disclosure“52. Diese Möglichkeit den eigenen Verstoß behördlich offenzulegen, findet sich in Part 764.5 EAR und bewirkt wie beschrieben, in der Regel eine erhebliche Strafmilderung53. Potenziell privilegierende Wirkung hat eine „Self-Disclosure“ grundsätzlich auf alle Verstöße gegen die EAR mit Ausnahme von Verstößen gegen die Anti-Boykottverbote aus Part 760 EAR54.55 Das BIS selbst bewertet die Voluntary Self-Disclosure neben dem Vorhandensein eines wirksamen Compliance-Programms als den wichtigsten strafmildernden Umstand56. Ein  – wenn auch nur bedingt  – vergleichbares Institut enthält das deutsche Außenwirtschaftsrecht in §  22 IV AWG. Anders als die Voluntary Self-­ Disclosure ist die Aufdeckung im AWG nur auf die wenigen in § 19 Abs. 2 - 5 AWG genannten Fälle anwendbar, führt aber anders als im US-Recht zu einem echten Verfolgungshindernis57.58 Im nächsten Schritt gilt es, nach diesen Maßgaben, die Ursachen des Verstoßes zu identifizieren und Maßnahmen zu ergreifen, die zukünftige Zuwiderhandlungen verhindern. Diese Maßnahmen sollten umgehend implementiert und fortlaufend auf ihre Geeignetheit hin überwacht werden. bb) State Department – Compliance Program Guidelines Das im State Department angesiedelte Bureau of Political-Military Affairs ist zuständig für die Verwaltung des grenzüberschreitenden Verkehrs von „Defense Articles and Defense Services“59. Die Hauptregelwerke in diesem Bereich sind: Der „Arms Export Control Act“ (AECA), die „International Traffic in Arms Regulations“ (ITAR), und die „USML - United States Munition List“ (§ 121 ITAR). Die vom State Department veröffentlichten Compliance Guidelines zielen im Besonderen auf die Einhaltung dieser Regelwerke. Dazu zeigt das State Department neun Compliance Schritte auf, beginnend mit der Einrichtung organisatorischer Strukturen, der Zuweisung von Zuständigkeiten und einem – mit zuvor genannten Compliance-Programmen vergleichbaren –Bekenntnis der Unternehmensführung zur Export-Compliance60. Soweit Güter und Technologien betroffen sind, die den Vorschriften der ITAR unterliegen, muss das Unternehmen 52 Freiwillige Selbst-Aufdeckung. 53 Ein sog. „mitigating factor“. 54 Part 764.5(b)(1) EAR. 55 Die Antiboykottregularien entsprechen in Deutschland dem Boykottverbt in §  7 AWV (Boykotterklärung) 56 Wolf, Rede auf dem 5. Exportkontrolltag in Münster zum Thema: US-export control system: Guideline on recent refom efforts, AW-Prax 2011, S. 163. 57 R. Witte, Die „Selbstanzeige“ im Außenwirtschaftsrecht, Der Zoll-Profi 12/2014. 58 Weiterführend: Eufinger, Berücksichtigung von Compliance-Programmen bei der Bußgeldbemessung – Vorbild USA?, CCZ 2016, S. 209 ff. 59 Entspricht nicht ausnahmslos, aber überwiegend dem deutschen Begriff „Rüstungsgüter“. 60 ‚tone from the top‘.

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gegenüber den Behörden einen sog. „Empowered Official“ (E.O.) benennen, § 120.25 ITAR. Ihm kommt die Aufgabe zu, genehmigungsbedürftige Vorgänge des Unternehmens gegenüber den Behörden zu beantragen. Die Vorschriften der ITAR verlangen das Vorliegen genau bezeichneter Voraussetzungen, die eine Person erfüllen muss, um diese, gesetzlich verankerte Compliance-Funktion des E.O. übernehmen zu können. Zunächst muss die Person US amerikanischer Staatsbürger sein und in einem direkten Beschäftigungsverhältnis mit dem antragstellenden Unternehmen, oder einer Konzerngesellschaft stehen. Die Person muss auf dem Gebiet des US-amerikanischen (Rüstungs-) Exportkontrollrecht hinreichende Sachkunde besitzen, d.h. insbesondere einschlägige Verbote, Genehmigungserfordernisse und etwaige Sanktionen kennen. Des Weiteren ist der Empowered Official dahingehend zu bevollmächtigen, Anträge im Namen des Unternehmens beim State Department stellen zu können, aber auch um andersherum eine betrieblich vorgeschlagene Antragstellung eigenmächtig und ohne persönliche Konsequenzen abzulehnen.61 Mehr als andere Export-Compliance-Modelle berücksichtigen die Guidelines des State Departements die Möglichkeit, dass gelistete Güter nicht zwangsläufig erst im Rahmen der Wertschöpfung des Unternehmens erstmalig entstehen müssen, sondern dass auch bereits gelistete Güter zum Zwecke des Handels oder als Zwischenerzeugnisse zum Zwecke der Weiterverarbeitung eingekauft werden. Dabei könne es dazu kommen, dass Unternehmen zwar die eigens hergestellten Güter ordnungsgemäß klassifizieren, zugekaufte Güter hingegen vernachlässigen. Eine maßgebliche Empfehlung lautet daher, eine Methode zu entwerfen, die auch zugelieferte Güter und Technologien auf ihre Güterlistenerfassung hin überprüft und die auf diese Weise identifizierten Listengüter verbindlich kennzeichnet62. So kann jederzeit nachvollzogen werden, wo sich exportkontrollrelevante Güter innerhalb des Unternehmens befinden63.64 3. Deutschland und Europäische Union Der Auf- und Ausbau von Internal Compliance-Programmen schreitet auch in Deutschland und der Europäischen Union weiter voran. Die Unternehmen sehen sich im Bereich des Exportkontrollrechts mit einer zunehmenden Regulierungsdichte konfrontiert, der sie durch die Einrichtung eines ICP gerecht zu werden versuchen. So wie für die USA gilt auch in Deutschland und der Europäischen Union: Es gibt keine gesetzlich normierte Pflicht ein bestimmtes Exportkontroll-ICP vorzuhalten. Modelle und Empfehlungen gibt es hingegen zahlreiche. Anders, als in den USA ­können die Vorlage und Validierung/Auditierung von Export-Compliance-Programmen allerdings zur Bedingung gemacht werden, bei der Inanspruchnahme bestimm61 Hirschhorn, The Export Control and Embargo Handbook, 2. Aufl., S. 127. 62 „tagged“. 63 Compliance Program Guidelines des Bureau of Political Military Affairs, S. 2, abrufbar unter: http://pmddtc.state.gov/compliance/documents/compliance_programs.pdf, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 64 Zu den Bestandteilen der ITAR-Compliance siehe auch Ahmad, Aktuelle Entwicklungen im US-Rüstungsgüterrecht, AW-Prax, 2012, S. 269.

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ter Allgemeiner Genehmigungen (z.B. Intra-EU-Rüstungsgüter-Transfer) oder einer Sammelgenehmigung. Diese reichen von umfassenden Systemlösungen (BAFA-ICP) bis hin zu einzelnen Compliance-Funktionen, die sich an gesetzlichen Vorgaben orientieren (SAG-Runderlass). Sofern Anlass zu einer bußgeldbefreienden Offenlegung bestimmter Ordnungswidrigkeiten besteht, ist das ICP ebenfalls Bedingung, die ahndungshindernde Wirkung zu erreichen, sofern alle anderen Bedingungen zur privilegierten Offenlegung ebenfalls vorliegen. a) Rechtsgrundlagen / Pflichten zur Einführung von Compliance-Programmen Der Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland ist grundsätzlich frei, § 1 I AWG65.66 Dieser Grundsatz ist durch die außenwirtschaftlichen Gesetze und Verordnungen des Bundes und durch Verordnungen der Europäischen Union in vielen Bereichen durch Genehmigungsvorbehalte, Verbote und Meldepflichten reguliert und beschränkt. Ein allgemeines Gebot, wonach Wirtschaftsbeteiligte nur dann am Außenwirtschaftsverkehr teilnehmen dürfen, wenn sie ein gesetzlich fixiertes Export-Compliance-Programm vorweisen können, gibt es ebenfalls in Deutschland bzw. in der EU nicht67. Vorschriften, die einzelne Compliance-Funktionen68 vorschreiben oder das Vorhandensein eines ICPs69 für bestimmte Verwaltungsprivilegien (z.B. Allgemeine Genehmigung Nr. 27 zur Umsetzung der EU-Rüstungsgütertransferrichtlinie) voraussetzen, gibt es hingegen schon.70 aa) Zuverlässigkeit des Ausführers, § 8 Abs. 2 AWG Gemäß § 8 Abs. 2 AWG kann – und in der Genehmigungspraxis des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) wird – die Entscheidung über die Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung71 davon abhängig gemacht (werden), dass der Antragsteller als „zuverlässig“ gilt oder nicht. Unter welchen Voraussetzungen die Zuverlässigkeit i.S.d. § 8 Abs. 2 AWG anzunehmen ist, wurde nicht durch den Gesetzgeber im AWG geregelt, sondern durch die Bundesregierung in Form verhaltenslenkender Verwaltungsvorschriften. Die dazu erlassene Basis zur Beurteilung enthalten die sog. „Grundsätze zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren“72 (im Folgenden: „die Grundsätze“). Darin regelt die Bundesregierung, dass Anträge auf Ausfuhrgenehmi-

65 Außenwirtschaftsgesetz. 66 Dies gilt nicht insoweit Kriegswaffen betroffen sind, Art. 27 Abs. 2 GG. 67 Pfeil/Mertgen (Fn. 18), Kap. H Rz. 3. 68 Z.B. die Funktion des Ausfuhrverantwortlichen. 69 Z.B. Bewilligungsvoraussetzungen für die Sammelgenehmigung. 70 Zur rechtlichen Notwendigkeit von Compliance-Systemen: Raum in: Hastenrath, Compliance – Kommunikation, 2. Aufl., Kap. 2 Rz. 2 ff. 71 Und auch für sog. Nullbescheide. 72 Bekanntmachung vom 25.7.2001, BAnz. 2001, 17177, Grundsätze zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern in der überarbeiteten Fassung vom 27.7.2015.

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gung für sog. gelistete Güter73 neben inhaltlichen und auf den Ausfuhrsachverhalt bezogenen Angaben nur dann positiv beschieden werden sollen, wenn der Antragsteller gegenüber dem BAFA74 einen sog. Ausfuhrverantwortlichen (im Folgenden „AV“) benannt hat. Die Verantwortlichkeit des AV umfasst nach den Grundsätzen u.a. die Wahrnehmung folgender vier Grundpflichten: Die Personalauswahl-, die Personalweiterbildungs-, die Organisations- und die Überwachungspflicht. Der AV als Funktionseinheit innerhalb der Unternehmensorganisation stellt daher für sich genommen bereits ein eigenes Compliance-Element dar. Ihm obliegt es, die in seinem Benennungsschreiben an ihn gerichteten Handlungsmaximen zu erfüllen. Zur Wahrung seiner Pflichten obliegt es dem Ausfuhrverantwortlichen laut Benennungsschreiben in der Fassung vom 27.07.2015, ein funktionierendes innerbetriebliches Exportkontrollsystem (ICP) zu installieren. Dieses enthält Angaben über die personellen und technischen Mittel für die Abwicklung außenwirtschaftlicher Aktivitäten, insbesondere der Verbringungen und Ausfuhren, die Aufbauorganisation, die Verteilung der Zuständigkeiten, die internen Prüfungen, die Überwachung, die Sicherstellung der Ablauforganisation, betriebliche Verfahren und allgemeine Sensibilisierungen im Unternehmen, die physische und technische Sicherheit sowie das Führen von Aufzeichnungen und die Aufbewahrung von Unterlagen.75 Die Aufzählung dieser Punkte sowie die Klarstellung des BAFA im Benennungsformular, dass es sich bei der Einrichtung eines ICP durch den AV um seine Obliegenheit handelt, lässt die Einrichtung eines ICP damit quasi verpflichtend werden. Allerdings ist anzumerken, dass zwar die Benennung des AV auf dem Papier obligatorisch für die Erteilung von entsprechenden Genehmigungen ist; das ICP, sein Umfang, Inhalt und seine Wirksamkeit wird vom BAFA in diesem Zusammenhang jedoch nicht geprüft. Eine Vorlage des ICP zusammen mit dem Benennungsschreiben ist nicht vorgesehen und für die Erteilung von Ausfuhr- und Verbringungsgenehmigungen an dieser Stelle keine Bedingung. bb) Sammelgenehmigung – Bewilligungsvoraussetzungen, Art. 12 Abs. 2 ­Dual-use VO Die EG Dual-use Verordnung (VO EG 428/2009) benennt als besondere Genehmigungsart die sog. „Globalausfuhrgenehmigung“76. Diese gestattet – anders als Einzel­ ausfuhrgenehmigungen  – nicht nur die Abwicklung einer einzelnen Ausfuhr, sondern erfasst unter einer Genehmigung eine Vielzahl von Ausfuhren, die sich nach der Güterart oder Güterkategorie richtet. Diese, in das deutsche Recht als sog. „Sammel­ genehmigung“ umgesetzte Genehmigungsvariante bedeutet für die Unternehmen erhebliche Erleichterungen bei der Abwicklung ihrer Ausfuhren. Nicht nur wird auf eine Gestellung der Ausfuhrsendungen bei entsprechender Bewilligung verzichtet, 73 Insb. Güter der Anhänge der EG-Dual-use VO und der deutschen Ausfuhrliste Teil I Abschnitt A und B. 74 Ggf. auch gegenüber der Genehmigungsbehörde nach dem KrWaffKontrG. 75 http://www.bafa.de/DE/Aussenwirtschaft/Ausfuhrkontrolle/Antragsstellung/Ausfuhrver​ antwortlicher/ausfuhrverantwortlicher_node.html, zuletzt abgerufen am 1.11.2017 76 Erwähnung in Art. 2 Nr. 10, Art. 9 Abs. 2, 5, Art. 12 Dual-use VO.

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sondern auch auf das transaktionsbezogene Durchlaufen des exportkontrollrechtlichen Genehmigungsverfahrens für einzelne Ausfuhrvorgänge. Diese Erleichterungen können als Ausdruck des behördlichen Vertrauens in das normkonforme Verhalten des Unternehmens gesehen werden. Schließlich wird auf behördliche Prüf- und Kontrollvorgänge im späteren Ausfuhreinzelfall weitestgehend verzichtet. Dieses Vertrauen wird jedoch nur Unternehmen zuteil, die besondere Compliance-Anforderungen erfüllen. Die Teilnahme am SAG-Verfahren stellt also besondere Anforderungen an die Zuverlässigkeit des Ausführers in Bezug auf die Funktionsfähigkeit der betriebs­ internen Exportkontrolle. Im Rahmen der Erstbeantragung einer SAG ist die Funktionsfähigkeit des betriebsinternen Exportkontrollsystems zur Einhaltung der Exportkontrollvorschriften durch den Ausführer nachzuweisen.77 Das BAFA behält sich ausdrücklich vor, dies in Gestalt von Onsite-Visits einschließlich inhaltlicher Prüfung und Bewertung des firmeneigenen ICP zu überprüfen. Art. 12 Abs. 2 EG Dual-­use VO schreibt auf Ebene des Gemeinschaftsrechts dazu lediglich vor, dass Unternehmen ein „angemessenes und verhältnismäßiges ICP“ nachweisen müssen78, ohne hierzu Details zu definieren. cc) Art. 9 Abs. 1 und 2 Verteidigungsgüterrichtlinie der Europäischen Union Mit der Zielsetzung, den innergemeinschaftlichen Handel mit Verteidigungsgütern zu vereinfachen, haben das EU-Parlament und der Rat der Europäischen Union 2009 die Richtlinie Nr. 2009/43/EG79 erlassen. Die Richtlinie gibt den nationalen Gesetzgebern den Auftrag, die Verfahrens- und Verwaltungsvorschriften im Sinne der Richtlinie zu einer Vereinheitlichung zu führen. Die Richtlinie sieht die Möglichkeit vor, sich bei einer nationalen Behörde als „zuverlässiges Unternehmen“ zertifizieren zu lassen, Art. 9 Abs. 1 Verteidigungsgüterrichtlinie. In Deutschland ist hierfür das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle zuständig. Diese Zertifizierung bringt Vorteile im Rahmen des Genehmigungsverfahrens bei der innergemeinschaftlichen Verbringung von Verteidigungsgütern. Dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie entsprechend wird durch die Zertifizierung insbesondere bescheinigt, dass das betreffende Empfängerunternehmen zuverlässig ist, insbesondere was seine Fähigkeit betrifft, die Ausfuhrbeschränkungen für Verteidigungsgüter einzuhalten, die es im Rahmen einer Genehmigung aus einem anderen Mitgliedstaat bezieht. Die Zuverlässigkeit eines Empfängerunternehmens wird anhand von Kriterien beurteilt, die im Art. 9 der Richtlinie in den Buchstaben a) – f) des Absatzes 2 definiert sind. Im Zuge des Zertifizierungsverfahrens erfolgt eine Überprüfung dieser Fähigkeit anhand des Kriterienkatalogs aus Art. 9 Abs.  2 Buchstabe a) bis f) der Verteidigungsgüterrichtlinie. Dieser Katalog nennt neun ver77 http://www.bafa.de/DE/Aussenwirtschaft/Ausfuhrkontrolle/Antragsarten/Sammelgeneh​ migungen/sammelgenehmigungen_node.html, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 78 Pfeil/Mertgen (Fn. 18), Kap. H Rz. 23. 79 Richtlinie zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern 2009/43 EG in der geänderten Fassung der Richtlinie (EU) 2016/970.

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schiedene Export-Compliance-Elemente, die die Unternehmen für eine Zertifizierung erfüllen müssen. b) Exportkontroll-Compliance-Modelle in Deutschland aa) Compliance-Elemente nach dem Runderlass Außenwirtschaft Nr. 10/2003 für die Erteilung einer Sammelgenehmigung Die Voraussetzungen, um Ausfuhren über Sammelgenehmigungen abzuwickeln und dadurch in den Genuss der oben genannten Verfahrenserleichterungen zu kommen, wurden durch das BMWi80 im Runderlass Außenwirtschaft Nr. 10/200381 konkretisiert. Unter dem Gliederungspunkt „Ausfuhrverantwortlicher und betriebsinterne Exportkontrolle“ werden im Wesentlichen vier unternehmensbezogene Voraussetzungen formuliert: (1) Der Ausfuhrverantwortliche (AV) Wie bei jeder Ausfuhr von Dual-use- Gütern in Drittländer oder Rüstungsgütern außerhalb der Bundesrepublik Deutschland die nicht allgemeingenehmigt ist, muss auch der Antragssteller einer Sammelgenehmigung einen AV benennen. Dabei gelten die allgemeinen Voraussetzungen und Bestimmungen aus den „Grundsätzen der Bundesregierung“. Als AV kann nur ein Mitglied des vertretungsberechtigten Organs des Unternehmens benannt werden82. Eine Delegation der Übernahme der Verantwortung ist ausgeschlossen, sodass die Exportkontrolle zur höchstpersönlichen „Chefsache“ bestimmt wird83. Durch die vier Kardinalpflichten84 kommt dem AV eine wesentliche Funktion für die Organisation der Einhaltung des Außenwirtschaftsrechts zu. Neben der Pflicht, fachkundiges und zuverlässiges Personal für die interne Exportkontrolle auswählen (Personalauswahlpflicht) hat der AV die Organisationshoheit über den Aufbau und die Einbindung der Exportkontrollabteilung in die betrieblichen Strukturen (Organisationspflicht). Der AV schafft dadurch die betrieblichen Grundlagen für ein prüfbar normkonformes Verhalten des Unternehmens im Auslandsgeschäft. Daran anknüpfend, muss der AV die ergriffenen Compliance Maß­ nahmen fortlaufend überwachen (Überwachungspflicht) und sicherstellen, dass den Mitarbeitern zum Beispiel durch die interne Organisation von Schulungen im Unternehmen oder durch den Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen die gesetzlichen Änderungen im schnelllebigen Außenwirtschaftsrecht vermittelt werden (Weiterbildungspflicht).85 80 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; zuvor benannt als Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. 81 Bundesanzeiger Nr. 107 vom 12.6.2003. 82 Nr. 2 Satz 1 der Grundsätze wobei Prokuristen hier nicht zugelassen sind. 83 Pottmeyer, Der Ausfuhrverantwortliche, 5. Aufl. 2014, S. 66. 84 Nr. 4.1 – 4.4 der Grundsätze. 85 Eine Darstellung der Kardinalpflichten des AV ist folgendem Beitrag zu entnehmen: Merz/ Vischer, Ausfuhr- und Prozessverantwortliche, Der Zoll-Profi 2/2009.

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(2) Innerbetriebliches Exportkontrollprogramm Neben den allgemeinen Kardinalpflichten ist darüber hinaus gemäß den oben beschriebenen Vorgaben aus dem Benennungsformular zum AV „im Verantwortungsbereich des Ausfuhrverantwortlichen ein betriebsinternes Exportkontrollprogramm zur Einhaltung der Exportkontrollvorschriften einzurichten“. Damit begründet der Runderlass quasi die Pflicht zur Einrichtung eines „(betriebs-) internen Exportkon­ trollprogramms“, die dann im Benennungsformular in Bezug auf Art und Inhalt weiter ausdifferenziert werden. Denn Umfang, Bestandteile oder Ausgestaltung dieses „Programms“ gehen aus dem Runderlass selbst nicht hervor. Es steht dem Antragsteller danach frei, nicht über das „Ob“ eines ICP zu entscheiden, sondern über das „Wie“ in Gestalt eines maßgeschneiderten ICP zu entscheiden und dieses nach den eigenen Bedürfnissen zu entwerfen und einzurichten. Das BAFA als Genehmigungsbehörde hat anhand des Sachvortrags bei Antragstellung86 darüber zu entscheiden, ob es das gewählte ICP für geeignet hält, um im Einklang mit den exportkontrollrechtlichen Beschränkungen am privilegierten Außenwirtschaftsverkehr teilzunehmen. Die Anforderungen, die das BAFA allgemein an ein ICP stellt, lassen sich dem „Merkblatt zu Internal Compliance Programmes (ICP)“87 entnehmen und dürften in der Praxis den Anforderungen entsprechen, die das BAFA für die Erteilung einer SAG voraussetzt. (3) Besonderheiten des Compliance-Programms bei Sammelgenehmigungsverfahren (SAG) Eine SAG Erteilung verlangt nicht nur die Benennung eines AV, sondern darüber hinaus die Benennung weiterer Personen, die „für die Einhaltung dieser Vorschriften verantwortlich sind“. Diese sind mit Telefondurchwahlnummern dem BAFA bekannt zu geben, etwaige Wechsel sind mitteilungspflichtig. Die SAG gilt für einen genau bezeichneten Empfängerkreis. Daher ist auch die Zuverlässigkeit der Empfänger und etwaiger Endempfänger sicherzustellen. Dazu ist der Antragsteller verpflichtet, selbstständig Maßnahmen zu ergreifen, um die Zuverlässigkeit des Empfängers – also in der Regel die seines Vertragspartners – und sofern eine Direktlieferung etwa an Kunden des Vertragspartners voraussehbar ist, die Zuverlässigkeit dieser Endempfänger zu überprüfen. Die gewonnenen Ergebnisse sind dem BAFA im Zuge der Antragstellung mitzuteilen88. Schließlich werden die SAG mit Nebenbestimmungen verknüpft, so zum Beispiel mit Einbaunachweise der ausgeführten Güter, oder Auflagen zum Aufbewahrungs- und Meldepflichtensystem. Auch kann der SAG-Inhaber dazu verpflichtet werden, etwaige Hinweise zu Verstößen, von denen er Kenntnis erlangt, gegenüber den zuständigen Behörden offenzulegen. Entsprechend sollte ein System etabliert werden das regelt, wie mit derlei Hinweisen innerhalb des Unternehmens umgegangen wird, um sicherzustellen, dass verantwortliche Personen von Ihnen er86 Dafür sieht der Runderlass im Regelfall eine Vor-Ort-Präsentation im Unternehmen vor. 87 Vgl. dazu unten unter cc) in diesem Abschnitt. 88 Zu den praktischen Schwierigkeiten dieser Genehmigungsvoraussetzung siehe Schöppner, Sammelausfuhrgenehmigungen (SAG) als Alternative zu Einzelgenehmigungen?, Der Zoll-Profi 10/2014.

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fahren und über die weitere Vorgehensweise entscheiden89. Die größte Herausfor­ derung, speziell für international tätige Unternehmen, wird in den abweichenden ­internationalen, europäischen und dem Konglomerat von datenschutz- und arbeitsrechtlichen Vorschriften liegen.90 Bislang hat der deutsche Gesetzgeber zu dem Umfang und Inhalt derartiger Whistleblowingsysteme keine allgemeingültigen, verbindlichen Regelungen erlassen. In einem Regelungskontext wären arbeitsrechtliche und datenschutzrechtliche Vorgaben91 zur Erfassung, Verarbeitung, Speicherung, Aufbewahrung und Weitergabe (z.B. an Behörden) ebenso zu regeln, wie das Anzeigerecht der Missstände, die aus dem Unternehmen heraus offengelegt werden, ein angemessener Schutz der meldenden Person (des Whistleblowers) sowie die Verfahrensrechte der Beschuldigten.92 bb) Compliance-Elemente nach Art. 9 der Verteidigungsgüterrichtlinie Art. 9 der RL 2009/43/EG (Verteidigungsgüterrichtlinie), §  9 AWG und §  2 AWV ­sehen vor, dass Unternehmen sich von den nationalen Behörden als zuverlässige Empfänger von Rüstungsgütern zertifizieren lassen können. Dazu muss das Unternehmen die in Art. 9 der Richtlinie genannten Kriterien erfüllen. Die Zuständige Behörde in Deutschland ist das BAFA. Erklärtes Ziel der Zertifizierung ist die Verringerung des organisatorischen Aufwandes für grenzüberschreitende Rüstungsprojekte innerhalb der Europäischen Union93. Erste Voraussetzung für die Zertifizierung ist daher, dass das Unternehmen über einschlägige Erfahrung im Außenhandel mit Verteidigungsgütern verfügt. Gleichzeitig muss es den Nachweis führen, dass es in der Lage ist, mit anderen Akteuren im Wege der Systemintegration gemeinschaftlich an einem Projekt mitzuwirken. Dieses Kriterium erfüllen typischerweise größere Unternehmen mit langjähriger industrieller Erfahrung im Bereich der Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit leichter, als kleine und mittelständische Unternehmen.

89 Das BAFA veröffentlichte ein Merkblatt zur Nutzung von Sammelgenehmigungen unter: http://www.bafa.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aussenwirtschaft/afk_sag_merk ​blatt_­ ruestungsgueter.html, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 90 Kanzenbach, Die Implementierung und Ausgestaltung eines „BEST-PRACTISE“-Hinweisgeber- bzw. Whistleblower-Systems unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten  – Eine Handlungsempfehlung für Unternehmen, 2013, S. 164. 91 Mindestens nach dem deutschen Bundesdatenschutzgesetz sowie der ab 2018 geltenden EU-Datenschutz-GrundVO. 92 Kanzenbach (Fn. 90), S. 166. 93 Erwägungsgrund Nr.  3 der Richtlinie 2009/43/EG: „Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern sind unterschiedlich, was den Verkehr mit diesen Gütern behindern und den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes verzerren kann und dadurch die Innovation, die industrielle Zusammenarbeit und die Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungsindustrie in der Europäischen Union behindert.“

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Es ist gegenüber der nationalen Behörde bekannt zu geben, welcher leitende Angestellte für Verbringungen und Ausfuhren persönlich verantwortlich ist94. Die benannte Person muss sodann im Namen der Unternehmensführung eine Erklärung gegenüber der Behörde abgeben, wonach das Unternehmen gem. Art. 9 Abs. 2 Buchstabe d) der Richtlinie „alle notwendigen Vorkehrungen trifft, um sämtliche Bedingungen für die Endverwendung und Ausfuhr eines ihm gelieferten Verteidigungsgutes einzuhalten und durchzusetzen“. Um bei Bedarf die Einhaltung überprüfen zu können, verpflichtet sich das Unternehmen, der Behörde auf Anfrage die vorhanden Informationen über Endverwender und Endverwendung der Verteidigungsgüter zu übermitteln95. Schließlich muss das beantragende Unternehmen gegenüber der Behörde darstellen, welche Maßnahmen es installiert hat, um die Einhaltung der Vorschriften des Exportkontrollrechts und des Ausfuhrrechts sicherzustellen. Die Richtlinie stellt jedoch keine konkreten Anforderungen an dieses – als „Ausfuhrverwaltungssystem des Unternehmens“96 bezeichnete – Programm. Anhaltspunkte dafür, welche Maßnahmen ein ICP in den Augen des Richtliniengebers abdecken muss, ergeben sich dennoch. Denn die Pflicht das unternehmenseigene ICP zu beschreiben, verlangt, dass die Beschreibung Angaben über folgende Merkmale des ICPs enthält: „organisatorische, personelle und technische Mittel für die Verwaltung von Verbringungen und Ausfuhren, über die Verteilung der Zuständigkeiten im Unternehmen, die internen Prüfverfahren, die Maßnahmen zur Sensibilisierung und Schulung des Personals, die Maßnahmen zur Gewährleistung der physischen und technischen Sicherheit, das Führen von Aufzeichnungen und die Rückverfolgbarkeit von Verbringungen und Ausfuhren“.97 Diese Anforderung lässt den Schluss zu, dass ein ICP, das negativ von dem aufgezählten Maßnahmenbündel abweicht – etwa indem es eine oder mehrere der genannten Compliance-Maßnahmen nicht oder nicht angemessen vorsieht – keine ausreichende Gewähr für ein normkonformes Verhalten des Unternehmens bietet und daher auf Basis einer negativen Prognose der Behörde einer Zertifizierung entgegensteht. Der Richtliniengeber wollte aber gerade nicht mittelbar eine Pflicht zur Errichtung eines ICP mit gesetzlich determinierten Inhalten einführen, sondern nennt in Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f) lediglich beispielhafte Merkmale, die ein in seinen Augen geeignetes Compliance-Programm aufweisen sollte98. Insofern stellen die in Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f) genannten Merkmale keine starren Kriterien dar, welche die Behörden der Mitgliedstaaten im Falle des Nichtvorhandenseins einzelner Compliance-Maßnahmen von der Pflicht zur Prüfung der Geeignetheit des ICPs im Einzelfall befreien. Das BAFA entwickelte zur Beantragung des Zertifikats einen Fragebogen, in dem das Un94 Für die Konkretisierung dieses Kriteriums wird auf die vorstehenden Ausführungen zum Ausfuhrverantwortlichen verwiesen. 95 Art. 9 Abs. 2 Buchstabe e) Richtlinie 2009/43/EG bzw. § 2 Abs. 2 Nr. 5 AWV. 96 Auch als „internes Programm zur Einhaltung des Ausfuhrkontrollverfahrens“ bezeichnet, Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f) Richtlinie 2009/43/EG bzw. § 2 Abs. 2 Nr. 6 AWV. 97 Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f) Richtlinie 2009/43/EG, § 2 Abs. 2 Nr. 6 AWV. 98 Exemplarisch: Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f) Richtlinie 2009/43/EG im englischen Wortlaut: „This description shall provide…“; spanischer Wortlaut: “Esta descripción deberá detallar…“

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ternehmen in 65 einzelnen Fragen Angaben – zumeist zum ICP des Unternehmens – machen muss99. cc) BAFA ICP Das BAFA hat in einem Merkblatt ein auf den in Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f) der Verteidigungsgüterrichtlinie genannten Merkmalen aufbauendes Muster-ICP entworfen, welches Unternehmen bei der Einrichtung eines firmeninternen ICP zugrunde legen können. Das BAFA unterteilt die Maßnahmen in vier übergeordnete Kategorien: Personelle und technische Mittel, die Aufbauorganisation, Überwachung und in die Ablauforganisation der innerbetrieblichen Exportkontrolle.100 (1) Personelle und technische Mittel Bei Auswahl, Anzahl und fachlichem Wissen der in der Exportkotrolle eingesetzten Mitarbeiter ist darauf zu achten, dass diese insbesondere der Unternehmensgröße, der Produktpalette und den bevorzugten Empfängerländern gerecht wird. Eine feste Quote gibt es nicht, jedoch ist sicherzustellen, dass urlaubs- oder krankheitsbedingte personelle Engpässe durch entsprechende Vertretungen überbrückt werden. Auch bei der technischen Ausstattung sind den Unternehmen keine festen Vorgaben gemacht, jedoch sei jedenfalls ein EDV gestütztes Kommunikationssystem wie etwa für den behördlichen Kontakt über ATLAS oder ELAN-K2 angezeigt. Elementares Arbeitsmittel sind die Quellen der relevanten Rechtstexte, wie auch die einschlägige Fachliteratur, etwa in Form der rechtswissenschaftlichen Kommentierung der Gesetzgebung oder einschlägige Fachzeitschriften. Die Bewältigung der Aufgaben der innerbetrieblichen Exportkontrolle wird dadurch erleichtert, dass den Mitarbeitern Verfahrensanweisungen, Organigramme und Flowcharts101 bereitgestellt werden, die die betrieblichen Abläufe darstellen, detaillierte Verantwortlichkeiten zuweisen und Prozessvorgaben für exportkontrollrechtliche Szenarien enthalten. Darin enthalten sein soll auch ein grundlegendes Bekenntnis der Unternehmensführung zur Exportkontroll-Compliance und ihren Zielen. 102 (2) Aufbauorganisation Bei der erstmaligen Einrichtung eines jeden ICPs stellt sich die Frage nach der Verteilung von Zuständigkeiten. Soweit ein Ausfuhrverantwortlicher ernannt ist, obliegt ihm grundsätzlich die unternehmensweite Gesamtverantwortung über das Compliance-Programm. Darüber hinaus sind einzelne Zuständigkeiten schriftlich festzule 99 http://www.bafa.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aussenwirtschaft/afk_zertifizierung_ kriterienkatalog_bearbeitbar.pdf?__blob=publicationFile&v=4, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 100 http://www.bafa.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aussenwirtschaft/afk_merkblatt_icp. pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 101 Dazu ausführlich unten bei (4) Ablauforganisation. 102 BAFA Merkblatt: „Internal Compliance Programmes – ICP“, S. 13f.

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gen und im Unternehmen zu kommunizieren103. Besonders zu beachten ist die Vermeidung etwaiger Interessenskonflikte, welche durch eine strategisch unvorteilhafte Angliederung der Exportkontrolle bspw. durch Anbindung an den Vertrieb leicht entstehen kann. Zur zweckmäßigen Wahrnehmung der internen Exportkontrolle sollten die betrauten Mitarbeiter in möglichst großem Umfang unabhängig arbeiten können.104 (3) Überwachung Unter dem Kriterium „Prüfung/Überwachung“ nennt das ICP des BAFA zwei Maßnahmenempfehlungen. Zum einen sei ein Kontrollmechanismus auf Ebene der täglichen Betriebsabläufe zu etablieren. Dahinter steht der Gedanke, dass die Einhaltung der entwickelten Exportkontrollprozesse nur gelingen kann, wenn die Mitarbeiter diese Prozesse ordnungsgemäß im Tagesgeschäft umsetzen. Um abweichendes Verhalten fest- und abzustellen bieten sich etwa Stichproben oder Freigabesysteme sowie ein transaktions- oder teilprozessbezogenes Vieraugenprinzip an.105 Zum anderen muss auch die Tauglichkeit und Aktualität des gesamten ICPs regelmäßig überprüft werden106. Dafür sollte das Unternehmen feste Zeitabschnitte festlegen und entweder ein internes Prüfverfahren unter Hinzuziehung geeigneter Mitarbeiter etwa aus dem Controlling oder Qualitätsmanagement entwickeln, oder auf die Expertise externer Prüfer zurückgreifen.107 Es gibt vorhersehbare Termine, die Anlass geben, an diese bzgl. des Aktualisierungsfortschrittes anzuknüpfen. So beispielsweise, wenn die Anhänge der Güterlisten nach den Regimebeschlüssen umgesetzt und geändert werden. Das BAFA publiziert hierzu im Vorfeld seit einigen Jahren die anstehenden Änderungen und gibt einen unverbindlichen Änderungsüberblick. Unternehmen, die im Rahmen zollrechtlicher Vereinfachungen zu einem jährlichen Monitoring ihrer zoll(ausfuhr)relevanten Prozesse verpflichtet sind, können Erkenntnisse daraus ableiten, die verfahrensändernde Wirkung haben und in den Anweisungen dokumentiert werden können. Ebenso können Erkenntnisse aus Außenwirtschaftsprüfungen genutzt werden, um Änderungen zu veranlassen und damit die Abläufe aktuell und rechtskonform fortzuentwickeln. (4) Ablauforganisation Das BAFA sieht als ein Hauptelement der innerbetrieblichen Exportkontrolle auch die Dokumentation der Prozesse und die Umsetzung in Handlungs- bzw. Arbeitsanweisungen. Dazu zählt das Verfassen und Zugänglichmachen des eingangs genannten 103 Das BAFA empfiehlt eine innerbetriebliche Bekanntmachung mittels eines Organigramms. 104 BAFA Merkblatt: „Internal Compliance Programmes – ICP“, S.14. 105 BAFA Merkblatt: „Internal Compliance Programmes – ICP“, S.14. 106 Sog. Systemprüfungen. 107 Ahmad, Exportkontroll-Compliance: Risikoanalyse und internes Monitoring, AW-Prax 2016, S. 13 (15).

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Prozesshandbuchs, welches den von Exportkontrollprozessen betroffenen Mitarbeitern als zentraler Leitfaden zur Bewältigung der Routineaufgaben dient. Nur durch die Standardisierung von Verfahren und Abläufen kann ein hoher Grad an Compliance erreicht und gehalten werden. Standardisierungen lassen die Prozesse nachvollziehbar und planbar werden und durch interne Revisionen prüf- und bewertbar. Die Entwicklung eines solchen Prozesshandbuches setzt neben vertiefter Kenntnis der gesetzlichen Vorschriften auch die Fähigkeit voraus, diese Vorschriften in konkrete Betriebsabläufe umzusetzen und sie in einer verständlichen Weise darzustellen. Das BAFA schlägt dazu eine Unterteilung in die Stadien „Vor“ und „Nach“ der Genehmigungserteilung vor108. Ebenso wichtig wie die abstrakte Entwicklung von Arbeitsprozessen ist für das Gelingen eines ICP das Personal, das diese Prozesse umzusetzen verpflichtet ist. Daher legt das BAFA ICP einen Schwerpunkt auf die richtige Auswahl, die grundlegende Sensibilisierung und die regelmäßige Schulung der zuständigen und verantwortlichen Mitarbeiter. Die Anforderungen an die physische und technische Sicherheit erfassen sowohl den Schutz von Produktionsstätten und Anlagen vor körperlichem Eindringen, als auch den Schutz vor nichtkörperlichen Angriffen auf informationstechnische Systeme. Das BAFA verweist dazu auf die im Rahmen der AEO- oder KrWaffKontrG-Prüfung nachzuweisenden Sicherungsmaßnahmen. Im letzten Schritt sind Vorkehrungen für die Aufzeichnung und Dokumentation von Vorgängen sowie für die Aufbewahrung von Unterlagen zu treffen. Umfang und Dauer der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht für bestimmte Unterlagen ergeben sich beispielsweise aus § 22 Abs. 3 AWV, aus Art. sowie aus § 147 AO oder Art. 22 Abs. 8 der EG-Dual-use-VO. Zum Umfang der zu führenden Register und Aufzeichnungen bestimmt bspw. Art. 20 Abs. 1 EG-Dual-use-VO, dass diese Register oder Aufzeichnungen insbesondere Geschäftspapiere wie Rechnungen, Ladungsverzeichnisse, Beförderungs- oder sonstige Versandpapiere enthalten müssen, anhand derer die Bezeichnung der Güter mit doppeltem Verwendungszweck, die Menge dieser Güter, Name und Anschrift des Ausführers und des Empfängers, und soweit bekannt, die Endverwendung und der Endverwender der Güter mit doppeltem Verwendungszweck festgestellt werden kann. Darüber hinaus sollten weitere exportkontrollrechtliche Vorgänge im Unternehmen dokumentiert werden. Bei der Frage des „Ob“ und „Wie“ der Aufzeichnung ist zu berücksichtigen, dass eine möglichst lückenlose Dokumentation die tatsächlichen Compliancebemühungen des Unternehmens belegt und erkennen lässt, aus welchem Grund welche Entscheidungen getroffen wurde. So kann leichter der Nachweis erbracht werden, dass es sich bei einer später festgestellten, etwaigen Zuwiderhandlung „nur“ um einen ggf. fahrlässig begangenen Arbeitsfehler und nicht um einen Fehler handelt, dessen Ursache in einem Organisationsverschulden liegt.

108 BAFA Merkblatt: „Internal Compliance Programmes – ICP“, S. 16 ff.

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c) Beurteilung von Compliance-Programmen im Rahmen der Offenlegung ­bestimmter Verstöße im Sinne des § 22 Abs. 4 AWG Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts im Jahre 2014 wurde mit dem § 22 Abs. 4 AWG die Möglichkeit geschaffen, bestimmte, fahrlässig begangene Ordnungswidrigkeiten sanktionsbefreiend offenzulegen.109 Besonders im Lichte der verfolgungshindernden Offenlegung von Verstößen i.S.d. § 22 Abs. 4 AWG kommt der Aufzeichnung von unternehmensinternen Exportkontrollprozessen große Bedeutung zu. Um in den Genuss der Rechtsfolge des § 22 Abs. 4 AWG zu kommen, ist es neben anderen Voraussetzungen, die vorliegen müssen auch erforderlich, dass der Verstoß „fahrlässig“ und nicht vorsätzlich begangen wurde. Zweifel am Verschuldensgrad können durch eine entsprechende Dokumentation entkräftet werden.110 Zudem sind bei entsprechender Darstellung und gerichtlicher Würdigung der Gesamtumstände von Verstößen bspw. im Lichte einer Ahnung nach §  30 OWiG auch bußgeldmildernde Effekte zu erzielen oder es kann sogar ganz von der Festsetzung einer Verbandsgeldbuße abgesehen werden.111 Die Vorschrift des §  30 Abs.  1 OWiG ermöglicht die Festsetzung einer Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen und knüpft dabei an eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit eines Organs oder Vertreters einer juristischen Person an. Im Außenwirtschaftsrecht ist dies in der Regel der Ausfuhrverantwortliche. In seiner Entscheidung aus dem Mai 2017112, in der der BGH das erste Mal eine das Bußgeld mindernde Wirkung von Compliance Management Systemen anerkannt hat, stellte er fest, dass im Rahmen der Bemessung der Höhe der Geldbuße zu berücksichtigen sei, ob das Unternehmen in der Folge dieses Verfahrens entsprechende Compliance-Regelungen optimiert und seine betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden. Nicht der präventive Charakter von Compliance-Maßnahmen und das Engagement des Unternehmens diesbezüglich zum Zeitpunkt des Verstoßes soll damit offenbar privilegiert werden, sondern quasi auch das durch schmerzliche Erfahrung des Drucks von außen, durch Ermittlungen gegen sich klug gewordene Unternehmen. Der BGH führte nämlich in seiner Entscheidung aus: „Für die Bemessung der Geldbuße ist von Bedeutung, inwieweit das Unternehmen seiner Pflicht, Rechtsverletzungen aus der Sphäre des Unternehmens zu unterbinden, genügt und ein effizientes Compliance-Management installiert hat, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss. Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob es in der Folge dieses Verfahrens entsprechende Regelungen optimiert und ihre betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare

109 Vgl. zu Umfang, Voraussetzungen und Wirkung der Offenlegung nach §  22 IV AWG die  Mitteilung des Bundesministeriums der Finanzen vom 12.2.2014 – GZ III B3  – A0303/11/10003 Dok 2017/0000286. 110 Zu den Anforderungen des §  22 Abs.  IV AWG: Jehke/Schöppner, Die Selbstanzeige im Außenwirtschaftsrecht, AW-Prax 2016, S. 3; Helck/Petry, Die Selbstanzeige im Außenwirtschaftsrecht, ZfZ 2015, S. 151. 111 Petermann, Die Bedeutung von Compliance-Maßnahmen für die Sanktionsbegründung und -bemessung im Vertragskonzern, 2. Aufl. 2012, S. 224, 232. 112 BGH vom 9.5.2017 – 1 StR 265/16.

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Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden.“113 Der BGH weist damit erkennbar erstmals auf die Bedeutung eines Compliance-Management Systems für die Bemessung einer Geldbuße hin. Das Besondere an dieser Entscheidung ist jedoch, dass der BGH die Bemühungen der Unternehmen zur Verbesserung der Compliance-Systeme selbst dann bußgeldmindernd berücksichtigt wissen will, wenn diese Bemühungen erst zu einem Zeitpunkt bzw. in dessen Folge erkennbar werden, an dem die Pflichtverstöße für die gesetzlichen Vertreter offenkundig sind. Der dem BGH Urteil zugrunde liegende Fall bewertete durch die Vorinstanz eine Selbstanzeige eines deutschen Rüstungsunternehmens deswegen als nicht strafbefreiend, da die Bestechungsvorwürfe gegen Personen und das Unternehmen bereits in Griechenland ermittelt wurden und es nahe lag, dass im Rahmen der Rechtshilfe entsprechende Mitteilungen an die deutschen Behörden ergingen und diese selbstständig wegen Bestechungsvorwürfen ermitteln würden. Die Anzeige sei daher nicht freiwillig. Im Ergebnis hat der BGH festgestellt, dass daher auch die nachgelagerte Aktivität und Investition in Compliance eines Unternehmens positiv bei der Bemessung der Geldbuße gewürdigt werden muss. Damit hat der BGH den Umfang positiver Effekte von Compliance-Programmen weiter Raum und ebenso Anreize für die Einrichtung und Umsetzung in den Unternehmen gegeben. 4. Fazit Die untersuchten ICP Modelle entstanden in unterschiedlichen rechtlichen Kontexten: Die Modelle von Nunn-Wolfowitz, des BIS und des State Department wurden für eine Anwendung im Geltungsbereich der US-amerikanischen Rechtsordnung verfasst. In den gesetzlichen Bestimmungen, auf die die unterschiedlichen Programme referenzieren (EAR, ITAR), werden an die Einrichtung und Aufrechterhaltung eines ICP keine erkennbar im Gesetz beschriebenen Verfahrensereinfachungen oder Benefits beschrieben. Einzig im Bereich der Sanktionsbemessung nach Verstößen oder im Zusammenhang mit Selbstanzeigen (VSD Voluntary Self Disclosures) sind Com­ pliance-Maßnahmen mildernd zu berücksichtigen. Zwar fordern die Programm­ matrixen in den USA ebenfalls den „Tone from the Top“ und eine Einbeziehung des Top Managements, jedoch existiert keine gesetzliche und damit keine bewusstseinsschärfende Grundlage zur Benennung eines Mitgliedes der Geschäftsführung gegenüber den Genehmigungsbehörden. Der „empowered official“ ist ein fach- und sachkundiger Mitarbeiter aus der operativen Ebene, sowie in den ITAR-bestimmungen ausgeführt. Seine Position im Unternehmen hängt aber letztlich davon ab, was die Unternehmensleitung vorgibt und vorlebt. Das BAFA ICP, die Grundsätze der Bundesregierung zur Zuverlässigkeit von Ausführern, die SAG Compliance-Anforderungen und das Compliance-Modell der EU-Verteidigungsgüterrichtlinie beziehen sich auf Vorgaben nach dem deutschen bzw. dem europäischen Recht.

113 Walter, Nachträgliche Compliance-Maßnahmen zur Exportkontrolle können Bußgelder ausschließen oder verringern, Comply 12/2017.

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Der in Deutschland etablierte und institutionalisierte Ausfuhrverantwortliche ist in der EU einzigartig. Zwar gibt es im österreichischen Außenwirtschaftsrecht in den §§  50-51 AWG den sog. „Verantwortlichen Beauftragten“. Dessen Bestellung ist jedoch „nur“ für die elektronische Antragstellung sowie für die Inanspruchnahme von Allgemein- und Globalgenehmigungen notwendige Voraussetzung. Daneben kann das österreichische BMWFW Unternehmen, die außenwirtschaftsrechtlich relevante Tätigkeiten ausüben bzw. mehrere Anträge auf Ausfuhrgenehmigung jährlich stellen, zur Bestellung von einem oder mehreren Verantwortlichen Beauftragten auffordern. Ihm obliegt alsdann Organisation, Personalauswahl und -weiterbildung sowie die Überwachung der Einhaltung der außenwirtschaftsrechtlichen Vorschriften. Zudem trägt er die Verantwortung für die Einhaltung der außenwirtschaftsrechtlichen Vorschriften. Er sollte ein Mitglied der Geschäftsführung sein oder eine andere leitende Funktion ausüben. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den deutschen Voraussetzungen; hier ist der AV immer aus dem Kreis der vertretungsberechtigten Geschäftsführung oder Vorstand zu benennen. Das ICP, das der deutsche Ausfuhrverantwortliche mit Leben zu füllen und am Leben zu erhalten hat, ist Grundlage und Bedingung einiger Verfahrensvereinfachungen. Die Anreize in die Investition umfangreicher interner Compliance-Maßnahmen könnten gesteigert werden, wenn die verfahrensimmanenten Vereinfachungen auf der anderen Seite ausgebaut würden. Der eingangs bereits erwähnte AEO (Authorized Economic Operator), wie ihn der Unionszollkodex (UZK) anbietet, könnte ein vergleichbares Anreizmodell sein. So bewilligen Zollbehörden einem Inhaber einer AEOC-Bewilligung gemäß Art. 38 Abs. 5 UZK die Inanspruchnahme der gewünschten Vereinfachung aufgrund seines überprüften und dokumentierten Status, sofern der Antragsteller alle Voraussetzungen für die jeweilige Vereinfachung erfüllt. Die Kriterien, die bei der Bewilligung des Status eines AEO bereits geprüft wurden, werden dann nicht nochmals von der Bewilligungszollstelle geprüft. Ebenso unterliegen Inhaber des AEO-Zertifikats einer geringeren Prüfungsdichte durch die Zollverwaltung. Das Modell der zertifizierten Mitglieder der internationalen Lieferkette (der AEO) wird als Status auch außerhalb der EU von anderen Partnerländern anerkannt; so derzeit von der Volksrepublik China, Japan, Norwegen, der Schweiz und den USA. Innerhalb von Wirtschaftsteilnehmern hat sich der AEO-Status eines Lieferanten oder Dienstleisters bereits als ein Gütesiegel etabliert, welcher somit Wettbewerbsvorteile verspricht. Bei ansonsten vergleichbaren Parametern wird einem AEO bei der Partnerauswahl in der Regel Vorzug gegeben. 114 Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Behörden Unternehmens-ICP prüfen und Unternehmen zertifizieren. So geschieht es bereits auf Basis der EU-Verteidigungsgüterrichtlinie, in der allerdings ausschließlich Empfänger zertifiziert und in einer Datenbank veröffentlicht werden.115 Die Audits des BAFA Im Vorfeld oder bei Verlängerung der Erteilung von Sammelgenehmigungen stellen keine

114 http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zugelassener-Wirtschaftsbeteiligter-AEO/ Vorteile/vorteile_node.html, zuletzt abgerufen am 1.11.2017. 115 http://ec.europa.eu/growth/tools-databases/certider/index.cfm, zuletzt abgerufen am 1.11.2017; zu diesem Zeitpunkt waren EU-weit 54 Unternehmen zertifiziert, davon 14 allein in Deutschland.

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Zertifizierung dar, es handelt sich lediglich um eine Prüfung des Vorliegens von Genehmigungsbedingungen. Die Best Practice Empfehlungen des Wassenaar Regimes sind rechtsunverbindlich, losgelöst von einer konkreten Rechtsordnung und richten sich an Anwender aus dem Umfeld der Regimemitglieder weltweit. Ihre Inhalte spiegeln die Kernaussagen und -bedingungen der bestehenden und in diesem Beitrag vorgestellten Modelle als Empfehlungen zur Umsetzung wider. Schließlich unterscheiden sich auch die betroffenen Güterkreise: Die Guidelines des US State Department und die Verteidigungsgüterrichtlinie richten sich exklusiv an Unternehmen mit Rüstungsgüterbezug wohingegen die Übrigen dem Grunde nach nicht an einen Güterkreis anknüpfen. Diese Unterscheidung wird in Deutschland nicht vorgenommen. Die Anknüpfung erfolgt über den Ausfuhrverantwortlichen an die Genehmigungspflichtigkeit der Ausfuhr gelisteter Güter. Losgelöst von den Besonderheiten der jeweiligen Rechtsordnung und den sich daraus ergebenden Abweichungen der bestehenden und hier ausgewählten ICP-Modelle, besteht jedenfalls bei den Anforderungen an die Person, welche die Gesamtverantwortung für das ICP innehat, ein grundlegender Unterschied zwischen den Modellen. Grundsätzlich kennen die verschiedenen Modelle eine dem im deutschen Recht in einer Leitungsfunktion verankerten Ausfuhrverantwortlichen vergleichbare Institution. Der Nunn-Wolfowitz Task Force Report sieht dazu einen „senior executive manager“ als „Chairman of Compliance Council“116 vor, die Wassenaar Guidelines empfehlen die Benennung eines „senior representative director“ zum sog. „Chief Export Control Officer“ (CECO)117, gegenüber dem State Department ist gemäß §  120.25 ITAR der sog. „Empowered Official“ zu benennen. Unterschiede bestehen im Hinblick auf die dieser Person immanenten Fachkenntnisse, um diese Aufgabe zu übernehmen. Nunn-Wolfowitz, die Wassenaar Guidelines und die Vorschriften des ITAR sehen vor, dass die benannte Person vertiefte Kenntnisse im Außenwirtschaftsrecht aufweist118 und aktiv in die Export-Compliance eingebunden wird119. Die oben beschriebenen Grundsätze der Bundesregierung und in deren Umsetzung auch das ­Benennungsformular und die dort gemachten Anforderungen des BAFA an die Benennung des Ausfuhrverantwortlichen, stellen an diesen keinen Sach- und Fachkundenachweis. Die Rolle des AV hingegen ist im Wesentlichen auf Überwachungs- und Organisationspflichten beschränkt und knüpft nicht an der fachlichen Eignung der herausgehobenen Stellung der Person an. Man mag argumentieren können, dass der AV sein Amt nur dann angemessen ausüben kann, wenn er um die Grundzüge des Außenwirtschaftsrechts im Zusammenhang mit Genehmigungspflichten und Verboten weiss. Allerdings sind in den Anforderungen an das ICP zahlreiche Punkte enthalten, die ein ordentlicher Geschäftsmann als selbstverständlich erachtet; die Hinweise in Bezug auf den Mindestgehalt des ICP mögen daher eher deklaratorisch sein; wenn dies jedoch so ist, dann wäre ein Hinweis auf exportkontrollrechtliche Sach116 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 11. 117 Wassenaar Best Practice 2.1.1. 118 § 120.25(a)(3) ITAR, Wassenaar Best Practice 2.1.2.c.d. 119 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 9.

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kenntnisse in der Person des AV ebenso möglich. Dadurch würde dieser zumindest eine Signalwirkung zukommen und ein von Sachkunde getragener Diskurs mit den für die Umsetzung der Exportkontrolle betrauten, nachgeordneten Mitarbeitern würde auf fachlicher Augenhöhe und damit glaubwürdig, nachvollziehbar und nachhaltig stattfinden können. Bei allen Unterschieden weisen die untersuchten ICP Modelle in ihren Grundstrukturen auch einige Gemeinsamkeiten bzw. Mindeststandards auf: Sämtliche Modelle setzen voraus, dass sich die Unternehmensführung uneingeschränkt für die Einhaltung der außenwirtschaftsrechtlichen Vorschriften ausspricht und sich zu dieser verpflichtet. Nunn und Wolfowitz verlangen ein schriftliches „commitment“ des „top managements“120, die BIS Guidelines ein „Senior Management commitment“ 121 als „tone from the top“. Das State Department spricht von einer „corporate policy“122, die best practice des Wassenaar Arrangements sehen ein „written statement by a senior representative“123 vor. Entsprechend verlangt das BAFA-ICP, eine „klare Stellungnahme der Unternehmensleitung zur Einhaltung der außenwirtschaftsrechtlichen Bestimmungen“124. Ohne ein ernsthaftes und tatsächlich gelebtes Bekenntnis der Unternehmensführung zur Compliance bleiben alle weiteren Maßnahmen fruchtlos. Daher ist es nur konsequent, in der Person des zu benennenden Ausfuhrverantwortlichen als Mitglied der Geschäftsführung oder des Vorstandes auch die zur Umsetzung und Einhaltung der Vorgaben verantwortliche Person zu erklären. Nur so kann eine stringente Um- und Durchsetzung der Compliance-Ziele verwirklicht werden. Wie beschrieben, verlangt dies mehr als nur überblickartige Kenntnisse in der Person des Ausfuhrverantwortlichen selbst. Ein gut informierter und effektiv handelnder Unterbau des Ausfuhrverantwortlichen steht zudem in seinem eigenen Interesse und wird zu seiner Lebensversicherung. Seine ressourcenschaffende Investition in diese wird somit zusätzlicher, persönlicher Anreiz sein. Da eine externe Überprüfung des Erreichens der selbstgesetzten Compliance-Ziele nur indirekt und zeitverzögert durch behördliche Aufdeckung etwaiger Verstöße erfolgt, kann die Motivation diese Ziele zu erreichen, damit aus dem Unternehmen selbst kommen. Eine solche Motivation kann zudem nur entstehen, wenn die Mitarbeiter sich ausnahmslos auf den Rückhalt der Unternehmensführung verlassen können und in ihren Compliance-Bemühungen bestärkt werden. Enthaftung Betroffener oder Sanktionsmilderung wie oben beschrieben, sollten positive Nebeneffekte sein und in sich in der Zumessungspraxis der Behörden und Gerichte widerspiegeln. Sie sind nicht Haupt- und Selbstzweck von Compliance-Programmen. In sämtlichen Modellen wird die Bedingung gesetzt, in ausreichender und angemessener Anzahl gut geschultes Exportkontrollpersonal vorzuhalten. Der Nunn-Wolfowitz Report sieht regelmäßige Fortbildung als „foundation of any successful export 120 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 8. 121 BIS, Export Compliance Guidelines S. 7. 122 State Department, Compliance Program Guidelines, S. 1. 123 Wassenaar Best Practice 1.1. 124 BAFA-ICP, S. 13.

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compliance program“125. Einen vergleichbar hohen Stellenwert messen auch die anderen Modelle der Schulung und Sensibilisierung von Mitarbeitern bei.126 Unterschiede betreffen lediglich die Häufigkeit und Art der Schulungen. Erfahrungsgemäß unterliegt das Exportkontrollrecht – allen voran im Embargorecht oder in Bezug auf die dem technischen Fortschritt folgenden Güterlisten– vergleichsweise kurzfristigen Änderungen. Diese Änderungen zu erfassen und im laufenden Prozess zu implementieren, stellt besondere Anforderungen an das Training der Mitarbeiter, ebenso wie an die Maßnahmen zur generellen Überprüfung der Funktionsfähigkeit des ICP. Daher ist Letzteres ein weiteres Kernelement aller Modelle127. Abschließend ist festzustellen, dass sich bei den Compliance-Modellen im Bereich der Exportkontrolle zwei Trends erkennen lassen. Einerseits nimmt die Zahl der verfügbaren Compliance-Modelle rasant zu, wobei dabei vermehrt auch Teillösungen angeboten werden, die bspw. nur für den grenzüberschreitenden Handel mit bestimmten Güterarten Anwendung finden128. Ein international anerkannter Standard, beispielsweise in Gestalt einer ISO-Norm fehlt. Anknüpfungspunkte, aus denen Kernelemente übernommen werden könnten gibt es bereits; so in der ISO 19600 – Compliance Management Systems oder der ISO 37001 – Anti-Korruptions-Managementsystem.129 Zum anderen erfolgt eine schleichende Kodifizierung von Compliance-Elementen. Einerseits durch die gesetzliche Verankerung einzelner Compliance-Maßnahmen (Verteidigungsgüterrichtlinie), andererseits durch faktische Anforderungen der Genehmigungsbehörden (BAFA ICP) und Innenrecht der Verwaltung (Grundsätze der Bundesregierung zur Zuverlässigkeit). Ansätze, wie in Art. 12 Abs. 2 EG-Dual-useVO bereits erkennbar, dass zur Nutzung von Verfahrenserleichterungen (dort Global­ ausfuhrgenehmigungen) ICP als Bedingungen definiert werden, sind zu begrüßen und würden sicherlich die Akzeptanz der Einführung und Aufrechterhaltung von Compliance-Maßnahmen fördern. So funktioniert es letztlich auch beim AEO und den zollrechtlichen Verfahrensvereinfachungen bei vereinfachten Verfahren. Der Verfahrensbeteiligte muss der Behörde einmal im Jahr in einem Monitoring berichten, ob und welche signifikanten Änderungen mit möglichen Auswirkungen auf die Vereinfachungen aufgetreten sind. Zugleich muss er Prozesse zum Umgang mit selbst 125 Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 18; ebenso die Wassenaar Best Practices: „A good training program is critical to having an effective compliance program” S. 23. 126 „Das Exportkontrollpersonal muss mindestens einmal im Jahr Gelegenheit bekommen, sich intern oder extern auf dem Gebiet der Exportkontrolle fortzubilden” BAFA-ICP, S. 19; “Training and continued education should be carried out for employees at all levels” Wassenaar Best Practice 6.1.; “Process to ensure education, training, and provision of ­guidance to all employees involved in exports” Compliance Program Guidelines State Department, S. 4. 127 Bezeichnet als: “Audits” Nunn-Wolfowitz Task Force report S. 31 ff., BIS Guidelines S. 25; “performance review” Wassenaar Best Practice 5.1.; “Internal Monitoring” Compliance Program Guidelines State Department S. 3.; “ICP-Systemprüfung” BAFA-ICP S. 14. 128 Etwa die Guidelines des State Department oder die Kriterien der Verteidigungsgüterrichtlinie welche jeweils nur die Anforderungen an den Handel mit Rüstungsgütern in den Blick nehmen. 129 Merz (Fn. 21), § 32 Rz. 15.

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aufgedeckten Verstößen etablieren. Damit wird das interne Kontrollniveau ebenso wie die Prozesssicherheit im Unternehmen erhöht; auf der anderen Seite kann die Kontrollintensität durch die Behörde vermindert werden, denn das Kontrollniveau insgesamt bleibt gleich ausbalanciert; es wird jedoch nur in einigen Elementen von der Behörde hin zum Wirtschafsbeteiligten verlagert. Im Unionszollkodex geht dies sogar soweit, dass gem. Art. 185 UZK eine Eigenkontrolle durch den AEO-Bewilligungsinhaber zugelassen ist.130 Sicher mag es zahlreiche und sehr gute Gründe geben, die Kontrolle für Ausfuhrgenehmigungserteilungen nicht in die Hände des Wirtschaftsbeteiligten selbst zu legen, jedoch gibt es zahlreiche Ansätze in Bezug auf die Definition privilegierter Güterund Länderkreise oder güterbezogener Wertgrenzen, die zu Vereinfachungen bei dem Genehmigungsverfahren für durch Vorlage und testierte Prüfung ihres ICP besonders zuverlässige Ausführer führen könnten. Unternehmen und Legislative wie auch die Exekutive sollten hier vertrauensschaffende Maßnahmen und Kriterien vereinbaren, die die dem Exportgeschäft innewohnenden Risiken angemessen berücksichtigen und auf Schadensprävention ausgerichtet sind. Normative Entsprechungen würden die Anwendungen erleichtern und nehmen letztlich den Gesetzes- und Verordnungsgeber in die Pflicht, hier im Interesse der Indus­trie und der Verwaltung zu agieren.

130 Artikel 185 – Eigenkontrolle: (1) Die Zollbehörden können einem Wirtschaftsbeteiligten auf Antrag bewilligen, bestimmte den Zollbehörden obliegende Zollformalitäten zu erledigen, die Höhe der zu entrichtenden Einfuhr- und Ausfuhrabgaben zu ermitteln und bestimmte Kontrollen unter zollamtlicher Überwachung durchzuführen. (2) Der in Absatz 1 genannten Antragsteller der Bewilligung ist ein zugelassener Wirtschaftsbeteiligter für zollrechtliche Vereinfachungen.

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Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung und ihre Auswirkungen auf das Außenwirtschaftsstrafrecht Inhaltsübersicht

I. Rechtsentwicklung und Bedeutung

II. Einziehung von Taterträgen nach dem Bruttoprinzip 1. Grundlagen der Einziehung 2. Präventionszweck des Bruttoprinzips 3. Die Bestimmung des Erlangten nach der bisherigen Rechtsprechung 4. Die Bestimmung des Erlangten nach der Neuregelung



5. Härteklausel 6. Erweiterte und selbständige Einziehung 7. Einziehung von Taterträgen im ­Ordnungswidrigkeitenrecht

III. Einziehung von Tatobjekten und ­Tatmitteln nach § 20 AWG IV. Fazit

I. Rechtsentwicklung und Bedeutung Embargoländer und andere Staaten mit hohem Proliferationsrisiko sind in der Regel bereit, weit über dem Marktwert liegende Preise für Rüstungsgüter und Dual-Use-Produkte zu bezahlen. Vorsätzliche Straftaten gegen das Außenwirtschaftsrecht (§§  17 und 18 AWG) sind demgemäß oft nicht zu verhindern, wenn ein Unternehmer dazu entschlossen ist, sich wegen der Aussicht auf verlockende Gewinnchancen über bestehende gesetzliche Bestimmungen hinwegzusetzen. Daher spielt die Einziehung von Taterträgen (früher: Verfall) eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung dieser Ausprägung der Wirtschaftskriminalität. Dürften Straftäter deliktisch erlangte Vermögenswerte dauerhaft behalten, würde dies einen Anreiz zur Begehung gewinnorientierter Straftaten setzen und zugleich die Reinvestition von Verbrechensgewinnen in kriminelle Unternehmungen befördern. Der Staat hat deshalb alles rechtsstaatlich Mögliche zu unternehmen, um die Nutznießung von Verbrechensgewinnen zu unterbinden1. Gerade im Außenwirtschaftsrecht ist die Einziehung von Taterträgen ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung einer wirksamen Abschöpfung deliktisch erlangter Vermögenswerte. Anders als etwa bei Delikten der Betäubungsmittelkriminalität kann die Maßregel nicht nur angeordnet, sondern – gerade bei drittbeteiligten Unternehmen – in der Regel auch wirksam vollstreckt werden kann. Dennoch stieß die Vermögensabschöpfung bei den Strafverfolgungsbehörden aufgrund der Kompliziertheit der oft mit dem Zivilrecht verwobenen Bestimmungen 1 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Grundlage der Vermögensabschöpfung BVerfG, Beschl. v. 14.1.2004 – 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1-33, Rz. 103.

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jahrzehntelang auf wenig Akzeptanz2. Um dieses Vollzugsdefizit zu beseitigen, hat der Gesetzgeber wiederholt Reformanstrengungen unternommen. Seit der Einführung des Verfalls durch das Zweite Strafrechtsreformgesetz vom 4.7.19693 mit Wirkung zum 1.1.1975 ist die strafrechtliche Vermögensabschöpfung insgesamt als ein allgemeines, für das gesamte Strafrecht geltendes Rechtsfolgeninstitut gesetzlich verankert worden. Zuvor war sie lediglich für einzelne Delikte geregelt. Die Vermögensabschöpfungsvorschriften sind in der Folge mehrfach im Rahmen des allgemeinen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts geändert worden; so durch Art. 75 EGOWiG vom 24.5.19684 sowie Art. 187 EGStGB vom 2.3.1974.5 Im Außenwirtschaftsgesetz wurden sie erstmals durch Artikel 12 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 28.10.19946 geregelt (§ 36 Abs. 3 AWG a.F.). Von Bedeutung ist insbesondere die Einführung des Bruttoprinzips beim Verfall durch das Gesetz zur Änderung des AWG, des StGB und anderer Gesetze vom 28.2.19927. Das am 1.7.2017 in Kraft getretene Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.20178 hat das Recht der Vermögensabschöpfung vollständig neu gefasst. Unter anderem wurde der Begriff „Verfall“ durch „Einziehung“ (von Taterträgen) ersetzt. Der folgende Beitrag beleuchtet Auswirkungen der Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung auf die Einziehung von Taterträgen im Außenwirtschaftsstrafrecht (§ 73 StGB) vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sowie von Tatobjekten und -mitteln nach § 20 AWG.

II. Einziehung von Taterträgen nach dem Bruttoprinzip 1. Grundlagen der Einziehung Nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung setzt die Einziehung von Taterträgen Schuld nicht voraus, es genügt eine rechtswidrige Tat (§ 73 Abs. 1 i.V.m. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Demgemäß ist die Einziehung auch bei einem unvermeidbaren Verbots­ irrtum (§ 17 StGB) anwendbar, etwa im Fall (unzutreffender) rechtlicher Beratung. Gemäß § 73 Abs. 1 StGB muss das Gericht zwingend die Einziehung der Erträge anordnen, die der Täter (Mittäter, mittelbarer Täter) oder Teilnehmer (Anstifter, Gehilfe) durch eine rechtswidrige Tat oder für sie erlangt hat. Betroffen sind also auch z. B. Angestellte und Berater des Haupttäters, Spediteure und Vermittler. Beraterhonorare, Speditionsgebühren oder Provisionen können daher in vollem Umfang abgeschöpft werden. Hat der Täter für einen anderen (nicht Tatbeteiligten) gehandelt („Vertretungsfall“) und dieser etwas erlangt, so ist auch der Dritte der Einziehungsanordnung ausgesetzt (§ 73b Abs. 1 Nr. 1 StGB). „Anderer“ kann jede natürliche oder juristische 2 Rönnau, Vermögensabschöpfung in der Praxis, 2. Aufl. 2015, Rz. 2. 3 BGBl. I 1969, S. 717. 4 BGBl. I 1968, S. 503. 5 BGBl. I 1974, S. 469. 6 BGBl. I 1994, S. 3186. 7 BGBl. I 1992, S. 372. 8 BGBl. I 2017, S. 872.

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Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung

Person sein.9 Von erheblicher praktischer Bedeutung ist dies bei Außenwirtschaftsstraftaten, die durch Firmenangehörige begangen wurden, die selbst nichts erlangt haben, während der Erlös dem Unternehmen zugeflossen ist. Die Einziehung von Taterträgen muss daher unter den Voraussetzungen des § 73b Abs. 1 Nr. 1 StGB auch gegen einen Dritten und sogar gegen eine juristische Person angeordnet werden, auch wenn der Dritte bzw. das Organ einer juristischen Person keine Straftat begangen hat10. Der Tatbeteiligte handelt für einen anderen nicht nur in den Fällen des § 14 StGB (eine Organstellung ist nicht erforderlich) und der offenen Stellvertretung, sondern auch bei faktischen Vertretungsverhältnissen sowie sonstigen Fällen, bei denen zwischen Täter und Drittem keine Rechtsbeziehungen bestehen.11 Fragen der Opferentschädigung spielen für das Außenwirtschaftsstrafrecht keine Rolle, da es hier keine individualisierbaren Geschädigten gibt. Die Anordnung der Einziehung ist neben der Festsetzung einer Geldbuße gegen das Unternehmen nicht zulässig (§ 30 Abs. 5 OWiG). Auch Nutzungen und Surrogate des Gegenstands können nach §  73 Abs.  2 und 3 StGB eingezogen werden. Der Begriff der Nutzungen entspricht demjenigen der §§ 99, 100 BGB. Sie sind insoweit erheblich, als sie tatsächlich gezogen wurden, bspw. soweit Zinsen erwirtschaftet wurden. Mittelbare Gewinne, wie etwa Spekulationsgewinne aus rechtswidrig erlangtem Vermögen, fallen dagegen nicht unter diese Regelung. Steht der Einziehungsgegenstand zur Zeit der letzten tatrichterlichen Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer nicht mehr zur Verfügung oder ist die Einziehung der Taterträge sonst, etwa wegen der Beschaffenheit der Gegenstände nicht möglich – was bei der Überweisung des Entgelts (Forderung) auf ein Firmenkonto der Fall ist – so ist nach §  73c StGB ein Geldbetrag als Wertersatz einzuziehen, der dem Wert des Gegenstandes entspricht. Schätzungen des Umfangs des Erlangten und seines Wertes sowie der Aufwendungen sind nach § 73d Abs. 2 StGB zulässig. Auch bei der Einziehung von Taterträgen kann dieser Wertersatz auch noch nachträglich nach § 76 StGB angeordnet werden. Eine Verurteilung oder auch nur Anklage des Täters oder Teilnehmers sind für die Anordnung der Einziehung nicht erforderlich. Sie kann vielmehr nach § 76a StGB auch in einem nur auf Einziehung gerichteten objektiven Verfahren nach §§ 435 ff. StPO erfolgen. Eine selbständige Anordnung kommt nach neuem Recht bei der Strafverfolgung entgegenstehenden tatsächlichen und rechtlichen Gründen (z. B. dauernde Verhandlungsunfähigkeit, Strafklageverbrauch) in Betracht (§ 76a Abs. 1 StGB). Die Strafverfolgungsverjährung hindert eine selbständige Anordnung ebenfalls nicht (§ 76a Abs. 2 StGB).12 Auch bei einem Absehen von Strafe (§ 60 StGB) oder einer Einstellung des Verfahrens aus Ermessensgründen durch die Staatsanwaltschaft oder 9 Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 73b Rz. 4 m.w.N. 10 Vgl. Schmidt in Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 12. Aufl. 2006, § 73 Rz. 54. 11 Fischer (Fn. 9), § 73b StGB Rz. 5 m.w.N. 12 BT-Drs. 18/11640, S. 82.

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das Gericht (§§ 153 ff. StPO) kann oder muss die Einziehung selbstständig angeordnet werden (§ 76a Abs. 3 StGB). Dagegen kann das objektive Verfahren nicht nachgeholt werden, wenn die Verfalls- oder Einziehungsanordnung im Hauptverfahren versehentlich unterblieben ist. 2. Präventionszweck des Bruttoprinzips Mit der Novellierung des Jahres 1992 (siehe oben I.) hat der Gesetzgeber den Begriff „Vermögensvorteil“ in § 73 Absatz 1 Satz 1 StGB durch das Wort „etwas“ ersetzt und legte damit in Abkehr von dem bis dahin geltenden „Nettoprinzip“ die Vermögensabschöpfung nach dem „Bruttoprinzip“ fest13. Danach sind die aus der Tat erlangten Vermögenswerte in ihrer Gesamtheit abzuschöpfen. Anders als nach dem bis dahin geltenden „Nettoprinzip“ sollten Aufwendungen für die Tat (z. B. die Transportkosten des Drogenhändlers) nicht mehr in Abzug gebracht werden können14. Eine verbreitete Ansicht in der strafrechtlichen Literatur misst der Vermögensabschöpfung seither strafähnlichen Charakter bei15. Der Bundesgerichtshof hat hingegen immer wieder den präventiven Zweck des Instruments betont16. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Auffassung bestätigt. Danach ist die Vermögensabschöpfung nicht mit einem Strafübel verbunden; sie unterliegt nicht dem Schuldgrundsatz. Die Einführung des „Bruttoprinzips“ hat der Vermögensabschöpfung den quasikondiktionellen (bereicherungsrechtlichen) Charakter nicht genommen17. Der Bundesgerichtshof hat die Geltung des Bruttoprinzips in ständiger Rechtsprechung auch bei Außenwirtschaftsstraftaten betont18. Grundlegend hierzu war das Urteil vom 21.8.2002 – 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369-378: Das Landgericht Mannheim hatte zwei Angestellte einer Papierfabrik wegen mehr­facher Verstöße gegen das Serbien-Embargo der VN in der Zeit von Juli 1992 bis November 1995 zu Bewährungsstrafen verurteilt. Die Papierfabrik, die technische Spezialpapiere herstellte, hatte Tabakpapier an eine Firma in Serbien geliefert. Der Hauptangeklagte war Leiter des Betriebsbereichs „Tabakpapiere“; der Mitangeklagte war Gesamtverkaufsleiter und Vorgesetzter des Hauptangeklagten. Schon vor dem Embargo hatte die Papierfabrik Tabakpapier an die serbische Firma geliefert. Diese Geschäftsbeziehung war im Gegensatz zu anderen Absatzmärkten relativ profitabel (die Preise lagen 30 bis 40 % über den sonstigen Durchschnittspreisen) und für das betriebswirtschaftliche Gesamtergebnis der Abteilung „Tabakpapiere“ von großer Be13 BT-Drs. 12/1134, S. 12. 14 BT-Drs. 12/1134, S. 12. 15 Eser in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, Vorbemerkung zu §§ 73 ff. Rz. 19; Fischer (Fn. 9), § 73 StGB Rz. 5 m. w. N. 16 BGH, Urt. v. 29.6.2010 – 1 StR 245/09, NStZ 2011, 83-87, Rz. 43 m.w.N.; BGH, NStZ 1995, 491; NJW 1998, 1723 (1728); NStZ 2001, 312 m.w.N.; ebenso Schmidt in LK (Fn. 10), § 73 StGB Rz. 7 ff. 17 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2004 – 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1-33, Rz. 78; Beschl. v. 3.9.1999 – 2 BvR 1637/99, juris. 18 BGH, Urt. v. 21.8.2002 – 1 StR 115/02, wistra 2002, 422 ff.; Beschl. v. 18.2.2004 – 1 StR 296/03, wistra 2004, 227; Urt. v. 14.9.2004 – 1 StR 202/04, wistra 2004, 465; Urt. v. 19.1.2012 – 3 StR 343/11, NJW 2012, 1159; Wagner, NStZ 2012, 381.

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Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung deutung. Die Angeklagten befürchteten infolge des Embargos einen erheblichen Umsatz­ verlust, eine unzureichende Auslastung der Maschinen und Kurzarbeit. Sie entschlossen sich deshalb, das Embargo durch Einschaltung anderer Firmen zu umgehen. Die darüber unterrichteten Geschäftsführer der Papierfabrik billigten diese Umgehungsgeschäfte ausdrücklich. Gegen die Papierfabrik wurde nach § 73 Abs. 3 StGB a. F. den Verfall von Wertersatz in Höhe von ca. 7,9 Millionen DM angeordnet.

Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung zum Anlass genommen, sich eingehend mit dem Normzweck des Verfalls auseinanderzusetzen. Danach soll das Bruttoprinzip die Anordnung des Verfalls nicht nur im Hinblick auf seine Berechnung praktikabler machen, die Abschöpfung des über den Nettogewinn hinaus Erlangten verfolge vielmehr primär einen Präventionszweck. Die dadurch angestrebte Folge, dass auch die Aufwendungen des Täters nutzlos waren, soll zur Verhinderung gewinnorientierter Straftaten beitragen. Müsste der Betroffene für den Fall der Entdeckung hingegen lediglich die Abschöpfung des Tatgewinns befürchten, so wäre die Tatbegehung unter finanziellen Gesichtspunkten weitgehend risikolos. Dieser Präventionszweck gilt auch für die Anordnung des Verfalls gegen ein drittbegünstigtes Unternehmen, insbesondere dann, wenn dieses Nutznießer der rechtswidrigen Tat ist. Die den Dritten treffende Folge, dass auch seine Aufwendungen nutzlos waren, kann und soll bewirken, dass der Dritte – namentlich ein hierarchisch organisiertes Unternehmen – Kontrollmechanismen zur Verhinderung solcher Straftaten errichtet und auf deren Einhaltung achtet. Ein anderenfalls risikolos zu erzielender Gewinn müsste geradezu als Tatanreiz für die Straftat wirken; das würde dem mit dem Bruttoprinzip verfolgten Präventionszweck zuwiderlaufen. Hinzu kommt gerade mit Blick auf die Natur der hier in Rede stehenden rechtswidrigen Tat (Verbrechen nach dem Außenwirtschaftsgesetz, Embargoverstoß), an die der Verfall anknüpft, dass sich die Maßnahme als Teil eines Systems erweist, welches die Wirksamkeit der Handelsbeschränkungen sicherstellen und diese durchsetzen soll19. 3. Die Bestimmung des Erlangten nach der bisherigen Rechtsprechung Im materiellen Recht hat die Rechtsprechung der Strafsenate Bundesgerichtshofs zur Bestimmung des erlangten Etwas im Sinne des § 73 Absatz 1 Satz 1 StGB die tatrichterliche Praxis vor erhebliche Probleme gestellt. Der 1. Strafsenat, auf Grundlage der früheren Rechtslage, versteht das Bruttoprinzip umfassend. Danach sind alle Vermögenswerte, die einem Tatbeteiligten oder Drittbegünstigten unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands in irgendeiner Phase des Tatablaufs zugeflossen sind, in ihrer Gesamtheit abzuschöpfen. Gegenleistungen oder sonstige Aufwendungen dürfen nicht in Abzug gebracht werden. Notwendige Korrekturen von Unbilligkeiten sind nicht über die Einschränkung des Bruttoprinzips, sondern über die Härtefallklausel des § 73c Abs. 1 S. 1 StGB a.F. vorzunehmen20.

19 Vgl. auch BVerfG - Kammer, NJW 1990, 1229. 20 BGH, Urt. v. 29.6.2010 – 1 StR 245/09, NStZ 2011, 83-87, Rz. 52; Urt. v. 21.8.2002 – 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369-378, Rz. 33.

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Nach der Rechtsprechung des seit 2008 für Straftaten nach dem AWG ausschließlich zuständigen 3. Strafsenats21, der insoweit der Rechtsprechung des 5. Strafsenats22 folgt, unterliegt dagegen nicht alles, was der Tatbeteiligte oder Dritte in irgendeinem beliebigen Zusammenhang mit der Verwirklichung der rechtswidrigen Tat erlangt hat, der Abschöpfung, sondern nur derjenige Vermögenszuwachs, den er nach dem Schutzzweck der Strafnorm gerade – gleichsam spiegelbildlich – „aus der Tat erlangt“ hat (§ 73 StGB a.F.). Entscheidend ist dabei, welchen geschäftlichen Vorgang die Vorschrift nach ihrem Zweck verhindern will; nur der aus diesem Vorgang gezogene Vorteil ist dem Täter im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 1 StGB erwachsen. Wegweisend für die Praxis des Außenwirtschaftsstrafrechts war dabei das Urteil des 3. Strafsenats vom 19.1.2012 – 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79-87: Die Angeklagte war alleinige Geschäftsführerin und Gesellschafterin des nebenbeteiligten Unternehmens, das sich u.a. mit dem Im- und Export von Jagd- und Sportwaffen sowie Mu­nition befasste. Zwischen August 2007 und Mai 2008 führte das Unternehmen in 47 Fällen Jagd- und Sportselbstladeflinten in Drittländer aus; die Verkaufserlöse betrugen insgesamt ca. 1,1 Millionen Euro. Die Angeklagte holte in keinem Fall eine Ausfuhrgenehmigung des BAFA ein. Hätte sie die Waffen dort zur Prüfung vorgelegt, hätte sie die Auskunft erhalten, dass die Ausfuhr genehmigungspflichtig sei. In den meisten Fällen hätte das BAFA allerdings die Ausfuhrgenehmigung erteilt. Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als fahrlässigen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz in 47 Fällen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 7 AWG a.F.) gewertet, da sie ohne Genehmigung in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste aufgeführte halbautomatische Flinten ausgeführt und dabei gegen ihr obliegende Sorgfaltspflichten verstoßen habe. Gegen das nebenbeteiligte Unternehmen wurde der Verfall von Wertersatz in Höhe von insgesamt 200.000 Euro angeordnet, da die Nebenbeteiligte aus den von der Angeklagten begangenen Taten als Drittbegünstigte den Verkaufserlös erlangt hatte.

Die Frage, nach welchen Kriterien die Bestimmung des Erlangten im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB bei Straftaten vorzunehmen ist, die wie hier wesentlich dadurch geprägt werden, dass ein formeller Verstoß gegen einen Genehmigungsvorbehalt sanktioniert wird, die erforderliche Genehmigung indessen bei entsprechender Antragstellung hätte erteilt werden müssen, war in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bis dahin nicht entschieden. Nach Auffassung des 3. Strafsenats hat das Landgericht den Umfang des Erlangten rechtsfehlerhaft zu hoch bestimmt. Erlangt gewesen sei ausschließlich der wirtschaftliche Wert der Aufwendungen, welche die Nebenbeteiligte jeweils dadurch ersparte, dass sie die erforderliche Genehmigung des BAFA nicht einholte. Der dem Verfall unterliegende Vorteil sei danach zu bestimmen, was letztlich strafbewehrt ist. Es werden nur solche Vorteile erfasst, die der Tatteilnehmer oder Dritte nach dem Schutzzweck der Strafnorm nicht erlangen und behalten dürfen soll, weil sie von der Rechtsordnung als Ergebnis einer rechtswidrigen Vermögensverschie21 BGH, Urt. v. 19.1.2012 – 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79-87, Rz. 13-16; Urt. v. 27.11.2013 – 3 StR 5/13, BGHSt 59, 80-94, Rz. 29. 22 BGH, Urt. v. 21.3.2002 – 5 StR 138/01, BGHSt 47, 260-270, Rz. 39; Urt. v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05, BGHSt 50, 299-318, Rz. 49-41; Urt. v. 27.1.2010 – 5 StR 224/09, NJW 2010, 882884, Rz. 30.

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bung bewertet werden. Bei der Bestimmung dessen, was aus der Tat erlangt wurde, sei in den Blick zu nehmen, welchen geschäftlichen Vorgang die Vorschrift nach ihrem Zweck verhindern will; nur der aus diesem Vorgang gezogene Vorteil ist dem Täter im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB erwachsen. Dem stehe das Bruttoprinzip nicht entgegen. Dieses besagt lediglich, dass der erlangte wirtschaftliche Wert „brutto“, also ohne gewinnmindernde Abzüge anzusetzen ist. Im vorliegenden Fall geht es indessen nicht um die Anrechnung gewinnmindernder Abzüge, sondern um die Bestimmung des unmittelbar aus der Tat Erlangten unter Beachtung insbesondere von Wortlaut sowie Sinn und Zweck des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. Im Ergebnis wirkte sich die Rechtsprechung des 3. Strafsenates wie folgt aus: Soweit das Geschäft bzw. seine Abwicklung an sich verboten war, unterlag grundsätzlich der gesamte hieraus erlangte Erlös der Vermögensabschöpfung. War dagegen strafrechtlich nur die Art und Weise bemakelt, in der das Geschäft ausgeführt wurde, so war nur der hierauf entfallende Sondervorteil erlangt23. Dies sollte auch dann gelten, wenn der Täter einen Ausfuhrgenehmigungsvorbehalt in strafbarer Weise umgeht. Hat er hierdurch erreicht, dass er eine nicht genehmigungsfähige Ausfuhr durchführen sowie daraus entsprechende Vermögenszuwächse erzielen kann, so waren diese in vollem Umfang erlangt im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 1 StGB a.F. und unterlagen daher grundsätzlich uneingeschränkt der Vermögensabschöpfung. War die Ausfuhr dagegen genehmigungsfähig, sollte durch die Strafbewehrung allein die Umgehung der Genehmigungsbehörde sanktioniert werden. Erlangt waren somit nur die durch das Unterbleiben des Genehmigungsverfahrens ersparten Aufwendungen. 4. Die Bestimmung des Erlangten nach der Neuregelung Nach der Neuregelung erfolgt die Bestimmung des Erlangten nunmehr in zwei Stufen: Im ersten Schritt ist das Erlangte nach § 73 Abs. 1 StGB n. F. rein gegenständlich zu bestimmen. Erlangt sind danach alle Vermögenswerte in ihrer Gesamtheit, die einem Tatbeteiligten oder Drittbegünstigten aus der Verwirklichung des Tatbestands in irgendeiner Phase des Tatablaufs zugeflossen sind. Auf eine „unmittelbare“ Kausal­ beziehung zwischen Tat und Bereicherung im Sinne der Rechtsprechung des 3. und 5. Strafsenats des BGH kommt es dabei nicht mehr an24. Die Begründung25 folgert dies aus dem geänderten Wortlaut des § 73 Abs. 1 StGB n.F., in dem die Formulierung „aus der Tat“ durch die Formulierung „durch die Tat“ ersetzt worden ist. Die erforderliche Kausalbeziehung zwischen der Tat und dem rein gegenständlich zu bestimmenden Erlangten richte sich danach allein nach den Wertungen des Bereicherungsrechts. Der neu formulierte Wortlaut des § 73 Abs. 1 StGB entspricht zudem der Terminologie der Richtlinie 2014/42/EU, wonach nicht nur „direkt“, sondern auch „indirekt“ durch eine Straftat erlangte wirtschaftliche Vorteile einzuziehen sind. Bildlich gespro23 BGH, Beschl. v. 27.1.2010 – 5 StR 224/09, NJW 2010, 882, 884 m.w.N. 24 § 73 Abs. 1 StGB entspricht mit dieser Erweiterung den Vorgaben von Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42/EU, wonach nicht nur „direkt“, sondern auch „indirekt“ durch eine Straftat erlangte wirtschaftliche Vorteile einzuziehen sind. 25 BT-Drs. 18/9525, S. 70.

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chen hat der Tatbeteiligte „durch die Tat“ erlangt, was er infolge der Straftat mehr in seiner Tasche hat (wobei Aufwendungen zunächst außer Betracht bleiben)26. Daraus folgt für den vom 3. Strafsenat entschiedenen Fall der genehmigungsfähigen Ausfuhr (siehe oben 3.), dass der Täter nach neuem Recht nicht nur die durch das Unterbleiben des Genehmigungsverfahrens ersparten Aufwendungen, sondern den vollen Verkaufserlös „durch die Tat“ erlangt hat. Die Prüfung der Abzugsmöglichkeit von Aufwendungen erfolgt auf der zweiten Stufe. In einem zweiten Schritt werden Gegenleistungen oder sonstige Aufwendungen gemäß § 73d Abs. 1 S. 1 StGB abgezogen. „Aufwendungen“ umfasst alles, was der Tatbeteiligte an Vermögenswerten zu irgendeinem Zeitpunkt vor Tatbegehung und in sachlichem Zusammenhang mit der Tatbegehung einsetzt und was nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Straftat in ihrer konkreten Form entfiele27. Keine abzugsfähigen Aufwendungen sind demnach die das inkriminierte Geschäft betreffenden Steuern28. Eine unvertretbare Mehrfachbelastung durch eine neben die Einziehung tretende Ertragsbesteuerung (Körperschaftsteuer, Einkommensteuer) erscheint aber ausgeschlossen, da sich der nach dem Bruttoprinzip zu ermittelnde Einziehungsbetrag in voller Höhe gewinnmindernd auswirkt29. Dem Abzugsgebot des § 73d Abs. 1 S. 1 StGB steht wiederum das Verbot des Abzugs von Aufwendungen gegenüber, die der Täter oder Teilnehmer für die Begehung einer Straftat oder für ihre Vorbereitung aufgewendet oder eingesetzt hat (§ 73d Abs. 1 S. 2 1. HS StGB). Zu den nicht abzugsfähigen Aufwendungen zählen somit sowohl die Herstellungskosten der speziell für die Ausfuhr hergestellten Ware als auch die Aufwendung für die Entnahme von Lagerbeständen. Die Formulierung „für“ beinhaltet eine subjektive Komponente, die den Ausschluss der Abzugsmöglichkeit auf zweckgerichtet zur Begehung der Straftat eingesetzte Aufwendungen begrenzt. Teilweise wird daraus der Schluss gezogen, dass bei lediglich fahrlässig begangenen Straftaten ein Abzugsverbot nicht in Betracht kommt30. Für fahrlässige AWG-Verstöße spielt dies keine Rolle, da diese nur als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden (§  19 AWG), so dass nicht die §§ 73 ff. StGB sondern § 17 Abs. 4 OWiG einschlägig ist. Allerdings stellt sich diese Frage bei leichtfertigen Waffenembargoverstößen nach § 17 Abs. 5 AWG. Insoweit lässt sich aber aus dem Wortlaut keine Beschränkung des Abzugsverbotes auf vorsätzlich begangene Haupttaten herleiten, denn die Formulierung „für“ bezieht sich nur auf das Verhältnis zwischen Aufwendung und Tat. Daher kann es auch zweckgerichtete Aufwendungen geben, die in einen leichtfertigen Ausfuhrverstoß münden.

26 Reitemeier/Koujouie, Das neue Recht der Vermögensabschöpfung – Ein Leitfaden für die Praxis (Generalstaatsanwaltschaft Celle), 2017, S. 6. 27 Reitemeier/Koujouie (Fn. 26), S. 8. 28 Für einen Abzug: BGH, Beschl. v. 18.2.2004 – 1 StR 296/03, wistra 2004, 227, zum alten Recht, soweit die Steuern bestandskräftig festgesetzt und bezahlt worden sind. 29 Büttner, Ermittlung illegaler Vermögensvorteile, 2005, S. 132 ff., 157 ff. 30 Reitemeier/Koujouie (Fn. 26), S. 8.

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Die Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung

Das Abzugsverbot wiederum gilt grundsätzlich nicht, soweit die Aufwendung in der Erfüllung einer (rechtswirksamen) schuldrechtlichen Verbindlichkeit gegenüber einem Verletzten bestand (§ 73d Abs. 1 S. 2 2. HS StGB). Da es bei Straftaten zum Nachteil der Allgemeinheit, zu denen Außenwirtschaftsverstöße zählen, keinen schützenswerten Verletzten gibt, kommt diese eng auszulegende Ausnahmeregelung bei Exportkontrollverstößen nicht zum Tragen. Daraus folgt, dass es auf die vom 3. Strafsenat vorgenommene Differenzierung zwischen verbotenen, nicht genehmigungsfähigen und genehmigungsfähigen Geschäften nicht mehr ankommt: obwohl bei genehmigungsfähigen Geschäften Aufwendungen möglicherweise in Erfüllung einer rechtswirksamen schuldrechtlichen Verbindlichkeit erbracht wurden (z.B. Waren wurden für einen Exportauftrag hergestellt und geliefert), erfolgte dies nicht gegenüber „einem Verletzten“, so dass es beim Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 S. 2 1. HS StGB bleibt. Dieses Ergebnis ist im Hinblick auf den Präventionszweck des Brutto­ prinzips, das bewirken soll, dass wirksame Kontrollmechanismen zur Verhinderung von Straftaten errichtet werden, nicht unvertretbar. 5. Härteklausel Soweit der Verfall den Betroffenen übermäßig belasten würde (Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) sah die Härteklausel des § 73c Abs. 1 S. 2 StGB a.F. eine hinreichend bestimmte Begrenzung vor. Nach dessen Absatz 1 Satz 1 durfte der Verfall nicht angeordnet werden, soweit er für den Betroffenen eine unbillige Härte gewesen wäre31. Zudem konnte die Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 insbesondere dann unterbleiben, wenn der Betroffene entreichert war. Waren beim Verfall gegen den Drittbegünstigten der Dritte bzw. die Organe einer juristischen Person gutgläubig, so war in der Regel zu prüfen, ob eine unbillige Härte nach § 73c StGB vorlag32. Während diese Grundsätze für das drittbeteiligte Unternehmen fortgelten (§  73e Abs. 2 StGB), sieht die Neuregelung für den Täter selbst eine § 73c Abs. 1 S. 2 StGB a.F. entsprechende Härteklausel im materiellen Recht nicht mehr vor. Der Gesetzgeber hat diese Problematik in das Vollstreckungsverfahren verlagert. Gemäß §  459g Abs. 5 StPO unterbleibt die Vollstreckung von Geldzahlungen als Nebenfolge, soweit der Wert des Erlangten nicht mehr vorhanden oder die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre. 6. Erweiterte und selbständige Einziehung Die erweiterte Einziehung von Taterträgen ist neu geregelt und wurde auf alle Straftatbestände erstreckt (§ 73a StGB). Der früher in § 20 Abs. 3 AWG a.F. explizit normierte Verweis auf § 73a StGB (§ 73d StGB a.F.) ist nicht mehr erforderlich. Hintergrund sind europarechtliche Vorgaben, für bestimmte weitere Straftaten eine erweiterte Einziehung zu normieren. Die Anknüpfungstaten müssen daher auch 31 Vgl. BGH, NStZ 1995, 495; NStZ-RR 2000, 365; wistra 2001, 389; BGHR StGB § 73c Härte 6; BGH, Urt. v. 5.12.2001 – 2 StR 410/01, juris. 32 Vgl. Fischer (Fn. 9), § 73e StGB Rz. 5 ff.; Eser in Schönke/Schröder (Fn. 15), § 73 StGB Rz. 37a.

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nicht mehr gewerbs- und/oder bandenmäßig begangen worden sein. Die Erweiterung der Einziehungsmöglichkeit besteht in der Einbeziehung von Gegenständen, die nicht, oder zumindest nicht nachweisbar, für oder aus der Tat erlangt worden sind, die Gegenstand des konkreten Strafverfahrens ist. Es genügt vielmehr, dass die Gegenstände nach den Umständen von irgendwelchen anderen rechtswidrigen Taten herrühren (Herkunftstat). Die in der Literatur umstrittene33 Verfassungsmäßigkeit der erweiterten Verfallsvorschrift wurde durch das BVerfG bestätigt.34 Das Gericht verlangt aber wie auch der BGH35 die uneingeschränkte richterliche Überzeugungsbildung darüber, dass die Gegenstände aus rechtswidrigen Taten stammen, ohne dass diese aber im Einzelnen festgestellt werden müssten. Eine bereits ergangene Anordnung über die erweiterte Einziehung ist auch künftig für die darauf folgende Einziehungsanordnung zu berücksichtigen (§ 73a Abs. 2 StGB). Ebenfalls neu ist die Regelung zur selbständigen Einziehung (sog. „non-conviction-based confiscation“), die eine Einziehung von Gegenständen auch dann ermöglicht, wenn keine rechtswidrige Tat im Einzelnen festgestellt werden kann, das Gericht aber dennoch davon überzeugt ist, dass der Gegenstand aus einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Tat nach §§ 17 oder 18 AWG herrührt (§ 76a Abs. 4 S. 1 und S. 2 Nr. 5 StGB). Flankiert wird § 76a Abs. 4 StGB von der Beweiswürdigungsregelung des § 437 StPO. Danach kann das Gericht – unbeschadet des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung – bei der Entscheidung über die selbständige Einziehung seine Überzeugung davon, dass der Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, insbesondere auf ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Gegenstandes und den rechtmäßigen Einkünften des Betroffenen stützen und darüber hinaus kann es bei seiner Entscheidung insbesondere auch das Ergebnis der Ermittlungen zu der Tat, die Anlass für das Verfahren war, die Umstände, unter denen der Gegenstand aufgefunden und sichergestellt worden ist, sowie die sonstigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen berücksichtigen. Da der Gesetzgeber sowohl die selbständige Einziehung nach § 76a Abs. 4 StGB als auch die erweiterte Einziehung von Taterträgen nach § 73a StGB als eigenständige Einziehungsinstrumente qualifiziert, wurden hierfür eigenständige Regeln zur Strafverfolgungsverjährung eingeführt (§  76b StGB). Verjährungsbeginn soll dabei die Beendigung der Erwerbstat sein. Die Verjährungsfrist beträgt grundsätzlich 30 Jahre. 7. Einziehung von Taterträgen im Ordnungswidrigkeitenrecht Die Gewinnabschöpfung im Ordnungswidrigkeitenrecht hat durch die Neuregelung des AWG 2013 an Bedeutung gewonnen, da alle fahrlässigen Verstöße gegen §§ 17 und 18 AWG seither als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden (§ 19 Abs. 1 AWG). Anstelle einer Einziehungsregelung, die § 73 StGB entspricht, kennt das Ordnungswidrigkeitenrecht die als Sollvorschrift ausgestaltete Gewinnabschöpfungsregel des 33 Vgl. hierzu nur Eser (Fn. 15), § 73d StGB Rz. 2 m.w.N. 34 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2004 – 2 BvR 564/95, NJW 2004, 2073. 35 BGH, Beschl. v. 22.11.1994 – 4 StR 516/94, NJW 1995, 470 = wistra 1995, 101.

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§ 17 Abs. 4 OWiG. Nach h.M.36 gilt hier das Nettoprinzip, sodass eine – mit entsprechenden Beweisschwierigkeiten verbundene – Saldierung der Taterlöse des Täters mit seinen Aufwendungen erforderlich ist. Immerhin ist es aber möglich, zur Gewinnabschöpfung, die auf diesem Weg im Rahmen der Bußgeldbemessung erfolgt, die gesetzlich jeweils festgelegten Höchstgrenzen für die Geldbuße zu überschreiten. Im Übrigen bietet die Einziehungsvorschrift des § 29a Abs. 1 OWiG die Möglichkeit der Abschöpfung des für eine mit Geldbuße bedrohte Handlung oder aus ihr Erlangten nach dem Bruttoprinzip in Form eines Geldbetrags, der dem Wert des Erlangten entspricht. Voraussetzung ist allerdings, dass gegen den Täter wegen der Handlung nicht auch eine Geldbuße festgesetzt wird. Auf den Grund für die Nichtfestsetzung kommt es nicht an; auch muss die Tat nicht schuldhaft oder auch nur rechtswidrig begangen worden sein. Von besonderer Bedeutung gerade für die Ordnungswidrigkeiten im Außenwirtschaftsrecht, die oft in einem Unterlassen bestehen, ist die Tatsache, dass auch ersparte Aufwendungen zum Erlangten gehören, deren Gegenwert demnach für verfallen erklärt werden kann. Dies hat etwa für Fälle des Organisationsverschuldens durch Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG besondere Bedeutung. Hat der Täter für einen Dritten gehandelt und dieser dadurch etwas erlangt, so kann nach § 29a Abs. 2 OWiG auch gegen ihn der Verfall eines Geldbetrages angeordnet werden. Die Regelung gleicht der strafrechtlichen Abschöpfungsmöglichkeit bei Personenvereinigungen nach § 73b Abs. 1 Nr. 1 StGB.

III. Einziehung von Tatobjekten und Tatmitteln nach § 20 AWG Die Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.2017 hatte auch die Anpassung des § 20 AWG zur Folge. § 20 Abs. 1 Nr. 1 AWG ist eine „besondere Vorschrift“ im Sinne von § 74 Abs. 2 StGB, die die Einziehung von Gegenständen ermöglicht, auf die sich die Straftat bezieht (Tatobjekte, § 74 Abs. 2 StGB), die also den Gegenstand der strafbaren Außenwirtschaftshandlungen oder -rechtsgeschäfte bilden, ohne dass sie als Mittel zur Verwirklichung des Tatplans eingesetzt werden. Damit entfällt die sonst nach §  74 Abs.  1 StGB zu prüfende Abgrenzungsfrage, ob die Gegenstände durch die Tat hervorgebracht wurden (Tatprodukte), weshalb die Einziehung in dieser erweiterten Form eine besondere Bedeutung für das Außenwirtschaftsstrafrecht hat. Sie ermöglicht es nämlich, dem Täter oder Teilnehmer auch das illegal Ausgeführte, also die Ware, Unterlagen, Software, das entgegen einem Verbot im Kapital- und Zahlungsverkehr transferierte Geld usw. zu entziehen. Der weite Begriff des Tatobjektes umfasst allerdings nicht auch das für ein verbotenes oder ungenehmigtes Außenwirtschaftsgeschäft vom Täter erlangte Entgelt oder den Anspruch hierauf. Die Gegenleistung ist zwar das wirtschaftliche Motiv des Täters für den Außenwirtschaftsverstoß, aber die Tathandlung bezieht 36 Sackreuther in BeckOK, OWiG, 15. Ed. 2017, § 17 Rz. 120 m. w. N.

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sich nicht unmittelbar darauf. Insoweit kommt die Einziehung von Taterträgen nach §§ 73 ff. StGB zum Tragen. In Bezug auf Tatmittel (instrumenta sceleris), die zur Begehung oder Vorbereitung der Tat gebraucht wurden oder bestimmt gewesen sind, entspricht § 20 Abs. 1 Nr. 2 AWG der allgemeinen Einziehungsmöglichkeit nach § 74 Abs. 1 StGB. Die Gegenstände müssen dem Täter oder Tatbeteiligten gehören. Bei einem Exportverstoß können daher als Tatmittel die verwendeten Transportmittel, aber auch Bankguthaben oder Bargeldbeträge eingezogen werden, die zur Finanzierung eines Außenwirtschaftsverstoßes bestimmt gewesen sind.37 Nicht einziehungsfähig sind dagegen Gegenstände, die lediglich im Zusammenhang mit der Tat stehen38, wie etwa Produktionsmaschinen. Diese dienen der Herstellung eines Tatobjektes und sind regelmäßig nicht Mittel zur Vorbereitung einer (illegalen) Ausfuhr. Etwas anderes gilt, wenn ein Unternehmen ausschließlich oder auch nur überwiegend illegale Außenhandelsgeschäfte tätigt. Dann können als Tatmittel sogar Betriebsmittel und Büroeinrichtungen eingezogen werden, was faktisch zu einer Betriebsschließung führen würde. In Bezug auf Ordnungswidrigkeiten enthält § 20 Abs. 1 AWG eine originäre Anordnungsbefugnis für die Einziehung von Tatmitteln und -objekten. Daher gilt die Einziehungsmöglichkeit auch für fahrlässige Verstöße gegen §§ 17 und 18 AWG (§ 19 Abs. 1 AWG). Der Wortlaut der Legaldefinitionen der Tatmittel in § 74 Abs. 1 StGB steht dem nicht entgegen, da § 20 Abs. 1 Nr. 2 AWG eine eigene, speziellere und nicht auf vorsätzliche Taten beschränkte Begriffsbestimmung vorsieht. Tatprodukte39, die durch eine vorsätzliche Tat hervorgebracht wurden, unterfallen dagegen nur der allgemeinen Einziehungsmöglichkeit der §§ 74 ff. StGB.

IV. Fazit Ein Teilbereich der Neuregelung, nämlich die Konturierung des Brutto-Prinzips und die Abschaffung der Härteklausel bei der Einziehung von Taterträgen des Täters, hat Auswirkungen auf das Außenwirtschaftsstrafrecht und kann zu einer Vereinfachung des erstinstanzlichen Strafverfahrens – allerdings zu Lasten des Vollstreckungsverfahrens – führen. Bei genehmigungsfähigen Ausfuhren dürfte die Neuregelung eine Verschärfung gegenüber der durch die Rechtsprechung geprägten alten Rechtslage mit sich bringen. Ob der erweiterten und der selbständigen Einziehung in der Zukunft eine größere Rolle in der strafrechtlichen Praxis zukommen wird, kann bezweifelt werden. Von anderen Kernpunkten der Reform, wie etwa die Opferentschädigung durch Streichung von § 73 Abs. 1 S. 2 StGB und damit zusammenhängend auch das in das Vollstreckungsverfahren eingebettete Auskehrungsverfahren, bleiben Exportkontrollverstöße dagegen unberührt. 37 Schmidt, Gewinnabschöpfung im Straf- und Bußgeldverfahren, 2006, S. 54 Rz. 155, unter Hinweis auf BGHR, StGB, § 73 Erlangtes 3. 38 Fischer (Fn. 9), § 74 StGB Rz. 13. 39 Legaldefinition in § 74 Abs. 1 StGB.

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Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers Inhaltsübersicht

c) Bewertung der Forschungsgemeinschaften d) Urteil der „Rechtbank Noord-­ Holland“ e) Lösungsansatz Technologie-Reifegrad (Technology Readiness Level)

I. Derzeitige Erfassung der Technologie im Außenwirtschaftsrecht 1. Technologie 2. Technische Unterlagen 3. Grundsätze

II. Allgemein zugängliche Technologie und Grundlagenforschung 1. „Allgemein zugänglich“ 2. Grundlagenforschung a) Rechtliche Erfassung b) Ansatz der OECD

III. Bereitstellen von Technologie IV. Cloud Computing

V. Bewertung des Technologietransfers nach derzeitigen ­US-­Regelungen

VI. Fazit

Die Diskussionen über das Thema Technologietransfer sind geprägt durch die thematische Komplexität, den fortschreitenden technologischen Fortschritt bzgl. der Arten und Möglichkeiten des Transfers und die Unsicherheit über rechtliche Grenzen und Auslegungen. Schon im Rahmen des Überprüfungsprozesses der europäischen Ausfuhrkontrollpolitik sah die EU-Kommission in ihrer Mitteilung vom 24. April 20142 einen Schwerpunkt in der Entwicklung eines technologischen Reaktionsmechanismus insbesondere im Hinblick auf die Kontrolle des „immateriellen Technologietransfers“. Die EU wollte damit auf die Entwicklung der zunehmenden „elektronischen Ausfuhren“ anstelle der herkömmlichen Beförderung angemessen reagieren. Im Zeitalter der Digitalisierung könnten Informationsflüsse, die sensible Technologie enthalten, zur Herstellung einer unbegrenzten Menge von Gütern genutzt werden, die wiederum selbst der Exportkontrolle unterlägen bzw. für einen sensiblen Zweck verwendet werden können. Die EU-Kommission, Generaldirektion Handel, formuliert bildlich: „In the future, exports will be transmitted, not transported“ und „observed that cloud computing is, from a trade control perspective, one of many examples of how the notion

1 Die nachfolgenden Überlegungen spiegeln nur die private Bewertung des Autors wider. Es ist keine rechtsverbindliche Bewertung des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkon­ trolle. 2 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Die Überprüfung der Ausfuhrkontrollpolitik: in einer Welt des Wandels Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten, COM(2014) 244 final.

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of ’export‘ is evolving and forcing us to constantly re-think our approach“.3 Sie er­ kannte die zunehmende Bedeutung des immateriellen Technologietransfers, z. B. unter Nutzung des sog. Cloud Computing4 in einer global vernetzten Welt, und sieht darin auch eine große Herausforderung für die Exportkontrolle. Dies kann man sowohl für den derzeitigen Regelungskanon, wie auch für die zuständigen Behörden der EU-Mitgliedstaaten und auch für die von der Exportkontrolle betroffenen Unternehmen bejahen. Nicht zuletzt muss sich auch die sog. wissenschaftliche Forschung dieser Herausforderung stellen, unterliegt auch ihr Handeln im Zusammenhang mit dem Technologietransfer wiederkehrend der Gefahr eines möglichen Missbrauchs. Sie bewegt sich im Zusammenhang mit dem Thema „Kontrolle des Außenwirtschaftsverkehrs“ nicht zuletzt im Spannungsfeld zwischen dem Grundsatz der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre und begründeten Sicherheitsbedenken5 des Staates.

I. Derzeitige Erfassung der Technologie im Außenwirtschaftsrecht Im Außenwirtschaftsrecht ist der Export6 von Gütern geregelt. Bei der Erfassung muss zwischen den nationalen Regelungen des AWG7 und den europäischen der Dual-­ Use-Verordnung 428/2009 der EG8 unterschieden werden. In der praktischen Anwendung besteht trotz Unterschieden bzgl. der betroffenen Objekte weitgehende Deckungsgleichheit. Der Begriff „Güter“ im AWG in § 29 umfasst Waren, Technologie und Software. In der EG-VO 428 erfolgt die Definition des Güterbegriffs spiegelbildlich in Art. 2. Technologie umfasst auch Unterlagen zur Fertigung von Waren oder von Teilen dieser Waren. Der Export von Technologie kann im Einzelfall kritischer zu beurteilen sein, als der von Waren, da er technisches Know-how für Entwicklung, Herstellung und Verwendung beinhalten kann.

3 Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions, Promoting cultural and creative sectors for growth and jobs in the EU, September 2012. 4 Siehe hierzu Pietsch, „Leitgedanken zur Exportkontrolle im Zusammenhang mit Cloud Computing und Fragen zu Cyber-war“ in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkon­ trolle, Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015, S. 527 ff. 5 Siehe Merkblatt des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, „Technologietransfer und Non-Proliferation“ – Leitfaden für Industrie und Wirtschaft, Juni 2016, S. 16 ff. www. ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/arbeitshilfen/merkblaetter/merkblatt_tt.pdf. 6 Der Begriff „Export“ ist hier nicht rechtstechnisch i. S. d. Außenwirtschaftsgesetzes verwendet, sondern soll alle Formen des Exports wie z. B. Ausfuhr oder Verbringung abdecken. 7 AWG-Außenwirtschaftsgesetz, http://www.gesetze-im-internet.de/awg_2013/. 8 Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, ABl. L 134, 29.5.2009, S. 1, im Folgenden EGVO 428. 9 Hier § 2 Nr. 13 AWG.

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Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers

1. Technologie10 Die Ausfuhrliste11 definiert Technologien für die Entwicklung, Herstellung oder Verwendung von Gütern und spezifische Technologien, die einer Kontrolle bei der Ausfuhr unterliegen können. Dieser Begriff Technologie12 erfasst spezifisches technisches Wissen, das für die „Entwicklung“, „Herstellung“ oder „Verwendung“ eines Produkts nötig ist.13 Das technische Wissen wiederum kann in der Form von „technischen Unterlagen“ oder „technischer Unterstützung“ verkörpert werden. „Technische Unterlagen“ können verschiedenartig sein, z. B. können Blaupausen, Pläne, Diagramme, Modelle, Formeln, Tabellen, Konstruktionspläne und -spezifikationen, Beschreibungen und Anweisungen in Schriftform oder auf anderen Medien aufgezeichnet werden, wie Magnetplatten, Bänder oder Lesespeicher. Die Nennung von „Technische Unterstützung“14 steht im Einklang mit der Technologieerfassung in den internationalen Kontrollregimen (Nuclear Suppliers Group, Missile Technology Control Regime, Australische Gruppe, Wassenaar Arrangement). In Deutschland wird außenwirtschaftsrechtlich jedoch zwischen den Genehmigungstatbeständen bzgl. der Ausfuhrliste und den Regelungen für die technische Unterstützung in den §§ 49 ff. AWV unterschieden. Die EG-VO 428 benennt derzeit in Art. 7, dass sie keine Rechtswirkung entfaltet, wenn es sich um technische Unterstützung durch Menschen in Form des verkörperten Transfers durch geistige oder manuelle Dienstleistungen handelt.15 Die Ausfuhrliste selbst wie auch der Anhang I der EG-VO 428 erfasst daher im Zusammenspiel mit den außenwirtschaftsrechtlichen Genehmigungstatbeständen derzeit nur den materiellen, also verkörperten Teil der Technologie.16 In der Diskussion zur Novelle der EG-VO 428 wird nun von der EU-Kommission die Übernahme der Regelungen für die technische Unterstützung in die EG-VO vorge10 Siehe zur Technologieerfassung auch Basler/Burkert-Basler/Nawrotzki in AW-Prax 08/2017, S. 284 ff. 11 Anlage AL zur AWV bzw. Anhang I zur EG-VO 428/2009. Im Folgenden wird zur Vereinfachung immer nur von der Ausfuhrliste gesprochen. 12 Siehe Anmerkungen der Ausfuhrliste ATA und AL-Position 0022 des Teils I Abschnitt A der Ausfuhrliste oder die Positionen 5E902 9E911 des Anhangs I zur EG-VO 428/2009. 13 Siehe zum Umfang der kontrollierten Technologie auch Haellmigk, „Technologietransfer und Exportkontrolle in Zeiten neuartiger Formen des Datentransfers“ in Ehlers/Wolffgang (Fn. 4), S. 513 ff. 14 „Technische Unterstützung“ kann verschiedenartig sein, z. B. Unterweisung, Vermittlung von Fertigkeiten, Schulung, Arbeitshilfe, Beratungsdienste, und kann auch die Weitergabe von „technischen Unterlagen“ einbeziehen. Hierauf beziehen sich die Regelungen des §§ 49 ff. AWV, siehe dazu Pietsch in Wolffgang/Simonsen/Rogmann, AWR Kommentar, Band 4. 15 Siehe Ehrlich, Technologietransfer als Ausfuhr und technische Unterstützung in Ehlers/ Wolffgang (Fn. 4), S. 495 m. w. N. 16 Zu Abgrenzung von Technologiekontrolle und technischer Unterstützung siehe auch Dr. Ehrlich, Technologietransfer als Ausfuhr und technische Unterstützung in Ehlers/Wolffgang (Fn. 4), S. 496 f.

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schlagen.17 Ob dies rechtlich zweifelsfrei aus den neuen EU-Verträgen abzuleiten ist, wäre in Zukunft zu diskutieren. Unbeachtet soll im Weiteren bleiben, dass in vielen Diskussionen der Transfer in verkörperter Art mit dem Transfer unverkörperter Technologie verwechselt wird. Während es beim „Transfer in verkörperter Art“ darum geht, dass eine zunächst in einem Speichermedium verkörperte Technologie, z. B. eine Zeichnung, nun per Telefax „unverkörpert“ exportiert wird18, also die Grenze überschreitet, handelt es sich bei der „unverkörperten Technologie“, z. B. dem gesprochenen Wort oder der Dienstleitung vom „Absenden/Ausführen“ bis zum Erhalt, immer um einen „unverkörperten Zustand“. 2. Technische Unterlagen Der Hauptanwendungsfall des Technologietransfers in verkörperter Form betrifft Fertigungsunterlagen. Diese sind Teil des Begriffs der Technischen Unterlagen. Sie werden in der Regel für die unmittelbare Herstellung eines Produkts benötigt. Die Bezeichnungen Fertigung und Herstellung beziehen sich nicht nur auf z. B. Pumpen, sondern auch auf Produkte wie z. B. Chemikalien, die in Prozessen erst hergestellt werden, dann i.d.R. werden die technischen Unterlagen bezeichnet als Rezepturen. Fertigungsunterlagen für Waren der Ausfuhrliste sind nur dann als Technologie erfasst, wenn die Technologie in Gattung E genannt ist. Für die Erfassung von Fertigungsunterlagen sind dabei wiederum die Technologieanmerkungen zu beachten. Nicht erfasst sind Unterlagen i. d. R., die nicht auf einen konkreten Fertigungsprozess abzielen, sondern in allgemeiner Form Grundsätze und Methoden der Fertigung zum Gegenstand haben. Dies sind solche Unterlagen, die die wesentlichen Leistungsmerkmale, Charakteristika oder Funktionen der betreffenden Güter nicht abbilden. Dazu gehört u. a. allgemeines Werbematerial wie Prospekte und Anzeigen oder Unterlagen zur Erlangung eines Auftrags, die noch keine Fertigung ermöglichen.19 3. Grundsätze20 Für alle Technologien gelten die folgenden Grundsätze: Grundsätzlich gilt, dass Dual-Use-Technologie in Gattung E der Ausfuhrliste i. V. m. den Technologie-Anmerkungen NTA und ATA, Vorbemerkung 5, erfasst wird.21 So17 http://ec.europa.eu/trade/import-and-export-rules/export-from-eu/dual-use-controls/ und http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/september/tradoc_154976.pdf. 18 Diese „unverkörperte Art“ wird national nach § 2 AWG und in der EU durch Art. 2 EG.VO 428 mit den Regeln der Ausfuhr gleichgestellt und ist damit analog genehmigungspflichtig. 19 Sollten Sie Zweifel oder Fragen bezüglich dieser Aussagen haben, dann wenden Sie sich an das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Eschborn. Die Ausführungen in diesem Aufsatz haben keinen rechtlich verbindlichen Charakter. 20 Siehe grundsätzlich zur Erläuterung der Ausfuhrliste und der Technologieerfassung Wahren in Hohmann/John, Ausfuhrrecht 2002, S. 1649 ff. 21 Nach den Technologieanmerkungen besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Nukleartechnologie der Kategorie 0 in Abschnitt C i.V.m. Vorbemerkung 5, NTA einerseits

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Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers

fern in einer Position nicht ausdrücklich Abweichendes vermerkt ist, gilt, dass Technologie immer nur in dem Umfang von der Ausfuhrliste erfasst sein kann wie auch die Ware, auf die sie sich bezieht. Es gibt aber auch Technologie-Positionen in der Ausfuhrliste, die sich ganz oder teilweise auf nicht gelistete Güter beziehen. Technologie für kontrollierte Güter fällt nach den Technologieanmerkungen auch dann unter die Ausfuhrkontrolle, wenn sie für nicht erfasste Güter einsetzbar ist. Unvollständige Technologien sind ausfuhrrechtlich wie unfertige Waren zu behandeln. Sie fallen unter die Ausfuhrliste, solange sie die wesentlichen Elemente enthalten, die für ihre Aufnahme in die Liste bestimmend waren und wenn sie sich ohne übermäßigen Arbeitsaufwand vom Empfänger vervollständigen lassen. Ausfuhrgenehmigungen für von der Ausfuhrliste erfasste Waren schließen den Technologietransfer ein, der für Aufbau, Inbetriebnahme, Betrieb, Wartung und Reparatur der ausgeführten Waren unbedingt erforderlich ist. In der Regel ist für die in unmittelbarem Zusammenhang stehende Lieferung der zu der Ware dazugehörigen Minimum-Technologie an den genehmigten Warenempfänger die Beantragung einer gesonderten Genehmigung entbehrlich. Dann besteht für die Technologieausfuhr keine Pflicht zu selbstständigen Genehmigung. Es muss jedoch genau bewertet werden, ob es wirklich nur das unbedingt erforderliche Minimum ist, z.  B. darf keine Leistungssteigerung der genehmigten Güter damit verbunden sein. Grundsätzlich werden Technologien für erfasste Güter nur insoweit erfasst, als sie für die Entwicklung, Herstellung oder Verwendung der erfassten Güter unverzichtbar sind.22 Nach den Begriffsbestimmungen zu Anhang I der EG-VO 428 und zur Ausfuhrliste Teil I Abschnitt A bezieht sich das Merkmal der „unverzichtbaren Technologie“ ausschließlich auf den Teil der Technologie, der besonders dafür verantwortlich ist, dass die erfassten Leistungsmerkmale, Charakteristika oder Funktionen erreicht oder überschritten werden. Im Einklang mit dieser Begriffsbestimmung sowie der Technologieerfassung in den internationalen Kontrollregimen (Nuclear Suppliers Group, Missile Technology Control Regime, Australische Gruppe, Wassenaar Arrangement) ist zunächst diejenige Technologie als besonders verantwortlich im o. g. Sinne anzusehen, die alle wesentlichen Elemente enthält, die für ihre Aufnahme in die Güterliste bestimmend war. Ob die Technologieunterlage alle wesentlichen, verantwortlichen Elemente enthält, beurteilt sich in erster Linie danach, ob sie Informationen enthält, die zur Erfüllung der technischen Parameter der jeweils einschlägigen Ausfuhrlistenposition führt. International wird zunehmend die Technologieerfassung durch die Regime inhaltlich als zu unflexible Maßnahme eines sich abschottenden Kreises sich gegenseitig privilegierender Länder kritisiert, die den Trend zur in-

und der Technologie für die übrigen Waren i. V. m. den Vorbemerkungen ATA, ATM andererseits. 22 Technologien der Kategorie 0 für Nukleargüter werden dagegen nach der Nukleartechnologieanmerkung NTA im gleichen Umfang erfasst wie Nukleargüter selbst, ohne dass es darauf ankäme, dass die Technologie unverzichtbar ist. Der Erfassungsbereich von Nukleartechnologie ist somit gegenüber der sonstigen Dual-Use Technologie ausgeweitet.

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ternationalen Technologiekooperation für friedliche Zwecke (auch außerhalb der Regime) vernachlässigen würde.23 Enthält die Technologieunterlage nicht alle wesentlichen Elemente im o. g. Sinne, kann die Technologie aber auch dann von der Güterliste erfasst sein, wenn sie in Bezug auf das erfasste Gut oder das erfasste Bestandteil zwar nicht als im Wesentlichen vollständig anzusehen ist, aber spezifische Schlüsseltechnologie für wesentliche Funktionen erfasster Güter oder Bestandteile beinhaltet. Diese eben dargestellten Grundsätze sollten nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, dass Technologie nur dann von den Güterlisten erfasst ist, wenn diese den Empfänger in die Lage versetzt, die Ware vollständig selbstständig herstellen zu können. Technologie kann auch dann erfasst sein, wenn sich diese lediglich auf den Bestandteil eines Gutes bezieht und bereits dieser Bestandteil von Anhang I der EG-VO 428 oder der Ausfuhrliste erfasst ist. Neben Waren und Technologie fällt auch Software24 unter den Güterbegriff und wird in der Laiensphäre oftmals mit Technologie gleichgesetzt. Software selbst ist keine Ware. Jedoch kann ihr körperliches Speichermedium als Ware anzusehen sein. In diesem Sinne wird Software von den Begriffsbestimmungen in der Ausfuhrliste definiert als Sammlung eines oder mehrerer Programme25 oder Mikroprogramme, die auf einem beliebigen geeigneten greifbaren (Ausdrucks-)Medium fixiert sind. Die Ausfuhrliste erfasst nach der allgemeinen Software-Anmerkung (ASA) nicht Software, welche frei erhältlich im Einzelhandel durch Barverkauf, Versandverkauf, Verkauf über elektronische Medien oder Telefonverkauf vertrieben wird und dazu entwickelt ist, vom Benutzer ohne umfangreiche Unterstützung durch den Anbieter installiert zu werden. Nicht erfasst wird auch allgemein zugängliche Software; vgl. aber besonders die Kryptotechnik-Anmerkung in Kategorie 5, Teil 2. Damit ist Software für den Massenmarkt, die im Einzelhandel frei erhältlich und leicht zu installieren ist, i.d.R. nicht erfasst.

II. Allgemein zugängliche Technologie und Grundlagenforschung Ausnahmeregelungen von der Kontrolle von Technologie, wie auch ausdrücklich bezüglich der in §§ 49 ff. AWV erfassten technischen Unterstützung, beziehen sich auf die Technologien, die „allgemein zugänglich“ sind. Allgemein zugängliche Informa­ tionen und (wissenschaftliche) Grundlagenforschung werden von den Vorbemerkungen 5 und 7 von der Erfassung durch die Ausfuhrliste befreit. Unbeachtet soll im 23 Siehe dazu und zu den Grundlagen der Technologieerfassung Oliver Meier (Hrsg.), Technology, Transfer and Non-Proliferation, 2014, S. 250 ff. 24 Siehe zur Softwareerfassung Dudel in Hohmann/John (Fn. 20), S. 1677 ff. 25 Ein Programm ist eine Folge von Befehlen zur Ausführung eines Prozesses in einer Form oder umsetzbar in eine Form, die von einem Elektronenrechner ausführbar ist. Mikroprogramm ist eine in einem speziellen Speicherbereich dauerhaft gespeicherte Folge von elementaren Befehlen, deren Ausführung durch das Einbringen des Referenzbefehls in ein Befehlsregister eingeleitet wird.

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Folgenden die Frage bleiben, inwieweit die Regelungen der §§ 18 ff. Kriegswaffenkontrollgesetz26 im Zusammenhang mit dem Verbot der „Förderhandlungen“ auch ihre Grenzen im Schutz der Grundlagenforschung finden. Im Kriegswaffenkontrollgesetz selbst ist zumindest im Gegensatz zu AWV und der Ausfuhrliste bzw. dem Anhang I der EG-VO 428 keine Ausnahme ausdrücklich vorgesehen, obwohl es in allen Vorschriften eine zielorientierte Überlappung bei der Bekämpfung der Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen gibt. Wer i. S. v. § 49 AWV positives Wissen hat, dass seine technische Unterstützung und/oder Grundlagenforschung einen Bezug zu Massenvernichtungswaffen aufweist, läuft in jedem Falle Gefahr, auch mit den Verboten des KWKG zu kollidieren. In der herrschenden Literatur wird unter den sog. Fördertatbestand im KWKG ausdrücklich auf die Verbreitung von Kenntnissen in Wissenschaft und Forschung durch Veröffentlichungen, Vorträgen, Vorlesungen sowie in Form von Handlungen im Rahmen wissenschaftlicher Zusammenarbeit subsumiert.27 Der Fördertatbestand erfasst auch mittelbare Handlungen in Form der mittelbaren Beihilfe, worunter unstreitig auch Dienstleistungen wie z. B. Beratungen oder Schulungen fallen.28 Damit ist auch die Begrifflichkeit in dieser Regelung weitgehend deckungsgleich mit den Technologieregelungen in den §§ 49 ff. AWV. 1. „Allgemein zugänglich“ Tatsächliche oder rechtliche Beschränkungen ohne exportkontrollrechtliche Relevanz, also solche, die nicht auf der Sensitivität eines Gutes beruhen, ändern an der „allgemeinen Zugänglichkeit“ des Gutes bzw. der Technologie nichts. Dabei kann es sich etwa um vorübergehende tatsächliche Einschränkungen wie Ladenschlusszeiten oder endgültige tatsächliche Einschränkungen wie den Ausverkauf eines Gutes, das nicht nachproduziert wird, handeln. Das können sowohl öffentlich-rechtliche Beschränkungen mit eigener Zielrichtung sein, etwa eine Jugendschutzbestimmung oder eine privatrechtliche Beschränkung wie die Lizenzvereinbarung unter Geschäftspartnern. Alle diese Einschränkungen weisen keine Bezüge zum Exportkon­ trollrecht auf und sind daher bei der Einstufung eines Gutes als „allgemein zugänglich“ nicht zu beachten. Auch Copyright-Beschränkungen heben die allgemeine Zugänglichkeit nicht auf.29 Maßgeblich ist, ob die Möglichkeit des allgemeinen Zu-

26 Ausführungsgesetz zu Art. 26 Abs.  2 des Grundgesetzes (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen): § 18 Verbot von biologischen und chemischen Waffen. 27 Siehe Pottmeyer zu § 16–17 KWKG Rz. 14 ff. in Pottmeyer, Kommentar zum Kriegswaffenkontrollgesetz 1994, m.w.N., Holthausen, NJW 1991, 203, 207, Pietsch zu §  17 KWKG Rz. 13 ff. in Hohmann/John (Fn. 20), ebenfalls m. w. N. 28 Nur Fehn in AW-Prax 1997, 385 f. erkennt die Förderhandlung nur bei einer tatsächlich eingetretenen Rechtsgutverletzung (z. B. dem A-Waffenbau) an, was aber angesichts der Normvoraussetzung der Kenntnis des technischen Unterstützers von der Zweckbestimmung des Objekts in §§ 49 ff. AWV dahingestellt bleiben kann. 29 Vgl. Friedrich in H/B/M/F, § 45 Anm. 2, nach dortiger Ansicht können sich aber Beschränkungen aus privatrechtlichen (z.  B. arbeitsvertraglichen) oder öffentlich-rechtlichen Vorschriften ergeben. Diese Auffassung erscheint als sehr problematisch, würden so doch z. B. privatrechtliche Vereinbarungen den Umfang der Exportkontrollvorschriften definieren.

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gangs besteht. Ob und wie häufig auf die Kenntnisse tatsächlich zugegriffen wird, ist nicht ausschlaggebend. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts30 ist eine Informationsquelle allgemein zugänglich, wenn sie technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit Informationen zu verschaffen. Sie verliert diesen Charakter nicht durch rechtliche, gegen die Verbreitung gerichtete Maßnahmen. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schützt nicht nur ein aktives Handeln zur Informationsverschaffung, sondern ebenso die schlichte Entgegennahme von Informationen. Die Befreiungen in den §§ 49 ff. AWV entfalten auf dieser Grundlage also Wirkung nicht nur für den technischen Unterstützer, sondern auch für den, der die Unterstützung entgegennimmt. Nicht allgemein zugänglich sind solche Informationen, die nur einem beschränkten Personenkreis zugänglich sind.31 Der Zugang ist in diesen Fällen von der individualisierenden Entscheidung des Informationsträgers abhängig. Wissenschaftliche Beiträge in Fachzeitschriften werden häufig nur von wenigen Experten mit dem spezifischen Fachwissen gelesen und verstanden. Der Beitrag ist gleichwohl allgemein zugänglich. Dass Informationen im Sinne der §§ 49 ff. AWV „allgemein zugänglich“ sind, gilt ohne jede Einschränkung für Informationen in Büchern, Publikums- und Fachzeitschriften.32 Auch durch die Publikation von Patenten (Offenlegungsschrift) werden Kenntnisse allgemein zugänglich gemacht.33 Werden sensitive Kenntnisse weitergegeben, deren Publikation noch nicht erfolgt, sondern lediglich beabsichtigt ist, sind die Informationen gerade (noch) nicht „allgemein zugänglich“, ihre Weitergabe mithin genehmigungspflichtig. Dies ergibt sich u. a. auch aus dem englischen Grundlagentext „has been made availabe“. Die spätere Veröffentlichung ändert daran nichts, denn maßgebend ist der Zeitpunkt der Weitergabe. Werden sensitive Kenntnisse weitergegeben, deren Publikation beabsichtigt, aber noch nicht erfolgt ist, so sind auch diese nicht allgemein zugänglich. Eine nachträgliche Publikation ändert daran nichts, weil dann die Weitergabe vor der Veröffentlichung erfolgt ist. Dissertationen und Diplomarbeiten sind allgemein zugänglich, wenn sie im Rahmen der üblichen Vorschriften etwa in allgemein zugänglichen Fachbereichsbibliotheken eingestellt worden sind.34 30 Siehe BVerfGE 27, 71 ff. 31 Siehe Wolffgang, IWB 1992, 539, welcher eine Anlehnung an Art. 5 Abs. 1 GG „allgemein zugängliche Quellen“ gemäß BVerfGE 27, 83 vornimmt. 32 Vgl. hierzu Krakowka in Bieneck, § 13 Rz. 3, Berndt, Die Ausfuhrkon­trolle von Know-how, 2008, S.  8, Wolffgang/Simonsen, Know-how-Transfer und Wissenschaft, in Ehlers/Hahn/ Lechleitner/Wolffgang, Risikomanagement im Exportkontrollrecht, 2004, S. 107 ff. 33 So auch Friedrich in H/B/M/F, § 45 Anm. 2 (§ 45 AWV in der Fassung der 50. ÄVO); Krakowka in Bieneck, § 13 Rz. 3. 34 Ist eine entsprechende Arbeit aber nur über das Prüfungsamt oder über den Betreuer der Arbeit zu beziehen, ist sie nicht „allgemein zugänglich“, die Weitergabe entsprechender Inhalte an Gebietsfremde wäre also genehmigungspflichtig. Die Kontrollmöglichkeit sensitiver Diplomarbeiten hängt somit allein von der Entscheidung des Betreuers ab. Er entscheidet in der Regel, ob die Diplomarbeit beim Lehrstuhl verbleiben soll oder auch in die

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Keine „Weitergabe“ liegt hingegen vor, wenn sensitive Informationen durch einen Nicht-Inländer35 selbst erarbeitet werden, soweit Grundlage seiner Arbeit ausschließlich allgemein zugängliche Quellen sind. 2. Grundlagenforschung a) Rechtliche Erfassung In den Begriffsbestimmungen zu Anhang I der EG-VO, die analog auch für die Ausfuhrliste Wirkung entfalten, ist wissenschaftliche Grundlagenforschung (basic scientific research) wie folgt definiert: experimentelle oder theoretische Arbeiten hauptsächlich zur Erlangung von neuen Erkenntnissen über grundlegende Prinzipien von Phänomenen oder Tatsachen, die nicht in erster Linie auf ein spezifisches praktisches Ziel oder einen spezifischen praktischen Zweck gerichtet sind. Es ist zuzustimmen, dass in der öffentlichen Diskussion der Technologiekontrolle zu wenig zwischen den unterschiedlichen Ansatzpunkten „Arbeiten … zur Erlangung von neuen Erkenntnissen über grundlegende Prinzipien von Phänomenen oder Tatsachen …“ oder „… nicht in erster Linie auf ein spezifisches praktisches Ziel oder einen spezifischen praktischen Zweck gerichtet …“ differenziert wird. „In der praktischen Anwendung der Befreiungsklausel ist dies aber bislang unerheblich.“ Die Befreiung der Grundlagenforschung findet seine Wurzel im Grundsatz der freien wissenschaftlichen Kommunikation (Art. 5 GG). Unter wissenschaftliche Grundlagenforschung36 (basic scientific research) fallen experimentelle oder theoretische Arbeiten zur Erlangung von neuen Erkenntnissen über grundlegende Prinzipien von Phänomenen oder Tatsachen, die nicht in erster Linie auf ein spezifisches praktisches Ziel oder einen spezifischen praktischen Zweck gerichtet sind. Dies bedeutet etwa, dass nach herrschender Meinung alle Informationen aus Fach- und Lehrbüchern und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften nicht erfasst sind. Ausgenommen von der Befreiung ist mithin die Forschung, die auf einen spezifischen Zweck gerichtet ist und einen Anwendungsbezug erkennen lässt. Die Befreiungsausnahme für Grundlagenforschung findet sich auch in der Umsetzung von Art. 4b der Gemeinsamen Aktion 2000/401/GASP37 wieder. Danach soll die Technische Unterstützung bei der Grundlagenforschung nicht kontrolliert werden, „da [dieser Begriff] in den internationalen Ausfuhrkontrollsystemen und -einrich-

Bibliothek gestellt wird. Deshalb sollte bei Diplomarbeiten mit sensitiven Inhalten der ­Betreuer von der Weitergabe an Bibliotheken absehen, so dazu Pietsch in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn. 14), §§ 45 ff. AWV. 35 Siehe zur Definition „Inländer“ § 2 Nr. 15 AWG. 36 Vgl. zur Wissenschaftsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht Wagner, DÖV 1991, 29 ff. m. w. N. 37 Gemeinsame Aktion des Rates vom 22. Juni 2000 betreffend die Kontrolle von technischer Unterstützung in Bezug auf bestimmte militärische Endverwendungen (2000/401/GASP); ABl. EG 2000, Nr. L 159/216.

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tungen sowie Verträgen definiert [ist]“.38 Mit dieser Begründung wird letztlich an die Vorgaben der Regime für Technologiekontrollen angeknüpft. Diese sehen in Vorbemerkungen zu den Güterlisten vor, dass die Kontrollen von Technologietransfers nicht für allgemein zugängliche Informationen oder für die wissenschaftliche Grundlagenforschung anzuwenden sind.39 Dieser Ansatzpunkt der Befreiung unter Bezugnahme auf das Grundgesetz findet seinen spiegelbildlichen Widerhall für die EG-VO 248 in Art. 13 GRCh.40 Hieraus könnten sich in Teilbereichen Wertungsunterschiede ergeben.41 Nach einer Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages42 sind Einschränkungen jeweils auf gesetzlicher Grundlage möglich. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hätten bislang die Wissenschaftsfreiheit kaum in ihren Urteilen herangezogen. Die Schutzbereichsbestimmung des Art. 13 GRCh müsse daher vor allem anhand der normierten Auslegungsregeln des Art. 52 GRCh erfolgen. Art. 52 Abs. 3 GRCh sehe vor, dass, soweit die Charta Grundrechte enthält, die den in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) enthaltenen Rechten entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Konventionsrechte besitzen. Die EMRK enthalte keine explizite Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit, jedoch sind Teilgewährleistungen43 in ihrem kommunikativen Gehalt durch die Garantie der Meinungsfreiheit mit umfasst. Auch aus den Erläuterungen zur Grundrechtecharta, die zur Auslegung der Charta gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 (3) EUV heranzuziehen seien, ergäbe sich, dass die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit der Charta in erster Linie der Gedankenfreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung entspringt. Art. 13 GRCh stehe damit in engem Zusammenhang mit der Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 GRCh (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und vor allem mit der Bestimmung des Art. 11 GRCh (Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit). Geschützt sei somit zunächst die wissenschaftliche Kommunikation, also jegliches Handeln, dass auf Austausch von Informationen gerichtet ist. Die Ausübung der Freiheit des Art. 10 Abs. 1 EMRK könne aber eingeschränkt werden durch Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoria38 So List in AW-Prax 6/209, S. 187 ff. 39 Z. B. die Nuclear Suppliers Group, INFCIRC/254/Rev.9/Part.1, Annex A, Trigger List Referred to in Guidelines, Technology Controls: „Controls on technology transfer do not apply to information in the public domain or to basic scientific research.“ 40 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 13: „Freiheit der Kunst und der Wissenschaft“: Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet. 41 Siehe zur Heranziehung der Art. 13 GRCh insb. Teetzmann in Schneider/Wahl (Hrsg.), „Zensur der Wissenschaft durch Exportkontrolle“, Herausforderungen für das Recht der zivilen Sicherheit in Europa, 2016. 42 „Die Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ – WD-3-3000149/10 vom April 2010 m. w. N. 43 Über diese Teilgewährleistung hinaus enthalte die Wissenschaftsfreiheit der Grundrechtecharta weitere Gewährleistungen, die sich nicht mit dem Gehalt der EMRK decken. Art. 13 GRCh schützt auch die Forschung und die akademische Freiheit. Eine exakte Bestimmung dieser Gewährleistungen sei aber nicht ohne Weiteres möglich – siehe o. g. Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes, 9 ff. m.w.N.

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le Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit etc. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1. Dezember 2009 wurde die im Dezember 2000 als politische Erklärung proklamierte Charta der Grundrechte der EU durch einen Verweis in Art. 6 Abs.  1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) rechtsverbindlich. Sie ist damit Bestandteil des Gemeinschaftsrechts geworden, welches Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht hat. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gilt grundsätzlich auch im Verhältnis zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundrechten der nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten.44 Daraus könnte abgeleitet werden, dass die kommenden Regelungen zur Erfassung der Technischen Unterstützung ggf. auch ohne Rückausnahmebefreiung für die Grundlagenforschung eingeführt werden könnten. Zumindest sollte die GRCh bei der Diskussion der Novelle einbezogen werden. In der Literatur werden exportkontrollrechtliche Überlegungen in den Regelungen der §§ 49 ff. AWV und die dortigen Befreiungen für die Grundlagenforschung nicht als ausreichend und als teilweise rechtswidrige Ausfuhrbeschränkungen angesehen. Die Ausnahmen für die Grundlagenforschung allein seien für die Wissenschaftsfreiheit nicht ausreichend. Die Wissenschaftsfreiheit schütze auch die angewandte Forschung. Art. 3 EG-VO 428, welcher die Genehmigungsregeln für die von Anhang I derselben VO erfassten Technologie aufstellt, verstoße i. Z. m. Art. 12 dieser VO gegen Art. 13 EUGRCh.45 b) Ansatz der OECD Außerhalb der Europäischen Gemeinschaft wird bei der Diskussion um die Defini­ tion von „Grundlagenforschung“ i. d. R. auf die OECD verwiesen. Nach dem Frascati-Manual der OECD ist diese wie folgt definiert: „Basic research is experimental or theoretical work undertaken primarily to acquire new knowledge of the underlying foundations of phenomena and observable facts without any particular application or use in view.“46 Grundlagenforschung sei demnach und im allgemeinen Verständnis der Wissenschaft rein erkenntnisorientierte oder erkenntnisgetriebene Forschung und habe etwas mit fundamentalen Fragen und Problemstellungen (in) einer Diszi­ plin zu tun. Insofern sei auch nicht alles, was sich selbst als Grundlagenforschung bezeichnet, wirklich Grundlagenforschung. Zur Berufung auf ein reines Erkenntnis­ interesse müsse eine erkennbare Grundlagenrelevanz, ein konkretes Versprechen auf fundamentale Durchbrüche, unabhängig davon, ob diese dann auch tatsächlich gelingen oder nicht, hinzutreten.47 In Stellungnahmen deutscher Forschungsinstitute wird der umfassende OECD-Ansatz zum Teil mit großer Zurückhaltung betrachtet. Grund44 O. g. Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes, 11 m. w. N. 45 So Teetzmann, „Mit Missbrauchsrisiken begründete rechtliche Beschränkungen der Forschung in den Biowissenschaften, Ordnung der Wissenschaft 2015, S. 89 ff. und ders. in Schneider/Wahl (Fn. 41). 46 OECD, Frascati-Manual, Paris 2002, 77, http://www.oecd.org/sti/inno/Frascati-Manual. htm. 47 Stellungnahme zur Bedeutung der Grundlagenforschung und ihrer Förderung Wien, im November 2010, http://www.wissenschaftsrat.ac.at/news/Grundlagenforschung_Endversi​ on_Hompage.pdf.

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lagenforschung und angewandte Forschung seien in der heutigen Realität nicht mehr voneinander trennbar.48 c) Bewertung der Forschungsgemeinschaften Eine Variante des Wissenstransfers ist der Austausch von Ingenieuren, Wissenschaftlern, Professoren, Dozenten, Doktoranden und Studenten zwischen Proliferations­ staaten und westlichen Industrienationen. Private Initiativen sowie Technologiezentren, die für Staatsangehörige aus sensiblen Ländern im westlichen Ausland gegründet wurden und agieren, bieten eine gute Basis für Kontakte und gegenseitigen Informationsaustausch. Zum Teil wurde von seiten der „Wissenschaft“ mit Unverständnis, zum anderen regelmäßig mit Verweis auf die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG) reagiert.49 Es müsse bei der Bewertung von Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit beachtet werden, dass die „Wissensproduk­ tion“ an Hochschulen und Forschungseinrichtungen kaum noch als Selbstzweck erfolgt, vielmehr heutzutage ihre Legitimation, in jedem Falle ihre wirtschaftliche Grundlage infrage stellt, wenn sie nicht praxisorientiert ist. Dies führe automatisch dazu, dass „Wissensproduktion“ eine gesellschaftliche Folgedimension gewonnen hat, die wissenschaftliche Risiken zu gesellschaftlichen Risiken werden lässt und die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft für die von ihr verursachten oder angestoßenen Veränderungen aufwirft. Kann das Schutzargument der Grundrechtsbeeinträchtigung nach Art. 5 Abs.  3 GG einer Universität, die nach unternehmerischen Kriterien Wissenschaft veranstalten lässt, als solcher noch zugebilligt werden? Laut den Leitlinien der Max-Planck-Gesellschaft seien bei wissensgetriebener Grundlagenforschung Resultate oft nicht vorhersehbar und deren Ergebnisse deswegen per se nicht gut oder schlecht. Das staatliche Recht sei nicht immer in der Lage, Risiken und Missbrauchsmöglichkeiten der Forschung vollständig und effektiv zu normieren. Selbst detaillierte gesetzliche Regelungen würden den differenzierten und sich rasch ändernden globalen Problemen von gebietsspezifischen Risiken nicht ausreichend Rechnung tragen und darüber hinaus leicht in Konflikt mit der verfassungsrechtlich garantierten Forschungsfreiheit geraten. Der einzelne Wissenschaftler dürfe sich daher aber auch nicht mit der Einhaltung der gesetzlichen Regelungen begnügen, sondern müsse weitergehende ethische Grundsätze berücksichtigen. Für die Einhaltung der geltenden rechtlichen Regelungen sei jeder Wissenschaftler selbst verantwortlich. Im Einzelfall könne die verantwortliche Entscheidung des Forschers allerdings als Ultima Ratio zur Folge haben, dass eine bestimmte Forschung mit einem nicht zu begrenzenden und unverhältnismäßigen Risikopotenzial nicht durchgeführt wird, selbst wenn ihr kein gesetzliches Verbot entgegensteht. Die nach der Definition von möglichen Schutzmaßnahmen erforderliche ethische Bewertung der verbleibenden Risiken könne jedoch durch die Beantwortung der Frage unterstützt werden, ob bei einer entsprechenden Abwägung der potenzielle Schaden den potenziellen Nutzen 48 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Forschung in Deutschland, http://www.dfg-bonn.de/ forschung-in-deutschland.htm. 49 Siehe dazu Pietsch in AW-Prax 06/2009, S. 194 ff.

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der Forschung übersteigt.50 Offen erscheint in diesem Zusammenhang die Folgefrage der strafrechtlichen Verantwortung des Einzelnen und/oder der jeweiligen Forschungsgesellschaft sowie die im Außenwirtschaftsrecht zentrale Frage des Ausfuhrverantwortlichen und der Zurechnung bei einer Zuverlässigkeitsprüfung.51 Auch aus anderen Wissenschaftsbereichen wird die definitorische Unterscheidung grundsätzlich angegriffen. Grundlagenforschung und angewandte Forschung seien heute nicht mehr voneinander trennbar.52 Man müsse die Risiken aushalten. Die Angst vor Terror zerstöre das, worauf unsere wissenschaftliche Kultur gründet. Es sei möglich, dass Individuen, Gruppen oder Staaten dieses Wissen, diese Erfahrung und diese Ausrüstung missbrauchen – aber die Restriktion von wissenschaftlichen Publikationen könne diesen Missbrauch nicht verhindern. Im Gegenteil: Sie nehme einem Großteil der wissenschaftlichen Fachkollegen die Möglichkeit, die Forschung zu bewerten und einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem Wissen in ihren Wirkungsbereichen zu kultivieren.53 Die These des „Aushaltens“ spricht jedoch eher für eine Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens, aber nicht zwingend gegen grundsätzliche Regelungen, die nur eine staatliche Zustimmung vor dem Technologietransfer voraussetzen. Als Lösung anstelle einer gesetzlichen Kontrolle des Technologietransfers – zumindest in den Bereichen der Bio-Forschung – wird von Forschungsinstituten ein freiwilliger Verhaltenskodex gesetzt. Dies würde ggf. auch Unsicherheiten bei den Auslegungsfragen der Befreiungsregelungen für Grundlagenforschung vermeiden. „Während die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) und die Leibniz-Gemeinschaft ihre Empfehlungen ausdrücklich ‚Verhaltenskodizes‘ nennen, die sich direkt auf das Feld der Biosecurity beziehen, spricht die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) allgemein von Hinweisen und Regeln für die Forschung. Die von MPG erlassenen Regeln sollen die in der Gesellschaft tätigen Personen mit einer „ethischen Leitlinie“ unterstützen, über die „Selbstregulierung“ Missbrauch der Forschung verhindern, Risiken vermeiden und ein Verfahren zur Verfügung stellen. Sie sind daher nicht als unmittelbar verbindliche Rechtsnormen von MPG formuliert und werden auch nicht als Rechts­ regeln, sondern als „ethische Leitlinien“ bezeichnet und ausdrücklich von dem staatlichen Recht, insbesondere gesetzlichen Regelungen, abgegrenzt. Sie sind daher ebenfalls in einem weiten Sinne – wie der Kodex der DFG und der Leibniz-Gemeinschaft  – als Verhaltenskodex zu verstehen, genauer als ein Forschungskodex der 50 Siehe dazu „Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum Verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken, 2010, https://pdfs.semanticscholar.org/cfe5/0f517451d1a0d06a9241d379c4b55623c835.pdf. 51 Siehe zum „Ausfuhrverantwortlichen“ und der Zuverlässigkeitsprüfung Pottmeyer, „Der Ausfuhrverantwortliche“  – Aufgaben und Haftung im exportierenden Unternehmen, 5., aktualisierte Auflage 2014. 52 So die Deutsche Forschungsgemeinschaft: Forschung in Deutschland, http://www.dfgbonn.de/forschung-in-deutschland.htm. 53 Siehe Presseartikel Dichmann/Drosten/Becker, FAZ online, http://www.faz.net/aktuell/­ wissen/medizin-ernaehrung/biosicherheit-kuenstlicher-viren-wir-muessen-die-risiken-­ aushalten-11653765.html.

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Selbstregulierung, so die Analyse des Deutschen Ethikrates in seiner Stellungnahme zu „Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft“ 2014.54 Interessant ist die daraus folgende Schlussfolgerung, dass eine mittelbare Rechtswirkung der Kodizes nach allgemeinen delikts- und strafrechtlichen Grundsätzen anzunehmen sei: Strafrechtlich kann ein individueller Fahrlässigkeitsvorwurf auch auf die Nichtbeachtung von beispielsweise Risikominimierungsmaßnahmen, die in einem Kodex verankert sind, gestützt werden. Haftungsrechtlich wird in der Regel Fahrlässigkeit begründet sein, wenn Sorgfaltspflichten, die in einem Kodex normiert sind, nicht eingehalten werden. Inwieweit man diesen Kodex auch als „Compliance Management System“ einordnen kann und man i. Z. m. dem BGH-Urteil vom Mai 201755 einen solchen Kodex als Risikominimierung im Rahmen von Bußgeldverfahren heranzuziehen hat, wird die strafrechtliche Praxis erst zeigen müssen.56 Entsprechend diesen Überlegungen aus dem Bereich der Bio-Forschung wird nach Lösungen zur Kontrolle des Technologietransfers in einer „post-export control era“ gesucht.57 Entscheidend ist hierbei auch für staatliche Stellen, dass der Wissenschaftler und sein Technologieaustausch nicht als ein Teil des Problems, sondern als ein Teil der Lösung gesehen werden muss. d) Urteil der „Rechtbank Noord-Holland“58 Beachtenswert und in einem gewissen Gegensatz zu den Überlegungen zum Technologietransfer im Bereich Bio-Sicherheit stehend, könnten die Auslegungen der Begriffe „Grundlagenforschung“ und „allgemein zugänglich“ in den Ausführungen im Urteil des „Rechtbank Noord-Holland“59 gesehen werden. In dem Fall ging es um die Ausfuhr von zwei technischen Unterlagen zum genetischen Material des H5N1-Virus und seiner Veränderbarkeit. Das Gericht stellte fest, dass die Begriffe „Grundlagenforschung“ und „allgemein zugänglich“ vor dem Hintergrund der Zielsetzung der Bekämpfung der Proliferation als Ausnahme von der grundsätzlich umfassenden Genehmigungspflicht eng auszulegen sei. Des Weiteren handele es sich nicht um Grundlagenforschung, wenn die Technologie praktische Verwendungsmöglichkeiten im Hinblick auf Proliferation aufweise bzw. diese nicht ausgeschlossen sei. Auch wenn erarbeitete Technologie aus allgemein zugänglichen Quellen und allgemein zugänglicher Methodik erarbeitet wird, bedeute dies nicht, dass auch die erarbeitete Technologie automatisch ebenfalls allgemein zugänglich sei. Entscheidend sei, ob neue  – 54 http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-biosicherheit.pdf. 55 BGH 1 StR 265/16. 56 Siehe Hagemann in Exportmanager, Ausgabe 7, September 2017. 57 Siehe Hunger, „Regulating transfers of biological dual use technology“ und Husbands, „Cooperation on biosecurity as part of a strategy to prevent misuse“ in Oliver Meyer (Hrsg.), Technology Transfers and Non-Proliferation, 2014, S. 134 ff. und S. 155 ff. 58 Rechtbank Noord-Holland, Niederlande vom 20. September 2013, Az.: AWB 13/792, http://deeplink.rechtspraak.nl/uitspraak?id=ECLI:NL:RBNHO:2013:8527. 59 Rechtbank Noord-Holland, Niederlande vom 20. September 2013, Az.: AWB 13/792, http://deeplink.rechtspraak.nl/uitspraak?id=ECLI:NL:RBNHO:2013:8527.

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noch nicht allgemein zugängliche – Erkenntnisse gewonnen werden. Letztlich kam das Gericht im konkreten Fall zu dem Schluss, dass die Unterlagen alle Informationen enthielten, die erforderlich sind, um ein waffenfähiges Virus zu produzieren und zu verbreiten. Interessant ist auch der Hinweis, dass es „ohne Belang sei“, wenn andere EU-Staaten die Ausnahmetatbestände der ATA anders auslegen.60 e) Lösungsansatz Technologie-Reifegrad (Technology Readiness Level) Aus mancher Sicht kommt eine genaue Abgrenzung der Grundlagen von der angewandten Forschung dem Versuch der Quadratur des Kreises nahe. So betont etwas das BMF: „Wann aus welcher wissenschaftlichen Erkenntnis ein bestimmtes Produkt oder ein neuer Wirtschaftszweig entsteht, ist nicht vorhersehbar – dass die Erkenntnis langfristig in neue Techniken mündet, ist jedoch ein über die Jahrhunderte gewonnener Erfahrungswert.“61 Von der Grundlagenforschung bis zur Verwertung und Anwendung im Markt sind viele Zwischenschritte nötig. Einen Ansatz für eine Lösungsmöglichkeit der Abgrenzungsfrage, wann keine sog. Grundlagenforschung mehr zu bejahen ist, bietet der sog. Technologie-Reifegrad. Der „Technology Readiness Level“ (TRL)62 ist ursprünglich ein Begriff, der in der Luft- und Raumfahrttechnik geprägt wurde. Es ist eine Skala zur Bewertung des Entwicklungsstandes von neuen Technologien auf der Basis einer systematischen Analyse.63 Der ARL-Reifegrad64 ist eine Modifikation des Technology Readiness Level. Er gibt auf einer Skala von 1 bis 9 an, wie weit entwickelt eine Technologie ist. Er reicht auf der Skala von TRL 1 bis hin zu TRL 9. ȤȤ TRL 1 – Grundprinzipien beobachtet ȤȤ TRL 2 – Technologiekonzept formuliert ȤȤ TRL 3 – Experimenteller Nachweis des Konzepts ȤȤ TRL 4 – Technologie im Labor überprüft

60 Zur Kritik an dem niederländischen Urteil siehe auch die Stellungnahme des Ethikrates, http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-biosicherheit.pdf. 61 Siehe https://www.bmbf.de/de/grundlagenforschung-basis-fuer-die-wissensgesellschaft-­874. html. 62 Siehe weitere Informationen dazu unter http://www.nks-kmu.de/teilnahme-trl.php. 63 Entwickelt wurde der TRL 1988 von der NASA für die Bewertung von Raumfahrttechnologien, davon ausgehend hat er sich als Standard in weiteren Bereichen der Zukunftstechnologien entwickelt. Von der NASA eingeführt, verwendet auch die ESA die Einstufung, um die Einsatzfähigkeit von Raumfahrtelementen abzuschätzen. Abgeleitet von der Raumfahrt werden TRL-Definitionen inzwischen auch von United States Department of Defense, Federal Aviation Administration (FAA), Canadian Innovation and Commercialization Program und für Software (Software Technology Readiness Levels) verwendet. 64 Siehe hierzu die Aussagen der Helmholzstiftung unter https://www.helmholtz.de/transfer/ technologietransfer/.

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ȤȤ TRL 5 – Technologie in relevanter Umgebung überprüft (bei Schlüsseltechnologien im industrieorientierten Umfeld) ȤȤ TRL 6 – Technologie in relevanter Umgebung getestet (bei Schlüsseltechnologien im industrieorientierten Umfeld) ȤȤ TRL 7 – Test eines System-Prototyps im realen Einsatz ȤȤ TRL 8 – System ist komplett und qualifiziert ȤȤ TRL 9 – System funktioniert in operationeller Umgebung (bei Schlüsseltechnologien oder Raumfahrt wettbewerbsfähige Fertigung) Einzelfallabhängig könnte man überlegen, ab TRL 4 oder 6 den Bereich der Grundlagenforschung als überschritten anzusehen.

III. Bereitstellen von Technologie Gemäß Art. 2 Nr. 2 Alt. 1 EG-VO 42865 umfasst der Begriff Ausfuhr auch „die Übertragung von Software oder Technologie mittels elektronischer Medien wie Telefax, Telefon, elektronischer Post oder sonstiger elektronischer Träger nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Europäischen Gemeinschaft“. Gemäß Art. 2 Nr.  2 Alt.  2 ­EG-VO 428 beinhaltet die Übertragung von Software und Technologie „auch das Bereitstellen solcher Software oder Technologie in elektronischer Form für juristische oder natürliche Personen oder Personenvereinigungen außerhalb der Gemeinschaft“. Nach ständiger Verwaltungspraxis des BAFA66 genügt für ein „Bereitstellen“ die Einräumung der Zugriffsmöglichkeit auf die Technologie von außerhalb der Gemeinschaft in technischer sowie zweckgerichteter Hinsicht. Entscheidend für die zweckgerichtete Schaffung einer Zugriffsmöglichkeit ist, dass die Technologie in dem Sinne aus den Händen gegeben wird, dass spätere Zugriffe nicht mehr kontrolliert und verhindert werden können. Damit kommt es für die genehmigungsrechtliche Bewertung auf den Zeitpunkt des Uploads an, und ein Nachweis eines Downloads muss nicht hinzukommen.67 Für eine Auslegung des Bereitstellens dahingehend, dass sich die bereitgestellte Technologie in der EU befinden muss, findet sich in Art. 2 Nr. 2 lit. iii Alt. 2 Dual-Use-VO kein Anhaltspunkt. Das Tatbestandsmerkmal „außerhalb der Gemeinschaft“ bezieht sich lediglich auf den Zugriff aus einem Drittland auf zuvor aus Deutschland ausgelagerte Technologie, nicht darauf, dass sich das Objekt, auf welches zugegriffen wird, zwingend in der Gemeinschaft befinden muss. 65 EG-Dual-Use-VO 428/2009; siehe zu Art. 2 Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn. 14), Rz. 20 ff. m. w. N. 66 Siehe Merkblatt des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, „Technologietransfer und Non-Proliferation“ – Leitfaden für Industrie und Wirtschaft, Juni 2016, S. 16 ff., www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/arbeitshilfen/merkblaetter/merkblatt_tt. pdf. 67 Siehe zu dieser Fragestellung mit Fallbeispielen Hohmann in AW-Prax 10/2014 S. 298 ff.

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Demgegenüber kann die Einräumung von Zugriffsrechten auf Technologie, die zuvor aus einem Drittland verlagert wurde, nicht als Ausfuhr erfasst werden. Diese Konstellation könnte im Einzelfall allerdings ein Handels- und Vermittlungsgeschäft darstellen. Die unterschiedliche Bewertung rechtfertigt sich dadurch, dass die Ausfuhrvariante des Bereitstellens andernfalls über die Variante der klassischen Ausfuhr hinausgehen würde, ohne dass dies mit dem Umgehungsverbot begründet werden kann.68 Ob ein Zugriff aus dem Ausland bezweckt ist, ist anhand der Gesamtumstände unter Berücksichtigung der vom entsprechenden Unternehmen verfolgten Ziele sowie der objektiv ergriffenen Maßnahmen zu bewerten. Die Einräumung der Zugriffsmöglichkeit muss dem Unternehmen objektiv zugerechnet werden können. Sofern beabsichtigt ist, dass Personen im Drittland keinen Zugriff auf gelistete Technologie erhalten sollen, muss dies durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen sichergestellt werden. Welche Art von Sicherungsmaßnahmen hierfür erforderlich oder ausreichend sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Es muss im Ergebnis sichergestellt werden, dass ausschließlich der gewünschte Empfänger auf die Technologie zugreifen kann. Daher stellt ein Einstellen auf einen Server in Deutschland ohne einen wenigstens potenziellen Empfänger im Ausland grundsätzlich keine Ausfuhr durch Bereitstellen dar, wenn ein nur in Deutschland tätiger Betrieb in das zugangsgeschützte Firmenintranet genehmigungspflichtige Technologie einstellt und keine Mitarbeiter ins Ausland versandt werden bzw. ein Zugriff vom Ausland nicht bezweckt ist. Die Erfassung der nachträglichen Einräumung von Zugriffsrechten auf bereits in ein Drittland ausgelagerte Technologie stellt keinen potenziellen Verstoß gegen das Souveränitäts- und Territorialprinzip des Drittlandes dar. Anknüpfungspunkt für eine ausfuhrrechtliche Kontrolle ist die tatsächliche Beherrschung und Veranlassung der Einräumung von Zugriffsrechten aus Deutschland auf zuvor aus Deutschland ausgelagerte Technologie auf den Server im Drittland. Anderenfalls könnten die Ausfuhrbeschränkungen in Bezug auf das Bereitstellen durch ein bloßes Übertragen in einen Drittstaat umgangen werden.

IV. Cloud Computing Eine allgemein verbindliche Definition des Begriffs Cloud Computing69 konnte sich bisher noch nicht durchsetzen. In der Regel wird unter Cloud Computing das dynamisch an den Bedarf angepasste Anbieten, Nutzen und Abrechnen von IT-Dienstleistungen verstanden. Angebot und Nutzung dieser Dienstleistungen erfolgen dabei 68 Siehe zu Handlungs- und Vermittlungsgeschäften allgemein Haddex – Handbuch der deutschen Exportkontrolle 2013, Band 1, Teil 8. 69 Siehe zum Thema Cloud Computing und Exportkontrolle auch Borges/Meents (Hrsg.), Rechtshandbuch zum Cloud Computing, 2016, S. 559 ff. Siehe hierzu Pietsch, „Leitgedanken zur Exportkontrolle im Zusammenhang mit Cloud Computing und Fragen zu Cyber-­ war“ in Ehlers/Wolffgang (Fn. 4), S. 527 ff. und Haellmigk, „Technologietransfer und Exportkontrolle in Zeiten neuartiger Formen des Datentransfers“ in Ehlers/Wolffgang (Fn. 4), S. 513 ff.

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ausschließlich über definierte technische Schnittstellen und Protokolle.70 Die Spannbreite der im Rahmen von Cloud Computing71 angebotenen Dienstleistungen erfasst weite Teile der Informationstechnik und beinhaltet unter anderem Infrastruktur (z. B. Rechenleistung, Speicherplatz – Infrastructure as a Service [IaaS]), Plattformen (Platform as a Service – PaaS) und Software (Software as a Service – SaaS). Beim Vorliegen des Tatbestandsmerkmals Ausfuhr/Verbringung72 können im Wesentlichen drei Fallgestaltungen unterschieden werden, unabhängig davon, um welches Servicemodell es sich handelt73: Fallgestaltung 1: Datenverlagerung/IaaS74 Bei IaaS werden IT-Ressourcen als Dienste angeboten. Ein Cloud-Nutzer kauft diese Services und baut darauf eigene Services zum internen oder externen Gebrauch auf. So kann ein Cloud-Nutzer z. B. Rechenleistung, Arbeitsspeicher und Datenspeicher anmieten. Technologie kann hierbei in eine Cloud in Deutschland oder einem Drittland ausgelagert werden, von Deutschland oder einem Drittland kann auf die Technologie in der Cloud zugegriffen werden. Fallgestaltung 2: SaaS75 Bei SaaS wird Software auf einem Server in Deutschland oder einem Drittland angeboten, die durch einen Nutzer/Anwender in Deutschland oder einem Drittland genutzt werden kann, um Ergebnisse in Deutschland oder einem Drittland zu erzielen (z. B. Kontaktdatenmanagement, Finanzbuchhaltung, Textverarbeitung, Kollaborationsanwendungen). Fallgestaltung 3: PaaS76 Hier wird Zugang zu einer Infrastruktur/Plattform in Deutschland oder einem Drittland zur Entwicklung von benutzerspezifischen Anwendungen bereitgehalten, die der 70 www.bsi.bund.de/DE/Themen/CloudComputing/Grundlagen/Grundlagen_node.html. 71 Im Rahmen der ausfuhrrechtlichen Behandlung können sog. Public Clouds den sog. Pri­ vate Clouds gleichgestellt werden, sofern sicherheitstechnisch Zugriffe der Nutzer untereinander ausgeschlossen werden können. 72 Bei Verbringungen sind insbesondere die Genehmigungspflichten bzgl. der Güter des Anhangs IV der EG Dual-Use-VO zu beachten. 73 So auch Krause im Exportmanager 2018: http://www.exportmanager-online.de/2016/­ ausgabe-72016/technologietransfer-in-der-exportkontrolle/. Siehe Merkblatt des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, „Technologietransfer und Non-Proliferation“ – Leitfaden für Industrie und Wirtschaft, Eschborn Juni 2016, S.16 ff. 74 Siehe zur Definition m.w.N. www.itwissen.info/definition/lexikon/IaaS-infrastructure-as-­ a-service-Infrastructure-as-a-Service.html; searchcloudcompting.techtarget.com/definition/­ Infrastructure-as-a-Service-IaaS. 75 Zur Definition siehe m.w.N. www.itwissen.info/definition/lexikon/software-as-a-serviceSaaS.html; www.searchenterprisesoftware.de/definition/Software-as-a-Service-SaaS. 76 Siehe zur Definition m.w.N. searchcloudcomputing.techtarget.com/definition/Platformas-a-Service-PaaS; www.itwissen.info/definition/lexikon/PaaS-platform-as-a-service-Plat​ form-as-a-Service.html.

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Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers

Nutzer/Anwender in Deutschland oder einem Drittland nutzen kann, um eigene Systeme auf dieser Plattform zu entwickeln. Der Nutzer/Anwender kann auf der Plattform eigene Anwendungen laufen lassen, für deren Entwicklung der Serviceprovider i. d. R. Werkzeuge anbietet. Da PaaS wie SaaS bewertet werden kann, wird auf die Ausführungen zu SaaS (Fallgestaltung 2) verwiesen. Ein Unterschied ergibt sich z. B. hinsichtlich der Ausführereigenschaft.77 Da der Anwender/Nutzer eine Plattform zur Verfügung gestellt bekommt, auf der er eigene Anwendungen erstellt, ist allein er als Ausführer verantwortlich. Bei der exportkontrollrechtlichen Bewertung der einzelnen Modelle können folgende Gemeinsamkeiten festgestellt werden 1. Sofern sich der Server mit gelisteter Technologie in Deutschland/in der EU be­ findet, stellt die Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten für eigene oder fremde Mitarbeiter aus einem Drittland eine Ausfuhr in Form des Bereitstellens dar. Die Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten innerhalb Deutschlands könnte eine technische Unterstützung darstellen. 2. Die physische Verlagerung eines Servers (mit gelisteter Technologie) sowie die Datenverlagerung von (gelisteter) Technologie durch elektronische Übertragung von einem Server in Deutschland auf einen Server in einem anderen EU-Mitgliedstaat stellt eine Verbringung dar. Im Zusammenhang mit der Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten aus einem Drittland liegt eine Ausfuhr in Form des Bereitstellens vor, sofern die Einräumung der Zugriffsmöglichkeiten aus Deutschland erfolgt. 3. Die physische Verlagerung eines Servers (mit gelisteter Technologie) sowie die Datenverlagerung von (gelisteter) Technologie durch elektronische Übertragung von einem Server in Deutschland auf einen Server in einem Drittland stellt eine Ausfuhr dar. Die Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten aus einem Land außerhalb der EU stellt eine Ausfuhr in Form des Bereitstellens dar, sofern die Einräumung der Zugriffsmöglichkeiten aus Deutschland auf aus zuvor aus Deutschland ausgelagerte Technologie erfolgt.

V. Bewertung des Technologietransfers nach derzeitigen ­US-­Regelungen78 Die amerikanische Regelung EAR §  734.15(b)79 deckt sich nach dem derzeitigen Stand nur zum Teil mit der deutschen Praxis von Technologieausfuhr in der Bereit77 Im Einzelfall zu prüfen wäre auch, wieweit bei Cloud Computing auch die Regelungen der technischen Unterstützung nach §§ 49 ff. AWV zum Tragen kommen. 78 Siehe zu Fallbespielen i. Z. m. Technologietransfer Hohmann in AW-Prax Service Guide 2017, S. 14 ff. und Hohmann in AW-Prax 10/2014, S. 298 ff. 79 Der Wortlaut von EAR §734.15(b) lautet wie folgt: „(b) Any act causing the ‚release‘ of ‚technology‘ or ‚software‘, through use of ‚access information‘ or otherwise, to yourself or another person requires an authorization to the same extent an authorization would be required to export or reexport such ‚technology‘ or ‚software‘.

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stellungsvariante und der technischen Unterstützung im Inland. Der wesentliche ­Unterschied besteht im systematischen Aufbau der Norm. Die Bereitstellung von Technologie oder Software wird nicht formal als Ausfuhr betrachtet, sondern als eigenständige genehmigungspflichtige Handlung, die der genehmigungspflichtigen Ausfuhr von Technologie/Software gleichgesetzt wird. Derjenige, der sich oder einem Ausländer (foreign person) Zugang zu kontrollierter Technologie oder Software verschafft, ist der Verantwortliche. Nach Systematik der US-Regelung liegt nur dann eine genehmigungspflichtige Bereitstellung vor, wenn der Verantwortliche den Zugang zu Daten dazu nutzt, die enthaltene sensitive Technologie sich oder einem Dritten preiszugeben. Obwohl der betreffende Absatz nur noch von „another person“ und nicht von „foreign person“ spricht, dürfte durch die Gleichsetzung mit der Ausfuhr nur eine Preisgabe an Ausländer im Inland oder im Ausland erfasst sein. Soweit der Verantwortliche ein Amerikaner ist, dürfte der „release“ nur dann genehmigungspflichtig sein, wenn er selbst im Ausland sitzt. Grund ist auch hier die Gleichsetzung mit der genehmigungspflichtigen Ausfuhr. Die US-Regelungen bzgl. des Verantwortlichen (Ausführer) scheinen insofern im Gegensatz zur deutschen Geschäftsherrentheorie etwas enger zu sein. Nach der Geschäftsherrentheorie ist jeder, der einer natürlichen oder juristischen Person im Ausland eine Zugriffsmöglichkeit auf Technologie oder Software auf einem Server verschafft, bereits Ausführer. In der Beschreibung der o. g. Vorschrift im Federal Register wird jedoch ausdrücklich nur Bezug auf Personen, die sich mittels Passwort oder Hack oder ähnlicher Handlung Zugang zu Daten auf dem entsprechenden Server verschaffen, Bezug genommen. Daher kann der Hackingangriff eine genehmigungspflichtige Handlung darstellen, soweit damit eine Preisgabe der Daten an den Hacker selbst oder Dritte verbunden ist.80 Die Wendung „through use of access information or otherwise“ ließe auch eine weite Interpretation entsprechend unserer Geschäftsherrentheorie zu. Die Formulierung des § 734.15(b) erscheint in systematischer Hinsicht nicht frei von Herausforderungen, da „any act causing the ‚release‘“ nur dann genehmigungspflichtig ist, soweit auch eine entsprechende Ausfuhr genehmigungspflichtig ist („to the same extent an authorization would be required to export or reexport …“). EAR 734.18(a)(5) formuliert nämlich eine grundsätzliche Ausnahme für die Übermittlung verschlüsselter Technologie/Software auf Server im Ausland vom Ausfuhrbegriff. Wenn bereits die Übertragung der verschlüsselten Technologie/Software keine Ausfuhr darstellt und damit nicht genehmigungspflichtig ist, kann auch der „release“ dieser Technologie/Software durch erlaubten oder unerlaubten Zugriff unter Beseitigung der Verschlüsselung nicht genehmigungspflichtig sein. Die USA versuchen, diese vermeintliche Regelungslücke durch die „Deemd-Export“ Regelungen aufzufangen, die es so in der EU nicht gibt. Insgesamt ist die Vorgehensweise in den US-Regelungen der deutschen außenwirtschaftsrechtlichen Systematik etwas fremd. Während die US-Regelungen explizit auch Fälle von unerlaubtem Zugriff auf Technologie/Software in den Ausfuhrkon­ 80 In der Regel wird jedoch kein Hacker im Vorhinein eine Genehmigung beantragen.

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Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers

trollvorschriften abdecken wollen, spielen Hackingangriffe im deutschen Ausfuhrkontrollsystem als solches bislang keine Rolle. Der Hacker begeht in der Regel bereits durch den unerlaubten Zugriff auf kontrollierte Technologie/Software eine Straftat. Sobald der Hacker diese Technologie/Software (natürlich ohne Genehmigung) ins Ausland transferiert oder für Personen im Ausland zugänglich macht oder im Inland gegenüber Ausländern zugänglich macht und Kenntnis über sensitive Verwendungszwecke hat, begeht er strafbare Verstöße gegen deutsches bzw. europäisches Ausfuhrkontrollrecht. Bezüglich Cloud Computing wurde in den US-Regelungen eine Bereichsausnahme für das Ablegen verschlüsselter Technologie/Software auf einem Server vom Exportbegriff geschaffen. Bei der Verschlüsselung muss es sich um eine End-to-End-Verschlüsselung nach einem bestimmten Standard handeln. Die Weitergabe des Passworts bzw. der Zugriff auf diese abgelegte Technologie/Software sei hingegen ein Export. Das Abspeichern verschlüsselter Technologie/Software auf einem Server in eines der von den US sanktionierten Staaten einschließlich Russland sei hingegen ein Export. Grund sei, dass es erheblich einfacher sei, einen Server zu hacken, der sich im betreffenden Land vor Ort befinde. Die Weitergabe des Passworts bzw. der Zugriff auf auf einem Server abgelegte Daten ist ein Export, das Abspeichern verschlüsselter Technologie/Software auf Servern im Ausland (außer Embargoländern) hingegen kein Export. Die US-Regelungen gehen davon aus, dass der Zugriff auf zuvor im Ausland verschlüsselt abgespeicherte Daten genehmigungspflichtig ist. Die Formulierung in § 734.15 (b) „Any act causing the ‚release‘ of ‚technology‘ or ‚software‘ through use of ‚access information‘ or otherwise, to yourself or another person requires an authorization to the same extent an authorization would be required to export or reexport such ‚technology‘ or ‚software‘ to that person“ müsste insofern sehr weit ausgelegt werden und entsprechend der Definition des Exports in § 734.13 (1) als „transmission“ angesehen werden. Allerdings taucht das Wort „release“ in § 734.13 (2) in Verbindung mit der Weitergabe von Technologie/Software an Ausländer in den USA auf, sodass definitorisch zwischen „transmission“ und „release“ eigentlich ein Unterschied gemacht werden müsste. Eine explizite Genehmigungspflicht des „release“ ist in § 734.13(a)(2) geregelt, bzgl. Cloud Computing in § 734.15(b). In § 734.13(a)(2) heißt es: „Releasing or otherwise transferring ‚technology‘ or source code (but not object code) to a foreign person in the United States (a ‚deemed export‘)“. § 734.13(a)(2) kann so gelesen werden, dass sich beide Tatbestandsalternativen „releasing“ und „otherwise transferring“ auf inneramerikanische Transfers beziehen. Nur dann, wenn das Wort „releasing“ und die Alternative nach dem „or“ ausschließende und keine einschließende Tatbestandsalternativen bilden, könnte man sagen, dass die Schaffung einer Zugriffsmöglichkeit auf im In- oder Ausland gespeicherte (verschlüsselte) Daten für Personen im Ausland stets genehmigungspflichtig ist, da sich „release“ dann nicht ausdrücklich auf „transfers“ in den USA beziehen würde. Die Verwendung des Wortes „otherwise“ nach dem „or“ spricht doch für eine einschließende Tatbestandsalternative. Beim Cloud Computing bleibt es somit bei der einschlägigen Vorschrift § 734.15(b) mit den beschriebenen Inkonsistenzen zu § 734.18(5), der die Bereichsausnahme für 155

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das Ablegen verschlüsselter Daten im Ausland formuliert. Letztendlich ist nach den US-Regelungen jede Weitergabe von Passwörtern und Zugriffe auf verschlüsselte und der Exportkontrolle unterliegende Daten in Clouds zu kontrollieren. Im Übrigen legt die Benutzung der Anführungszeichen bei „access information“ in § 734.15(b) nahe, dass es wie auch bei den übrigen Begriffen mit Anführungszeichen eine weitere Definition an anderer Stelle der EAR geben könnte. Es bleibt abzuwarten, wie die US-Praxis bzgl. der Genehmigungserteilung für die reine Passwort-Weitergabe erfolgen wird. Nach deutschem Rechtsverständnis erscheint es fraglich, dass die Weitergabe eines Passworts z. B. in mündlicher Form im Inland oder Ausland strafrechtlich (auch nach dem Bestimmtheitsgebot einer Norm) unter den Begriff „Ausfuhr“ zu subsumieren ist. Auch ist unklar, wie bei einem Auseinanderfallen von Technologie einstellender Person in eine Cloud oder einem Technologieübertragenden und einer anderen Person, die das Passwort weitergibt, eine Haftung für Verstöße zugeordnet werden kann.

VI. Fazit Die Diskussion um die Kontrolle des Technologietransfers läuft zum einen sehr oft mit der Gefahr von Missverständnissen einher, da für eine korrekte rechtliche Bewertung der jeweilige Lebenssachverhalt selten ausreichend klargestellt ist. Fachtechnische IT-Experten und Juristen aufseiten der Unternehmen, aber auch der Regierungsstellen müssen gemeinsam verstehen, was die jeweiligen Definitionen umfassen. Nur wenn klar ist, was vom Begriff „Grundlagenforschung“ oder „allgemein zugänglich“ erfasst und was nicht erfasst ist, kann den ständigen technologischen Veränderungen auch in der Exportkontrolle Rechnung getragen werden. Eine sehr enge Einzelfallauslegung, um je nach Technologie dem einzelstaatlichen Kontrollinteresse gerecht zu werden, wird wohl kaum dem ständig wachsenden Technologietransfer für zivile Zwecke gerecht werden. Wenn man z. B. beim Cloud Computing die Geschäftsmodelle inkl. der technischen Implikationen nicht versteht, kann man Sicherheitsfragen nicht durch Kontrollansätze gerecht werden. Zum anderen müssen auch „pre-transfer-strategies“ z. B. zur Verbesserung der Aware­ ness und zu Erfassungsfragen ausgebaut werden. Hierzu können Einbeziehungen von „codes-of-conduct“ oder Selbstverpflichtungen zählen, aber auch die Anerkenntnis, dass bei einem Wissenschaftstransfer die Wissenschaftler selbst ein Teil der Lösung sein müssen. Hierzu zählt aber auch nicht zuletzt die Frage, wie der Transfer selbst wirklich von Kontrollstellen erfasst und von wem wie überwacht werden kann, nicht nur durch „self auditing“ der Beteiligten. Die Praktiker werden immer auch anstreben, einen Gleichlauf zur Bewertung des körperlichen Technologietransfers zum unverkörperten Transfer aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt, um das System noch für außenstehende Dritte, aber auch die Rechtsunterworfenen verständlich und plausibel zu erhalten. Neue rechtliche Modelle, den Technologietransfer neu zu definieren und/oder nicht mehr an die Ausfuhr, sondern an den Grad der Verschlüsslung anzusetzen, bis hin zur 156

Entwicklungen in der Kontrolle des Technologietransfers

Verlagerung der Fokussierung auf die Passwort-Weitergabe als tatbestandsrelevante Frage lassen noch viele verwaltungs- und strafrechtliche Fragen unbeantwortet. Dies sollte man nicht unbeachtet lassen, wenn man in Deutschland bzw. der EU und auch in den USA in den nächsten Jahren zu einer Weiterentwicklung der Regelungen für den Technologietransfer kommen will. Letztlich bleibt es im Zusammenhang mit dem sich in jeder Hinsicht schnellebig weiterentwickelnden Bereich des Cloud Computing sehr fraglich, ob auf diesen Wandel durch eine Anknüpfung durch gesetzliche Definitionen reagiert werden kann, die per se eine gewisse „Haltbarkeit und Verlässlichkeit“ ausweisen sollten, oder nicht vielmehr flexible Mechanismen im Genehmigungsverfahren der Entwicklung gerecht werden sollten.

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Achim Rogmann

Viel Gezeter um CETA Das Abkommen zwischen Kanada und der EU im Tauziehen zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten Inhaltsübersicht

I. CETA: Wirtschaftliche Vorteile und Vorbehalte

II. Entstehung des CETA III. CETA als gemischtes Abkommen? 1. Europarechtliche Grundlagen für die Kompetenzzuordnung 2. Rechtsfindung auf europäischer und nationaler Ebene 3. Kompetenzzuordnung und -wahr­ nehmung IV. Investitionsschutz als Kernkritikpunkt der CETA-Gegner 1. Ursprünglich geplante Regelung 2. Die Schaffung einer CETA-Investitions­ gerichtsbarkeit



a) Das Investitionsgericht im inter­ nationalen Kontext b) Organisation und Besetzung des Gerichts c) Verfahrensmäßige Garantien 3. Kritik an den CETA-Regelungen zur Streitbeilegung V. Zollbezogene Regelungen 1. Zollabbau und Marktzugang 2. Ursprungsregeln und Ursprungs­ bestimmungen 3. Datenschutz

VI. Auswirkungen des Brexits VII. Fazit und Ausblick

I. CETA: Wirtschaftliche Vorteile und Vorbehalte Das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) zwischen der EU und Kanada1 ist das erste Wirtschaftsabkommen der EU mit einem westlichen Industriestaat. Für Kanada stellt es den wichtigsten Handelsdeal seit Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA im Jahre 1994 dar. Das angekündigte Ziel der Übereinkunft ist die Erhöhung der Handelsströme von Waren, Dienstleistungen und Investitionen zum Vorteil beider Vertragsparteien. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission dürfte das bilaterale Handelsvolumen mit der Umsetzung des Abkommens bei Waren und Dienstleistungen um nicht weniger als 22,9 % (d.h. 25,7 Mrd. Euro) steigen.2 Kanadas Exportgewinne sollen in erster Linie aus der Abschaffung der Einfuhrzölle in der EU stammen. Für die EU scheint dagegen der Abbau der Barrieren im Handel mit Dienstleistungen wichtiger zu sein.3 1 ABl. EU 2017 Nr. L 11/23. 2 Europäische Kommission, MEMO/13/911 v. 18.10.2013. 3 European Parliamentary Research Service, EU-Canada Comprehensive Economic and Trade Agreement, Briefing 01/2016, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/RegData/­ etudes/BRIE/2016/573929/EPRS_BRI(2016)573929_EN.pdf (29.9.2017), S. 2.

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Achim Rogmann

Mit der CETA-Umsetzung wird ein Zollabbau von über 500 Mio. Euro erwartet.4 Fast 99 Prozent des bilateralen Warenverkehrs sollen zollfrei abgewickelt werden können.5 Die meisten Zölle fielen bereits zum (vorläufigen) Inkrafttreten weg; andere Zölle werden im Laufe von sieben Jahren schrittweise abgebaut.6 Da es sich bei CETA um ein Freihandelsabkommen i.S.v. Art. XXIV Abs.  8 Buchst b) GATT 1994 handelt, greift der wechselseitige Zollabbau allerdings nur für Ursprungswaren.7 In langfristiger Perspektive werden ein Wohlstandszuwachs, Wachstum des BIP und der Exporte in der EU sowie in Kanada prognostiziert.8 Für Deutschland steht Kanada auf der Liste der Handelspartner außerhalb der EU an 15. Stelle, nimmt aber beim Handel mit Dienstleistungen bereits den fünften Platz ein.9 Bislang exportieren bereits über 10.000 deutsche Unternehmen nach Kanada, davon 73 % kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Das Gemeinsame Auslegungsinstrument zum CETA10 widmet sich in seiner Nr. 13 den Vorteilen für die KMU, denen insbesondere für die deutsche Wirtschaft eine zentrale Bedeutung zukommt. Danach ist für diese insbesondere der durch die Verbraucher verursachte Kostendruck eine kontinuierliche Herausforderung. Als Vorteile des CETA in Bezug auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr werden hier insbesondere die künftig zollfreie Ausfuhr von Waren, kürzere Abfertigungszeiten an der Grenze sowie billigere, schnellere, vorhersehbarere und effizientere Warenlieferungen genannt. Auch die Senkung von Regulierungshürden käme dem Warenaustausch und insbesondere den KMU zugute. CETA könnte somit “a boost for jobs and exports in Germany” werden.11 CETA ist aber nicht nur für den Warenhandel ein bedeutsames Abkommen. Für die Bereiche Dienstleistungen und Investitionen ist es mit Abstand das weitreichendste Abkommen, das die EU bislang geschlossen hat.12 Überwiegend könnten europäische Investoren in Kanada von den Regelungen profitieren, da die kanadische Investment­ 4 Europäische Kommission, MEMO/17/271 v. 15.2.2017. 5 S. z.B. Hallmann, Freihandel mit Südkorea und Kanada: Nicht-förmliche Ursprungsnachweise und alternative Listenbedingungen  – mehr Risiko als Präferenz?, AW-Prax 2016, 129; s. auch (bezgl. Auswirkungen für bestimmte Wirtschaftssektoren) Kiselbach, The Canada - EU Free Trade Agreement Demystified: New Opportunities for Trade, Investment and Government Procurement, GTCJ 2014, 52 (54 f.). 6 S. dazu Kapitel V.1. 7 S. dazu Kapitel V.2. 8 Europäische Kommission, European Commission services’ position paper on the trade sustainability impact assessment of a Comprehensive Economic & Trade Agreement between the EU and Canada, v. 4.4.2017, S. 4, abrufbar unter: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/​ 2017/april/tradoc_155471.pdf (29.9.2017) 9 S.  Europäische Kommission (Trade), Factsheet Germany, abrufbar unter: http://trade.ec.​ ­europa.eu/doclib/docs/2017/february/tradoc_155345.pdf (29.9.2017). 10 Gemeinsames Auslegungsinstrument zum umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) zwischen Kanada und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, ABl. EU 2017 Nr. L 11/3, Kapitel III.2. 11 Europäische Kommission, Infographic Germany, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/trade/ policy/in-focus/ceta/ceta-in-your-town/germany_en.htm (8.2.2018). 12 Europäische Kommission, MEMO/17/271 v. 15.2.2017.

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Viel Gezeter um CETA

aktivitäten auf dem EU-Markt eher begrenzt sind.13 Unternehmen in der EU sind auf dem kanadischen Markt momentan im Vergleich zu den US-Konkurrenten benachteiligt, da diese umfangreiche Vorteile aus den NAFTA-Regularien ziehen können. Durch CETA erhalten Exporteure in Kanada jedoch einen merklichen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Konkurrenten in den USA. Der einem Freihandelsabkommen immanente „Trade-diversion-Effekt“14 kann sich insbesondere hier auswirken. Schon die unterschiedliche wirtschaftliche Größe und Struktur der beiden Vertragsparteien verdeutlicht, dass das CETA nicht automatisch eine Win-win-Situation generiert oder dass beide Seiten in gleichem Maße vom Vertragsschluss profitieren werden: derzeit ca. 500 Millionen Verbrauchern auf der europäischen Seite stehen lediglich knapp 37 Millionen Verbraucher auf der anderen Seite des Atlantiks gegenüber. Gleichwohl wird erwartet, dass Ausführer in der EU das Dreifache an jährlicher Zollbelastung gegenüber Exporteuren in Kanada sparen.15 Den vielfältigen positiven Verlautbarungen zu den Segnungen von CETA zum Trotz, stieß das Abkommen in der Öffentlichkeit aus unterschiedlichsten Gründen auf eine ablehnende Haltung. Ein maßgeblicher Grund dafür war, dass CETA – durchaus zutreffend – als Blaupause für die parallel mit den Vereinigten Staaten verhandelte Trans­ atlantische Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP gesehen wurde. Auch wenn viele Kanada nicht als ernsthafte Bedrohung für Europäer ansahen, galt es doch, die Schaffung von Standards bereits bei CETA zu blockieren. Es ist schon bezeichnend, wenn sich etwa die IG Bau – die auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte zum transatlantischen Handel aufweist16 – der vielstimmigen Forderung anschloss, CETA (und natürlich TTIP) zu stoppen.17 Der zentrale Aspekt der öffentlichen Ablehnung von CETA war zunächst die nicht vorhandene Transparenz in den Verhandlungen.18 Einzelne Bestimmungen, die dann doch die Öffentlichkeit erreichten, wie die Schaffung eines unternehmensfreund­ lichen Streitschlichtungsverfahrens durch Schiedsgerichte und die Angleichung von Umwelt- und Verbraucherstandards, haben zu einer breiten Empörungswelle in der gesamten EU geführt. Kritisiert wird allgemein, dass CETA vor allem mächtigen wirtschaftlichen Interessengruppen diene und somit das Ungleichgewicht zwischen Gemeinwohl- und Wirtschaftsinteressen festschreibe. Es würden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit untergraben und der Wert des Freihandels über die Werte ökolo13 Wolffgang, CETA ist fast da, AW-Prax 10/2014, 291. 14 Zur insoweit vergleichbaren Zollunion Viner, The Customs Union Issue, 1950, S. 41 ff.; generell WTO, World Trade Report 2011, S. 100 f. 15 Kiselbach (Fn. 5), GTCJ 2014, 52. 16 Im vollständigen Namen trägt die Gewerkschaft neben „Bauen“ aber auch die Begriffe „­Agrar“ und „Umwelt“, für die internationale Standards eine große Bedeutung erlangen können; s. auch die Zuständigkeitsbereiche der IG Bau nach § 2 Nr. 1 ihrer Satzung. 17 Vgl. den Aufruf über: https://www.igbau.de/CETA_und_TTIP_stoppen.html (8.2.2018). 18 Mayer/Ermes, Rechtsfragen zu den EU-Freihandelsabkommen CETA und TTIP, ZRP 2014, 237 (240); Petersmann, Transformative Transatlantic Free Trade Agreements without Rights and Remedies of Citizens?, JIEL 2015, 579 (589 ff.).

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gischer und sozialer Regeln gestellt.19 Entsprechend groß war der Druck in einigen EU-Mitgliedstaaten, CETA zu verhindern und damit die Euphorie für das Abkommen zwischen EU und Kanada zu dämpfen. Außerdem mussten, aufgrund der unklaren EU-rechtlichen Lage, die Souveränitätsansprüche der Mitgliedstaaten gewahrt werden. Letztendlich wurde ein Ansatz gewählt, mit dem die Legitimation der EU im Hinblick auf Verhandlung und Abschluss von Freihandelsabkommen wie dem CETA konkretisiert wird, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

II. Entstehung des CETA Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada starteten im Mai 2009 und wurden im September 2014 für abgeschlossen erklärt. Am 30. Oktober 2016 haben die EU und Kanada das Abkommen unterzeichnet, nachdem dies zuvor durch die Vertreter der EU-Mitgliedstaaten geschehen war.20 Die Zustimmung durch das Europäische Parlament erfolgte am 15. Februar 2017.21 Dieser Schritt ist rechtlich gesehen nicht erforderlich, da der erforderliche Beschluss im Rat ohne Zustimmung des Parlaments erfolgt (Art. 218 Abs. 5 AEUV) und das Parlament lediglich angehört wird (Art. 218 Abs. 10 AEUV). Eine gleichwohl eingeholte Zustimmung des Europäischen Parlaments wird aber in der Praxis als zusätzliche demokratische Legitimation angesehen. Im Anschluss an die Beschlussfassung der Europäischen Organe muss das CETA-Abkommen durch alle Nationalparlamente der EU-Mitgliedstaaten, ggf. auch durch regionale Parlamente oder nach einem Volksentscheid, rati­fiziert werden, soweit es sich um ein gemischtes Abkommen handelt. Die Frage ­nach dem Charakter des Abkommens gehörte mit zu den am meisten umstrittenen und wurde eher politisch motiviert dahingehend beantwortet, dass CETA auch den nationalen Parlamenten zur Zu­ stimmung vorgelegt werden sollte.22 Nachdem das lettische Parlament dem CETA-­ Abkommen als erstes Parlament zugestimmt hat23, läuft der Ratifikationsprozess in relativ langsamen Bahnen. Bis Februar 2018 hatten sieben weitere EU-Mitgliedstaaten CETA ratifiziert (Dänemark, Kroatien, Malta, Spanien, Tschechien, Estland und Portugal). Zu der Frage, ob das Vereinigte Königreich CETA in Anbetracht des Austrittsverfahrens noch ratifizieren muss, darf auf die entsprechenden Ausführungen am Ende dieses Beitrags (Kapitel VI.) verwiesen werden.

19 S. das Statement von attac, abrufbar unter: http://www.attac.de/kampagnen/freihandelsfalle-­ ttip/hintergrund/ceta/ (8.2.2018). 20 Beschluss (EU) 2017/38 des Rates vom 28.10.2016 über die vorläufige Anwendung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits, ABl. EU 2017 Nr.  L 11/1080, Erwägungsgrund Nr. 2. 21 Europäische Kommission, Europäische Kommission begrüßt die Zustimmung des Parlaments zum Handelsabkommen, Pressemitteilung v. 15.2.2017, IP/17/270. 22 S. dazu Kapitel III. 1. 23 Latvia Becomes First EU Member State to Approve CETA, Bridges 7/2017.

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Viel Gezeter um CETA

Vor dem Abschluss der Ratifizierungsverfahren besteht die Möglichkeit das Abkommen vorläufig anzuwenden. Gemäß Art. 30.7 Abs.  3 Buchst. a) CETA beginnt die vorläufige Anwendung des Abkommens ab dem ersten Tag des Monats nach dem Tag, an dem die Vertragsparteien einander notifiziert haben, dass ihren jeweiligen internen Anforderungen und Verfahren Genüge getan ist, die zur vorläufigen Anwendung dieses Abkommens erforderlich sind, oder zu einem anderen von den Vertragsparteien zu vereinbarenden Zeitpunkt. Am 28. Oktober 2016 wurde der Beschluss des Rates der Europäischen Union über die vorläufige Anwendung des CETA erlassen24. Nach der oben erwähnten Zustimmung des Europäischen Parlaments im Februar 2017 war damit der Weg für die vorläufige Anwendung in der EU frei. Auf kanadischer Seite wurde das CETA-Ratifizierungsverfahren am 17.5.2017 erfolgreich abgeschlossen.25 Da sich auf kanadischer Seite die Frage nach einer Kompetenzverteilung nicht stellt, wäre damit von dort aus der Weg frei für eine vollständige Anwendung von CETA. Diese scheitert nun aber an Eigenheiten auf europäischer Seite. Am Rande des G20-Gipfels in Hamburg Anfang Juli 2017 wurde zwischen Vertretern der EU und Kanadas vereinbart, dass der 21.9.2017 als Datum für den Beginn der vorläufigen Anwendung des CETA dienen wird.26 Auf Basis von Art. 1 Abs.  3 des Beschlusses (EU) 2017/38 des Rates wurde der Tag des Beginns der vorläufigen Anwendung dann auch am 16.9.2017 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.27

III. CETA als gemischtes Abkommen? Von grundlegender Bedeutung für das CETA ist die Frage, ob es sich bei diesem Abkommen um ein sog. „gemischtes Abkommen“ handelt. Ein solches Abkommen liegt vor, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten einen völkerrechtlichen Vertrag gemeinsam unterzeichnen und abschließen müssen.28 Dies ist zurückzuführen auf einzelne Bestimmungen des Vertrages, die nicht in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der EU fallen. Es liegt somit keine alleinige Vertragsschlusskompetenz der EU vor.29 Der Abschluss seitens der Union erfolgt im Rahmen des Art. 218 AEUV. Verhandlungen werden mit einer gemeinsamen Delegation aus Mitgliedstaaten und Unionsvertretern oder zwei getrennten Delegationen aufgenommen, wobei die erste Möglichkeit verstärkt in der Praxis angewandt wird. Sowohl Union als auch Mitglied-

24 Beschluss (EU) 2017/38 des Rates (Fn. 20). 25 Canadian Senate Approves CETA Implementation Bill, Bridges 17/2017. S. für einen Überblick zum Ratifizierungsverfahren in Kanada: Kiselbach (Fn. 5), GTCJ 2014, 52 (53). 26 Gemeinsame Erklärung des Präsidenten der Europäischen Kommission und des Premierministers Kanadas über die Festlegung eines Datums für die vorläufige Anwendung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens v. 8.7.2017, STATEMENT/17/1959. 27 Mitteilung über die vorläufige Anwendung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits, ABl. EU 2017 Nr. L 238/9. 28 EuGH v. 16.5.2017 – Gutachten 2/15, ECLI:EU:C:2017:376, Rz. 29. 29 Weiß in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 61. EL 2017, Art. 207 AEUV Rz. 91.

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staaten sind zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet.30 Im Entwicklungsprozess des CETA stand die Anwendung und auch Umsetzung dieses Verfahrens im Diskurs, wie nachfolgend dargelegt wird. 1. Europarechtliche Grundlagen für die Kompetenzzuordnung Rechtlich gesehen ist die vorläufige Anwendung nur für die CETA-Vorschriften, die unter der Unionskompetenz fallen, möglich (Art. 30.7 CETA sowie Erwägungsgrund 4 des Beschlusses (EU) 2017/38). Handelt es sich bei CETA aber um ein Abkommen, das vollständig in die EU-Kompetenz fällt, besteht kein Raum für eine vorläufige Anwendbarkeit. Da der Ausgang der nationalen Ratifikationsverfahren in den verbliebenen 20 (bzw. 19, ohne das Vereinigte Königreich) EU-Mitgliedstaaten, die CETA noch ratifizieren müssen, ungewiss ist gehört es zu den möglichen Szenarien, dass CETA niemals vollständig anwendbar werden und auch die Geltung des EU-Teils in Gefahr geraten könnte. Aus diesen Gründen ist es erforderlich, der Frage nach der Reichweite der Unionskompetenz bei dem Abschluss von Handelsabkommen nachzugehen. Genau diese Frage gehörte dann auch mit zu den umstrittensten Aspekten im Rahmen der CETA-Verhandlungen. Wenn das Abkommen ein gemischtes ist bedarf es dennoch in seiner Gesamtheit einer Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten auch wenn die nicht ausschließliche Zuständigkeit der EU nur für einzelne Bestimmungen besteht.31 Aus diesem Grund besteht bei den Mitgliedstaaten die Neigung, internationale Abkommen durch die Aufnahme von gemischten Bestandteilen „zu vergiften“ um sich auf diese Weise ein verstärktes Mitspracherecht zu verschaffen. Wenig überraschend ist, dass auch die Frage der Verteilung der Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten und ihre Auswirkungen auf das CETA-Abschlussverfahren in der Literatur kontrovers diskutiert wird32. Die Zuständigkeit für die gemeinsame Handelspolitik liegt im ausschließlichen Kompetenzbereich der EU (Art. 3 Abs. 1 Buchst. e) AEUV). Der Bereich der gemeinsamen Handelspolitik wurde im Jahre 2009 durch den Vertrag von Lissabon auf ausländische Direktinvestitionen, Handel mit Dienstleistungen und Handelsaspekte des geistigen Eigentums erweitert (Art. 207 Abs. 1 AEUV). Seitdem sind noch nicht alle rechtli-

30 Schmalenbach in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. EL 2016, Art. 218 AEUV Rz. 33. 31 EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-13/07, ECLI:EU:C:2009:190 – Schlussanträge GA Kokott Kommission/Rat (Vietnam), Rz. 121. 32 S. z.B. Mayer, Stellt das geplante Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) ein gemischtes Abkommen dar?, Rechtsgutachten für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie v. 28.8.2014; Bäumler, Vom Vertragstext zum Inkrafttreten: Das Vertragsschlussverfahren im Mehrebenensystem am Beispiel CETA, EuR 2016, 607; Schiffbauer, Mehrheitserfordernisse für Abstimmungen im Rat über TTIP, CETA & Co., EuZW 2016, 252; Mayr, „Mixed“ oder „EU-only“ – Sind die Investitionsschutzbestimmungen im CETA von der Außenhandelskompetenz der EU „gedeckt“?, EuR 2015, 575.

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chen Fragen der Kompetenzerweiterung vollständig geklärt.33 Nach dem Wortlaut des Art. 207 Abs. 6 AEUV entfalten die im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik übertragenen Kompetenzen keine Auswirkungen auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten i.S.d. Art. 2 ff. AEUV. Umstritten ist insbesondere die Zuordnung der Investitionsschutzregelungen, die auch das CETA prägen. Das internationale Investitionsschutzrecht unterscheidet zwischen der Zulassung von ausländischen Investitionen und deren Behandlung nach erfolgter Zulassung. Art. 207 Abs. 1 AEUV betrifft nur die Behandlung bereits zu­ gelassener Investitionen. Der enge Begriff von ausländischen Direktinvestitionen in Art. 207 Abs. 1 AEUV (Wortlautargument und Praxis) deutet darauf hin, dass nur ein gemischtes Abkommen der EU mit einem Drittstaat zum Investitionsschutz unionsrechtlich zulässig wäre.34 In der Vergangenheit wurden von der Kommission überwiegend Assoziierungsabkommen als gemischte Abkommen eingestuft, während Freihandelsabkommen i.d.R. als in die ausschließliche Zuständigkeit der EU im Rahmen des Art. 207 AEUV fallend angesehen wurden.35 Grund dafür ist, dass ein Assoziierungsabkommen besondere und privilegierte Beziehungen mit einem Drittstaat begründet, innerhalb derer der Drittstaat zumindest teilweise am Gemeinschaftssystem teilhaben muss.36 Damit haben Assoziierungsabkommen einen erheblich größeren Tiefgang als reine Freihandelsabkommen. 2. Rechtsfindung auf europäischer und nationaler Ebene Im Fall des CETA ging die Kommission somit zunächst ausdrücklich von einer ausschließlichen Zuständigkeit der EU aus.37 Nach Ansicht mehrerer Mitgliedstaaten im Rat stellten hingegen einzelne in CETA enthaltene Bereiche Regelungen im Rahmen der gemischten Zuständigkeit dar.38 Die Kommission hat ihre Auffassung aber nicht geändert und im Juli 2015 beim EuGH einen Gutachtenantrag betreffend des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Singapur (EUSFTA) gemäß Art. 218 Abs. 11 33 S.  Larik, No mixed feelings: The post-Lisbon Common Commercial Policy in Daiichi Sankyo and Commission v. Council (Conditional Access Convention), C.M.L.R. 2015, 779 (800). Im Hinblick auf geistiges Eigentum s. Tanghe, The Borders of EU Competences with Regard to the International Regulation of Intellectual Property Rights: Constructing a Dam to Resist a River Bursting Its Banks, UJIEL 27 2016, S. 27 ff. 34 Tietje in Pache/Schorkopf (Hrsg.), Die Gemeinsame Handelspolitik der EU im System des Welthandelsrechts. Ein Spannungsverhältnis zwischen fortschreitender Liberalisierung und zunehmenden Protektionismus, 2009, S. 33 (49 f.). 35 Schmalenbach in Calliess/Ruffert (Fn. 30), Art. 217 AEUV Rz. 15; Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 3. 36 S. dazu Booß in Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 6. Aufl. 2012, Art. 217 AEUV Rz. 1, 8. 37 Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 5.7.2016, IP/16/2371; s. dazu auch Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 13. 38 Beschluss des Rates, KOM(2016)443 endg. v. 5.7.2016, Ratsdok.-Nr. 10970/16, unter Ziff. 2. der Begründung.

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AEUV eingereicht.39 Ein solcher Antrag auf Gutachten kann sich sowohl auf die Vereinbarkeit der geplanten Übereinkunft mit den Verträgen als auch auf die Zuständigkeit der Union oder eines ihrer Organe für den Abschluss der Übereinkunft beziehen. Im Fall des EUSFTA wurde im Antrag auf Gutachten alleine die Frage aufgeworfen, ob dieses Abkommen von der Union allein oder sowohl von der Union als auch jedem ihrer Mitgliedstaaten unterzeichnet und geschlossen werden muss (und damit ein gemischtes Abkommen darstellt).40 Die Kommission stellt dazu im Gutachtenantrag insbesondere die Frage, welche Bestimmungen des Abkommens in die ausschließliche Zuständigkeit der EU und welche in die geteilte Zuständigkeit fallen. Zudem möchte die Kommission wissen, ob es im EUSFTA Bestimmungen gibt, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Im Gutachtenverfahren verteidigte die Kommission ihre Rechtsauffassung, dass es sich beim EUSFTA um ein Abkommen handele, dass in die ausschließliche Kompetenz der EU falle.41 CETA und das EUSFTA sind inhaltlich nicht identisch und es ist somit fraglich, ob eine pauschale Übertragung aller Erkenntnisse im Gutachtenverfahren 2/15 auf das CETA-Abkommen möglich ist. Allerdings wurden generell wichtige Aussagen zur Reichweite der EU-Kompetenz im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik erwartet. Ohne jedoch das EuGH-Gutachten abzuwarten, kündigte die Kommission im Juni 2016 ihr Vorhaben an, das CETA-Vertragsschlussverfahren nach den Vorschriften über die ausschließliche EU-Kompetenz zu initiieren.42 Dieser Schritt löste jedoch erwartungsgemäß heftigen Widerstand unter den Mitgliedstaaten aus, zumal er wenige Tage nach dem Brexit-Referendum kommuniziert wurde, dessen Ausgang die EU in eine große Glaubhaftigkeitskrise gestürzt hatte. Die politischen Überlegungen der Mitgliedstaaten fokussierten sich auf die Erhöhung der Akzeptanz des Abkommens durch die nationale Abstimmung um auf diese Weise auch den Vorwürfen einer mangelnden demokratischen Legitimation beim Entstehungsprozess von CETA zu begegnen.43 Es gab aber auch inhaltliche Gründe. Bulgarien und Rumänien beharrten auf einem Mit­entscheidungsrecht über das Abkommen wegen der Unnachgiebigkeit auf kanadischer Seite in Bezug auf ihre Forderung, auch für die Bürger ihrer Staaten ein visafreies Einreiseregime einzuführen. Um eine schnelle Unterzeichnung des Abkommens zu ermöglichen, änderte die Kommission im Juli 2016 ihre Rechtsauffassung und stufte CETA als gemischt ein.44 Die Beschlussvorlage zur vorläufigen Anwendung, die die Kommission an den Rat unterbreitet hat, enthielt jedoch keine Bereiche, die aus der EU-ausschließlichen 39 Bekanntmachung Gutachtenverfahren vor dem EuGH 2/15, ABl. EU 2015 Nr. C 363/22. 40 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28), Gutachten 2/15, Rz. 28-31. 41 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28), Gutachten 2/15, Rz. 12. 42 S.  Europäische Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits, COM (2016) 470 final 2016/0220 (NLE) v. 5.7.2016, unter 2. der Begründung; s. auch den Beitrag unter https://www.tagesschau.de/wirtschaft/ceta-eu-105.html (29.9.2017) sowie FAZ v. 11.6.2016. 43 Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 25. 44 Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 5.7.2016, IP/16/2371.

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Kompetenz ausgeklammert waren.45 Somit musste der Rat noch die entsprechenden Bereiche definieren. Allerdings war ein Kompromiss im Rat bezüglich des CETA nicht sofort möglich. Die belgische Region Wallonien hatte sich nämlich gegen CETA gestellt.46 Die Durchsetzung des Beschlusses über die vorläufige Anwendung und die Unterzeichnung des CETA bis Ende Oktober 2016 wurde erst kurzfristig ermöglicht, indem alle EU-Mitgliedstaaten und föderalen Einheiten, die nach dem nationalen Recht außenpolitische Kompetenzen haben, eine Stellungnahme zur CETA-Handhabung abgegeben und die Verhandlungspartner beim CETA-Text noch nachgebessert hatten.47 Diese 38 State­ ments inklusive das Intra-Belgien-Statements sind aber weder verbindliche Auslegungsinstrumente für CETA noch bindende Rechtsakte der EU. Die wichtigsten Anforderungen auf belgischer Seite betrafen eine Revision der ­CETA-Vorschriften über Investitionsgerichte, u.a. mit Verbesserung der Wahlkriterien für Schiedsrichter und des Ethikkodex, sowie die Möglichkeit für die Aktivierung einer Schutzklausel im Falle eines Marktungleichgewichts als Ergebnis der Anwendung des CETA.48 Die belgischen regionalen Parlamente drohten damit, dem Nationalparlament laut der entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorschrift ihre Zustimmung zur Ratifizierung zu verweigern. Darüber hinaus wollte Belgien ebenfalls ein Gutachtenverfahren vor dem EuGH gemäß Art. 218 Abs. 11 AEUV einleiten, um die Vereinbarkeit der Investor-Staat-Streitbeilegung des CETA mit dem EU-Recht überprüfen zu lassen.49 Um den Kompromiss zum CETA zu ermöglichen, haben die Vertragsparteien parallel mit der Unterzeichnung des Abkommens das Gemeinsame CETA-Auslegungsinstrument (Joint Interpretative Instrument) unterzeichnet.50 Mit dem Auslegungsinstrument soll i.S.v. Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht werden, worauf sich Kanada und die EU und ihre Mitgliedstaaten 45 Kommissionsvorschlag für einen Beschluss des Rates, COM(2016) 470 final 2016/0220 (NLE) endg. v. 5.7.2016, Abschnitt 2. 46 Laird/Petillion, Comprehensive Economic and Trade Agreement, ISDS and the Belgian Veto: A Warning of Failure for Future Trade Agreements with the EU?, GTCJ 2017 167 (171). 47 Van der Loo, CETA’s Signature: 38 Statements, a Joint Interpretative Instrument and an Uncertain Future, CEPS Commentary, v. 31.10.2016, S. 2 ff., abrufbar unter: https://www. ceps.eu/publications/ceta’s-signature-38-statements-joint-interpretative-­instrument-anduncertain-future (8.2.2018). 48 „Der Föderalstaat oder eine für den Bereich Landwirtschaft zuständige föderierte Einheit behält sich das Recht vor, im Falle eines Marktungleichgewichts die Schutzklausel zu aktivieren, auch wenn dieses Ungleichgewicht nur für ein einziges Erzeugnis festgestellt wird. Innerhalb von zwölf Monaten ab der Unterzeichnung des CETA werden konkrete Schwellenwerte festgelegt, um zu bestimmen, was unter einem Marktungleichgewicht zu verstehen ist“. Erklärung des Königreichs Belgien zu den Bedingungen für die Ermächtigung seitens des Föderalstaates und der föderierten Einheiten zur Unterzeichnung des CETA, ABl. EU 2017 Nr. L 11/9 v. 14.1.2017, Abs. 37. 49 Erklärung des Königreichs Belgien (Fn. 48), Abs. 37 B. 50 Gemeinsames Auslegungsinstrument (Fn. 10).

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mit einigen Bestimmungen des CETA, die Gegenstand öffentlicher Debatten und Bedenken waren, geeinigt haben und wie sie diese Bestimmungen einvernehmlich auszulegen sind. Hierzu gehören insbesondere die Auswirkungen des CETA auf die Fähigkeit der Regierungen, im öffentlichen Interesse regelnd tätig zu werden und die Bestimmungen über Investitionsschutz und Streitbeilegung, sowie über nachhaltige Entwicklung, Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz.51 Das Dokument hat gemäß Art. 31 Abs. 2 Buchst. b) der Wiener Vertragsrechtskonvention bindenden Charakter.52 Laut dem Beschluss (EU) 2017/38 des Rates zur vorläufigen Anwendbarkeit des CETA werden die Vorschriften über Portfolioinvestitionen, den Investitionsschutz, die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Investoren und Staaten (Art. 1 Abs. 1 Buchst. b) des Beschlusses), sowie über straf-, steuer- und verwaltungsprozess­ rechtliche Fragen (Art. 1 Abs. 1 Buchst. c) des Beschlusses) nicht vorläufig angewendet. Die entsprechenden Erwägungen sind aber nicht bekannt gegeben worden. Grundsätzlich ergibt sich aus der vorläufigen Anwendung jedoch keine Entscheidung in Bezug auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten. Der Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendbarkeit kann damit nicht für eine abschließende Grenzziehung zwischen den Kompetenzen von EU und Mitgliedstaaten herangezogen werden, hat aber eine erhebliche Indizwirkung für die Auffassung des Rates in Bezug auf die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten. Zusätzlich hat das deutsche BVerfG im Oktober 2016 nach Vornahme der Folgenabwägung die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat zur vorläufigen CETA-Anwendung abgelehnt.53 Die Bundesregierung müsse nach der Entscheidung des BVerfG allerdings sicherstellen, dass ein Ratsbeschluss über die vorläufige Anwendung nur die Bereiche des CETA umfassen werde, die unstreitig in der Zuständigkeit der Europäischen Union liegen. Zudem müsse bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache eine hinreichende demokratische Rückbindung der im Gemischten CETA-Ausschuss gefassten Beschlüsse gewährleistet sein. Schließlich müsse gewährleistet sein dass die Auslegung des Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch Deutschland ermögliche. Das BVerfG begründete seine Ablehnung der Eilanträge damit, dass eine Ablehnung der vorläufigen Anwendung von CETA durch die Bundesregierung einen erheblichen Einfluss auf Geschehensabläufe und Verhältnisse hätte, die nicht allein durch den Willen der Bundesrepublik Deutschland entschieden werden dürfen. In diesem Sinne hätte ein Scheitern des CETA, auch über das Europäisch-Kanadische Verhältnis hi­ 51 Gemeinsames Auslegungsinstrument (Fn. 10), Buchst. e) der Präambel. 52 Erklärung des Juristischen Dienstes des Rates zur Rechtsnatur des Gemeinsamen Auslegungsinstruments, ABl. EU 2017 Nr. L 11/22 v. 14.1.2017. 53 BVerfG v. 13.10.2016 – 2 BvR 1368/16, 2 BvE 3/16, 2 BvR 1823/16, 2 BvR 1482/16, 2 BvR 1444/16, NJW 2016, 3583 = EuZW 2016, 916; s. dazu Nettesheim, Das CETA-Urteil des BVerfG: eine verpasste Chance?, NJW 2016, 3567. S.  auch BVerfG v. 7.12.2016 – 2 BvR 1444/16, 2 BvR 1482/16, 2 BvR 1823/16, 2 BvE 3/16, NJW 2017, 1014.

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naus, einen erheblichen Einfluss auf die zukünftigen Außenhandelsbeziehungen der EU.54 Bei Einhaltung der vom Gericht formulierten Maßgaben bestünden für die Rechte der Beschwerdeführer sowie für die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages keine schweren Nachteile, die im Rahmen einer Folgenabwägung den Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten erscheinen ließen. Die BVerfG-Entscheidung als eine sog. „Ablehnung unter Auflagen“55 ist in der Fachwelt auf scharfe Kritik gestoßen.56 Unter anderem wirft man dem BVerfG vor, es sei ihm nicht gelungen die politischen Akteure zu zwingen, eine eindeutige Ex-ante-Festlegung der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten zu vollziehen und damit eine schleichende Tätigkeitsausweitung der EU (sog. „competence creep“) zu verhindern.57 Darüber hinaus fördere die BVerfG-Vorgehensweise den „Ausverkauf der Demokratie“, weil übernationale Organe (Ausschüsse) im Rahmen des CETA wesentliche Entscheidungen verbindlich treffen könnten.58 In Wirklichkeit sollen sich die betreffenden CETA-Ausschüsse lediglich mit den Verfahrensfragen befassen.59 Weiß entgegnet hingegen, die verfassungsrechtliche Problematik der Vertragsgremien liege nicht nur in einer möglichen Überschreitung von EU-Zuständigkeiten, sondern auch darin, dass die im EU-Primärrecht vorgesehenen Entscheidungsstrukturen ausgehebelt werden und dadurch demokratische Verantwortlichkeit entzogen werde.60 Gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV sei der Rat für die Legitimierung der durch einen internationalen Vertrag eingesetzter Gremien zuständig. Somit entgehe er jeglicher parlamentarischer Mitwirkung oder Kontrolle durch nationale Stellen.61 Vorliegend betonte das BVerfG durchgängig, dass der Umfang der Übertragung der Hoheitsrechte durch nationale Parlamente in europäischen Angelegenheiten zumindest hinreichend bestimmbar sein muss.62 Weiß führt dazu aus, dass Vergleichbares für das Euro­päische Parlament gelten müsse.63 Nach der Ablehnung des erneuten Eilantrags vom 7.12.2016, welche auf die im BVerfG-Urteil von 13.10.2016 nicht beachteten Maßnahmen abzielte, ist das Hauptsacheverfahren nach wie vor anhängig. Das BVerfG hat die Anträge in den Hauptsacheverfahren jedenfalls teilweise als weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet eingestuft.64 54 BVerfG v. 13.10.2016 (Fn. 53), Rz. 47-48. 55 Nowrot/Tietje, CETA an der Leine des Bundesverfassungsgerichts: Zum schmalen Grat zwischen Ultra-vires-Kontrolle und Ultra-vires-Handeln, EuR 2017, 137 (144). 56 Nowrot/Tietje (Fn. 55), EuR 2017, 137 ff.; Holterhus, Eilanträge in Sachen CETA - Euro­ päische Außenhandelspolitik im Mehrebenengeflecht von Verfassungs-, Unions- und Völkerrecht, EuZW 2016, 896 ff. 57 Nettesheim (Fn. 53), NJW 2016, 3567 (3568). 58 Weiß, Verfassungsanforderungen und Integrationsverantwortung bei beschließenden Vertragsorganen in Freihandelsabkommen, EuZW 2016, 286 (291). 59 Weiß (Fn. 58), EuZW 2016, 286 (286). 60 Weiß (Fn. 58), EuZW 2016, 286 (287). 61 Weiß (Fn. 58), EuZW 2016, 286 (288). 62 So z.B. in BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267 = NJW 2009, 2267. 63 Weiß (Fn. 58), EuZW 2016, 286 (287). 64 BVerfG v. 13.10.2016 (Fn. 53), Rz. 41.

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Eine weitere Verfassungsbeschwerde gegen CETA, diesmal vor dem Bayrischen Verfassungsgerichtshof war nicht erfolgreich.65 Der Antrag betraf die Frage, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung eines Volksbegehrens gegeben sind, mit dem die Bayerische Staatsregierung angewiesen werden soll, im Bundesrat gegen das Zustimmungsgesetz zum CETA zu stimmen. Der BayVerfGH befand das Volksbegehren jedoch für unzulässig, da keine Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU stattgefunden habe, die das Recht der Gesetzgebung im Rahmen des Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BayVerf betroffen hätte. Im Falle des CETA sei ein solches Verfahren weder eingeleitet worden noch stehe eine Einleitung unmittelbar bevor66. 3. Kompetenzzuordnung und -wahrnehmung In ihrem Schlussantrag zum Gutachtenantrag 2/15 zum EUSFTA hat die Generalanwältin Sharpston im Dezember 2016 die Bereiche der sog. anderen Investitionsarten als ausländische Direktinvestitionen (somit Portfolioinvestitionen) und der Streitbeilegung zwischen Investoren und Staaten als gemischte Zuständigkeit eingestuft67. Im Mai 2017 hat der EuGH in seinem Gutachten die nicht ausschließliche Zuständigkeit der Union für diese Rechtsgebiete bestätigt.68 Auch laut Gutachten des EuGH fallen die Handlungen der Union im Bereich der ausländischen Direktinvestitionen unter die gemeinsame Handelspolitik i.S.d. Art. 207 Abs. 1 AEUV.69 Die Aufnahme des Begriffs „ausländische Direktinvestitionen“ in Art. 207 Abs. 1 AEUV zeige eindeutig den Willen der Verfasser, andere ausländische Investitionen nicht in die gemeinsame Handelspolitik aufzunehmen. Somit fallen Verpflichtungen gegenüber einem Drittstaat im Zusammenhang mit ausländischen Portfolioinvestitionen nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. e) AEUV.70 Darüber hinaus können nach Art. 9.11 Abs. 2 Buchst. a) und e), Art. 9.16 und Art. 9.17 CETA nicht nur die Union, sondern auch die Mitgliedstaaten an Investor-Staat-Streitigkeiten (ISDS) als Beklagte beteiligt sein. Wie der EuGH im Fall des EUSFTA festgestellt hat, kann eine solche Regelung, die Streitigkeiten der gerichtlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten entzieht, aber nur mit Einverständnis der Mitgliedstaaten erfolgen.71 Die EU-Verpflichtungen aus dem Freihandelsabkommen mit Singapur im Bereich des Schutzes des geistigen Eigentums72, des Wettbewerbs73, sowie der nachhaltigen

65 BayVerfGH v. 15.2.2017 – Vf. 60-IX-16, ECLI:DE:BAYVERF:2017:0215.VF60IX.16.0A. 66 Ebd., Rz. 59, 62. 67 Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 21.12.2016, Gutachtenverfahren 2/15 Abs. 570; zur Differenzierung zwischen ausländischen Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen s. Mayer (Fn. 32), EuR 2015, 575 (590 f.); Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 10 ff. 68 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. 305. 69 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. Rz. 81. 70 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. 83-84. 71 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. 286 ff. 72 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. 111 ff. 73 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. 131 ff.

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Entwicklung74 fallen dagegen nach der Auffassung des EuGH unter die ausschließliche Zuständigkeit der EU. Die Generalanwältin Sharpston hatte dagegen die Bestimmungen über das öffentliche Beschaffungswesen für Verkehrsdienstleistungen, die nichthandelsrechtliche Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, sowie Vorschriften über grundlegende Arbeits- und Umweltnormen als gemischte Zuständigkeiten eingestuft.75 Streitfälle über den Auslegungsspielraum dieser Begriffe sind förmlich vorprogrammiert. Weitere Argumente für eine geteilte Zuständigkeit im Bereich des Investitionsschutzes wurden bereits vor Veröffentlichung des EuGH-Gutachtens geliefert. Eines der Ziele der EU-Handelspolitik gemäß Art. 206 AEUV besteht in der Beseitigung der Beschränkungen bei den ausländischen Investitionen, was für eine ausschließliche EU-Kompetenz spricht. Zugleich ist die Eigentumsordnung jedoch gemäß Art. 345 AEUV eine nationale Angelegenheit. Somit kommt Mayer zum Schluss, dass der Schutz vor Enteignungen außerhalb der Unionskompetenz liege.76 Soweit ein EU-Mitgliedstaat nicht in der Lage sei, einem Investor Kompensation für einen entstandenen Schaden zu leisten, müsse die gemeinschaftliche Haftung eingreifen, wofür allerdings keine Unionskompetenz bestehe. Mayer vertritt daher die Auffassung, dass die bestehenden bilateralen Investitionsabkommen (BITs) zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Kanada gekündigt werden müssten.77 Konkret fallen somit die folgenden Bereiche des EUSFTA nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EU: Die Vorgaben der Kapitel 9 Abschnitt A (Investitionen und der Investitionsschutz) und B (die Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten), sowie die Bestimmungen der Kapitel 1 (Ziele und allgemeine Begriffsbestimmungen), 14 (Transparenz), 15 (Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien), 16 (Vermittlungsmechanismus [Mediation]) und 17 (institutionelle, allgemeine und Schlussbestimmungen) des Abkommens, soweit sie sich auf die Bestimmungen von Kapitel 9 des Abkommens beziehen.78 In der offiziellen Mitteilung der Kommission zur vorläufigen Anwendbarkeit vom CETA finden sich demnach gewisse Parallelen wieder. Bestimmungen zu Investitionen gemäß Kapitel 8 finden nur stark begrenzt Anwendung und auch nur, wenn es sich um ausländische Direktinvestitionen handelt. Zusätzlich finden solche Bestimmungen zu Finanzdienstleistungen des Kapitels 13 CETA keine vorläufige Anwendung, die sich auf Portfolioinvestitionen, den Investitionsschutz oder die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Investoren und Staaten beziehen. Außerdem finden Bestimmungen zum geistigen Eigentum (Art. 20.4 CETA), zur Transparenz (Art. 27.3 und Art. 27.4 CETA) und zur Besteuerung von Investoren (Art. 28.7 Abs. 7 CETA) keine vorläufige Anwendung. Schlussendlich soll die Aufteilung von Zuständigkeiten von EU und Mitgliedstaaten im Rahmen von Handel und 74 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) – Gutachten 2/15, Rz. 139 ff. 75 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston v. 21.12.2016, Gutachtenverfahren 2/15, Rz. 562; s. auch Wolffgang, EuGH: Grundsatzentscheidung zum Abschluss von Freihandels­ abkommen, AW-Prax 2017, 189. 76 Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 14. 77 Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 14. 78 EuGH v. 16.5.2017 (Fn. 28) - Gutachten 2/15, Rz. 305.

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nachhaltiger Entwicklung (Kapitel 22 CETA), Handel und Arbeit (Kapitel 23 CETA), sowie von Handel und Umwelt (Kapitel 24 CETA) besondere Beachtung finden.79

IV. Investitionsschutz als Kernkritikpunkt der CETA-Gegner Der im Herbst 2012 veröffentlichte CETA-Entwurf löste schon früh heftige Kritik am geplanten Abkommen mit Kanada aus. Der am meisten verbreitete Kritikpunkt betraf den im Abkommen vorgesehenen Investitionsschutzmechanismus.80 Zwar begrüßte das Europäische Parlament schon im Frühjahr 2011 das CETA, welches in weiten Bereichen über die WTO-Verpflichtungen hinausgehen und die multilateralen Regeln ergänzen sollte; zugleich sprach es sich angesichts der hochentwickelten Rechtssysteme beider Parteien aber für den Einsatz lokaler Rechtsmittel im Streitbeilegungsverfahren als das am besten geeignete Instrument zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen der EU und Kanada aus.81 1. Ursprünglich geplante Regelung Ursprünglich beruhte der Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus (Investor-State Dispute Settlement, ISDS) im CETA auf dem System des bei der Weltbank errichteten Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) 82 , welches unter heftiger internationaler Kritik steht.83 Dementsprechend sollten die Streitigkeiten unter CETA vor einem Panel von drei Schiedsrichtern ausgetragen werden. Es war zudem keine Berufungsinstanz vorgesehen. Sogar zusätzliche Verfahrensgarantien (kanadische „best practice“ 84) im Vergleich zum ICSID-Mechanismus sowie das garantierte Recht auf Regulierung konnten einem solchen Ausmaß an Kritik nicht standhalten. CETA wurde überwiegend als Vorläufer von TTIP angesehen. Es wurde somit erwartet, dass die Streitbeilegungsregelungen für Investitionsstreitigkeiten zwischen Investoren und Staaten in das TTIP übernommen würden. Viele Experten empfahlen, den Investmentschutzmechanismus aus dem CETA herauszuneh-

79 Mitteilung über die vorläufige Anwendung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits, ABl. EU 2017 Nr. L 238/9 v. 16.9.2017. 80 Entschließung des Europäischen Parlaments v. 8.6.2011 zu den Handelsbeziehungen zwischen der EU und Kanada, P7_TA(2011)0257, Abs. 11; Laird/Petillion (Fn. 46), GTCJ 2017, 167 (169). 81 Entschließung des Europäischen Parlaments v. 8.6.2011 zu den Handelsbeziehungen zwischen der EU und Kanada P7_TA(2011)0257, Abs. 11. 82 Laird/Petillion (Fn. 46), GTCJ 2017, 167 (168). 83 Van Duzer, Investor-State Dispute Settlement in CETA: Is it the Gold Standard?, Commentary of C.D. Howe Institute 459 10/2016, S. 4 f; Finbow, Restructuring the State through Economic and Trade Agreements: The Case of Investment Disputes Resolution, PaG 2016, 62 (68 ff.). 84 Van Duzer (Fn. 83), S. 5 f.

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men und durch einen Staat-Staat Vollzugsmechanismus zu ersetzen.85 Alternativ sollte ein wirksamer Monitoring-Mechanismus geschaffen werden.86 Als Antwort auf die Kritik hat die Europäische Kommission im Jahre 2014 öffentliche Online-Konsultationen eingeleitet, um die öffentliche Wahrnehmung der ISDS-Problematik im TTIP und teilweise im CETA zu bewerten.87 Die meisten Rückmeldungen gegenüber dem ISDS-System in den geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen waren ablehnend. Aus diesem Grunde sah die Kommission sich gehalten, das Investitionsschutzkonzept grundlegend umzugestalten. 2. Die Schaffung einer CETA-Investitionsgerichtsbarkeit Der neue Investitionsschutzmechanismus wurde Ende 2015 vorgestellt und anschließend ins Freihandelsabkommen mit Vietnam88 und in den revidierten CETA-­Text vom Februar 2016 einbezogen. Das neue CETA-Streitbeilegungssystem zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Investoren und Staaten wird als ein radikaler Wandel der Investitionsvorschriften und Streitbeilegung bezeichnet.89 Die Kommission vermeidet dabei den Begriff Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS). Stattdessen spricht sie von Investitionsgerichtsbarkeit (Investment Court System, ICS).90 Diese stellt ein öffentliches, nicht auf Ad-hoc-Schiedsgerichten basiertes System dar, welches die bestehenden bilateralen ISDS-Abkommen zwischen Kanada und acht EU-Mitgliedstaaten ersetzen muss. Nach Verlautbarungen der Vertragsparteien wird das CETA-Regime die Anrufung der mit dem Abkommen eingerichteten Investitionsgerichtsbarkeit nicht privilegieren. Es steht den Investoren vielmehr weiterhin frei, sich für die verfügbaren Rechtsmittel vor inländischen Gerichten zu entschieden.91 Da der CETA-Text Schiedsverfahren außerhalb der CETA-Regeln nicht ausdrücklich für unzulässig halte, verletze das Abkommen das durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht der Wahl eines „privaten“ Schiedsgerichts nicht.92 85 European Commission services’ position paper on the trade sustainability impact assessment of a Comprehensive Economic and Trade Agreement between the EU and Canada v.  4.4.2017, Kapitel 5.6, abrufbar unter: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2017/april/ tradoc_155471.pdf. 86 Ebd. 87 S.  hierzu Europäische Kommission: http://trade.ec.europa.eu/consultations/index.cfm?​ consul_id=179 (8.2.2018). 88 EU-Vietnam Free Trade Agreement: Agreed text as of January 2016, Kapitel 13, URL: http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1437 (8.2.2018). 89 Abs. 6(i) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 90 Europäische Kommission, Investitionsbestimmungen im Freihandelsabkommen EU-Kanada (CETA), 02/2016, abrufbar unter: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2013/november/ tradoc_151918.pdf; nunmehr auch in Abs. 6(a) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). Das CETA selbst spricht nur vom „Gericht“; s. insb. in Abschnitt F des CETA. 91 Abs. 6(a) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments. 92 Sandrock, Unter dem CETA-Übereinkommen sind „private“ Schiedsgerichte zulässig, RIW 2017, 245 (246 ff).

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a) Das Investitionsgericht im internationalen Kontext CETA sieht die Errichtung unabhängiger, unparteilicher und ständiger Investitionsgerichte vor, geleitet von den Grundsätzen öffentlicher Rechtssysteme in der EU, ihren Mitgliedstaaten und in Kanada, sowie von den Grundsätzen internationaler Gerichte wie dem Internationalen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.93 Art. 8.28 CETA setzt eine Rechtsbehelfsinstanz ein. CETA ist somit das erste Investitionsschutzabkommen, das ein Rechtsmittelverfahren vorsieht und somit eine einheitliche Rechtsprechung durch die erstinstanzlichen Gerichte (bzw. Spruchkörper) gewährleistet.94 Aus völkerrechtlicher Sicht kann das ICS unter CETA als eine inter se Modifikation der ICSID Konvention nach Art. 41 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge betrachtet werden.95 b) Organisation und Besetzung des Gerichts Im Abschnitt F des CETA wird die Organisation des neuen Streitbeilegungssystems aufgeführt. Das Gericht wird aus fünfzehn auf fünf Jahre gewählten Mitgliedern bestehen, jeweils fünf von der EU, Kanada und anderen Staaten (Art. 8.27 Abs. 2 und 5 CETA). Mitglieder des Gerichts und des Berufungsgerichts sollen Personen werden, die in ihren jeweiligen Ländern die zur Ausübung des Richteramts erforderlichen Qualifikationen besitzen.96 Die Mitglieder des Gerichts werden strikten Ethikregeln unterliegen, um sicherzustellen, dass sie unabhängig und unparteilich sind, und Interessenkonflikte, Befangenheit oder um den Anschein der Befangenheit auszuschließen.97 Dazu ist auch die Erstellung eines Verhaltenskodex bis zum Inkrafttreten des CETA vorgesehen (Art. 8.30 CETA), mit dessen Hilfe die Unparteilichkeit der Mitglieder der Gerichte zusätzlich sichergestellt, sowie Art und Höhe ihrer Vergütung und das genaue Verfahren für ihre Auswahl festgelegt werden sollen.98 Zur Verhandlung der Fälle werden dreiköpfige Kammern gebildet, ausgewählt aus dem Register aufgrund eines Zufallsverfahrens (Art. 8.27 Abs. 6 CETA).99 Dementsprechend wird im Unterschied zum klassischen ICSID-Modell im CETA-Investor-Staat-Streitbeilegungssystem die Parteiautonomie im Richterauswahlverfahren aufgehoben.100 In dieser Hinsicht muss aber zugleich der Einfluss von staatlicher Seite kontrolliert werden. 93 Abs. 6(f) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 94 Abs. 6(g) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 95 Reinisch, Will the EU’s Proposal Concerning an Investment Court System for CETA and TTIP Lead to Enforceable Awards? – The Limits of Modifying the ICSID Convention and the Nature of Investment Arbitration, JIEL 2016, 761 (769 ff.). 96 Abs. 6(f) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 97 Abs. 6(f) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 98 Abs. 6(f) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 99 S. bzgl. der Einzelheiten Lenk, An Investment Court System for the New Generation of EU Trade and Investment Agreements: A Discussion of the Free Trade Agreement with Vietnam and the Comprehensive Economic and Trade Agreement with Canada, European Papers 1(2) 2016, 667 ff.; Van Duzer (Fn. 83), S. 10-14. 100 Laird/Petillion (Fn. 46), GTCJ 2017, 167 (170).

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c) Verfahrensmäßige Garantien Neben den Regelungen zur personellen Ausstattung der Investitionsgerichtsbarkeit sollen auch verfahrensmäßige Garantien für eine rechtsstaatliche Entscheidung über Investitionsstreitigkeiten sorgen und den vorgetragenen Einwänden gegen das CETA-Investitionsgericht Rechnung tragen. Um eine Klage einzureichen, muss der Investor eine echte Verbindung zur Wirtschaft Kanadas oder zur Wirtschaft der EU nachweisen, um überhaupt vom Abkommen profitieren zu können (Art. 8.1 und 8.23 Abs.  1 CETA). Dadurch sollen Konstellationen verhindert werden, bei denen über von Investoren aus Drittstaaten in Kanada bzw. der EU eingerichtete Briefkastenfirmen Ansprüche geltend machen können.101 Das Abkommen enthält dazu auch ein Verbot missbräuchlicher Klagen (Art. 8.32 CETA). Unter dieses Verbot fällt auch der Fall, dass ein Investor seine Investition gezielt in einen bestimmten Staat verlagert oder dort ein Tochterunternehmen gründet (unabhängig davon, dass es ggf. dort substantielle Geschäftstätigkeit entfaltet), um eine Investitionsschutzklage erheben zu können. Von den Klägern sind dann auch die Prozesskosten zu tragen (Art. 8.39 Abs. 5 CETA). Als (abschreckender) Beispielsfall dazu diente die Abweisung der Klage von Philip Morris gegen Australien auf Basis des Investitionsschutzvertrags, welcher zwischen Australien und Hongkong besteht.102 Die Vertragsparteien sollen zudem den Inhalt der Verpflichtung zur gerechten und billigen Behandlung von Investoren (Art. 8.10 CETA) regelmäßig überprüfen, um sich zu vergewissern, dass sie ihren Absichten entspricht und nicht weiter ausgelegt werden kann, als von ihnen beabsichtigt.103 Ein wesentliches Merkmal der Verfahren ist der Grundsatz der öffentlichen Verhandlung und des öffentlichen Zugangs zu Dokumenten (Art. 8.36 CETA). Das gilt auch für die Rechtsbehelfsinstanz (Art. 8.28 Abs. 6 CETA). Stellt das CETA-Gericht jedoch fest, dass es vertrauliche oder sensible Informationen zu schützen gilt, so hat es geeignete Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Teile der Verhandlungen, bei denen ein entsprechender Schutz erforderlich ist, nicht öffentlich geführt werden (Art. 8.36 Abs. 5 S. 2 CETA). In Dokumenten sind vertrauliche oder geschützte Informationen zu schwärzen (Art. 8.36 Abs. 4 S. 1 CETA). Die aktuellen CETA-Investitionsschutzregelungen richten sich insoweit nach den neuen UNCITRAL-Regeln zur Transparenz (Art. 8.36 Abs. 1 CETA).104 Eine etwaige Verpflichtung zur Gesetzänderung auf Basis eines Urteils des Investi­ tionsgerichts oder die Verhängung von Strafschadensersatz sind grundsätzlich ausgeschlossen (Art. 8.39 Abs. 4 CETA). Die Vertragsparteien gewähren sich das sog. Regelungsrecht, d.h. das Recht, Regelungen zur Erreichung legitimer politischer Ziele 101 Abs. 6(d) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 102 Den Haag Permanent Court of Arbitrators (PCA), Fall 2012-12 – Philip Morris Asia Ltd., Award on Jurisdiction and Admissibility v. 17.12.2015. 103 Abs. 6(d) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 104 Wolffgang (Fn. 13), AW-Prax 2014, 291; Reinisch (Fn. 95), JIEL 2016, 761 (764 ff.). S. auch die United Nations Convention on Transparency in Treaty-based Investor-State Arbi­ tration (New York, 2014), ratifiziert und unterzeichnet durch Kanada aber noch nicht ratifiziert durch die EU-Mitglieder, abrufbar unter: http://www.uncitral.org/uncitral/en/ uncitral_texts/arbitration/2014Transparency_Convention_status.html (8.2.2018).

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wie des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, Sicherheit, des Schutzes der Umwelt oder der öffentlichen Sittlichkeit, des Sozial- oder Verbraucherschutzes oder der Förderung und des Schutzes der kulturellen Vielfalt in ihrem jeweiligen Gebiet, zu er­ lassen (Art. 8.9 CETA sowie Abs. 2 des Gemeinsamen Auslegungsinstruments). Die Vertragsstaaten dürfen ihre Gesetze ändern, auch wenn sich dies negativ auf eine Investition oder die Gewinnerwartungen eines Investors auswirkt.105 Generell besteht bei Freihandelsabkommen die Befürchtung, dass das hohe Verbraucherschutzniveau in der EU ausgehöhlt werden könnte. Dazu gehört insbesondere das Vorsorgeprinzip. Im CETA taucht es alleine im Zusammenhang mit der Wahrung internationaler Arbeitsnormen und -übereinkünfte auf (Art. 23.3 Abs. 3 CETA). Es werden trotz des Schweigens im Abkommen keine Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung des EU-Vorsorgeprinzips gesehen.106 Das Vorsorgeprinzip ist im Art. 191 AEUV primärrechtlich verankert und sollte auch durch ein Freihandelsabkommen aufgrund der Autonomie des EU-Rechtssystems nicht abbedungen werden können107. Zudem geht das Primärrecht den internationalen Übereinkünften vor (Art. 216 Abs. 2 AEUV).108 Allerdings wird auch davor gewarnt, dass seine Anwendung sich durchaus mit der des Nachsorgeprinzips (Sound Science Principle) überschneiden könnte, welches im kanadischen und auch amerikanischen Recht Anwendung findet. Ein genereller Prinzipienstreit könnte dadurch entstehen.109 3. Kritik an den CETA-Regelungen zur Streitbeilegung Obwohl das neue System den Einwänden gegen das ursprünglich vorgesehene Streitbeilegungssystem nach dem ICSID-Modell umfassend Rechnung trägt, begegnen auch die Regelungen über die Investitionsgerichtsbarkeit zahlreichen Bedenken, auf die hier kurz eingegangen werden soll. So soll es auch unter dem modifizierten CETA-System durchaus möglich sein, dass auch nicht hinreichend qualifizierte Personen zu Mitgliedern des Handelsgerichts ernannt werden.110 Der Ethikkodex ver­ bietet den CETA-Schiedsrichtern nicht, an anderen ISDS-Verfahren teilzunehmen, was zu Inte­ressenskonflikten führen kann. 111 Die gewinnorientierte Vergütung für jedes Verfahren wird auch als Gefahr für die Unbefangenheit der Schiedsrichter ange105 Abs. 6(b) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 106 Bundesverband der deutschen Industrie, Das Vorsorgeprinzip in neuen EU-Freihandelsabkommen, v. 26.8.2016, abrufbar unter: http://bdi.eu/media/themenfelder/aussenwirtschafts​ politik/TTIP/positionen/BDI-Position_Vorsorgeprinzip.pdf (29.9.2017). 107 S.  z.B. das EuGH-Urteil v. 30.5.2006  – C-459/03, ECLI:EU:C:2006:345, Kommission/­ Irland (Mox-Plant), Rz. 123. 108 Müller-Ibold in Lenz/Borchardt (Fn. 36), Art. 216 AEUV Rz. 6. 109 Calliess in Calliess/Ruffert (Fn. 30), Art. 191 AEUV Rz. 28-29; Markat/Wendler, Gesprächskreis „Investitionsrecht und -schiedsgerichtsbarkeit“ - 12. Jahrestreffen 2016, SchiedsVZ 2017, 258 (259). 110 Sandrock (Fn. 92), RIW 2017 245 f. 111 Van Harten, The European Union’s Emerging Approach to ISDS: a Review of the Canada-Europe CETA, Europe-Singapore FTA, and European-Vietnam FTA, University of Bologna Law Review 2016, S. 138 ff.

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sehen.112 Kritisiert werden zudem die eingeschränkten Teilnahmemöglichkeiten für betroffene Dritte113 und die mangelnde Klarheit bei der Formulierung der Berufungsgründe, was den Zugang zur Berufungsinstanz erschweren könnte.114 Insbesondere kann ein Investor jedoch weder die Zwangsvollstreckung gegen seinen jeweiligen Gaststaat betreiben noch die Anerkennung der CETA-Gerichtsentscheidung nach der New Yorker Konvention von 1958 oder der ICSID-Konvention von 1965 durchsetzen.115 Das liegt insbesondere darin begründet, dass CETA keine unmittelbare Geltung für Private entfaltet (Art. 30.6 CETA)116. Zusätzlich werden auch mögliche Konflikte mit EU-Recht gesehen. Nach einer Stellungnahme des Juristischen Dienstes des Europäischen Parlaments sind Vereinbarungen der EU über die Gerichtsbarkeit im Rahmen eines internationalen Vertrags grundsätzlich zulässig. 117 Die Frage sei aber noch nicht vom EuGH entschieden worden. Das wird u.a. von der Bundestagsfraktion DIE LINKE moniert, die die fehlende Bereitschaft der Bundesregierung kritisierte, ein Gutachten beim EuGH auf der Basis des Art. 218 Abs. 11 AEUV zur Vereinbarkeit des CETA-Vertrages mit den EU-Verträgen zu beantragen.118 Im Kern stützt sich die Fraktion wiederum auf die Auffassung des Deutschen Richterbundes e.V., in dem – in Bezug auf das TTIP – die Kompetenz der EU und die Notwendigkeit für die Einsetzung eines Investitionsgerichts bezweifelt wird.119 Die Bundesregierung weist in ihrer Antwort darauf hin, dass die Zulässigkeit der Beteiligung der EU an internationalen Gerichten (als ein solches sieht die Bundesregierung das CETA-Investitionsgericht an) durch den EuGH bereits im Gutachten 1/91 zum Europäischen Wirtschaftsraum ausdrücklich festgestellt worden sei. Daran anknüpfend habe der EuGH im Gutachten 1/09 präzisiert, unter welchen Bedingungen die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten ein internationales Gericht einrichten können. An diesem Gutachten und seinen Bedingungen habe die Europäische Kommission das Investitionsgericht im CETA ausgerichtet.120 112 Van Harten (Fn. 111). S. 138 ff. 113 Van Harten (Fn. 111). S. 138 ff. 114 Sandrock (Fn. 92), RIW 2017, 245 (252 f.). 115 Sandrock (Fn. 92), RIW 2017 245 (253 f.); teilweise abweichend Reinisch (Fn. 95), JIEL 2016, 761 (783, 785 f.). 116 S. auch Erwägungsgrund (6) zum Beschluss 2017/38 des Rates (Fn. 20). 117 Juristischer Dienst des Europäischen Parlaments, Legal opinion on Compatibility with the Treaties of investment dispute settlement provision in EU trade agreements, v. 1.6.2016, Rz. 38, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/cmsdata/110465/sj-0259-16-legalopinion.pdf. 118 Kleine Anfrage der Abgeordneten Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann, Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle, Michael Schlecht, Dr. Axel Troost und der Fraktion DIE LINKE v. 31.3.2016, BT-Drucks. 18/8024. 119 Deutscher Richterbund, Stellungnahme Nr. 4/16 (Februar 2016) zur Errichtung eines Investitionsgerichts für TTIP – Vorschlag der Europäischen Kommission v. 16.9.2015 und 12.11.2015, veröffentlicht unter http://www.drb.de/fileadmin/docs/Stellungnahmen/2016/ DRB_160201_Stn_Nr_04_Europaeisches_Investitionsgericht.pdf. 120 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Klaus Ernst, Su­ sanna Karawanskij, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE BT-Drucksache 18/8175 v. 20.4.2016, S. 1 f. Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort

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Von anderer Seite wird aber ein Konflikt mit der Autonomie der EU-Rechtsordnung gesehen, wie sie aus Art. 19 EUV abgeleitet wird.121 Die Auslegung der internationalen Verträge dürfe keine verbindliche Wirkung auf die EU-Institutionen im Hinblick auf die Auslegung des EU-Rechts entfalten.122 Der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments sieht allerdings keine Gefährdung des Prinzips der einheitlichen Auslegung des EU-Rechts durch die CETA-Gerichtsbarkeit, weil ausschließlich Klagen bzgl. Anwendung und Auslegung der CETA-Vorschriften zulässig seien (Art. 8.18 CETA) und das CETA-Gericht keine Befugnis habe, über die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme unter nationalem Recht zu urteilen (Art. 8.31 CETA).123 Das CETA widmet sich auch einem etwaigen Konflikt mit Art. 267 AEUV. Nach diesem Vertragsartikel entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge und des weiteren EU-Rechts. Es könnte schnell zu widerstreitenden Entscheidungen kommen, wenn das CETA-Gericht zur Auslegung von EURecht berufen wäre. Gemäß Art. 8.31 CETA ist das CETA-Gericht jedoch nicht dafür zuständig, die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach dem innerstaatlichen Recht einer Vertragspartei zu beurteilen. Das Gericht darf dagegen das innerstaatliche Recht einer Vertragspartei, soweit angezeigt, als Tatsache heranziehen. Dabei folgt das Gericht der herrschenden Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch die Gerichte und Behörden der betreffenden Vertragspartei und damit insbesondere auch der Rechtsprechung des EuGH. Zwar sei der Handlungsspielraum des Gesetzgebers durch CETA im Vergleich zum bestehenden Verfassungs- und Unionsrecht kaum zusätzlichen materiell-rechtlichen Bindungen unterworfen.124 Allerdings verfügten kanadische Investoren in der EU über einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung und Meistbegünstigung, soweit nicht eine der zahlreichen Ausnahmen einschlägig sei (Art. 8.6 und 8.7 CETA). Sie erhielten den Schutz, der dem von inländischen Investoren auf Basis der Grundrechte bzw. der EU-Grundfreiheiten und Grundrechte bei Marktzugang und Bestandsschutz entspräche.125 Krtisch betrachtet wird zudem, dass der durch CETA gewährte Bestandsschutz für im jeweils anderen CETA-Mitglied getätigte Investitionen gegen gesetzgeberische Einauf eine Reihe weiterer vorgebrachter Fragen, etwa zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter am Investitionsgericht oder zur Gefahr missbräuchlicher Klagen durch US-Firmen. 121 S. z.B. Lenk (Fn. 99), European Papers 2016, 665 (672 ff.). 122 Juristischer Dienst des Europäischen Parlaments (Fn. 117), Rz. 46 ff.; abrufbar unter: http:// www.europarl.europa.eu/cmsdata/110465/sj-0259-16-legal-opinion.pdf; EuGH-Urteil v. 30.5.2006 (Fn. 107) – C-459/03, Rz. 123. 123 Juristischer Dienst des Europäischen Parlaments (Fn. 117), Rz. 46 ff. 124 Schill, Auswirkungen der Bestimmungen zum Investitionsschutz und zu den Investor-Staat-Schiedsverfahren im Entwurf des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada (CETA) auf den Handlungsspielraum des Gesetzgebers, Kurzgutachten für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie v. 22.9.2014, S. 30, abrufbar unter: https:// www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/C-D/ceta-gutachten-investitionsschutz.pdf. 125 Schill (Fn. 124), Gutachten Investitionsschutz, S. 31.

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griffe gegenüber dem deutschen Verfassungs- und Unionsrecht deutlich geringer ausfalle. Der Anspruch auf gerechte und billige Behandlung i.S.d. Art. 8.10 CETA sei im Grunde genommen auf ein Verbot offensichtlich willkürlicher Maßnahmen und ein Mindestmaß an Vertrauensschutz herabgesetzt und unterliege nicht dem Schutz durch das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.126 Indem CETA die unmittelbare Geltendmachung von Entschädigungs- und Schadenersatzzahlungen ermögliche, ohne dass die Investitionswidrigkeit der zugrundliegende Maßnahme beseitigt werden müsste, weiche das CETA-Regime vom Grundsatz des Vorranges des Primärrechtsschutzes im deutschen Recht mit den engen Voraussetzungen der Staatshaftung für Schadenersatz und Entschädigung ab.127 Die Voraussetzungen für die Rechtswidrigkeit gesetzgeberischen Handelns unter CETA seien jedoch höher als nach nationalem und Unionsrecht, was das Haftungsrisiko deutlich verringere. 128 Auf der anderen Seite besage Art. 8.39 Abs.  3 S.  2 CETA, dass das ­CETA-Investitionsgericht bei der Berechnung des in Geld bemessenen Schadenersatzes Kürzungen vorzunehmen hat, um einer Aufhebung oder Änderung der Maßnahme Rechnung zu tragen, was wiederum die Ausübung des Rechtes auf Regulierung beeinträchtigen könne.129 Ein sehr breiter Geltungsbereich mit zahlreichen Ausnahmen im Bereich des Investitionsschutzes (z.B. Art. 8.15-8.17 CETA)130 gewährt jedoch ein sehr hohes Niveau der internationalen Handelskooperation.131 Durch steigende (sprachliche) Präzision des neuen Investitionsschutzinstruments im Vergleich zu den früheren Abkommen wird auch ein höheres Rechtsschutzniveau als realistisch angesehen.132

V. Zollbezogene Regelungen Ohne öffentliches Gezeter gingen allerdings die Verhandlungen über zollrechtlich relevante Fragen des CETA über die Bühne. Das bedeutet nicht, dass es sich hierbei lediglich um unsensible Fragen gehandelt hätte. Alleine die öffentliche Aufmerksamkeit ist bei Verhandlungen über Freihandelsabkommen auf andere Aspekte als die 126 Schill (Fn. 124), Gutachten Investitionsschutz, S. 31; dazu kritisch aber Krajewski, Anmerkungen zum Gutachten von Dr. Stephan Schill zu den Auswirkungen der Bestimmungen zum Investitionsschutz und zu den Investor-Staat-Schiedsverfahren im Entwurf des CETA auf den Handlungsspielraum des Gesetzgebers v. 22.9.2014, abrufbar unter: https://www. gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/EU-USA_ Freihandelsabkommen/Thesenpapier_Klageprivilegien_in_CETA.PDF. 127 Schill (Fn. 124), Gutachten Investitionsschutz, S. 31. 128 Schill (Fn. 124), Gutachten Investitionsschutz, S. 31. 129 Van Harten (Fn. 111), University of Bologna Law Review 2016, 138 (163). 130 de Mestral, When Does the Exception Become the Rule? Conserving Regulatory Space under CETA, JIEL 2015, 641 (647 ff.). 131 de Mestral (Fn. 130), JIEL 2015, 641 (653). 132 Henckels, Protecting Regulatory Autonomy through Greater Precision in Investment ­Treaties: The TPP, CETA and TTIP, JIEL 2016, 27 (49).

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zollrechtlichen gerichtet, obwohl die zollbezogenen Details für die breite Masse der am Außenhandel beteiligten Unternehmen eine ungleich größere Rolle spielen als etwa Fragen zum Investitionsschutz oder der Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Hier lässt sich die nach wie vor bestehende Neigung der Öffentlichkeit nachverfolgen, zollrechtliche Fragestellungen (fälschlicherweise) als wenig relevant einzustufen. 1. Zollabbau und Marktzugang Nach Art. 2.4 CETA beseitigen die Vertragsparteien mit Inkrafttreten des Abkommens sämtliche bei der Einfuhr aus der anderen Vertragspartei erhobenen Zölle auf die Ursprungswaren der Kapitel 1 bis 97 des Harmonisierten Systems, für die ein Meistbegünstigungszollsatz gilt, sofern es im Abkommen nicht anders festgelegt ist. Mit (vorläufigem) Inkrafttreten des Abkommens sind somit auf Seite der EU bereits 97,7 % der Zölle (bezogen auf Zolltariflinien) abgeschafft worden. Weitere Zölle werden schrittweise innerhalb von 3, 5 oder 7 Jahren nach dem Inkrafttreten auslaufen, sodass die EU schließlich 98,7 % ihrer Einfuhrzölle für Waren mit Ursprung in Kanada abgeschafft haben wird. Auf kanadischer Seite werden zunächst 98,2 % und in der Schlussphase 98,6 % der Zolltariflinien von der Beseitigung der Zölle erfasst.133 Das CETA beinhaltet für den Stufenplan eine eigene Zeitrechnung: Jahr 1 bezeichnet den Zeitraum ab dem Inkrafttreten dieses Abkommens bis zum 31. Dezember jenes Kalenderjahres, in dem das Abkommen in Kraft tritt (Anhang 2-A, Abs. 1 CETA), sodass das erste Jahr im Stufenplan bereits am 31.12.2017 endete. In der Endphase werden die Zölle für sämtliche Zolltariflinien bei Industrieprodukten für beide Seiten zu 100 % vollständig beseitigt sein. Schon beim Inkrafttreten des CETA hatte Kanada 99,6 % und die EU 99,4 % der Zölle auf Industrieprodukte beseitigt.134 In Bezug auf landwirtschaftliche Erzeugnisse schafft das Abkommen im Vergleich zu Industrieprodukten nur begrenzte Marktöffnungen.135 Mit Inkrafttreten des CETA hat Kanada die Zölle für 90,9 % der Agrarzolltariflinien abgeschafft. Nach dem Stufenplan werden innerhalb von 7 Jahren die Zölle für lediglich 91,7 % der Agrarlinien beseitigt sein. Im Gegenzug hat die EU zum Inkrafttreten von CETA 92,2 % ihrer Agrarzölle abgeschafft. Nach 7 Jahren werden die Zölle für 93,8 % der Agrarlinien für Einfuhren mit Ursprung in Kanada beseitigt sein. Gemessen am Handelsvolumen werden 95% der EU-Agrarausfuhren im Wert von 2,2 Mrd. EUR vollständig liberalisiert. Die EU liberalisiert im Gegenzug 97 % ihrer Agrareinfuhren aus Kanada.136 Für Fischereierzeugnisse ist dagegen die vollständige Abschaffung der wechselseitigen Zölle bis zum Ende der Umsetzung des Stufenplans vereinbart. 133 Hallmann (Fn. 5), AW-Prax 2016, 129 (131); zu Einzelheiten s. den Stufenplan für den Zollabbau in Anhang 2-A zum CETA, ABl. EU 2017 Nr. L 11/202 ff. 134 Europäische Kommission, CETA – Zusammenfassung der abschließenden Verhandlungsergebnisse, 02/2016, tradoc 153081, S.  2, veröffentlicht unter http://trade.ec.europa.eu/ doclib/docs/2015/february/tradoc_153081.pdf. 135 Kerr/Hobbs, A Protectionist Bargain?: Agriculture in the European Union-Canada Trade Agreement, JWT 2015, 437 (439 ff.). 136 Europäische Kommission, tradoc 153081 (Fn. 134), S. 5.

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2. Ursprungsregeln und Ursprungsbestimmungen Als Freihandelskommen i.S.v. Art. XXIV Abs. 8 Buchst. b) des GATT 1994 kommt auch das CETA nicht ohne umfassende Ursprungsregeln aus. Denn von den wechselseitigen Zollzugeständnissen sollen nur Waren profitieren, die aus dem jeweils begünstigten Territorium stammen. Die dazu erforderlichen präferenziellen Ursprungsregeln und Verfahrensbestimmungen wurden im Protokoll über Ursprungsregeln und Ursprungsbestimmungen festgelegt.137 Sie regeln, wann eine Ware der EU bzw. Kanada zugerechnet wird und wie der entsprechende Nachweis zu führen ist. Dass es hierbei auf eine präzise Anwendung der mitunter nicht einfach zu verstehenden Regelungen ankommt zeigt die Tatsache, dass eine Verwaltungsvereinbarung (Guidance on the Rules of Origin) zwischen der EU und Kanada über die Auslegung der CETA-­ Ursprungsregeln ausgehandelt wurde.138 Hintergrund dafür ist, dass das CETA Abweichungen gegenüber den Ursprungsprotokollen anderer Freihandelsabkommen aufweist, sodass die über die bisherigen Abkommen bekannten Einzelheiten zu den präferenziellen Ursprungsregeln für CETA nicht in allen Bereichen gelten. Schon optisch orientieren sich die Verarbeitungslisten an den NAFTA-Bestimmungen139, wodurch statt der klassischen vier Spalten im CETA nur zwei Spalten Verwendung finden. Die wesentlichen Elemente des CETA-­ Ursprungsprotokolls wurden durch die Generalzolldirektion in einem Merkblatt zusammengestellt, das in kurzer Folge mehrfach aktualisiert wurde140 und dem auch die Details zu den CETA-spezifischen Ursprungsregeln zu entnehmen sind.141 Das CETA-Ursprungsprotokoll sieht keine förmlichen Präferenznachweise vor. Die Dokumentation des Ursprungs erfolgt somit nur im Wege der Selbstzertifizierung durch den Ausführer.142 Das CETA-Ursprungsprotokoll gestattet in Art. 18 Abs. 1 dafür ausschließlich die Abgabe einer Ursprungserklärung. Die Ursprungserklärung wird so auf einer Rechnung oder einem anderen Handelspapier abgegeben, dass das Ursprungserzeugnis ausreichend genau bezeichnet ist, um die Identifizierung zu ermöglichen (Art. 18 Abs.  2 CETA-Ursprungsprotokoll). Die Zollbehörden der EU und Kanadas dürfen gemäß Art. 19 Abs. 5 des CETA-Ursprungsprotokolls die Verwendung einer Ursprungserklärung für Mehrfachsendungen sog. identischer Ursprungserzeugnisse für einen Zeitraum von höchstens zwölf Monaten genehmigen. Eine solche Regelung ist bislang noch in keiner anderen Präferenzregelung anzutreffen.143

137 ABl. EU 2017 Nr. L 11/465; s. dazu Hallmann (Fn. 5), AW-Prax 2016, 129 (131 f.). 138 Veröffentlicht unter https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/ceta_gui​ dance_en.pdf. 139 Hallmann (Fn. 5), AW-Prax 2016, 129 (131). 140 Letzte Version v. 30.11.2017, abrufbar unter http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Warenur​ sprung-Praeferenzen/WuP_Meldungen/2017/wup_ceta.html; s. zu den verschiedenen Fassungen Felderhoff, CETA und REX, AW-Prax 2017, 200 (201), sowie Erneute Aktualisierung des CETA-Merkblatts, AW-Prax Newsticker 2017, 272. 141 Felderhoff (Fn. 140), AW-Prax 2017, 200 (201) 142 Felderhoff (Fn. 140), AW-Prax 2017, 200 (202). 143 Felderhoff (Fn. 140), AW-Prax 2017, 200 (201 f.).

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Diese Bestimmung bietet eine erhebliche Flexibilität für Wirtschaftsbeteiligte144 und es wäre begrüßenswert, wenn diese Standard für weitere Präferenzregelungen werden könnte. Allerdings ist noch eine Anpassung der UZK-IA erforderlich, damit diese Form des Ursprungsnachweises auch bei Einfuhren in die EU zur Anwendung kommen kann. Wie dargestellt, erfolgt die Zollbegünstigung im Rahmen des CETA ausschließlich auf Basis von Ursprungserklärungen der jeweiligen Ausführer. Ausführer in der EU müssen im Regelfall sog. registrierte Ausführer (abgekürzt REX) sein, um die im CETA-­Ursprungsprotokoll vorgesehenen Ursprungserklärungen überhaupt ausfertigen zu dürfen.145 Das Verfahren des registrierten Ausführers ist derzeit nur im Rahmen des CETA sowie im Allgemeinen Präferenzsystem (APS) der Europäischen Union146 vorgesehen. Das neue Konzept des REX147 sieht keine Bewilligung durch die Zollverwaltung, sondern nur eine Registrierung in einer Datenbank vor (Art. 68 UZK-IA) und könnte mit einigen He­rausforderungen für die Zollverwaltung verbunden sein.148 3. Datenschutz Bei zollrechtlichen Abhandlungen wird dem Datenschutz meistens keine besondere Erwähnung gegönnt. Allerdings befürchteten Kritiker durchaus die Absenkung des Datenschutzniveaus in der EU als Konsequenz des CETA.149 Das hätte durchaus auch erhebliche Konsequenzen für die zollbezogenen Aspekte des Abkommens. Kein Wirtschaftsbeteiligter wird ein Interesse daran haben, dass sensible Unternehmensinformationen beim transatlantischen Datenaustausch Unberechtigten zugänglich gemacht werden. Der Zollkodex der Union (UZK)150 betont bereits in den Erwägungsgründen die „Berücksichtigung der einschlägigen Datenschutzbestimmungen“151, soweit es um den Zugang zu den Daten der Wirtschaftsbeteiligten geht. Um die Geschäftsabläufe zu erleichtern, gleichzeitig jedoch ein angemessenes Niveau bei der Kontrolle der in das oder aus dem Zollgebiet der Union verbrachten Waren gewährleisten zu können, ist es wünschenswert, dass die Angaben der Wirtschaftsbeteiligten unter Berücksichtigung der den Zollbehörden und den anderen an der Kontrolle beteiligten Stellen gemeinsam zugänglich sind. Gemäß Art. 12 Abs. 3 UZK ist bei jeglicher Offenlegung 144 Wolffgang, CETA: Vorläufige Anwendung des Abkommens steht bevor, AW-Prax 2017, 109; Generalzolldirektion, Merkblatt CETA (Version v. 30.11.2017), S. 6. 145 Kritisch dazu Hallmann, AW-Prax 2016, 129 (132 f.). 146 Verordnung (EU) Nr. 978/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2012 über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen, ABl. EU 2012 Nr. L 303/1. 147 Felderhoff (Fn. 140), AW-Prax 2017, 200 (202 f.). 148 Wolffgang (Fn. 144), AW-Prax 2017, 109. 149 Leopold, Absenkung des Datenschutzniveaus in der EU durch CETA?, ZD 2016, 475 (476). 150 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union, ABl. EU 2013 Nr. L 269/1. 151 Erwägungsgrund (20) zum UZK.

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oder Übermittlung von Informationen ein angemessenes Datenschutzniveau unter vollständiger Beachtung der geltenden Datenschutzvorschriften sicherzustellen. Da­ runter fällt auch die in Art. 12 Abs.  2 UZK vorgesehene Möglichkeit, vertrauliche Informationen an die Zollbehörden und andere zuständige Behörden von Ländern oder Gebieten außerhalb des Zollgebiets der Union zum Zwecke der Zollzusammenarbeit im Rahmen von internationalen Übereinkünften zu übermitteln. So regelt etwa Art.  28 des CETA-Ursprungsprotokolls die Zusammenarbeit der Zollbehörden auf beiden Seiten des Atlantiks bei der Überprüfung der Ursprungseigenschaft der Erzeugnisse, auf der eine Ursprungserklärung beruht. Generell sieht Art. 6.1 Abs. 2 CETA die Zusammenarbeit und den damit verbundenen Informationsaustausch im Zollbereich vor, insbesondere im Hinblick auf die Handels­ erleichterung. Dass hierbei durchaus auch sensible Daten einzelner Unternehmen betroffen sein können ergibt sich aus den entsprechenden Regelungen zur Vertraulichkeit. Gemäß Art. 6.12 Abs. 1 CETA hat jede Vertragspartei vertrauliche Informationen streng vertraulich zu behandeln und schützt diese Informationen vor einer Offenlegung, welche die Wettbewerbsposition der übermittelnden Person152 beeinträchtigen könnte. Jede Vertragspartei hat zudem zu gewährleisten, dass die nach diesem Kapitel eingeholten vertraulichen Informationen nur für die Zwecke der Verwaltung und Durchsetzung der Zollangelegenheiten verwendet werden, soweit eine andere Nutzung nicht ausdrücklich vom Betroffenen erlaubt wird (Art. 6.12 Abs. 3 CETA). Das CETA schafft jedoch keine abschließende Regelung in Bezug auf das bei der Durchführung des Abkommens anzuwendende Datenschutzniveau.153 Gleichwohl wird ein indirekter Schutz personenbezogener Daten durch die Regeln zur nationalen Sicherheit (Art. 28.6 Buchst. a) CETA) vermittelt.154 Schließlich legt Art. 28.8 Abs. 1 CETA fest, dass das Abkommen die Vertragsparteien nicht dazu verpflichtet, Informationen zu übermitteln oder zugänglich zu machen, deren Offenlegung nach ihrem Recht verboten oder beschränkt ist. Im Ergebnis bringt die CETA-Anwendung in datenschutzrechtlicher Hinsicht keine Absenkung des Datenschutzniveaus für natürliche Personen und Unternehmen in der EU mit sich.155 Dadurch trägt das CETA auch für einen angemessenen Schutz der Zolldaten Sorge.

VI. Auswirkungen des Brexits Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags sieht es unverändert danach aus, dass der Exit vom Brexit keine Alternative für die Briten ist. Premierministerin Theresa May hat in ihrer Rede in Florenz am 22.9.2017 bestätigt, dass das Vereinigte Königreich den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen wird, wenn auch erst nach einer Übergangsfrist (implementation period of around two years), nachdem der Austritt 152 Eine Person ist nach der Definition in Art. 1.1 CETA eine natürliche Person oder ein Unternehmen. Zum Unternehmensbegriff s. ebenfalls die (weite) Definition in Art. 1.1 CETA. 153 Leopold (Fn. 150), Zeitschrift für Datenschutz 2016, 475 (477). 154 Leopold (Fn. 150), Zeitschrift für Datenschutz 2016, 475 (476). 155 Leopold (Fn. 150), Zeitschrift für Datenschutz 2016, 475 (478).

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aus der EU vollzogen wird.156 Diese Intention wurde seitdem mehrfach bekräftigt. Bis dahin ist das CETA im Vereinigten Königreich wie in allen anderen EU-Mitgliedstaaten vorläufig anwendbar.157 Allerdings hat London besondere Zugeständnisse und Vorbehalte in Bezug auf den vorübergehenden Aufenthalt von natürlichen Personen für Geschäftsreisen158 und für weitere Bereiche des Marktzugangs im CETA verankert. Es ist noch zu klären, ob diese Regelungen von der vorläufigen Anwendbarkeit des CETA erfasst werden.159 Gemäß Art. 50 Abs. 3 EUV finden die EU-Verträge auf den austretenden Staat nach seinem abgeschlossenen EU-Austritt keine Anwendung mehr. Gleichwohl erstreckt sich der räumliche Geltungsbereich des CETA laut Art. 1.3 Buchst. b) des Abkommens im Falle der EU auf die Gebiete, in denen der EUV und AEUV anwendbar sind. Somit wird Großbritannien nach dem Abschluss des Art. 50-Verfahrens keine CETA-­ Vertragspartei mehr sein. Zugleich ist der Beitritt Großbritanniens zum CETA auch ausgeschlossen (Umkehrschluss aus Art. 30.10 Abs. 5 CETA, welcher lediglich den Beitritt eines neuen EU-Mitgliedstaats vorsieht). Die vorläufige Anwendung von CETA zwischen Kanada und Großbritannien vor Austritt aus der EU gemäß Art. 50 EUV scheint jedoch zulässig.160 Für Großbritannien und Kanada ist die Anwendung des CETA von immenser wirtschaftlicher Bedeutung: Im Jahre 2016 flossen 40 % der gesamten kanadischen Waren­ exporte in die EU nach Großbritannien.161 Verschiedene Szenarien für die Zeit nach dem faktischen Austritt Großbritanniens aus der EU sind hier denkbar. Zunächst könnte, im Rahmen des bilateralen Austrittsabkommen gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV, die CETA-Anwendung geklärt werden.162 Da jedoch im EU-Recht keinerlei Grundlagen für ein Austrittsabkommen geregelt sind, besteht hier eine Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Kompetenzen zur Anwendung von CETA.163 Auch Art. 8 EUV könnte in diesem Kontext von Bedeutung sein, da die EU danach Übereinkünfte mit Nachbarländern treffen soll „um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Bezie156 Vgl. dazu den Text der Rede unter https://www.gov.uk/government/speeches/pms-florence-­ speech-a-new-era-of-cooperation-and-partnership-between-the-uk-and-the-eu (29.9.2017). Zu den Konsequenzen s. auch Europäische Kommision, Withdrawal of the UK and EU rules in the field of customs and indirect taxation – Notice to stakeholders, tradoc 156573 v. 30.1.2018. 157 Sosnow/Logvin/Massicotte, The Brexit Vote: Its Impact on the Canada-EU Comprehensive Economic and Trade Agreement and UK’s Obligations Under Comprehensive Trade and Economic Trade Agreement, GTCJ 2017, 125 (129 f.). 158 Art. 10 CETA und Anhang 10-B zum CETA. 159 Sosnow/Logvin/Massicotte (Fn. 158), GTCJ 2017, 125 (127). 160 Sosnow/Logvin/Massicotte (Fn. 158), GTCJ 2017, 125 (129 f.). 161 Tran, Brexit: How a Weakened European Union Affects NAFTA, LBRA 2016, 280 (285). 162 Sosnow/Logvin/Massicotte (Fn. 158), 129; Webb, CETA: the EU-Canada Free Trade Agreement, Briefing Paper 7492 of House of Commons Library, 3 February 2017, abrufbar unter: http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7492, S.  19 (29.9.2017) 163 Calliess in Calliess/Ruffert (Fn. 30), Art. 50 EUV Rz. 7.

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hungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“ (Art. 8 Abs. 1 EUV).164 Des Weiteren könnte CETA eine Vorlage für ein neues Freihandelsabkommen zwischen Kanada und Großbritannien darstellen.165 Während der Austrittsphase nach Art. 50 EUV besteht allerdings keine rechtliche Möglichkeit für die Vereinigte Königreich, eigene Handelsabkommen mit Drittstaaten (einschl. Kanada) auszuhandeln. Allenfalls können informelle Vorgespräche geführt werden.166

VII. Fazit und Ausblick Festzuhalten bleibt, dass nach aktuellem Stand 38 regionale und nationale Parlamente der EU-Mitgliedstaaten das CETA ratifizieren müssen, damit das Abkommen auch endgültig in Kraft treten kann.167 Somit können die Vorschriften bzgl. der Investor-Staat-Streitbeilegung, Portfolioinvestitionen, Steuerwesen und Verwaltungsverfahren auf der mitgliedstaatlichen Ebene auch erst nach der Ratifizierung durch alle Nationalparlamente in Kraft treten. Das ist aus Sicht der EU auch deshalb unkom­ fortabel, da der CETA-Streitbeilegungsmechanismus von den Vertragsparteien als Grundlage für die Entwicklung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs mit Rechtsbehelfsinstanz wahrgenommen wird (Art. 8.29 CETA). Diese multilaterale Struktur soll in der Zukunft bilaterale Systeme wie das im CETA ersetzen indem der Investitionsgerichtshof für Investitionsschutzstreitigkeiten nach allen Abkommen und Übereinkommen zuständig sein soll.168 Für ihre Errichtung wird allerdings zuvor das Erreichen einer kritischen Masse an Teilnehmern benötigt.169 Die Pläne zur Errichtung eines Investitionsgerichtshofs hätten bei einem Scheitern des CETA-Gerichts kaum Chancen auf eine Realisierung. Die vorläufige Anwendbarkeit des CETA ist mit keinem Verfallsdatum versehen und kann sich über viele Jahre hinstrecken. Es ist möglich, dass das CETA nie vollständig in Kraft treten wird. Allerdings kann jede CETA-Vertragspartei die vorläufige Anwendung durch schriftliche Notifikation der anderen Vertragspartei beenden (Art. 30.7 Abs. 3 Buchst. c) CETA). Die Beendigung wird in diesem Fall am ersten Tag des zweiten Monats nach dieser Notifikation wirksam. Hierzu hat der Rat erklärt, dass die vorläufige Anwendung beendet werden müsse und werde, wenn die Ratifizierung des CETA aufgrund der Entscheidung eines Verfassungsgerichts oder nach Abschluss anderer Verfassungsverfahren und förmlicher Notifizierung durch die Regierung des betreffenden Staates auf Dauer und endgültig scheitere.170 Deutschland und Österreich haben gleichzeitig dazu erklärt, dass sie sich als Vertragsparteien des CETA 164 Calliess in Calliess/Ruffert (Fn. 30), Art. 50 EUV Rz. 8. 165 Sosnow/Logvin/Massicotte (Fn. 158), GTCJ 2017, 125 (129 f.). 166 Sosnow/Logvin/Massicotte (Fn. 158), GTCJ 2017, 125. 167 Laird/Petillion (Fn. 46), S. 173. 168 Die Bundesregierung unterstützt dieses Vorhaben ausdrücklich, s. BT-Drucks. 18/8175 v. 20.4.2016 (Fn. 120), S. 3. 169 Abs. 6(i) des Gemeinsamen Auslegungsinstruments (Fn. 10). 170 Rat der Europäischen Union, Erklärung des Rates zur vorläufigen Anwendbarkeit des CETA, ABl. EU 2017 Nr. L 11/15, Nr. 20.

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i.S.d. Art. 30.7 Abs. 3 Buchst. c) betrachten und ihre Rechte aufgrund des CETA ausüben können.171 Die beim BVerfG im Hauptsacheverfahren anhängigen Verfassungsbeschwerden können also trotz vorläufiger Anwendung des Abkommens dazu führen, dass das CETA insgesamt zu Fall gebracht wird, was sich auch auf den Teil des Abkommens beziehen würde, der alleine der EU-Kompetenz unterfällt. Aber nicht nur aus Deutschland droht Gefahr für die Fortexistenz des CETA. Der französische Präsident Macron hatte im Wahlkampf versprochen, die Auswirkungen des auch in Frankreich umstrittenen Abkommens auf Umwelt und Gesundheit zu bewerten und ggf. Änderungen zu fordern. Die zur Analyse des CETA eingesetzte unabhängige Kommission hat ihr Gutachten172 am 8.9.2017 vorgelegt. Sie kommt darin zu dem Ergebnis, dass CETA nicht mit dem Pariser Klimaschutzvertrag zu vereinbaren sei, die Gefahr einer Schwächung der bestehenden EU-Standards im Gesundheitsbereich bestehe und den europäischen Markt für Erzeugnisse öffne, die innerhalb der EU unter Wahrung des Vorsorgeprinzips nicht vermarktungsfähig seien. Die vorläufige Anwendbarkeit des Abkommens hat Frankreich allerdings gleichwohl nicht mehr in Frage gestellt. Im Falle einer Ablehnung durch ein nationales Parlament müssen allerdings auch Nachbesserungen beim Abkommenstext möglich sein, nach denen dieser in geänderter Fassung erneut einem Parlament zur Ratifikation zugeleitet werden kann. Solche Änderungen könnten dann aber die Gültigkeit von bereits erfolgten Ratifikationen in Frage stellen. Es wird davon ausgegangen, dass eine Ablehnung der Vorschriften eine zeitliche Verzögerung des Inkrafttretens bewirkt, aber auch das Risiko einer Nichtratifizierung besteht.173 Die Auswirkungen einer gänzlichen Ablehnung der relevanten Vorschriften sind rechtlich noch nicht umfassend geklärt. Es verwundert daher nicht, dass die EU nach all dem mit CETA verbundenen Gezeter nach einem Weg sucht, künftige Freihandelsabkommen ohne die beim CETA durchlebten Friktionen174 abzuschließen. Das soll durch die Ausklammerung derjenigen Materien erfolgen, die in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen. Insbesondere sollen Fragen des Investitionsschutzes ausgeklammert werden. Durch den Charakter als Abkommen mit ausschließlicher EU-Kompetenz soll das Erfordernis der (Mit-)Ratifikation durch die Parlamente in den Mitgliedstaaten entfallen. Entsprechend machte der Präsident der Europäischen Kommission in seiner Rede zur Lage der Union am 13.9.2017 deutlich, dass bei Handelsverträgen künftig immer das Europäische Parlament das letzte Wort haben soll.175

171 Erklärung Deutschlands und Österreichs, ABl. EU 2017 Nr. L 11/15, Nr. 21. 172 Abrufbar unter https://static.mediapart.fr/files/2017/09/08/rapport-ceta.pdf. 173 Mayer (Fn. 32), Gutachten BMWi, S. 5. 174 Die FAZ spricht in diesem Zusammenhang von „vergleichbaren Dramen“, welche die EU-Kommission künftig verhindern will, s. FAZ v. 22.9.2017, S. 22. 175 Europäische Kommission – Rede v. Präsident Jean-Claude Juncker, Rede zur Lage der Union 2017, veröffentlicht unter http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-17-3165_de.htm (29.9.2017).

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Alleine die Herausnahme des Kapitels über den Schutz von Investitionen garantiert aber nicht, dass das Abkommen nicht doch „nationale“ Anteile beinhaltet. Zudem ist der Nutzen eines Freihandelsabkommens erheblich geschmälert, wenn es ohne Investitionsschutzregelungen auskommen muss.176 Es spricht also viel dafür, die bereits im CETA verankerte Initiative zur Schaffung eines unabhängigen multilateralen Investitionsgerichtshofs mit abkommensübergreifender Zuständigkeit nachhaltig zu verfolgen, auch wenn der Weg dorthin nicht minder Gezeter auslösen dürfte als der Abschluss des CETA.

176 FAZ v. 22.9.2017, S. 22.

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Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Exportkontrollen in Deutschland und Österreich Inhaltsübersicht

I. Einführung



II. Rechtsrahmen 1. Recht der EU 2. Nationales Recht a) Deutschland b) Österreich III. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Exportkontrollen in Deutschland und Österreich 1. Gesetzliche Bestimmungen a) Nationale Umsetzung, Konkreti­ sierung und Ergänzung der ­EU-Verordnungen b) Nationale Bestimmungen außerhalb des Regelungsbereichs der ­EU-Verordnungen 2. Administration und Verfahren a) Deutschland – BAFA und BMWi b) Österreich – BMDW





3. Anforderungen an die Unternehmens­ organisation (Compliance) a) Deutschland – Ausfuhrverantwortlicher und Internal Compliance Program b) Österreich – Verantwortlicher ­Beauftragter und organisatorische Sicherungsmaßnahmen 4. Überwachung und Prüfung a) Deutschland – Außenwirtschaftsprüfungen b) Österreich – Allgemeine Kontrollmaßnahmen 5. Sanktionierung von Verstößen, ­Möglichkeit der „Selbstanzeige“ a) Deutschland – Bußgeldbefreiende Offenlegung von formellen ­Verstößen b) Österreich – Selbstanzeige von ­Finanzvergehen

IV. Fazit

I. Einführung Die EU-weite Harmonisierung des Rechtsrahmens, der Administration und der Überwachung im Bereich der Exportkontrollen einschließlich der Sanktionierung von Verstößen ist ein erklärtes und begrüßenswertes Ziel des Vorschlags der EU-Kommission vom 28. September 2016 (Vorschlag COM 2016/616) zur Neufassung der Verordnung (EG) Nr. 428/2009 (EG-Dual-Use-VO).1 Natürliche Grenzen sind diesem Ziel aber zum einen durch die unterschiedliche nationale Umsetzung von EU-Vorschriften und die heterogene nationale Gesetzgebung in den EU-Mitgliedstaaten gesetzt. Zum anderen erschweren unterschiedliche Verwaltungsausstattung sowie Abweichungen in Verwaltungs-, Überwachungs- und Sanktionierungspraxis in 1 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Unionsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung, der technischen Unterstützung und der Durchfuhr betreffend Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Neufassung) vom 28. September 2016 (COM 2016/616).

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den einzelnen EU-Mitgliedstaaten die Harmonisierung. Nachfolgend sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Rechtsrahmens, der Administration und der Überwachung sowie der Sanktionierung von Verstößen im Bereich der Exportkon­ trollen in den EU-Mitgliedstaaten am Beispiel der beiden historisch einem gemeinsamen Rechtskreis, dem „Deutschen Rechtskreis“2, zugehörigen Nachbarländer Deutschland und Österreich dargestellt werden. Anhand dieses Vergleichs können Schlüsse hinsichtlich der zentralen Herausforderungen für die angestrebte Harmonisierung sowie möglichen Ansatzpunkten für deren Umsetzung insbesondere auch mit Blick auf andere, rechtssystematisch weiter voneinander entfernte EU-Mitgliedstaaten gezogen werden.

II. Rechtsrahmen Die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Exportkontrollen in Deutschland und Österreich erfordert zunächst die Beleuchtung des Rechtsrahmens, welcher die Grundlage der jeweils in Deutschland und Österreich anzuwendenden Exportkontrollbestimmungen darstellt. Der exportkontrollrechtliche Rahmen in der EU und deren Mitgliedstaaten wird durch Beschlüsse der Internationalen Exportkontrollregime (Wassenaar Arrangement, Australia Group, Missile Technology Control Regime und Nuclear Suppliers Group)3 sowie durch völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen vorgegeben, die von den jeweiligen Mitglieds-/Vertragsstaaten bzw. der EU eingehalten und umgesetzt werden müssen. Die gesetzgeberische Umsetzung des exportkontrollrechtlichen Rahmens in der EU und ihren Mitgliedstaaten erfolgt sowohl durch europäische als auch durch nationale Regelungen. 1. Recht der EU Die wichtigste Grundlage des Europarechts ist der Vertrag von Lissabon4, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat und die EU- und EG-Verträge reformierte. An deren Stelle traten die primärrechtlichen Verträge „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) und „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV). Die Art. 26 ff. AEUV statuieren den freien Binnenmarkt in der EU als Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der EU-Verträge gewährleistet ist. Die EU erlässt dabei alle erforderlichen Maßnahmen, um den Binnenmarkt zu verwirklichen beziehungsweise dessen Funktionieren zu gewährleisten. 2 Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung, 4. Aufl. 2010, §  14 Rz. 1. 3 Zu Einzelheiten siehe Pelz in Hocke/Sachs/Pelz, Außenwirtschaftsrecht, Einführung, Rz. 19 ff. 4 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007.

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Die Exportkontrollen in Deutschland und Österreich

Im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik (Art. 206 f. AEUV) besitzt die EU nach Art. 3 Abs. 1 lit. e) AEUV die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz.5 Die EU-Mitgliedstaaten dürfen nationale gesetzliche Regelungen in diesem Bereich nur erlassen, wenn das Unionsrecht sie hierzu ermächtigt, beispielsweise durch entsprechende Öffnungsklauseln.6 Unter die Gemeinsame Handelspolitik der EU fällt auch der Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial.7 Zwar kann gemäß Art. 346 I b) AEUV jeder EU-Mitgliedstaat diejenigen Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit be­ treffen. Jedoch ermächtigt Art. 346 I b) AEUV die EU-Mitgliedstaaten nach h. M. lediglich zu vom Unionsrecht abweichenden nationalen Regelungen in begründeten Einzelfällen und ändert nichts am Grundsatz der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der EU auch für den Handel mit Rüstungsgütern und Kriegsmaterial.8 Die eigene Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten erschöpft sich in der Exportkontrolle, ausgehend von vorgenannten Grundsätzen, deshalb im Wesentlichen im Bereich der Rüstungsgüter unter Berufung auf Art. 346 I b) AEUV und im Bereich der Dual-Use-Güter unter Berufung auf die Öffnungsklausel des Art. 8 EG-Dual-UseVO9 in den zur Wahrung der nationalen Sicherheitsinteressen erforderlichen nationalen Bestimmungen. Zudem bestehen auch umfangreiche nationale Regelungen im Bereich der technischen Unterstützung, welche gemäß Art. 7 EG-Dual-Use-VO im Fall der Verbindung mit dem Grenzübertritt von Personen vom Geltungsbereich der EG-Dual-Use-VO bisher nicht erfasst ist.10 Der EU-Gesetzgeber kann im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 288 AEUV verschiedene verbindliche (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse) und unverbindliche (Empfehlungen, Stellungnahmen) Rechtshandlungen vornehmen. Als EU-Gesetzgeber im Sinne von Art. 288 AEUV sind dabei alle Organe der EU zu verstehen, da sich die Norm an alle Organe der EU (Parlament, Rat der EU,

5 Weiß in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, AEUV, Art. 207 Rz. 89 f. m. w. N. 6 Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann, AWR-Kommentar, Ordnungsnummer 612/ AWV, § 21 Rz. 12 und § 8 Rz. 15 ff., jeweils m. w. N. 7 Hahn in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 207 AEUV Rz. 14; Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn. 6), Ordnungsnummer 612/AWV, § 21 Rz. 12 und § 8 Rz. 15 ff., jeweils mit m. w. N. 8 Hahn in Calliess/Ruffert (Fn. 7), Art. 207 AEUV Rz. 14; Simonsen in Wolffgang/Simonsen/ Rogmann (Fn. 6), Ordnungsnummer 612/AWV, § 21 Rz. 12 m. w. N. 9 Art. 8 Abs. 1 der EG-Dual-Use-VO lautet: „Ein Mitgliedsstaat kann die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt sind, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder aus Menschenrechtserwägungen untersagen oder hierfür eine Genehmigungspflicht vorschreiben.“ 10 Gemäß Gutachten 1/94 des EuGH vom 15. November 1994 fiel eine Dienstleistung, die notwendigerweise mit dem Grenzübertritt von Personen verbunden ist, nicht unter die gemeinsame Handelspolitik i. S. v. Art. 3 EG-Vertrag. Der Vorschlag COM 2016/616 sieht aufgrund der Änderung der Rechtslage durch den Vertrag von Lissabon nunmehr auch Kontrollen für solche Dienstleistungen vor.

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Kommission, Europäischer Rat, Gerichtshof, EZB und Rechnungshof) richtet.11 Die Gesetzgebung der EU setzt gemäß Art. 289 I, 294 AEUV für das ordentliche und gemäß Art. 289 II AEUV für das besondere Gesetzgebungsverfahren stets eine Beteiligung des Europäischen Parlaments voraus.12 Außerdem ist für den Erlass von Rechtshandlungen eine Rechtsgrundlage aus dem AEUV nötig, welche entweder einen Formzwang für die Art der Rechtshandlung vorschreibt oder die Wahl in das Ermessen des Gesetzgebers stellt.13 Verordnungen gemäß Art. 288 II AEUV haben sofortige, allgemeine Gültigkeit, sind für alle EU-Bürger verbindlich und gelten unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten. Der Rat und das Parlament der EU können die EU-Kommission nach Art. 290 AEUV auch zum Erlass von ebenfalls verbindlichen und unmittelbar geltenden sog. Delegierten Verordnungen zur Konkretisierung, Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Aspekte und Details der jeweils zugrunde liegenden Verordnung ermächtigen. Richtlinien gemäß Art. 288 III AEUV entfalten hingegen keine unmittelbare Geltung in den EU-Mitgliedstaaten. Zwar sind sie für jeden EU-Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind, bezüglich des zu erreichenden Ziels verbindlich. Die Wahl von Mittel und Form für die Umsetzung in nationales Recht steht den EU-Mitgliedstaaten jedoch frei.14 Anders als im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik können die Organe der EU in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) keine Rechtsetzungsakte in den unionsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 ff. AEUV erlassen.15 Die GASP ist in den Art. 23 ff. EUV geregelt und verfolgt gemäß Art. 23 EUV die in Art. 21 EUV genannten Grundsätze und Ziele. Zur Durchführung der GASP fassen der Europäische Rat und der Rat der EU einstimmige Beschlüsse. Die Beschlüsse im Rahmen der GASP binden lediglich die Mitgliedstaaten und bedürfen der Umsetzung in nationales Recht.16 Zudem hat der Rat der EU gemäß Art. 207 bzw. 215 AEUV die Kompetenz zum Erlass von Wirtschafts- und Finanzsanktionen auf Basis eines entsprechenden GASP-Beschlusses.17 Die EU hat in der Exportkontrolle von ihrer Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik insbesondere durch Erlass von Verordnungen umfangreich Gebrauch gemacht: Neben der in der exportkontrollrechtlichen Praxis besonders bedeutsamen EG-Dual-Use-VO betreffend den Umgang mit Gütern, die sowohl zu zivilen als auch zu militärischen Zwecken verwendet werden können, sind insbesondere die Feuerwaffen-VO (VO (EU) Nr. 258/2012 für dort genannte Schusswaffen) und die Anti-Folter-VO (VO (EG) Nr. 1236/2005 betreffend Güter für Folter und unmenschliche Behandlung) von großer praktischer Relevanz.

11 Schroeder in Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rz. 14. 12 Gellermann in Streinz (Fn. 11), Art. 289 AEUV Rz. 2 ff. 13 Schroeder in Streinz (Fn. 11), Art. 288 AEUV Rz. 10. 14 Schroeder in Streinz (Fn. 11), Art. 288 AEUV Rz. 66 ff. 15 Kaufmann-Bühler in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 5), EUV, Art. 24 Rz. 24. 16 Pelz in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), Einführung, Rz. 27. 17 Hahn in Calliess/Ruffert (Fn. 7), Art. 207 AEUV Rz. 56 ff.

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Des Weiteren erlässt die EU regelmäßig Verordnungen zur Umsetzung von GASP-Beschlüssen betreffend Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen einzelne Länder und/ oder Personen, Organisationen und Einrichtungen (Embargos), die zumeist auf entsprechenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates beruhen.18 Im Bereich der Waffen (einschließlich Kriegswaffen), Munition und Rüstungsgüter bestehen auf EU-Ebene hingegen im Wesentlichen nur gemeinsame Listen (Kriegsmaterial, Gemeinsame Militärgüterliste), gemeinsame Grundsätze (Gemeinsamer Standpunkt 2008/944/GASP des Rates betreffend gemeinsame Regeln für die Kon­ trolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern) sowie Richtlinien (Verteidigungsgüterrichtlinie). Von dem sich daraus ergebenden ergänzenden nationalen Regelungsspielraum machen die EU-Mitgliedstaaten unter Berufung auf Art. 346 I b) AEUV bzw. Art. 8 EG-Dual-Use-VO umfassend Gebrauch. 2. Nationales Recht a) Deutschland In Deutschland orientiert sich die Exportkontrolle an den außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik, welche sich aus den gesetzlichen und internationalen Verpflichtungen ergeben und vor allem der inneren Sicherheit und dem internationalen Frieden dienen. Nationale Rechtsgrundlagen der Exportkontrolle in Deutschland sind das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG), das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und die Außenwirtschaftsverordnung (AWV). Gemäß § 1 AWG gilt der Grundsatz der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs. Diese Freiheit kann aber nach § 4 AWG durch Rechtsverordnung insbesondere beschränkt werden, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten, eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und/oder eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu verhüten und/oder die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten. § 4 AWG konkretisiert die europarechtlichen Öffnungsklauseln im Bereich der Exportkontrolle für das deutsche Außenwirtschaftsrecht.19 Auf dieser Grundlage enthält die AWV auf nationaler Ebene ergänzende Verbote und Genehmigungspflichten, welche die europarechtlich gewährleistete Warenverkehrs­ freiheit unter Beachtung des Vorrangs des Unionsrechts aufgrund der grundsätzlichen Gesetzgebungskompetenz der EU einschränken. Neben KWKG, AWG und AWV sind für die deutsche Exportkontrolle auch die politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern vom 19. Januar 2000 von Bedeutung. Mit diesen wurde insbesondere der Gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP des Rates der EU betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Mili18 Schneider/Terhechte in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 5), AEUV, Art. 215 Rz. 6, 15. 19 Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn.  6), Ordnungsnummer 611/AWG, §  4 Rz. 2 und 11, jeweils m. w. N.

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tärgütern in die deutsche Verwaltungspraxis der Exportkontrolle in Bezug auf Kriegswaffen, Rüstungsgüter und Güter mit doppeltem Verwendungszweck überführt und dort verankert. b) Österreich Auch die Exportkontrollen in Österreich sind gemäß §§ 4 ff. Außenwirtschaftsgesetz 2011 (AußWG 2011) in erster Linie auf die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen Österreichs aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder anderer völkerrechtlicher Regelungen, insbesondere Verpflichtungen zur Durchführung von restriktiven Maßnahmen oder zur Durchführung von Übereinkommen im Bereich der Rüstungskontrolle und der Kontrolle des Technologietransfers ausgerichtet. Maßgebliche nationale Rechtsgrundlagen sind das AußWG 2011, die Erste Außenwirtschaftsverordnung 2011 (1. AußWV 2011) und die Dritte Außenwirtschaftsverordnung 2014 (3. AußWV 2014), welche die Vorgaben des EU-Rechts umsetzen und im Rahmen der nationalen Gesetzgebungskompetenz ergänzen.20 Kontrollen von Aktivitäten im Zusammenhang mit Kernmaterial und bestimmten nuklearbezogenen Gütern werden gesondert im Sicherheitskontrollgesetz 2013 (SKG 2013) geregelt.

III. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Exportkontrollen in Deutschland und Österreich 1. Gesetzliche Bestimmungen a) Nationale Umsetzung, Konkretisierung und Ergänzung der ­EU-Verordnungen Im Regelungsbereich der in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich anzuwendenden EU-Verordnungen (EG-Dual-Use-VO, Feuerwaffen-VO, Anti-Folter-VO sowie personen- und länderbezogene EU-Embargoverordnungen) besteht grundsätzlich ein identischer Rechtsrahmen, der in den EU-Mitgliedstaaten umzusetzen ist und lediglich durch nationale Bestimmungen konkretisiert und ergänzt werden kann. Im besonders praxisrelevanten Bereich der Dual-Use-Güter (Hardware, Software und Technologie, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können) besteht somit sowohl in Deutschland als auch in Österreich gemäß Art. 3 Abs. 1 EG-DualUse-VO eine Genehmigungspflicht für die Ausfuhr derjenigen Dual-Use-Güter, die in Anhang I der EG-Dual-Use-VO gelistet sind. Für in Anhang IV der EG-Dual-UseVO als Teilmenge des Anhangs I der EG-Dual-Use-VO aufgeführte, aus exportkontrollrechtlicher Sicht besonders kritische Dual-Use-Güter besteht nach Art. 22 Abs. 1 EG-Dual-Use-VO sogar eine Genehmigungspflicht für deren Verbringung innerhalb 20 Die Zweite Außenwirtschaftsverordnung 2011 (2. AußWV 2011) wurde am 6. Juli 2017 außer Kraft gesetzt.

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des Zollgebiets der EU. Schließlich besteht eine Genehmigungs-/Unterrichtungspflicht nach Art. 4 EG-Dual-Use-VO im Fall der Ausfuhr von nicht in Anhang I der EG-Dual-Use-VO gelisteten Dual-Use-Gütern (sog. Catch-all-Kontrollen), wenn der Ausführer von der in seinem Mitgliedstaat zuständigen Behörde über einen in Art. 4 EG-Dual-Use-VO genannten kritischen Verwendungszusammenhang (ABC-Waffen, Flugkörper für ABC-Waffen, militärische Endverwendung in Waffenembargoländern und Verwendung als Bestandteile für zuvor illegal ausgeführte Rüstungsgüter) unterrichtet wurde oder Kenntnis hiervon hat. Aus den jeweils zusätzlich anzuwendenden nationalen gesetzlichen Bestimmungen Deutschlands und Österreichs zur nationalen Konkretisierung und Ergänzung des nach EU-Recht einheitlichen Rahmens für den Export von Dual-Use-Gütern ergeben sich jedoch einige bemerkenswerte Abweichungen: Nur Deutschland hat mittels § 8 Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 11 Abs. 2 AWV in Verbindung mit Teil I B der Ausfuhrliste (Anlage AL zur AWV) von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf Basis der Öffnungsklausel in Art. 8 EG-Dual-Use-VO zusätzliche nationale Beschränkungen für die Ausfuhr und darüber hinaus auch für die Verbringung von weiteren gelisteten Dual-Use-Gütern als denjenigen des Anhangs I der EG-Dual-UseVO bei Bezug zu bestimmten, aus der jeweiligen Güterlistenposition des Teils I B der AL ersichtlichen Länder zu statuieren.21 Solche zusätzlichen nationalen Beschränkungen für einen erweiterten Kreis gelisteter Dual-Use-Güter existieren in Österreich nicht. Im Bereich der Catch-all-Kontrollen für nicht gelistete Dual-Use-Güter aufgrund eines Verwendungszusammenhangs gemäß Art. 4 EG-Dual-Use-VO enthält zwar auch das österreichische Recht mit § 15 AußWG 2011 i. V. m. § 5 der 1. AWV 2011 eine den Art. 4 EG-Dual-Use-VO konkretisierende nationale Regelung zu deren Umsetzung. Jedoch bestehen exportkontrollrechtliche Beschränkungen in Österreich im Bereich der Catch-all-Kontrollen nur für die bereits in Art. 4 EG-Dual-Use-VO genannten Verwendungszwecke (ABC-Waffen, Flugkörper für ABC-Waffen, militärische Endverwendung in Waffenembargoländern oder Verwendung als Bestandteile für zuvor illegal ausgeführte Rüstungsgüter). Dagegen wird in Deutschland mittels § 9 AWV, wiederum auf Basis der Öffnungsklausel des Art. 8 EG Dual-Use-VO22, eine zusätzliche Genehmigungspflicht für die zivil-nukleare Verwendung nicht gelisteter Dual-­ Use-Güter in aktuell neun dort genannten Ländern konstituiert. Nur Österreich hat dafür aber im Bereich der Catch-all-Kontrollen von der Öffnungsklausel des Art. 4 Abs. 5 EG-Dual-Use-VO Gebrauch gemacht und eine Unterrichtungs- bzw. Meldepflicht gegenüber der zuständigen Behörde für einen Verwendungszusammenhang im Sinne des Art 4 Abs. 1 EG-Dual-Use-VO (ABC-Waffen, Flugkörper für ABC-Waffen) nicht nur für den Fall der (positiven) Kenntnis, sondern bereits für den Fall des begründeten Verdachts eines solchen Verwendungszusammenhangs („bestimmt sein können“) konstituiert. Während also in Deutschland die EU-Catch-all-­Kontrollen im 21 Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn.  6), Ordnungsnummer 612/AWV, §  8 Rz. 24 m. w. N.; Kreuzer in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), § 8 AWV Rz. 5. 22 Kreuzer in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), § 9 AWV Rz. 2.

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Hinblick auf zusätzliche kritische Verwendungen erweitert und damit verschärft wurden, erfolgte in Österreich eine Verschärfung hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen für das Eingreifen der Unterrichtungs- bzw. Meldepflicht im Verwendungszusammenhang mit ABC-Waffen und Flugkörpern für ABC-Waffen. Erhebliche Unterschiede bestehen insbesondere auch im Bereich der Kontrollen von technischer Unterstützung, welche gemäß Art. 7 EG-Dual-Use-VO im Falle der Verbindung mit dem Grenzübertritt von Personen vom Geltungsbereich der EG-DualUse-VO bisher nicht erfasst ist und deshalb nationalen Regelungen auf Grundlage der Gemeinsamen Aktion des Rates vom 22. Juni 2000 betreffend die Kontrolle von technischer Unterstützung in Bezug auf bestimmte militärische Endverwendungen (2000/401/GASP) unterliegt. Das österreichische AußWG 2011 sieht für technische Unterstützung nicht nur Genehmigungspflichten gemäß § 23, sondern auch Verbote gemäß § 22 im Fall einer besonders kritischen Bestimmung (völkerrechtswidrige Verwendung im Zusammenhang mit ABC-Waffen und Flugkörpern hierfür sowie militärische Verwendung in einem Waffenembargoland) vor, während die §§ 49 ff. der deutschen AWV für technische Unterstützung im In- und Ausland bei sämtlichen kritischen Verwendungszusammenhängen lediglich Genehmigungspflichten statuieren. Darüber hinaus gelten die Genehmigungspflichten für technische Unterstützung gemäß §§ 49 ff. AWV nur für „Deutsche“ und „Inländer“ im Sinne von § 2 Abs. 15 AWG. Eine solche Eingrenzung ist im österreichischen AußWG 2011 nicht enthalten. b) Nationale Bestimmungen außerhalb des Regelungsbereichs der ­EU-Verordnungen Außerhalb des Regelungsbereichs der unmittelbar verbindlich anzuwendenden EU-Verordnungen ergeben sich infolge der unterschiedlichen nationalen Gesetzgebung deutliche Abweichungen sowohl systematischer als auch inhaltlicher Art: Unterschiede in den nationalen exportkontrollrechtlichen Bestimmungen Deutschlands und Österreichs bestehen zunächst bei den Militär- (Terminologie EU) bzw. Rüstungs- (Terminologie Deutschland) bzw. Verteidigungsgütern (Terminologie Österreich), also Gütern, die im Gegensatz zu Dual-Use-Gütern eindeutige militärische Konstruktionsmerkmale aufweisen, da sie für militärische Zwecke besonders kon­ struiert oder verändert wurden. Die deutsche AWV enthält als Anlage AL eine nationale Ausfuhrliste, die aus einem Teil I A und einem Teil I B besteht. Während Teil I B die zusätzlichen national gelisteten Dual-Use-Güter enthält (siehe dazu oben III.1.a), umfasst Teil I A als „Liste für Waffen, Munition und Rüstungsmaterial“ die für Exporte (Ausfuhr und Verbringung) aus Deutschland einer Genehmigungspflicht gemäß §§ 8 Abs. 1 Nr. 1, 11 Abs. 1 AWV unterliegenden Rüstungsgüter. Deutschland hat somit auf Grundlage des Art. 346 I b) AEUV zur Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen eine eigene Liste für Rüstungsgüter etabliert. Hingegen bestehen in Österreich zwar ebenfalls gemäß §§ 14 Abs. 1 Nr. 1, 26 AußWG 2011 Genehmigungspflichten für die Ausfuhr und Verbringung von Verteidigungsgütern. Diese Verteidigungsgüter sind aber nicht wie in Deutschland in einer eigenen nationalen Liste festgelegt, sondern es wird über § 1 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 AußWG 2011, § 1 der 3. AußWV 196

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2014 die Gemeinsame Militärgüterliste der EU gemäß Richtlinie 2009/43/EG zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern (Verteidigungsgüterrichtlinie) in der jeweils geltenden Fassung einbezogen. Zwar ist der Aufbau von Teil I A der deutschen AL und Gemeinsamer Militärgüterliste der EU identisch, doch sind trotz laufender Harmonisierung und Anpassung bei einzelnen Listenpositionen stets Abweichungen im Wortlaut vorhanden, die in Einzelfällen dazu führen können, dass dasselbe Gut nur von einer der beiden Güterlisten erfasst wird und dementsprechend nur für den Export dieses Gutes aus Deutschland oder aus Österreich eine Genehmigungspflicht besteht, während aus dem jeweils anderen Land der Export genehmigungsfrei erfolgen kann. Der unterschiedliche systematische Ansatz impliziert somit inhaltliche Abweichungen, die im Einzelfall zu einem unterschiedlichen Kontrollniveau im Bereich der Rüstungs-/ Verteidigungs-/Militärgüter in den beiden EU-Mitgliedstaaten führen können. Des Weiteren gilt bei der Bewertung eines Gutes hinsichtlich der Erfassung von Teil I A der deutschen AL gemäß Ziffer 2. der Hinweise zur Anwendung der Ausfuhrliste die sog. Bestandteilregelung. Die Gemeinsame Militärgüterliste der EU enthält einen solchen Anwendungshinweis nicht, woraus erhebliche Unterschiede bei der Prüfung der Erfassung an sich nicht gelisteter Gütern mit gelisteten Bestandteilen von den jeweiligen Listen resultieren können. Im Bereich der Kontrollen von Kriegswaffen (Terminologie Deutschland) bzw. von Kriegsmaterial (Terminologie Österreich), also von zur Kriegsführung bestimmten  Waffen bzw. Material, sind in beiden Ländern die nationalen Beschränkungen auf Grundlage des Art. 346 I b) AEUV zur Wahrung der wesentlichen Sicherheitsinteressen durch besonders strenge Vorschriften umgesetzt, die nicht in die übrigen nationalen exportkontrollrechtlichen Regelungen für Dual-Use-Güter und Rüstungs-/Verteidigungs-/Militärgüter integriert sind. In Deutschland umfassen die zusätzlichen Kontrollen den Umgang mit Kriegswaffen, also u. a. Herstellung, Beförderung und Inverkehrbringen von Kriegswaffen gemäß Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) und entsprechenden Durchführungsverordnungen, in Österreich erfolgen diese Kontrollen gemäß Kriegsmaterialgesetz (KMG) i. V. m. der Kriegsmaterialverordnung (KMVO). Soweit die EU Embargo-Verordnungen zur Umsetzung von GASP-Beschlüssen betreffend Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen einzelne Länder und/oder Per­ sonen, Organisationen und Einrichtungen erlässt, sind diese für alle EU-Bürger ­verbindlich und gelten unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten. Diese EU-Embargo-Verordnungen enthalten jedoch keine Regelungen zu sog. Waffenembargos, auch wenn diese Gegenstand des jeweils zugrunde liegenden GASP-Beschlusses sind. Ein Waffenembargo umfasst in der Regel das Verbot, Rüstungs-/Verteidigungs-/Militärgüter in das Embargoland auszuführen, sowie darüber hinaus das Verbot des Verkaufs, der Durchfuhr, der Beförderung sowie des Handels und der Vermittlung von Rüstungs-/Verteidigungs-/Militärgütern in Bezug auf das Embargoland.23 Statt in der 23 HADDEX – Handbuch der deutschen Exportkontrolle, Band 1, Teil 2 Rz. 97; Ziervogel in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), Vor §§ 74 ff. AWV Rz. 4.

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jeweiligen EU-Embargo-Verordnung werden die in GASP-Beschlüssen enthaltenen Waffenembargos auf Grundlage des Art. 346 I b) AEUV zur Wahrung der wesentlichen Sicherheitsinteressen durch die EU-Mitgliedstaaten selbst geregelt, während Beschränkungen von technischer und/oder finanzieller Hilfe wiederum in der jeweiligen EU-Embargo-Verordnung enthalten sind.24 In Deutschland sehen die §§  74  ff. AWV die entsprechenden nationalen Verbote für Verkauf, Ausfuhr, Durchfuhr und Beförderung von Gütern des Teils I A der AL (§ 74 AWV), Handels- und Vermittlungsgeschäfte in Bezug auf solche Güter (§ 75 AWV) sowie Erwerb und Einfuhr (§ 77 AWV) solcher Güter mit Bezug zu den dort jeweils genannten Embargoländern vor. In Österreich sind die nationalen Beschränkungen aufgrund von Waffenembargos in § 18 Abs. 2 AußWG 2011 i. V. m. § 2 Abs. 2 der 3. AußWV 2014 geregelt. Auch in Österreich sind Ausfuhr, Durchfuhr und Vermittlung von Verteidigungsgütern in die in Anlage 1 zur 3. AußWV 2014 genannten Länder verboten (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 der 3. AußWV 2014), ebenso wie sonstige Vorgänge im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 23 AußWG 2011, die zur Verbringung von Verteidigungsgütern in diese Länder führen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 der 3. AußWV 2014). Verboten sind außerdem Erwerb, Einfuhr und Beschaffung einschließlich der Beförderung von Verteidigungsgütern aus Ländern, die in Anlage 2 zur 3. AußWV 2014 genannt sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 der 3. AußWV 2014). Systematische Unterschiede bestehen schließlich auch bei der nationalen Umsetzung der internationalen Verpflichtungen beider Vertragsstaaten aus dem Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen (in Deutschland bezeichnet als Chemiewaffenübereinkommen – CWÜ, in Österreich bezeichnet als Chemiewaffenkonvention – CWK). Während das CWÜ in Deutschland durch das Ausführungsgesetz zum CWÜ (CWÜAG) und die Ausführungsverordnung zum CWÜ (CWÜV) umgesetzt worden ist, hat Österreich die Verpflichtungen aus dem CWK durch entsprechende Genehmigungspflichten in § 14 und § 42 AußWG 2011 sowie Verbote in § 18 und § 41 AußWG 2011 i. V. m. der 1. AußWV 2011 (§§ 11 ff., Anlage Chemikalischer Annex) direkt in den Regelungsbereich des AußWG 2011 integriert. Erhebliche systematische und inhaltliche Abweichungen ergeben sich schließlich im Bereich der Allgemeingenehmigungen. Während die gemäß Art. 9 Abs. 1 i. V. m. Anlage II in der EG-Dual-Use-VO bereits enthaltenen Allgemeinen Ausfuhrgenehmigungen der EU Nr. 001 bis 006 in beiden Mitgliedstaaten unmittelbar Anwendung finden und lediglich in der administrativen Umsetzung in Bezug auf Registrierungsund Meldepflichten einer nationalen Ausgestaltung zugänglich sind, wurde von der Ermächtigung des Art. 9 Abs.  2 EG-Dual-Use-VO zur Erteilung nationaler Allgemeingenehmigungen in Deutschland und Österreich in unterschiedlichem Umfang Gebrauch gemacht. In Deutschland erfolgt die Erteilung von Allgemeingenehmigungen gemäß § 1 Abs. 2 AWV auf Verwaltungsebene in Form von Allgemeinverfügungen gemäß § 35 S. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG). Aktuell existieren in Deutschland insgesamt 15 nationale Allgemeingenehmigungen für die Ausfuhr und/oder Verbringung von Dual-Use-Gütern (aktuell fünf Allgemeingenehmigun24 Ziervogel in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), Vor §§ 74 ff. AWV Rz. 7 m. w. N.

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gen) und Rüstungsgütern (aktuell zehn Allgemeingenehmigungen). Dagegen obliegt die Erteilung von Allgemeingenehmigungen in Österreich gemäß § 16 AußWG 2011 dem Gesetzgeber. Dieser hat davon mit derzeit nur vier nationalen Allgemeingenehmigungen in Bezug auf Dual-Use-Güter gemäß §§ 3 ff. der 1. AußWV 2011 Gebrauch gemacht. Im Bereich der Verteidigungsgüter existieren in Österreich Erleichterungen in Form von Ausnahmen von der Genehmigungspflicht und Allgemeingenehmigungen gemäß §§ 26 ff. AußWG 2011 i. V. m. §§ 7 ff. der 1. AußWV 2011. Letztere gelten in Österreich aber – im Gegensatz zu Allgemeingenehmigungen für Rüstungsgüter in Deutschland – grundsätzlich nur für Verbringungen. Aufgrund der Einbettung des Exportkontrollrechts in das allgemeine Verwaltungsrecht enthalten die deutschen Regelungen des AWG und der AWV nur wenige Sonderbestimmungen zum (Verwaltungs-) Verfahrensrecht. Vielmehr richten sich das Genehmigungsverfahren und weitere förmliche Verfahren, insbesondere zum Erlass eines Verwaltungsaktes, zur Erteilung eines Verwaltungsaktes unter Nebenbestimmungen (Befristungen, Bedingungen, Auflagen), zur Bestandskraft eines Verwaltungsaktes (Rücknahme und Widerruf), sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der behördlichen Ermessensausübung (unter Berücksichtigung von §  8 Abs. 1 i. V. m. § 4 AWG und Art. 12 EG-Dual-Use-VO) nach den Bestimmungen des VwVfG. Dagegen enthält das AußenWG 2011 in §§ 3 ff. konkrete Kriterien für die Entscheidung über Genehmigungsanträge sowie in §§ 54 ff. eigene verwaltungsrechtliche Vorgaben u. a. zu Auflagen und Widerruf. 2. Administration und Verfahren Während die Administration der Exportkontrollen in Deutschland in erster Linie von einer Verwaltungsbehörde, dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi), wahrgenommen wird, erfolgt die Administration der Exportkontrollen in Österreich im Wesentlichen durch das Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort (BMDW). a) Deutschland – BAFA und BMWi Das BAFA nimmt in den Bereichen Außenwirtschaft, Wirtschaftsförderung, Energie und Wirtschaftsprüferaufsicht administrative Aufgaben des Bundes wahr. Kernaufgabe ist die Exportkontrolle. Als gemäß § 13 Abs. 1 AWG grundsätzlich zuständige Verwaltungs- und Genehmigungsbehörde setzt das BAFA im Rahmen der politischen Vorgaben der Bundesregierung die Sicherheitsbelange und die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet des Exportkontrollrechts um. Im Fall der Genehmigungspflicht eines Exportvorhabens innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des BAFA muss, sofern keine Allgemeingenehmigung anwendbar ist und auch keine etwaig bereits vorhandene Genehmigung (insbesondere Sammelgenehmigung, Höchstbetragsgenehmigung) genutzt werden kann, ein formgebundener 199

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Antrag auf Erteilung einer Einzelausfuhrgenehmigung bzw. Einzelverbringungsgenehmigung beim BAFA gestellt werden. Das BAFA ist zuständig für die Genehmigung aller Ausfuhren (und ggf. auch Verbringungen) von gelisteten Rüstungs- und Dual-Use-Gütern (einschließlich Gütern, die unter die Feuerwaffen-VO und die Antifolter-VO fallen), die sich in Deutschland befinden (Belegenheitsprinzip).25 ­ Für die Genehmigung der Ausfuhr von in Anhang I der EG-Dual-Use-VO gelisteten Dual-Use-Gütern ist das BAFA darüber hinaus zuständig, wenn sich das jeweilige Gut nicht in Deutschland, sondern in einem anderen EU-Mitgliedstaat befindet, jedoch der Ausführer in Deutschland niedergelassen ist (Niederlassungsprinzip).26 Der Genehmigungsantrag sowie alle zur Antragsbearbeitung erforderlichen Unterlagen, insbesondere die Endverbleibsdokumente, sind dem BAFA grundsätzlich mittels des elektronischen ELAN-K2-Portals zu übermitteln. Es besteht aber bisher keine gesetzliche Verpflichtung zur elektronischen Antragstellung, diese wird vom BAFA nur empfohlen.27 Genehmigungsanträge können somit – laut BAFA allerdings beschränkt auf Ausnahmefälle28  – aktuell immer noch mittels vorgedruckter Formulare in Papierform gestellt werden. Das BAFA selbst ist für die Erteilung von Genehmigungen und Ablehnungen an die Schriftform gebunden (§ 14 AWG i. V. m. § 3 Abs. 1 S. 1 AWV), weshalb es sich bei elektronisch übermittelten Genehmigungen oder Ablehnungen lediglich um eine Vorabinformation handelt, die bis zum Erhalt der Genehmigung in Schriftform nicht zu deren Verwendung berechtigt.29 Das BAFA trifft die Genehmigungsentscheidung unter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden Informationen über den beabsichtigten Verwendungszweck des jeweiligen Exports nach den Kriterien der §§ 8 Abs. 1 i. V. m. 4 AWG bzw. Art. 12 EG-Dual-Use-VO in deren jeweiligem Anwendungsbereich.30 Jeder Einzelfall wird auf die beabsichtigte konkrete Nutzung des betreffenden Gutes beim Endverwender im Empfängerland geprüft. Dabei werden die Gesamtumstände einbezogen, und es wird ermittelt, ob es Hinweise auf eine Verwendung im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen oder konventioneller Rüstung gibt. Auch die Menschenrechtslage im Empfängerland ist Teil der Bewertung. In einzelnen Fällen trifft das BAFA die Entscheidung erst nach politischer Abwägung durch das übergeordnete BMWi und das Auswärtige Amt in einem interministeriellen Clearingausschuss. Im Bereich der besonders sensiblen Kriegswaffenkontrolle ist zuständige Genehmigungsbehörde im Regelfall das BMWi selbst. Das BAFA überwacht sämtliche Bestände von Kriegswaffen anhand von Meldungen und Betriebsprüfungen vor Ort. Außer Genehmigungen können Exporteure beim BAFA mittels ELAN-K2 auch Anträge auf Erteilung von Auskünften zur Güterliste (AzG) und Nullbescheiden sowie Voranfragen und sonstige Anfragen stellen. Eine AzG ist ein Beweismittel für den 25 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 278. 26 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 279. 27 BAFA: Exportkontrolle und das BAFA, Abschnitt 4.4, S. 15. 28 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 286. 29 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 292. 30 Detaillierte Darstellung in HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 356 ff.

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Zoll im Sinne des § 14 Abs. 1 AWV und wird vom BAFA auch nur zu diesem Zweck erteilt.31 Es handelt sich um ein rein warenbezogenes Gutachten zur Erfassung eines Gutes von den relevanten Exportkontrollgüterlisten mit Gültigkeit für die Dauer eines Jahres ohne Verwaltungsaktqualität.32 Hingegen ist ein Nullbescheid, mit dem das BAFA gegenüber dem Antragsteller erklärt, dass für ein konkretes Vorhaben keine Genehmigungspflicht besteht, ein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG.33 Nullbescheide dienen ebenfalls zur Vorlage bei den Zollbehörden, vermitteln aber gleichzeitig dem Antragsteller Rechtssicherheit bezüglich der Zulässigkeit des Exports. Eine Voranfrage kann nur bei einem besonders schutzwürdigen wirtschaftlichen Interesse des Antragstellers für ein Exportvorhaben gestellt werden. Das Verfahren bei der Vor­ anfrage ist identisch mit dem Genehmigungsverfahren, es erfolgt auch eine schriftliche Verbescheidung der Genehmigungspflicht und ggf. der Genehmigungsfähigkeit des Exportvorhabens, allerdings handelt es sich lediglich um eine Zusicherung im Sinne des VwVfG mit einer Geltungsdauer von sechs Monaten.34 b) Österreich – BMDW Zum 8. Januar 2018 ist das BMDW aus dem Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) hervorgegangen und hat dessen Kompetenzen im Bereich Außenwirtschaftsrecht übernommen. Innerhalb des BMDW ist die Ab­ teilung C2/9 Außenwirtschaftskontrolle für die Vollziehung des AußWG 2011 und der zugehörigen Außenwirtschaftsverordnungen sowie des SKG zuständig. Die Abteilung C2/9 Außenwirtschaftskontrolle gliedert sich auf in das „Fachreferat für Außenwirtschaftskontrolle“ (C2/9a), zuständig u. a. für Genehmigungsanträge und Allgemein- und Globalgenehmigungen sowie Kontrolle des Warenverkehrs aufgrund internationaler Sanktionsmaßnahmen (Embargos), und das „Technische Referat für Außenwirtschaftskontrolle“ (C2/9b), zuständig für die technische Analyse von Exportanträgen. Für Technologieexporte liegt die Zuständigkeit hingegen bei der Abteilung C2/10 „Außenwirtschaftspolitische (Groß-) Projekte und Technologieexporte“.35 Im Gegensatz zu Deutschland wurde in Österreich mit § 53 AußWG 2011 eine Verpflichtung zur grundsätzlich elektronischen Antragstellung gesetzlich verankert. Lediglich im Fall von Antragstellern, die nur wenige Genehmigungsanträge pro Jahr stellen oder die technischen Voraussetzungen nicht erfüllen, ist ein schriftlicher Genehmigungsantrag in Papierform (mit vorgegebenem Formular) weiterhin möglich. Zur elektronischen Antragstellung ist eine Registrierung und Aktivierung im Web-­ Portal des BMDW zur elektronischen Abwicklung von Exportanträgen erforderlich. Dies wiederum erfordert die Bestellung eines sog. „Verantwortlichen Beauftragten“ gemäß §§ 50 ff. AußWG 2011 gegenüber dem BMDW (siehe dazu Abschnitt III.3.b). 31 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 690. 32 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 691. 33 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 697. 34 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 703 ff. 35 Zu Einzelheiten siehe Geschäfts- und Personaleinteilung des Bundesministeriums für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, Stand 1. März 2018, auf der Homepage des BMDW (https://www.bmdw.gv.at).

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In der Regel durchläuft ein Genehmigungsantrag mehrere Stadien: Nach der formalen Prüfung wird der Antragsgegenstand technisch begutachtet. Auch ein Stellungnahme-Verfahren mit dem Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA), dem Bundesministerium für Inneres (BMI) und dem Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport (BMLVS) ist gemäß §  78 Abs.  1 AußWG 2011 möglich. Nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens und der juristischen Prüfung wird eine Entscheidung über den Genehmigungsantrag in Form eines Bescheides getroffen. Bei der Entscheidung werden die Kriterien des Art. 12 EG-Dual-Use-VO sowie der §§ 3 ff. AußWG 2011 in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich berücksichtigt. Im Bereich der besonders sensiblen Kriegsmaterialkontrolle trifft das BMI Genehmigungsentscheidungen im Einvernehmen mit dem BMEIA und nach Anhörung des BMLVS. Außer Genehmigungen können in Österreich ebenfalls auch ein Antrag auf Auskunft zur Güterliste (AzG), ein Antrag auf Feststellung der Genehmigungsfreiheit sowie eine Voranfrage gem. § 62 AußWG 2011 gestellt werden. Eine AzG ist auch in Österreich lediglich ein warenbezogenes technisches Gutachten des BMDW zum Zweck der Feststellung, ob eine Listung des zu exportierenden Gutes in der Dual-Use-Liste oder in der Militärgüterliste vorliegt. Beurteilt werden nur die technischen Eigenschaften des jeweiligen Gutes. Als behördliche Auskunft handelt es sich weder um einen Bescheid noch um eine Ausfuhrgenehmigung, sondern um eine technische Bestätigung der Einstufung eines Gutes. Die Feststellung der Genehmigungsfreiheit erfordert den Nachweis eines rechtlichen Interesses. Ein solches liegt vor, wenn die Durchführung des Exports ohne vorherige Feststellung zu rechtswidrigem Verhalten führen könnte. Ergibt sich bei der Prüfung eines Antrags auf Ausfuhr, dass für das Vorhaben keine Genehmigungspflicht besteht, erteilt das BMDW einen Feststellungsbescheid. Dieser trifft nur eine Aussage über das konkret beantragte Geschäft und ist nicht übertragbar. Die Voranfrage schließlich ist in Österreich, anders als in Deutschland, in § 62 AußWG 2011 gesetzlich verankert. Sie ist eine rechtsverbindliche Feststellung des BMDW mittels Bescheid über das Nicht-Vorliegen oder das Vorliegen eines Verbotes oder einer Genehmigungspflicht und gegebenenfalls über die Genehmigungsfähigkeit eines konkreten Rechtsgeschäftes. Die positive Entscheidung über eine Voranfrage ist aber auch in Österreich nicht mit einer Ausfuhrgenehmigung gleichzusetzen. Wenn das Ausfuhrvorhaben realisiert werden soll, muss der Ausführer (gegebenenfalls unter Verweis auf den bereits vorliegenden Voranfrage-Bescheid) die Erteilung der Ausfuhrgenehmigung gemäß § 52 Abs. 3 AußWG 2011 unter Hinweis auf den Bescheid zur Voranfrage beantragen. Die getroffene Voranfrage-Feststellung ist bei unveränderter Sach- und Rechtslage allerdings richtungsweisend für diesen späteren Ausfuhrgenehmigungsantrag. 3. Anforderungen an die Unternehmensorganisation (Compliance) Die Komplexität der exportkontrollrechtlichen Bestimmungen und deren Anknüpfen an verschiedenste Aktivitäten eines Unternehmens im täglichen Geschäftsverkehr (Ausfuhren und Verbringungen von Waren, Software und Technologie; Handels- und Vermittlungsgeschäfte; technische und/oder finanzielle Unterstützung etc.) sowie die 202

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notwendige Einbeziehung diverser Schnittstellen im Unternehmen, um eine effektive Exportkontrolle überhaupt zu ermöglichen, erfordert die Implementierung organisatorischer Maßnahmen zur Sicherstellung der Einhaltung der für das jeweilige Unternehmen anwendbaren exportkontrollrechtlichen Beschränkungen.36 a) Deutschland – Ausfuhrverantwortlicher und Internal Compliance Program Abgesehen von Art. 12 Abs. 2 EG-Dual-Use-VO für den Bereich der Globalgeneh­ migungen enthalten weder die EU-Verordnungen noch die deutschen Bestimmungen in AWG und AWV Vorgaben zu den Anforderungen an die Organisation eines Unternehmens, welches exportkontrollrelevante Exporte durchführt. Die vom BAFA postulierte Unabdingbarkeit eines innerbetrieblichen Exportkontrollsystems (Internal Compliance Program – ICP)37 beruht nicht auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Anforderung, sondern leitet sich aus den im Fall von Verstößen gegen exportkon­ trollrechtliche Bestimmungen drohenden Konsequenzen straf-, verwaltungs- und zivilrechtlicher Art sowie aus den Geschäftsleitungspflichten der §§  76 AktG, 43 ­GmbHG ab.38 In Deutschland wird mithilfe des § 8 Abs. 2 S. 1 AWG, wonach die Erteilung einer Genehmigung u. a. von der Zuverlässigkeit des Antragstellers abhängig gemacht werden kann, in Verbindung mit den Grundsätzen der Bundesregierung zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern vom 6. August 200139 in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung die grundsätzliche Verpflichtung des Antragstellers eines Genehmigungsantrags für den Export gelisteter Güter konstituiert, ein Mitglied des vertretungsberechtigten Organs als sog. „Ausfuhrverantwortlichen“ gegenüber dem BAFA zu benennen. Der Ausfuhrverantwortliche ist verantwortlich für die Organisation und die Überwachung der innerbetrieblichen Exportkontrolle sowie für die Auswahl des Personals und dessen Weiterbildung und wird durch entsprechende Zusicherungen im erläuternden Beiblatt zu Benennungsdokument (AV 1) und jährlicher Verantwortungsübernahmeerklärung (AV 2) auch zur Installation eines funktionierenden innerbetrieblichen Exportkontrollsystems (ICP) nach den Vorgaben des BAFA-Merkblatts zum ICP40 verpflichtet.41 Der Ausfuhrverantwortliche muss zwingend Mitglied des vertretungsberechtigten Organs sein, das Innehaben einer leitenden Stellung und/oder Prokura genügen nicht.42 36 Merz in Hauschka, Corporate Compliance, § 33 Rz. 10 ff. 37 HADDEX (Fn. 23), Teil 1 Rz. 1. 38 Pelz in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), Anhang 2 zu § 22 AWV Rz. 1. 39 Zuletzt angepasst durch die Bekanntmachung zu den Grundsätzen der Bundesregierung zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrele­ vanten Gütern vom 27. Juli 2015; HADDEX – Handbuch der deutschen Exportkontrolle, Band 6, Ordnungsnummer 554. 40 BAFA: Merkblatt zu Internal Compliance Programmes – ICP, Stand Januar 2014; HADDEX (Fn. 23), Teil 1 Rz. 70 ff. 41 Zu Einzelheiten betreffend die Anforderungen an den Ausfuhrverantwortlichen und seine Verantwortung siehe HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 317 ff.; Pottmeyer, Der Ausfuhrverantwortliche, 5. Aufl. 2014. 42 HADDEX (Fn. 23), Teil 6 Rz. 322; Pottmeyer (Fn. 41), 3.1, Seite 65.

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Sind diese Voraussetzungen erfüllt, geht das BAFA bei Einzelgenehmigungsanträgen von der Zuverlässigkeit des Antragstellers aus. Bei begründeten Zweifeln an der Zuverlässigkeit, z. B. bei Verdacht von exportkontrollrechtlichen Verstößen und Unregelmäßigkeiten im Melde- und Auflagenbereich, kann das BAFA laufende Genehmigungsverfahren aussetzen und das ICP des Antragstellers überprüfen. Je nach Ergebnis der Prüfung können der aktuelle Antrag abgelehnt und auch frühere Genehmigungen zurückgenommen bzw. widerrufen werden.43 Bei Sammelausfuhr- bzw. Globalgenehmigungen sind die Anforderungen an die Zuverlässigkeit des Genehmigungsinhabers aufgrund des mit einer solchen Genehmigung verbundenen Vertrauensvorschusses höher, weshalb in diesem Fall eine Prüfung des ICP durch das BAFA im Rahmen des Antragsverfahrens erfolgt.44 Im Bereich der Dual-Use-Güter sieht dies Art. 12 Abs. 2 EG-Dual-Use-VO explizit vor. b) Österreich – Verantwortlicher Beauftragter und organisatorische ­Sicherungsmaßnahmen Im Gegensatz zu Deutschland sind in Österreich die organisatorischen Anforderungen an Exporteure von exportkontrollrelevanten Gütern in §§ 49 ff. des AußWG 2011 gesetzlich verankert. Gemäß § 49 Abs. 1 AußWG 2011 haben die betroffenen Wirtschaftsbeteiligten geeignete organisatorische Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass es zu Vorgängen kommt, die den Genehmigungskriterien der §§ 3 ff. AußWG 2011 widersprechen könnten. Bei der Wahl der Maßnahmen sind insbesondere Größe und Gegenstand des Unternehmens sowie die betroffenen Güterkategorien zu beachten. § 49 Abs. 2 AußWG 2011 enthält eine kumulative Aufzählung der möglichen geeigneten Maßnahmen: Bestellung eines oder mehrerer sog. „Verantwortlicher Beauftragter“ im Sinne der §§ 50 und 51 AußWG 2011, Existenz eines internen Verhaltenskodex für die Durchführung der exportkontrollrelevanten Vorgänge, interne Kontrollsysteme zur Sicherung der gewissenhaften Befolgung und Durchsetzung aller für die exportkontrollrelevanten Vorgänge maßgeblichen Rechtsvorschriften und des vorgenannten Verhaltenskodex, regelmäßige Schulung und Information der mit exportkontrollrelevanten Vorgängen befassten Personen. Die Bestellung mindestens eines Verantwortlichen Beauftragten im Sinne der §§ 50 und 51 AußWG 2011 kann zunächst gemäß § 50 Abs. 4 AußWG 2011 auf eigene Initiative erfolgen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass § 53 Abs. 2 AußWG 2011 für die Teilnahme am grundsätzlich vorgegebenen Verfahren der elektronischen Antragstellung eine solche zwingend voraussetzt. Anders als in Deutschland kann aber auch das BMDW einem Wirtschaftsbeteiligten per Bescheid die Bestellung eines Verantwortlichen Beauftragten auferlegen, wenn dies zur Wahrung der Einhaltung der Genehmigungskriterien gemäß §§ 3 ff. AußWG 2011 erforderlich ist. Bis zur Bestellung eines Verantwortlichen Beauftragten kann die Bearbeitung eines Antrags vom BMDW nach § 50 Abs. 7 AußWG 2011 ausgesetzt werden. 43 HADDEX (Fn. 23), Teil 1 Rz. 3, Teil 6 Rz. 329 ff. 44 HADDEX (Fn. 23), Teil 7 Rz. 553 ff.

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Eine in Österreich als Verantwortlicher Beauftragter bestellte Person muss im Gegensatz zum Ausfuhrverantwortlichen in Deutschland nicht zwingend Mitglied des vertretungsberechtigten Organs des Unternehmens sein, sondern es reicht aus, wenn sie dort eine andere leitende Funktion wahrnimmt. Gemäß § 50 Abs. 2 Nr. 3 AußWG 2011 kann als Verantwortlicher Beauftragter bestellt werden, wer Mitglied des Vorstandes, ein Geschäftsführer oder ein vertretungsbefugter Gesellschafter ist oder eine andere leitende Funktion im Unternehmen ausübt.45 Schließlich muss ein Verantwortlicher Beauftragter auch verlässlich sein. Die diesbezüglichen Anforderungen sind in den §§ 50 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 51 AußWG 2011 normiert. Den Verantwortlichen Beauftragten in Österreich treffen wie den Ausfuhrverantwortlichen in Deutschland die Pflichten der Organisation und Überwachung der innerbetrieblichen Exportkontrolle einschließlich Auswahl und Überwachung des dazu eingesetzten Personals. 4. Überwachung und Prüfung Die zollamtliche Überwachung der Ausfuhren aus dem Zollgebiet der EU hinsichtlich der Durchführung von handelspolitischen Maßnahmen durch die Zollverwaltung der EU-Mitgliedstaaten ist in Art. 267 ff. UZK geregelt. Wird eine Ware aus dem Zollgebiet der Union ausgeführt, muss die Ware in das sog. Ausfuhrverfahren überführt werden. Beim Ausfuhrverfahren handelt es sich um ein Zollverfahren mit der Zielsetzung der Überwachung des Warenverkehrs mit Drittländern. Das Ausfuhrverfahren dient der Überwachung von Beschränkungen, beispielsweise in Form von handelspolitischen Maßnahmen, und damit insbesondere auch der Einhaltung und Durchsetzung des Exportkontrollrechts. Sowohl die deutsche Zollverwaltung als auch die Zollverwaltung in Österreich nehmen diese Aufgabe im Rahmen der Prüfungen von Warenexporten im Ausfuhrverfahren wahr. Darüber hinaus gibt es aber jeweils noch nationale Bestimmungen zur Durchführung von weiteren Überwachungs- und Prüfungsmaßnahmen: a) Deutschland – Außenwirtschaftsprüfungen In Deutschland ist die Überwachung und Prüfung der Einhaltung exportkontrollrechtlicher Bestimmungen in § 23 AWG geregelt. Während § 23 Abs. 1 AWG eine Auskunftsverpflichtung sowie eine Verpflichtung zur Vorlage von geschäftlichen Unterlagen vorsieht, können nach § 23 Abs. 2 AWG auch Prüfungen hinsichtlich der Einhaltung der Exportkontrollbestimmungen in den Geschäftsräumen des Wirtschaftsbeteiligten (sog. Außenwirtschaftsprüfungen) vorgenommen werden. Im Bereich des Güterverkehrs werden die vorgenannten Überwachungs- und Prüfmaßnahmen durch das jeweils örtlich zuständige Hauptzollamt (HZA) durchgeführt. Von besonderer Relevanz sind aufgrund der Prüfungsintensität und der hohen Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung etwaiger Verstöße und/oder Unregelmäßigkeiten im 45 Vgl. zur Historie in Österreich auch Pottmeyer (Fn. 41), 1.2.1, S. 40 f.

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Bereich der Exportkontrolle mit anschließender Verfolgung durch Straf- und Bußgeldbehörden die Außenwirtschaftsprüfungen gemäß § 23 Abs. 2 AWG. Dabei sind Routineprüfungen und anlassbezogene Prüfungen (z.  B. aufgrund einer Anregung des BAFA oder anderer Behörden) zu unterscheiden. Grundsätzlich sollen von einem HZA nach interner Vorgabe der Bundesfinanzverwaltung alle in seinem Bezirk ansässigen Unternehmen, die am Außenwirtschaftsverkehr teilnehmen, auf Basis eines Prüfungsgeschäftsplans in einem festgelegten Turnus routinemäßig geprüft werden.46 Aufgrund der Vielzahl der relevanten Unternehmen und der beschränkten Ressourcen der HZA können aber tatsächlich im Rahmen der Routineprüfungen nur bestimmte, auf Basis einer Risikoanalyse ausgewählte Unternehmen in mehrjährigem Abstand geprüft werden.47 Bei diesen findet dann vor Ort am Unternehmenssitz eine routinemäßige Außenwirtschaftsprüfung durch einen Prüfer des HZA auf Grundlage einer entsprechenden Prüfungsanordnung statt, welche auch den zu prüfenden Zeitraum (in der Regel die drei vorausgegangenen Jahre) angibt. Die geprüften Unternehmen sind zur Mitwirkung in Form von Auskunfts­ erteilung, Vorlage von Dokumenten und Gestattung der Einsichtnahme und Nutzung des unternehmenseigenen IT-Systems verpflichtet. Prüfungsgegenstand ist die Einhaltung der außenwirtschaftsrechtlichen Bestimmungen durch das jeweilige Unternehmen im Prüfungszeitraum, insbesondere in Bezug auf länder- und personenbezogene Embargos, Genehmigungspflichten für Rüstungs- und Dual-Use-Güter, Meldepflichten, aber auch in Bezug auf das zollrechtliche Ein- und Ausfuhrverfahren.48 Aufgrund des Umfangs und der Intensität der Außenwirtschaftsprüfungen, der umfassenden Mitwirkungspflichten des geprüften Unternehmens, der einschlägigen Erfahrung der Prüfer und nicht zuletzt deren unterstützend eingesetzter IT-Ausstattung ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass im Rahmen einer Außenwirtschaftsprüfung durch den Prüfer schon während der Prüfung (dann kann/muss ggf. auch ein Abbruch der Prüfung erfolgen) oder spätestens im Prüfungsbericht (potenzielle) Verstöße oder Unregelmäßigkeiten in Bezug auf die Einhaltung der außenwirtschaftsrechtlichen Bestimmungen im Prüfungszeitraum festgestellt werden. Der Prüfungsbericht wird nicht nur dem geprüften Unternehmen, sondern auch dem Zollkriminalamt zur sog. Marktbeobachtung und dem BAFA als Genehmigungsbehörde zur Kenntnis übermittelt.49 Die vom Prüfer getroffenen Feststellungen führen regelmäßig zu nachfolgenden Ermittlungsverfahren durch die je nach Art und Schwere des Verstoßes zuständigen Verfolgungsbehörden (Straf- und Bußgeldstellen der HZA, Zollfahndungsämter, Staatsanwaltschaften) und werden so einer Sanktionierung nach den entsprechenden Straf- und Bußgeldnormen zugeführt, wenn deren jeweilige Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind.

46 Bundesministerium der Finanzen, PrüfungsDV i. d. F. v. 1. Juni 2015, Absatz 600. 47 Ricke in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn. 6), Ordnungsnummer 611/AWG, § 23 Rz. 11; Schrey in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), § 23 AWG Rz. 4. 48 Zu Einzelheiten vgl. Ricke in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn.  6), Ordnungsnummer 611/AWG, § 23 Rz. 12 ff. 49 Ricke in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn. 6), Ordnungsnummer 611/AWG, § 23 Rz. 30.

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Eine Außenwirtschaftsprüfung darf nicht aufgrund eines Verdachts des Verstoßes gegen exportkontrollrechtliche Bestimmungen durchgeführt werden, da diesbezügliche Ermittlungen einem Ermittlungsverfahren nach den dafür einschlägigen Rechtsvorschriften (StPO, OWiG) vorbehalten sind.50 Auch das BAFA darf selbst keine Außenwirtschaftsprüfungen vornehmen, sondern nur im Rahmen seiner Aufgaben als Genehmigungsbehörde die für die Entscheidung über eine Genehmigung sowie für die Überprüfung der Einhaltung von Auflagen erforderlichen Auskünfte und Unterlagen nach § 23 Abs. 1 AWG verlangen.51 b) Österreich – Allgemeine Kontrollmaßnahmen Die nationalen Bestimmungen Österreichs zu Überwachungs- und Prüfungsmaßnahmen im Bereich der Exportkontrolle finden sich in den §§ 63 ff. AußWG 2011. Diese sehen diverse Möglichkeiten für das BMDW vor, die Einhaltung von anwendbarem EU-Recht und nationalem Recht zu überwachen und zu überprüfen. Insbesondere kann dies durch Anforderung von Berichten und Nachweisen sowie durch Befragung von Personen und durch Vorlage von Unterlagen erfolgen. Zu diesem Zweck können erforderlichenfalls auch die Geschäftsräume des Wirtschaftsbeteiligten betreten werden. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Österreich aber keine konkreten hoheitlichen Mindestvorgaben zur planmäßigen Durchführung von Routinekon­trollen zum Zwecke der Aufdeckung etwaiger Verstöße und/oder Unregelmäßigkeiten im Bereich der Exportkontrolle sowie der anschließenden Sanktionierung. Dementsprechend finden in Österreich bisher auch keine mit den deutschen Außenwirtschafts­prüfungen vergleichbaren flächendeckenden Routinekontrollen mit gleich hoher Prüfungsintensität statt, sodass das Risiko der Aufdeckung etwaiger Verstöße und/oder Unregelmäßigkeiten im Bereich der Exportkontrolle mit anschließender behördlicher oder gar gerichtlicher Verfolgung außerhalb von Einzelfällen für die in Österreich ansässigen Wirtschaftsbeteiligten ungleich niedriger ist. 5. Sanktionierung von Verstößen, Möglichkeit der „Selbstanzeige“ Im Fall der Aufdeckung von exportkontrollrechtlichen Verstößen drohen sowohl in Deutschland als auch in Österreich erhebliche Sanktionen, die sich aber hinsichtlich Systematik und Inhalt unterscheiden. In beiden Ländern besteht nur eine eingeschränkte Möglichkeit zur „Selbstanzeige“. a) Deutschland – Bußgeldbefreiende Offenlegung von formellen Verstößen Die maßgeblichen Straf- und Bußgeldvorschriften finden sich in §§ 17 ff. AWG i. V. m. §§ 80 ff. AWV. Seit der Reform des Außenwirtschaftsrechts im Jahr 2013 richtet sich 50 Ricke in Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Fn. 6), Ordnungsnummer 611/AWG, § 23 Rz. 11, 22 f.; Schrey in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), § 23 AWG Rz. 3. 51 Schrey in Hocke/Sachs/Pelz (Fn. 3), § 23 AWG Rz. 13.

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die Verfolgung eines Verstoßes gegen materielle Rechtsvorschriften (Verbote und ­Genehmigungspflichten nach EU-Verordnungen und AWV) als Straftat oder als ­Ordnungswidrigkeit nach dem Grad der subjektiven Vorwerfbarkeit: Vorsätzliche Verstöße werden als Straftat verfolgt, fahrlässig begangene Verstöße stellen nur Ordnungswidrigkeiten dar. Bei Verstößen gegen Bestimmungen eines Waffenembargos werden aber auch leichtfertige Verstöße als Straftat sanktioniert. Verstöße gegen formelle Rechtsvorschriften (Verfahrens- und Formvorschriften) stellen auch bei Vorsatz nur Ordnungswidrigkeiten dar. Je nach Art und Schwere des Verstoßes reicht der Sanktionsrahmen im Strafbarkeitsbereich von Freiheitsstrafe ohne Mindestmaß oder Geldstrafe bis hin zu einer Freiheitsstrafe von im Höchstmaß zehn Jahren. Im Bereich der Ordnungswidrigkeiten stehen je nach Art und Schwere des Verstoßes Geldbußen in Höhe von bis zu 30.000 Euro oder bis zu 500.000 Euro im Raum. Die allgemeinen  Bestimmungen von Strafgesetzbuch (StGB) und Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) finden Anwendung. Subjekt der straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen sind zunächst nur natürliche Personen, die an dem Verstoß gegen exportkontrollrechtliche Bestimmungen als Täter oder Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe) beteiligt waren. Neben der Sanktionierung der an dem jeweiligen Verstoß beteiligten Personen kommt auch die Verhängung einer Geldbuße insbesondere gegen den Ausfuhrverantwortlichen, aber auch gegen weitere Verantwortliche des an dem Verstoß beteiligten Unternehmens nach § 130 OWiG in Höhe von bis zu 1.000.000 Euro in Betracht, wenn dem betreffenden Verstoß eine Verletzung der Organisations- und Aufsichtspflicht zugrunde lag. In Deutschland gibt es bisher zwar kein Unternehmens- oder Verbandsstrafrecht, das eine Strafbarkeit einer juristischen Person, die selbst nicht strafrechtlich handlungsfähig ist, sondern durch ihre Organe handelt, vorsieht. Gleichwohl kann in Deutschland eine empfindliche Sanktionierung von Verstößen auch gegen ein Unternehmen als juristische Person gemäß § 30 OWiG mit einer Geldbuße von bis zu 10.000.000 Euro erfolgen, wenn der Ausfuhrverantwortliche oder eine andere Person aus dem in § 30 Abs. 1 OWiG genannten Kreis eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit begangen hat, die zu einer Verletzung einer Pflicht des Unternehmens oder zu dessen Bereicherung geführt hat oder zu Letzterem führen sollte. Darüber hinaus kann durch eine Gewinnabschöpfung nach § 17 Abs. 4 OWiG auch die Grenze von 10.000.000 Euro überschritten werden. Zudem können gemäß § 20 AWG i. V. m. den entsprechenden Vorschriften von StGB und OWiG auch Einziehung und Erweiterter Verfall angeordnet werden. Das AWG sieht zwar in § 22 Abs. 4 grundsätzlich die Möglichkeit einer sog. „bußgeldbefreienden Offenlegung“ im Fall der freiwilligen Anzeige von selbst erkannten Verstößen gegenüber der zuständigen Behörde vor. Allerdings ist der Anwendungsbereich der bußgeldbefreienden Offenlegung nach § 22 Abs. 4 AWG sehr eng begrenzt und erfasst ausschließlich fahrlässig begangene Verstöße gegen formelle Rechtsvorschriften (Verfahrens- und Formvorschriften) nach § 19 Abs. 2 bis 5 AWG, sodass eine Anwendung auf – auch fahrlässig – begangene Verstöße gegen materielle Rechtsvorschriften (Verbote und Genehmigungspflichten nach EU-Verordnungen und 208

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AWV) von vornherein ausscheidet. Bei derartigen Verstößen kommt allenfalls eine Offenlegung zum Zweck der positiven Berücksichtigung durch die Verfolgungsbehörden – insbesondere im Rahmen der Entscheidung über die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit nach § 47 OWiG – und Gerichte in Betracht. b) Österreich – Selbstanzeige von Finanzvergehen §§ 79 ff. des AußWG 2011 enthalten die Strafbestimmungen für exportkontrollrechtliche Verstöße. Dabei wird zwischen gerichtlich strafbaren Handlungen, verwaltungsbehördlich strafbaren Handlungen und Verwaltungsübertretungen unterschieden. Bei den als gerichtlich strafbare Handlungen verfolgten Verstößen gegen materielle Rechtsvorschriften (Verbote und Genehmigungspflichten gemäß EU-Verordnungen und nationalen Bestimmungen) nach §§ 79 ff. AußWG 2011 liegt der Strafrahmen zwischen einer Freiheitsstrafe ohne Mindestmaß oder Geldstrafe und einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren im Höchstmaß, je nach Art und Schwere des Verstoßes sowie nach Grad der persönlichen Vorwerfbarkeit. Geldstrafen sind im Bereich der gerichtlich strafbaren Handlungen generell nur bei fahrlässiger Begehung des jeweiligen Verstoßes vorgesehen. § 85 AußWG 2011 enthält eine Auflistung derjenigen Verstöße, deren vorsätzliche oder fahrlässige Begehung ein sog. Finanzvergehen darstellt und von der Finanzstrafbehörde mit einer Geldstrafe von 20.000 Euro bei Vorsatz und 10.000 Euro bei Fahrlässigkeit geahndet werden kann. Dabei handelt es sich in erster Linie um Verstöße gegen Auflagen in Genehmigungsbescheiden sowie um das Erschleichen von Genehmigungen durch falsche oder unvollständige Angaben im Antrag. Schließlich können Verstöße gegen bestimmte formelle Rechtsvorschriften (Melde-, Informations- und Registrierungspflichten) als Verwaltungsübertretungen nach § 87 AußWG 2011 bei Vorsatz mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Wochen oder einer Geldstrafe von bis zu 40.000 Euro, bei Fahrlässigkeit mit einer Geldstrafe von bis zu 25.000 Euro sanktioniert werden. In Österreich können nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG) juristische Personen und Personengesellschaften mit einer Verbandsgeldbuße belegt werden, wenn ein Entscheidungsträger oder ein Mitarbeiter eine gerichtlich strafbare Handlung begangen hat und diese dem Verband zugerechnet werden kann. Somit besteht in Österreich ein kodifiziertes Unternehmens- bzw. Verbandsstrafrecht, welches über die Möglichkeit der Belegung eines Unternehmens mit einer Geldbuße nach der deutschen Regelung in § 30 OWiG hinausgeht: Zwar bedarf es auch nach dem VbVG einer mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlung einer natürlichen Person, welche dem Unternehmen zugerechnet wird, wenn die Handlung zugunsten des Unternehmens begangen wurde oder durch die Handlung eine Pflicht des Unternehmens verletzt wurde. Jedoch lässt es das VbVG zum einen im Bereich der Entscheidungsträger als Zurechnungsobjekt ausreichen, wenn diese rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben, und verlangt keine Organisations- und Aufsichtspflichtverletzung. Zum anderen ermöglicht das VbVG auch die Zurechnung von mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen sonstiger Mitarbeiter, die keine Entscheidungsträger sind, wenn diese durch eine Organisations- und Aufsichtspflichtverletzung eines Entscheidungsträgers ermöglicht oder wesentlich erleichtert wurden. Die Höhe der Verbands209

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geldbuße bestimmt sich nach dem Strafrahmen der jeweiligen Zurechnungshandlung und der Ertragslage des Verbandes unter Berücksichtigung von dessen sonstiger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Sie wird in Tagessätzen bemessen. Die Möglichkeit einer Selbstanzeige mit strafbefreiender Wirkung besteht in Österreich nur gemäß § 29 FinStrG und umfasst lediglich die in § 85 AußWG 2011 abschließend aufgelisteten Finanzvergehen. Für die gerichtlich und verwaltungsbehördlich strafbaren Handlungen besteht keine kodifizierte Möglichkeit einer Selbstanzeige.

IV. Fazit Die Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Exportkon­ trollen in Deutschland und Österreich zeigt, dass trotz des einheitlichen EU-Rechtsrahmens im Bereich der Dual-Use-Exporte und der EU-seitigen Vorgaben zu Ex­ porten von Militär-/Rüstungs-/Verteidigungsgütern aufgrund der Ausgestaltung, Konkretisierung und Ergänzung durch nationales Recht nicht unerhebliche Unterschiede in den jeweils anzuwendenden exportkontrollrechtlichen Bestimmungen bestehen, die im Einzelfall dazu führen können, dass einzelne Exporte und/oder Dienstleistungen überhaupt nur in einem der beiden Länder kontrolliert oder in einem der beiden Länder strenger kontrolliert werden. Dabei ist aber festzuhalten, dass je nach exportkontrollrelevantem Sachverhalt das materiell-rechtliche Kontrollniveau mal im einen, mal im anderen Land höher angesiedelt ist, was einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung des nationalen Gesetzgebers unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Ordnungs-, Sicherheits- und Außenpolitik geschuldet ist. Im Ergebnis kann von einem ähnlich hohen materiell-rechtlichen Niveau der Exportkontrollen in Deutschland und Österreich gesprochen werden. Auch bei den rechtlichen Anforderungen an die Unternehmensorganisation sowie bei den rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten für exportkontrollrechtliche Verstöße ist eine in der Gesamtschau gleichmäßige Ausprägung in Deutschland und Österreich festzustellen. Die Ausgestaltung der Administration der Exportkontrollen bewegt sich in beiden Ländern, orientiert am jeweiligen Exportvolumen und an der exportkontrollrechtlichen Risikoeinschätzung in Bezug auf die Exporteure, deren Güter und deren Kunden, ebenfalls auf einem gleichermaßen hohen Niveau. Signifikante Unterschiede bestehen aber im Bereich der Überwachung und daraus folgend der tatsächlichen Sanktionierung von exportkontrollrechtlichen Verstößen. Während in Deutschland durch die routinemäßigen Außenwirtschaftsprüfungen bei aus exportkontrollrechtlicher Sicht risikoträchtigen Unternehmen in regelmäßigen Abständen intensive Prüfungen an deren Unternehmenssitz vorgenommen werden, sind solche planmäßigen Routineprüfungen in Österreich bisher nicht etabliert. Die bei deutschen Exporteuren im Rahmen der Außenwirtschaftsprüfungen festgestellten Verstöße und Unregelmäßigkeiten werden konsequent verfolgt und sanktioniert. Ohne diese routinemäßigen Außenwirtschaftsprüfungen würden Verstöße und Unregelmäßigkeiten häufig nicht oder nur durch Zufall aufgedeckt und könnten nicht oder infolge zwischenzeitlicher Verjährung nicht mehr verfolgt und sanktioniert wer210

Die Exportkontrollen in Deutschland und Österreich

den. Insofern ergibt sich für die deutschen Wirtschaftsbeteiligten ein deutlich höheres Risiko als für die österreichischen Wirtschaftsbeteiligten, im Fall von exportkon­ trollrechtlichen Verstößen und Unregelmäßigkeiten auch tatsächlich mit den gesetzlich vorgesehenen Sanktionen belegt zu werden. Dies wiederum führt zu einem wesentlich erhöhten Interesse der handelnden und verantwortlichen Personen in den deutschen exportierenden Unternehmen, durch notwendige und geeignete organisatorische Maßnahmen die Einhaltung der exportkontrollrechtlichen Bestimmungen bestmöglich sicherzustellen. Der Vergleich am Beispiel der beiden Nachbarländer Deutschland und Österreich lässt erkennen, dass eine EU-weite Harmonisierung im Bereich der Exportkontrollen nicht nur eine Harmonisierung des Rechtsrahmens im Sinne eines einheitlich hohen materiell-rechtlichen Kontrollniveaus, sondern vielmehr auch ein einheitliches Niveau hinsichtlich der Überwachung und der tatsächlichen Sanktionierung von Verstößen erfordert. Nur eine gleichmäßig hohe Aufdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit von exportkontrollrechtlichen Verstößen in allen EU-Mitgliedstaaten kann EU-weit einheitliche und dauerhaft effektive und effiziente Exportkontrollen sicherstellen, wenn die exportierenden Unternehmen aller EU-Mitgliedstaaten infolgedessen in gleich hohem Maße Anstrengungen zur Einhaltung der exportkontrollrechtlichen Bestimmungen unternehmen müssen. Insofern ist das aktuell unterschiedliche Überwachungs- und Sanktionierungsniveau in den Mitgliedstaaten die größte Herausforderung für die Harmonisierung der Exportkontrollen in der EU. Maßnahmen zur diesbezüglichen Nivellierung sind dementsprechend der zentrale Ansatzpunkt, um die beabsichtigte Harmonisierung der Exportkontrollen zu erreichen.

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Die Bedeutung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte für das Zollrecht und das Zollverfahrensrecht Inhaltsübersicht

I. Der unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte 1. Dogmatische Grundlagen für den Grundsatz der Wahrung der ­Verteidigungsrechte 2. Die zur Wahrung der Verteidigungsrechte Verpflichteten 3. Einschränkungen des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte 4. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der ­Verteidigungsrechte

II. Anhörung des Beteiligten und Akteneinsicht 1. Anhörung vor Erlass einer belastenden Entscheidung 2. Rechtsfolgen einer unterbliebenen ­Anhörung durch die Zollbehörde 3. Gewährung rechtlichen Gehörs durch die Kommission 4. Recht auf Akteneinsicht 5. Rechtsfolgen eines Verstoßes der ­Kommission gegen die Verfahrensrechte

III. Begründung einer Entscheidung 1. Begründung einer Entscheidung der Zollbehörde 2. Begründung einer Entscheidung der Kommission IV. Wirksamer Rechtsbehelf und ­Aussetzung der Vollziehung 1. Wirksamer Rechtsbehelf 2. Aussetzung der Vollziehung

V. Nachweise für die Erledigung eines Zollverfahrens

VI. Antidumpingzollrecht 1. Bedeutung des Grundsatzes der ­Wahrung der Verteidigungsrechte 2. Unterrichtungs- und Anhörungs­ pflichten 3. Begründung einer Antidumpingverordnung 4. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der ­Verteidigungsrechte VII. Ergebnis

I. Der unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelt wurde. Dieser Grundsatz ist immer dann anwendbar, wann die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen.1 Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte gebietet, dass der Adressat einer Entscheidung, 1 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-349/07 – Sopropé, Slg. 2008, I-10369 Rz. 36; v. 17.6.2010 – Rs. C-423/08, Slg. 2010, I-5449 Rz. 44; v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140 – Global Trans Lodzhistik, ZfZ  2014, 326 Rz.  57; v. 3.7.2014  – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 28.

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die seine Interessen spürbar beeinträchtigen kann, in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Gründen, auf welche die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vortragen kann.2 In sachlicher Hinsicht gilt die Verpflichtung der Verwaltung zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Beteiligten in den Fällen, in denen sie eine Entscheidung trifft, die in den An­wendungsbereich des Unionsrechts fällt. Dies gilt auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen.3 1. Dogmatische Grundlagen für den Grundsatz der Wahrung der ­Verteidigungsrechte Die dogmatische Herleitung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte schwankte in der Rechtsprechung des EuGH. Vor dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der EU (GrCh) am 1.12.2009, die gemäß Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV den Verträgen rechtlich gleichrangig ist, hat der EuGH den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte als ungeschriebenen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts angesehen.4 Das hat der EuGH auch noch nach dem Inkrafttreten der GrCh aufrechterhalten.5 Nach der Rechtsprechung des EuGH gehören die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Bestandteil des Unionsrechts zum Primärrecht.6 Das Sekundärrecht der Union kann mithin auch auf seine Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte hin überprüft werden.7 Obwohl der EuGH den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte noch nach dem Inkrafttreten der GrCh als allgemeinen ungeschriebenen Grundsatz des Unionsrechts bezeichnet hat, hat er ihn doch auch aus einzelnen Bestimmungen der GrCh hergeleitet. So hat der EuGH betont, dass der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, nicht nur durch die Art. 47 und 48 GrCh verbürgt sei, welche die Wahrung der Verteidigungsrechte sowie das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gewährleisteten. Vielmehr werde der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte auch durch Art.  41 GrCh gewährleistet, der das

2 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-349/07 – Sopropé, Slg. 2008, I-10369 Rz. 37; v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P – Foshan Shunde Yongjian, Slg. 2009, I-9147 Rz. 83; v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140 – Global Trans Lodzhistik, ZfZ 2014, 326 Rz. 57; v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 30. 3 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-349/07 – Sopropé, Slg. 2008, I-10369 Rz. 38; v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P – Foshan Shunde Yongjian, Slg. 2009, I-9147 Rz. 83; v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 31. 4 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 29 f., 42. 5 EuGH v. 17.12.2015  – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832  – WebMindLicenses, UR  2016, 58 Rz. 84. 6 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 – Stauder, Slg. 1969, 419 Rz. 7; v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 – Hauer, Slg. 1979, 3727 Rz. 14 f.; Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 288 AEUV Rz. 28, 226 (August 2012). 7 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rz. 75 f.

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Recht auf eine gute Verwaltung sicherstelle.8 Nach Art. 41 Abs. 2 GrCh umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.9 2. Die zur Wahrung der Verteidigungsrechte Verpflichteten Die Frage der dogmatischen Herleitung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte hat Bedeutung für die Beantwortung der Frage, welche Verwaltungsbehörden verpflichtet sind, die Verteidigungsrechte eines Beteiligten zu wahren. Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 41 GrCh, dass sich dieser nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet.10 Gleichwohl war bereits vor dem Inkrafttreten der GrCH durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass die Verpflichtung zur Wahrung der Verteidigungsrechte eines Beteiligten auch die Behörden der Mitgliedstaaten trifft, wenn sie Entscheidungen erlassen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.11 Darüber hinaus gilt die GrCh nach deren Art. 51 Abs. 1 nicht nur für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, sondern auch für die Mitgliedstaaten, wenn und soweit sie das Recht der Union durchführen.12 Es unterliegt mithin keinem Zweifel, dass die Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Zollrechts der Union den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte zu beachten haben. 3. Einschränkungen des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte Obgleich der Wortlaut des Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GrCh die Annahme nahelegen könnte, dass das Recht des Beteiligten auf Wahrung seiner Verteidigungsrechte einschränkungslos gewährleistet ist, kann das Recht Einschränkungen unterliegen. So hat der EuGH entschieden, dass die Grundrechte, wie das Recht auf Wahrung der Verteidigungsrechte, das aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt, keine absoluten Rechte sind, sondern Beschränkungen unterliegen können.13 Diese Beschränkungen müssen allerdings tatsächlich Zielen des Allgemeininteresses entsprechen, die mit der in Rede stehenden Maßnahme verfolgt werden. Ferner dürfen die Beschränkungen 8 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 29. 9 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 29. 10 EuGH v. 17.12.2015 – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 – WebMindLicenses, UR 2016, 58 Rz. 83. 11 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-349/07 – Sopropé, Slg. 2008, I-10369 Rz. 38; v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P – Foshan Shunde Yongjian, Slg. 2009, I-9147 Rz. 83; v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 31. 12 EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson, UR 2014, 27 Rz. 17 f. 13 EuGH v. 7.7.2016 – C-70/15, ECLI:EU:C:2016:524 – Lebek vs. Domino, EuZW 2016, 618 Rz. 37.

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keine im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Rechte darstellen.14 4. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der ­Verteidigungsrechte Wenn eine Verwaltungsbehörde der Mitgliedstaaten das Recht auf Wahrung der Verteidigungsrechte verletzt hat, kann dies vielfältige Rechtsfolgen nach sich ziehen. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte kann zu einem Beweisverwertungsverbot führen.15 Oftmals sieht das Unionsrecht indes keine Regelung vor, welche die Frage beantwortet, welche Rechtsfolge bei einem Verstoß gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte eintritt. Dann ist es auf Grund der Verfahrensautonomie, die den Mitgliedstaaten durch Art. 44 Abs. 4 UZK eingeräumt worden ist, Sache des einzelstaatlichen Rechts, die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte zu bestimmen.16 Diese Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten unterliegt jedoch Einschränkungen. So müssen die Rechtsfolgen denen entsprechen, die für den Einzelnen oder die Unternehmen in vergleichbaren, unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzprinzip). Ferner dürfen die einzelstaatlichen Regelungen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Verteidigungsrechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).17

II. Anhörung des Beteiligten und Akteneinsicht 1. Anhörung vor Erlass einer belastenden Entscheidung Besondere Bedeutung kommt dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte namentlich im Rahmen der regelmäßig bestehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zu, den Antragsteller gemäß Art. 22 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 1 UZK vor Erlass einer ihn belastenden Entscheidung anzuhören. Hiernach hat die Zollbehörde dem Antragsteller die Gründe mitzuteilen, auf die sie ihre Entscheidung stützen will, und ihm Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist Stellung zu nehmen. Entsprechendes gilt nach Art. 29 UZK auch für eine Entscheidung, welche die Zollbehörde ohne vorherigen Antrag des Beteiligten erlässt. Dies betrifft insbesonde-

14 EuGH v. 7.7.2016 – C-70/15, ECLI:EU:C:2016:524 – Lebek vs. Domino, EuZW 2016, 618 Rz. 37. 15 EuGH v. 23.10.2014 – C-437/13, ECLI:EU:C:2014:2318 – Unitrading, ZfZ 2015, 42 Rz. 21; v. 17.12.2015 – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 – WebMindLicenses, UR 2016, 58 Rz. 89. 16 EuGH v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140 – Global Trans Lodzhistik, ZfZ 2014, 326 Rz. 60; v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 75. 17 EuGH v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140 – Global Trans Lodzhistik, ZfZ 2014, 326 Rz. 60; v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 75.

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re die Mitteilung des Zollschuldbetrags nach Art. 102 UZK.18 In diesem Zusammenhang sind dem Beteiligten beispielsweise auch etwaige Zweifel der Zollbehörde an der Richtigkeit eines angemeldeten Transaktionswertes mitzuteilen.19 Die danach regelmäßig bestehende Pflicht der Zollbehörde zur Anhörung des Antragstellers (Art. 22 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 1 UZK) oder des Beteiligten (Art. 29 UZK) vor dem Erlass einer diesen belastenden Entscheidung entspricht Art. 41 Abs.  2 Buchst. a GrCh, wonach jede Person das Recht hat, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird20. Unabhängig hiervon hat der EuGH stets betont, dass die Verpflichtung zur Anhörung des Beteiligten aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte folge. Danach müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Umständen, auf welche die Zollbehörde ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich und innerhalb einer ausreichend bemessenen Frist vorzutragen.21 2. Rechtsfolgen einer unterbliebenen Anhörung durch die Zollbehörde Was die Rechtsfolgen einer fehlenden Anhörung des Beteiligten vor dem Erlass einer diesen belastendenden Entscheidung anbetrifft, so ist mittlerweile geklärt, dass in den Fällen der Mitteilung eines Zollschuldbetrags (Art. 102 UZK) die Verteidigungsrechte des Beteiligten verletzt sind, wenn er zwar die Möglichkeit hatte, seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsbehördlichen Rechtsbehelfsverfahren (Art. 44 Abs. 2 Buchst. a UZK) geltend zu machen, das einzelstaatliche Recht es dem Beteiligten jedoch nicht ermöglichte, die Aussetzung der Vollziehung der Entscheidung (Art. 45 Abs. 2 UZK) bis zu ihrer etwaigen Änderung oder Aufhebung zu erlangen.22 Da das einzelstaatliche Verfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland keine Einschränkungen für eine nach Art. 45 Abs.  2 UZK zu gewährende Aussetzung der Vollziehung vorsieht, kann die erforderliche Anhörung eines Beteiligten mithin noch in einem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren (Art. 44 Abs. 2 Buchst. a UZK) nachgeholt werden. Unbeschadet dessen richten sich die Rechtsfolgen eines 18 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 41. 19 EuGH v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140 – Global Trans Lodzhistik, ZfZ  2014, 326 Rz.  57; v. 16.6.2016  – C-291/15, ECLI:EU:C:2016:455  – EURO 2004. Hungary, Rz. 42. Art. 140 UZK-DVO enthält wegen der allgemeinen Regelung des Art. 22 Abs. 6 Unterabs. 1 UZK nicht mehr eine dem Art. 181a Abs. 2 ZKDVO entsprechende Bestimmung. 20 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 29. 21 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-349/07 – Sopropé, Slg. 2008, I-10369 Rz. 36 f.; v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140  – Global Trans Lodzhistik, ZfZ  2014, 326 Rz. 57; v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 30. 22 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 73.

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Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte des Beteiligten in einem nachfolgenden gerichtlichen Verfahren nach dem einzelstaatlichen Recht.23 Das ergibt sich auch aus der sinngemäßen Bezugnahme in Art. 44 Abs. 4 UZK auf das für die einzelstaatlichen Zollbehörden geltende Rechtsbehelfsverfahren. Dies gilt jedenfalls, sofern die Regelungen des einzelstaatlichen Rechts nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die für entsprechende innerstaatliche Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (Effektivitätsgrundsatz).24 Daher gelten für die Entscheidungen deutscher Zollbehörden die §§ 126 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2, 127 AO.25 So führt nach § 127 AO eine fehlende Anhörung des Beteiligten in der Bundesrepublik Deutschland nicht zur gerichtlichen Aufhebung einer Entscheidung der Zollbehörde, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.26 Dies entspricht dem Unionsrecht. Hiernach führt ein Verstoß gegen die Verteidigungsrechte des Beteiligten nur dann zur Nichtigerklärung einer angefochtenen Entscheidung, wenn das Verfahren ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.27 3. Gewährung rechtlichen Gehörs durch die Kommission Wie bereits ausgeführt28, sind nicht nur die Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet, die Verteidigungsrechte eines Beteiligten zu wahren, wenn sie Entscheidungen erlassen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Vielmehr sind auch die Organe der Union verpflichtet, die Verteidigungsrechte eines Beteiligten zu wahren. Besondere Bedeutung kommt dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte in dem Verfahren nach Art. 116 Abs.  3 UZK für die Fälle zu, in denen die Zollbehörde eines Mitgliedstaats der Auffassung ist, dass eine Erstattung oder ein Erlass nach Art. 119 oder 120 UZK gewährt werden sollte. So hat der betreffende Mitgliedstaat, bevor er die Unterlagen an die Kommission zur Entscheidung weiterleitet, gemäß Art. 98 Abs. 1 Satz 1 UZK-DelVO diese Absicht der betreffenden Person – d.h. dem Antragsteller (Art. 121 UZK) oder der durch eine von Amts wegen ergehenden Entscheidung begünstigten Person (Art. 116 Abs. 4 UZK) – mitzuteilen und ihr eine Frist von 30 Tagen einzuräumen, um eine Erklärung zu unterzeichnen, in der die Person bestätigt, dass sie die Akte gelesen hat und je nach Fall angibt, dass sie ihr nichts hinzuzufügen hat oder welche Zusatzinformationen aufge23 EuGH v. 11.1.2001 – Rs. C-1/99 – Kofisa Italia, Slg. I-207 Rz. 38; v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 75. 24 EuGH v. 13.3.2014 – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140 – Global Trans Lodzhistik, ZfZ 2014, 326 Rz. 33 und 60; v. 23.10.2014 – C-437/13, ECLI:EU:C:2014:2318 – Uni­ trading, ZfZ 2015, 42 Rz. 27; v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 75. 25 BFH v. 12.1.2000 – VII R 67/97, BFH/NV 2000, 767. 26 BFH v. 28.8.1990 – VII R 59/89, BFH/NV 1991, 215. 27 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 80. 28 I.2.

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nommen werden sollten. Dadurch wird der betreffenden Person schon frühzeitig Gelegenheit gegeben, ihren Standpunkt geltend zu machen. Auch im nachfolgenden Verwaltungsverfahren bei der Kommission hat die betreffende Person ein Recht auf Anhörung. Beabsichtigt die Kommission eine Entscheidung zuungunsten der betreffenden Person zu fällen, hat sie gemäß Art. 99 Abs. 1 Satz 1 UZK-DelVO ihre Einwände der Person schriftlich mitzuteilen und Angaben zu allen Unterlagen und Informationen, auf die sich diese Einwände stützen, zu machen. Die Kommission hat der betreffenden Person überdies nach Art. 99 Abs.  1 Satz 2 UZK-DelVO mitzuteilen, dass sie ein Recht darauf hat, die Unterlagen einzusehen. Die betreffende Person erhält zudem gemäß Art. 99 Abs. 3 UZK-DelVO Gelegenheit, innerhalb von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt, an dem sie die vorgenannte Mitteilung erhalten hat, der Kommission ihren Standpunkt schriftlich mitzuteilen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs durch die Kommission hat allerdings auch Grenzen. So hat die betreffende Person keinen Anspruch darauf, von der Kommission mündlich angehört zu werden.29 Die betreffende Person ist auch nur zu den Gesichtspunkten anzuhören, auf welche die Entscheidung der Kommission gestützt werden soll.30 Die Kommission muss die betreffende Person zudem nicht ständig über den Verlauf des Verfahrens unterrichten.31 4. Recht auf Akteneinsicht Die Verfahrensrechte der betreffenden Person gegenüber der Kommission in dem Verfahren nach Art. 116 Abs. 3 UZK gehen über die Gewährung rechtlichen Gehörs hinaus. So hat die betreffende Person gegenüber der Kommission gemäß Art.  99 Abs. 1 Satz 2 UZK-DelVO auch ein Recht auf Akteneinsicht. Das Recht der betreffenden Person auf Akteneinsicht ist mit der Wahrung der Verteidigungsrechte eng verknüpft. Die der betreffenden Person zu gewährende Akteneinsicht gehört zu den ­Verfahrensgarantien, die das Recht auf Gehör schützen sollen.32 Der aus dem Recht auf Gehör in einem konkreten Verwaltungsverfahren durch Art. 99 Abs.  1 Satz 2 UZK-DelVO folgende Anspruch der betreffenden Person auf Akteneinsicht geht über das allgemein jedem Unionsbürger nach Art. 42 GrCh zustehende Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union hinaus.33 In Anbetracht der Bedeutung des Rechts auf Gehör steht es nicht im Belieben der Kommission, darüber zu entscheiden, welche Bedeutung die von der betreffenden

29 EuG v. 27.9.2005 – Rs. T-134/03 und T-135/03 – Common Market Fertilizers, Slg. 2005, II-3923 Rz. 108 f. 30 EuG v. 11.7.2002 – Rs. T-205/99 – Hyper Srl, Slg. 2002, II-3141 Rz. 60. 31 EuG v. 13.9.2005 – Rs. T-53/02 – Ricosmos, Slg. 2005, II-3173 Rz. 62. 32 EuG v. 19.2.1998 – Rs. T-42/96 – Eyckeler & Malt, Slg. 1998, II-401 Rz. 79. 33 Vgl. in diesem Zusammenhang zur erforderlichen Unterscheidung zwischen existenten und erst noch herzustellenden elektronischen Dokumenten: EuGH v. 11.1.2017 – C-491/15 P, ECLI:EU:C:2017:5 – Typke, Rz. 31.

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Person einzusehenden Unterlagen für diese haben können.34 Es ist nämlich durchaus möglich, dass Unterlagen, welche die Kommission für unerheblich hält, für die betreffende Person bedeutsam sind. Ansonsten bestünde die Möglichkeit, dass die Kommission einseitig von ihr als nachteilig angesehene Unterlagen zurückhalten könnte.35 Über den Wortlaut des Art. 99 Abs. 1 UZK-DelVO hinaus hat die betreffende Person deshalb grundsätzlich einen Anspruch darauf, in alle in den Akten vorhandene Unterlagen einschließlich derjenigen Einsicht nehmen zu können, die nicht zur Begründung der Einwände der Kommission verwendet wurden.36 Andererseits ist die Kommission jedoch nicht verpflichtet, von sich aus Einsicht in sämtliche Unterlagen zu gewähren, die einen nur möglichen Zusammenhang mit dem konkreten Fall aufweisen können.37 Ist die betreffende Person der Ansicht, dass derartige Unterlagen zur Begründung ihres Begehrens auf Erstattung oder Erlass dienlich sein können, hat sie Einsicht in die entsprechenden Unterlagen zu beantragen.38 Seine Grenzen findet das Recht auf Akteneinsicht der betreffenden Person, soweit es sich um vertrauliche Informationen handelt (Art. 12 Abs.  1 UZK). So umfasst das Recht auf Akteneinsicht nicht auch das Recht, Fotokopien von vertraulichen Unterlagen anzufertigen.39 Bei vertraulichen Unterlagen ist das Recht auf Akteneinsicht grundsätzlich auf die Einsicht in eine nicht vertrauliche Version oder Zusammenfassung der betreffenden Unterlagen beschränkt.40 5. Rechtsfolgen eines Verstoßes der Kommission gegen die Verfahrensrechte Ergeht im Verfahren nach Art. 116 Abs. 3 UZK eine Entscheidung der Kommission unter Missachtung der Verfahrensrechte der betreffenden Person, so ist diese Entscheidung anfechtbar. So kann das EuG auf eine Klage der betreffenden Person hin (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 AEUV) oder auf ein Rechtsmittel der EuGH (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV) eine Entscheidung der Kommission, die unter Verletzung der in den Art. 99 Abs. 1 und 3 UZK-DelVO niedergelegten Verfahrensrechte zustande gekommen ist, für nichtig erklären (Art. 264 UAbs. 1 AEUV)41, wenn das Verfahren ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.42

34 EuG v. 10.5.2001 – Rs. T-186/97 u.a. – Kaufring, Slg. 2001, II-1337 Rz. 185. 35 EuG v. 19.2.1998 – Rs. T-42/96 – Eyckeler & Malt, Slg. 1998, II-401 Rz. 81; v. 10.5.2001 – Rs. T-186/97 u.a. – Kaufring, Slg. 2001, II-1337 Rz. 185. 36 EuG v. 13.9.2005 – Rs. T-53/02 – Ricosmos, Slg. 2005, II-3173 Rz. 72. 37 EuG v. 11.7.2002  – Rs. T-205/99  – Hyper, Slg. 2002, II-3141 Rz.  63  f.; v. 27.2.2003  – Rs. T-329/00 – Bonn Fleisch, Slg. 2003, II-287 Rz. 46. 38 EuG v. 27.2.2003 – Rs. T-329/00 – Bonn Fleisch, Slg. 2003, II-287 Rz. 46. 39 EuG v. 27.2.2003 – Rs. T-329/00 – Bonn Fleisch, Slg. 2003, II-287 Rz. 59. 40 EuG v. 27.2.2003 – Rs. T-329/00 – Bonn Fleisch, Slg. 2003, II-287 Rz. 59. 41 EuG v. 18.1.2000  – Rs. T-290/97  – Mehibas Dordtselaan, Slg. 2000, II-15 Rz.  34; v. 10.5.2001 – Rs. T-186/97 u.a. – Kaufring, Slg. 2001, II-1337 Rz. 305. 42 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 80.

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III. Begründung einer Entscheidung 1. Begründung einer Entscheidung der Zollbehörde Nach Art. 22 Abs. 7 UZK muss eine den Antragsteller belastende Entscheidung mit Gründen versehen sein. Entsprechendes gilt gemäß Art. 29 UZK für Entscheidungen, welche die Zollbehörde ohne vorherigen Antrag des Beteiligten erlassen. Hierbei kann es sich namentlich um die Mitteilung des Zollschuldbetrags handeln (Art. 102 UZK). Die Verpflichtung der Zollbehörde, ihre Entscheidung mit einer Begründung zu versehen, dient der Wahrung der Verteidigungsrechte des Beteiligten. Die Begründungspflicht entspricht Art. 41 Abs. 2 Buchst. c GrCh, der für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union die Verpflichtung begründet, die schriftliche Ablehnung von Anträgen oder Entscheidungen, die einen bestimmten Adressaten betreffen, zu begründen.43 Nichts anderes gilt gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh für die Zollbehörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Begründung einer Mitteilung des Zollschuldbetrags nach Art. 102 Abs. 1 UAbs. 1 UZK muss erkennen lassen, warum eine Zollschuld entstanden ist und warum der Beteiligte Schuldner geworden ist44. Die Mitteilung des Zollschuldbetrags soll dem Zollschuldner ermöglichen, seine Rechte in voller Kenntnis der Sachlage wahrzunehmen45. Dies erfordert das durch Art. 47 UAbs. 1 GrCh garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Für die Wirksamkeit der hiermit gewährleisteten effektiven gerichtlichen Kontrolle ist es erforderlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen erlangt, auf denen die ihm gegenüber ergangene belastende Entscheidung beruht.46 Ferner muss das zuständige einzelstaatliche Gericht auf Grund der Begründung der angefochtenen Entscheidung in die Lage versetzt werden, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung ausüben zu können.47 Eine Entscheidung ohne ausreichende Begründung ist daher grundsätzlich rechtswidrig mit der Folge, dass sie auf einen Rechtsbehelf des Beteiligten hin aufgehoben werden kann.48 Dies gilt freilich nur dann, wenn die erforderliche Begründung der Entscheidung nicht nach­ träglich gegeben wird (§ 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO) und wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (§  127 AO). Denn die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte des Beteiligten in einem gerichtlichen Verfahren richten sich nach wie vor nach dem einzelstaatlichen Recht.49

43 EuGH v. 7.12.2000 – Rs. C-213/99 – de Andrade, Slg. 2000, I I-11083 Rz. 31. 44 BFH v. 17.3.2009 – VII R 40/08, BFH/NV 2009, 1287. 45 EuGH v. 28.1.2010 – Rs. C-264/08 – Direct Parcel Distribution Belgium, Slg. 2010, I-731 Rz. 29; v. 10.12.2015 – C-553/14 P, ECLI:EU:C:2015:805 – Kyocera Miti Europe, Rz. 50. 46 EuGH v. 23.10.2014 – C-437/13, ECLI:EU:C:2014:2318 – Unitrading, ZfZ 2015, 42 Rz. 20. 47 EuGH v. 23.10.2014 – C-437/13, ECLI:EU:C:2014:2318 – Unitrading, ZfZ 2015, 42 Rz. 20. 48 BFH v. 12.6.2001 – VII R 67/00, BFH/NV 2002, 80. 49 EuGH v. 11.1.2001 – Rs. C-1/99 – Kofisa Italia, Slg. I-207 Rz. 38; v. 3.7.2014 – Rs. C-129/13 und C-130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 75.

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Das ergibt sich auch aus der sinngemäßen Bezugnahme in Art. 44 Abs. 4 UZK auf das für die einzelstaatlichen Zollbehörden geltende Rechtsbehelfsverfahren. 2. Begründung einer Entscheidung der Kommission Die Verpflichtung, eine den Beteiligten belastende Entscheidung zu begründen und damit dessen Verteidigungsrechte zu wahren, besteht nicht nur für die Zollbehörden der Mitgliedstaaten. Vielmehr hat auch die Kommission in dem Verfahren nach Art. 116 Abs. 3 UZK ihre Entscheidung zu begründen. Diese Verpflichtung der Kommission ergibt sich sowohl aus Art. 296 UAbs. 2 AEUV als auch aus Art. 41 Abs. 2 Buchst. c GrCh. Die Begründung der Entscheidung der Kommission muss deren Erwägungen so klar und unzweideutig wiedergeben, dass der Beteiligte die tragenden Gründe für die Entscheidung zur Wahrnehmung seiner Rechte erkennen kann und das EuG auf eine Klage hin seine Kontrolle ausüben kann.50 Der Umfang der Begründungspflicht richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.51 Bei einer Entscheidung, mit der die Kommission eine Erstattung oder einen Erlass von Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbeträgen ablehnt, muss diese in der Begründung darlegen, welche Voraussetzungen für eine Erstattung oder einen Erlass sie als nicht erfüllt ansieht.52 Andererseits muss die Kommission in der Begründung ihrer Entscheidung nicht sämtliche tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte benennen. Denn die Frage, ob die Begründung der Entscheidung der Kommission den Erfordernissen des Art.  296 UAbs.  2 AEUV genügt, ist nicht nur anhand des Wortlauts dieser Bestimmung, sondern auch anhand ihres Zusammenhangs sowie sämtlicher einschlägiger Rechtsvorschriften zu beurteilen.53 Hat die Kommission gegen die sie treffende Verpflichtung verstoßen, ihre Entscheidung zu begründen, kann die Entscheidung auf eine Klage des Beteiligten hin vom EuG (Art.  256 Abs.  1 Satz  1 AEUV) oder auf ein Rechtsmitteln hin vom EuGH (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV) für nichtig erklärt werden kann (Art. 264 UAbs. 1 AEUV).54 Anders als nach einzelstaatlichem Recht (§ 126 Abs. 2 AO), kann die Kommission im Verfahren vor dem EuG nicht mehr mit Erfolg eine Begründung ihrer 50 EuGH v. 6.7.1993 – Rs. C-121/91 und C-122/91 – CT Control und JCT Benelux, Slg. 1993, I-3873 Rz.  31; EuG v. 16.7.1998  – Rs. T-195/97  – Kia Motors Nederland u.a., Slg. 1998, II- 2907 Rz. 34; v. 18.1.2000 – Rs. T-290/97 – Mehibas Dordtselaan, Slg. 2000, II-15 Rz. 92; v. 27.9.2005 – Rs. T-134/03 und T-135/03 – Common Market Fertilizers, Slg. 2005, II-3923 Rz. 156; v. 18.6.2012 – T-159/09, ECLI:EU:T:2012:307 – Biofrescos-Comércio de Produtos Alimentares, Rz. 37. 51 EuGH v. 6.7.1993 – Rs. C-121/91 und C-122/91 – CT Control und JCT Benelux, Slg. 1993, I-3873 Rz.  31; EuG v. 16.7.1998  – Rs. T-195/97  – Kia Motors Nederland u.a., Slg. 1998, II- 2907 Rz. 34; v. 18.1.2000 – Rs. T-290/97 – Mehibas Dordtselaan, Slg. 2000, II-15 Rz. 92. 52 EuG v. 27.9.2005 – Rs. T-134/03 und T-135/03 – Common Market Fertilizers, Slg. 2005, II-3923 Rz. 157. 53 EuG v. 18.6.2012 – T-159/09, ECLI:EU:T:2012:307 – Biofrescos-Comércio de Produtos Alimentares, Rz. 37. 54 EuG v. 16.7.1998 – Rs. T-195/97 – Kia Motors Nederland u.a., Slg. 1998, II-2907 Rz. 40.

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Entscheidung nachschieben. So kann die Kommission etwa in dem Verfahren nach Art. 116 Abs. 3 UZK nicht mehr erst im gerichtlichen Verfahren vor dem EuG geltend machen, der Zollschuldner habe offensichtlich fahrlässig gehandelt und deshalb sei eine Erstattung oder ein Erlass nach Art. 120 Abs. 1 UZK nicht gerechtfertigt.55

IV. Wirksamer Rechtsbehelf und Aussetzung der Vollziehung 1. Wirksamer Rechtsbehelf Nach Art. 47 UAbs. 1 GrCh hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte gebietet es daher, dass nicht nur die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs gegeben sein muss, wie dies für den Bereich des Zollrechts Art. 44 Abs. 1 und 2 UZK vorsieht. Vielmehr muss es sich hierbei auch um einen wirksamen Rechtsbehelf handeln. In Übereinstimmung hiermit begründet Art. 44 Abs. 4 UZK die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das einzelstaatliche Rechtsbehelfsverfahren so auszugestalten, dass eine umgehende Bestätigung oder Berichtigung der von den Zollbehörden erlassenen Entscheidungen ermöglicht wird. Diese Bestimmung geht im Interesse des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte über die keine weiteren Vorgaben enthaltende allgemeine Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten nach altem Recht (Art. 245 ZK) deutlich hinaus. Hiernach war es in Ermangelung einschlägiger Bestimmungen des Unionsrechts Sache der Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger waren als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten (Effektivitätsgrundsatz).56 Gleichwohl gebot der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte schon nach alter Rechtslage (Art. 245 ZK), dass der Richter eines einzelstaatlichen Gerichts die Führung eines Beweises nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren durfte, wenn dem Zollschuldner der Beweis für den Ursprung einer Ware oblag. Der Richter eines einzelstaatlichen Gerichts hat mithin auch nach neuer Rechtslage (Art. 44 Abs. 4 UZK) sämtliche ihm nach dem einzelstaatlichen Verfahrensrecht zu Gebote stehenden Maßnahmen einschließlich der Anordnung erforderlicher Beweiserhebungen auszuschöpfen.57 Über diese durch die Rechtsprechung des EuGH aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte entwickelten Erfordernisse für das einzelstaatliche Rechtsbehelfsverfahren hinaus verpflichtet Art. 44 Abs. 4 UZK die Mitgliedstaaten insbeson55 EuG v. 7.6.2001 – Rs. T-330/99 – Spedition Wilhelm Rotermund, Slg. 2001, II-1619 Rz. 50. 56 EuGH v. 23.10.2014 – C-437/13, ECLI:EU:C:2014:2318 – Unitrading, ZfZ 2015, 42 Rz. 27; v. 13.3.2014  – C-29/13 und C-30/13, ECLI:EU:C:2014:140  – Global Trans Lodzhistik, ZfZ 2014, 326 Rz. 33. 57 EuGH v. 23.10.2014 – C-437/13, ECLI:EU:C:2014:2318 – Unitrading, ZfZ 2015, 42 Rz. 28.

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dere, eine umgehende Bestätigung oder Berichtigung einer von einer Zollbehörde erlassenen Entscheidung zu ermöglichen. Das durch Art. 47 GrCh gewährleistete Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 44 Abs. 4 UZK erfordert daher auch, dass die Mitgliedstaaten für einen gerichtlichen Rechtsschutz in angemessener Zeit zu sorgen haben. Das steht mit Art. 47 UAbs. 2 GrCh in Einklang, nach dem jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte dürfte auch Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage haben, innerhalb welcher Fristen der Beteiligte noch einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung der Zollbehörde einlegen kann. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die durch Art. 252 UZK-DelVO bewirkte Fortgeltung von verbindlichen Auskünften zu nennen, die nach altem Recht erteilt worden sind, in Abweichung von der bisherigen Rechtslage seit dem 1.5.2016 indes auch für den Inhaber der Entscheidung bindend sind.58 Da für den Inhaber einer solchen verbindlichen Auskunft kein Erfordernis bestand, diese anzufechten, falls sie nicht seinen Interessen entsprach, dürfte in vielen Fällen am 1.5.2016 die einzelstaatlich vorgesehene Rechtsbehelfsfrist bereits abgelaufen gewesen sein. Dies kann gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte des Inhabers einer nach altem Recht erteilten verbindlichen Auskunft verstoßen. So stellt es einen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte dar, wenn eine nach dem Unionsrecht vorgesehene Frist bereits zu dem Zeitpunkt abgelaufen war, als der Beteiligte von einer Unregelmäßigkeit überhaupt Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können.59 Dementsprechend dürfte auch der Ablauf einer einzelstaatlich vorgesehenen Rechtsbehelfsfrist in den Fällen, in denen für den Beteiligten nach bisheriger Rechtslage keine Veranlassung zu einer Anfechtung der Entscheidung der Zollbehörde bestand, gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verstoßen. 2. Aussetzung der Vollziehung Besondere Bedeutung für die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsbehelfs und damit für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Beteiligten kommt gerade im Zollrecht einer Aussetzung der Vollziehung (Art. 45 UZK) zu. Der Beteiligte muss insbesondere in den Fällen der Mitteilung eines Zollschuldbetrags (Art. 102 UZK) nicht nur die Möglichkeit haben, einen Rechtsbehelf einzulegen (Art. 44 Abs. 1 UZK). Vielmehr muss er gegebenenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe auch in der Lage sein, eine Aussetzung der Vollziehung zu erhalten, wenn begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von ihm angefochtenen Entscheidung der Zollbehörde bestehen oder wenn ihm ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. Dabei ist die insoweit maßgebende Bestimmung des Art. 45 Abs. 2 UZK im Lichte der Grundrechte auszulegen, die nach der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechts-

58 Möllenhoff/Panke, AW-Prax 2016, 51. 59 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rz. 52.

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grundsätzen gehören.60 Daher dürfen die Tatbestandsvoraussetzungen des Art.  45 Abs. 2 UZK für die Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung, nämlich das Be­ stehen von begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Entscheidung oder ein zu befürchtender unersetzbarer Schaden für den Beteiligten, nicht ­restriktiv ausgelegt oder angewendet werden.61 Es bestehen in diesem Zusammenhang nicht nur Verpflichtungen der einzelstaatlichen Zollbehörden und Gerichte. Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte gebietet es vielmehr auch, dass die Mitgliedstaaten das einzelstaatliche Verwaltungsverfahren nicht so ausgestalten dürfen, dass die Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung einschränkt wird, wenn begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.62

V. Nachweise für die Erledigung eines Zollverfahrens Eine wesentliche Bedeutung kann dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte des Beteiligten für einen von diesem zu führenden Nachweis der Erledigung eines besonderen Zollverfahrens (Art. 210 UZK) zukommen. Der EuGH hat wiederholt betont, dass die Beachtung der Verteidigungsrechte in jedem Verfahren, das gegen eine Person eröffnet worden ist und das mit einer diese beschwerenden Maßnahme abgeschlossen werden kann, einen wesentlichen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Dieser Grundsatz verlangt, dass jede möglicherweise von einer belastenden Maßnahme betroffene Person in zweckdienlicher Weise ihre Auffassung zu den einzelnen Gesichtspunkten darlegen kann, auf welche die Verhängung der Maßnahme gestützt wird, und jeden ihrer Verteidigung dienenden Nachweis führen kann.63 Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte gebietet es daher, die Vorschriften über den Nachweis der Erledigung eines besonderen Zollverfahrens dergestalt auszulegen, dass der Beteiligte nicht daran gehindert wird, den Nachweis der Erledigung des Verfahrens oder des Ortes der Zuwiderhandlung zu führen.64 Ein einzelstaatliches Gericht hat deshalb bei der Beurteilung der Frist für den Nachweis des Ortes, an dem eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen worden ist, dafür Sorge zu tragen, dass es dem Beteiligten nicht tatsächlich unmöglich gemacht wird, diesen Nachweis zu führen.65 So kann es im Einzelfall dazu kommen, dass eine 60 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 69. 61 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 70. 62 EuGH v. 3.7.2014 – C-129/13 und 130/13, ECLI:EU:C:2014:2041 – Kamino, ZfZ 2015, 77 Rz. 72. 63 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rz. 51; v. 23.9.2003 – Rs. C-78/01 – BGL, Slg. 2003, I-9543 Rz. 52; v. 14.5.2009 – Rs. C-161/08 – Internationaal Verhuis- en Transportbedrijf Jan de Lely, Slg. 2009, I-4075 Rz. 70. 64 EuGH v. 23.9.2003 – Rs. C-78/01 – BGL, Slg. 2003, I-9543 Rz. 53. 65 EuGH v. 14.5.2009  – Rs. C-161/08  – Internationaal Verhuis- en Transportbedrijf Jan de Lely, Slg. 2009, I-4075 Rz. 71.

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nach dem Unionsrecht vorgesehene Frist für den Nachweis der Erledigung eines besonderen Zollverfahrens oder des Ortes, an dem eine Zuwiderhandlung begangen worden ist, als nicht angemessen angesehen wird, wenn sie zu dem Zeitpunkt bereits abgelaufen war, als der Beteiligte von einer Unregelmäßigkeit überhaupt erst Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können.66 In einem solchen Fall genügt die Anwendung der unionsrechtlich vorgesehenen Frist nicht dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte des Beteiligten, weil dieser nicht rechtzeitig davon Kenntnis hat erlangen können, dass das Verfahren nicht ordnungsgemäß erledigt worden ist.67 Die Anwendung einer derartigen Frist bewirkt nämlich, dass der Beteiligte nicht in der Lage ist, seinen Standpunkt in sachdienlicher Weise vorzutragen und den Nachweis einer ordnungsmäßigen Erledigung des Verfahrens oder des Ortes einer Zuwiderhandlung zu führen.68

VI. Antidumpingzollrecht 1. Bedeutung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte In der Rechtsprechung des EuGH zum Antidumpingzollrecht hat der unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt. Im Rahmen von Verfahren, welche die Einführung eines Antidumpingzolls betreffen, hat das hierfür zuständige Organ der Union die Belange der von der Maßnahme betroffenen Unternehmen zu berücksichtigen. Hierbei kommt dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen eine ganz besondere Bedeutung zu.69 Der EuGH hat daher schon frühzeitig betont, dass das Erfordernis der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht nur im Rahmen von Verfahren, die zu Sanktionen führen können, sondern insbesondere auch in Untersuchungsverfahren gilt, die dem Erlass einer Antidumpingverordnung vorausgehen. Denn eine Antidumpingverordnung könne die hiervon betroffenen Unternehmen trotz ihrer allgemeinen Geltung unmittelbar und individuell berühren sowie nachteilige Auswirkungen auf sie haben.70 2. Unterrichtungs- und Anhörungspflichten Eine besondere Ausprägung hat der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte im Antidumpingzollrecht dadurch gefunden, dass die Antragsteller, die Einführer und Ausführer sowie ihre repräsentativen Verbände und die Vertreter des Ausfuhr66 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rz. 52. 67 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rz. 53. 68 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rz. 53. 69 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-49/88 – Al-Jubail Fertilizer, Slg. 1991, I-3187 Rz. 15; v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P  – Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware, Slg. 2009, I-9147 Rz.  93: v. 16.2.2012  – C-191/09 P und C-200/09 P, ECLI:EU:C:2012:78  – Interpipe, ZfZ 2012, 129 Rz. 77; EuG v. 1.6.2017 – T-442/12, ECLI:EU:T:2017:372 – Changmao Biochemical Engineering Rz. 139. 70 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-49/88 – Al-Jubail Fertilizer, Slg. 1991, I-3187 Rz. 15.

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landes nach Art. 20 Abs. 1 Satz 1 VO (EU) 2016/103671 eine Unterrichtung über die wesentlichen Tatsachen und Erwägungen beantragen können, auf deren Grundlage die vorläufigen Maßnahmen eingeführt worden sind. Die vorgenannten Parteien können zudem nach Art. 20 Abs. 2 VO (EU) 2016/1036 eine endgültige Unterrichtung über die wichtigsten Tatsachen und Erwägungen beantragen, auf deren Grundlage beabsichtigt wird, die Einführung endgültiger Maßnahmen oder die Einstellung einer Untersuchung oder eines Verfahrens ohne die Einführung von Maßnahmen zu empfehlen. Diese Unterrichtungspflichten sollen es den genannten Parteien ermöglichen, ihre Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen zu können.72 Unbeschadet dessen müssen nach der Rechtsprechung des EuGH und des EuG die durch die Einführung eines Antidumpingzolls betroffenen Unternehmen im Verlauf des Verwaltungsverfahrens, das dem Erlass einer Verordnung vorausgeht, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zur Richtigkeit und Erheblichkeit der behaupteten Tatsachen sowie zu den Beweisen, auf welche das Organ der Union den Vorwurf des Vorliegens eines Dumping und eines daraus resultierenden Schadens stützt, sachgerecht zu vertreten.73 Das gilt selbst dann, wenn es um die Berücksichtigung von als vertraulich übermittelter Informationen geht.74 So hat der EuGH etwa entschieden, dass das mit einer Antidumpinguntersuchung befasste Organ in den in Art. 19 Abs. 3 VO (EU) 2016/1036 geregelten Fällen zwar beschließen kann, als vertraulich übermittelte Informationen dennoch zu berücksichtigen. Dann stelle sich jedoch hinsichtlich der anderen betroffenen Parteien, die bei der Untersuchung mitgewirkt hätten, die Frage, ob deren Verteidigungsrechte durch eine solche Berücksichtigung beeinträchtigt werden könnten.75 Nach Art. 21 Abs. 3 Satz 1 VO (EU) 2016/1036 können zudem die Antragsteller, die Einführer und ihre repräsentativen Verbände sowie die repräsentativen Verwenderund die repräsentativen Verbraucherorganisationen im Rahmen der Prüfung der Frage, ob das Unionsinteresse einen Antidumpingzoll erfordert, einen Antrag auf Anhörung stellen. Einem solchen Antrag ist stattgegeben, wenn er innerhalb der in Art. 21 Abs. 2 Satz 1 der VO (EU) 2016/1036 genannten Frist eingereicht wird und besondere Gründe im Hinblick auf das Unionsinteresse enthält, aus denen die Partei angehört werden sollte (Art. 21 Abs. 3 Satz 2 der VO (EU) 2016/1036). Diese Bestimmungen konkretisieren das den betroffenen Parteien zustehende Recht auf Anhörung, das ei71 VO (EU) 2016/1036 v. 8.6.2016 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern, ABl. EU Nr. L 176/21. 72 Köbele in Krenzler/Herrmann/Niestedt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, AD-GVO Art. 20 Rz. 1 (August 2012). 73 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-49/88 – Al-Jubail Fertilizer, Slg. 1991, I-3187 Rz. 17; v. 16.2.2012 – C-191/09 P und C-200/09 P, ECLI:EU:C:2012:78 – Interpipe, ZfZ 2012, 129 Rz. 76; EuG v. 1.6.2017 – T-442/12, ECLI:EU:T:2017:372 – Changmao Biochemical Engineering Rz. 140. 74 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-49/88 – Al-Jubail Fertilizer, Slg. 1991, I-3187 Rz. 17; v. 3.10.2000 – Rs. C-458/98 P  – Industrie des poudres spheriques, Slg. 2000, I-8147 Rz.  99; EuG v. 1.6.2017 – T-442/12, ECLI:EU:T:2017:372 – Changmao Biochemical Engineering Rz. 141 f. 75 EuGH v. 16.2.2012 – C-191/09 P und C-200/09 P, ECLI:EU:C:2012:78 – Interpipe, ZfZ 2012, 129 Rz. 171.

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nes der vom Unionsrecht anerkannten fundamentalen Rechte darstellt und das Recht beinhaltet, über die grundlegenden Tatsachen und Erwägungen unterrichtet zu werden, auf deren Grundlage beabsichtigt wird, einen Antidumpingzoll einzuführen.76 3. Begründung einer Antidumpingverordnung Im Rahmen des Erlasses einer Antidumpingverordnung hängt auch die aus Art. 296 UAbs. 2 AEUV folgende Begründungspflicht des Organs der Union mit der Wahrung der Verteidigungsrechte der von der Verordnung betroffenen Unternehmen eng zusammen. Diese Unternehmen können ihre Verteidigungsrechte nur dann wirksam wahrnehmen, wenn das rechtssetzende Organ der Union seiner Begründungspflicht in ausreichendem Maße nachgekommen ist. Die gemäß Art. 296 UAbs. 2 AEUV vorgeschriebene Begründung muss daher der Natur des betreffenden Rechtsakts entsprechen und die Überlegung des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die betroffenen Unternehmen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.77 Der Umfang der erforderlichen Begründung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung müssen nicht sämtliche tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt werden, weil die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 UAbs. 2 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Zusammenhangs sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet.78 Die Begründung einer Unionsverordnung kann sich darauf beschränken, die Gesamtlage anzugeben, die zu ihrem Erlass geführt hat, und die allgemeinen Ziele zu bezeichnen, die mit ihr erreicht werden sollen. Es ist nicht erforderlich, dass das Unionsorgan die zuweilen recht zahlreichen und weitverzweigten tatsächlichen Umstände im Einzelnen anführt, auf deren Grundlage die Verordnung ergangen ist, und sie diese Umstände mehr oder weniger vollständig würdigt.79 Ergibt sich das von dem Unionsorgan im Wesentlichen verfolgte Ziel aus der Antidumpingverordnung, bedarf es ­daher keiner besonderen Begründung für jede Berichtigung des Normalwerts der betreffenden Ware.80

76 EuG v. 15.12.1999 – Rs. T-33/98 und T-34/98 – Petrotub und Republica, Slg. 1999, II-3837 Rz. 201. 77 EuGH v. 9.1.2003  – Rs. C-76/00 P  – Petrotub und Republica, Slg.  2003, I-79 Rz.  81; v. 10.9.2015  – C-687/13, ECLI:EU:C:2015:573  – Fliesen-Zentrum Deutschland, ZfZ 2015, 261 Rz. 75. 78 EuGH v. 9.1.2003 – C-76/00 P – Petrotub und Republica, Slg. 2003, I-79 Rz. 81; v. 10.9.2015 – C-687/13, ECLI:EU:C:2015:573 – Fliesen-Zentrum Deutschland, ZfZ 2015, 261 Rz. 76. 79 EuGH v. 10.9.2015 – C-687/13, ECLI:EU:C:2015:573 – Fliesen-Zentrum Deutschland, ZfZ 2015, 261 Rz. 77. 80 EuGH v. 10.9.2015 – C-687/13, ECLI:EU:C:2015:573 – Fliesen-Zentrum Deutschland, ZfZ 2015, 261 Rz. 78.

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4. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der ­Verteidigungsrechte Liegt ein beachtlicher Verstoß des für die Einführung eines Antidumpingzolls zuständigen Organs der Union gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte vor, kann dies dazu führen, dass das EuG auf eine Klage des von der VO betroffenen Unternehmens (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1, 263 UAbs. 4 AEUV) oder der EuGH auf ein Rechtsmittel hin (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV) die VO für nichtig erklärt (Art. 264 AEUV)81. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte hat indessen nicht in jedem Fall zu Folge, dass eine Antidumpingverordnung vom EuG oder vom EuGH für nichtig erklärt wird. So kann beispielsweise ein Verstoß gegen das Recht auf Zugang zu den die Einführung eines Antidumpingzolls betreffenden Untersuchungsakten und damit gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nur dann zur Nichtigerklärung einer Antidumpingverordnung führen, wenn durch die Offenlegung der fraglichen Dokumente eine, wenn auch nur beschränkte Möglichkeit bestanden hätte, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, wenn sich das betroffene Unternehmen im Verlauf des Verfahrens auf die Dokumente hätte berufen können.82 Ferner kann die Nichtbeachtung der Äußerungsfrist des Art. 20 Abs. 5 VO (EU) 2016/1036 nur dann zur Nichtig­ erklärung einer Antidumpingverordnung führen, wenn das Verwaltungsverfahren auf Grund dieses Verfahrensfehlers zu einem anderen Ergebnis hätte führen können und daher die Verteidigungsrechte der in Art. 20 Abs. 1 VO (EU) 2016/1036 genannten Unternehmen konkret beeinträchtigt wurden.83 Die durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelten Einschränkungen hinsichtlich der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte dürfen allerdings nicht im Sinne eines strengen Kausalitätserfordernisses verstanden werden. So darf von einem von einer Antidumpingverordnung betroffenen Unternehmen nicht der Nachweis verlangt werden, dass die Verordnung inhaltlich anders ausgefallen wäre. Es reicht vielmehr aus, dass dies nicht völlig ausgeschlossen werden kann, wenn sich das Unternehmen ohne diesen Verfahrensfehler besser hätte verteidigen können.84 Das kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn nicht auszuschließen ist, dass das Unionsorgan seinen Standpunkt auf Grund des Vorbrin-

81 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-49/88 – Al-Jubail Fertilizer, Slg. 1991, I-3187 Rz. 25; v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P  – Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware, Slg. 2009, I-9147 Rz. 115; EuG v. 1.6.2017 – T-442/12, ECLI:EU:T:2017:372 – Changmao Biochemical Engineering Rz. 161. 82 EuGH v. 16.2.2012 – C-191/09 P und C-200/09 P, ECLI:EU:C:2012:78 – Interpipe, ZfZ 2012, 129 Rz. 174. 83 EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P – Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware, Slg. 2009, I-9147 Rz. 81. 84 EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P – Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware, Slg. 2009, I-9147 Rz. 94; v. 16.2.2012 – C-191/09 P und C-200/09 P, ECLI:EU:C:2012:78 – Interpipe, ZfZ  2012, 129 Rz.  78  f.; EuG v. 1.6.2017  – T-442/12, ECLI:EU:T:2017:372  – ­Changmao Biochemical Engineering Rz. 144.

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gens des betroffenen Unternehmens zu einem materiellen Kriterium noch einmal geändert hätte.85

VII. Ergebnis Die Untersuchung hat gezeigt, dass dem unionsrechtlichen Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte im Zollrecht und Zollverfahrensrecht eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Der Grundsatz hat nicht nur als ungeschriebener Rechtsgrundsatz des Unionsrechts Eingang in das Zollrecht und das Zollverfahrensrecht gefunden. Er ist vielmehr oftmals Grundlage für eine Vielzahl von Regelungen im UZK und den zu seiner Ausführung ergangenen Rechtsakten sowie der VO (EU) 2016/1036. Diese verdeutlicht, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht nur von den Zollbehörden und Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anwendung und Auslegung des Zollrechts und Zollverfahrensrechts zu beachten ist. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts verpflichtet er vielmehr auch die rechtssetzenden Organe der Union, die Belange der Beteiligten gebührend zu berücksichtigen.

85 EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-141/08 P – Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware, Slg. 2009, I-9147 Rz. 97.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU-  Freihandelsabkommen Inhaltsübersicht



c) Ausgestaltung der Nutzung von ­Ursprungserklärungen im EU-Freihandelsabkommen mit ­Singapur d) Ausgestaltung der Nutzung von ­Ursprungserklärungen im EU-Freihandelsabkommen mit ­Kanada e) Zusammenfassung 2. Die Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens in den modernen EU-Freihandelsabkommen a) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im Regionalen ­Übereinkommen über Ursprungsregeln b) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im EU-Freihandels­ abkommen mit Südkorea c) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im EU-Freihandels­ abkommen mit Singapur d) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im EU-Freihandels­ abkommen mit Kanada e) Zusammenfassung 3. Zusammenhang mit den Entwicklungen auf europäischer Ebene a) Vertrauensschutz bei der Nutzung von Präferenznachweisen b) Forderungen des Europäischen Rechnungshofs zu mehr ­Eigenverantwortung c) Zusammenfassung 4. Zusammenfassung



V. Ergebnis und Ausblick

I. Einleitung

II. Die materiellen Ursprungsregeln 1. Die Listenregeln zur ausreichenden Be- oder Verarbeitung a) Grundsätzliches zu den Abkommen mit Südkorea, Singapur und Kanada b) Wertschöpfungsanteile c) Nutzung des Tarifsprungkriteriums d) Sonderfälle e) Zusammenfassung 2. Minimalbehandlungen 3. Buchmäßige Trennung von Vor­ materialien mit und ohne ­Ursprungseigenschaft 4. Ursprungskumulierung 5. Zusammenfassung



III. Territoriale Auflagen und Verbot der Zollrückvergütung 1. Territoriale Auflagen: Territorialitätsprinzip und unmittelbare Beförderung a) Territorialitätsprinzip b) Unmittelbare Beförderung 2. Verbot der Zollrückvergütung oder Zollbefreiung („Draw-Back-Verbot“) 3. Zusammenfassung IV. Die formellen Ursprungsregeln 1. Die Ursprungserklärung als einzig möglicher Ursprungsnachweis a) Ausgestaltung der Nutzung von Ursprungserklärungen im Regionalen Übereinkommen über Ursprungsregeln b) Ausgestaltung der Nutzung von ­Ursprungserklärungen im EU-Freihandelsabkommen mit Südkorea



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I. Einleitung Die Ausgestaltung des Freihandels1 der Europäischen Union mit Drittländern hat in den letzten Jahren eine starke Wandlung erfahren.2 Belegt wird dies einerseits durch die Neuregelung des Schemas allgemeiner Zollpräferenzen durch die Verordnung (EU) Nr. 978/20123, mit dem die Zahl der autonom durch die EU präferenzbegünstigten Länder deutlich reduziert wurde.4 Andererseits wurden in den vergangenen Jahren Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit wirtschaftlich starken Nationen aufgenommen. Bekanntestes Beispiel für diese Entwicklung sind die Verhandlungen mit den USA über die „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ (TTIP)5, die mittlerweile wohl aufgrund der derzeit durch den aktuellen US-Präsidenten Donald Trump betriebenen Freihandelspolitik6 als gescheitert angesehen werden können. Gleiches gilt womöglich auch für die seitens der USA mit mehreren Staaten (Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und ­Vietnam) verhandelten „Trans-Pacific Partnership“ (TPP)7, aus der die USA infolge eines durch Trump unterzeichneten Dekrets im Januar 2017 ausgestiegen sind. Ein weiteres aus der Tagespresse bekanntes Beispiel für Freihandelsverhandlungen der EU mit einem wirtschaftlich starken Drittland ist das „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (CETA)8 mit Kanada. Nachdem ab dem Jahr 2009 über das CETA-Abkommen verhandelt worden war, wurde im Juli 2016 das europäische Abschlussverfahren offiziell von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim Rat der EU beantragt. Im Oktober 2016 wurde das CETA-Abkommen sodann feierlich durch die Vertreter von Europäischer Kommission und Rat der EU sowie durch den 1 Die nachfolgende Darstellung berücksichtigt den Rechtsstand bis zum 31. August 2017. 2 Überblick zu den bisher bestehenden und möglichen künftigen Freihandelsabkommen bei Wolffgang/Felderhoff, EU-Freihandelsabkommen, AW-Prax 2014, 3. 3 Verordnung (EU) Nr. 978/2012 über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 732/2008, ABl. EU 2012 Nr. L 303/1; s. zur weiteren Entwicklung des APS-Schemas auch Felderhoff, Das Allgemeine Präferenzsystem: Überblick zu den Änderungen an der Verordnung (EU) Nr. 978/2012, Der Zoll-Profi! 2016/8, 5. 4 Überblick hierzu bei Landwehr, Neuregelung des Schemas allgemeiner Zollpräferenzen ab 2014, Teil 1: AW-Prax 2014, 123, Teil 2: AW-Prax 2014, 191. 5 S. hierzu im Überblick Haellmigk/Vulin, Startschuss für neues Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, AW-Prax 2013, 99; Wolffgang, Hoffnungsträger für Wachstum, AW-Prax 2013, 235; Wolffgang, Ungewisse Zukunft des TTIP, AW-Prax 2016, 115. 6 S.  hierzu kritisch Wolffgang, Ist die liberale Handelspolitik am Ende?, AW-Prax 2017, 71; Kuhs, „America first“ – Auswirkungen der amerikanischen Handelspolitik auf einen ganzen Kontinent, Teil 1: Mittel- und Zentralamerika, AW-Prax 2017, 281. 7 S.  hierzu im Überblick Felderhoff, Die Trans-Pazifische Partnerschaft, AW-Prax 2013, 83, Mielken, TPP: Weltweit größtes Freihandelsabkommen entsteht, AW-Prax 2015, 347. Im Detail zu den Ursprungsregeln: Mielken, Zollabbau und Ursprungsregeln beim Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP, AW-Prax 2015, 383. Kritisch zum Verhältnis von TTIP- und TPP-Verhandlungen: Wolffgang, Europa im Schatten, AW-Prax 2014, 371, Wolffgang (Fn. 5), AW-Prax 2016, 115. 8 S. hierzu im Überblick Wolffgang, CETA ist (fast) da, AW-Prax 2014, 291; Wolffgang, CETA: Vorläufige Anwendung des Abkommens steht bevor, AW-Prax 2017, 109.

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kanadischen Premierminister Justin Trudeau unterzeichnet, nachdem die (handels-) politischen und rechtlichen Schwierigkeiten rund um das Eilverfahren beim Bundesverfassungsgericht in Deutschland und die Nachverhandlungen mit der Wallonie überwunden werden konnten. Der Volltext9 des CETA-Abkommens ist bereits am 14. Januar 2017 im EU-Amtsblatt veröffentlicht worden. Im Anschluss daran folgten im Februar 2017 und Mai 2017 die erfolgreichen Abstimmungen im Europäischen und kanadischen Parlament. Am 8. Juli 2017 verkündeten EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der kanadische Premierminister Justin Trudeau in einer gemeinsamen Erklärung, dass das CETA-Abkommen ab dem 21. September 2017 vorläufig anwendbar werden soll.10 Die Orientierung hin zu wirtschaftlich starken Staaten hat aber nicht in Bezug zu den USA und Kanada ihren Ausgangspunkt genommen, sondern vielmehr im Verhältnis zum asiatischen Raum. Mit dem seit dem Jahr 2011 zwischen der EU und Südkorea anwendbaren und mittlerweile durch sämtliche EU-Mitgliedstaaten ratifizierten Freihandelsabkommen11 wurde das erste Abkommen mit einem wirtschaftlich starken Partnerland abgeschlossen, nachdem hierüber ab dem Jahr 2007 drei Jahre lang verhandelt worden war. Die EU verhandelt derzeit auch mit weiteren wirtschaftlich starken Partnerstaaten im asiatischen Raum. Mit Singapur12 hat die EU bereits ein Freihandelsabkommen ausgehandelt („EU-Singapore Free Trade Agreement“, kurz: EUSFTA), das eine Vor­ reiterrolle für weitere Abkommen mit Staaten der „Association of South East Asian Nations“ (ASEAN) einnimmt.13 Das Abkommen ist aber derzeit noch nicht im EU-­ Amtsblatt veröffentlicht worden. Der Umsetzungsprozess in Bezug auf dieses Abkommen ist bislang nicht fortgesetzt worden, da beim Europäischen Gerichtshof ein Gutachtenverfahren (Avis 2/15) zu der Frage eingeleitet wurde, wem die Abschlusskompetenz für dieses Abkommen zusteht, nämlich der EU allein („EU-Only-Agree 9 Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits, ABl. EU 2017 Nr. L 11/23; Ursprungsregeln: ABl. EU 2017 Nr.  L 11/465. Überblicksdarstellungen hierzu bei Hallmann, Freihandel mit Südkorea und Kanada, AW-Prax 2016, 129 und Felderhoff, CETA und REX, AW-Prax 2017, 200. 10 Erklärung der Kommission v. 8. Juli 2017: http://europa.eu/rapid/press-release_STATE​ MENT-17-1959_de.htm. 11 Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits, ABl. EU 2011 Nr. L 127/6; Ursprungsprotokoll: ABl. EU 2011 Nr.  L 127/1344. Überblicksdarstellungen hierzu bei Wolffgang/Felderhoff, Neue Entwicklungen in den EU-Präferenzmaßnahmen, AW-Prax 2011, 105, Hallmann (Fn. 9), AW-Prax 2016, 129, Gavier/Verhaeghe, The EU-Korea Free Trade Agreement: Origin Declaration and Approved Exporter Status, GTCJ 2012, 315. 12 Der Volltext zum Singapur-Abkommen ist auf der Homepage der Generaldirektion Handel erhältlich, http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=961&title=Text-of-the-EU-­ Singapore-Free-Trade. Überblicksdarstellung hierzu bei Wolffgang/Felderhoff (Fn. 2), AWPrax 2014, 3. 13 Insgesamt gehören folgende Staaten zum ASEAN: Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam.

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ment“) oder nur der EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten („Mixed Agreement“).14 Der EuGH hat mittlerweile entschieden, dass die EU letztlich nur für zwei Teile des Abkommens nicht ausschließlich zuständig ist, nämlich für den Bereich der anderen ausländischen Investitionen als Direktinvestitionen (sog. „Portfolioinvestitionen“) und für die Regelung der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten15, während die EuGH-Generalanwältin noch mehrere weitere Punkte in der gemischten Zuständigkeit von EU und EU-Mitgliedstaaten gesehen hat.16 Wie sich diese Bewertung auf den Abschluss des Abkommens auswirken wird, ist derzeit noch offen. Sowohl seitens der EU als auch von den Vertretern Singapurs wurde jedenfalls schon vor der Veröffentlichung des Gutachtens die Bereitschaft zu einem baldigen Abschluss des Abkommens bekräftigt.17 Als wirtschaftlich starker potenzieller Partnerstaat ist darüber hinaus Japan zu nennen. Mit diesem Land waren die Verhandlungen über einen längeren Zeitraum hinweg nur schleppend vorangegangen, da Japan sein Glück zunächst im Rahmen der TPP-Verhandlungen mit den USA suchen wollte. Durch die Distanzierung der USA von den TPP-Verhandlungen hat sich Japan im Jahr 2017 wieder stärker in den Verhandlungen mit der EU engagiert. Im März 2017 bekräftigten Kommissionspräsident Juncker und die Vertreter Japans den gemeinsamen Willen zum raschen Abschluss der Verhandlungen über das Abkommen.18 Am 6. Juli 2017 erzielten die EU und Japan eine politische Grundsatzeinigung zum geplanten Freihandelsabkommen.19 Es sind auch bereits Textentwürfe veröffentlicht worden, allerdings noch nicht zu den Ursprungsregeln.20 Ein finaler Abkommenstext muss noch ausgehandelt werden. Durch die stärkeren Verhandlungspositionen der Partnerstaaten weichen die im Einzelnen ausgehandelten Ursprungsregeln stärker als bislang üblich voneinander ab, auch wenn ihre Struktur vordergründig mit den bisherigen Ursprungsregeln übereinstimmt. Dies führt dazu, dass die praktische Anwendung der Ursprungsregeln in den verschiedenen Freihandelsabkommen der EU immer schwieriger wird.21 Insoweit wird 14 Überblicksdarstellung hierzu bei Wolffgang, EuGH: Grundsatzentscheidung zum Abschluss von Freihandelsabkommen, AW-Prax 2017, 189. 15 EuGH v. 16.5.2017, C-2/15, ECLI:EU:C:2017:376. 16 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston v. 21.12.2016 zum EuGH-Gutachtenverfahren C-2/15, ECLI:EU:C:2016:992. 17 Meldung der Generaldirektion Handel v. 8. März 2017: http://trade.ec.europa.eu/doclib/ press/index.cfm?id=1630. 18 Meldung im Portal EU-Aktuell v. 21. März 2017: https://ec.europa.eu/germany/news/ eu-und-japan-wollen-verhandlungen-%C3%BCber-freihandelsabkommen-rasch-ab​ schlie%C3%9Fen_de. 19 Meldung der Kommission v. 6. Juli 2017: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-1902_ de.htm. 20 Informationsseite der Generaldirektion Handel: http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/­ index.cfm?id=1684. 21 Wolffgang, Ursprungsregeln in den Mega-Freihandelsabkommen, AW-Prax 2015, 221.

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vertreten, dass Zollpräferenzen nur auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, staatliche Wohltaten zu verkörpern; vielmehr würden die durch die Präferenzen geschaffenen Zollvorteile zwangsläufig durch den unabdingbaren Umgang mit Ursprungsregeln wieder aufgezehrt.22 Geschaffen werde ein aufwendiges Instrumentarium, das bei Unternehmen und auch beim Zoll eine hohe Arbeitsbelastung auslöse, ohne dass die Abgabenersparnisse diese in jedem Fall rechtfertigen würden.23 Insbesondere müssten in einem global agierenden Unternehmen Einkauf, Waren­eingang, Produktion und Vertrieb hinreichend für das Warenursprungs- und Präferenzrecht sensibilisiert werden, um Zollpräferenzvorteile wirtschaftlich sinnvoll ausschöpfen zu können.24 Wenn hier durch komplexer werdende Vorschriften und Organisationsauflagen das Gleichgewicht nicht gewahrt bleibe bzw. wiederhergestellt werden könne, werde die Anzahl der Unternehmen, die auf die Nutzung der Abkommen verzichten, weiter zunehmen, was aber hinsichtlich der politischen Ziele dieser Abkommen nicht gewollt sein könne.25 Die nachfolgende Darstellung versucht daher, sowohl gemeinsame Strukturen als auch die Unterschiede in modernen Freihandelsabkommen aufzuzeigen und zu verdeutlichen, inwieweit die hier finalisierten Ursprungsregeln sich zu den „Standard-­ Ursprungsregeln“ der EU, insbesondere den in Anlage I zum Regionalen Übereinkommen über Ursprungsregeln enthaltenen Ursprungsregeln (RUE)26, verhalten, wobei die mit Südkorea, Singapur und Kanada ausgehandelten Ursprungsregeln in die Darstellung einbezogen werden. Das Regionale Übereinkommen über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln soll eine Gesamtfreihandelszone zwischen der EU, den EWR-Staaten (Liechtenstein, Norwegen, Island), der Schweiz, der Türkei, den westlichen Balkanstaaten (z. B. Serbien, Bosnien-Herzegowina) und den Mittelmeeranrainern (z. B. Ägypten, Marokko) schaffen und auf lange Sicht einheitliche Ursprungsregeln für den präferenzbegünstigten Handel zwischen allen teilnehmenden Staaten festlegen.27 Um dieses Ziel zu erreichen, müssen alle teilnehmenden Länder die im jeweiligen Freihandelsabkommen enthaltenen Ursprungsregelungen durch einen Verweis auf das Regionale Übereinkommen ersetzen. Seitens der EU finden die RUE-Ursprungsregeln bereits im Verhältnis zu folgenden Staaten Anwendung: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Schweiz, Ägypten, Färöer, Moldawien, Montenegro, Mazedonien, besetzte palästinensische Gebiete, Kosovo und Serbien.28 Im Verhältnis zu den EWR-Staaten wurde das bisherige Ursprungsprotokoll im Jahr 2016 ebenfalls inhalt22 Rogmann/Stadtler, Zollpräferenzen in der Kritik, AW-Prax 2012, 221 (226). 23 Rogmann/Stadtler (Fn. 22), AW-Prax 2012, 221 (226). 24 Hülskramer, Zollpräferenzmanagement in Theorie und Praxis, ZfZ 2015, 33 (38). 25 Rogmann/Stadtler (Fn. 22), AW-Prax 2012, 221 (226). 26 Regionales Übereinkommen über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln, ABl. EU 2013 Nr. L 54/8. 27 Überblick hierzu bei Felderhoff, Die Pan-Euro-Med-Konvention, Der Zoll-Profi! 2013/5, 7. 28 Eine aktuelle Übersicht der Staaten, die das Regionale Übereinkommen im Verhältnis zur EU bereits anwenden, kann im Online-Portal „WuP Online“ eingesehen werden, wenn im Suchfeld „Ländername“ das Kürzel „RUE“ eingegeben wird.

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lich an den Stand des Regionalen Übereinkommens angepasst.29 Eine vergleichbare Anpassung ist zudem im Verhältnis zu Andorra erfolgt.30 Aufgrund des enormen Anwendungsbereichs des Regionalen Übereinkommens wird dieses für die nachfolgende Vergleichsdarstellung in Bezug auf die materiellen Ursprungsregeln und die formellen Ursprungsregeln daher als Durchschnittsmaßstab für die EU-Ursprungsregeln verwendet.

II. Die materiellen Ursprungsregeln Die nachfolgende Darstellung zu den materiellen Ursprungsregeln beschränkt sich auf bestimmte ausgewählte Regelungen aus den mit Südkorea, Kanada und Singapur ausgehandelten Ursprungsprotokollen (im Weiteren: Prot.). Bei diesen Ursprungsregeln geht es letztlich immer um die Fragestellung, ob der angegebene Ursprung tatsächlich dem betreffenden Ursprungsland zugewiesen werden kann. 1. Die Listenregeln zur ausreichenden Be- oder Verarbeitung Sämtliche Präferenzmaßnahmen der EU enthalten eine Verweisungsvorschrift im Ursprungsprotokoll, die die Anwendbarkeit der im jeweiligen Anhang zum Ursprungsprotokoll enthaltenen Listenregeln statuiert, z. B. Art. 5 Anlage I i. V. m. Anhang II RUE. Die Erfüllung dieser Listenregeln ist erforderlich, um bei Erzeugnissen, die nicht ausschließlich in einem Land gewonnen oder hergestellt worden sind, zu einer ausreichenden Be- oder Verarbeitung zu führen. Eine ausreichende Be- oder Verarbeitung ist nämlich nur dann gegeben, wenn bei dem Produktionsprozess die Bedingungen eingehalten werden, die in den Ursprungsregeln vorausgesetzt werden.31 Nur bei einer solchen ausreichenden Be- oder Verarbeitung der Vormaterialien ohne Präferenzursprung wird das Fertigerzeugnis zum Ursprungserzeugnis des herstellenden Landes.32

29 Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 71/2015 vom 20. März 2015 zur Änderung von Protokoll 4 (Ursprungsregeln) zum EWR-Abkommen [2016/754], ABl. EU 2016 Nr. L 129/56. 30 Beschluss Nr. 1/2015 des Gemischten Ausschusses EU-Andorra vom 11. Dezember 2015 zur Ersetzung des Anhangs des Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Fürstentum Andorra über die Bestimmung des Begriffs „Waren mit Ursprung in …“ oder „Ursprungswaren“ und über die Maßnahmen der Zusammenarbeit der Verwaltungen [2015/2468], ABl. EU 2015 Nr. L 344/15. 31 Wolffgang in Hübschmann/Hepp/Spitaler (HHSp), Kommentar zu Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Loseblatt), Art. 64 UZK, Rz. 20, Stand: 241. Lfg., Februar 2017; Prieß in Witte, Kommentar zum Zollkodex, 6. Aufl. 2013, Art. 27 ZK, Rz. 12. 32 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 18.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

a) Grundsätzliches zu den Abkommen mit Südkorea, Singapur und Kanada Im Abkommen der EU mit Südkorea sind als Grundlage für die ausreichende Beoder Verarbeitung die Voraussetzungen aus Art. 5 Prot. i. V. m. Anhang II Südkorea zu finden. Im derzeit bekannten Entwurf des Abkommens der EU mit Singapur (im Weiteren: Singapur-E) sind die Voraussetzungen für die ausreichende Be- oder Verarbeitung Art. 5 Prot. i. V. m. Annex B Singapur-E zu entnehmen. Beim CETA-Abkommen schließlich sind die maßgeblichen Bestimmungen für die ausreichende Be- oder Verarbeitung Art. 5 Prot. i. V. m. Anhang 5 CETA zu entnehmen. Die Warenlisten der Ursprungsprotokolle mit Südkorea, Singapur und Kanada enthalten (wie auch bei anderen EU-Ursprungsprotokollen üblich) im Wesentlichen drei  Be- oder Verarbeitungsvorgaben bei den einzelnen Kapiteln bzw. Positionen. Eine ausreichende Be- oder Verarbeitung liegt danach dann vor, wenn die Vormaterialien ȤȤ in eine andere Position als das hergestellte Erzeugnis einzureihen sind (sog. Posi­ tionswechsel) oder ȤȤ gewissen festgelegten Wertklauseln entsprechen oder ȤȤ bestimmte vorgeschriebene Produktionsstufen durchlaufen haben.33 b) Wertschöpfungsanteile Generell sind die Wertschöpfungsanteile in den neuen Abkommen großzügiger geregelt als etwa im Regionalen Übereinkommen über Ursprungsregeln. Dies bedeutet, dass im Vergleich für die ursprungsbegründende Herstellung Vormaterialien im Wert von 50 % oder mehr des Ab-Werk-Preises verwendet werden dürfen.34 Beispielhaft sei hier etwa auf die Ausgestaltung der verschiedenen Regelungen zur Position 8408 (Kolbenverbrennungsmotoren mit Selbstzündung [Diesel- oder Halbdieselmotoren]) verwiesen (Hervorhebungen durch den Verfasser):

33 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 25. 34 Wolffgang (Rz.  21), AW-Prax 2015, 221. Diese Liberalisierungstendenz betrifft auch die Freihandelsabkommen der EU mit Zentralamerika (ABl. EU 2012 Nr. L 346/3; Vertragsparteien: Costa Rica, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama und El Salvador) und mit den Andenstaaten (ABl. EU 2012 Nr. L 354/3 und ABl. EU 2016 Nr. L 356/3; Vertragsparteien: Peru, Kolumbien, Ecuador).

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Regelung im Regionalen Übereinkommen 8408

Herstellen, bei dem der Wert aller verKolbenverbrennungsmotoren mit Selbstzündung (Diesel- oder Halbdiesel- wendeten Vormaterialien 40 v.H. des Ab-Werk-Preises der hergestellten Ware motoren) nicht überschreitet

Regelung im Südkorea-Abkommen 8408

Kolbenverbrennungsmotoren mit Selbstzündung (Diesel- oder Halbdieselmotoren)

Herstellen, bei dem der Wert aller verwendeten Vormaterialien 50 v.H. des Ab-Werk-Preises der hergestellten Ware nicht überschreitet

Regelung im Singapur-Abkommen 8408

Compression-ignition internal combustion piston engines (diesel or semi-diesel engines

Manufacture in which the value of all the materials used does not exceed 50 % of the ex-works price of the product

Regelung im CETA-Abkommen 84.01-84.12

Wechsel aus einer anderen Position oder Wechsel innerhalb einer dieser Positionen, auch bei einem Wechsel aus einer anderen Position, sofern der Wert der in derselben Position wie das Enderzeugnis eingereihten Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft 50 Prozent des Transaktionswerts oder des Ab-Werk-Preises des Erzeugnisses nicht überschreitet

c) Nutzung des Tarifsprungkriteriums Die Tendenz in den modernen Freihandelsabkommen geht dahin, nicht mehr den Positionswechsel und eine zusätzliche Wertklausel zu verlangen, sondern nur noch den Positionswechsel.35 Speziell im CETA-Abkommen ist zu beobachten, dass als „Standard-Ursprungsregel“ vermehrt auf den Wechsel der Zolltarifposition abgestellt wird.36 35 Wolffgang (Rz. 21), AW-Prax 2015, 221. 36 S. 17 des CETA-Merkblatts der deutschen Zollverwaltung (Stand: 17. August 2017); Felderhoff (Rz. 9), AW-Prax 2017, 200 (201). Das Merkblatt dient als Informationspapier für die Wirtschaftsbeteiligten zu den Inhalten der CETA-Zollpräferenzregeln und ist auf der ­CETA-Informationsseite der Zollverwaltung veröffentlicht worden: http://www.zoll.de/ DE/Fachthemen/Warenursprung-Praeferenzen/Praeferenzen/Praeferenzraeume/CETA/ ceta_node.html.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

Diese Vorgehensweise kann durchaus kritisch gesehen werden. Hintergrund dafür, den Positionswechsel als Ursprungsregel zu nutzen, ist nämlich, dass der Positionswechsel normalerweise einen intensiven Arbeits- und Kapitaleinsatz voraussetzt, der es rechtfertigt, das Erzeugnis der Wirtschaft des Landes zuzurechnen, in dem diese Behandlung stattgefunden hat.37 Das Zolltarifschema des Harmonisierten Systems ist aber ursprünglich nicht für die Ursprungsbestimmung geschaffen worden; zudem muss trotz eines Positionswechsels bei einem Arbeitsvorgang kein wesentlicher Kapital- und Arbeitseinsatz vorliegen, und es besteht auch die Möglichkeit, dass bei einem Arbeitsvorgang ein wesentlicher Arbeits- oder Kapitaleinsatz vorliegt und trotzdem kein Positionswechsel eintritt.38 Zu beachten ist aber, dass das Tarifsprungkriterium insofern eine relativ einfache Handhabung des Zollpräferenzrechts ermöglicht, als Grundentscheidungen des Zolltarifrechts gegebenenfalls nur nachvollzogen werden müssen. Dementsprechend weichen die Ursprungsregeln etwa bei Rohren und Hohlprofilen nur im Rahmen des CETA-Abkommens überhaupt von der Regelung im Regionalen Übereinkommen ab. Regelung im Regionalen Übereinkommen 7304, 7305 und 7306

Rohre und Hohlprofile, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl

Herstellen aus Vormaterialien der Position 7206, 7207, 7218 oder 7224

Regelung im Südkorea-Abkommen 7304, 7305 und 7306

Rohre und Hohlprofile, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl

Herstellen aus Vormaterialien der Position 7206, 7207, 7218 oder 7224

Regelung im Singapur-Abkommen 7304, 7305 and 7306

Tubes, pipes and hollow profiles, of Manufacture from materials of iron (other than cast iron) or steel heading 7206, 7207, 7218 or 7224

Regelung im CETA-Abkommen 7304.11-7304.39 Wechsel aus einer anderen Position 7304.41

Wechsel aus einer anderen Unterposition

7304.49-7304.90 Wechsel aus einer anderen Position 73.05-73.06

Wechsel aus einer anderen Position

37 Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 10. 38 Kirchhoff, Zollpräferenzen und Vertrauensschutz: Die Neuregelung des Art. 220 Abs.  2 Buchst. b) ZK, Dissertation, 2002, S. 25.

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d) Sonderfälle Die neuen Abkommen enthalten darüber hinaus auch Sonderfälle, die so bislang in den „klassischen“ Freihandelsabkommen nicht enthalten waren. aa) Sonderregelung zur allgemeinen Toleranz bei Listenregeln, die als ­Ursprungsregeln die vollständige Gewinnung oder Herstellung vorsehen In den moderneren Ursprungsprotokollen ist zum Teil auch eine Sonderregelung zur allgemeinen Toleranz bei Listenregeln enthalten, die als Ursprungsregel die vollständige Gewinnung oder Herstellung vorsehen. Die Regelung der allgemeinen Toleranz kann grundsätzlich etwa wie folgt lauten (z. B. Art. 5 Abs. 2 Prot. Südkorea): „Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft, die nach den Bedingungen der Liste in Anhang II nicht bei der Herstellung eines Erzeugnisses verwendet werden dürfen, können ungeachtet Absatz 1 dennoch verwendet werden, a. wenn ihr Gesamtwert 10 v.H. des Ab-Werk-Preises des Erzeugnisses nicht überschreitet; und b. wenn die gegebenenfalls in der Liste von Anhang II aufgeführten Vomhundertsätze für den höchsten zulässigen Wert von Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft durch die Anwendung dieses Absatzes nicht überschritten werden.“ Der Toleranzklausel liegt der Gedanke zugrunde, dass die weltweite arbeitsteilige Produktion immer wichtiger wird und die Präferenzmaßnahmen die gesamte Wertschöpfung in einem Land erfassen; sofern die eingesetzten Vormaterialien ohne Präferenzursprung nur Bagatellwert im Verhältnis zum Ab-Werk-Preis haben, sollen sie den Ursprungserwerb nicht verhindern.39 Der Wortlaut dieser Regelung stellt ausdrücklich nur auf den Wert des Ab-Werk-Preises und Wertschöpfungsregeln in den Ursprungsregeln ab. Fraglich ist daher, ob die Toleranzklausel auch auf Listenregeln übertragen werden kann, die als Ursprungsregel die vollständige Gewinnung oder Herstellung vorsehen. Beispielhaft sei hier etwa auf die Regelung im Südkorea-Ursprungsprotokoll zur Position 0402 verwiesen: 0402

Milcherzeugnisse; Vogeleier; natürlicher Honig; genießbare Waren tierischen Ursprungs, anderweit weder genannt noch inbegriffen; ausgenommen:

Herstellen, bei dem alle verwendeten Vormaterialien des Kapitels 4 vollständig gewonnen oder hergestellt sind

39 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 27; Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 11.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

Hierzu lässt sich folgendes Beispiel bilden: In der EU werden Milcherzeugnisse hergestellt und nach Südkorea exportiert. Gemessen am Ab-Werk-Preis des Fertigerzeugnisses, stammen 9 % der für das Fertigerzeugnis genutzten Milchprodukte aus der Schweiz.40 Geht man vom Wortlaut der konkreten Ursprungsregel und der Regelung im Ursprungsprotokoll aus, so ist eine Anwendung der allgemeinen Toleranz hier möglich, da 10 % des Ab-Werk-Preises des Fertigerzeugnisses und auch etwaige Prozentsätze nicht überschritten werden. In bestimmten neueren Abkommen ist diese Bewertung nun ausdrücklich im Ursprungsprotokoll enthalten. So sieht Art. 6 Abs. 2 Prot. CETA Folgendes vor (Hervorhebungen durch den Verfasser): „Absatz 1 gilt nicht für Erzeugnisse, die in einer Vertragspartei im Sinne des Artikels  4 vollständig gewonnen oder hergestellt wurden. Wenn die bei der Herstellung eines Erzeugnisses verwendeten Vormaterialien nach der Ursprungsregel des Anhangs 5 vollständig gewonnen oder hergestellt sein müssen, so gilt die Toleranz nach Absatz 1 für die Summe dieser Vormaterialien.“41 Diese moderne Ursprungsregelung schafft zusätzliche Rechtssicherheit für die Wirtschaftsbeteiligten. bb) Sonderregelung zu Saatgut, Bulben, Zwiebeln, Knollen, Wurzelstöcken, Stecklingen, Pfröpflingen, Sprossen, Knospen oder anderen lebenden Pflanzenteilen In den moderneren Ursprungsprotokollen ist zudem eine Sonderregelung zur Ursprungsbehandlung von Saatgut, Bulben, Zwiebeln, Knollen, Wurzelstöcken, Stecklingen, Pfröpflingen, Sprossen, Knospen oder anderen lebenden Pflanzenteilen enthalten. Der Sinn dieser Ursprungsregelung geht in die gleiche Richtung wie die bereits oberhalb dargestellte Sonderregelung zur allgemeinen Toleranz und lässt sich ebenfalls anhand eines Beispiels verdeutlichen: Tulpenzwiebeln aus der Türkei werden in die EU importiert. Im Wege der vegetativen Vermehrung entstehen aus den Tulpenzwiebeln in den Gewächshäusern des Herstellungsbetriebs Tulpen. Diese Tulpen werden sodann nach Kanada exportiert. Fraglich ist, wie dieser dargestellte Entwicklungsprozess ursprungsrechtlich zu bewerten ist. Da die Tulpen nach Kanada exportiert werden, sind die CETA-Ursprungsregeln heranzuziehen. Sofern man die Tulpen nicht bereits als vollständig gewonnene 40 Beispiel abgewandelt nach Felderhoff, Der Ursprung als Grundlage handelspolitischer Maßnahmen, Dissertation, 2014, S. 118 f. 41 Vergleichbare Regelungen sind auch in Art. 5 Abs. 2 UAbs. 2 Anhang II Zentralamerika und Art. 5 Abs. 5 Singapur-E sowie für das autonome APS-Ursprungsrecht in Art. 48 Abs. 3 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 (ABl. EU 2015 Nr.  L 343/1, im Weiteren: UZK-DelVO) enthalten.

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Ursprungserzeugnisse i. S. d. Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) Prot. CETA betrachten sollte, käme es auf die Ursprungsregelung zu Kapitel 6 an. Diese sieht Folgendes vor: Kapitel 6

Lebende Pflanzen und Waren des Blumenhandels

06.01-06.04

Herstellen, bei dem alle verwendeten Vormaterialien des Kapitels 6 vollständig gewonnen oder hergestellt sind

An dieser Stelle könnten die türkischen Zwiebeln ein Problem darstellen, da diese nicht in der EU gewonnen wurden. In Abschnitt II ist aber eine einführende Bemerkung für diese Konstellation der Ursprungsbegründung enthalten (Hervorhebungen durch den Verfasser): „Landwirtschaftliche und gartenbauliche Erzeugnisse, die im Gebiet einer Vertragspartei angebaut werden, gelten auch dann als Ursprungserzeugnisse dieser Vertragspartei, wenn sie aus Saatgut, Bulben, Zwiebeln, Knollen, Wurzelstöcken, Stecklingen, Pfröpflingen, Sprossen, Knospen oder anderen lebenden Pflanzenteilen erzeugt werden, die aus einem Drittland eingeführt wurden.“42 Damit würden die in der EU gewonnenen Tulpen als EU-Ursprungserzeugnisse gelten, die präferenzbegünstigt nach Kanada exportiert werden könnten. Auch diese moderne Ursprungsregelung schafft zusätzliche Rechtssicherheit für die Wirtschaftsbeteiligten. e) Zusammenfassung Die modernen, vor allem mit Singapur und Kanada, aber auch zum Teil schon mit Südkorea ausgehandelten Ursprungsregeln sind gerade im Hinblick auf die Wertschöpfungsanteile großzügiger als die älteren Ursprungsprotokolle. Auch sind Detail-­ Sonderregelungen enthalten, die die Bestimmung der ausreichenden Be- oder Verarbeitung im Rahmen dieser Abkommen erleichtern. 2. Minimalbehandlungen Auch die Regelungen zu Minimalbehandlungen sind in den neueren Ursprungsprotokollen zum Teil durch Besonderheiten ergänzt worden. Von „Minimalbehandlungen“ spricht man bei bestimmten Be- oder Verarbeitungen von Vormaterialien, die für die Verleihung eines anderen Ursprungs als nicht ausreichend anzusehen sind (z.  B. Behandlungen, die dazu bestimmt sind, die Erzeugnisse während des Transports oder der Lagerung in einem guten Zustand zu erhalten; einfaches Anstreichen oder Polieren; einfaches Zusammenfügen von Teilen eines Erzeugnisses zu einem

42 Vergleichbare Regelungen sind auch in der Einleitenden Bemerkung 8 der Anlage 1 zum Anhang II zum Abkommen mit Zentralamerika, der Einleitenden Bemerkung 4.1 zum ­Anhang B Singapur-E sowie in der Einleitenden Bemerkung 4.1 in Anhang 22-03 zur UZK-DelVO enthalten.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

vollständigen Erzeugnis oder Zerlegen von Erzeugnissen in Einzelteile; vgl. Art. 6 Abs. 1 RUE).43 Der Katalog in Art. 6 Abs. 1 Prot. Südkorea ist hiermit weitgehend identisch, lediglich in Buchst. o ist abweichend von dem RUE-Katalog noch das „Prüfen und Kalibrieren“ aufgenommen worden. Ähnlich sieht es bei Art. 6 Abs. 1 Prot. Singapur-E aus, wo in Buchst. n noch abweichend von der RUE-Regelung das Hinzufügen oder Entziehen von Wasser enthalten ist. Etwas mehr Abweichungen gibt es hingegen beim CETA-­ Ursprungsprotokoll. So wird im Hinblick auf Erhaltungsbehandlungen während Transport oder Lagerung i. S. d. Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Prot. CETA zwischen verschiedenen Vorgängen differenziert: Kühlen, Tiefkühlen oder Lüften gelten als nicht ausreichende Bearbeitungen, wohingegen Behandlungen wie Beizen, Trocknen oder Räuchern, durch die ein Erzeugnis spezielle oder andere Eigenschaften erhalten soll, als ausreichend gelten. Auch Art. 7 Abs. 1 Buchst. n Prot. CETA enthält eine Sonderregelung: So wird hier klargestellt, dass ein Mischvorgang, der zu einer chemischen Reaktion i. S. d. Anmerkungen des Anhangs 5 CETA zu Waren der Kapitel 28 oder 29 führt, keine Minimalbehandlung darstellt. Auch das einfache Zusammenfügen oder Zerlegen von Teilen eines Erzeugnisses i. S. d. Art. 7 Abs. 1 Buchst. o Prot. CETA ist auf Waren der HS-Kapitel 61, 62 oder 82 bis 97 beschränkt. Sowohl in Art. 6 Abs. 2 Prot. Singapur-E als auch in Art. 7 Abs. 3 Prot. CETA wird auch mittlerweile der unbestimmte Rechtsbegriff „einfach“44 insoweit definiert, als für die Behandlung „weder besondere Fertigkeiten noch eigens hergestellte oder dafür installierte Maschinen, Geräte oder Werkzeuge erforderlich sind oder wenn diese Fertigkeiten, Maschinen, Geräte oder Werkzeuge keinen Beitrag zu den wesentlichen Eigenschaften oder Merkmalen des Erzeugnisses leisten“. In den meisten Abkommen ist diese Definition so nicht enthalten, sodass der Begriff „einfach“ hier noch der Auslegung bedarf.45 3. Buchmäßige Trennung von Vormaterialien mit und ohne ­Ursprungseigenschaft Die Möglichkeit der nur buchmäßigen Trennung von Vormaterialien mit und ohne Ursprung ist in mehreren Präferenzmaßnahmen der EU geregelt und erlaubt es, das präferenzrechtlich geregelte Identitätsprinzip (also die konkrete Zuordnung, welches Vormaterial in welches Fertigerzeugnis eingegangen ist) vor allem aus Gründen der Wirtschaftlichkeit zu durchbrechen.46

43 Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 14. Überblick hierzu bei Röser/Bachmann, Die Minimalbehandlung, AW-Prax 1999, 141. 44 Eine vergleichbare Definition ist auch in Art. 47 Abs. 2 UZK-DelVO für das APS enthalten, vgl. hierzu bereits Wolffgang/Felderhoff (Rz. 11), AW-Prax 2011, 105 (108). 45 Vgl. hierzu ausführlich: Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 36; Kirchhoff (Rz. 38), S. 31 f. 46 Vgl. zu den Motiven für die Möglichkeit der nur buchmäßigen Trennung von Vormaterialien mit und ohne Ursprung: Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 73 ff.

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Art. 20 Abs. 1 RUE legt hierzu etwa Folgendes fest: „Ist die getrennte Lagerung von Vormaterialien mit Ursprungseigenschaft und Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft, die gleichartig und untereinander austauschbar sind, mit erheblichen Kosten oder tatsächlichen Schwierigkeiten verbunden, so können die Zollbehörden dem Beteiligten auf schriftlichen Antrag die Bewilligung erteilen, diese Lagerbestände nach der sogenannten ‚Methode der buchmäßigen Trennung‘ (im Folgenden ‚Methode‘) zu verwalten.“ Die Ausgestaltung der buchmäßigen Trennung weicht in den modernen Freihandelsabkommen voneinander ab. So sind zwar in Art. 11 Prot. Südkorea die Kriterien der „erheblichen Kosten oder tatsächlichen Schwierigkeiten“ enthalten, allerdings wird die Frage, ob die buchmäßige Trennung zu bewilligen ist, gemäß Art. 11 Abs. 5 Prot. Südkorea vom Willen der Vertragsparteien abhängig gemacht und ist nicht von vornherein zwingend im Ursprungsprotokoll vorgegeben. Praktisch wird die Bewilligung der buchmäßigen Trennung aber durchaus verlangt. In Art. 11 Prot. Singapur-E sind die Merkmale der „erheblichen Kosten oder tatsächlichen Schwierigkeiten“ keine Voraussetzung dafür, dass die Bewilligung erteilt wird, allerdings ist diese auch grundsätzlich erforderlich. Gleichwohl wird, anders als in anderen bekannten Ursprungsregelungen, etwa das FIFO-Prinzip („first in, first out“) ausdrücklich für die buchmäßige Trennung erlaubt. Im Vergleich am liberalsten ausgestaltet ist die buchmäßige Trennung im CETA-Abkommen. Als Sonderregelung im Vergleich zu anderen Ursprungsprotokollen ist das Verfahren der buchmäßigen Trennung hier auch dann gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. a Prot. CETA anwendbar, wenn bestimmte austauschbare Erzeugnisse mit oder ohne Ursprungseigenschaft in einem Lager einer Vertragspartei vor der Ausfuhr in die andere Vertragspartei physisch verbunden oder gemischt werden. Die Sonderregelung gilt für Erzeugnisse der HS-Kapitel 10, 15, 27, 28 und 29 sowie der HS-Positionen 32.01 bis 32.07 oder 39.01 bis 39.14. Wie im Singapur-Ursprungsprotokoll wird auch hier die Nutzung der buchmäßigen Trennung nicht von erheblichen Kosten oder tatsächlichen Schwierigkeiten bei der getrennten Lagerung abhängig gemacht. Zudem ist der Begriff der „Austauschbarkeit“ in Art. 10 Abs. 4 Prot. CETA definiert, was zusätzliche Rechtssicherheit schafft.47 Ferner ist die buchmäßige Trennung wie im Südkorea-Ursprungsprotokoll auch nicht zwingend bewilligungsbedürftig. Nach Mitteilung der Europäischen Kommission ist beabsichtigt, für CETA eine Bewilligung derzeit nicht zu verlangen, eine Anpassung der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 zum Unionszollkodex (UZK-DVO)48 im Hinblick auf eine mögliche künftige Bewilligungsbedürftigkeit wird jedoch durch die deutsche Zollverwaltung nicht ausgeschlossen, sodass die deutsche Zollverwaltung darauf hinweist, dass Ausführer in der EU, die das Verfahren anwenden möchten, nach Art. 14 des Unionszollkodex (UZK)49 vor47 Dieser Definitionsansatz entspricht dem Ansatz in Art. 37 Nr. 10 UZK-DelVO. 48 ABl. EU 2015 Nr. L 343/558. 49 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (Neufassung), ABl. EU 2013 Nr. L 269/1.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

zugsweise vor dessen Anwendung ihr Hauptzollamt um Unterstützung bitten können.50 Insgesamt zeigt sich aber, dass die Regelungen in allen modernen Freihandelsabkommen im Vergleich zum RUE-Standard insgesamt wirtschaftsliberaler gestaltet sind. 4. Ursprungskumulierung Das Prinzip der Ursprungskumulierung erlaubt es, dass Herstellungsvorgänge innerhalb verschiedener Länder einer Präferenzzone bei der Ermittlung des Präferenzursprungs „angehäuft“ werden dürfen.51 Kumulierungsregeln haben somit den Zweck, Vormaterialien aus Präferenzpartnerstaaten gegenüber gleichartigen Vormaterialien aus Drittstaaten ursprungsrechtlich besserzustellen.52 Die weitere Ausgestaltung der Ursprungskumulierung ist sowohl bilateral (also nur zwischen zwei Staaten) als auch multilateral bzw. diagonal (mit mehreren Staaten) möglich. Bekanntestes Beispiel für eine diagonale Ursprungskumulierung ist die sog. Pan-Euro-Med-Kumulierung zwischen der EU, der Schweiz, der Türkei, den EWR-Staaten, verschiedenen Mittelmeeranrainerstaaten und den westlichen Balkanstaaten.53 Gerade die diagonale Kumulierung soll, wie das Beispiel der Pan-Euro-Med-Kumulierung verdeutlicht, dazu beitragen, Integrationsräume zu schaffen, sodass die hiermit zusammenhängenden Ursprungsregeln im Vergleich zu anderen Regelungen sehr individuell gestaltet sind. Jedenfalls diese Tendenz zur Schaffung von Integrations­ räumen ist den Abkommen der EU mit Singapur und Kanada gemein, während das Abkommen mit Südkorea nur eine bilaterale Ursprungskumulierung vorsieht. Das CETA-­Ursprungsprotokoll sieht gemäß seinem Art. 3 hingegen neben der bilateralen Ursprungskumulierung unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Ursprungskumulierung mit weiteren Staaten, insbesondere den USA, vor, sofern entsprechende Abkommen etwa zwischen den USA und der EU bzw. Kanada und den USA geschaffen würden, die eine entsprechende Ursprungskumulierung erlauben. Das Singapur-Ursprungsprotokoll sieht wiederum in seinem Art. 3 neben der bilateralen Ursprungskumulierung unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Ursprungskumulierung mit verschiedenen ASEAN-Staaten vor. 5. Zusammenfassung Ingesamt zeigen die dargestellten Änderungen bei den Ursprungsregeln insbesondere im Singapur- und CETA-Abkommen sowie zum Teil auch schon im Südkorea-Ab50 S. 25 des CETA-Merkblatts der deutschen Zollverwaltung. 51 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 54; Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 18. 52 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 54. 53 Im Detail hierzu: Röser, Ursprungskumulierung, Teil 1: AW-Prax 2006, 301, Teil 2: AWPrax 2006, 345, Teil 3: AW-Prax 2006, 388 und Bachmann, Kumulierung in den präferen­ ziellen Ursprungsregelungen, Teil 1: AW-Prax 2009, 62, Teil 2: AW-Prax 2009, 95, Teil 3: AW-Prax 2009, 131.

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kommen eine Liberalisierungstendenz im Vergleich zu den „Standardursprungsregeln“ des Regionalen Übereinkommens auf.

III. Territoriale Auflagen und Verbot der Zollrückvergütung Im Vergleich zu den Ursprungsregeln des Regionalen Übereinkommens gibt es auch bei den territorialen Auflagen und dem Verbot der Zollrückvergütung gewisse Änderungen, die nachfolgend dargestellt werden. 1. Territoriale Auflagen: Territorialitätsprinzip und unmittelbare Beförderung a) Territorialitätsprinzip Das Territorialitätsprinzip sieht vor, dass grundsätzlich sämtliche für den Ursprungserwerb erforderlichen Bedingungen ohne Unterbrechung in dem Gebiet der Präferenzparteien (Präferenzzone) stattfinden müssen.54 Zulässige Ausnahmen sind nur die im jeweiligen Ursprungsprotokoll geregelten, etwa dass ein außerhalb der ausführenden Vertragspartei insgesamt erzielter Wertzuwachs i. H. v. 10 % des Ab-WerkPreises des Enderzeugnisses, für das die Ursprungseigenschaft beansprucht wird, nicht überschritten wird, vgl. Art. 11 Abs. 3 Buchst. b Ziff. ii RUE. In Bezug auf das Territorialitätsprinzip fällt als Gemeinsamkeit beim Südkorea-, beim Singapur- und auch beim CETA-Ursprungsprotokoll auf, dass die Regelungen zum Territorialitätsprinzip insgesamt strenger gestaltet sind als die vergleichbaren Regelungen in Art. 11 RUE. Die 10 %-Ausnahme fehlt in allen drei Abkommen. Vielmehr dürfen die Waren während ihres Verbleibs in dem anderen Drittland oder während des Transports nur Behandlungen erfahren, die der Zustandserhaltung dienen (vgl. Art. 12 Prot. Südkorea, Art. 12 Prot. Singapur-E, Art. 15 Prot. CETA). b) Unmittelbare Beförderung Der Grundsatz der unmittelbaren Beförderung legt fest, dass der Einführer nachweisen muss, dass die Einfuhrwaren, für die er eine Präferenzbehandlung beantragt, unmittelbar vom Ausfuhrland in das Einfuhrland befördert worden sind, wobei nicht zur Präferenzzone gehörende Länder dabei durchfahren werden dürfen.55 In der Regel muss dann ein Direktbeförderungsnachweis vorgelegt werden, um die zollamtliche Überwachung zu belegen. Der Grundsatz der unmittelbaren Beförderung ist sowohl in Art. 13 Prot. Südkorea als auch in Art. 14, 22 Prot. CETA enthalten. Im Hinblick auf die Ausgestaltung der verschiedenen Regelungen besteht der Unterschied, dass gem. Art. 13 Prot. Südkorea der Nachweis der unmittelbaren Beförderung zu erbringen ist, während Art. 22 Prot. 54 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 44; Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 16. 55 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 49; Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 25.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

CETA nur festlegt, dass die Zollbehörden einen Nachweis verlangen dürfen.56 Art. 13 Prot. Singapur-E legt nur eine sog. „Nichtmanipulationsklausel“ fest. Hiernach wird das Einhalten der Voraussetzung der Direktbeförderung vermutet, solange die Zollbehörden nicht Grund zur Annahme des Gegenteils haben.57 2. Verbot der Zollrückvergütung oder Zollbefreiung („Draw-Back-Verbot“) Das Verbot der Zollrückvergütung oder Zollbefreiung („Draw-Back-Verbot“) besagt, dass die bei der Herstellung eines Ursprungserzeugnisses verwendeten Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft nicht Gegenstand einer Zollrückvergütung oder Zollbefreiung gewesen sein dürfen, wenn für das hergestellte Ursprungserzeugnis ein Präferenznachweis ausgestellt werden soll.58 Es hat den Zweck, ein Unterlaufen des Zollschutzes des Präferenzpartners und damit eine Benachteiligung von Herstellern gleichartiger Produkte in der anderen Präferenzpartei zu vermeiden.59 Sowohl in Art. 15 Prot. Singapur-E als auch in Art. 2.5 des CETA-Abkommens ist ein Verbot der Zollrückvergütung oder Zollbefreiung enthalten, wobei dieses im CETA-­ Abkommen gemäß dessen Art. 2.5 Abs. 3 erst drei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens Anwendung finden soll. Im Südkorea-Abkommen hingegen ist kein Verbot der Zollrückvergütung oder Zollbefreiung, sondern lediglich eine sog. Review-Klausel enthalten, anhand derer die Möglichkeit der Einführung eines Draw-Back-Verbots vorbehalten wird und die wiederum durch eine sog. Schutzklausel-Verordnung60 ergänzt wird.61 Diese Regelung im Südkorea-Abkommen wird durchaus kritisch gesehen.62

56 S. hierzu auch S. 10 des CETA-Merkblatts. 57 Eine vergleichbare Regelung ist in Art. 43 UZK-DelVO für das APS enthalten. Vgl. zur Vorgängerregelung aus Art. 74 der Verordnung (EWG) 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ZK-DVO; ABl. EG 1993 Nr. L 253/1) bereits EuGH v. 7.4.2016 – C-294/14 – ADM Hamburg, ECLI:EU:C:2016:210 = ZfZ 2015, 174 m. Anm. Roth. Besprechung hierzu bei Felderhoff, Verletzung der Nämlichkeit durch Vermischen von Waren gleichen Ursprungs?, AW-Prax 2017, 23. 58 Felderhoff in Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Zollrechts der Europäischen Union, 8. Aufl. 2016, Rz. 192. 59 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 112; Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 21. 60 Verordnung (EU) Nr. 511/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 zur Umsetzung der bilateralen Schutzklausel des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten und der Republik Korea, ABl. EU 2011 Nr. L 145/19. 61 S. hierzu ausführlich Wolffgang/Felderhoff (Rz. 11), AW-Prax 2011, 105 (106 f.); Felderhoff, Die Schutzklausel-Verordnung zum FHA mit Südkorea, AW-Prax 2011, 367. 62 Prieß/Arend, Präferenzielle Relativität von Freihandelsabkommen – das kritische Beispiel des EU-Südkorea-Abkommens, ZfZ 2012, 137.

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3. Zusammenfassung Die territorialen Auflagen sind zum Teil strenger gestaltet als in anderen Freihandelsabkommen. Im Hinblick auf das Verbot der Zollrückvergütung oder Zollbefreiung gibt es beim Südkorea-Abkommen eine deutliche und beim CETA-Abkommen eine teilweise Liberalisierung.

IV. Die formellen Ursprungsregeln Die formellen Ursprungsregeln behandeln die Fragestellung, wie und von wem der Ursprung nachzuweisen ist. Zu differenzieren ist vor allem dazwischen, ob etwa ein amtlicher Nachweis (z. B. die Warenverkehrsbescheinigung EUR. 1) oder eine durch den betreffenden Ausführer der Ursprungsware ausgestellte Ursprungserklärung vorzulegen ist. Durch die Ursprungserklärungen können die Ausführer also ohne Einschaltung der Zollstelle des Ausfuhrlandes selbst den Präferenzstatus der Waren auf der Rechnung, dem Lieferschein oder einem anderen Handelspapier bestätigen.63 1. Die Ursprungserklärung als einzig möglicher Ursprungsnachweis Die Abkommen mit Südkorea, Singapur und Kanada weisen die Gemeinsamkeit auf, dass generell keine förmlichen Präferenznachweise wie die Warenverkehrsbescheinigung EUR. 1 vorgesehen sind.64 Allerdings gibt es bei der näheren Ausgestaltung der Abgabe von Ursprungserklärungen Unterschiede. a) Ausgestaltung der Nutzung von Ursprungserklärungen im Regionalen Übereinkommen über Ursprungsregeln Art. 21 Abs.  1 RUE sieht vor, dass Ursprungserklärungen von einem ermächtigten Ausführer im Sinne des Art. 22 RUE oder von jedem Ausführer für Sendungen von einem oder mehreren Packstücken, die Ursprungserzeugnisse enthalten, deren Wert 6.000 Euro je Sendung nicht überschreitet, ausgestellt werden dürfen. Art. 22 Abs. 1 RUE regelt grundsätzlich zum ermächtigten Ausführer, dass ein Ausführer, der häufig im Einklang mit den Bestimmungen des Übereinkommens Erzeugnisse ausführt, dazu ermächtigt werden kann, ungeachtet des Wertes dieser Erzeugnisse Ursprungs63 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 85 m. w. N.; Prieß in Witte (Rz. 31), Art. 27 ZK, Rz. 31. 64 Auch bei den noch laufenden Verhandlungen mit Japan sollen vorrangig vom Exporteur ausgestellte Ursprungserklärungen vorgesehen sein. Es werde sogar darüber nachgedacht, dass der Exporteur überhaupt keine Erklärung mehr, zum Beispiel auf einer Rechnung, ausstellen müsse. Vielmehr solle der Einführer erklären, dass er wisse, dass es sich um eine Ursprungsware handele, sodass insofern überhaupt kein Nachweis aus dem Partnerland mehr gefordert werde, vgl. Wolffgang (Rz. 21), AW-Prax 2015, 221; Hallmann (Rz. 9), AWPrax 2016, 129 (132). S. grundlegend zur Problematik Mertgen, Die „Erklärung auf Rechnung“ als ausschließlicher Ursprungsnachweis, BB 2012, 1703.

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erklärungen auszufertigen. Die Geltungsdauer der Ursprungserklärungen beträgt gem. Art. 23 Abs. 1 RUE vier Monate. b) Ausgestaltung der Nutzung von Ursprungserklärungen im EU-Freihandelsabkommen mit Südkorea Art. 16 Abs. 1 Prot. Südkorea führt aus, dass Ursprungserklärungen bis zu einem Warenwert von 6.000 Euro von jedem Ausführer abgegeben werden können und ab einem Warenwert von über 6.000 Euro der Exporteur eine Bewilligung als ermächtigter Ausführer i. S. d. Art. 17 Prot. Südkorea besitzen muss. Wer Ausfuhren mit Warenwerten von über 6.000 Euro durchführen will, muss also zwingend eine Bewilligung als ermächtigter Ausführer haben. Art. 17 Prot. Südkorea entspricht im Wesentlichen dem RUE-Standard, allerdings muss ein ermächtigter Ausführer hier keine häufigen Ausfuhren durchführen. Die Geltungsdauer der Ursprungsnachweise mit insgesamt 12 Monaten gem. Art. 18 Prot. Südkorea ist aber länger als in den meisten anderen präferenziellen Maßnahmen der EU.65 c) Ausgestaltung der Nutzung von Ursprungserklärungen im EU-Freihandelsabkommen mit Singapur Im Vergleich zum Südkorea-Ursprungsprotokoll ist das Singapur-Ursprungsprotokoll bezüglich der Frage, wer Ursprungserklärungen ausstellen darf, noch stärker ausdifferenziert. In der EU darf die Erklärung gem. Art. 16 Prot. Singapur bis zu einem Warenwert von 6.000 Euro von jedem Ausführer und bei einem darüber hinausgehenden Wert nur von einem ermächtigten Ausführer abgegeben werden. Auch hier ist die Bewilligung als ermächtigter Ausführer insoweit „zwingend“. Ferner wird auch hier auf das Merkmal der „häufigen Ausfuhren“ verzichtet. In Singapur hingegen muss der Ausführer bei der zuständigen Behörde registriert sein und eine „Unique Entity Number“66 erhalten haben. Ferner muss das Unternehmen die in Singapur für das Ausstellen von Ursprungserklärungen einzuhaltenden Vorschriften befolgen. Bei Exporten aus Singapur ist die Ursprungserklärung gemäß Art. 17 Abs. 4 Prot. Singapur in englischer Sprache abzugehen, bei EU-Exporten in einer der Sprachversionen, die in Anhang E zum Ursprungsprotokoll enthalten sind. Die Geltungsdauer der Ursprungserklärungen beträgt gemäß Art. 19 Abs. 1 Prot. Singapur ebenso wie im Südkorea-Ursprungsprotokoll zwölf Monate. 65 Von den derzeit geltenden Maßnahmen enthalten auch die Ursprungsregeln des Andenabkommens, des Zentralamerikaabkommens und des APS eine Gültigkeitsfrist von 12 Monaten. 66 Bei der „Unique Entity Number“ handelt es sich laut Angaben des Zolls von Singapur um eine Identifikationsnummer, die für das Unternehmen erforderlich ist, um mit der Zollverwaltung interagieren zu können.

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d) Ausgestaltung der Nutzung von Ursprungserklärungen im EU-Freihandelsabkommen mit Kanada Noch stärker ausdifferenziert als im Singapur-Ursprungsprotokoll sind die Bestimmungen im CETA-Ursprungsprotokoll: Für das Ausstellen von Ursprungserklärungen bei Ausfuhren mit Warenwerten von über 6.000 Euro bleiben die Einzelheiten von vornherein dem europäischen bzw. kanadischen Recht überlassen. aa) Besonderheiten im CETA-Ursprungsprotokoll Die Geltungsdauer der Ursprungserklärungen beträgt gem. Art. 20 Abs. 1 Prot. CETA sogar zwanzig Monate. Eine Besonderheit im CETA-Ursprungsprotokoll, die so in keiner anderen Präferenzregelung enthalten ist, ist die Ursprungserklärung für Mehrfachsendungen identischer Ursprungserzeugnisse gem. Art. 19 Abs.  5 Prot. CETA. Bei identischen Ursprungserzeugnissen handelt es sich gem. Art. 1 Prot. CETA „um solche Erzeugnisse, die in jeder Hinsicht einschließlich materieller Eigenschaften, Qualität und Renommee gleichartig sind, ungeachtet kleinerer Unterschiede im Erscheinungsbild, die für die Bestimmung des Ursprungs dieser Erzeugnisse nach diesem Protokoll ohne Be­ deutung sind“. Demnach dürfen die Zollbehörden der Einfuhrvertragspartei die Verwendung einer Ursprungserklärung für solche Mehrfachsendungen zulassen, die innerhalb eines Zeitraums von höchstens zwölf Monaten erfolgen. Dabei müssen alle Einfuhren innerhalb des Zwölf-Monats-Zeitraums erfolgen, der durch den Ausführer in der Ursprungserklärung anzugeben ist. Diese Sonderregelung würde bei ihrer Umsetzung den Wirtschaftsbeteiligten erhebliche Flexibilität bringen.67 Für Ausfuhren nach Kanada wollen die kanadischen Behörden zulassen, dass Ursprungserklärungen für Mehrfachsendungen identischer Ursprungserzeugnisse verwendet werden dürfen, und befürworten diese Art des Ursprungsnachweises dabei ausdrücklich, während nach einer Mitteilung der Europäischen Kommission diese Form des Ursprungsnachweises bei Einfuhren in die EU erst nach einer entsprechenden Anpassung der UZK-DVO zur Anwendung kommen kann.68 bb) Zusammenhang mit dem registrierten Ausführer (REX) Entscheidend fallen die Neuerungen beim Nachweis des präferenziellen Ursprungs und dabei insbesondere die Verknüpfung mit dem aus dem APS bekannten registrierten Ausführer (REX)69 ins Gewicht. Die deutsche Zollverwaltung will für das im Rahmen von CETA genutzte Selbstdeklarationsverfahren auf lange Sicht nicht den Status 67 Wolffgang (Rz. 8), AW-Prax 2017, 109. 68 S. 6 des CETA-Merkblatts. 69 Vgl. zum REX im APS Hülskramer, Der registrierte Ausführer „REX“: In welchen Fällen muss ich mich als REX registrieren lassen?, Der Zoll-Profi! 2017/3, 2. Vgl. auch das ebenfalls auf der CETA-Informationsseite veröffentlichte Merkblatt zum registrierten Ausführer

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als ermächtigter Ausführer gelten lassen. Für EU-Exporteure ist hierfür nach dem Willen der Europäischen Kommission der Status als REX erforderlich.70 Art. 68 UZKDVO erlaubt es nämlich, dass, sofern die EU mit einem Drittland eine Präferenzregelung hat, nach der ein Ursprungsdokument von einem Ausführer gemäß den EU-­ Rechtsvorschriften ausgefüllt werden kann, ein im EU-Zollgebiet ansässiger Ausführer die Registrierung für diesen Zweck beantragen kann. Dies bedeutet also, dass der REX-Status auch auf andere Abkommen übertragen werden kann. Für den ermächtigten Ausführer ist in Art. 67 UZK-DVO eine vergleichbare Bestimmung enthalten. Für die Ausführer in der EU bedeutet dies konkret, dass für die präferenzbegünstigten Exporte nach Kanada eine Registrierung in der hierfür eingerichteten Datenbank erforderlich ist. Anders als der Status als ermächtigter Ausführer ist der REX-Status nicht bewilligungsbedürftig. Die Registrierung in den EU-Mitgliedstaaten ist seit dem 1. Januar 2017 möglich und gilt für alle Warenverkehre, die das System vorsieht. Ein Unternehmen, das bereits im Rahmen des APS registriert ist, benötigt keine zusätzliche Registrierung für CETA. Rechtsgrundlagen für die Registrierung von Ausführern außerhalb des APS sind Art. 68 UZK-DVO sowie – in sinngemäßer Anwendung – die Unterabschnitte 2 bis 9 des Abschnitts 2 der UZK-DVO, was sich wiederum aus Art. 68 Abs. 1 S. 2 UZK-DVO ergibt. Umfasst sind somit die Art. 70-112 UZKDVO und damit die gesamten formellen APS-Ursprungsregeln. cc) Ausfuhren aus Kanada in die EU Ebenso wie sich das Ausstellen von Ursprungserklärungen für die Ausfuhr aus der EU nach Kanada im Detail nach EU-Recht richtet, richtet sich das Erstellen von Ursprungserklärungen bei der Ausfuhr von Kanada in die EU nach kanadischem Recht. Hier muss auf Grundlage von Teil V des Customs Act der kanadische Ausführer seine sog. Unternehmensnummer (Business Number) angeben.71 e) Zusammenfassung Die Umstellung in den modernen Ursprungsprotokollen auf Ursprungserklärungen bringt sowohl Liberalisierungseffekte als auch Entbürokratisierung mit sich: Die dar(Stand: 14. Juni 2017): http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Warenursprung-Praeferenzen/ Praeferenzen/Praeferenzraeume/CETA/ceta_node.html. 70 Meldung der Zollverwaltung v. 21. Dezember 2016: http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Wa​ renursprung-Praeferenzen/WuP_Meldungen/2016/wup_freihandelsabkommen_kanada. html. Die von der Kommission vorgesehene Übergangsregelung für die Nutzung der Bewilligung als ermächtigter Ausführer ist mittlerweile in Art. 68 UZK-DVO integriert worden, vgl. Durchführungsverordnung (EU) 2017/989 der Kommission vom 8. Juni 2017 zur Berichtigung und Änderung der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union, ABl. EU 2017 Nr. L 149/19. 71 S.  5 des CETA-Merkblatts. Die von kanadischen Ausführern zu verwendende Business Number entspricht verfahrenstechnisch nicht der REX-Nummer in der EU. Insbesondere unterliegen kanadische Ausführer keiner Registrierungspflicht, die vom Warenwert einer Ausfuhrsendung abhängig ist.

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gestellte Entwicklung verdeutlicht, dass sich staatliche Behörden immer weiter aus dem Prozess des Nachweises des Ursprungs zurückziehen. Während für EU-Exporteure im Rahmen des Südkorea- und Singapur-Ursprungsprotokolls noch eine Bewilligung als ermächtigter Ausführer nötig ist, reicht im Rahmen des CETA-Ursprungsprotokolls bereits die Registrierung in einer Datenbank. Positiv fällt insbesondere der Verzicht auf das Erfordernis häufiger Ausfuhren, die generell lange Geltungsdauer der Ursprungsnachweise sowie etwa die Ursprungserklärung für Mehrfachsendungen im CETA-Ursprungsprotokoll auf. Kritisiert wurde die Umstellung auf die „verpflichtende“ Nutzung der Bewilligung als ermächtigter Ausführer aber dafür, dass kleine sowie mittelständische Unternehmen den Arbeitsaufwand scheuen würden, der die Beantragung des Status als ermächtigter Ausführer mit sich bringe.72 2. Die Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens in den modernen EU-Freihandelsabkommen Auch die in den Abkommen mit Südkorea, Singapur und Kanada geregelten Nachprüfungsverfahren weisen Unterschiede im Verhältnis zu den bisher bekannten Regelungen auf, wobei auch hier die Bestimmungen in den drei Abkommen wiederum voneinander abweichen. Als Gemeinsamkeit ergibt sich für diese verschiedenen Abkommen die Tendenz, dass die Bedeutung der Nachprüfungsverfahren zunehmen wird.73 a) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im Regionalen ­Übereinkommen über Ursprungsregeln Die RUE-Regeln spiegeln auch für das Nachprüfungsverfahren das Grundkonzept der EU-Regelungen wider. Haben die Behörden des Einfuhrstaates begründete Zweifel an der Echtheit oder der Richtigkeit der im Ursprungsnachweis enthaltenen Angaben, müssen sie das Nachprüfungsverfahren nutzen. Das folgt bereits daraus, dass zumindest bei den vertraglich vereinbarten Präferenzmaßnahmen die Ursprungsbestimmung auf einer Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Zollbehörden des Einfuhrstaates und des Ausfuhrstaates beruht, weshalb in den Präferenzregelungen der EU auch die nachträgliche Prüfung des Präferenzursprungs durch die Behörden des Ausfuhrlandes erfolgt, Art. 32 Abs. 3 Anlage I RUE.74 Der EuGH betont, dass sich diese Regelung dadurch rechtfertige, dass die Behörden des Ausfuhrstaats am besten in der Lage seien, die Tatsachen unmittelbar festzustellen, von denen der Ursprungserwerb der Ware abhängt.75 Daher muss die Zollverwaltung des Einfuhrstaates die von den Behörden des Ausfuhrstaates rechtmäßig vorge72 Hallmann (Rz. 9), AW-Prax 2016, 129 (132). 73 Wolffgang (Rz. 21), AW-Prax 2015, 221. 74 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 126. 75 EuGH v. 14.5.1996  – C-153/94 und C-204/94  – Faroe Seafood u.  a., Rz.  19, ECLI:EU:​ C:1996:198, ZfZ 1997, 12 (14). Besprechung hierzu bei Kioschus/Wöhner, EuGH zu Zollpräferenzen und Nacherhebung, AW-Prax 1997, 59.

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nommenen Beurteilungen grundsätzlich anerkennen und ist an diese gebunden.76 Diese Bindungswirkung folgt aus dem in der EuGH-Rechtsprechung aufgestellten Grundsatz des „institutionellen Vertrauens“, wonach die Behörden der Parteien eines Freihandelsabkommens gegenseitig darauf vertrauen können, dass die jeweils andere Partei die Regeln des völkerrechtlichen Vertrags korrekt einhält und umsetzt.77 Das Nachprüfungsverfahren wird eingeleitet, indem die Behörden des Einfuhrlandes die Präferenznachweise, vorgelegte Rechnungen oder eine Abschrift der Unterlagen an die zuständigen Behörden des Ausfuhrlandes senden und diesen ggf. die Gründe angeben, die eine Untersuchung der Präferenznachweise rechtfertigen, Art. 32 Abs. 2 Anlage I RUE. Die Behörden des Ausfuhrstaats können bei der nachträglichen Prüfung vom Ausführer die Vorlage von Beweismitteln verlangen, Überprüfungen der Buchführung des Ausführers vornehmen oder sonstige von ihnen für zweckdienlich erachtete Kontrollen durchführen, z. B. Art. 32 Abs. 3 Anlage I RUE. Das Ergebnis der Prüfung ist den Zollbehörden des Einfuhrlandes von den Behörden des Ausfuhrlandes so bald wie möglich mitzuteilen, Art. 32 Abs. 5 S. 1 Anlage I RUE. Antworten die Behörden des Ausfuhrstaats auf das Nachprüfungsersuchen trotz Mahnung innerhalb von zehn Monaten nicht oder nur unzureichend, wird die Präferenzbehandlung abgelehnt, Art. 32 Abs. 6 Anlage I RUE. b) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im EU-Freihandelsabkommen mit Südkorea Das Nachprüfungsverfahren ist in Art. 26-28 Prot. Südkorea sowie im Protokoll über gegenseitige Amtshilfe im Zollbereich78 geregelt. Die Regeln im Ursprungsprotokoll entsprechen im Wesentlichen dem bisher bekannten Nachprüfungsverfahren (die Mitteilungsfrist beträgt hier ebenfalls zehn Monate), die Regeln im Protokoll über gegenseitige Amtshilfe im Zollbereich sind für die EU jedoch ein Novum. Hiernach ist es für die Behörden im Partnerstaat möglich, die Voraussetzungen für die Ausstellung der Ursprungserklärung selbst im Ausfuhrland zu prüfen. Voraussetzung hierfür ist jedoch gemäß Art. 7 des Protokolls über gegenseitige Amtshilfe im Zollbereich die Zustimmung der Behörden des Ausfuhrlandes. Die näheren Bedingungen für die Beteiligung der Behörden des Einfuhrlandes werden ebenfalls von den Behörden des Ausfuhrlandes festgesetzt. 76 EuGH v. 9.2.2006  – C-23/04 u. C-25/04  – Sfakianakis AEVE, ECLI:EU:C:2006:92, ZfZ 2006, 154; EuGH v. 25.2.2010 – C-386/08 – Brita GmbH, ECLI:EU:C:2010:91, ZfZ 2010, 104. Besprechung hierzu bei Schoenfeld, Waren mit Ursprung im israelisch kontrollierten Westjordanland fallen nicht unter das Zollpräferenzabkommen EG-Israel, AW-Prax 2010, 139. Ebenso EuGH v. 15.12.2011  – C-409/10  – Afasia Knits Deutschland, ECLI:EU:C:​ 2011:843, ZfZ 2012, 79. Besprechungen hierzu bei Felderhoff, Nachprüfungsverfahren und Vertrauensschutz, AW-Prax 2012, 271, und Schrömbges, OLAF-Untersuchungen zum Präferenzursprung, AW-Prax 2012, 276. 77 Wolffgang in HHSp (Rz. 31), Art. 64 UZK, Rz. 136. 78 Protokoll über gegenseitige Amtshilfe im Zollbereich, ABl. EU 2011 Nr. L 127/1415.

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c) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im EU-Freihandelsabkommen mit Singapur Die in Art. 27-31 Prot. Singapur enthaltenen Bestimmungen über die Zusammenarbeit der Verwaltungen entsprechen bezüglich der Regelung des Nachprüfungsverfahrens den aus anderen Ursprungsprotokollen bekannten Vorschriften. Die Frist für die Mitteilung des Nachprüfungsergebnisses beträgt hier ebenfalls zehn Monate. Eine so nicht in anderen Ursprungsprotokollen enthaltene Vorschrift zu „behördlichen Ermittlungen“ ist in Art. 29 Prot. Singapur zu finden. Sofern die Ergebnisse des Nachprüfungsverfahrens zeigen, dass den Bestimmungen des Ursprungsprotokolls zuwidergehandelt wird, soll gemäß Art. 29 Abs. 1 Prot. Singapur das Exportland (also Singapur oder die EU) entweder aus eigener Initiative oder auf Antrag der jeweils anderen Abkommenspartei angemessene behördliche Ermittlungen durchführen, um die Verstöße feststellen und in Zukunft verhindern zu können. Die Ergebnisse solcher Ermittlungen sollen der Abkommenspartei mitgeteilt werden, die die Nachprüfung der Ursprungserklärung beantragt hatte. Gemäß Art. 29 Abs. 2 Prot. Singapur darf die Abkommenspartei, die die Verifizierung beantragt hat, bei den Ermittlungen zugegen sein, wobei die Art und Weise ihrer Beteiligung von den zuständigen Behörden des Exportlandes festgelegt wird. Art. 29 Abs. 3 Prot. Singapur sieht zudem vor, dass für die Fälle von wiederholtem Versagen oder systematischem und vorsätzlichem Fehlverhalten durch eine Partei des Abkommens die hiervon betroffene Abkommenspartei übergangsweise die Präferenzbehandlung für das betroffene Produkt aussetzen darf. Unter „wiederholtem Versagen“ i. S. v. Art. 29 Abs. 3 Prot. Singapur soll einerseits ein wiederholtes Versagen bei der Anwendung der Bestimmungen über die Nachprüfung des Ursprungs der betroffenen Ware zu verstehen sein. Andererseits kann es sich hierbei auch um eine wiederholte Verweigerung bzw. unangemessene Verzögerung bei der Durchführung von Ermittlungen bzw. der Übermittlung der Untersuchungsergebnisse und/oder bei der Überprüfung des Ursprungs handeln. d) Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens im EU-Freihandelsabkommen mit Kanada Das präferenzielle Nachprüfungsverfahren ist in Art. 29 Prot. CETA in insgesamt fünfzehn Absätzen geregelt. Anders als in anderen Abkommen vorgesehen, muss die Behörde im Ausfuhrstaat jedoch nicht nur die Echtheit und Richtigkeit der Ursprungserklärung bestätigen, sondern gem. Art. 29 Abs. 8 Prot. CETA auch einen detaillierten schriftlichen Bericht vorlegen, der die Überprüfungsergebnisse, die Beschreibung des der Überprüfung unterzogenen Erzeugnisses sowie die für die Anwendung der Ursprungsregel relevante zolltarifliche Einreihung, eine für die Begründung der Ursprungseigenschaft des Erzeugnisses hinreichende Beschreibung und Erläuterung der Herstellung, Angaben zur Art und Weise der Durchführung der Überprüfung und gegebenenfalls Belege enthält. Die Frist für die Mitteilung des Nachprüfungsergebnisses beträgt hier zwölf Monate, wobei die Frist gem. Art. 29 Abs. 9 Prot. CETA auch in beiderseitigem Einvernehmen verlängert werden darf. 256

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Darüber hinaus sieht Abs. 12 des Art. 29 Prot. CETA vor, dass, sofern Differenzen zwischen den Zollverwaltungen bestehen, was die Überprüfungsverfahren oder die Auslegung der Ursprungsregeln bezüglich der Ursprungseigenschaft eines Erzeugnisses betrifft und die Zollbehörde des Einfuhrstaates eine von dem schriftlichen Bericht der Ausfuhrzollbehörde abweichende Ursprungsbestimmung vornehmen will, ein Notifizierungsverfahren zwischen den Vertragsparteien durchzuführen ist. Nach Abschluss der Konsultationen darf die Einfuhrzollbehörde gem. Art. 29 Abs.  13 Prot. CETA ihre Ursprungsbestimmung vornehmen. e) Zusammenfassung Insgesamt ist in den Neuregelungen in den Ursprungsprotokollen die gemeinsame Tendenz zu erkennen, dass die Vertragsparteien entweder stärker in die Ermittlungen der jeweils anderen Vertragspartei eingreifen oder sogar unabhängig von dem Ergebnis der Nachprüfung über den Ursprung entscheiden wollen. Die Regelungen in den Ursprungsprotokollen mit Singapur, Südkorea und Kanada zeigen insoweit eine deutliche Abkehr vom Grundsatz des „institutionellen Vertrauens“ auf. 3. Zusammenhang mit den Entwicklungen auf europäischer Ebene Die Entwicklungen in den neueren Ursprungsprotokollen in Bezug auf die Ausgestaltung der formellen Ursprungsregeln dürfen allerdings nicht isoliert betrachtet werden, sondern hierbei muss auch der Zusammenhang mit der autonomen EU-Gesetzgebung Berücksichtigung finden. Einerseits ist hier die Vertrauensschutzregelung des Art. 119 UZK zu beachten, andererseits müssen auch die Forderungen des Europäischen Rechnungshofs in seinem Bericht aus dem Jahr 2014 in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. a) Vertrauensschutz bei der Nutzung von Präferenznachweisen Gem. Art. 105 Abs. 4 UZK (vormals Art. 220 Abs. 1 des EG-Zollkodex (ZK)79) sind Einfuhrabgabenbeträge nachzuerheben, wenn die Zollpräferenzbehandlung zu Unrecht gewährt wurde. Eine Ausnahme besteht etwa dann, wenn der Einführer sich auf Vertrauensschutz gem. Art. 119 UZK (bzw. vormals Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK) berufen kann.80 Die Behandlung des Vertrauensschutzes gem. Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK bzw. nunmehr Art. 119 UZK bei der Nutzung von Präferenznachweisen ist bereits Gegenstand

79 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. EG 1992 Nr. L 302/1. 80 Vgl. zum Verhältnis von ZK- und UZK-Recht bei den Erstattungstatbeständen: Gellert, Erlass, Erstattung und Absehen von der Nacherhebung im Unionszollkodex, AW-Prax 2014, 72.

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mehrerer EuGH-Verfahren81 gewesen und hat bereits im alten Zollrecht zur Schaffung eines Sonder-Vertrauensschutztatbestands in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b UAbs. 2–5 ZK82 bei der Nutzung von Zollpräferenzen geführt, der nunmehr in Art. 119 Abs. 3 UZK zu finden ist und dazu dienen sollte, die unsichere Lage der Wirtschaftsbeteiligten zu verbessern. Art. 119 Abs. 3 UAbs. 1 UZK sieht Folgendes vor: „Wird die Präferenzbehandlung von Waren im Rahmen einer Verwaltungszusammenarbeit mit Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union gewährt, so gilt eine von diesen Behörden ausgestellte Bescheinigung, die sich als unrichtig erweist, als Irrtum im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a, der vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte.“ In Bezug auf den registrierten (so im CETA-Ursprungsprotokoll vorgesehen) und auch den ermächtigten Ausführer (so in den Ursprungsprotokollen mit Südkorea und Singapur vorgesehen) bedeutet dies, dass die Möglichkeit der Geltendmachung von Vertrauensschutz nach Maßgabe von Art. 119 Abs.  3 UZK ausscheidet. Da keine ­formellen Ursprungsnachweise mehr ausgestellt werden, übernehmen die Behörden des Ausfuhrlandes in den geschilderten Spielarten des Selbstzertifizierungsverfahrens praktisch nur noch geringe Verantwortung. Ausgangspunkt für die Anwendung der Vertrauensschutzregelung des Art. 119 Abs. 3 UZK sind nämlich förmliche Ursprungsnachweise.83 Durch die Abkehr von den formellen Ursprungsnachweisen kann damit die besondere Schutzwirkung des Art. 119 Abs. 3 UZK für die Unternehmen effektiv ausgehebelt werden.84 Weder die Ursprungserklärungen des Exporteurs noch die Wissensbekundungen des Importeurs werden zu einem Vertrauensschutztatbestand für den Einführer führen, womit das Risiko der Präferenznutzung zur Gänze auf den Importeur abgewälzt wird.85 Sofern die Behörden eines Einfuhrstaates von der Richtigkeit der Ursprungserklärungen des Exporteurs letztlich nicht überzeugt sein werden, wird der Einführer das Risiko einer Nacherhebung zu tragen haben.86 b) Forderungen des Europäischen Rechnungshofs zu mehr ­Eigenverantwortung Im Jahr 2014 veröffentlichte der Europäische Rechnungshof einen Sonderbericht zu Präferenzhandelsregelungen. Dieser Sonderbericht Nr.  2/2014 mit dem Titel „Wer81 Überblick hierzu bei Krüger, Zollschuldrechtlicher Vertrauensschutz in jüngerer EuGH-, EuG- und BFH-Rechtsprechung, ZfZ 2014, 2. 82 Vgl. hierzu umfassend Kirchhoff (Rz. 38), S. 171 ff. 83 Kirchhoff (Rz. 38), S. 188 f. 84 So auch schon zu Art. 220 Abs. 2 Buchst. b) ZK: Wolffgang, Euphorie und Skepsis, AW-Prax 2010, 459. 85 Wolffgang (Rz. 21), AW-Prax 2015, 221. 86 Wolffgang (Rz. 21), AW-Prax 2015, 221.

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Die Ursprungsregeln in modernen ­EU- Freihandelsabkommen

den die Präferenzhandelsregelungen angemessen verwaltet?“87 behandelt die Fragestellung, ob die Kommission die wirtschaftlichen Auswirkungen von Präferenzhandelsregelungen angemessen bewertet und ob die diesbezüglichen Kontrollen wirksam sicherstellen, dass Einfuhren nicht fälschlicherweise Präferenzzöllen unterliegen können, was den Verlust von EU-Einnahmen zur Folge hätte.88 In diesem Zusammenhang ging der Europäische Rechnungshof auch auf die Nutzung von Ursprungserklärungen ein.89 Hierzu erklärte er, dass Ursprungserklärungen unter dem Aspekt der Eigenmittel Vorteile hätten. Grund hierfür sei, dass Einführern keine Rechte aus Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK (nunmehr Art. 119 UZK) und Art. 236 ZK (nunmehr Art. 117 UZK) zustünden, sofern Ursprungserklärungen verwendet würden, sodass Rechtsstreitigkeiten der Wirtschaftsbeteiligten hinsichtlich der Nutzung von Präferenzhandelsregelungen erheblich reduziert würden. Gleichwohl sei die Nutzung von Warenverkehrsbescheinigungen immer noch weit verbreitet. Die Kommission schloss sich hier den Ausführungen des Rechnungshofs an und erklärte, dass sie weiterhin das Ersetzen von Ursprungszeugnissen durch Ursprungserklärungen fördern wolle.90 c) Zusammenfassung Im Ergebnis zielen die Verhandlungen der EU somit auch darauf ab, den Vertrauensschutz von EU-Einführern dauerhaft zu verringern. Dies wird auch durch die Forderungen des Europäischen Rechnungshofs belegt, der die Abschaffung förmlicher Präferenznachweise fordert. 4. Zusammenfassung Die Abschaffung förmlicher Präferenznachweise hat mehr Flexibilität für die Wirtschaftsbeteiligten zur Folge. Allerdings bedeutet das alleinige Abstellen auf Ursprungserklärungen auch eine Risikoverlagerung zulasten der EU-Wirtschaftsbeteiligten, da der Spielraum für die Geltendmachung von Vertrauensschutz gem. Art. 119 UZK hierdurch praktisch ausgeschlossen wird. Zugleich sind auch die Nachprüfungsersuchen in den modernen Abkommen strenger als bisher ausgestaltet, wobei insbesondere der Grundsatz des „institutionellen Vertrauens“ stark eingeschränkt wird.

87 Online-Fundstelle: http://www.eca.europa.eu/Lists/ECADocuments/SR14_02/QJAB14002​ DEC.pdf. 88 Darstellung im Überblick bei Hallmann/Rogmann, Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs zu Präferenzhandelsregelungen, AW-Prax 2014, 373. 89 S. 32 des Sonderberichts. 90 S. 48 des Sonderberichts.

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Kai Henning Felderhoff

V. Ergebnis und Ausblick Insgesamt zeigt sich bei den modernen Freihandelsabkommen der EU mit Südkorea, Singapur und Kanada gerade im Vergleich zu den Ursprungsregeln des Regionalen Übereinkommens, dass die materiellen Ursprungsregeln zum Teil liberaler ausgestaltet wurden und den Wirtschaftsbeteiligten größere Flexibilität bieten. Demgegenüber gilt dies vordergründig zwar auch für die formellen Ursprungsregeln. Durch das Abstellen auf Ursprungserklärungen als einzigen Ursprungsnachweis sowie auch durch die strengere Ausgestaltung der Nachprüfungsverfahren kommt es an dieser Stelle aber zu einer deutlichen Risikoverlagerung zulasten der Wirtschaftsbeteiligten. Spannend wird bleiben, inwieweit sich die hier gezeigten Tendenzen in künftigen Abkommen fortsetzen, da die EU derzeit weiterhin mit einer Reihe von Staaten über Freihandelsabkommen verhandelt. So laufen derzeit neben den bereits erwähnten Verhandlungen mit Japan im asiatischen Raum auch Gespräche91 mit den ASEAN-­ Staaten Malaysia, Thailand, Indonesien und den Philippinen über Freihandelsabkommen. Mit Vietnam wurde zudem bereits ein vollständiger Abkommenstext ausgehandelt.92 Darüber hinaus laufen noch Freihandelsgespräche mit Indien sowie im lateinamerikanischen Raum mit den Mercosur-Staaten93 und Mexiko. Mit Mexiko hat die EU bereits seit dem Jahr 2000 ein Freihandelsabkommen94, dieses soll nun aber modernisiert werden. Darüber hinaus finden weiterhin Verhandlungen der EU mit den Staaten des afrikanischen, karibischen und pazifischen Raums über sog. Wirtschaftspartnerschaftsabkommen („Economic Partnership Agreements“) statt.95

91 Überblick zu den laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkommen der EU (berücksichtiger Stand: Juli 2017): http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/december/tradoc_​ 118238.pdf . 92 Der Volltext des Vietnam-Abkommens ist auf der Homepage der Generaldirektion Handel veröffentlicht worden: http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1449. 93 Hierzu gehören Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. 94 Abkommen über wirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Vereinigten mexikanischen Staaten andererseits, ABl. EG 2000 Nr. L 276/45. 95 Überblick zu den laufenden Verhandlungen über Economic Partnership Agreements (berücksichtigter Stand: Juni 2017): http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2009/september/ tradoc_144912.pdf. Überblicksdarstellungen zu diesen Themen bei Mendel, Das Ende von Cotonou, AW-Prax 2008, 471 und Felderhoff, Economic Partnership Agreements (EPAs): Anwendung der Handelsabkommen schreitet weiter voran, Der Zoll-Profi! 2017/2, 8.

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Karl Fuchs

Ein neues Zollrecht – systemgestützt oder doch transaktionsbezogen? Inhaltsübersicht Vorbemerkung

I. Das Thema

II. Eckpunkte 1. Einführung 2. Einsatz der Informationstechnologie 3. Beteiligter (Anmelder) und sein ­Vertreter III. Verfahrensschritte 1. Erfassung von Waren 2. Überführung in den freien Verkehr 3. Nichterhebungsverfahren – ­Allgemeines 4. Beförderung von Waren 5. Lagerung von Waren 6. Verwendung von Waren 7. Veredelung IV. Verfahrensübergreifende Fragen 1. Wirtschaftliche Voraussetzungen



2. Ersatzwaren 3. Verfahren mit laufender Verrechnung 4. Ausbeute, Abfälle und Reste



V. Zollschuldrecht 1. Entstehen und Fälligkeit der ­Zollschuld 2. Bemessung der Zollschuld 3. Besicherung der Zollschuld 4. Mitteilung und Einhebung der ­Zollschuld 5. Befreiung, Erlass und Erlöschen von Abgaben a) Zollbefreiungen b) Erlass und Erlöschen der Zollschuld



VI. Zentrale Zollabwicklung 1. Heimatzollstelle 2. Organe für Außenprüfung Schlusswort

Vorbemerkung Das Zollrecht des Unionszollkodex1 ist nun schon seit mehr als einem Jahr in allen rechtlich wesentlichen Bereichen anwendbar, weshalb ich die Gelegenheit dieser Festschrift nutzen möchte, mich mit der Frage zu befassen, ob es der Ankündigung eines modernen Zollrechts entspricht. Dieses neue Recht sollte nach Lux2 schon durch den Modernisierten Zollkodex, als dessen Neufassung der Unionszollkodex von den Gesetzgebern der Union ausgewiesen ist, eine Umstellung auf „systemgestützte Kontrollen statt Zollformalitäten auf Transaktionsbasis, soweit es möglich und praktisch ist,“ bringen, was dem entsprechen könnte, was Schlager3 als „wissenschaftlich besser erforschtes Zollsystem“, das vor allem einen „Monismus der Systeme“ vermeidet, ein1 (UZK) ABl. EU Nr. L 269/2013; (UZK-DA und UZK-IA) ABl. EU Nr. L 343/2015; (UZKTDA) ABl. EU Nr. L 69/2016 mit einigen Änderungen und Berichtigungen. 2 Michael Lux, damals Referatsleiter für Zollrecht in den Dienststellen der Kommission; ZfZ 2009, S.4. 3 Dr. Josef Schlager, Steuerberater, Honorarprofessor an der JKU Linz; JKU Tax Heft 2/14, S. 16 und 18.

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mahnt. Da beide ihre Ideen nicht näher ausgeführt haben, möchte ich versuchen, meine eigenen diesbezüglichen Gedanken zu einigen Fragen im Folgenden näher darzulegen.

I. Das Thema Wenn man von einem transaktionsbezogenen oder einem systemgestützten Zollrecht spricht, muss man erst ins Klare kommen, was diese Ausdrücke besagen könnten. Der Ausdruck „Transaktion“ schon kann zwei Bedeutungen haben: einerseits kann er die einzelne Warenbewegung bezeichnen, und das war offensichtlich ursprünglich die Sicht des Zollrechts; andererseits kann er aber auch das Rechtsgeschäft bedeuten, in dessen Rahmen die Warenbewegung erfolgt. „System“, worauf sich Zollkontrollen stützen können, ist noch schwerer zu definieren; manchmal klingt diesbezüglich das Abstellen auf eine betriebswirtschaftliche Betrachtung an, was zwar richtungsweisend sein kann, aber keine abschließende Definition ergibt. Aus der Sicht der Europäischen Union als Binnenmarkt aus mehreren, administrativ weitgehend selbständigen Staaten kann man „System“ aber auch als diese Situation berücksichtigend sehen. Ich möchte daher diesen Begriff praktisch angehen und „systemgestützt“ ein Zollrecht bezeichnen, das wirtschaftliche Vorgänge zwar auf Einzelfälle aufbauend, diese aber in ein wirtschaftliches System eingeordnet binnengrenzübergreifend erfasst. Gesamtsicherheit und Zulassung von Ersatzwaren wären typische Ausprägungen einer Systemorientierung, dürfen dann aber nicht in einer bloßen Summenbildung4 und in einer buchmäßigen Rückbeziehung auf eine bestimmte Transaktion5 enden. Ein neues Zollrecht sollte bei der Abfassung und Vollziehung eine neue Denkweise erkennen lassen, die Zollbehörde und Zollbeteiligten in ein Verhältnis zueinander bringt, das sich dem von Vertragspartnern in der Wirtschaft annähert, allerdings ohne außer Acht zu lassen, dass die Zollbehörde letztlich auch mit staatlichen Machtmitteln der Rechtslage entsprechende Situationen durchsetzen muss. Diese neue Denkweise sollte Regelungen zum Schutz wirtschaftlicher Interessen einzelner Beteiligter nicht oder nur sehr behutsam angehen und jedenfalls Protektionismus ausschließen.

II. Eckpunkte 1. Einführung Ein nur systemorientiert gestaltetes Zollrecht kann es meiner Ansicht nicht geben, da es immer einer konkreten Verbringung einer Ware in ein oder aus einem Zollgebiet bedarf, damit es zu einer Zollschuld kommen kann, und gewisse Formen der Zoll4 Art. 90 und 95 UZK; Art. 84 UZK-DA; Art. 155 UZK-IA. 5 Art. 268 Abs. 2 und 269 UZK-IA.

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Ein neues Zollrecht – systemgestützt oder doch transaktionsbezogen?

kontrolle, vor allem solche im Interesse von Schutz und Sicherheit, erfordern das Vorhandensein einer erwiesenermaßen oder zumindest höchstwahrscheinlich eingeführten oder auszuführenden Ware. Auf diese Sicht der Transaktion stellt offensichtlich auch das Zolltarifrecht ab, das auf den „vorliegenden“6, also bei der Gestellung gegebenen Zustand der Waren verweist. Das derzeitige Zollrecht weist aber bereits einige Regelungen auf, die trotz Beharrens auf dem Transaktionsbezug Elemente einer Systemorientierung erkennen lässt; dies gilt vor allem für die Heranziehung der zolltariflichen Einreihung von im Zollgebiet veredelten Waren nach deren nunmehriger Beschaffenheit und für die (allerdings zögerliche) Zulassung von Ersatzwaren und vorzeitiger Einfuhr bzw. Ausfuhr. Das eher transaktionsbezogene materielle Zollrecht dem schon sehr systemorientierten Verfahrensrecht anzupassen, wäre eine wesentliche Aufgabe für eine Reform. Ein systemorientiertes Zollrecht erscheint dann den wirtschaftlichen aber auch den administrativen Gegebenheiten besser entsprechend, wenn Waren verschiedener zollrechtlicher Vorgänge und auch solche aus dem freien Verkehr gemeinsam gelagert, verwendet, verarbeitet und vermarktet werden dürfen, was dann aber erfordert, dass nicht mehr nur Nicht-Unionswaren der zollamtlichen Überwachung unterliegen, sondern der gesamte Betrieb einer  – vernünftig und zeitgemäß ausgeübten  – zollamtlichen Aufsicht. 2. Einsatz der Informationstechnologie Schon zum Modernisierten Zollkodex hat Lux7 den Einsatz der Datenverarbeitung als wesentliches Instrument zur Vermeidung von Grauzonen bei der Interpretation der Rechtsvorschriften bezeichnet, was allein schon den IT-Einsatz gerechtfertigt hätte. In den zollrechtlichen Vorschriften die Informationstechnologie zum grundsätzlichen Kommunikationsmittel zu erklären, aber Ermessensbestimmungen und unbestimmte Rechtsbegriffe belassen zu müssen, weil ohne solche ein Rechtsakt wie das Zollrecht kaum möglich wäre, macht den umfassenden IT-Einsatz zu einer doch recht teuren Formalität. Die Informationstechnologie kann viel, nur kann sie nicht denken; sie ist auf schematische Vorgaben angewiesen, was ihre Eignung zur Bemessung und Verrechnung von Abgaben auf der Grundlage von Zollanmeldungen ergibt. Man sollte aber nicht glauben, damit eine einheitliche Rechtsanwendung garantieren zu können. EU-weite Datenbanken mit allen Überführungen von Waren in bestimmte Zollverfahren oder der Höhe und Entwicklung der Sicherheiten einzelner Beteiligter würden die Geschäftstätigkeiten der Beteiligten in einer Weise offenlegen, die mir bedenklich erschiene, und das kann auch bei vielen Beteiligten die Sorge erwecken, Daten einem zu großen Personenkreis zugänglich machen zu müssen, auch wenn es sich dabei „nur“ um Zollbehörden handelt, da auch diese einer Rechtsentwicklung ausgesetzt werden können, durch die Geheimhaltungsverpflichtungen dem Drang nach Transparenz verwaltungsbehördlichen Handelns zum Opfer fallen.

6 I.2.a. der Einführenden Vorschriften zur Kombinierten Nomenklatur. 7 ZfZ 2009, S. 3 und dazu Reuter/Fuchs, Das neue EU-Zollrecht, 2017 Rz. 043 (EU/ZR).

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Eine Gefahr des umfassenden IT-Einsatzes, wie er im Recht des UZK konzipiert ist, sehe ich einerseits in einer unzureichenden Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des einzelnen Falles vor allem bei der Überwachung von Verwendung oder Veredelung von Waren und andererseits im Nichtbeachten einer sparsamen Verwaltung. In einer (Zoll-)Anmeldung Daten zu verlangen, weil nun eine leistungsfähige IT-Ausstattung zur Verfügung steht oder aufgebaut werden kann, obwohl deren Nutzen für die korrekte Vollziehung der Rechtsvorschriften nicht unbedingt zu erkennen ist, erscheint mir zwar nicht rechtswidrig, wohl aber rechtspolitisch verfehlt. 3. Beteiligter (Anmelder) und sein Vertreter Eine Sache, die man als Ware im zollrechtlichen Sinn ansehen kann, ist nur dann Gegenstand einer Zollerhebung, wenn sie in das Zollgebiet – bei Ausfuhrzöllen aus diesem – verbracht wird, was das Zutun einer Person erfordert (das österreichische Umsatzsteuerrecht – nicht auch die Richtlinie der EU – hat dies leider übersehen und stellt darauf ab, dass der Gegenstand in das Inland „gelangt“). Diese Person, der Anmelder, wird auch in einem weiter entwickelten Zollrecht einer für die IT-unterstützte Bearbeitung geeigneten Erfassung (EORI) bedürfen. Ausnahmen von der Registrierungspflicht sowie auch der Zugang davon erfasster Beteiligter zu zollrechtlichen Vergünstigungen sollten von Experten aus Verwaltung und Wirtschaft erarbeitet und von der Kommission festgelegt werden. Die Erfassung erfolgt durch eine im IT-Weg veranlasste Registrierung bei der Zollbehörde und soll auch zeigen, welche Zollverfahren und welche zollrechtlichen Erleichterungen der Beteiligte in Anspruch nehmen will, und Auskunft über seine Person, seine im Zollbereich an entscheidender Stelle tätigen Mitarbeiter, seine finanzielle Situation und die zu erfassenden wirtschaftlichen Vorgänge geben, damit sich die Zollbehörde über die betroffenen zollrechtlichen Verfahren, die Notwendigkeit und Höhe einer allfälligen Sicherheit und über erforderliche Kontrollmaßnahmen Klarheit verschaffen kann. Die Registrierung muss daher an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (insbesondere eine für das zu erfassende Verfahren notwendige Zuverlässigkeit und/oder Leistung von Sicherheit) oder Bedingungen (Führung von zur Überwachung eines erfassten Verfahrens notwendigen Aufzeichnungen) gebunden sein und daher verweigert und, wenn sie bereits erfolgt ist, widerrufen werden können, wenn sie den rechtlich begründeten Anforderungen der Zollbehörde nicht entspricht. Diese Registrierung verbunden mit allenfalls ergänzenden Entscheidungen der Zollbehörde tritt an die Stelle von Bewilligungen, und zwar möglichst in allen Bereichen des Zollrechts, und wird hinsichtlich Name/Firma und Anschrift des Beteiligten sowie die für ihn registrierten Verfahren auch in einer EU-weiten Datenbank allgemein zugänglich gemacht; alle anderen Daten werden nur bei der Zollstelle evident gehalten, Einzelheiten in einer Niederschrift festgehalten und so dem Vertrauensschutz gegen Fehler/Irrtümer seitens der Zollbehörde zugeführt. Unter dieser Registrierung sollten aber auch alle Zollanmeldungen des Beteiligten erfasst werden, worauf später noch einzugehen sein wird.

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Ein neues Zollrecht – systemgestützt oder doch transaktionsbezogen?

Auch den „Zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten“ (AEO) soll es weiterhin geben; in der Systematik eines neuen Zollrechts sollte aber die Zertifizierung als AEO nicht mehr Voraussetzung für zollrechtliche Vereinfachungen und Erleichterungen sein, sondern die Folge der Zulassung zu gewissen Vereinfachungen oder Erleichterungen, so auch die zugelassenen Versender und Empfänger im Versandverfahren. Die Registrierungspflicht soll grundsätzlich auch Personen treffen, die als Zollvertreter tätig werden. Ich glaube allerdings, dass auf eine Registrierung verzichtet werden kann, wenn der Betreffende nur als direkter Zollvertreter tätig wird, da diesen keine besonderen zollrechtlichen Rechtsfolgen treffen; damit wären auch die traditionellen Vertreterberufe (Rechtsanwälte, Steuerberater) davon befreit. Zollrechtliche Beschränkungen für die Bestellung als Zollvertreter sollten unterbleiben, da es um das Rechtsverhältnis zwischen Vertreter und Vertretenem geht und letzterer die Folgen von Mängeln des Vertreters zu tragen hat; dass die unionsrechtlichen und einzelstaatlichen Vorschriften des Niederlassungsrechts und Dienstleistungsrechts zu beachten sind – auch hinsichtlich der Heranziehung von zugelassenen Zollagenten –, braucht im Zollrecht nicht einmal erwähnt zu werden. Für Verfahren mit besonderen, über die Entrichtung von Abgaben hinausgehenden Verpflichtungen erscheint mir eine indirekte Vertretung problematisch, weil der Vertreter zum Inhaber des Verfahrens mit allen daraus erwachsenden Verpflichtungen würde, auf die Ausübung des Verfahrens aus seinem zivilrechtlichen Verhältnis zum Vertretenen heraus aber keinen Einfluss hätte; für eine allenfalls notwendige fachliche oder technische Unterstützung des Verfahrensinhabers würde die direkte Zollvertretung reichen. Ob Unternehmen, die Zollbeteiligte dadurch unterstützen, (Software-Anbieter) dass sie IT-Systeme zur Erledigung zollrechtlicher Verpflichtungen anbieten, einer Regis­ trierung bedürfen sollen, wäre zu überlegen; ich würde darin einen Vorteil sehen, da im Zug der Registrierung Vereinbarungen über einen Zugang zu IT-Systemen der Zollverwaltung für die Bemessung von Abgaben oder auch für die Erfassung und Überwachung von Nichterhebungsverfahren getroffen werden könnten.

III. Verfahrensschritte 1. Erfassung von Waren Der Erfassung der Waren für Zollzwecke dienen die verschiedenen (Zoll-)Anmeldungen; hier sollten auf die zum Teil subtilen Unterscheidungen verzichtet und alle Anmeldungen zur Überführung von Waren in ein Zollverfahren oder zur Beendigung eines solchen Verfahrens als Zollanmeldungen bezeichnet werden. Dass Zollanmeldungen grundsätzlich mit IT-Einsatz abzugeben sind, sollte jedenfalls bleiben. Abgesehen von der Überführung von Waren in ein Zollverfahren erscheint mir eine möglichst frühzeitige Information der Zollbehörde über einzuführende Waren nützlich, wenn sie auf verlässlichen Quellen aufbaut, und das kann der derzeit zur Abgabe 265

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der summarischen Eingangsanmeldung in erster Linie verpflichtete Beförderer der Waren8 nicht bieten, weil er vielfach ein verschlossenes Behältnis übernimmt, über dessen Inhalt er nur so weit informiert ist, wie der Versender und allenfalls auch der Empfänger bereit sind, es ihn wissen zu lassen. Man könnte in einem neuen Zollrecht die Erfassung eines an sich transaktionsbezogenen Vorgangs in das System des Beteiligten dadurch einbinden, dass er als Käufer, Mieter, Kommissionär oder sonstiger künftiger Empfänger eingeführter Waren verpflichtet wird, schon bei Abschluss des diesbezüglichen zivilrechtlichen Vertrages der Zollbehörde eine formatierte Inhaltsangabe des Vertrages – allenfalls zusätzlich noch eine volle Kopie des Vertrages – zu übermitteln; der verpflichtende Inhalt dieser Anmeldung sollte nicht über das hinausgehen, was die Zollbehörde zur Überwachung des Eingangs und einer Beförderung und Zwischenlagerung der Waren im Zollgebiet benötigt, damit auch Fälle, in denen bloß eine Durchfuhr durch das Zollgebiet abgewickelt werden soll, erfasst werden können. Die Anmeldung sollte für das geschlossene Rechtsgeschäft und nicht für die einzelne Sendung erfolgen und im Lauf der Lieferung konkretisiert oder sonst ergänzt werden. Es sollte auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Zollbehörde mit dieser Anmeldung bereits alle Daten erhält, die für die Überführung der Waren in den freien Verkehr oder allenfalls in ein Nichterhebungsverfahren notwendig sind, da der Empfänger ja über diese Daten verfügen sollte, weil er doch keinen unbestimmten Vertrag schließen wird; so könnte diese – nicht mehr summarische – Anmeldung sogleich auch als Zollanmeldung dienen. Sinngemäß dasselbe sollte auch für die Ausfuhr gelten, wo der Ausführer die summarische Ausfuhranmeldung schon bei Vertragsabschluss abgeben und im weiteren Verlauf ergänzen müsste. Diese – summarische oder vollständige – Zollanmeldung wäre von der Zollbehörde zu prüfen, die auch den Anmelder über allfällige rechtliche Einfuhr- oder Verwendungshindernisse informieren sollte, wenn nicht Überlegungen der Betrugsbekämpfung dies ausschließen. Die angenommene Anmeldung wäre zu registrieren und mit einer Kennnummer zu versehen; der Anmelder hätte diese Kennnummer seinem Vertragspartner zur Kenntnis zu bringen und ihn vertraglich zu verpflichten, die Nummer in allen die Sendung betreffenden Papieren und IT-Nachrichten anzugeben. Im Fall von Zollkontrollen im Zollgebiet der Union kann die Zollbehörde – und nur diese und nicht auch ein Beteiligter – unter dieser Nummer den Inhalt der Anmeldung abrufen. An der Zollanmeldung zur Überführung von Waren in ein Zollverfahren müsste sich grundsätzlich nicht viel ändern; bei Anmeldern, die zum Zahlungsaufschub oder zu einem Nichterhebungsverfahren registriert sind, könnte sie aber auf die für die Überlassung der Waren notwendigen Daten beschränkt werden; die bemessungsrele­vanten Daten und die für das anschließende Nichterhebungsverfahren notwendigen In­ formationen könnten nachträglich, bei Überführung in den freien Verkehr periodisch (monatlich) aufsummiert, bei Nichterhebungsverfahren entsprechend der bei 8 Art. 127 Abs. 4 UZK.

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der Registrierung getroffenen Anordnungen der Zollbehörde übermittelt oder angeschrieben werden. 2. Überführung in den freien Verkehr Ob man beibehält, dass den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen einer Bemessung durch die Zollbehörde und einer Selbstbemessung durch den Anmelder belassen wird, ist sekundär. Nicht übersehen sollte man dabei, dass eine Selbstbemessung, in die eine behördliche Bemessung nur eingreift, wenn die Zollbehörde zu einem anderen Ergebnis kommt, doch eine Ersparnis bringen sollte. Vorstellbar wäre mir sogar, dass die Zollverwaltung den Anmeldern bzw. indirekten Zollvertretern Zugang zu dem der Bemessung zugrunde gelegten Datensystem der Zollverwaltung verschafft, so dass diesbezüglich keine Abweichungen möglich sind. 3. Nichterhebungsverfahren – Allgemeines In diesem Abschnitt befasse ich mich mit jenen Zollverfahren, die im geltenden Zollkodex unter der Bezeichnung „Besondere Verfahren“ geregelt sind, greife aber auf den Begriff „Nichterhebungsverfahren“ des Zollkodex aus dem Jahr 19929 zurück, da dieser den Inhalt dieser Verfahren besser zum Ausdruck bringt. Die Behandlung gewisser im internationalen Verkehr verwendeter Umschließungen, Lademittel und Beförderungsmittel und die passive Veredelung passen aber systematisch besser in Regelungen für – vollständige oder teilweise – Befreiungen vom Zoll. Generell soll an die Stelle bisher vorgesehener Bewilligungen für solche Verfahren die Registrierung des Beteiligten treten. Dabei sollte man auch die Frage überdenken, ob die derzeit allgemein zugelassene Möglichkeit, dass der Bewilligungsinhaber anderen Personen gestattet, unter seiner Bewilligung – nach dem neuen Recht unter Berufung auf seine Registrierung – Waren zum betreffenden Verfahren anzumelden, sinnvoll weitergeführt werden kann; ich sehe damit den Sinn der Registrierung – so wie bisher den der Bewilligung – in Frage gestellt. 4. Beförderung von Waren Die Beförderung von Nicht-Unionswaren im Zollgebiet wird auch in einem neuen Zollrecht eines Zollverfahrens, des Versands, bedürfen. Dass der Versand in der Regel transaktionsbezogen sein wird, liegt in der Natur der Sache, was aber nicht dazu führen sollte, dass erprobte systemorientierte Verfahren wie die Überwachung des Versands über eine gesicherte Kontrolle der Abrechnung von Frachtbriefen aufgegeben und durch von Fall zu Fall, wenn auch IT-unterstützt, geführte Kontrollen ersetzt werden. Die Systemorientierung wird auch noch durch die Beförderung (allenfalls auch Lagerung) von nicht körperlichen „Gegenständen“ im umsatzsteuerrechtlichen Sinn wie 9 ABl. EG Nr. L 302/1992.

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etwa Wärme oder Kälte berührt und könnte wegen großer Ähnlichkeiten mit der Behandlung von Waren in Rohrleitungen verbunden werden. 5. Lagerung von Waren Mit der Gestellung – sei es bereits bei der Eingangszollstelle, sei es bei Beendigung eines Versandverfahrens – befinden sich die Waren in vorübergehender Verwahrung. Für diese sollte der Hinweis auf die summarische Eingangsanmeldung oder auf das Versanddokument und für die Beendigung die Zollanmeldung für das anschließende Zollverfahren genügen, die Dauer dieser Verwahrung aber auf wirtschaftlich unbedingt notwendige Zeiträume beschränkt werden. Die im Recht des Unionszollkodex vorgenommene Beseitigung der Vielzahl der Typen von Zolllagern ist zu begrüßen, wenn sie nicht so verstanden wird, dass es nur noch eine einzige vorgegebene Methode der Zollanmeldung zur Überführung in das Verfahren und zur Beendigung des Verfahrens geben kann; alle für sonstige Verfahren zugelassenen Formen der Zollanmeldung, vor allem die Anschreibung in den Aufzeichnungen des Betreibers, müssen auch für die Überführung in das Zolllagerverfahren und für dessen Beendigung anwendbar sein. Entschieden würde ich für eine Beseitigung der Freizonen eintreten; im 21. Jahrhundert kann man die Zollbelange nicht mehr durch Zäune sichern – noch dazu, wo es doch einigermaßen schwierig sein dürfte, die im Unionszollkodex noch immer zwingend verlangte Umzäunung10 auch in Hafenanlagen durchzuführen. Den Schutz der Betreiber bisheriger Freizonen vor Zollforderungen könnte man auch dadurch erreichen, dass bisherige Freizonen als öffentliche Zolllager unter Verantwortung des Einlagerers11 geführt werden. Notwendig würde mir erscheinen, Zolllager nach zwei Systemen führen zu können: Zum einen besteht vor allem für Logistikunternehmen ein Bedarf für Zolllager, in denen ganze Wagen- bzw. Behälterladungen, aber auch kleinere Ladeeinheiten als solche ohne einzelne Erfassung der verladenen Waren Gegenstand der Überwachung sind, zum anderen vor allem für Handelsunternehmen aber auch für Erzeuger von Waren ein solcher für die Erfassung der einzelnen Waren, und zwar nach allen zollrechtlich relevanten Grundlagen außer dem Zollwert, da sich für letzteren maßgebende Elemente bis zum zollrechtlich maßgebenden Zeitpunkt ändern können. Dem müssten für die beiden Systeme unterschiedliche Kontrollmethoden – eher transaktionsbezogen für erstere, eher systembezogene für die zweiten – Rechnung tragen.

10 Art. 243 Abs. 3 UZK. 11 Art. 242 Abs. 2 UZK.

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6. Verwendung von Waren Die Verwendung von Nicht-Unionswaren führt nach dem derzeitigen Zollrecht entweder im Verfahren der vorübergehenden Verwendung oder in dem der Endverwendung zu einer vollständigen oder teilweisen Befreiung vom Zoll. Dabei sollte man nicht übersehen, dass die Endverwendung entweder auf Vorschriften im Gemeinsamen Zolltarif gestützt ist und eine bestimmte Be- oder Verarbeitung verlangt – so wie die nun in die aktive Veredelung eingebaute frühere Umwandlung unter zollamtlicher Überwachung –, also wirtschaftliche Vorgänge, die inhaltlich eine Veredelung sind, oder aber – meist nach der BefrVO – eine bestimmte Verwendung oder den Behalt der eingeführten Waren. Ob alle diese Verschmelzungen unterschiedlicher Vorgänge sinnvoll und vereinfachend sind, möchte ich in Frage stellen. Statt künstlich wirtschaftliche Vorgänge nach überkommenen zollrechtlichen Vorstellungen zu gliedern, sollte man eher eine größere Anzahl von Verfahrensarten in Kauf nehmen. Rechtsfolgen sollen sich nicht nach der Verfahrensart richten, sondern nach der vorgenommenen Behandlung. Die im geltenden Zollrecht beibehaltene Unterscheidung in vorübergehende Verwendung unter vollständiger Befreiung vom Zoll und der unter bloß teilweisen Befreiung vom Zoll ist so kasuistisch formuliert, dass allein schon darin die Gefahr einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichheit liegt. Wäre es da nicht zielführender, Waren, für deren Verwendung nicht schon durch völkerrechtliche Vereinbarung die vorübergehende Verwendung unter vollständiger Befreiung vom Zoll verpflichtend ist, diese Befreiung bis zu einer bestimmten Frist, z.B. drei Monate12, allgemein zuzulassen und bei längerer Verwendung der Waren im Zollgebiet das Verfahren (automatisch und rückwirkend!) in eines unter bloß teilweiser Befreiung vom Zoll übergehen zu lassen, wo der Zoll nach dem für die Beistellung der Waren zu zahlenden Entgelt oder – so wie bisher – nach Bruchteilen des Zolls für die Waren bemessen wird? Ergänzend sollte man aber die Möglichkeit geben, für bestimmte Verwendungen (z.B. in der Union nicht ausreichend verfügbare Geräte für große Infrastrukturbauten) eine längere Frist für die vollständige Befreiung zu geben oder aber für bestimmte Verwendungen eine kürzere Frist oder sogar sofortige bloß teilweise Befreiung zu bestimmen; ob man dies den einzelnen Mitgliedstaaten überlässt oder Ermächtigungen der Kommission vorsieht, lasse ich offen. Derzeit werden Gegenstände zivilrechtlicher Vereinbarungen der Eigentümer von Beförderungsmitteln (Eisenbahnwagen, Container) oder Lademitteln (Paletten) über deren gemeinsame Nutzung (Pool) als vorübergehende Verwendung behandelt. Solche Vereinbarungen erfassen nach den Erfahrungen Wirtschaftsbeteiligte aus dem Zollgebiet und solche aus Drittländern und bestehen darin, dass jeder Teilnehmer eine seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Geschäftsrahmen des Zusammenschlusses entsprechende Menge an Poolgegenständen in den Pool einbringt und nun berechtigt ist, eine entsprechende Menge an Poolgegenständen zur Verfügung zu haben; über12 Vgl. Art. 236 UZK-DA.

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steigt sein Bedarf die eingebrachte Menge, so hat er entweder diese Menge „nachzuschießen“ oder an den Pool eine Art Ausgleichszahlung zu leisten. Meine Idee wäre, für Waren, die in einen Pool eingebracht werden, zu verlangen, dass sie sich im Zollgebiet, in dem der Teilnehmer ansässig ist, (zollrechtlich) im freien Verkehr befinden und Zölle im Zug der Verwendung der Waren im Pool nicht wegen der Ausfuhr erlassen oder erstattet werden dürfen, die Sache also von einer vorübergehenden Verwendung in eine Endverwendung im Sinn des derzeitigen Rechts zu ändern. Sichergestellt müsste jedenfalls sein, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten die Poolvereinbarung und deren Einhaltung prüfen können, auch wenn der Sitz der Poolverwaltung in einem Drittland ist. 7. Veredelung Auch die Veredelung von Waren im Zollgebiet sollte aus wirtschaftlich praktischer Sicht behandelt und die Voraussetzungen und auch die Folgen nicht vom gewählten Verfahren beeinflusst werden; eine Veredelung von Waren in einem Zolllager ist eine Veredelung, auch wenn sie derzeit als „übliche Behandlung“ anders behandelt wird, und unterbricht nicht nur das Verfahren der Lagerung, sondern beendet es und verlangt eine Rückführung der Veredelungserzeugnisse in das Zolllagerverfahren, wenn dies gewünscht ist, da sonst die Aufzeichnungen über das Zollager mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen; für diese Umbuchungen sollten aber nicht neue Zollanmeldungen notwendig sein, sondern allein die Buchhaltung des Zolllagers. Was Veredelung ist, könnte weitgehend aus dem derzeitigen Zollrecht13 beibehalten werden; zu überlegen wäre aber, ob die Zerstörung einer Ware auch in einem neuen Zollrecht als ein Zollverfahren behandelt werden soll, bei dem die üblichen Formen der Beendigung des Verfahrens vielfach daran scheitern, dass das Ergebnis der Zerstörung „nichts“ ist. Auch die frühere Umwandlung unter zollamtlicher Überwachung sollte eher zusammen mit der Endverwendung als ein eigenes Verfahren oder als eigene Gruppe behandelt werden – es soll nicht auf die Zahl der Verfahrensarten ankommen, sondern auf die übereinstimmende Behandlung sowohl im Fall der Wiederausfuhr als auch bei Verbleib der Waren im Zollgebiet.

IV. Verfahrensübergreifende Fragen 1. Wirtschaftliche Voraussetzungen Der Grundsatz eines neuen Zollrechts sollte sein, dass alle Nichterhebungsverfahren allen Beteiligten zugänglich sind, der Beteiligte sich aber für diese Verfahren bei der Zollbehörde registrieren muss14, damit notwendige Entscheidungen betreffend Überwachungsmaßnahmen und Besicherung der nicht erhobenen Abgaben getroffen wer13 Art. 5 Nr. 35 UZK. 14 Siehe II.3.

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den können. Der Entgang von Zöllen und damit Eigenmitteln der Union darf kein Kriterium für eine Ablehnung sein. Da es aber kaum möglich sein wird, alle wirtschaftlichen und rechtspolitischen Situationen vorhersehend zu berücksichtigen, sollte die Kommission die Möglichkeit erhalten, bestimmte Verfahren durch einen allgemeinen Rechtsakt zu untersagen oder an Voraussetzungen oder Bedingungen zu knüpfen, die die Wahrung der wirtschaftlichen oder politischen Ziele der Union, nicht die Interessen einzelner Personen oder Gruppen, sichern. Der „Schutz“ von im Zollgebiet ansässigen Herstellern, von hier gewonnenen oder erzeugten Waren und auch der Eigenmittel der Union wird sich eher daraus ergeben, dass Wirtschaftsbeteiligte in der Regel wirtschaftlich denken und daher auch ein vereinfachtes Zollverfahren nicht auf sich nehmen werden, wenn sie den angestrebten wirtschaftlichen Erfolg im Binnenmarkt erreichen können. 2. Ersatzwaren Die Überlegungen zu wirtschaftlichen Voraussetzungen gelten auch für den Einsatz von Ersatzwaren in einem Nichterhebungsverfahren. Schon das geltende Zollrecht akzeptiert, dass die Verwendung von Ersatzwaren sich nicht auf Notfälle beschränken soll15, macht dann aber so viele einander zum Teil widersprechende Regelungen, dass es schwer ist, darauf eine Entscheidung zu gründen. Wichtig erscheint mir, dass in systemorientierter Betrachtung über die Zulassung von Ersatzwaren ermöglicht wird, dass in ein Nichterhebungsverfahren übergeführte Waren untereinander oder mit „gleichartigen“ Unionswaren gemeinsam und sogar vermischt oder vermengt gelagert oder verwendet/veredelt werden können und die Beendigung des Verfahrens sodann nach dem Ergebnis einer buchmäßigen Zuweisung erfolgt. Wenn im Unionszollkodex16 die Verwendung von Ersatzwaren untersagt wird, weil dadurch in das Drawback-Verbot einer Freihandelsvereinbarung eingegriffen würde, handelt es sich meiner Ansicht nach um eine Verwechslung von Ursache und Wirkung; es kommt doch nicht auf die Verwendung von Ersatzwaren an, sondern darauf, ob die Freihandelsvereinbarung ein strenges Identitätsprinzip verlangt oder eine buchmäßige Trennung der Waren nach ursprungsrechtlichen Kriterien zulässt. Bisher überhaupt nicht zum Gegenstand eines allgemeinen Unionsrechtsakts gemacht ist die Verwendung von Nicht-Unionswaren aus verschiedenen Überführungen in das jeweilige Nichterhebungsverfahren; der Grund dafür dürfte darin liegen, dass man nach wie vor transaktionsbezogen am System der Zuordnung zu einer bestimmten Überführung in das Verfahren hängt und daher nicht systemorientiert zulassen will, dass auch diese Nicht-Unionswaren, die unter Umständen einen anderen zollrechtlich relevanten Ursprung haben als die sonst verwendeten, in einer system­ orientierten Überwachung berücksichtigt werden.

15 Art. 169 Abs. 1 UZK-DA. 16 Art. 223 Abs. 3 Buchstabe b UZK.

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Ersatzwaren bei vorübergehender Verwendung zuzulassen17 macht die vorübergehende Verwendung zu einer Endverwendung und sollte daher dort berücksichtigt werden.18 Wichtig erscheint mir für eine Zulassung von Ersatzwaren, dass sie nicht nur wirtschaftlich die im Zollverfahren befindlichen Nicht-Unionswaren ersetzen können, sondern auch ihre Zuordnung zu derselben KN-Position, zusätzlich aber noch, dass sie auch von der Akzeptanz durch die Beteiligten und durch die Öffentlichkeit gleich gestellt sind; der Auftraggeber einer Veredelung muss das Recht haben, auf der Verwendung einer von ihm beigestellten Ware zu bestehen, und die Öffentlichkeit muss sicher sein können, dass gentechnisch veränderte Vorstoffe für Lebens- oder Futtermittel oder unter Verletzung von Markenrechten erzeugte Ersatzteile u.dgl. nicht unter Berufung auf eine zollrechtliche Zulässigkeit verwendet werden, auch wenn sie wirtschaftlich geeignet und zolltariflich gleich einzureihen wären. 3. Verfahren mit laufender Verrechnung Im „traditionellen“ Zollrecht werden Nichterhebungsverfahren auf der Grundlage der von der Zollstelle angenommenen Zollanmeldung überwacht; aus ihr ergeben sich auch Hinweise zur Ermittlung der Grundlagen für eine allenfalls notwendig werdende Bemessung von Zöllen für Waren, die in das Verfahren übergeführt worden sind. Letzteres ist durch die Entwicklung mit dem Unionszollkodex bereits in einigen Bereichen durchbrochen, weil nicht mehr die Bemessungsgrundlagen zum Zeitpunkt der Überführung der Waren in das Verfahren maßgebend sind, sondern grundsätzlich die zum Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld19. Auch mit den betrieblichen Gegebenheiten der Beteiligten stimmt die auf die einzelnen Zugänge abgestellte Überwachung nicht mehr überein, wenn der Beteiligte – mit Zustimmung der Zollbehörde vor allem unter Zulassung von Ersatzwaren, allenfalls mit vorzeitiger Ausfuhr – die in das Nichterhebungsverfahren übergeführten Waren untereinander und mit Ersatzwaren gemeinsam – allenfalls sogar vermischt oder vermengt – lagern und verarbeiten kann. Für diese Fälle bietet sich in Weiterführung der unter dem Unionszollkodex20 bereits begonnenen Entwicklung ein Verfahren an, bei dem  – Erfahrungen hatten wir in ­Österreich nur für Lagerung und für aktive Veredelung und das ohne vorzeitige Ausfuhr – die Überwachung nicht mehr auf die einzelnen Überführungen von Waren in das Verfahren abstellt, sondern diese Überführungen und auch die Beendigungen des Verfahrens in laufenden Aufzeichnungen des Bewilligungsinhabers (bei der Zollstelle werden keine Aufzeichnungen geführt, sondern nur die Belege für die Kontrolle der Aufzeichnungen gesammelt und/oder gespeichert!) erfasst werden, aus denen sich der Stand des Vorrats ergibt, der von der Zollbehörde auch körperlich überprüft werden kann. 17 Art. 223 Abs. 2 Buchstabe b UZK und Art. 169 Abs. 8 UZK-DA. 18 Siehe als Beispiel III.6. letzter Absatz. 19 Art. 85 Abs. 1 und 86 Abs. 3 UZK. 20 Art. 174 Abs. 2 UZK-DA.

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Diese Aufzeichnungen bilden eine Art von virtuellen Lagern. So wie sowohl die Einfuhrwaren als auch die Veredelungserzeugnisse bei Geltung des Erfordernisses einer strikten Nämlichkeit der Waren in verschiedenen physisch getrennten Lagern gelagert werden müssten (was zu einem unüberschaubaren Aufwand führen kann), wird für Waren, die die Erfordernisse der Verwendung von Ersatzwaren erfüllen, die buchmäßige Erfassung getrennt; es wird also für jede in das Verfahren übergeführte ­Warenart je nach den zollrechtlich relevanten Umständen  – Unionswaren, Nicht-­ Unionswaren (mit oder ohne Ursprung für ein Präferenzabkommen; nicht aber nach unterschiedlichen Zollwerten), allenfalls Farbe, Größe oder sonstige Merkmale – ein eigenes virtuelles Lager angelegt, auf dem zunächst einmal die eingehenden Waren erfasst werden; bei vorzeitiger Ausfuhr werden die dafür verwendeten Waren (grundsätzlich Unionswaren; es könnten aber auch aus einer anderen Lieferung in das Verfahren gelangte Nicht-Unionswaren sein) im betreffenden virtuellen Lager bestandmindernd noch vor dem entsprechenden Zugang erfasst. Unterschiedliche Zollwerte eingeführter Waren werden dadurch berücksichtigt, dass bei jedem Zugang aus dem bisher erfassten Zollwert und dem des Neuzugangs ein Durchschnittswert errechnet wird, der sodann einer für Waren dieses virtuellen Lagers allenfalls entstehenden Zollschuld zugrunde zu legen ist; aus diesem Durchschnittswert werden Werte ausgesondert, die sich auf Warenzugänge beziehen, die länger als die im Unternehmen übliche Durchschnittszeit des Warenumschlags zurückliegen. Wertzollrechtlich erscheint diese Vorgangsweise zulässig, wenn für die Bemessung einer Zollschuld nicht der Wert zur Zeit der Überführung der Waren in das Verfahren, sondern der im Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld maßgebend ist (worauf noch einzugehen sein wird21), da es sich dann nicht mehr um den Transaktionswert der eingeführten Ware, sondern um einen errechneten Wert22 handelt. Ebenso müssen getrennte virtuelle Lager für die Veredelungserzeugnisse geführt werden, um bei der Beendigung des Verfahrens feststellen zu können, ob der Vorgang für die Beendigung diesem oder jenem virtuellen Lager an Veredelungserzeugnissen zuzurechnen ist. Damit sollte auch die Frage des Statuswechsels der Ersatzwaren und der ersetzten Waren aus einer neuen Sicht betrachtet werden können: Es sollte genügen, dass sichergestellt ist, dass mit der Beendigung des Verfahrens unter Verwendung von Ersatzwaren das virtuelle Lager so entlastet werden kann, als wären in das Verfahren übergeführte Waren verwendet worden. 4. Ausbeute, Abfälle und Reste Die Ausbeute,23 also die Menge oder der Anteil an Erzeugnissen, die aus den in das Verfahren übergeführten Nicht-Unionswaren gewonnen werden kann, spielt in allen Verfahren, die eine Änderung oder Verarbeitung der in das Verfahren übergeführten 21 Siehe V.2. 22 Art. 74 Abs. 2 Buchstabe a (allenfalls auch b) UZK. 23 Art. 5 Nr. 38 UZK.

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Waren zulassen, eine Rolle. Allgemeine Regelungen, die den wirtschaftlichen und betrieblichen Gegebenheiten des jeweiligen Verfahrens nicht Rechnung tragen, sollten unterbleiben. Die Ausbeute sollte in einem neuen Recht vielmehr zunächst vom Beteiligten bei der Zollbehörde angezeigt werden, die diese Angaben im Lauf des Verfahrens – nicht bei Probeverarbeitungen, wo unter besonderen Bedingungen gearbeitet werden kann  – auf ihre Richtigkeit prüft und das Prüfungsergebnis gegenüber dem Beteiligten niederschriftlich oder durch Entscheidung festhält. Es soll nicht darauf ankommen, dass eine bestimmte Ausbeute aus den Waren herausgepresst wird, um ein fiskalisch erwünschtes Ergebnis zu erzielen, sondern darauf, dass die Ausbeute den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht und sichergestellt ist, dass nicht wirtschaftlich unverwertbare Waren zu verzollen sind, verwertbare Waren aber unverzollt in den Wirtschaftskreislauf gelangen. Abfälle und Reste können in allen Nichterhebungsverfahren, die die Bearbeitung von Nicht-Unionswaren zulassen, anfallen; das bisherige Zollrecht24 trifft aber dafür nur lückenhafte Regelungen, die annehmen lassen, dass sonst solche Abfälle und Reste als Ergebnisse des zugelassenen Verfahrens zu behandeln und nach den für sie anwendbaren Grundlagen zu verzollen sind. Ein neues Zollrecht sollte jedenfalls solche Abfälle und Reste sowohl aus der Sicht des betreffenden Verfahrens als auch aus der möglichen Nutzung der Abfälle und Reste regeln. Man wird bei einer Neuregelung auch eine neue Sicht der Wirtschaft und der Öffentlichkeit berücksichtigen müssen: Abfälle und Reste sind in erster Linie zu vermeiden und in zweiter Linie wirtschaftlich – wenn auch nur zur Energiegewinnung durch Verbrennen – zu verwerten! Eine solche Verwertung ist sicher eine wirtschaftliche Nutzung, meist aber nicht für den Inhaber des Zollverfahrens, der für die Verwertung in der Regel bezahlen muss, wohl aber für den Verwerter. Es ist daher eine politische Entscheidung, ob eine solche zur Zerstörung der Abfälle oder Reste führende Verwertung dem Nichterhebungsverfahren zugerechnet wird und zu einem völligen Untergang der im Nichterhebungsverfahren befindlichen Waren und zu deren Zollfreiheit führt oder einem der Beteiligten als Ergebnis des Nichterhebungsverfahrens zugerechnet wird und zur Erhebung des Zolles führt. Die Fiktion der Überführung dieser Waren in das Zolllagerverfahren25 wird nicht ausreichen, wie oben schon dargelegt wurde.

V. Zollschuldrecht Zunächst eine einleitende Bemerkung: Man sollte, bevor man ein neues Zollschuld­ recht konzipiert, genau prüfen, was man im Verfahrensrecht zugelassen hat oder zulassen will, und dem dann im Zollschuldrecht Rechnung tragen.

24 Art. 254 Abs. 6 und 7 UZK. 25 Siehe Art. 198 Abs. 2 UZK.

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1. Entstehen und Fälligkeit der Zollschuld Für das Entstehen der Zollschuld im Regelfall, also bei der Überführung von Waren in den freien Verkehr, sollte – und zwar bereits durch die Zulassung als Anmelder – gewährleistet werden, dass ohne Rücksicht auf einzelstaatliches Zivilrecht jeglicher Zusammenschluss von natürlichen und juristischen Personen auch als Zollschuldner, und zwar in allen Mitgliedstaaten, in Betracht kommt, weshalb man eine Gesamtschuld aller an einem solchen Zusammenschluss teilnehmenden Personen vorsehen sollte – das neben den (in Österreich in das Unternehmensrecht einbezogenen) juristischen Personen kraft Unionsrecht26. Dass die Zollschuld wegen Verstoßes im Zeitpunkt der Nichtbeachtung einer zollrechtlichen Verpflichtung entsteht, würde auch in ein neues Zollrecht passen. Zu überlegen aber wäre, ob nicht als Ort des Entstehens der Zollschuld in einem von einer Re­ gistrierung erfassten Verfahren der Ort der Registrierung bestimmt werden sollte, weil dort alle Unterlagen und Sicherungsmaßnahmen greifbar sein sollten; wenn der Verstoß in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, müssten ein Anteil an Zoll und die sonstigen Eingangsabgaben an diesen Mitgliedstaat überwiesen werden; mit den Partnerstaaten des gemeinsamen Versandverfahrens müsste eine vertragliche Regelung getroffen werden, die auch die Überweisung von Beträgen an die Mitgliedstaaten sichert. Die Zollschuld bei vorübergehender Verwendung unter bloß teilweiser Befreiung vom Zoll sollte nicht bereits bei der Überführung in das Verfahren entstehen, sondern erst mit dessen Beendigung bzw. dem Erreichen der 100% des Zolles, um eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Bemessungsgrundlagen mit denen bei Zollschuld wegen Verstoßes durch Nichtbeachtung einer Verwendungspflicht zu erreichen. 2. Bemessung der Zollschuld Dass die Grundlagen (zolltarifliche Einreihung, Ursprung, Zollwert, besondere Grundlagen etwa bei teilweiser Befreiung) zum Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld der Bemessung des Zolles zugrunde zu legen sind, ist die natürliche Konsequenz des Entstehens der Schuld. Der Grundsatz der Heranziehung der Grundlagen zum Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld gilt nach dem geltenden Zollrecht27 auch bei Änderung der Grundlagen in einem vorangegangenen Zollverfahren. Gegen das in diesem Bereich dem Anmelder gewährte Wahlrecht für die Heranziehung der vor der Behandlung oder Veredelung maßgebenden Grundlagen müssen Bedenken aus der Sicht der Gleichbehandlung erhoben werden, da es diese Möglichkeit nicht allgemein gibt. Dass dieser Grundsatz auch zu kuriosen Ergebnissen führen kann, wenn etwa zum Lackieren eines PKW in die aktive Veredelung eingeführter Lack bei Verbleib des PKW im Zollgebiet als PKW zu verzollen ist, möchte ich nicht verschweigen. Dennoch bin ich für eine solche Re26 Art. 5 Nr. 4 letzter Satzteil UZK. 27 Art. 86 Abs. 2 und 3 UZK.

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gelung, da es nicht mehr um eine Ware geht, die aus einem Drittland in das Zollgebiet der Union verkauft wurde,28 sondern um die Besteuerung einer im Zollgebiet hergestellten Ware unter Berücksichtigung ihrer nicht im freien Verkehr befindlichen Komponenten. Außerdem würde so die im Zollgebiet erfolgte Behandlung einer bereits vor der Verbringung der Waren in das Zollgebiet unter Verwendung von in passiver Veredelung beigestellten Unionswaren erfolgten Behandlung gleichgestellt. Zu überlegen wäre allerdings, ob systemgerecht aus dem Zollwert dann nicht nur die im Zollgebiet entstandenen Kosten und sonstigen Wertschöpfungen für Waren und Leistungen29, sondern und auch der Wert der eingesetzten Unionswaren auszuscheiden wäre, wodurch vielleicht der Bedarf nach dem oben erwähnten Wahlrecht des Anmelders wegfallen und die Gleichbehandlung mit einer wegen Verstoßes entstandenen Zollschuld erzielt werden könnte; für die wenigen Fälle spezifischer Zollsätze müsste man eine Lösung finden; hier würde dies zu weit führen. Unbedingt notwendig ist bei Beibehaltung dieses Grundsatzes, dass die Erhebung von Sonderzöllen (Antidumpingzölle, Strafzölle, Ausgleichszölle) dadurch nicht umgangen werden kann; es müsste daher Vorsorge getroffen werden, dass ohne Rücksicht darauf, welche Beschaffenheit der Waren der Bemessung des „normalen“ Zolls zugrunde gelegt wird, der Sonderzoll nach der Beschaffenheit der eingeführten Ware erhoben wird. Sondermaßnahmen für Gruppen von „normalen“ Zöllen erscheinen unzulässig und gleichheitswidrig – auch für den Bereich der Landwirtschaft, für den die Kommission schon vor Jahren30 festgestellt hat, dass es „keine signifikanten Unterschiede zwischen Agrarzöllen und anderen Zöllen gibt“; Sonderzölle nach „landwirtschaftlichen Unionsvorschriften“ müssten aber natürlich gleich den anderen Sonderzöllen behandelt werden. 3. Besicherung der Zollschuld In einem modernen, systemorientierten Zollrecht soll auch die Besicherung geschuldeter oder allenfalls im weiteren Verlauf eines Zollverfahrens anfallender Zölle nicht allein aus der Sicht des Einzelfalles geregelt werden. Generell sollten sich schon die Gesetzgeber überlegen, welche Kosten die Sicherheitsleistung den Wirtschaftsbeteiligten verursacht – nicht, dass sie Geld dafür aufwenden müssten, da die Barsicherheit wohl bereits allgemein die Ausnahme sein wird, sondern wie stark Bürgschaften oder Garantien, die für mögliche, aber nicht sichere Zollschulden verlangt werden, den Garantierahmen eines Unternehmens und so auch den Zugang zu produktiven Krediten beschränken. Man wird dagegen einwenden, dass das Unionsrecht Formen der Sicherheitsleistung zulässt, die den Kreditrahmen des Beteiligten nicht beeinträchtigen würden; das wäre bei Sicherheit durch Verpfändung von Liegenschaften oder Forderungen bei rascher Betrachtung richtig, doch sind gerade diese Sicherheiten solche, die den Zollbehörden bei der Annahme und 28 Vgl. Art. 1 Abs. 1 GATT-Zollwertkodex. 29 Art. 86 Abs. 1 UZK. 30 Finanzbericht zum EU-Haushalt 2011, S. 35

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auch bei der Realisierung Wissen oder Ermittlungsmöglichkeiten abverlangen würden, die sinnvollerweise nicht erwartet werden können31 oder die Anwendung eines vor den Zivilgerichten abzuwickelnden Verfahrens erfordern, das auf zollrechtliche oder EU-rechtliche Vorgaben keine Rücksicht nehmen kann. Man hat hier einfach altes Recht der Mitgliedstaaten abgeschrieben, das vielleicht bei Verfahren, die nur einen Mitgliedstaat betreffen, funktionieren kann, der Struktur der Union aber in keiner Weise Rechnung trägt. Da die Einhebung der Zölle der Durchführung der unionsrechtlich geregelten zollrechtlichen Vorschriften zuzurechnen ist, fällt sie in die Zuständigkeit, aber auch in die finanzielle Verantwortung der Mitgliedstaaten. Unionsrechtliche Regelungen wären daher auf jene Fragen zu beschränken, die einer unionsweit einheitlichen Regelung bedürfen, und zwar nicht, weil es die Gesetzgeber für wünschenswert erachten, sondern weil es objektiv der Einheitlichkeit bedarf.32 In Einzelfällen bei einem bisher nicht erfasst gewesenen Beteiligten wird man eine möglichst genau der Höhe der aushaftenden oder im Nichterhebungsverfahren unerhoben bleibenden Abgaben entsprechende Sicherheit kaum vermeiden können, doch sollte ein neues Zollrecht auch da den Zollbehörden ausreichend Flexibilität gewähren, damit nicht übermäßig Zeit auf die Berechnung der Sicherheit statt auf die Kontrolle des Vorgangs aufgewendet wird. Bei einer Registrierung für eine längerfristige Ausübung von Zahlungsaufschub oder Nichterhebungsverfahren sollte die Gesamt­ sicherheit, und zwar grundsätzlich zusammen für alle durch den registrierten Be­ teiligten geschuldeten Zölle und sonstigen Eingangsabgaben, die Regel sein; für solche Fälle eine Sicherheit in Höhe der jeweils geschuldeten oder unerhoben gebliebenen Abgaben zu verlangen, führt zu einem unvertretbaren Aufwand, da jede einzelne ­Warenbewegung zu einer Forderung nach zusätzlicher Sicherheit führen kann, aber auch jede Entrichtung von aufgeschobenen Zollschulden und jede Beendigung eines Nichterhebungsverfahrens entlastend erfasst werden muss. Wie das vor allem im Versandverfahren funktionieren soll, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Die Zollämter – und wir sollten es unter einem neuen Zollrecht immer nur mit einem Zollamt zu tun haben33 – haben genug Erfahrung, um Sicherheiten so zu bemessen, dass nicht nur der Höhe der Zollschuld, sondern auch den Risikofaktoren beim betreffenden Beteiligten Rechnung getragen ist. Eine unterschiedliche Behandlung von Sicherheiten für bereits entstandene und für möglicherweise entstehende Zollschulden34 erscheint mir wenig sinnvoll, da es für beide Bereiche um denselben Risikobereich geht; die in diesbezüglichen Diskussionen fallweise ins Treffen geführte Verpflichtung aus dem Primärrecht bzw. dem Haushaltsrecht konnte ich bisher nicht finden; die im Haushaltsrecht35 gemachte Unterscheidung nach der Verbuchung der Eigenmittel verleitet aber zu dieser Annahme.

31 Siehe dazu eingehende Ausführungen in EU-ZR Rz. 320.3.ff. 32 Art. 291 Abs. 2 AEUV. 33 Siehe VI. 34 Art. 95 Abs. 2 und 3 UZK. 35 Art. 6 Abs.3 erster und zweiter UA Eigenmittel-DVO.

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Ein neues Zollrecht sollte aber auch die Rechtsstellung des Bürgen in einer seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Rolle entsprechenden Form klären: Er gibt eine Bürgschaftserklärung ab, die von der Zollbehörde angenommen zu einem zivilrechtlichen Vertrag zwischen ihm und dem betreffenden Staat36 führt; den Inhalt dieses Vertrages bestimmt aber nahezu allgemein das Zollrecht, worauf auch der EuGH verweist, da er die Zuordnung zu Zivil- und Handelssachen davon abhängig gemacht hat, dass es nicht um die Ausübung von Befugnissen durch den Staat geht, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen,37 dann aber keine abschließende Konsequenz daraus zieht. 4. Mitteilung und Einhebung der Zollschuld Damit Abgaben eingehoben werden können, muss nicht nur die Abgabenschuld entstanden, sondern diese auch konkret dem Schuldner bekannt gegeben, also „mitgeteilt“ sein. Durch eine in die IT-unterstützte Abfassung der Zollanmeldung integrierte Berechnung der geschuldeten Abgaben könnte diese Mitteilung ersetzt werden und die Zollbehörde könnte sich durch eine Vernetzung der Systeme der Beteiligten mit denen der Zollverwaltung diesbezügliche Nachprüfungen weitgehend ersparen. Die Barzahlung der Abgaben vor der Überlassung der Waren sollte in einem neuen Zollrecht an ihren Platz verwiesen werden, nämlich als Ausnahme für Schuldner, die nicht für einen Zahlungsaufschub registriert sind. Die Regel sollte der Zahlungsaufschub sein, für den den Mitgliedstaaten im Rahmen des Haushaltsrechts ausreichend Flexibilität zugestanden werden sollte, damit sie Zahlungstermine verschiedener Abgaben verbinden können; in diesem Rahmen sollte eine periodische (monatliche) Zusammenfassung der geschuldeten Beträge zur allgemeinen Regel gemacht werden. Ein einfacher Zugang zum Zahlungsaufschub sollte aber mit einer strengen Konsequenz bei Nichtbeachtung der Aufschubfrist verbunden werden; jedenfalls sollte ein Widerruf nicht eines Vorhalteverfahrens bedürfen, da der Beteiligte ohnehin weiß oder zumindest wissen müsste, dass er säumig ist. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Zahlungsaufschub durch eine generelle Norm (im Zollkodex) aufgehoben oder zumindest ausgesetzt wird, wenn der Verzug eine – sehr kurze (z.B. drei Arbeitstage) – Frist überschreitet. Die derzeit vorgesehenen Verzugsfolgen38 sind gut und richtig konzipiert, passen aber eher für Rückstände aus Einzelfällen als für ein laufendes Verrechnungsverfahren, in dem die Verzinsung der Abgaben für einen Fall einen relativ geringen Betrag ausmachen würde und nicht verhindern könnte, dass Fristen nicht ernst genommen werden. Ausnahmen von der Mitteilungspflicht mit der Folge, dass die davon betroffenen Abgaben auch nicht eingehoben werden dürfen, wird es auch in einem neuen Zollrecht vor allem für Bagatellbeträge geben müssen. Dabei sollte man nicht einfach geltendes 36 Nicht der Union! Siehe die Anhänge 32-01 bis 32-03 der UZK-IA. 37 EuGH in Rs. C-266/01. 38 Art. 114 UZK.

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Recht39 kopieren, sondern zunächst einmal prüfen, ob die Regelung tatsächlich zu einer Vereinfachung führt. Der Umstand, dass es einen Verzicht auf die Mitteilung nur für wegen Verstoßes entstandene Zollschulden gibt, muss den unbefangenen Leser zumindest erstaunen; die Begründung, dass er bei anderen Zollschulden wegen des Einsatzes der Datenverarbeitung keine Vereinfachung brächte, ist unvollständig, weil es auch in Zukunft Fälle geben wird, in denen eine IT-unterstützte Bemessung nicht möglich ist, und ist gleichheitswidrig, weil inhaltlich vergleichbare Vorgänge unterschiedlich behandelt werden. Für die Zollstellen wie für die Beteiligten wäre es einfacher, für eine allgemeine Zollbefreiung eine Wertgrenze so anzusetzen, dass in der Regel der angestrebte Bagatellbetrag eingehalten wird. Rechtlich problematisch erscheint mir die Ausnahme von der Mitteilungspflicht für vorläufige Antidumpingzölle; sie trifft zwar hinsichtlich der Zahlungsverpflichtung richtig, übersieht aber, dass dem Beteiligten durch das Unterbleiben einer Mitteilung die Möglichkeit genommen wird, einen Rechtsbehelf gegen die Anwendung (Belastung der Sicherheit) des vorläufigen Zolls zu ergreifen. 5. Befreiung, Erlass und Erlöschen von Abgaben a) Zollbefreiungen Zu den Zollbefreiungen gehört die bisher schon in diesem Bereich geregelte völlige oder allenfalls nur teilweise Befreiung für Rückwaren, die künftig eine einzuführende vorübergehende Ausfuhr berücksichtigen müsste. Hier sollte aber auch die derzeitige passive Veredelung geregelt werden, deren wesentlicher Inhalt ja die völlige oder – hier die Regel bildende – bloß teilweise Zollbefreiung ist; wie für die Nichterhebungsverfahren in der Einfuhr sollte auch hier auf die Anwendung wirtschaftlicher Voraussetzungen und auf die formelle Bewilligung des Verfahrens grundsätzlich verzichtet werden – mit der Übertragung der Befugnis an die Kommission, durch allgemeinen Rechtsakt Fälle zu bestimmen, in denen von diesem Grundsatz aus Gründen der Wirtschafts- oder Handelspolitik der Union abgewichen werden muss. Die Möglichkeit des Einsatzes von Ersatzwaren sollte gleich wie bei aktiver Veredelung gegeben sein, wie es auch im geltenden Zollrecht schon der Fall ist, was einen besonderen „Standardaustausch“ überflüssig macht.40 Ein wichtiger Bereich ist hier aber die Befreiungsverordung, die nicht wieder – so wie beim Unionszollkodex – als eigener Rechtsakt bestehen bleiben sollte; im Hinblick auf ihr Alter (im Jahr 2009 wurde nur der Text der Verordnung aus dem Jahr 1983 mit deren erfolgten Änderungen „kodifiziert“) wäre aber eine gründliche Durchsicht in Richtung auf ihre Aktualität geboten.

39 Art. 102 Abs. 1 Buchstabe d UZK und Art. 88 UZK-DA. 40 Siehe diesbezüglich EU/ZR Rz. 753.8.1.

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b) Erlass und Erlöschen der Zollschuld Dass ich hier nur von „Erlass“ und nicht auch von „Erstattung“ spreche, verfolgt rechtssystematische Überlegungen: „Erlass“ bezieht sich nach der Definition des Unionszollkodex41 nur auf noch nicht entrichtete Abgaben, „Erstattung“42 auf entrichtete. „Erlass“ sollte aber allgemein der Verzicht auf eine Zollschuld sein und dadurch vollzogen werden, dass von einer buchmäßigen Erfassung und Mitteilung der erlassenen Schuld abgesehen und eine bereits entrichtete Schuld gutgeschrieben und aufgerechnet oder zurückgezahlt wird. Schuldhaftes Verhalten sollte bei Erfüllung der rechtlichen Voraussetzungen den Erlass nicht ausschließen, sondern Strafen oder Sanktionen nach sich ziehen. Auf der Basis der Erlass-/Erstattungsfälle des Unionszollkodex dazu noch einige Bemerkungen: Bei „zu hoch festgesetzten Abgaben“43 erweist sich der Ausschluss bei Vorliegen von Täuschung besonders eigenartig; wenn die Täuschung darin bestanden hat, dass andere als die tatsächlich vorhandenen Waren angemeldet und der Zollbemessung zugrunde gelegt wurden und dies erst später entdeckt wird, sind die Zölle für die tatsächlich eingeführten Waren zu erheben, die Zölle für die angemeldeten, aber überhaupt nicht eingeführten Waren können aber nicht erstattet werden – Strafe ist richtig, aber nicht so. Der Erlass für „rückgesendete Waren“44 wird an zahlreiche Bedingungen geknüpft, für die aber oft noch in demselben Absatz Ausnahmen zugelassen sind; in einem modernen Zollrecht könnte man sich doch auf die Bedingung beschränken, dass die Waren an den oder für den seinerzeitigen Lieferer aus dem Zollgebiet ausgeführt werden und im Zollgebiet nicht so verwendet worden sind, dass in einem Nichterhebungsverfahren Zoll zu erheben wäre. Ich würde sogar so weit gehen, dass auch Behandlungen, die in einer aktiven Veredelung zulässig gewesen wären, und auch die Lieferung an eine andere in einem Drittland ansässige Person als den seinerzeitigen Lieferer, den Erlass nicht hindern, was – in etwa – die mit dem Unionszollkodex abgeschaffte aktive Veredelung nach dem System der Zollrückvergütung wieder aufleben ließe; für die Wirtschaftsbeteiligten könnte dies bei sinkender Zollbelastung eine Verbesserung der Disponierbarkeit bringen, und die Union hätte – wenn auch nur vorübergehend – die Zolleinnahmen. Den oft als Vertrauensschutz bezeichneten Erlass wegen „Irrtums“45 der zuständigen Behörde sollte man einmal darauf prüfen, ob er nicht dem Beteiligten Prüfpflichten auferlegt, die die Zollbehörde selbst nicht erfüllen kann. Außerdem „schützt“ er nur

41 Art. 5 Nr. 29 UZK. 42 Art. 5 Nr. 28 UZK. 43 Art. 117 UZK. 44 Art. 118 UZK. 45 Art. 119 UZK.

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bei nachträglicher Erfassung, während „Irrtümer“ vor der erstmaligen Festsetzung unerwähnt bleiben. Das Erlöschen der Zollschuld sollte aus Gründen der Rechtssicherheit auf Situationen beschränkt werden, in denen es sinnlos wäre, einen Erlass auszusprechen, weil der Empfänger der diesbezüglichen Entscheidung nicht bekannt oder nicht erreichbar ist46. In allen anderen bisher für das Erlöschen vorgesehenen Fällen47, in denen Vo­ raussetzungen zu prüfen sind, sollte je nach dem Ermittlungsergebnis ein Erlass ausgesprochen oder verweigert werden.

VI. Zentrale Zollabwicklung 1. Heimatzollstelle Schon bei der Behandlung des Beteiligten48 habe ich mich mit dessen Erfassung durch Registrierung bei einer Zollstelle befasst. Ich möchte diesen Gedanken nun aus der Sicht meiner bisher festgehaltenen Ideen für ein neues Zollrecht darstellen: Ich sehe in einer generellen Zentralisierung der Zollabwicklung eine wesentliche Voraussetzung für weitgehende Erleichterungen und Vereinfachungen ohne Gefährdung der Zollinteressen, weil durch die Zusammenfassung der Vorgänge bei einer Behörde persönliche Umstände der beteiligten Personen und Auswirkungen auf die Zollbelange besser erfasst und berücksichtigt werden können. So soll bereits die Registrierung des Beteiligten grundsätzlich bei der Zollbehörde erfolgen, in deren Bereich der Beteiligte „ansässig“ ist – ich nenne sie daher „Heimatzollstelle“; dafür sollte man aber nicht unbedingt auf den Unternehmenssitz abstellen, sondern auch eine Registrierung bei der Zollbehörde zulassen, in deren Bereich sich bloß eine Niederlassung des Beteiligten befindet, bei der Zugang zu den betrieblichen Aufzeichnungen über die zollrechtlich relevanten Vorgänge gegeben ist; es kann daher für einen Beteiligten unter Umständen auch mehrere Zollbehörden geben, bei denen er registriert ist, die aber vor allem finanziell relevante Daten austauschen müssten, weil eine Zollschuld nur für eine Person und nicht für eine organisatorische Einrichtung dieser Person entstehen kann. Eine freie Wahl der Zollbehörde wird bei Beteiligten zugelassen werden müssen, die im Zollgebiet weder ansässig sind noch eine die Kriterien erfüllende Niederlassung haben; ob und unter welchen Voraussetzungen in einem solchen Fall aber auch wesentliche Erleichterungen hinsichtlich der Sicherheitsleistung oder Vereinfachungen im Verfahren erfasst werden können, habe ich eher Zweifel. Die bisher für einige Bereiche vorgesehene Zuständigkeit nach dem Ort der ersten Verwendung oder Veredelung im Zollgebiet49 erscheint mir nicht brauchbar, da dort eine Überwachung, wie ich sie für notwendig erachte, nicht um46 Siehe dazu Art. 124 Abs. 1 Buchstaben a, b, c, allenfalls g UZK. 47 Art. 124 UZK. 48 Siehe III.3. 49 Siehe Art. 162 UZK-DA.

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fassend möglich ist. Die Überwachung des Betriebs (nicht auch die Registrierung!) von Zolllagern  – allenfalls auch die Erfassung von Versandanmeldungen  – könnte aber aus praktischen Überlegungen durch die nach dem Standort zuständige Zollstelle erfolgen, die jedoch die Heimatzollstelle von Unregelmäßigkeiten benachrichtigen müsste, weil dort Sicherheit und Sanktionen (Widerruf!) verfügbar sein müssten. Dass nach meinem Konzept nicht mehr nur bestimmte Waren der zollamtlichen Überwachung unterliegen, sondern der gesamte Betrieb des Beteiligten, sollte einleuchten. Die Zollanmeldung wird – IT-unterstützt – an die Heimatzollstelle gerichtet, bzw. wird die dort vorliegende summarische Eingangsanmeldung ergänzt. Der für die Gestellungszollstelle notwendige Datensatz der Zollanmeldung wird dieser IT-unterstützt übermittelt; in der Zollanmeldung bereits enthaltene Daten für die weitere Überwachung des Verfahrens (vor allem bei Verwendung und Veredelung) werden nicht übermittelt, um diese Daten nicht einem größeren Personenkreis zugänglich zu machen, da eine Einsichtnahme durch Dritte oft nur schwer verhindert werden kann. Die Behandlung der Zollanmeldung und die Prüfung der Waren soll daher zwischen der Heimatzollstelle und einer allenfalls von dieser verschiedenen Gestellungszollstelle aufgeteilt werden, so wie es schon im Recht des Unionszollkodex für die Zen­ trale Zollabwicklung50 vorgesehen ist. Generell sollte der Datenverkehr zwischen den Zollbehörden erfolgen, da so am ehesten ein Eindringen Dritter verhindert werden kann. Der Datenverkehr mit dem Anmelder ausschließlich durch die Heimatzollstelle hätte zudem noch den Vorteil, dass auch nicht codierte Texte ohne Sprachschwierigkeiten ausgetauscht werden könnten; solche Texte könnten vor allem für die Überwachung von aktiven oder passiven Veredelungen oder von Verwendungen nützlich sein, während der die Zollanmeldung bildende Datensatz vor allem der Identifizierung der angemeldeten Waren dienen würde. Dieser Ablauf wäre auch bei Auftreten eines direkten Zollvertreters einzuhalten. Indirekte Zollvertreter hätten die Zollanmeldung bei der für sie zuständigen Heimatzollstelle einzureichen; der weitere Ablauf wäre unverändert, nur dass auch Name/ Firma des Vertretenen der Gestellungszollstelle mitzuteilen wären, da das auf lokale Kontrollbedürfnisse Einfluss haben kann. Wenn auch der Vertretene für die Überführung von Waren in den freien Verkehr registriert ist, könnte man aber überlegen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verrechnung der Zollschuld direkt mit diesem erfolgen könnte. Soweit eine andere als die IT-unterstützte Zollanmeldung zulässig ist, z.B. bei Verwendung eines Carnet ATA/CPD, sollte die Überführung in das Zollverfahren bei jeder dafür sachlich zuständigen Zollstelle möglich sein, doch wären regionale oder zentrale Sammelstellen in den Mitgliedstaaten einzurichten, denen Kopien (Telekopien) der Zollanmeldungen zu übermitteln wären, damit diese sodann

50 Art. 179 UZK.

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allenfalls notwendig erscheinende Kontrollen der Waren und ihrer Verwendung in die Wege leiten können. Ein unionsweit alle solchen Verfahren erfassendes System und daher auch die IT-unterstützte Erfassung der Daten eines Carnet bei der Gestellungszollstelle halte ich für überflüssig. 2. Organe für Außenprüfung Da eine solche Zentralisierung zu einer „Erblindung“ der Heimatzollstelle gegenüber den dort tätigen Beteiligten führen kann, wobei es sich nicht um strafbares Verhalten handeln muss, sondern einfach die Behörde und ihre Mitarbeiter, die ständig mit einem Beteiligten und mit für diesen formulierten Entscheidungen zu tun haben und bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, Mängel in einer Entscheidung oder im Verhalten des Beteiligten nicht mehr so klar sehen wie Außenstehende, sollten die Zollverwaltungen über Organe verfügen, die fachkundig sind, von den Zollstellen und den Beteiligten aber ausreichenden Abstand haben. Dass diese Organe sowohl für interne Prüfungen der Zollstellen als auch für Prüfungen der Beteiligten eingesetzt werden, ist – so wie die ganze Sache – als Maßnahme der Vollziehung und der Organisation nicht in einem neuen Zollkodex zu regeln, sondern von den Mitgliedstaaten.

Schlusswort Ein Zollrecht ist also nicht deshalb modern, weil es für seine Vollziehung umfassend den IT-Einsatz verlangt, und auch nicht, weil es viele Vereinfachungsmöglichkeiten vorsieht, im Grund aber ein sehr formales Recht ist. Es ist auch nicht modern, wenn es umfassend versucht, alles systembezogen zu sehen und zu regeln. Es muss vielmehr alle Neuerungen kennen und sie an den richtigen Orten einsetzen, und das nicht durch behördlichen Gnadenakt, sondern als Rechtsanspruch des Beteiligten, sofern er sich diesen nicht durch regelwidriges Verhalten selbst verbaut hat. Um Vergebung muss ich bitten, dass ich Themen meist nur anreißen konnte, eine volle Darstellung hätte aber den Rahmen einer Festschrift überschritten. Danken möchte ich den Herausgebern dieser Festschrift, dass sie mir die Gelegenheit gegeben haben, meine Gedanken noch einmal zum Ausdruck zu bringen, und ich möchte diese schließen mit meiner ersten Reaktion auf die Einladung, an dieser Festschrift mitzuwirken: „Für Wolffgang immer!“

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Lothar Gellert / Franziska Hoell

Unzulänglichkeiten des HS 2017 am Beispiel der Einreihung von Waren mit mehreren tariflich relevanten Funktionen Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Einreihungs­verordnung (EG) Nr. 717/2009 für „Smartphones“ Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Funktionen des Zolltarifrechts 1. Bedeutung und Folgen der Einreihung 2. Beispiele für nicht zufriedenstellende Einreihungen III. Waren mit verschiedenen Funktionen 1. Definition 2. Verdeutlichung anhand von Beispielen a) Übersetzungsgerät b) Hundekissen IV. Waren aus verschiedenen Bestand­ teilen zur Abgrenzung von den Multifunktionswaren 1. Definition und Abgrenzung zum vorher genannten Warentyp 2. Vertiefung mithilfe eines Beispiels

V. Einreihungsverordnung Nr. 717/2009

VI. Weitere vorhandene Spezialregelungen im Zolltarif



1. Anm. 3 Abschnitt (ABS) XVI a) Voraussetzungen und Ergebnis b) Grenzen der Anwendbarkeit 2. Anm. 3 Kap. 90

VII. Allgemeine Vorschrift 3 (AV 3) 1. AV 3 a) a) Tatbestandsvoraussetzungen b) Streitfrage in Bezug auf die Interpretationsmöglichkeit anhand ­zweier ­Beispiele c) Beispiel für die Nichtanwendung 2. AV 3 b) a) Auf die Vorschrift anwendbare ­Warentypen b) Regelungslücke und ausweichende Typisierung 3. AV 3 c) a) Anwendung und Ergebnis b) Kritische Beurteilung VIII. Rechtsadäquate Lösung und Fazit

I. Einleitung Zum 1. Januar 2017 hat ein neuer Zyklus des Harmonisierten Systems (HS) begonnen. Wenn auch mit den Neuerungen eine Straffung und Verbesserung des bisherigen HS beabsichtigt war, zeigt auch das HS 2017 noch Schwächen, auf die nachstehend eingegangen wird. Die Überführung von Waren in den zollrechtlich freien Verkehr berührt u. a. auch die Erhebung von Abgaben. Zur Bestimmung des Abgabensatzes müssen die Waren in den Zolltarif eingereiht werden. Rechtsgrundlage für diese Einreihung ist der gemeinsame Zolltarif der EU. Von hoher Bedeutung ist beim Einreihungsvorgang die Beachtung der Rechtsnormen der Allgemeinen Vorschriften (AV) sowie der speziellen Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln, welche von der Weltzollorganisation erlassen und im Rahmen von regelmäßigen HS-Revisionen überprüft werden. Dane285

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ben gibt es nach dem Übereinkommen zum HS Erläuterungen und Einreihungsavise, die ebenso wie die Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur, die von der Europäischen Kommission ausgearbeitet wurden, ein wichtiges, wenn auch nicht verbindliches Erkenntnismittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen darstellen.1 Die Kenntnis von Waren, Regelungen der Einreihung und somit eine korrekte Zuweisung der Codenummer spielt folglich eine nicht unwesentliche Rolle für die ordnungsgemäße Abfertigung von Waren. Im Bereich der Waren mit verschiedenen tariflich relevanten Funktionen treten häufig Positionskonkurrenzen auf, welche rechtlich aufzulösen sind. Anhand der Einreihungsverordnung (EG) Nr. 717/2009 für Mobiltelefone soll vorrangig auf die Möglichkeiten der Konkurrenzauflösung unter Anwendung der ggf. vorhandenen Anmerkungen und der AV 3 eingegangen werden.2

II. Funktionen des Zolltarifrechts Die Zollverwaltung ist eine Einnahmenverwaltung und überwacht den grenzüberschreitenden Warenverkehr. Der größte Teil dieser Einnahmen wird z.  B. bei den grenzüberschreitenden Warenabfertigungen von Gewerbe betreibenden Wirtschaftsbeteiligten gezahlt. Die Anwendung des Zolltarifrechts ist ein anspruchsvolles juristisches Gebiet mit vielen rechtlichen Spezialvorschriften.3 Sinn und Zweck des Rechtsgebietes ist es, für die Festlegung zollpolitischer und ökonomischer Maßnahmen Waren zu definieren und jeder Ware eine Codierung im Zolltarif zuzuordnen. Der Zolltarif besteht aus 21 Abschnitten, die insgesamt die Kapitel 1 bis 97 aufnehmen. Kapitel 77 ist unbesetzt. Innerhalb dieser Kapitel ordnen sich hierarchisch die Positionen, Unterpositionen des Harmonisierten Systems (HS), Unterpositionen der Kombinierten Nomenklatur (KN), der TARIC und letztendlich die 11-stellige Codenummer unter. Die Codenummer, auch Warennummer genannt, stellt die Grundlage der durchzuführenden Abgabenerhebung dar. 1. Bedeutung und Folgen der Einreihung Nicht allein für die mitunter erheblichen Zollsatzdifferenzen ist die tarifliche Zuordnung einer Ware von Bedeutung, sondern auch für sich anschließende Maßnahmen. So können Antidumpingzölle, notwendige Einfuhr- bzw. Ausfuhrdokumente oder ggf. vorhandene Präferenzvereinbarungen immense Auswirkungen begründen.4 Aufgrund der Menge der unterschiedlichen Waren ergeben sich mannigfaltige Unterschiede bei der Abfertigung, da die Rechtsfolgen der vorhandenen Warennummern 1 Auch FG Hamburg v. 14.2.2013 – 4 K 78/12 Rz. 21. 2 Siehe VO (EG) Nr. 717/2009 v. 4.8.2009 (ABl. EU Nr. L 205, 3). 3 Siehe Bleihauer, Zur Anwendung der Allgemeinen Vorschrift 3 des Gemeinsamen Zolltarifes, ddz 10/97, F63-64. 4 Vertiefend hierzu Maßnahmen neben den Zöllen, Bleihauer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 20 ZK Rz. 18 ff.

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im Zolltarif regelmäßig angepasst werden und vielfältig sind. Folglich ist es umso bedeutender für den Zoll und die Wirtschaftsbeteiligten, die Einreihung der Waren korrekt und unter Beachtung aller einschlägigen Rechtsnormen durchzuführen. Neben den zu entrichtenden Zollabgaben, die anhand der Zollsätze und des Zollwertes der Ware bestimmt werden, gibt zudem die 11. Stelle der Warennummer Aufschluss über die Einfuhrumsatzsteuer. Diese ist vor allem für private Personen und nicht vorsteuerabzugsfähige Unternehmen relevant. Im Kern primäre Fragen der Rechtsanwendung, insbesondere bei Waren mit verschiedenen Funktionen, tangieren somit weitaus mehr Bereiche als nur die Zollabgabenerhebung. 2. Beispiele für nicht zufriedenstellende Einreihungen Die Zuordnung einer Ware zu einer Position oder Codenummer hat dahingehend zu erfolgen, dass der Wortlaut der zugeordneten Position oder letztendlich der Code­ nummer den objektiven Merkmalen und Eigenschaften der einzureihenden Ware entspricht.5 Die folgenden Beispiele machen deutlich, dass aufgrund nicht lückenlos geklärter Fragen der Rechtsanwendung bei vorgenommenen Einreihungen von Waren mit verschiedenen Funktionen diesem entscheidenden Kriterium nicht entsprochen wurde oder die Typisierung der Ware ausweichend vorgenommen wurde. Bei einem Taschenrechner im Taschenformat, der zusätzlich die Uhrzeit anzeigen kann, liegt z.B. eine Positionskonkurrenz zwischen Pos. 8470 (Rechenmaschine im Taschenformat) und Pos. 9105 (Uhr) vor. Wenn man unter Ausschluss der AV 3 a) eine Einreihung nach der AV 3 b) vornehmen wollte, müsste der Taschenrechner als Ware mit verschiedenen Bestandteilen typisiert werden, damit er überhaupt unter den Warenkreis der AV 3 b) fällt.6 Nur dann könnte man daran denken, die Ware der Charakter bestimmenden Position 8470 (Rechenmaschine) zuzuordnen. Tatsächlich ist ein Taschenrechner jedoch rechtmäßig unter die Definition einer Ware mit verschiedenen Funktionen zu subsumieren. Demnach wäre die AV 3 b) nicht anwendbar, und der Taschenrechner wäre als Uhr in Pos. 9105 unter Anwendung der AV 3 c) einzureihen. Das Ergebnis der tariflichen Einreihung als Uhr entspricht jedoch nicht den objektiven Beschaffenheitsmerkmalen, erfüllt somit das entscheidende Kriterium nicht und kann nicht zufriedenstellend sein. Ebenso problematisch stellt sich die Einreihung einer Werkzeugtasche der Pos. 4202 dar, die durch Aufklappen auch als Warnweste der Pos. 6211 verwendet werden kann. Unter Ausschluss der AV 3 a) und AV 3 b) könnte man daran denken, die Werkzeugtasche der zuletzt genannten Pos. 6211 im Sinne der AV 3 c) zuzuweisen. Die Ver­ wendung als Werkzeugtasche stellt jedoch den Warencharakter dar. Die Funktion als Sicherheitsweste kommt nur im Falle eines Unfalls zum Tragen. Somit sind hier eben-

5 Siehe EuGH v. 14.4.2011 – C-288/09a und 289/09, EuGHE 2011 I-02851. 6 Siehe Voraussetzungen der AV 3 b) in Punkt VII. 2. AV 3 b).

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falls die objektiven Beschaffenheitsmerkmale durch die Einreihung als Sicherheitsweste nicht gegeben. Diese Einreihungsfälle zeigen explizit, dass die Einreihung mithilfe der Rechtsvorschriften komplex ist und die nicht klar geregelten Anwendungsmöglichkeiten der AV 3 auf die gehandelten Waren mit verschiedenen Funktionen zu Ergebnissen führt, die rechtlich nicht einwandfrei sind.

III. Waren mit verschiedenen Funktionen Um auf die Rechtsproblematiken bezüglich der Waren mit verschiedenen Funktionen näher eingehen zu können, ist eine Definition des Warentyps notwendig. 1. Definition „Der hier maßgebliche Warentyp besteht aus einem Bestandteil, der mehrere Funktionen ausüben kann und aufgrund der verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten von zwei oder mehr Positionen des Zolltarifs erfasst wird.“7 Die Waren mit verschiedenen Funktionen kommen in vielfältigen Formen im gesamten Zolltarif vor. Vergleichsweise häufig ist der Warentyp als Ware des Abschnitts XVI zu verzeichnen, in dem diese Ware als Multifunktionsware deklariert wird. 2. Verdeutlichung anhand von Beispielen Die einzelnen Tatbestandsmerkmale der vorgenannten Definition sollen anhand der folgenden Waren verdeutlicht werden. a) Übersetzungsgerät Ein Übersetzungsgerät mit den Maßen 19 cm × 10 cm × 2 cm kann einzelne Worte und Wortgruppen in verschiedene Sprachen übersetzen. Zusätzlich ist es zum Anzeigen der Uhrzeit und zum Ausführen einfacher Rechenoperationen geeignet.8 Laut der oben genannten Definition hat diese Ware als aus einem Bestandteil bestehend vorzuliegen. Dies ist der Fall, wenn nicht zwei unterschiedliche Waren visuell erkennbar oder spezielle verwendete Teile vorhanden sind, die nur für eine der Funktionen eine Bedeutung haben. Das Erscheinungsbild der Ware ist objektiv unstrittig nur als Übersetzungsgerät zu erkennen. Spezielle Teile wurden nicht verwendet. Somit besteht das Übersetzungsgerät aus einem Bestandteil. Des Weiteren müsste die Ware mehrere Funktionen ausüben können. Das Gerät ist in der Lage zu übersetzen, 7 Vgl. Bleihauer, Zur zolltariflichen Typisierung von einheitlichen Waren, BDZ Fachteil 1/2 2011, F1-F4, F2. 8 Vgl. Gellert, Ungereimtheiten bei AV-Entscheidungen, AW-Prax 11/12, S. 399.

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einfache Rechenoperationen auszuführen und die Uhrzeit anzuzeigen. Somit übt es drei Funktionen aus. Aufgrund dieser Verwendungsmöglichkeiten ist die Ware im Zolltarif unter der Pos. 8543 (Elektrische Maschinen mit eigener Funktion, hier übersetzen), in dem Kapitel 91 (Uhrmacherwaren) und unter der Pos. 8470 (Rechenmaschine) erfasst. Folglich ist die letzte Tatbestandsvoraussetzung ebenfalls gegeben, und das Übersetzungsgerät ist unstrittig eine Ware mit verschiedenen Funktionen. b) Hundekissen Ein Hundekissen in rechteckiger Form, das mit einem grauen Gewirk überzogen und mit einem weichen Material gefüllt ist und einen umlaufenden Reißverschluss aufweist, besteht ebenfalls aus einem Bestandteil. Die Ware kann sowohl als Kissen der Pos. 9404 und nach Öffnung des Reißverschlusses und Entfaltung des Kissens als Hundedecke der Pos. 6301 verwendet werden. Das Hundekissen übt somit verschiedene Funktionen aus.

IV. Waren aus verschiedenen Bestandteilen zur Abgrenzung von den Multifunktionswaren 1. Definition und Abgrenzung zum vorher genannten Warentyp Häufig werden den Multifunktionswaren die Waren aus verschiedenen Bestandteilen gegenübergestellt. Beide Warentypen unterscheiden sich vordergründig durch die Anzahl der Bestandteile, aus denen die Ware besteht.9 Waren aus verschiedenen Bestandteilen sind einheitliche Waren, die ein Ganzes bilden und aus zwei oder mehr fest verbundenen oder voneinander lösbaren Komponenten zusammengesetzt sind. Die Bestandteile müssen anhand der Form der äußeren Aufmachung oder spezifischer Teile erkennbar sein. 2. Vertiefung mithilfe eines Beispiels Ein Beispiel für diesen Warentyp ist ein batteriebetriebener Auto-Türschlossent­eiser10, bestehend aus einem stabförmigen Heizgerät und einer Taschenlampe. Die Ware besteht aus zwei klar erkennbaren Bestandteilen. Das Heizgerät und die Taschenlampe sind fest miteinander verbunden und bilden somit eine Ware. Aufgrund der zwei Tätigkeiten ist der Türschlossenteiser in Pos. 8516 (elektrische Geräte zum Heizen) und in Pos. 8513 (tragbare elektrische Leuchten) erfasst. Der Türschlossenteiser stellt somit eine Ware aus verschiedenen Bestandteilen dar.

9 Auch in ErlKN AV 3 (HS) Rz. 20.0. 10 Dazu Böhne et al., Zolltarif und Nomenklatur, 2. Auflage, Abschnitt XVI, S. 151.

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V. Einreihungsverordnung Nr. 717/2009 Bezüglich der Waren mit verschiedenen Funktionen soll eine Produktgruppe aus einem bedeutenden Wirtschaftszweig an dieser Stelle näher erläutert werden. Die Informations- und Kommunikationsbranche gehört mitunter zu den umsatzstärksten und innovativsten Wirtschaftsbranchen. Der Sektor der Unterhaltungselektronik und Technik befindet sich stets in einem regen Wandel. Die Produktgruppe der Mobiltelefone, sogenannte Smartphones, ist hier besonders zu nennen. Die Produktion der Waren ist aufgrund der dortigen geringen Lohnkosten oftmals in Drittländern angesiedelt. Somit sind die Geräte Einfuhrwaren, wenn sie in das Gebiet der EU eingeführt werden, und müssen vom Zoll abgefertigt werden. Die zutreffende Einreihung ist daher unabdingbar. Zur Erleichterung der Einreihung hat die EU für Mobiltelefone im Jahre 2009 die Einreihungsverordnung VO (EU) Nr. 717/2009 erlassen. Diese regelt die Einreihung von batteriebetriebenen Geräten für die Mobiltelefonie mit weiteren Zusatzfunktionen, sogenannte „Smartphones“. Die Geräte müssen bestimmte Voraussetzungen, wie z. B. ein Taschenformat mit den Maßen 170 mm × 100 mm × 45 mm, Betrieb ohne externe Energiequelle und eine aktivierte SIM-Karte (Subscriber Identity Module), erfüllen. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, werden die Mobiltelefone anhand der Einreihungsverordnung in die Unterpos. 8517 12 00 eingefügt. Die Begründung zum Einreihungsergebnis der Verordnung Nr. 717/2009 besagt, dass es sich bei den Mobiltelefonen mit zusätzlichen Funktionen wie z. B. mit Kamera und Navigation grundsätzlich um kombinierte Maschinen handelt, und geht davon aus, dass die Funktion als Telefon Vorrang besitzt. Hier begegnet die Begründung jedoch erheblichen rechtlichen Bedenken. Zu hinterfragen wäre zunächst, ob es sich tatsächlich um eine Ware aus verschiedenen Bestandteilen handelt, was für die Annahme einer kombinierten Maschine unabdingbar wäre. Für die Typisierung als Ware mit verschiedenen Bestandteilen könnte sprechen, dass spezielle Teile wie z. B. Kameralinsen in den Mobiltelefonen verbaut wurden und diese nur für eine Funktion, z. B. die Bildaufnahme, von Bedeutung sind. Gegen die Typisierung spricht allerdings die Nichterfüllung der markanten Eigenschaft der Erkennbarkeit dieser Bestandteile. Mobiltelefone bestehen objektiv gesehen lediglich aus einem Bestandteil. Die Bestandteile „Telefon“ und „Kamera“ sind nicht eindeutig äußerlich erkennbar. Da hiermit nicht alle Voraussetzungen des Warentyps erfüllt sind, ist der Subsumierung also nicht zu folgen. Bei den Mobiltelefonen könnte es sich jedoch um Waren mit verschiedenen Funktionen handeln. Die Geräte bestehen wie oben bereits erwähnt aus einem Bestandteil, und mit den Geräten können mehrere Funktionen ausgeübt werden. Die Voraussetzungen für den Warentyp mit mehreren Funktionen sind damit erfüllt. Des Weiteren begründet die Verordnung die Einreihung mit der Anwendung der Anm. 3 zu Abschnitt XVI, nach der die Mobiltelefone nach der das Ganze kennzeichnenden Hauptfunktion eingereiht werden, hier nach der Funktion des Telefonierens. 290

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Um diese Begründung weiter zu hinterfragen, ist es erforderlich, zuerst die betroffenen Rechtsgrundsätze zu definieren.

VI. Weitere vorhandene Spezialregelungen im Zolltarif 1. Anm. 3 Abschnitt (ABS) XVI „Soweit nichts anderes bestimmt ist, sind […] Maschinen, die ihrer Beschaffenheit nach dazu bestimmt sind, zwei oder mehrere verschiedene, sich abwechselnde oder ergänzende Tätigkeiten (Funktionen) auszuführen, nach der das Ganze kennzeichnenden […] Hauptfunktion einzureihen.“ Waren mit verschiedenen Funktionen sind vergleichsweise häufig in ABS XVI anzutreffen. Die Schaffung einer solchen Anmerkung macht demnach durchaus Sinn. Auf der Tatbestandsseite werden alle betroffenen Positionen der objektiven Merkmale und Eigenschaften gegenübergestellt.11 Als Rechtsfolge wird die Ware in die Position eingereiht, die dem Ganzen den Charakter verleiht.12 Somit wird auch hier durch Anwendung der Vorschrift eine Vereinfachung der Einreihung erreicht. Sie stellt gegenüber der AV 3 b) eine Sonderregelung dar. Folglich dürfen die AV 2 bis 6 aufgrund lex specialis nicht angewendet werden.13 a) Voraussetzungen und Ergebnis Die erste Anwendungsvoraussetzung der Anm. 3 ABS XVI besagt: „Soweit nichts anderes bestimmt ist …“ Das bedeutet, dass es keinen Positions- oder Unterpositionswortlaut im Zolltarif geben darf, der die Kombination aus den verschiedenen Fun­k­ tionen der Smartphones erfasst. Beispielsweise müsste es lauten: „Batteriebetriebene Geräte für die Mobiltelefonie mit zusätzlicher Funktion der Video- und Fotoaufnahme, mit installierten Spielen, Navigation und weiteren Funktionen“. Lediglich in Unterpos. 8517 12 00 findet sich der Wortlaut „Telefone für zellulare Netzwerke“, sogenannte Mobiltelefone.14 Die Funktion des Telefons ist hier genannt. Jedoch sind die anderen Funktionen nicht erwähnt. Deshalb ist dieser Wortlaut nicht ausreichend. Somit ist „nichts anderes bestimmt“, und die erste Voraussetzung der Anm. 3 ABS XVI ist erfüllt. Die Mobiltelefone müssten zudem Maschinen im Sinne des ABS XVI darstellen. Eine allgemeingültige Definition ist im Zolltarif nicht gegeben. Anm. 5 ABS XVI besagt jedoch: „Bei der Anwendung der Anmerkungen des Abschnitts XVI umfasst der Begriff ‚Maschinen‘ alle Maschinen, Apparate, Geräte und Vorrichtungen der in den Positionen 11 Hierzu vertiefend FG Hamburg v. 13.12.2012 – 4 K 178/11, Einreihung eines E-Book-Readers. 12 Vgl. sinngemäß ErlKN AV 3 (HS) Rz. 19.1. 13 In Anwendung des Wortlautes der AV 1. 14 Siehe ErlKN Pos. 8517 (HS) Rz. 18.0.

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des Kapitels 84 oder 85 genannten Art.“ Das Mobiltelefon ist als Telefon für zellulare Netzwerke in Kapitel 85 erfasst und somit eine Maschine im Sinne des ABS XVI. Die letzte Voraussetzung der Anm. 3 ABS XVI erfordert die Möglichkeit der Ausübung von mehreren sich abwechselnden Funktionen. Das ist unstrittig durch Telefonieren, Fotoaufnahme und Navigation gegeben. Die Anwendungsvoraussetzungen sind demnach generell erfüllt, und Anm. 3 ABS XVI könnte angewendet werden. b) Grenzen der Anwendbarkeit Allerdings ist zu beachten, dass die Anwendbarkeit der Anmerkungen des Abschnitts XVI sich nur auf Funktionen bezieht, die in ABS XVI genannt sind.15 Führen Mobiltelefone Funktionen aus, die nicht in diesem Abschnitt aufgeführt sind, ist Anm. 3 ABS XVI folglich nicht anwendbar, und es sind die AV mangels lex specialis zur Konkurrenzauflösung heranzuziehen. Die marktgängigen Modelle von Smartphones besitzen alle die Möglichkeit der Uhrzeitanzeige und haben vorinstallierte Spiele. Alle diese Funktionen sind nicht in ABS XVI angesiedelt, sondern in Kap. 91 (Uhrmacherwaren) und 95 (Spiele). Demnach ist Anm. 3 ABS XVI trotz der Erfüllung der vorher genannten Voraussetzungen nicht auf alle Funktionen der Mobiltelefone anwendbar. 2. Anm. 3 Kap. 90 Der Anwendungsbereich der Anm. 3 ABS XVI ist aufgrund der Anm. 3 Kap. 90 erweitert. Diese erklärt: „Die Bestimmungen der Anmerkungen 3 […] zu Abschnitt XVI gelten auch für dieses Kapitel.“ Anm. 3 Kap. 90 stellt somit einen Verweis auf Anm. 3 ABS XVI dar, sodass auch Funktionen eingeschlossen sind, die in Kap. 90 genannt werden. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Funktion der Spiele und die Anzeige der Uhrzeit nicht erfasst sind und deshalb die Anwendbarkeit für diese Funktionen weiterhin nicht gegeben ist. Da eine Einreihung somit nicht anhand der Anm. 3 ABS XVI i. V. m. Anm. 3 Kap. 90 erfolgen kann, könnte eine Einreihung nur unter Zuhilfenahme der AV erfolgen, hier unter Zuhilfenahme der AV 3.

VII. Allgemeine Vorschrift 3 (AV 3) Die AV 3 sieht verschiedene Einreihungsmethoden für Waren vor, für die entweder nach den Bestimmungen der AV 2 b) oder aus irgendeinem anderen Grunde von vornherein mehrere Positionen in Betracht kommen. Die AV 3 ist somit eine Regelung zur Auflösung von Positionskonkurrenzen.16 Es existieren mehrere Gründe für 15 Siehe Anwendung auch auf Funktionen des Kap. 90 unter Punkt VI. 2. Anm. 3 Kap. 90. 16 Siehe Bleihauer, ddz 10/97, F 63.

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eine entstehende Konkurrenz. Unter anderem könnte die Ware aus verschiedenen Stoffen bestehen und somit im Zolltarif unter mehreren Stoffpositionen subsumiert werden. Bezüglich der Waren mit verschiedenen Funktionen ist eine unterschiedliche Warenansprache nach den jeweiligen Funktionen möglich, welches ebenfalls zu einer auftretenden Konkurrenz führt. Zu beachten ist jedoch, dass die AV 3 subsidiären Charakter hat, somit keine zutreffende Sonderregelung z. B. in Form einer Anmerkung vorhanden sein darf, die eine Konkurrenzauflösung erlauben würde. Somit sind das Bestehen einer Positionskonkurrenz und das Fehlen einer Spezialregelung neben den Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Varianten der AV 3 Anwendungsvoraussetzungen. In den Beispielen eines Taschenrechners mit Uhrzeitanzeige und der oben bereits beschriebenen Smartphones der Einreihungsverordnung Nr. 717/2009 liegt eine notwendige Positionskonkurrenz vor, wie zuvor festgestellt, und auch das Fehlen einer Spezialvorschrift ist gegeben. Somit steht einer Anwendung der AV 3 nichts entgegen. Die AV untergliedert sich in die Buchstaben a), b) und c). Durch diesen Aufbau ist eine zwingende Reihenfolge bei Anwendung dieser Vorschrift einzuhalten.17 Folglich ist stets zuerst die Anwendbarkeit der AV 3 a) zu prüfen. Das heißt, dass die AV 3 b) nur angewendet werden kann, wenn sich durch die AV 3 a) für die Einreihung keine Lösung ergeben hat. Sind sowohl die AV 3 a) als auch die AV 3 b) nicht zielführend oder anwendbar, wird die AV 3 c) angewendet. 1. AV 3 a) Die AV 3 a) besagt: „Die Position mit der genaueren Warenbezeichnung geht den Positionen mit allgemeiner Warenbezeichnung vor. Zwei oder mehr Positionen, von denen sich jede nur auf einen Teil der in einer gemischten oder zusammengesetzten Ware enthaltenen Stoffe oder nur auf einen oder mehrere Bestandteile einer für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellung bezieht, werden im Hinblick auf diese Waren als gleich genau betrachtet, selbst wenn eine von ihnen eine genauere oder vollständigere Warenbezeichnung enthält.“ Die AV 3 a) ist die erste im Falle einer Konkurrenz anzuwendende Regel. Im Ergebnis der AV 3 a) richtet sich die Einreihung nach der Position, die die genauere Warenbezeichnung im Vergleich zur anderen Position hat. a) Tatbestandsvoraussetzungen AV 3 a) setzt voraus, dass eine genauere Warenbezeichnung einer der beiden Positionen erkennbar ist. Durch einen Vergleich der Wortlaute kann die genauere Position festgestellt werden. Als genauer wird die Position angesehen, die die Ware nach den in der Nomenklatur angegebenen Beschaffenheitsmerkmalen eindeutiger bezeich-

17 Siehe Bleihauer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 20 ZK Rz. 41.

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net.18 Es ist nicht möglich, starre Grundsätze festzulegen.19 Jedoch trifft allgemein zu, dass häufig Zweckpositionen genauer als Stoffpositionen und Einzelbegriffe genauer als Sammelbegriffe sind.20 Bei bestimmten Warentypen ist jedoch immer die in Satz 2 der AV 3 a) enthaltene Fiktion zu beachten. Nach dieser gelten Positionen, die sich auf Mischungen, Waren aus verschiedenen Stoffen oder auf verschiedene Bestandteile von Warenzusammenstellungen beziehen, als gleich genau. Waren mit verschiedenen Funktionen sind kein Tatbestand dieser Fiktion. Somit ist Satz 2 nicht einschlägig. Die Beurteilung und Feststellung der genaueren Warenbezeichnung einer Position ist stark vom Einzelfall abhängig. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass es durchaus häufig verschiedene juristische Auffassungen in Bezug auf die Einzelfallbeurteilung gibt. b) Streitfrage in Bezug auf die Interpretationsmöglichkeit anhand zweier ­Beispiele In Bezug auf die Interpretation und die Anwendung der AV 3 a) gibt es in der Literatur verschiedene Auffassungen, die näher betrachtet werden sollen. Im Wortlaut der AV 3 a) heißt es, dass die Position mit der genaueren Warenbeschreibung der Position mit der allgemeinen Warenbezeichnung vorzuziehen ist. Im Einzelfall eines Taschenrechners mit Uhrzeitanzeige liegt eine Positionskonkurrenz zwischen Pos. 8470 und Pos. 9105 vor. Die Warenbeschreibungen dieser Posi­ tionen lauten Rechenmaschine und Uhr. Ein Vergleich der beiden Warenbeschreibungen zeigt, dass keine von beiden genauer ist. Beide Begriffe sind Einzelbegriffe und Zweckpositionen. Somit kann keine Warenbeschreibung nach den allgemeinen Grundsätzen als genauer festgestellt werden.21 Jede Warenbeschreibung benennt nur eine Funktion der Ware. Fraglich ist nun, ob eine Warenbeschreibung gegenüber einer anderen genauer sein kann, wenn beide nur jeweils eine Funktion der einzureihenden Ware umfassen. Diese Frage wird in der Literatur kontrovers beantwortet. Eine Position, die nur eine der beiden Funktionen einer Ware beschreibt, ist nicht genauer im Vergleich zu einer anderen Position, die die andere der beiden Funktionen nennt. 22 Darüber hinaus ist grundlegend bei jeder Wareneinreihung zu beachten, dass die Waren nach ihren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu beurteilen sind und auf den Verwendungszweck einer Ware nur

18 Hierzu Lux in Dorsch, A 4 Rz. 51. 19 Siehe ERlKN (HS) AV 3 Rz. 05.0. 20 Dazu Bleihauer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 20 ZK Rz. 42. 21 Vgl. Grundsätze nach Bleihauer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 20 ZK Rz. 42. 22 Hierzu Lux in Dorsch, A 4 Rz. 56.

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abgestellt werden darf, wenn im Wortlaut oder in den Bestimmungen ausdrücklich darauf Bezug genommen wird.23 Als objektive Eigenschaften des Taschenrechners sind die Funktionen als Rechenmaschine und als Uhr zu nennen. Im Wortlaut der Positionen wird auf den Verwendungszweck abgestellt. Unstrittig kann die Ware zum Rechnen und zum Ablesen der Uhrzeit verwendet werden. Das führt dazu, dass zunächst ebenfalls keine Funktion als genauer bezeichnet werden kann. Somit kann die AV 3 a) in diesem Fall nicht angewendet werden. Demgegenüber wird auch vertreten, dass die Funktionen des Rechnens und der Uhrzeitanzeige in Bezug auf die Ware differenziert betrachtet werden können.24 Die Rechtsprechung hat die AV 3 a) auch auf Waren mit verschiedenen Funktionen angewendet.25 Demnach soll die Position genauer sein, die den Hauptverwendungszweck beschreibt. Ein vorliegender Hauptverwendungszweck des Taschenrechners kann als unstrittig angesehen werden. Die Ware ist augenscheinlich nach den objektiven Merkmalen dazu bestimmt, zum Rechnen verwendet zu werden. Zudem ist sie optisch mit jedem gängigen Modell eines Taschenrechners ohne Uhrzeitanzeige vergleichbar. Die Funktion der Uhrzeitanzeige sei rein zusätzlicher Natur. Hinzu kommt, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Ware als Taschenrechner beschrieben werden würde. Somit wäre ein Hauptverwendungszweck feststellbar und folglich die Position mit der Warenbeschreibung Rechenmaschine als genauer zu beurteilen. Zudem ist das oben bereits erwähnte Gegenargument, dass beide Zweckpositionen formal gleich genau sind, in Bezug auf den Taschenrechner nicht bestandsfähig. Wie in der Literatur festgestellt ist, handelt es sich lediglich um einen Grundsatz, dass Zweckpositionen gleich genau sind.26 Folglich kann es durchaus zu Ausnahmen im Zuge einer Einzelbetrachtung kommen. Dies ist hier der Fall. Das entscheidende Kriterium der Beurteilung der objektiven Merkmale einer Ware ist bei dem Taschenrechner nur gegeben, wenn die Ware als Rechenmaschine beschrieben wird. Eine Beschreibung als Uhr ist in diesem Fall irreführend, weil eine Uhr nicht die äußerlichen Merkmale eines Taschenrechners aufweist. Somit wäre im Fall des Taschenrechners die Einreihung in die Pos. 8470 als Rechenmaschine aufgrund der objektiven Merkmale die einzig rechtlich adäquate Lösung. Die Positionskonkurrenz der Mobiltelefone von der in der VO Nr. 717/2009 beschriebenen Art ist ebenfalls im Einzelfall auf die Erkennbarkeit einer genaueren Warenbeschreibung hin zu überprüfen. Im Vergleich zum Fall des Taschenrechners besteht hier eine ähnliche Lagerung der Umstände. Die Wortlaute der Positionen aus den verschiedenen zutreffenden Kapiteln erfassen jeweils nur eine Funktion der Ware und stellen Zweckpositionen dar, wie z. B. Pos. 8517 (Telefon) und Pos. 9504 (Spiele). So23 Vgl. FG Hamburg v. 14.2.2013 – 4 K 78/12 Rz. 21, mit Verweis auf BFH v. 14.11.2000 – VII R 83/99. 24 Auch Bleihauer, ddz 10/97, F63 (F64). 25 Siehe EuGH v. 18.9.1980 – C 795/79, EuGHE 1980, 02705. 26 Vgl. Bleihauer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 20 ZK Rz. 42.

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mit ist nach formaler Beurteilung hier ebenfalls keine Position als genauer zu betrachten. Allerdings ist hier unstrittig die Funktion des Telefonierens als Hauptverwendungszweck anzusehen. Ein entscheidender Grund dafür ist, dass durch einen ankommenden Anruf alle in diesem Zeitpunkt ausgeführten Funktionen, wie z. B. das Spielen, unterbrochen werden. Somit stellt das Telefonieren die vorrangige Funktion dar, und alle weiteren Funktionen sind hier wie bei dem Taschenrechner von zusätzlicher Natur. Daher ist die Warenbeschreibung als Telefon die genauere im Vergleich zu den anderen Positionen und dieser folglich zuzuordnen. Die in der Begründung der Einreihungsverordnung Nr. 717/2009 angeführte Anwendung der Anm. 3 ABS XVI ist wie oben bereits festgestellt nicht für alle Positionen einschlägig. Aus diesem Grund ist die Begründung der Verordnung um die Einreihung anhand der AV 3 a) mit dem Auflösungsergebnis der Pos. 8517 zu ergänzen. Diese Begründung der Verordnung stellt nach Änderung eine rechtsadäquate und vor allem in vollem Umfang zufriedenstellende Einreihungslösung der Smartphones dar. c) Beispiel für die Nichtanwendung Waren mit verschiedenen Funktionen sind in ihrer Funktionalität vielfältig. Erkennbar ist dies unter anderem an den verschiedenen Verwendungszwecken. Sollte bei einer Ware kein Hauptverwendungszweck feststellbar sein, kann keine genauere Warenbeschreibung im Vergleich zu den anderen zutreffenden Positionen der jeweiligen Ware festgestellt werden. Das oben genannte Hundekissen ist als Kissen oder Decke zu verwenden. Die Wortlaute der Pos. 6301 „Decke“ und Pos. 9404 „Kissen“ sind als gleich genau nach den zuvor beschriebenen allgemeinen Grundsätzen zu betrachten. Zudem ist ein Hauptverwendungszweck nicht feststellbar. Somit hat keine der Positionen einen genaueren Wortlaut in Bezug auf die Ware. AV 3 a) führt in diesem Einzelfall folglich zu keinem Einreihungsergebnis. Somit ist bei dieser Ware unter Anwendung der strikt einzuhaltenden Reihenfolge der AV 3 zu hinterfragen, ob die AV 3 b) zu einem Einreihungsergebnis führt. 2. AV 3 b) AV 3 b) besagt: „Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, und für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellungen, die nach der Allgemeinen Vorschrift 3 a nicht eingereiht werden können, werden nach dem Stoff oder Bestandteil eingereiht, der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, wenn dieser Stoff oder Bestandteil ermittelt werden kann.“ AV 3 b) kann nur angewendet werden, wenn AV 3 a) zu keinem Ergebnis geführt hat.27 27 Vgl. ErlKN AV 3 (HS) Rz.17.0.

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Auf der Rechtsfolgenseite dieser Vorschrift wird die einzureihende Ware der Position zugeordnet, die den wesentlichen Charakter der Ware bestimmt. Das Charakter bestimmende Merkmal kann anhand verschiedener Parameter ermittelt werden, z. B. am Wert oder der Menge. Die Rechtsfolge der AV 3 b) ist vergleichbar mit dem Ergebnis der Einreihung anhand der Anm. 3 ABS XVI. In vielen Fällen kommt man zu zufriedenstellenden Ergebnissen. Grund dafür ist die Entsprechung von Einreihungsergebnis und Charakter der Ware. Um diese Einreihungsergebnisse unter Anwendung der AV 3 b) zu erzielen, müssen die Tatbestandsvoraussetzungen jedoch erfüllt sein. a) Auf die Vorschrift anwendbare Warentypen Fraglich ist allerdings, ob Waren mit verschiedenen Funktionen dem Regelungsbereich der AV 3 b) überhaupt unterliegen. Dem Wortlaut nach zu urteilen, bezieht sich AV 3 b) auf Mischungen, zusammengesetzte Waren aus verschiedenen Stoffen und Bestandteilen und auf Warenzusammenstellungen.28 Daraus folgt, dass Waren mit verschiedenen Funktionen nicht unter die Anwendung der AV 3 b) fallen. Somit ist eine Konkurrenzauflösung und Wareneinreihung anhand der AV 3 b) grundsätzlich auszuschließen. b) Regelungslücke und ausweichende Typisierung Bezüglich dieser bestehenden Regelungslücke für Waren mit verschiedenen Funktionen wird teilweise vertreten, dass die Waren mit verschiedenen Funktionen als Waren aus verschiedenen Bestandteilen angesehen werden können. Demnach wären die Tatbestandsvoraussetzungen der AV 3 b) erfüllt. Das oben genannte Hundekissen müsste somit unter dem Begriff der Ware aus verschiedenen Bestandteilen subsumierbar sein.29 Entscheidendes Kriterium sind hierbei die verschiedenen Bestandteile. In Bezug auf das Hundekissen besteht eine Konkurrenz zwischen der Decke und dem Kissen. Die Bestandteile könnten somit in Form des Kissens und der Decke gesehen werden. Dieser Annahme steht jedoch entgegen, dass die Bestandteile visuell voneinander abgrenzbar sein müssen.30 Anhand des äußeren Erscheinungsbildes muss erkennbar sein, dass es sich um zwei Bestandteile handelt. Das Kissen lässt augenscheinlich nicht erkennen, dass es zusätzlich aus einer Decke besteht. Aus diesem Grund ist eine Typisierung des Hundekissens als Ware aus verschiedenen Bestandteilen rechtlich nicht möglich. Somit fällt diese Ware nicht unter den Anwendungsbereich der AV 3 b) und müsste anhand der AV 3 c) eingereiht werden. Trotzdem ist anhand einiger Einreihungsfälle aus der Praxis zu erkennen, dass mithilfe der vorgenannten Auffassung bestimmte Waren eingereiht wurden. So wurde zum 28 Vgl. hierzu ErlKN AV 3 (HS) Rz. 12.0–16.0. 29 Siehe Inhaltspunkt III. 2. b) Hundekissen und Punkt IV. 1 Definition. 30 Hierzu Bleihauer, ddz 10/97, F63 (F64).

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Lothar Gellert / Franziska Hoell

Beispiel der oben erwähnte Taschenrechner mit Uhrenfunktion als Ware aus verschiedenen Bestandteilen angesehen und somit unter Ausschluss der AV 3 a) anhand der AV 3 b) als Rechenmaschine eingereiht. Diese Vorgehensweise verhinderte die Einreihung als Uhr anhand der AV 3 c). Diese Interpretationsmöglichkeit findet sich zwar in Urteilen von Gerichten, hat sich in der Praxis jedoch bis jetzt nicht flächen­ deckend durchgesetzt.31 Gleichwohl ist fraglich, ob die Einstufung eines Taschenrechners der oben beschriebenen Art als Ware aus verschiedenen Bestandteilen auch einer rechtlichen Überprüfung standhält. Die Ware müsste sich demnach aus einem Taschenrechner und einer Uhr zusammensetzen. Dafür sprechen würde das Vorhandensein spezieller in der Ware verbauter Teile, die lediglich für einen dieser Bestandteile von Nutzen wären. Die Uhrzeit wird per Knopfdruck auf dem Display angezeigt. Es ist erdenklich, dass ein bestimmtes elektronisches Teil zum Uhrzeitempfang oder Uhrzeitablauf eingebaut ist. Entscheidend dagegen spricht jedoch, dass der Taschenrechner und die Uhr als Bestandteile visuell erkennbar sein müssen. Unstrittig erkennbar ist der Taschenrechner. Eine Erkennbarkeit der Uhr ist allerdings nicht gegeben. Aus diesem Grund ist die Typisierung als Ware aus verschiedenen Bestandteilen nicht rechtlich haltbar. Die beliebige Ausweitung des Anwendungsbereichs der AV 3 b) steht der konsequenten Berücksichtigung methodischer und rechtlicher Grundlagen entgegen. 3. AV 3 c) Die Allgemeine Vorschrift 3 c) besagt: „Ist die Einreihung nach den Allgemeinen Vorschriften 3 a) und 3 b) nicht möglich, wird die Ware der von den gleichermaßen in Betracht kommenden Positionen in dieser Nomenklatur zuletzt genannten Position zugewiesen.“ a) Anwendung und Ergebnis Diese Vorschrift kann nur angewendet werden, wenn AV 3 a) zu keinem Ergebnis führt und AV 3 b) nicht anwendbar ist oder kein Charakter bestimmendes Merkmal erkennbar ist. Die Rechtsfolge der Konkurrenzauflösung anhand der AV 3 c) ist die Einreihung der Ware in die zutreffende Position, die in der Nomenklatur zuletzt genannt ist.32 AV 3 c) ist in ihrem Charakter einer Auffangvorschrift gleichzusetzen. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist, auf die sich stetig verändernde und neu kreierte Vielfalt von Waren mit einer bereits bestehenden vereinfachten Konkurrenzauflösung reagieren zu können, falls die vorher genannten Vorschriften nicht anwendbar sind. b) Kritische Beurteilung Kritisch zu beurteilen ist jedoch die häufige Anwendung der AV 3 c) in Bezug auf die Konkurrenzauflösung von Waren mit verschiedenen Funktionen. Beispielhaft sei der 31 Siehe EuGH v. 18.9.1980 – C-795/79. 32 Vgl. ErlKN AV 3 (HS) Rz. 41.0.

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Fall des Hundekissens genannt. Laut einem zolltariflichen Gutachten soll die Ware unter Anwendung der AV 3 c) der zuletzt genannten Position als Kissen zugeordnet worden.33 Die AV 3 a) würde hier trotz der Interpretationsmöglichkeit zu keinem Ergebnis führen, und die AV 3 b) war aufgrund des gegebenen Tatbestandes nicht anwendbar. Die Einreihung anhand der AV 3 c) zeigt, dass den objektiven Warenmerkmalen durch die Zuweisung zu der letztgenannten Position nicht immer entsprochen wird.34

VIII. Rechtsadäquate Lösung und Fazit Eine rechtsadäquate Lösung, die die Gewährung der Einreihungsgrundsätze ermöglicht und der Beschaffenheit der Waren entspricht, wäre die Erweiterung der AV 3 a) und AV 3 b) um Waren mit verschiedenen Funktionen.35 Eine mögliche Formulierung könnte somit lauten: AV 3 a): „Die Position mit der genaueren Warenbezeichnung geht den Positionen mit allgemeiner Warenbezeichnung vor. Zwei oder mehr Positionen, welche sich nur auf einen Stoff von gemischten, einen Stoff oder Bestandteil von zusammengesetzten Waren, eine Funktion von Waren mit verschiedenen Funktionen oder einen Bestandteil einer für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellung beziehen, werden im Hinblick auf diese Waren als gleich genau betrachtet, selbst wenn eine von ihnen eine genauere oder vollständigere Warenbezeichnung enthält.“ AV 3 b): „Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, Waren mit verschiedenen Funktionen und für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellungen, die nach der Allgemeinen Vorschrift 3 a nicht eingereiht werden können, werden nach dem Stoff oder Bestandteil, der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, oder nach der Hauptfunktion eingereiht, wenn dieser Stoff, Bestandteil oder eine Hauptfunktion ermittelt werden kann.“ Demnach ist eine Anwendung der AV 3 a) für Waren mit verschiedenen Funktionen aufgrund der Fiktion ausgeschlossen, und die Warenkreiserweiterung der AV 3 b) ermöglicht eine Einreihung nach der Hauptfunktion. Eine eindeutige Regelung der noch bestehenden Anwendungslücke für Waren mit verschiedenen Funktionen ist erforderlich und bedarf des Tätigwerdens der EU-Kommission im Ausschuss der WCO und einer erneuten HS-Revision. Die Umformulierung der AV 3 stellt eine für Zollverwaltung und Wirtschaftsbeteiligte beiderseits zufriedenstellende und rechtmäßige Lösungsmöglichkeit dar.

33 Vgl. Inhaltspunkt III. 2. b) Hundekissen und Gutachten BWZ HH, 57965/2012/1. 34 Siehe EuGH v. 14.4.2011 – C-288/09, 289/09. 35 Vgl. hierzu ebenfalls Bleihauer, ddz 1-2/2011, F 1-F 4, F 3 und Gellert, AW-Prax 11/2012, S. 399.

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Michael Lux

Zentrale Zollabwicklung (Art. 179 UZK) Inhaltsübersicht

I. Einführung

II. Grundbegriffe III. Kombination mit anderen Verein­ fachungen IV. Kombination mit bewilligungs­ abhängigen Zollverfahren

V. Kombination mit Zahlungsaufschub und Gesamtsicherheit

VI. Antrag und Bewilligung 1. Antrag auf Bewilligung 2. Verzicht auf Bewilligung bei Nutzung innerhalb eines Mitgliedstaats 3. Form und Inhalt des Antrags 4. Entscheidungs- und Konsultations­ verfahren 5. Bedingungen für die Erteilung der ­Bewilligung 6. Ablehnung des Antrags während der Übergangszeit a) Unverhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand b) Weitergehende Einschränkungen in Deutschland 7. Verfahren, für welche die zentrale ­Zollabwicklung bewilligt werden kann VII. Zollförmlichkeiten und -kontrollen 1. Abgabe der Zollanmeldung und ­Gestellung 2. Tätigkeit der Überwachungs- und der Gestellungszollstelle



3. Kontrollplan 4. Einhaltung der Bedingungen nach ­Erteilung der Bewilligung 5. Unregelmäßigkeiten

VIII. Einfuhrumsatzsteuer 1. Nichterhebungsverfahren 2. Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr a) Nationale Lösungen b) EU-weite Lösungen 3. Ausfuhr und Wiederausfuhr 4. Übergangsregelung IX. Besondere Verbrauchsteuern 1. Nichterhebungsverfahren 2. Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr 3. Ausfuhr und Wiederausfuhr 4. Übergangsregelung X. Außenhandelsstatistik 1. Erfasste Verfahren 2. Für die Datenübermittlung zuständige Behörden 3. Übergangsregelung XI. Prozesse und IT-Architektur 1. Standardanmeldung (Art. 231 UZK-IA) 2. Anmeldung vor der Gestellung der Waren 3. Prozesse und IT-Architektur XII. Fazit

I. Einführung Grundsätzlich muss eine Zollanmeldung bei der Zollstelle abgegeben werden, bei der die Waren gestellt werden, d.h. für eine etwaige Kontrolle zur Verfügung stehen (Art. 170 Abs. 1, Art. 172 Abs. 1 UZK). Es besteht jedoch ein wirtschaftliches Bedürfnis, bei der Zollstelle am Sitz des Unternehmens eine Zollanmeldung auch dann abgeben zu dürfen, wenn die Waren sich an einem anderen Ort befinden. Handelt es 301

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sich bei diesem anderen Ort um das Firmengelände, das im Zuständigkeitsbereich der für den Anmelder zuständigen Zollstelle liegt, so genügt es, die Gestellung an einem anderen Ort als dem Amtsplatz der Zollstelle zuzulassen (Art. 5 Nr. 33 UZK). Befindet sich die Ware jedoch außerhalb des Zuständigkeitsbereichs dieser Zollstelle oder sogar in einem anderen Mitgliedstaat, so kann eine Zollanmeldung bei der für den Sitz des Unternehmens zuständigen Zollstelle nur abgegeben werden, wenn die zentrale Zollabwicklung bewilligt worden ist oder der betreffende Mitgliedstaat eine solche Vorgehensweise für sein Hoheitsgebiet zugelassen hat (Letzteres ist in Deutschland nicht der Fall). Eine zentrale Zollabwicklung (insbesondere in Bezug auf Waren, die sich im Zeitpunkt der Zollanmeldung in einem anderen Mitgliedstaat befinden) bietet folgende Vorteile:1 ȤȤ Alle Zollanmelde- und damit verbundenen Meldeaktivitäten (z.B. Gestellungsmitteilung) können an einem Standort zentralisiert werden, ȤȤ die Kommunikation erfolgt mit der eigenen Zollbehörde in der Landessprache und es brauchen keine fremden Regeln erlernt zu werden, ȤȤ etwaige Zölle werden nur in einem Mitgliedstaat gezahlt, obwohl Zollaktivitäten auch in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten stattfinden, ȤȤ die Zollprozesse können vereinheitlicht werden, ȤȤ es kann eine zentrale Zoll-IT-Plattform und eine einzige Schnittstelle zur nationalen Zollverwaltung genutzt werden und ȤȤ die Transaktionskosten (Berichtspflichten, Verzicht auf Versandverfahren, Kosten für Personal oder Dienstleister in anderen Mitgliedstaaten) können verringert werden. Die zentrale Zollabwicklung kann sich zu einer bedeutenden Vereinfachung für die Überführung von Waren in ein Zollverfahren entwickeln, wenn die Bereitschaft der Zollverwaltungen steigt, diese Vereinfachung zu bewilligen. Hierzu kann die Einführung eines IT-Systems für den Austausch der, bzw. den Zugriff auf die, Zollanmeldungs- und Kontrolldaten beitragen, die leider aber erst für 2019 (Ausfuhr) bzw. 2021 bis 2023 (Einfuhr) vorgesehen ist.2 Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass das Unionsrecht zwar eine zentrale Zoll­ anmeldung und -zahlung zulässt, nicht aber eine zentrale Anmeldung und Zahlung der Einfuhrumsatzsteuer; denn diese Steuer ist in demjenigen Mitgliedstaat geschuldet, in dem die Ware physisch in den freien Verkehr gelangt.3 In Bezug auf die beson-

1 Vgl. Hiebl, SASP bringt wesentliche Erleichterungen, AW-Prax 2008, 299. 2 Das derzeitige IT-Arbeitsprogramm, Beschluss 2016/578, ABl. EU 2016 Nr. L 99/6, berücksichtigt noch nicht die inzwischen erwarteten weiteren Verzögerungen; siehe hierzu X. 3 Vgl. Art. 30, 70 und 71 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EU 2006 Nr. L 347/1, im Folgenden: MwStSystRL.

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deren Verbrauchsteuern ist dies zwar ebenso,4 aber diese Steuern erfassen nur einen begrenzten Warenkreis und bilden deshalb ein geringeres Problem. Ist die Ware für den Mitgliedstaat der Anmeldung bestimmt, so ermöglicht Verfahrenscode 42 bei Lieferungen an Steuerpflichtige eine Nichterhebung der Einfuhrumsatzsteuer5 und die Erhebung der regulären Umsatzsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat als innergemeinschaftlichen Erwerb, aber bei anderen Konstellationen (insbesondere dem Verbleib der Waren im Eingangsmitgliedstaat) ist die Lage komplizierter. Für die Außenhandelsstatistik ist ein IT-System geplant, das – wie in sonstigen Fällen – die Nutzung der im Rahmen der zentralen Zollabwicklung abgegebenen Zollanmeldungen für statistische Zwecke ermöglichen soll. Die Übergangsvorschriften lassen die Nutzung von vor dem 1.5.2016 erteilten einzigen Bewilligungen unter den darin festgelegten Bedingungen weiterhin zu, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, in dem ein IT-System für die zentrale Zollabwicklung bei der Ausfuhr bzw. Einfuhr zur Verfügung steht (Art. 345 Abs. 4 UZK-IA).

II. Grundbegriffe Zentrale Zollabwicklung (englisch: centralised clearance) ist definiert als die Abgabe einer Zollanmeldung6 bei der Zollstelle, die zuständig ist für den Ort im Zollgebiet der Union, an dem der Anmelder7 ansässig8 ist, für Waren, die bei einer anderen Zollstelle im Zollgebiet der Union (der Gestellungszollstelle9) gestellt werden (Art. 179 Abs. 1 UZK). Bewilligungsmitgliedstaat (englisch: authorising Member State) ist derjenige Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller bzw. Bewilligungsinhaber ansässig ist und der die primäre Kontaktstelle für den Antragsteller bzw. Bewilligungsinhaber ist. Dieser Mitgliedstaat ist verantwortlich für das Bewilligungsverfahren sowie die Erteilung10 und Überwachung11 der Bewilligung.12 Beteiligter Mitgliedstaat (englisch: participating Member State) ist der andere beteiligte bzw. sind alle anderen beteiligten Mitgliedstaat(en). Es handelt sich um denjenigen Mitgliedstaat, bei dem die Gestellung der Waren stattfindet; im Falle der Ausfuhr um denjenigen Mitgliedstaat, in dem sich die Waren im Zeitpunkt der Abgabe der Ausfuhranmeldung befinden. Alle beteiligten Mitgliedstaaten werden im Rahmen 4 Vgl. Art. 7 der Richtlinie 2008/118/EG über das allgemeine Verbrauchsteuersystem, ABl. EU 2009 Nr. L 9/12, im Folgenden: VerbrStSystRL. 5 Art. 143 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 MwStSystRL. 6 Definition in Art. 5 Nr. 12 UZK. 7 Definition in Art. 5 Nr. 15 UZK. 8 Definition in Art. 5 Nr. 31 UZK. 9 Definition in Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 UZK-IA, wo sie als „Zollstelle der Gestellung“ bezeichnet wird. Die Art. 231 und 232 UZK-IA verwenden dagegen den Begriff „Gestellungszollstelle“. 10 Siehe zum Verfahren Art. 22 UZK. 11 Siehe zur Überwachung Art. 23 Abs. 5 UZK. 12 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 29.

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des Bewilligungsverfahrens konsultiert (Art. 229 UZK-IA) und wirken auf Ersuchen des Bewilligungsmitgliedstaats an etwaigen Betriebsprüfungen mit.13 Sie sind ferner für die Einhaltung der nationalen steuerlichen und statistischen Anforderungen verantwortlich.14 Überwachungszollstelle (englisch: supervising customs office) ist diejenige Zollstelle, die für die Überführung der Waren in ein Zollverfahren im Rahmen der zentralen Zollabwicklung verantwortlich ist.15 Sie ist damit die Zollstelle, ȤȤ bei der die Zollanmeldung abzugeben ist (Art. 179 Abs. 1 UZK), ȤȤ die ggf. die Zollanmeldung überprüft, ȤȤ die ggf. von der Gestellungszollstelle Zollkontrollen verlangt, ȤȤ die im Zusammenhang mit der Zollanmeldung etwa geschuldete Zölle erhebt und ȤȤ die Waren zu dem beantragten Zollverfahren überlässt (Art. 179 Abs. 3 und 6 UZK). Wird die zentrale Zollabwicklung mit einem besonderen Verfahren (z.B. Zolllager) kombiniert, so sollte diese Zollstelle auch die Überwachungszollstelle16 für dieses Verfahren sein.17 Gestellungszollstelle (englisch: presentation customs office) ist diejenige Zollstelle, bei der die Waren sich im Zeitpunkt der Anmeldung befinden bzw. gestellt werden.18 Im Falle der Ausfuhr ist die Ausgangszollstelle nur dann Gestellungszollstelle in diesem Sinne, wenn die Waren sich dort im Zeitpunkt der Anmeldung befinden. Die Gestellungs- und die Überwachungszollstelle arbeiten bei der Abwicklung der zentralen Zollabwicklung zusammen (vgl. Art. 179 Abs. 3 bis 6 UZK, Art. 231, 232 UZK-IA). Erhebungskostenpauschale: Nach Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom, über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union19 behalten die Mitgliedstaaten von den traditionellen Eigenmitteln (das sind insbesondere Zölle) 20 % für die Erhebung ein. Die Aufteilung dieser sog. Erhebungskostenpauschale zwischen dem Bewilligungsmitgliedstaat und dem jeweiligen beteiligten Mitgliedstaat, bei dem die Waren im Zusammenhang mit der Zollanmeldung gestellt werden, war für den Fall der Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr (insbesondere dann gibt es ja etwas zu verteilen) lange ein Streitpunkt, der 2009 gelöst werden konnte durch die Einigung über ein „Übereinkommen über die zentrale Zollabwicklung hinsichtlich der Aufteilung der nationalen Erhebungskosten, die bei der Bereitstellung der traditionellen Eigenmittel für den Haushalt der Europäischen Union einbehalten werden“.20 13 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 29. 14 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 29. 15 Definition in Art. 1 Nr. 36 Buchst. b UZK-DA. 16 Definition in Art. 1 Nr. 36 Buchst. a UZK-DA. 17 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 29. 18 Vgl. Definition in Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 UZK-IA. 19 ABl. 2014 Nr. L 168/105. 20 ABl. 2009 Nr. C 92/1. Siehe ferner Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 32.

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Danach erhält jeder der beiden Mitgliedstaaten 50% der Erhebungskostenpauschale. Parallel dazu besteht eine entsprechende Verwaltungsvereinbarung,21 um die Zeit bis zur vollständigen Ratifikation zu überbrücken. Für den Fall der Überführung in die vorübergehende Verwendung unter teilweiser Befreiung von den Einfuhrabgaben und die Entstehung einer Zollschuld wegen des Verstoßes gegen die Zollvorschriften gem. Art. 79 UZK besteht keine Aufteilungsvereinbarung, so dass in solchen Fällen die gesamte Erhebungskostenpauschale demjenigen Mitgliedstaat zusteht, in dem die Zollschuld entstanden und der Zoll erhoben worden ist.22

III. Kombination mit anderen Vereinfachungen Die zentrale Zollabwicklung kann kombiniert werden mit einer Bewilligung für (Art. 231 Abs. 1 und 2 UZK-IA) ȤȤ die in Art. 166 UZK geregelte vereinfachte Zollanmeldung, ȤȤ die in Art. 182 UZK geregelte Anschreibung in der Buchhaltung des Anmelders sowie ȤȤ die in Art. 185 UZK geregelte Eigenkontrolle (bei der die Höhe der Abgaben vom Bewilligungsinhaber ermittelt wird, der ggf. auch bestimmte Kontrollen selbst durchführt). Die in diesen Vorschriften festgelegten Einschränkungen (z. B. Ausschluss der Nutzung der Verfahrenscodes 42 und 63 bei einer Anschreibung) gelten auch im Rahmen der zentralen Zollabwicklung. Die Befreiung von der Verpflichtung zur Gestellung der Waren (Art. 182 Abs. 3 UZK) setzt voraus, dass der Inhaber des Verwahrungslagers über die erforderlichen Informationen verfügt, um die Beendigung der vorübergehenden Verwahrung nachzuweisen (Art. 231 Abs. 3 i.V.m. Art. 234 Abs. 1 Buchst. f UZK-IA).

IV. Kombination mit bewilligungsabhängigen Zollverfahren Bedarf das Zollverfahren, für das die zentrale Zollabwicklung genutzt werden soll, einer Bewilligung (aktive und passive Veredelung, Zolllager, vorübergehende und Endverwendung), so muss auch diese beantragt werden (vgl. Art. 211 Abs. 1 UZK). Dabei ist darauf zu achten, dass die Überwachungszollstelle i.S.v. Art. 1 Nr. 36 UZKDA für beide Bewilligungen dieselbe ist. Wurde im Rahmen des betreffenden Zollverfahrens eine Beförderung (auch in einen anderen Mitgliedstaat) gem. Art. 219 UZK bewilligt, so ist insoweit keine Bewilligung 21 http://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/resources/documents/customs/ policy_issues/conference_events/budapest2008/administrative_arrangement_en.pdf. 22 Der Ort der Zollschuldentstehung ist in Art. 87 UZK geregelt.

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der zentralen Zollabwicklung erforderlich, da die bewilligte Beförderung keiner Anmeldung bedarf (Ausnahme: Beförderung zur Ausgangszollstelle mit dem Ziel, die Waren aus dem Zollgebiet der Union zu verbringen). Einer solchen Bewilligung bedarf es jedoch, wenn eine Anmeldung erforderlich ist und der Anmelde- und der Gestellungsort auseinanderfallen. Ein solcher Fall liegt auch dann vor, wenn die Waren im Rahmen einer bewilligten Beförderung an einen Ort außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Überwachungszollstelle verbracht werden und dort zu einem anderen Zollverfahren oder zur Wiederausfuhr angemeldet werden sollen.23

V. Kombination mit Zahlungsaufschub und Gesamtsicherheit Eine zusätzliche Bewilligung ist auch erforderlich für den Zahlungsaufschub (Art. 110 UZK) sowie die Bewilligung einer  – ggf. ermäßigten  – Gesamtsicherheit (Art.  89 Abs. 5 und Art. 95 Abs. 2 und 3 UZK). Ist eine Sicherheit für entstandene Zollschulden und sonstige Abgaben zu leisten (also insbesondere bei einer Nutzung der zen­ tralen Zollabwicklung für die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr), so setzt Art. 95 Abs. 3 UZK zwar voraus, dass der Antragsteller AEOC ist, aber diese Anforderung besteht ja gem. Art.  79 Abs.  2 UZK ohnehin für die Bewilligung der zentralen Zollabwicklung, so dass diese zusätzliche Anforderung nur dann relevant wird, wenn die zentrale Zollabwicklung innerhalb eines Mitgliedstaats stattfinden soll, der für solche Fälle auf das Erfordernis einer Bewilligung verzichtet (Art.  179 Abs. 1 UAbs. 2 UZK). Im Übrigen gilt die Beschränkung auf AEOC auch in sonstigen Fällen, in denen eine Sicherheitsleistung für entstandene Zollschulden und sonstige Abgaben erforderlich ist.

VI. Antrag und Bewilligung 1. Antrag auf Bewilligung Die Vereinfachungsmöglichkeit des Art. 179 UZK wird gem. Abs. 1 nur auf Antrag bewilligt. Ohne dass dies ausdrücklich in dieser Vorschrift festgelegt ist, kann der Antrag nur vom Anmelder bzw. in dessen Namen gestellt werden. Der auch andere Anmeldungen und bestimmte Mitteilungen erfassende Begriff „Anmelder“ ist in Art. 5 Nr. 15 UZK definiert: danach gilt als (Zoll-)Anmelder diejenige Person, die im eigenem Namen die Anmeldung abgibt, oder in deren Namen die Anmeldung abgegeben wird (direkte Vertretung gem. Art.  18 Abs.  1 UZK). Im Falle der indirekten Vertretung ist der Vertreter selbst Zollanmelder. Die Nutzung eines indirekten Vertreters ist grundsätzlich in denjenigen Fällen erforderlich, in denen der Zollanmelder im Zollgebiet der Union ansässig sein muss, aber die Anmeldung für eine außerhalb dieses Gebiets ansässige Person abgegeben wird (vgl. Art. 170 Abs. 2 und 3 UZK). Die Nutzung der zentralen Zollabwicklung setzt aber voraus, dass der Bewilligungsinha-

23 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 30.

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ber im Zollgebiet der Union ansässig ist, so dass außerhalb dieses Gebiets ansässige Personen diese Vereinfachung nicht nutzen können. Die Bewilligung muss in demjenigen Mitgliedstaat und an dem Ort beantragt werden, in /an dem der Antragsteller ansässig ist und seine Hauptbuchhaltung für Zollzwecke führt (Art. 22 Abs. 1 UAbs. 3 UZK). Für das Entscheidungsverfahren und die nachträgliche Überwachung (sog. Monitoring) gelten die Art. 22 und 23 UZK. 2. Verzicht auf Bewilligung bei Nutzung innerhalb eines Mitgliedstaats Die Mitgliedstaaten können auf das Erfordernis einer Bewilligung verzichten, wenn die zentrale Zollabwicklung innerhalb desselben Mitgliedstaats stattfindet (Art. 179 Abs. 1 UAbs. 2 UZK). Grund für diese Regelung war, dass einige Mitgliedstaaten für ihr eigenes Staatsgebiet auf die Bedingung, dass der Antragsteller AEOC sein muss, verzichten wollten, die Kommission aber zu Recht darauf bestand, dass man innerhalb einer Zollunion mit gemeinsamem Zollgebiet nicht eine höhere Vertrauenswürdigkeit des Antragstellers nur deshalb verlangen kann, weil ein Zollverfahren mehr als einen Mitgliedstaat betrifft. Wird auf die Anforderung einer Bewilligung verzichtet, so kommt es für die Nutzung der zentralen Zollabwicklung im betreffenden Mitgliedstaat nicht darauf an, ob der Zollanmelder AEOC ist oder nicht (wohl aber für die Frage, ob eine Ermäßigung der Gesamtsicherheit bewilligt werden kann, sofern diese entstandene Zollschulden und sonstige Abgaben abdecken soll). Innerhalb Deutschlands wird die zentrale Zollabwicklung zurzeit nicht zugelassen. 3. Form und Inhalt des Antrags Die Erteilung der Bewilligung bedarf eines Antrags (Art. 179 Abs. 1 UZK), dessen Inhalt in Anhang A UZK-DA und Anhang A UZK-IA geregelt ist. Seit der Inbetriebnahme des Systems EU-ZK Zollentscheidungen sind die Formate und Codes für ­Anträge auf und Bewilligungen in Bezug auf die zentrale Zollabwicklung für die ­Mitgliedstaaten nicht mehr fakultativ (Art. 2 Buchst. h UZK-IA).24 Die deutsche Zollverwaltung stellt auf ihrer Webseite nur Antragsformulare für die im Zusammenhang mit der zentralen Zollabwicklung genutzten Vereinfachungen (z.B. vereinfachte Zoll­ anmeldung oder Anschreibeverfahren) zur Verfügung.25 4. Entscheidungs- und Konsultationsverfahren Für das Entscheidungsverfahren gelten Art. 22 UZK, Art. 8 – 14 UZK-DA, Art. 2 und 3 UZK-TDA und Art. 8 – 14, 229 UZK-IA. Die grundsätzliche Frist von 30 Tagen für die Annahme des Antrags gilt auch insoweit (Art. 22 Abs. 2 UZK). Die grundsätzliche 24 Die Verpflichtung zur Nutzung des Systems ist festgelegt in Art. 5 Abs. 1 Buchst. h der VO (EU) 2017/2089, ABl. 2017 Nr. L 2997/13. 25 Siehe z.B. Vordruck 0502: Antrag auf Bewilligung von vereinfachten Verfahren – Zusatzblatt Einfuhr, und Vordruck 0504: Fragenkatalog zur Selbstbewertung zum Verfahren der vereinfachten Zollanmeldung oder der Anschreibung in der Buchführung des Anmelders.

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Frist von 120 – bzw. bei Verlängerung – 150 Tagen für den Erlass der Entscheidung (Art. 22 Abs. 3 UZK) verlängert sich – sofern mehr als ein Mitgliedstaat betroffen ist – wegen des Konsultationsverfahrens zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten um (Art. 13 Abs. 3 UZK-DA, Art. 229 UZK-IA) ȤȤ 45 (während der Übergangszeit 60) Tage für die Erstellung und Übermittlung des Bewilligungsentwurfs und des Kontrollplans, ȤȤ 45 (während der Übergangszeit 60) Tage für die Erhebung von Einwänden seitens des konsultierten Mitgliedstaats, ȤȤ 90 (während der Übergangszeit 120) Tage für die Einigung zwischen den Mitgliedstaaten. Zur Konsultation legt der Bewilligungsmitgliedstaat dem bzw. den beteiligten Mitgliedstaat(en) Folgendes vor (Art. 229 Abs. 1 UZK-IA): ȤȤ den Antrag und den Bewilligungsentwurf, einschließlich der Fristen für Kontroll­ ersuchen und Antworten darauf, ȤȤ den Kontrollplan, ȤȤ sonstige Informationen, insbesondere in Bezug auf die Erhebung der Mehrwertsteuer und der Statistik.26 Erhebt ein beteiligter Mitgliedstaat Einwände, so wird zunächst geprüft, ob durch eine Ausklammerung von Problemfällen (z.B. bestimmte Waren, die im beteiligten Mitgliedstaat Verboten unterliegen) eine Lösung erzielt werden kann. 27 Soweit keine Einigung erzielt wird, führt dies zur Ablehnung des Antrags. Zuvor ist zwar rechtliches Gehör zu gewähren (Art. 22 Abs. 6 UZK), aber bei fehlender Zustimmung des anderen Mitgliedstaats kann weder die Zollbehörde noch das Gericht im Mitgliedstaat des Antragstellers für Abhilfe sorgen.28 5. Bedingungen für die Erteilung der Bewilligung Der Antragsteller muss Inhaber einer AEOC-Bewilligung sein, also folgende Voraussetzungen erfüllen (Art. 179 Abs. 2 i. V. m. Art. 39 UZK): ȤȤ Der Antragsteller darf keine schwerwiegenden oder wiederholten Verstöße gegen die zoll- oder steuerrechtlichen Vorschriften und keine schweren Straftaten im Rahmen seiner Wirtschaftstätigkeit begangen haben (Art. 39 Abs. 1 Buchst. a UZK, Art. 24 UZK-IA). 26 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 32. 27 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 31. 28 Insofern ist der Hinweis auf die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs gem. Art.  44 UZK in ­Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S.  32, ohne praktischen Nutzen, es sei denn, die Kommission geht davon aus, dass der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren zu dem Ergebnis kommen kann, der Bewilligungsmitgliedstaat dürfe sich über unberechtigte Einwände eines beteiligten Mitgliedstaats hinwegsetzen.

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ȤȤ Der Antragsteller muss ein erhöhtes Maß an Kontrolle seiner Tätigkeiten und der Warenbewegung mittels eines Systems der Führung der Geschäftsbücher und gegebenenfalls Beförderungsunterlagen, das geeignete Zollkontrollen ermöglicht, nachweisen (Art. 39 Abs. 1 Buchst. b UZK, Art. 25 UZK-IA). ȤȤ Der Antragsteller muss Zahlungsfähigkeit nachweisen, d.h. sich in einer zufriedenstellenden finanziellen Lage befinden, die es ihm erlaubt, seinen Verpflichtungen in Zusammenhang mit der betreffenden Tätigkeit nachzukommen (Art.  39 Abs.  1 Buchst. c UZK, Art. 26 UZK-IA). ȤȤ Der Antragsteller muss praktische oder berufliche Befähigungen nachweisen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der ausgeübten Tätigkeit stehen (Art.  39 Abs. 1 Buchst. d UZK, Art. 27 UZK-IA). Darüber hinaus muss der Antrag folgende Angaben enthalten:29 ȤȤ Die Orte, bei denen die Waren gestellt werden sollen, ȤȤ der Ort, an dem sich die Hauptbuchhaltung befindet, ȤȤ die Form, in der die Anmeldungen abgegeben werden sollen (vollständige Anmeldung, vereinfachte und ergänzende Anmeldung, Anschreibung und anschließende ergänzende Anmeldung) und ggf. die hierfür erteilte Bewilligung, ȤȤ die Angabe, ob die Anmeldungen im eigenem Namen oder von einem direkten oder indirekten Vertreter abgegeben werden sollen, ȤȤ die Zollverfahren, für welche die Bewilligung genutzt werden sollen und ggf. die hierfür erteilten Bewilligungen, ȤȤ die Angabe, ob Zahlungsaufschub und eine ggf. ermäßigte Gesamtsicherheit angewendet werden sollen sowie die Angabe der entsprechenden Bewilligungen, ȤȤ die Angabe der AEOC-Bewilligung. Ferner muss für die Erteilung der AEOC-Bewilligung der Selbstbewertungs-Fragebogen30 ausgefüllt werden. 6. Ablehnung des Antrags während der Übergangszeit a) Unverhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand Bis zur Einführung der IT-Systeme für die zentrale Einfuhrabwicklung in Bezug auf die Einfuhr bzw. Ausfuhr darf die Zollbehörde Anträge ablehnen, wenn die Bewilligung einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand erfordern würde (Art. 20 29 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 30, sowie den Antragsvordruck im Anhang 12 UZK-TDA. 30 http://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/resources/documents/customs/ policy_issues/customs_security/aeo_guidelines_de.pdf; für Deutschland https://www.zoll. de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zugelassener-Wirtschaftsbeteiligter-AEO/Antragsverfahren/ Fragenkatalog-Selbstbewertung/fragenkatalog-selbstbewertung_node.html.

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UZK-TDA). Eine solche Ablehnung erfordert jedoch eine individuelle Prüfung des Antrags, da IT-Unternehmen unterstützende Software entwickelt haben, welche den Aufwand für die Verwaltung gering halten (Übermittlung der erforderlichen Daten sowohl an das IT-System des Bewilligungsmitgliedstaats als auch an die Systeme der beteiligten Mitgliedstaaten). b) Weitergehende Einschränkungen in Deutschland Die UZK-Umsetzungsverfügung der deutschen Generalzolldirektion31 lässt die Erteilung von Bewilligungen an in Deutschland ansässige Antragsteller nur im folgenden Rahmen zu: „Die Zentrale Zollabwicklung wird bis auf Weiteres nur in dem Umfang umgesetzt, wie bereits jetzt das Verfahren der einzigen Bewilligung zulässig ist.  Die bisherige Bewilligungspraxis bleibt unverändert. Auf S. 12, Kapitel B XVIII. und den Erlass des Bundesministeriums der Finanzen vom 19.12.2008 GZ III B 1 – Z 1210/06/0001 DOK 2008/0701369 wird hingewiesen. Die Zentrale Zollabwicklung bleibt bis auf Weiteres nur mitgliedstaatenübergreifend zulässig.“

Der zitierte Erlass fordert die Ablehnung von Anträgen, welche die Überführung von Waren in den zollrechtlich freien Verkehr betreffen. M.E. hat ein Mitgliedstaat aus folgenden Gründen nicht das Recht, die Anwendung einer im Unionsrecht vorgesehenen Regelung (hier: zentrale Zollabwicklung innerhalb Deutschlands und im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten in Bezug auf die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr) grundsätzlich zu verweigern: 1. Wenn das Unionszollrecht bestimmte Verfahrensvereinfachungen vorsieht, dann haben die Mitgliedstaaten nicht das Recht, eine Bewilligung solcher Vereinfachungen generell zu verweigern. Es ist ja bisher auch niemand in Deutschland auf die Idee gekommen, die Bewilligung vereinfachter Zollanmeldungen oder von Zollanmeldungen durch Anschreibung generell zu verweigern. Das EU-Zollrecht darf nicht „à la carte“ angewendet werden. 2. Eine selektive Nichtanwendung bestimmter UZK-Vorschriften verstößt gegen Art. X Nr. 3 Buchst. a GATT, nach dem WTO-Vertragsparteien „alle Verwaltungsvorschriften, Gesetze sowie Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen, die in Ziffer 1 dieses Artikels vorgesehen sind [das sind u.a. Vorschriften hinsichtlich der Einfuhr und Ausfuhr], einheitlich, unparteiisch und gerecht anwenden“ müssen. 3. Die Verweigerung der Verfahrensvereinfachung benachteiligt Wirtschaftsbeteiligte in Deutschland gegenüber Wirtschaftsbeteiligten in anderen Mitgliedstaaten.

31 E-VSF-Nachrichten N 18 2016 Nr. 73 vom 2.5.2016.

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7. Verfahren, für welche die zentrale Zollabwicklung bewilligt werden kann Die zentrale Zollabwicklung kann nur für folgende Verfahren32 bewilligt werden (Art. 149 Abs. 1 UZK-DA): a) Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr; b) Zolllager; c) vorübergehende Verwendung; d) Endverwendung; e) aktive Veredelung; f) passive Veredelung; g) Ausfuhr und h) Wiederausfuhr von Waren, die sich im Zolllagerverfahren, in vorübergehender Verwendung oder aktiver Veredelung befinden. Bei Nutzung des Anschreibeverfahrens gelten die in Art. 150 UZK-DA festgelegten Einschränkungen, also ȤȤ bei der Überlassung bzw. Wiedereinfuhr zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr darf es sich nicht um folgende Fälle handeln: ȤȤ Verfahrenscode 42: Gleichzeitige Überlassung zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr von Waren, die gem. Art. 138 der MwStSystRL von der Mehrwertsteuer befreit sind, und ȤȤ Verfahrenscode 63: Waren, die unter Steueraussetzung gem. Art.  17 der VerbrStSystRL befördert werden; ȤȤ bei der aktiven oder passiven Veredelung darf kein Standardinformationsaustausch zwischen den Zollbehörden gem. Art. 181 UZK-DA erforderlich sein, es sei denn, die Zollbehörden haben andere Mittel des elektronischen Austauschs von Informationen vereinbart; ȤȤ bei der Ausfuhr und Wiederausfuhr ist die Vereinfachung nur zulässig, wenn ȤȤ keine Verpflichtung zur Abgabe einer Vorabanmeldung besteht oder ȤȤ die Ausfuhrzollstelle mit der Ausgangszollstelle identisch ist oder ȤȤ die Ausfuhrzollstelle und die Ausgangszollstelle Vorkehrungen getroffen haben, damit die Waren beim Ausgang unter zollamtlicher Überwachung stehen, und ȤȤ es sich nicht um die Ausfuhr verbrauchsteuerpflichtiger Waren handelt, es sei denn, es gilt Art. 30 der VerbrStSystRL (d.h. die Ausfuhr bzw. Wiederausfuhr erfolgt über das Gebiet des Mitgliedstaats der Anmeldung). 32 Die unter Buchst. h genannte Wiederausfuhr ist zwar nach der Definition des Art. 5 Nr. 16 UZK kein Zollverfahren, aber die Terminologie des Gesetzgebers wird hier übernommen.

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Die Vereinfachung kann nicht genutzt werden für die Überführung in das Versandverfahren, in eine Freizone oder in die vorübergehende Verwahrung. Sollen Waren im Anschluss an diese Verfahren in eines der oben unter a) bis h) genannten Verfahren übergeführt werden, so ist eine Bewilligung der zentralen Zollabwicklung dagegen zulässig.33

VII. Zollförmlichkeiten und -kontrollen Die normalerweise ab dem Empfang der Zollanmeldung und der Gestellung der Waren von derselben Zollstelle wahrzunehmenden Aufgaben (s. Art. 158 bis 195 UZK) sind bei der zentralen Zollabwicklung wie folgt aufgeteilt (Art. 179 Abs. 3, 5, 6 UZK): ȤȤ Die Zollstelle, bei der die Zollanmeldung abgegeben wird (sog. Überwachungszollstelle), nimmt die Zollanmeldung an, überprüft ggf. die Anmeldung und die Unterlagen, erhebt im Falle der Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr oder der vorübergehenden Verwendung unter teilweiser Abgabenbefreiung die Zölle und überlässt die Waren zu dem beantragten Zollverfahren. ȤȤ Die Zollstelle, der die Waren gestellt werden (der sog. Gestellungszollstelle), führt ggf. Kontrollen der Waren durch, und zwar entweder auf Ersuchen der Überwachungszollstelle oder aus eigener Initiative. Eine solche Teilerledigung der Aufgaben erfordert ein enge Zusammenarbeit und einen Datenaustausch zwischen den beteiligten Zollstellen (Art.1 79 Abs. 4, 5 UZK). Bis zur Einführung der hierfür notwendigen IT-Systeme können insoweit Hilfslösungen verwendet werden (Art. 18 UZK-TDA), wie z. B. vorab festgelegte Kriterien, in Bezug auf welche Waren und wie häufig Warenkontrollen durchzuführen sind (sog. Kon­ trollplan). Außerdem muss die Gestellungszollstelle vom Anmelder oder Beförderer darüber unterrichtet werden, dass die Waren für etwaige Kontrollen zur Verfügung stehen. 1. Abgabe der Zollanmeldung und Gestellung Im Regelfall müssen die Waren, die sich bei – oder im Zuständigkeitsbereich – der in der Bewilligung genannten Gestellungszollstelle befinden, gestellt werden, und zwar in der Form, dass der Bewilligungsinhaber gegenüber der Überwachungszollstelle eine der folgenden Anmeldungen bzw. Mitteilungen abgibt (Art. 231 Abs. 1 UZK-DA): ȤȤ eine Standard-Zollanmeldung gem. Art. 162 UZK, ȤȤ eine vereinfachte Zollanmeldung gem. Art. 166 UZK34 oder 33 Vgl. in Bezug auf die vorübergehende Verwahrung Art. 231 Abs. 3 i.V.m. Art. 234 Abs. 1 Buchst. f UZK-IA. 34 Wird in der Regel eine Standard-Zollanmeldung abgegeben, soll für eine gelegentliche vereinfachte Zollanmeldung keine besondere Bewilligung erforderlich sein, Guidance Doc. Taxud/A2/31/03/2016, S. 33.

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ȤȤ die grundsätzlich für das Anschreibeverfahren vorgesehene Gestellungsmitteilung gem. Art. 234 Abs. 1 Buchst. a UZK-IA. Ist die zentrale Zollabwicklung mit einer Bewilligung des Anschreibeverfahrens kombiniert, so richten sich die Gestellung bzw. Gestellungsbefreiung und die Abgabe der Zollanmeldung nach den Regeln für die Anschreibung in der Buchhaltung des Anmelders (Art. 231 Abs. 2, 3 UZK-IA).35 Die Überwachungszollstelle übermittelt der Gestellungszollstelle die Zollanmeldung (Standard-, vereinfachte, ergänzende Zollanmeldung) einschließlich etwaiger Änderungen und Ungültigerklärungen (Art. 231 Abs. 4, Art. 232 UZK-IA), damit diese die Angaben für fiskalische und statistische Zwecke verwenden kann.36 Da für den Austausch von Informationen über Zollkontrollen (Art. 231 Abs. 5 und 6 UZK-IA) während der Übergangszeit kein IT-System zur Verfügung steht, wird bis zu dessen Einführung auf die Anwendung dieser Vorschriften verzichtet (Art.  231 Abs. 11 UZK-IA i. d. F. der VO (EU) 2017/989). Während der Übergangszeit gestellt der Bewilligungsinhaber die Waren im Falle der Einfuhr an dem von den Zollbehörden bezeichneten oder zugelassenen Ort, d.h. er gibt die Gestellungsmitteilung (ggf. in Form einer vereinfachten bzw. Standard-Zoll­ anmeldung, Art. 21 Abs. 2 UZK-TDA) bei der Gestellungszollstelle ab, soweit er nicht von der Gestellungspflicht befreit wurde, und gibt die Zollanmeldung gegenüber der Überwachungszollstelle ab (Art. 231 Abs. 9 UZK-DA). 2. Tätigkeit der Überwachungs- und der Gestellungszollstelle Nach der Annahme der Zollanmeldung oder dem Erhalt der Gestellungsmitteilung wird die Überwachungszollstelle wie folgt tätig (Art. 231 Abs. 4 UZK-IA): ȤȤ Sie überprüft die Zollanmeldung bzw. Gestellungsmitteilung; ȤȤ sie übermittelt der Gestellungszollstelle unverzüglich die Zollanmeldung bzw. Mitteilung sowie die Ergebnisse ihrer Risikoanalyse; ȤȤ sie teilt der Gestellungszollstelle mit ȤȤ entweder, dass die Waren in das betreffende Zollverfahren übergeführt werden können ȤȤ oder, dass Zollkontrollen gem. Art. 179 Abs. 3 Buchst. c UZK erforderlich sind. Die Überwachungszollstelle darf eine Überprüfung der Waren nur in begründeten Fällen verlangen (vgl. Art. 179 Abs. 3 Buchst. c UZK).

35 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 33. 36 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 33.

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Während der Übergangszeit bis zur Einführung der IT-Systeme für die zentrale Zoll­ abwicklung wendet die Gestellungszollstelle den Kontrollplan an, in dem ein Mindestkontrollniveau angegeben ist (Art. 231 Abs. 10 UZK-IA). Bei der Ausfuhr stellt die Überwachungszollstelle bei der Überlassung der Waren der angegebenen Ausgangszollstelle die Angaben in der Ausfuhranmeldung, ggf. berichtigt gem. Art.  330 UZK-IA, zur Verfügung. Die Ausgangszollstelle unterrichtet die Überwachungszollstelle über den Ausgang der Waren nach Art.  333 UZK-IA. Die Überwachungszollstelle bescheinigt dem Anmelder den Ausgang der Waren gem. Art. 334 UZK-IA (Art. 231 Abs. 8 UZK-IA). Die Überwachungszollstelle unterrichtet die Gestellungszollstelle über die Überlassung der Waren (Art. 231 Abs. 7 UZK-IA). 3. Kontrollplan Für die Zollanmeldung in Form einer Anschreibung in der Buchhaltung des Anmelders ist generell die Erstellung eines Kontrollplans vorgeschrieben, in dem Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen unter Berücksichtigung der Frist für die Mitteilung der Zollschuld (Art.  103 Abs.  1 UZK) und ggf. unter Berücksichtigung einer bewilligten Gestellungsbefreiung festgelegt werden (Art. 233 Abs. 1 bis 3 UZK-IA). Für die zentrale Zollabwicklung legt Art. 233 Abs. 4 UZK-IA zusätzlich fest, dass der Kontrollplan die Aufteilung der Aufgaben zwischen der Gestellungs- und der Überwachungszollstelle regelt, insbesondere in Bezug auf die Anwendung von Verboten und Beschränkungen, die im Mitgliedstaat der Gestellungszollstelle gelten. Ein solcher Kontrollplan berücksichtigt Folgendes:37 ȤȤ Kriterien für eine Risikoanalyse, insbesondere firmenspezifische Besonderheiten, die Art der ein- bzw. ausgeführten Waren, die verfügbaren Daten; ȤȤ die Aufteilung der Kontrollmaßnahmen zwischen der Gestellungs- und der Überwachungszollstelle, wobei insbesondere folgende Maßnahmen in Betracht kommen: ȤȤ Betriebsprüfung, ȤȤ Überprüfung der Zollanmeldung und der dazu gehörigen Unterlagen, ȤȤ Überprüfung der Waren bei der Gestellungszollstelle, ȤȤ nachträgliche Kontrollen; ȤȤ Kontaktinformationen und Informationsaustausch, insbesondere über Kontrollen, Kontrollergebnisse und Unregelmäßigkeiten; ȤȤ Form der Überlassung der Waren; ȤȤ Mitteilungspflichten des Bewilligungsinhabers. 37 Vgl. Anhang V Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 71.

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Für individuelle Kontrollersuchen sowie die Mitteilung der Kontrollergebnisse wurde ein gemeinsamer Vordruck ausgearbeitet.38 4. Einhaltung der Bedingungen nach Erteilung der Bewilligung Waren die Voraussetzungen für die Erteilung der Bewilligung im Zeitpunkt des Antrags erfüllt, ist aber zumindest eine dieser Voraussetzungen später entfallen (z.B. wegen Personalwechsels, Zahlungsschwierigkeiten oder eines Gesetzesverstoßes), so ist der Bewilligungsinhaber verpflichtet, die überwachende Zollbehörde hierüber zu unterrichten (Art. 23 Abs. 2 UZK). Die Zollbehörde kann bei einer Nichteinhaltung der Bedingungen die Anwendung der AEOC-Bewilligung – und damit auch der Bewilligung für die zentrale Zollabwicklung  – aussetzen oder die Bewilligung widerrufen (vgl. Art. 23 Abs. 3 bis 4 UZK). Unabhängig von einer etwaigen Mitteilung des Bewilligungsinhabers über eingetretene Änderungen ist die Zollbehörde, welche die Bewilligung erteilt hat, verpflichtet, die Bedingungen und Verpflichtungen, welche der Inhaber erfüllen muss, regelmäßig zu überwachen (Art.  23 Abs.  5 UZK), was dann gleichfalls eine Neubewertung oder Aussetzung der Bewilligung zur Folge haben kann (s. auch Art.  15 bis 18 UZK-DA). Die Zollbehörden in den betroffenen Mitgliedstaaten tauschen hierüber Informationen aus (Art. 230, 232 UZK-IA). 5. Unregelmäßigkeiten Bei Unregelmäßigkeiten ist die Überwachungszollstelle zuständig für Verstöße gegen39 ȤȤ Pflichten aus der Bewilligung (z. B. Aufzeichnungen, Lagerung, Veredelung), ȤȤ Anmeldepflichten (z.B. Art, Menge, Wert und Ursprung der Waren). Die Gestellungszollstelle bzw. der Mitgliedstaat, in dem der Verstoß stattfindet, ist zuständig, wenn (vgl. Art. 87 UZK) ȤȤ Waren ohne Gestellung bzw. Zollanmeldung in das Zollgebiet der Union verbracht werden, ȤȤ Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen werden.

VIII. Einfuhrumsatzsteuer 1. Nichterhebungsverfahren Betrifft die Anmeldung zur zentralen Zollabwicklung ein zollrechtliches Nichterhebungsverfahren (aktive Veredelung, Zolllagerverfahren, vorübergehende Verwendung), so ist nicht nur die Erhebung des Zolls, sondern auch der Einfuhrumsatzsteu38 Anhang VI Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 75. 39 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 51.

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er ausgesetzt; dies gilt auch dann, wenn die Waren im Rahmen eines solchen Verfahrens in einen anderen Mitgliedstaat befördert werden (Art. 71 Abs. 1 MwStSyst­ RL). 2. Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr a) Nationale Lösungen Die Überführung von Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr wird in den Art. 2, 60, 61, 70 und 85 MwStSystRL als „Einfuhr“ bezeichnet.40 Die MwStSystRL regelt aber nicht, wie die bei der Einfuhr geschuldete Mehrwertsteuer zu erheben ist, wenn die Einfuhranmeldung in einem anderen Mitgliedstaat abgegeben wird als demjenigen, in dem die Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gelangen. Art.  211 Abs.  1 MwStSystRL überlässt es den Mitgliedstaaten, die Anmeldung und Erhebung der bei der Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer zu regeln. Diejenigen Mitgliedstaaten, die die nach Art. 211 Abs. 2 MwStSystRL zulässige Möglichkeit nutzen, die bei der Einfuhr geschuldete Mehrwertsteuer in die allgemeine Mehrwertsteuererklärung aufzunehmen (und die damit auf eine gleichzeitige Erhebung mit dem Zoll verzichten), haben eine Rechtsgrundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer, wenn die Zollanmeldung in einem anderen Mitgliedstaat abgegeben wird. Ist die MwSt-Anmeldung und -erhebung mit der Zollanmeldung und -erhebung gekoppelt (wie in § 21 UStG), so bedarf es einer Regelung für diejenigen Fälle, in denen die Waren in einem anderen Mitgliedstaat zur Einfuhr angemeldet werden als im Bestimmungsmitgliedstaat, soweit kein durch den Verfahrenscode 42 geregelter Fall (Einfuhr mit anschließender Verbringung in den Bestimmungsmitgliedstaat) vorliegt. Folglich muss – soweit keine unionsweite Regelung geschaffen wird – § 21 UStG ergänzt werden für Fälle, in denen Waren außerhalb Deutschlands zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet werden, aber in Deutschland in den steuerrechtlich freien Verkehr gelangen, d.h. eine gesonderte Einfuhrumsatzsteuer-Anmeldung oder die Aufnahme der Einfuhrumsatzsteuer in die allgemeine Mehrwertsteuer-Erklärung ist erforderlich. Dies würde nur dann nicht gelten, wenn das Zollrecht der Union die Erhebung der für die Bemessung der Einfuhrumsatzsteuer erforderlichen Daten und deren Übermittlung an den für die Erhebung dieser Steuer verantwortlichen Mitgliedstaat vorsieht.41 Ob in einem solchen Fall § 21 UStG mit seiner allgemeinen Verweisung auf das Zollrecht eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer bietet, ist allerdings zweifelhaft. In den Fällen, in denen in der Zollanmeldung gem. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 MwStSystRL Verfahrenscode 42 angemeldet wird, besteht dieses Problem deshalb nicht, weil die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer ausgesetzt und stattdessen ein

40 Zur unregelmäßigen Einfuhr s. EuGH v. 12.6.2016 – C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution GmbH/HZA Hamburg-Stadt und DHL Hub Leipzig GmbH/HZA Braunschweig, ECLI:EU:C:2016:405; Anm. von Schrömbges/Lux/Hannl in AW-Prax 2016, 322. 41 Siehe hierzu unten b).

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innergemeinschaftlicher Erwerb beim steuerpflichtigen Empfänger der Waren im Bestimmungsland besteuert wird. b) EU-weite Lösungen 2010 hat die EU-Kommission eine öffentliche Konsultation über die Umsatzsteueraspekte bei der zentralen Zollabwicklung durchgeführt.42 Der Ergebnisbericht von Januar 201143 geht insbesondere auf folgende Fragestellungen ein: 1. Soll der Importeur seine Mehrwertsteuerverpflichtungen zentral (also im Mitgliedstaat seiner Ansässigkeit) erfüllen können oder soll er die Anmeldedaten im jeweiligen Einfuhr-Mitgliedstaat abgeben? 2. Soll die MwSt-Anmeldung zusammen mit der Zollanmeldung oder aber als gesonderte Anmeldung abgegeben werden? In Bezug auf die erste Frage hat sich die Mehrheit der Befragten für eine zentrale Anmeldung ausgesprochen. Dazu wurden die folgenden Argumente vorgebracht: ȤȤ In einem zentralen System würde der Einführer mit den Steuerbehörden seines eigenen Landes in Kontakt stehen, d.h. des Landes, in dem er ansässig ist und in dem sein mit der Buchführung betrautes Personal arbeitet; der Einführer könnte in seiner eigenen Sprache verhandeln; Kontakte zu anderen Einfuhrmitgliedstaaten wären entbehrlich, was insofern vorteilhaft ist, als das Unternehmen in diesen Ländern möglicherweise nur über eine MwSt-Identifikationsnummer verfügt, nicht aber über eine Niederlassung oder Personal; ȤȤ damit würden die MwSt-Bestimmungen auf die Zollvorschriften abgestimmt; ȤȤ die Verwaltungskosten würden verringert, weil die von den Unternehmen durchzuführenden Verfahren auf einen Ort konzentriert würden; dagegen entsteht bei der zweifachen Anmeldepflicht im dezentralen Verfahren sowohl den Unternehmen als auch den Steuerverwaltungen zusätzliche Arbeit; ȤȤ Zentralisierung gewährleistet eine bessere Verfahrenskontrolle und hilft, Fehler zu vermeiden; ȤȤ da die Einfuhrumsatzsteuer auf dem Zollwert basiert44, dient eine gemeinsame Berechnung beider Beträge der Transparenz; außerdem sind alle für die Berechnung der Mehrwertsteuer bei der Einfuhr erforderlichen Informationen bei der Zentralstelle vorhanden.

42 http://ec.europa.eu/taxation_customs/consultations-get-involved/customs-consultations/ consultation-simplification-vat-collection-procedures-relation-centralised-customs-clea​ rance_en. 43 http://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/resources/documents/common/ consultations/tax/vat_centra_clear_summ_report_en.pdf. 44 Vgl. Art. 86 MwStSystRL.

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Als weitergehende Alternative wurde eine Änderung des Ortes der Einfuhr vorgeschlagen: ȤȤ Als Ort der Einfuhr für Mehrwertsteuerzwecke gilt der Mitgliedstaat der Bewilligung; ȤȤ der Einführer ist jedoch von der Zahlung von Mehrwertsteuer bei der Einfuhr im Bewilligungsmitgliedstaat befreit, wenn dieser Mitgliedstaat nicht der Bestimmungsmitgliedstaat ist (aufgrund eines „fiktiven 42.00-Verfahrens”). ȤȤ Z.B. werden Waren körperlich in den MS 1 eingeführt, während der Einführer über eine Bewilligung für die zentrale Abwicklung im MS 2 verfügt. In einem solchen Fall würde der MS 2 als Ort der Einfuhr gelten. Ist MS 1 der Bestimmungsmitgliedstaat, würde der Einführer das Verfahren 42.00 anwenden: dabei würde das Unternehmen von der Mehrwertsteuer in Mitgliedstaat 2 befreit, es würde aber von einer fiktiven innergemeinschaftlichen Lieferung von Mitgliedstaat 2 nach Mitgliedstaat 1 ausgegangen. In Bezug auf die zweite Frage sprach sich die Mehrheit der Befragten für eine gemeinsame Anmeldung von Zoll und MwSt aus: ȤȤ Es sei einfacher, den Betrag der Mehrwertsteuer auf Einfuhren in der gleichen ­Anmeldung zu berechnen; ein gemeinsames Meldesystem hilft, Fehler bei den ­Berechnungen zu vermeiden, und erleichtert es dem Einführer, die Beträge zu ­kontrollieren; Fehler lassen sich leichter in einer einzigen Anmeldung korrigieren; ȤȤ die Kontrollen durch die Steuerbehörden werden erleichtert; ȤȤ mit einer einzigen Anmeldung könne Doppelarbeit vermieden werden, die bei einer getrennten Berechnung des MwSt-Betrags entstünde; damit wiederum würden zusätzliche Kosten für den Einführer vermieden; ȤȤ Mehrwertsteuer und Zoll werden unter Verwendung spezieller IT-Systeme zusammen verbucht; bei Beibehaltung dieses Prinzips ließen sich die Kosten für den Aufbau eines völlig neuen IT-Systems vermeiden. Beide dieser Lösungen erfordern eine Änderung der MwStSystRL: 1. Wenn das Konzept des One-Stop-Shop auf die zentrale Zollabwicklung ausgeweitet wird, meldet der Einführer die Mehrwertsteuer im Mitgliedstaat der Bewilligung an und zahlt sie entweder dort oder im Bestimmungsmitgliedstaat; der Bestimmungsmitgliedstaat erhält Zugang zu den erforderlichen Kontrolldaten, die in der Zollanmeldung enthalten sind. Diese Lösung erfordert außerdem eine Änderung der in den Anhängen B UZK-DA und UZK-IA festgelegten Datenanforderungen. 2. Wenn der Einfuhrort auf den Bewilligungsmitgliedstaat verlagert wird, aber der Bestimmungsmitgliedstaat ein anderer ist, wird die Mehrwertsteuer nicht im Bewilligungsmitgliedstaat, sondern im Bestimmungsmitgliedstaat erhoben (Verfahren i.S.v. Verfahrenscode 42, ggf. ohne dass eine Beförderung in einen anderen Mitgliedstaat stattfindet). Auch insoweit sind wahrscheinlich Änderungen der Datenanforderungen erforderlich. 318

Zentrale Zollabwicklung (Art. 179 UZK)

Der EU-Mehrwertsteuerausschuss hat sich in einem Dokument vom 14.3.201745 dafür ausgesprochen, dass die Mitgliedstaaten die Zahlung der Einfuhrumsatzsteuer ȤȤ entweder zusammen mit dem Zoll aufschieben (englisch: deferred payment) ȤȤ oder zusammen mit der Zahlung der übrigen Arten der Mehrwertsteuer gestatten (englisch: postponed accounting). Die Einfuhrzollanmeldung soll zu diesen Zwecken folgende Angaben enthalten: ȤȤ Die Art der Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer (deferred payment bzw. postponed accounting); ȤȤ die Bemessungsrundlagen für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer (englisch: taxable amount); der Steuersatz selbst variiert ja von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat). In den meisten Mitgliedstaaten wird der Abgabenbetrag von der Zollbehörde ermittelt, und der Zollbetrag ist Bestandteil der Bemessungsgrundlage für die Einfuhrumsatzsteuer, so dass insoweit die Zollverwaltung diesen Betrag ermitteln müsste, damit sie ihn an den betroffenen Mitgliedstaat weiterleiten kann. 3. Ausfuhr und Wiederausfuhr Wird die zentrale Zollabwicklung für die Ausfuhr bzw. Wiederausfuhr genutzt, besteht kein besonderes MwSt-Problem, weil Lieferungen in Gebiete außerhalb des EU-Steuergebiets steuerbefreit sind (Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b MwStSystRL). Insoweit stellt sich allenfalls die Frage, wie der Ausgangsnachweis erbracht wird. 4. Übergangsregelung Während der Übergangszeit bis zur Einführung der IT-Systeme wird in der Bewilligung festgelegt, wie die für die Anmeldung und Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer erforderlichen Förmlichkeiten (einschließlich einer etwaigen Registrierung, der Verwendung eines Fiskalvertreters, einer Sicherheitsleistung im Einfuhrmitgliedstaat und der Übermittlung von Kontrollinformationen an den Einfuhrmitgliedstaat) durchzuführen sind (vgl. Art. 18 UZK-TDA).46 Manche Bewilligungsanträge sind wegen des damit verbundenen zusätzlichen Aufwands vom Antragsteller nicht weiter verfolgt worden.

45 taxud.c.1(2017)1561748 – EN. 46 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 34.

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IX. Besondere Verbrauchsteuern 1. Nichterhebungsverfahren Betrifft die Anmeldung zur zentralen Zollabwicklung ein zollrechtliches Nichterhebungsverfahren (aktive Veredelung, Zolllagerverfahren, vorübergehende Verwendung), so ist nicht nur die Erhebung des Zolls, sondern auch der Verbrauchsteuer ausgesetzt; dies gilt auch dann, wenn die Waren im Rahmen eines solchen Verfahrens in einen anderen Mitgliedstaat befördert werden (Art. 7 Abs. 2 Buchst. a VerbrStSystRL). 2. Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr Anders als die Zollanmeldung kann die Verbrauchsteueranmeldung zur Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr nach der derzeitigen Rechtslage nicht in einem anderen Mitgliedstaat abgegeben werden als demjenigen, in dem die Waren sich tatsächlich befinden (vgl. Art.  9 VerbrStSystRL). Sollen also im Rahmen der ­zentralen Zollabwicklung angemeldete Waren im Bestimmungsmitgliedstaat in den verbrauchsteuerrechtlich freien Verkehr gelangen, so ist dort eine entsprechende Anmeldung abzugeben.47 Liegt der Einfuhrort (an dem die Waren bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt werden sollen) nicht im Bestimmungsmitgliedstaat, so sind die Waren im Rahmen des elektronischen Systems für die Beförderung unter Verbrauchsteueraussetzung (EMCS48 ) dorthin zu befördern. 3. Ausfuhr und Wiederausfuhr Das EMCS-Verfahren muss auch genutzt werden, wenn verbrauchsteuerpflichtige Unionswaren unter Steueraussetzung aus dem Zollgebiet der Union verbracht werden sollen (vgl. Art. 329 UZK-IA).49 Im Fall der Wiederausfuhr von Nicht-Unionswaren setzt das betreffende Nichterhebungsverfahren, in dem die Waren sich befinden, auch die Erhebung der Verbrauchsteuer aus (Art. 7 Abs. 2 Buchst. a VerbrStSystRL). 4. Übergangsregelung Während der Übergangszeit wird in der Bewilligung festgelegt, wie die für die Anmeldung und Erhebung bzw. Nichterhebung besonderer Verbrauchsteuern erforderlichen Förmlichkeiten (einschließlich einer etwaigen Registrierung und Sicherheitsleistung im Einfuhrmitgliedstaat und der Übermittlung von Kontrollinformationen an den Einfuhrmitgliedstaat) durchzuführen sind (vgl. Art. 18 UZK-TDA).

47 Die Kommission schlägt aber einen Datenaustausch zwischen der Überwachungs- und der Gestellungszollstelle vor, vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 34. 48 VO [EG] Nr. 684/2009, ABl. 2009 Nr. L 197/24. 49 Es ist allerdings beabsichtigt, für solche Fälle eine Beförderung im externen Versandverfahren zuzulassen.

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Zentrale Zollabwicklung (Art. 179 UZK)

X. Außenhandelsstatistik 1. Erfasste Verfahren Nicht alle Zollverfahren, die im Rahmen der zentralen Zollabwicklung genutzt werden können, werden außenhandelsstatistisch erfasst. Es handelt sich (vgl. Art. 3 AußenhandelsstatistikVO50) ȤȤ im Falle des Ausgangs aus dem statistischen Erhebungsgebiet der Union um die Ausfuhr, die passive Veredelung und die Wiederausfuhr nach aktiver Veredelung, ȤȤ im Falle des Eingangs in das statistische Erhebungsgebiet der Union um die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr (einschließlich Endverwendung) und in die aktive Veredelung. 2. Für die Datenübermittlung zuständige Behörden Nach Art. 7 Abs. 1 der AußenhandelsstatistikVO übermitteln die Zollbehörden die in den Zollanmeldungen enthaltenen außenhandelsstatistischen Daten über die Einfuhr und Ausfuhr von Waren an das im betreffenden Mitgliedstaat zuständige statistischen Amt, das dann die nach Unionsrecht vorgeschriebenen Angaben an das Statistische Amt der Union (Eurostat) weiterleitet. Für die zentrale Zollabwicklung wurde in Art. 1 Abs. 3 AußenhandelsstatistikDVO51 eine hiervon abweichende Lösung festgelegt, allerdings erst für den Zeitraum, zu dem die erforderlichen IT-Systeme zur Verfügung stehen. Danach sollen die Zollbehörden, die die Zollanmeldung empfangen, eine Kopie der Zollanmeldung übermitteln an52 ȤȤ die Behörden des Bestimmungsmitgliedstaats im Falle von Einfuhranmeldungen und ȤȤ die Behörden des Mitgliedstaats, an dem der Beförderungsvorgang für die Ausfuhr beginnt, im Falle von Ausfuhranmeldungen. Die Mitgliedstaaten, die diese Angaben erhalten haben, sind dann verpflichtet, die Daten aufzubereiten und an Eurostat zu übermitteln (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a AußenhandelsstatistikDVO). Ziel dieser Regelung ist es, dass der Mitgliedstaat, in dem sich die Waren im Zeitpunkt der Anmeldung tatsächlich befinden, die statistischen Daten (die ja im Bewilligungsmitgliedstaat aufgrund der dort abgegebenen Zollanmeldung vorliegen) erhält, aufbereitet und an Eurostat weiterleitet. Da die Angaben über den Ort der Waren in der Zollanmeldung enthalten sind (vgl. Anhänge B UZK-DA und UZK-IA), hätte eine einfachere Lösung darin bestanden, dass die Zollverwaltung, welche im Rahmen der 50 VO (EG) Nr. 471/2009, ABl. 2009 Nr. L 152/23. 51 VO (EU) Nr. 92/2010, ABl. 2010 Nr. L 31/4, geändert durch VO (EU) 2016/1253, ABl. 2016 Nr. L 205/12. 52 Siehe auch Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 33 f.

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Michael Lux

zentralen Zollabwicklung die Zollanmeldung empfängt, die darin enthaltenen statistischen Daten – ggf. nach einer Berichtigung – an das nationale statistische Amt weiterleitet, das dann die erforderlichen statistischen Angaben (ohne eine Zwischenschaltung des Mitgliedstaats, in dem sich die Waren im Zeitpunkt der Zollanmeldung befinden) an Eurostat schickt. Insoweit konnte sich aber die einfachere und kostengünstigere Lösung nicht durchsetzen. Sofern die für die zentrale Zollabwicklung geplanten IT-Systeme so ausgestaltet werden, dass die Daten der Zollanmeldungen in einer zentralen Datenbank gespeichert werden, wird auch die in Art. 1 Abs. 3 AußenhandelsstatistikDVO festgelegte Regelung zu überdenken sein. 3. Übergangsregelung Während der Übergangszeit wird in der Bewilligung festgelegt, in welcher Form und an welche Adresse (normalerweise das statistische Amt im Mitgliedstaat, in dem die Waren sich befinden) der Bewilligungsinhaber die außenhandelsstatistischen Daten zu übermitteln hat.53 Auch dies ist ein zusätzlicher Kostenfaktor, der die Attraktivität der Verfahrensvereinfachung mindert.

XI. Prozesse und IT-Architektur Die Projektgruppe über die zentrale Zollabwicklung bei der Einfuhr schlägt in ihrem Bericht vom 7.7.201754 vor, dass in der Phase 1 nur Einzelanmeldungen (entweder Standardanmeldung oder vereinfachte Anmeldung mit nachfolgender ergänzender, d.h. vollständiger, Anmeldung) zugelassen werden sollen. Allerdings soll es zulässig sein, die Anmeldung vor der Gestellung der Waren abzugeben. Das Anschreibeverfahren soll vorläufig ebenso ausgeschlossen werden wie die Kombination von summarischer Eingangsanmeldung und Zollanmeldung. Verbrauchsteuerpflichtige und landwirtschaftliche Waren sollen vorläufig ausgeschlossen werden. Das System soll schrittweise zwischen dem 4. Quartal 2021 und dem 4. Quartal 2023 in den Mitgliedstaaten eingeführt werden. Die nachfolgenden Grafiken beschreiben die zu automatisierenden Prozesse.

53 Vgl. Guidance Doc.Taxud/A2/31/03/2016, S. 34. 54 taxud.a.3 SDC/ER(2017) version 8, Ref. Ares(2017)3433448 – 07/07/2017.

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Zentrale Zollabwicklung (Art. 179 UZK)

1. Standardanmeldung (Art. 231 UZK-IA)

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Michael Lux

2. Anmeldung vor der Gestellung der Waren

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Zentrale Zollabwicklung (Art. 179 UZK)

3. Prozesse und IT-Architektur Die EU-Kommission hat verschiedene Optionen für die IT-Architektur einer zentralisierten Einfuhrabwicklung geprüft, und zwar55 ȤȤ Alternative A: die Beibehaltung der derzeitigen Lösung für einzige Bewilligungen (mit gesonderten Meldungen für Zwecke der Mehrwertsteuer und der Außenhandelsstatistik), ȤȤ Alternative B: ein zentrales System, das sowohl von den Bewilligungsinhabern als auch den Mitgliedstaaten für die Abgabe und den Empfang und die Verarbeitung der Anmeldungen (einschließlich Kontrollen, Überlassung, Abgabenberechnung und Statistik) genutzt wird, ȤȤ Alternative C: ein Datenaustausch zwischen den nationalen Zollabwicklungs-Systemen, der durch ein EU-System (wie zurzeit ICS = Import Control System) unterstützt wird, und ȤȤ Alternative D: ein hybrides System, bei dem die Mitgliedstaaten wählen können, ob der Bewilligungsinhaber seine Anmeldung im nationalen oder im zentralen EU-System abgibt, wobei dann das jeweilige System die Daten verarbeitet. EU Centralised Clearance for Import Business Case Internet

Traders

Europa website

National Offices

National Offices

Traders

Central Services Central Helpdesk Monitoring, Testing, Statistics Network National Administration

Member State Administration

Nationally Operated Applications

Centrally Developed Applications

CCN (Common Communication Network)

Member State Administration

Network National Administration

Nationally Operated Applications

Other channels ex. Internet, email External Domain

National Domain Member State 1

Common Domain

National Domain

European Commission

External Domain

Member State 2

Figure 2 : Architecture of the decentralised system

55 The Vgl. Dok. Ares(2017)3867291 Business Case EU Centralised Clearance for Imthree domains of responsibility v. are2.8.2017: clearly separated: port. 

The Common Domain is managed by the Commission; the Common Domain comprises the CCN, the Central Services, and the Centrally Developed Applications (CDA), which may implement some functionality of the TES;



The National Domain falls under the responsibility of each National Administration;



The External Domain falls under the responsibility of each National Administration (taking into account the legal data requirements and the EUCDM).

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Michael Lux

Die EU-Kommission hat sich für Alternative C ausgesprochen, die wie folgt funktionieren würde: Der Bewilligungsinhaber gibt seine Zollanmeldung bei der Zollverwaltung seines Mitgliedstaats ab. Die Überwachungszollstelle prüft die gemeinsamen Datenelemente und übersendet die Anmeldung an die Gestellungszollstelle im anderen Mitgliedstaat für die Prüfung von dessen nationalen Datenanforderungen. Nach der Rückmeldung registriert die Überwachungszollstelle die Zollanmeldung, führt eine Risikoanalyse aus und entscheidet, ob weitere Kontrollen notwendig sind. Falls sie Kontrollen der Waren für notwendig hält, informiert sie die Gestellungszollstelle, welche dann die geforderten Kontrollen sowie ggf. aus eigener Initiative für erfor­ derlich gehaltene Kontrollen durchführt. Die Überwachungszollstelle wird über die Ergebnisse der Kontrollen informiert und berichtigt ggf. die Zollanmeldung. Anschließend sendet sie die Überlassungsmitteilung an den Anmelder und die Gestellungszollstelle. Die Gestellungszollstelle erhebt die Einfuhrumsatzsteuer und sendet die außenhandelsstatistischen Daten an das nationale statistische Amt.

XII. Fazit Nachdem die Probleme der zentralen Zollabwicklung seit vielen Jahren bekannt sind,56 ist nun endlich Bewegung in die Diskussion gekommen, und es werden – wenn auch zunächst nur eingeschränkte – Lösungen ausgearbeitet, insbesondere in Bezug auf das erforderliche IT-System und in Bezug auf die für die Bemessung der für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer erforderlichen Informationen. Die Behandlung nationaler Verbote und Beschränkungen sowie von verbrauchsteuerpflichtigen Waren bleibt ein im Einzelfall zu lösendes Problem. Für diejenigen Mitgliedstaaten, in denen die Einfuhrumsatzsteuer zusammen mit dem Zoll erhoben wird, bleibt zu prüfen, ob das nationale Recht eine ausreichende Rechtsgrundlage dafür bietet, die Steuer auf der Grundlage von Informationen zu erheben, die von dem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt worden sind, in dem die Zollanmeldung abgegeben wurde und in dem der Zoll erhoben wird. Ob die Außenhandelsstatistiker sich den Reformen im Zollbereich anschließen können, bleibt abzuwarten. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass die Schaffung einer zentralen Datenbank, die alle erforderlichen statistischen Informationen enthält, dazu führt, dass der Zollanmelder keine gesonderte statistische Anmeldung abzugeben braucht gegenüber dem Mitgliedstaat, in dem sich die Waren im Zeitpunkt der Anmeldung befinden.

56 Vgl. Lux, AW-Prax 1996, 348, AW-Prax 2008, 503, und AW-Prax 2010, 229.

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK bei Fehlverhalten der Kommission Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Fehlverhalten der Kommission als „Irrtum der zuständigen Behörde“ nach Artikel 119 UZK 1. Die Kommission als „zuständige ­Behörde“ 2. Zurechenbarkeit des Irrtums 3. Irrtümer beim Erlass delegierter Rechtsakte und beim Erlass allgemeingültiger Durchführungsrechtsakte 4. Irrtümer beim Erlass von Durch­ führungsrechtsakten, die Einzelfälle betreffen



5. Irrtümer bei der Abfassung von ­Erläuterungen und Leitlinien oder bei tatsächlichen Tätigkeiten der ­Kommission

III. Fehlverhalten der Kommission als „­besondere Umstände“ nach ­Artikel 120 UZK IV. Sorgfaltspflichten des Zollschuldners bei Fehlverhalten der Kommission

V. Verfahrensrechtliches bei Fehlverhalten der Kommission

VI. Schlusswort

Ich habe den Jubilar bei der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH in der Rechtssache C-175/12, Sandler erstmals persönlich kennengelernt. Dass er ein Experte des Zollrechts war, wusste ich; umso mehr beeindruckte er mich mit seinem Gefühl für praktische und gerechte Lösungen – praktisch im Sinne einer echten Lösung; gerecht im Sinne einer Lösung, die dem Sinn des Gesetzes zu folgen und die Interessen der Behörden an der Abgabenerhebung mit jenen der Wirtschaftsteilnehmer am freien Handel auszugleichen sucht. Diesem Ziel sucht auch dieser Beitrag gerecht zu werden. Zugleich sucht er eine Herausforderung für den Zoll des 21. Jahrhunderts zu erfassen – die zunehmenden Zuständigkeiten der Kommission bei Vollziehung der Zollvorschriften der Europäischen Union.

I. Einleitung Die Zollunion der EU wird durch die Zollbehörden der Mitgliedstaaten vollzogen. Dieser dezentrale Vollzug funktioniert letztlich deshalb, weil von einer einheitlichen Anwendung des Zollrechts ausgegangen wird. Durch unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensentscheidungen erweist sich die einheitliche Anwendung aber nicht immer als gegeben.1 1 Zum Bemühen des UZK, dass das Zollrecht von den Mitgliedstaaten einheitlicher angewendet wird, siehe Lux, AW-Prax 2015, 7 (8).

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Bernd-Roland Killmann

Teilweise stellt die Rechtsordnung der Union daher die einheitliche Anwendung dadurch sicher, dass zunehmend Aufgaben auch der Kommission bei der Verwaltung der Zollunion zugespielt werden. Die Kommission kann dabei jedoch keine Weisungen an die Zollbehörden erteilen. Dadurch ergibt sich ein Nebeneinander und ein Ineinander im Vollzug, das es nicht gerade einfach macht, festzustellen, welche Behörde für eine bestimmte Frage zuständig ist oder welcher Behörde ein Irrtum oder ein Pflichtversäumnis unterlaufen ist. Die Zuständigkeiten der Kommission im Rahmen der Verwaltung der Zollunion sind durchaus umfangreich und erfassen im Wesentlichen jene Bereiche, in denen eine einheitliche Vollziehung über den einzelnen Zollvorgang und dessen Abwicklung hinaus erforderlich ist. Dabei reichen die Aufgaben der Kommission vom Erlass von Rechtsakten, der Veröffentlichung von Rechtstexten, die Zollmaßnahmen beinhalten, über Aufgaben bei der Vollziehung der Nomenklatur, der Vollziehung von Ursprungsregelungen, von Quotenregelungen bis zum Betreiben von Datenbanken, der Überwachung von Handelsabkommen einschließlich der Untersuchung von Verletzungen von Zollbestimmungen im Einzelfall durch ihr Betrugsbekämpfungsamt OLAF. Die Kommission nimmt auch organisatorische Aufgaben für die bessere Zusammenarbeit der nationalen Zollbehörden wahr, nicht nur indem sie den Ausschuss für den Zollkodex und Expertengruppen organisiert, sondern auch indem sie elektronische Systeme für den Austausch von Informationen und zu deren Speicherung entwickelt und bereithält. Aus dem Umstand, dass die Kommission neben den nationalen Zollbehörden auch zunehmend in den Vollzug der Zollunion eingreift, folgt auch, dass die Kommission eher einen Irrtum oder eine Pflichtversäumnis begehen kann. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass aufgrund eines solchen Handelns der Kommission es sein kann, dass einem Wirtschaftsteilnehmer genauso wie gegenüber Zollbehörden der Mitgliedstaaten eine Erstattung oder ein Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK zu gewähren ist. Dies ist auch indirekt über die Verfahrensbestimmung des Artikels 116 Absatz 3 Buchstabe a) und b) UZK anerkannt. Soweit ersichtlich, wird die Rolle der Kommission – sei es in Bezug auf den Vertrauensschutz, sei es in Bezug auf die Billigkeit – jedoch kaum vertieft behandelt. Soll eine Erstattung oder ein Erlass auf der Grundlage gewährt werden, dass die Kommission ein Fehlverhalten gesetzt hat, also einen Irrtum2 oder eine Pflichtversäumnis begangen hat, so setzt dies in jedem Fall voraus, dass – bei einem Irrtum nach Artikel 119 UZK – die Kommission überhaupt die zuständige Behörde ist oder – bei einer Pflichtversäumnis zur Begründung von besonderen Umständen nach Artikel 120 UZK  – dass die Kommission zuerst einmal eine Pflicht hatte, die sie versäumen konnte.

2 Dass ein „Irrtum“ im Sinne des Artikel 119 UZK richtiger wohl eher als „Fehler“ zu bezeichnen wäre, siehe Fuchs, Spektrum der Steuerwissenschaften und des Außenwirtschaftsrechts 2016, 175 (200).

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK

II. Fehlverhalten der Kommission als „Irrtum der zuständigen Behörde“ nach Artikel 119 UZK 1. Die Kommission als „zuständige Behörde“ Erstattung oder Erlass nach Artikel 119 UZK ist im Wesentlichen eine Bestimmung zur Gewährung eines Vertrauensschutzes. Richtigerweise baut Artikel 119 UZK daher auf dem Hervorrufen eines berechtigten Vertrauens auf. Vertrauen kann aber nur gegenüber einer Behörde bestehen, die auch zuständig ist, einen gewissen Tatbestand in Bezug auf die Abgabenerhebung zu setzen.3 Die Voraussetzung, dass der Irrtum durch eine zuständige Behörde verursacht sein muss, ist – neben der Sorgfalt des Zollschuldners – eine der Voraussetzungen des Artikels 119 UZK. Außerdem ist nach Artikel 119 UZK in Fortsetzung der Rechtsprechung zu Artikel 220 ZK nur das berechtigte Vertrauen des betroffenen Zollschuldners insoweit schutzwürdig, wenn es gerade die zuständigen Behörden waren, die ursächlich die Grundlage für das Vertrauen des Zollschuldners geschaffen haben. Somit begründen lediglich solche Irrtümer, die auf ein aktives Handeln der zuständigen Behörden zurückzuführen sind, einen Anspruch darauf, dass von der Nacherhebung der Zölle abgesehen wird.4 Ein Irrtum bei der Vollziehung des Zollrechts ist zweifellos auch eine Unterkategorie eines möglichen Fehlverhaltens. Allein diese Unterkategorie wird von Artikel 119 UZK erfasst. Damit stellt sich bei Beurteilung des Fehlverhaltens der Kommission als mögliche Anwendungsgrundlage für eine Erstattung oder einen Erlass nach Artikel 119 UZK daher grundsätzlich die Frage, nicht nur inwieweit denn die Kommission als zuständige Behörde auftritt, sondern auch inwieweit sie dem Zollschuldner gegenüber eine Handlung vornimmt. Diese Frage stellt sich umso mehr, als – wie schon eingangs gesagt – die Hauptlast der Vollziehung des Unionszollrechts auf den Zollbehörden der Mitgliedstaaten liegt. Es sind nämlich grundsätzlich die Zollbehörden der Mitgliedstaaten, die Genehmigungen erteilen, Waren einreihen, die Zollschuld bestimmen und Zollverfahren überwachen. Dass die Kommission dem Zollschuldner gegenüber eine Handlung unmittelbar ­vornimmt und dadurch eine Handlung setzt, die zu einer zu niedrigen Zollschuld führt, ist daher in dem gegebenen Vollzugssystem die Ausnahme. Der UZK erkennt aber durchaus, dass – auch wenn es sich um einen seltenen Umstand handeln kann – die Kommission als „zuständige Behörde“, die einen „Irrtum im Sinne des Artikels 119 begangen hat“, infrage kommt, denn ansonsten hätte ja die Zuständigkeitsvorschrift des Artikels 116 Absatz 3 Buchstabe b) keinen Sinn, wonach in einem solchen Fall jedenfalls die Kommission über den Erlass oder die Erstattung zu entscheiden hat. 3 Niestedt in Krenzler/Herrmann/Niestedt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, 8. Aufl. 2016, Artikel 119 UZK Rz. 3. 4 So ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH v. 27.6.1991 – C-348/89, ECLI:EU:C:1991:278 – Mecanarte, Rz.  19; EuGH v. 14.11.2002  – C-251/00, ECLI:EU:C:2002:655  – Ilumitrónica, Rz. 39; EuGH v. 18.10.2007 – C-173/06, ECLI: EU:C:2007:612 – Agrover, Rz. 31 und jüngst EuGH v. 10.12.2015 – C-427/14, ECLI:EU:C:2015:803 – „Veloserviss“, Rz. 44.

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Aus der Verfahrensbestimmung des Artikels 116 Absatz 3 Buchstabe b) UZK lässt sich aber noch nicht ableiten, wann denn die Kommission als „zuständige Behörde“ gehandelt hat. Immerhin bringt es der UZK aber mit sich, dass die Zuständigkeiten der Kommission in Zusammenhang mit dem Vollzug des Zollrechts besser und transparenter erfasst sind.5 Der UZK bietet den Vorteil, dass anlässlich der bereits beschlossenen Überarbeitung des MZK6 unter anderem auch ein Schwergewicht darauf gelegt wurde, der Kommission in transparenter Weise die entsprechenden Zuständigkeiten zu erteilen. Der UZK unterscheidet dabei entsprechend den Artikeln 290 und 291 AEUV zwischen der Befugnis zum Erlass von delegierten Rechtsakten und von Durchführungsrechtsakten. Während delegierte Rechtsakte der Kommission immer allgemeine Wirkung haben, so können Durchführungsrechtsakte sowohl allgemeiner Natur sein als auch Einzelfälle betreffen. Nach dem UZK ist die Kommission jedenfalls für drei Kategorien von Rechtsakten die zuständige Behörde: für den Erlass von delegierten Rechtsakten (die ausdrücklich als solche im UZK gekennzeichnet sind), von allgemeinen Durchführungsrechtsakten (zumeist erkennbar an dem Verweis, dass die Kommission „Vorschriften“, „(Verfahrens-)Regeln“, „Modalitäten“ oder „Einzelheiten“ festzulegen hat) sowie für den Einzelfall betreffende Durchführungsrechtsakte (zumeist erkennbar daran, dass die Kommission eine „Maßnahme“, „Entscheidungen“ oder „Beschlüsse“ trifft). Dennoch ist der UZK nicht vollständig, denn er erfasst nur Rechtsakte, nicht aber das tatsächliche Handeln der Kommission. Tatsächliches Handeln kann aber als faktische Rechtsauffassung für den Irrtum nach Artikel 119 UZK von Bedeutung sein.7 Gerade das „soft law“ der Kommission fehlt aber im UZK, wohl deshalb, weil „Leitlinien“ oder vergleichbare Dokumente, die eine Auslegung der Kommission klarzustellen suchen, vom Unionsrecht in seiner Rechtsformenstrenge nur ausnahmsweise – etwa als Empfehlungen und Stellungnahmen nach Artikel 288 AEUV – erfasst werden und grundsätzlich nicht verbindlich sind.8 Gerade im Zollbereich sind aber die Erläuterungen der Kommission zur Kombinierten Nomenklatur durchaus von einer besonderen Bedeutung, weil davon ausgegangen wird, sie seien zumindest für die Zollbehörden verbindend .9 Ebenso sind in den rechtlichen Kategorien des UZK auch nicht andere von der Kommission geleistete Tätigkeiten erfasst, die sich eben nicht durch 5 Außerdem spricht Artikel 119 Absatz 1 UZK vom Irrtum der „zuständigen Behörde“, wogegen Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b) ZK noch auf den Irrtum der „zuständigen Zollbehörde“ verwies. Dadurch war die Kommission nach Ansicht des EuG v. 19.3.2013 – T-324/10, ECLI:EU:T:2013:136 – Firma Léon Van Parys, Rz. 60 und 61, nicht von Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b) ZK erfasst. 6 So Erwägungsgrund (2) des UZK. 7 So Niestedt in Krenzler/Herrmann/Niestedt (Fn. 3), Artikel 119 UZK Rz. 2. 8 Weiterführend Deimel, ZfZ 2009, 157. 9 So legt es EuGH v. 14.4.2011 – C-288/09 und C-289/09, ECLI:EU:C:2009:572 – British Sky Broadcasting Group, Rz. 93 nahe: „Aus diesen Erwägungen folgt, dass sich die Zollbehörden, wenn sie mit einem Antrag auf Erteilung einer [vZTA] befasst sind, an die Erläuterungen zur KN halten müssen, damit die einheitliche Anwendung des Zollrechts in der Union sichergestellt wird.“ (Hervorhebung hinzugefügt).

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK

einen Rechtsakt manifestieren. Die Kommission verwaltet bekanntlich Zollquoten, Zollkontingente und mehrere in der Praxis relevante IT-Systeme10, wobei der Inhalt der IT-Systeme und Datenbanken gerade nicht von der Kommission abhängt. 2. Zurechenbarkeit des Irrtums Nach Artikel 119 UZK bedarf es eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem irrigen, aktiven Handeln der zuständigen Behörde und der ursprünglich zu geringen Festsetzung der zu erhebenden Zollschuld. Bedenkt man, dass die Zollbehörden der Mitgliedstaaten an delegierte Rechtsakte oder Durchführungsrechtsakte der Kommission gebunden sind, so ist es gerade dieser Zusammenhang, der zeigt, ob den Zollbehörden der Mitgliedstaaten oder der Kommission ein Irrtum unterlaufen ist, der für die zu geringe Festsetzung der zu erhebenden Zollschuld maßgeblich war. Um diesen Zusammenhang richtig zu erfassen, liegt es nahe, vergleichbare Sachverhalte zu untersuchen. Dabei bietet sich das Unmittelbarkeitskriterium des Artikels 263 AEUV an: In Zusammenhang mit der Zulässigkeit einer Klage gegen einen Rechtsakt der Union wird dieses dahin verstanden, dass das kumulative Vorliegen zweier Kriterien vorliegen muss, nämlich erstens, dass die beanstandete Maßnahme der Union sich auf die Rechtsstellung einer Person unmittelbar auswirkt, und zweitens, dass sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung anderer Durchführungsvorschriften ergibt. Bei der Zulässigkeit von Klagen gegen den Rechtsakt der Union ist das Unmittelbarkeitskriterium nur eines der zu prüfenden Kriterien und wird durch jenes der individuellen Betroffenheit oder der Tatsache, dass es keiner Durchführungsmaßnahme bedarf, ergänzt.11 Was nun das Unmittelbarkeitskriterium für sich allein betrifft, so ist es aber durchaus geeignet aufzuzeigen, inwieweit ein Irrtum nicht der Zollbehörde eines Mitgliedstaats zuzuordnen ist, nämlich nur wenn dieser gegenüber der Maßnahme der Kommission keinerlei Ermessensspielraum lässt, die Umsetzung des Rechtsakts der Kommission vielmehr rein automatisch erfolgt und sich die zu setzende Maßnahme allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung anderer – nationaler – Durchführungsvorschriften ergibt.12 Das Unmittelbarkeitskriterium dient somit dazu, auch die Zuständigkeit entsprechend abzugrenzen, und führt üblicherweise dazu, dass es den Zollbehörden eines Mitgliedstaats zusteht, das Unionsrecht zu vollziehen und entsprechend anzuwenden. Üblicherweise wird eine irrige Anwendung des Zollrechts auf die Zollbehörden eines Mitgliedstaats zurückzuführen sein. Grundsätzlich können daher auch Wirtschaftsteilnehmer kein Vertrauen in das Verhalten der Kommission haben, sondern nur in das der für den betreffenden Zollvorgang zuständigen Zollbehörden der 10 Siehe allein die auf der Internetseite https://ec.europa.eu/taxation_customs/online-services_­ en (Stand: 9/2017) der Kommission aufgezählten dreizehn Datenbanken. 11 Vgl. weiterführend EuG v. 12.9.2013 – T-457/11, ECLI:EU:T:2013:414 – Valeo Vision. 12 Richtungsweisend etwa für Einreihungsverordnungen EuG v. 30.9.2003  – T-243/01, ECLI:EU:T:2003:251 – Sony Computer Entertainment Europe, Rz. 62.

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Mitgliedstaaten. Hier zeigt sich eben der Charakter des Artikels 119 UZK als Vertrauensschutzbestimmung. 3. Irrtümer beim Erlass delegierter Rechtsakte und beim Erlass ­allgemeingültiger Durchführungsrechtsakte Die Abgrenzung zwischen delegierten und allgemeinen Durchführungsrechtsakten bereitet zwar allgemein Abgrenzungsschwierigkeiten,13 ist aber für die Frage, inwieweit Irrtümer der Kommission als für den Erlass oder für die Erstattung aufgrund solcher Rechtsakte im Sinne des Artikels 119 UZK zuständige Behörde maßgeblich sind, vernachlässigbar. Unzweifelhaft ist aber, dass sich der Erlass allgemeingültiger Rechtsakte an alle Wirtschaftsteilnehmer richtet und daher in jedem Fall als aktives Handeln der Kommission anzusehen ist. Hier gilt es nun abzugrenzen: Irrtümer bei der Anwendung von delegierten und allgemeinen Durchführungsrechtsakten durch die Zollbehörden sind diesen zuzurechnen. Irrtümer der Kommission beim Erlass, das heißt im Inhalt, delegierter und allgemeiner Durchführungsrechtsakte sind auch den Zollbehörden zuzurechnen, wenn diese Zollbehörden den Irrtum durch richtige Anwendung höherwertigen Rechts im Rahmen ihres Ermessens noch richtigstellen können. Sofern aber Zollbehörden der Mitgliedstaaten kein Ermessen zusteht, sind Irrtümer beim Erlass delegierter und allgemeiner Durchführungsrechtsakte der Kommission zuzurechnen. Ein Beispiel dazu sind die Verordnungen zur Einreihungen bestimmter Waren in die Kombinierte Nomenklatur nach Artikel 57 Absatz 4 und Artikel 58 Absatz 2 UZK. Den Zollbehörden der Mitgliedstaaten kommt nämlich kein Ermessen bei der Anwendung zu, sodass ein Irrtum der Kommission bei der Einreihung in der Verordnung dieser zuzuordnen ist. In der Praxis sind solche Fälle jedoch unerheblich, denn die Kommission wird einen solchen Irrtum bei der Entscheidung über die Erstattung oder den Erlass erst anerkennen, wenn die Einreihungsverordnung nicht mehr Bestandteil der Rechtsordnung der Union ist, da sie sich ja ansonsten nicht nur gegen ihre eigene Auffassung, ­sondern auch gegen geltendes Unionsrecht stellen müsste, wodurch gerade ihre Kernaufgabe, nämlich die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen, ­gefährdet wäre. Anders gesagt, erst wenn die Einreihungsverordnung von der Kommission selbst, sofern sie ihren Irrtum erkennt, oder durch die europäischen Gerichte, gegebenenfalls entgegen dem Willen der Kommission, aufgehoben wurde, würde die Kommission ihren Irrtum anerkennen. Da die Aufhebung der Einreihungsverordnung durch das Gericht ex tunc wirkt, so bedarf es gar keines Nachweises des Bestehens eines Irrtums mehr, denn die Aufhebung schafft automatisch einen Erstattungs- oder Erlasstatbestand nach Artikel 117 UZK, der ohne Prüfung des Irrtums der zuständigen Behörde oder gar der Sorgfalt 13 Dazu ausführlich Schmidt in von der Groeben/Schwarze/Hatje,7. Aufl. 2015, Artikel 290 AEUV Rz. 10.

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK

des betroffenen Zollschuldners zur Anwendung gelangt – eine weitere Untersuchung nach Artikel 119 UZK erübrigt sich damit. Bei einer Aufhebung der Einreihungsverordnung durch die Kommission ex nunc kann sich aber durchaus ein Sachverhalt ergeben, nachdem eine Erstattung nach Artikel 119 UZK in Betracht kommt. Was die Analyse anhand der Einreihungsverordnungen zeigt, lässt sich auch auf andere delegierte Rechtsakte oder allgemeingültige Durchführungsrechtsakte übertragen. Auch hier gilt, dass die Kommission ihre Rechtsakte so lange vollziehen oder auf deren Vollziehung bestehen wird, als sie diese nicht selbst aufhebt oder diese von den europäischen Gerichten als dem Unionsrecht widersprechend aufgehoben wurden. Mögliche Irrtümer der Kommission als zuständiger Behörde bei Erlass derartiger Rechtsakte werden also schon, im Wesentlichen als gesondert bestehende Vorfrage, in einer für den Zollschuldner endgültigen Weise geklärt, ohne dass es überhaupt zu einer Prüfung deren Maßgeblichkeit nach Artikel 119 UZK kommt. Sollte die Kommission ihren Irrtum selbst erkennen, lässt sich das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer auch dadurch ausreichend schützen, dass entsprechend der Sachlage eine ex-tunc- oder eine ex-nunc-Wirkung der Aufhebung vorgesehen wird. Es liegt also auch an der Kommission selbst, durch entsprechende Ausübung ihrer Befugnisse Sachlagen nach Artikel 119 UZK zu vermeiden. Grundsätzlich wird davon auszugehen sein, dass aufgrund eines Irrtums erlassene belastende Rechtsakte ex tunc, aufgrund eines Irrtums erlassene begünstigende Rechtsakte ex nunc aufzuheben sind. Bei Rechtsakten, deren Wirkung unklar ist, kommen eben Artikel 119 UZK oder auch Artikel 120 im Einzelfall zur Anwendung.14 Allgemeine Rechtsakte werden in allen Sprachen der Union im Amtsblatt veröffentlicht. Es ist die Verantwortung der Kommission, die Rechtsakte zu übersetzen, und dabei kann es durchaus auch zu Übersetzungsfehlern kommen. Fehlt eine Übersetzung, so ist das Unionsrecht in dieser Sprache gar nicht anwendbar, sodass der Zollschuldner schon von vornherein von der Zollschuld befreit ist15 und auf Artikel 117 UZK zurückgreifen kann. Wurde aber eine Übersetzung veröffentlicht, so können Fehler darin, die zu einer Erhebung einer zu geringen Zollschuld führen, durchaus als Irrtum der Kommission als zuständige Behörde angesehen werden.16

14 Beachte auch mögliche Sonderregelungen, die selbst Vertrauensschutz bieten und daher für Artikel 119 UZK keinen Platz mehr lassen, wie etwa für vZTA- und vUA-Entscheidungen, wo Artikel 34 Absatz 9 UZK ausdrücklich Umstände vorsehen, bei deren Vorliegen die Verwendungsdauer im Sinne des Vertrauensschutzes über die Aufhebung hinausgeht. 15 So EuGH 11.12.2007 – C-161/06, ECLI:EU:C:2007:773 – Skoma-Lux, Rz. 51. 16 Auf Übersetzungsfehler wird noch bei Beurteilung der Sorgfalt des Zollschuldners zurückzukommen sein, denn auch ein Zollschuldner muss sich den Vorwurf gefallen lassen, gegebenenfalls fähig zu sein, andere Sprachfassungen zu prüfen.

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4. Irrtümer beim Erlass von Durchführungsrechtsakten, die Einzelfälle ­betreffen Neben Rechtsakten, die allgemeine Gültigkeit haben, ist die Kommission auch zum Erlass bestimmter Entscheidungen zuständig, die den Einzelfall betreffen. Dazu zählt der Beschluss nach Artikel 6 Absatz 4 und Artikel 8 Absatz 4 UZK, der einem Mitgliedstaat ermöglicht, abweichende elektronische Systeme anzuwenden, der Beschluss nach Artikel 34 Absatz 11 und Artikel 37 Absatz 2 Buchstabe a), der einen Mitgliedstaat verpflichtet, vZTA- oder vUA-Entscheidungen zu widerrufen, der Beschluss nach Artikel 64 Absatz 6 und Artikel 66 Buchstabe b) UZK, der zu abweichenden Präferenzregeln ermächtigt, der Beschluss über die Erstattung oder den Erlass nach Artikel 116 Absatz 3 UZK und zuletzt der Beschluss zur Genehmigung von Tests durch einen Mitgliedstaat nach den Artikeln 282 und 283 UZK. Keiner dieser Kommissionsbeschlüsse ist an einen Wirtschaftsteilnehmer gerichtet, sondern stets an den Mitgliedstaat der zuständigen Behörden oder im Fall des Beschluss nach Artikel 64 Absatz 6 und Artikel 66 Buchstabe b) UZK an einen Drittstaat. Dadurch fehlt es am Erfordernis des Artikels 119 UZK, wonach die zuständige Behörde aktiv gegenüber dem Wirtschaftsteilnehmer handeln muss. Fehler und Irrtümer bei derartigen Beschlüssen können daher nicht im Rahmen des Vertrauensschutzes, sondern nur im Rahmen der Billigkeit erfasst werden.17 Es steht jedoch außer Zweifel, dass Irrtümer bei Beschlüssen nach Artikel 34 Absatz 11 und Artikel 37 Absatz 2 Buchstabe a) und nach Artikel 116 Absatz 3 UZK grundsätzlich der Kommission zuzuordnen sind und auch Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar betreffen. Diese Beschlüsse erfordern nämlich automatischen Vollzug durch die Zollbehörden der Mitgliedstaaten. Es steht ja auch außer Zweifel, dass diese Beschlüsse der Kommission jeweils vor den Europäischen Gerichten angegriffen werden können.18 Anders als beim allgemeingültigen Rechtsakt führt eine Aufhebung eines von der Kommission irrig erlassenen Beschlusses nach Artikel 34 Absatz 11 und Artikel 37 Absatz 2 Buchstabe a) UZK nicht in jedem Fall dazu, dass der ursprünglich betroffene Wirtschaftsteilnehmer wieder auf die inzwischen auf mitgliedstaatlicher Ebene widerrufene vZTA- oder vUA-Entscheidung zurückgreifen könnte.19 So ist etwa ein Sachverhalt vorstellbar, wonach ein Wirtschaftsteilnehmer eine Einreihung im Rahmen einer vZTA für eine Ware beantragt, die nach Ansicht der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats jedoch in eine andere Position mit einem höheren Tarif einzurei17 Beschlüsse nach Artikel 34 Absatz 11 und Artikel 37 Absatz 2 Buchstabe a) UZK können jedoch vom begünstigten Ausführer angefochten werden, vgl. nur EuG v. 14.11.2002  – T-332/00 und T-350/00, ECLI:EU:T:2002:274 – Rica Foods (Free Zone). 18 Für Beschlüsse nach Artikel 34 Absatz 11 und Artikel 37 Absatz 2 Buchstabe a) UZK siehe Deimel in Krenzler/Herrmann/Niestedt (Fn. 3), Artikel 34 UZK Rz. 20 und für Beschlüsse nach Artikel 116 UZK siehe Niestedt in Krenzler/Herrmann/Niestedt (Fn. 3), Artikel 116 UZK Rz. 12. 19 Allgemein zu Erlass und Erstattung bei Irrtümern bei Erteilung eines vZTA vgl. nur EuG v. 5.6.2013 – T-65/11, ECLI:EU:T:2013:295 – Recombined Dairy System.

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK

hen ist. Die Kommission hält die Einreihung des Mitgliedstaats für falsch und zwingt den Mitgliedstaat mit einem Beschluss nach Artikel 34 Absatz 11 und Artikel 37 Absatz 2 Buchstabe a) UZK zum Widerruf. Der Wirtschaftsteilnehmer führt nun die Ware ein und entrichtet unter Berufung auf den Kommissionsbeschluss einen zu niedrigen Zoll, denn die Kommission erkennt, dass sie bei Annahme des Beschlusses einen Irrtum machte, und widerruft ihn. Die Zollbehörde des Mitgliedstaats ist nun zur Nacherhebung verpflichtet, jedoch kann der Wirtschaftsteilnehmer sich nun auf einen Irrtum der Kommission nach Artikel 119 UZK, bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen, berufen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich auch Sachverhalte konstruieren lassen, nach denen die Kommission einen Irrtum bei Erlass- oder Erstattungsentscheidungen nach Artikel 116 Absatz 3 UZK begangen hat. Da diese Entscheidungen jedoch Einzelfälle von bereits abgeschlossenen Zollverfahren betreffen, erscheint es nur allein von theoretischer Bedeutung zu sein, dass ein Irrtum der Kommission dabei nach Artikel 119 UZK Bedeutung haben könnte. Viel eher werden irrig erlassene Erlass- oder Erstattungsentscheidungen der Kommission bereits im Rechtsweg durch die europäischen Gerichte korrigiert. 5. Irrtümer bei der Abfassung von Erläuterungen und Leitlinien oder bei ­tatsächlichen Tätigkeiten der Kommission Neben den Rechtsakten übt die Kommission auch tatsächliche Tätigkeiten aus, die mit der Vollziehung des Zollrechts in Zusammenhang stehen. Dazu gehören der Erlass allgemeiner Mitteilungen der Kommission, darunter vor allem die im Amtsblatt veröffentlichten Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur oder auch die im Internet veröffentlichten Auslegungshinweise oder Antworten auf Anfragen bestimmter Wirtschaftsteilnehmer. Außerdem verwaltet die Kommission verschiedene Datenbanken, darunter den TARIC, um die Anwendung des Unionsrechts im Zollbereich zu vereinfachen und zu verbessern. Um Irrtümer bei der Ausführung dieser Tätigkeiten der Kommission im Sinne des Artikels 119 UZK als Vorgehen „einer zuständigen Behörde“ zu erfassen, bietet sich wieder der Rückgriff auf das Unmittelbarkeitskriterium an. Dabei ist auch zu bedenken, dass dort, wo die Kommission Rechtsakte erlassen kann, sie eben zum Erlass dieser Rechtsakte zuständig ist. Das heißt, solange sich die Kommission auf Ankündigungen oder Hinweise beschränkt, die noch nicht verbindlich sind, hat sie ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt. Erst durch den Rechtsakt hat die Kommission gehandelt, ein Vertrauen in Mitteilungen und Auskünfte sowie sonstige Erklärungen der Kommission ist somit nicht geschützt. Da die Mitteilungen, Auskünfte und Erklärungen der Kommission grundsätzlich nicht rechtsverbindlich sind, ist jedenfalls davon auszugehen, dass die Zollbehörden der Mitgliedstaaten Ermessen bei deren Vollziehung in Hinsicht auf gemachte Mitteilungen, Auskünfte und Erklärungen der Kommission haben.20 20 Genauso wenig wie Mitteilungen, Auskünfte und Erklärungen der Kommission sind etwa Beratungen im Zollausschuss verbindlich, eben weil es den Zollbehörden der Mitgliedstaa-

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Andernfalls würde ja nahegelegt, dass die Kommission eine Form von übergeordneter Zollbehörde sei. Das ist die Kommission aber gerade nicht. Sie hat lediglich neben den Zollbehörden der Mitgliedstaaten auch geringere und auf den Grundsatz der ­Einzelermächtigung der Union aufbauende Zuständigkeiten bei Vollziehung des Zollrechts. Vergleichbar verhält es sich bei Abfragen aus den Datenbanken der Kommission: So sind etwa Informationen im TARIC nur eine Sammlung der dahinterstehenden Rechtsakte, ein Wirtschaftsteilnehmer kann nur Vertrauen in die Rechtsakte haben, nicht aber in die Datenbank. Grundsätzlich ist also davon auszugehen, dass Irrtümer der Kommission bei tatsächlichen Handlungen nicht im Sinne des Artikels 119 UZK erheblich sind. Nur dort, wo jedoch ein Vertrauen gegenüber Wirtschaftsteilnehmern in die Handlungen der Kommission bestehen kann und diese auch direkt betroffen sind, können tatsächliche Handlungen auch nach Artikel 119 UZK erfasst werden. Ein Beispiel sind die Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur, denn diese sind für Zollbehörden der Mitgliedstaaten zwar nicht rechtsverbindlich, dennoch haben die Zollbehörden die Erläuterungen verbindlich anzuwenden.21 Ein Irrtum bei Abfassung der Erläuterungen ist daher durchaus erheblich, noch dazu, wo diese Erläuterungen nicht aufgehoben werden können, sondern bei Verstoß gegen höherwertiges Unionsrechts – entsprechend der Annahme, dass es sich eben um keinen Rechtsakt handelt  – von Gerichten nicht „zu berücksichtigen“ sind.22 Anders als bei anderen Rechtsakten, deren Aufhebung durch ex-nunc- oder ex-tunc-Wirkung eine klare Rechtslage schafft, sind die Erläuterungen der Kommission zur Kombinierten Nomenklatur ausnahmsweise geeignet, einen Irrtum im Sinne des Artikels 119 UZK auszulösen. Bei diesen Erläuterungen kann sich auch die Frage stellen, inwieweit Abweichungen in den verschiedenen Sprachfassungen auf einen Irrtum der Kommission bei der Übersetzung zurückzuführen sind und für eine bestimmte, fälschlicherweise zu niedrige Festsetzung von Zollschulden maßgeblich waren.23 Ein weiteres Beispiel, wo sich Irrtümer der Kommission unmittelbar auswirken können, sind Fehler bei der Verwaltung von Zollquoten und -kontingenten. Erlaubt die Kommission etwa einer Zollbehörde die Anwendung eines für eine Quote geltenden günstigeren Zollsatzes und stellt sich nachträglich heraus, dass die Kommission irrte, etwa als sie die Quote oder das Kontingent zuteilte, so ist davon auszugehen, dass ten immer noch freisteht, nach eigener Prüfung der Umstände und hinreichender Begründung eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Siehe dazu EuGH v. 11.5.2006 – C-11/05, EU:C:2006:312 – Friesland Coberco Dairy Foods, Rz. 28 bis 32. 21 So für Erläuterungen der Kommission zur Kombinierten Nomenklatur nach EuGH v. 14.4.2011  – C-288/09 und C-289/09, ECLI:EU:C:2009:572  – British Sky Broadcasting Group, Rz. 93. 22 So ständige Rechtsprechung EuGH v. 5.6.2008  – C-312/07 ECLI:EU:C:2008:324  – JVC France, Rz. 34 und jüngst EuGH v. 26.11.2015 – C‑44/15, ECLI:EU:C:2015:783 – Duval, Rz. 24. 23 Was Übersetzungsfehler betrifft, ist aber zu beachten, dass die Erläuterungen nur in der Reihe „C“ des Amtsblatts veröffentlicht wurden und daher anders als in der Reihe „L“ veröffentlichte Rechtsakte andere Rechtswirkungen haben; so ausdrücklich EuGH v. ­ 12.5.2011 – C-410/09, ECLI:EU:C:2011:294 – Polska Telefonia Cyfrowa.

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dieser Irrtum allein der Kommission als für die Verwaltung der Quote oder des Kontingents zuständigen Behörde zuzurechnen ist. Dies aber nur dann, wenn die Kommissionshandlung sich unmittelbar auf den Wirtschaftsteilnehmer, der Zugang zur Quote oder zum Kontingent verlangt, auswirkt.24 Hier zeigt sich gut die Abgrenzung zwischen Vertrauensschutz nach Artikel 119 und Billigkeit nach Artikel 120 UZK: Allgemeine Fehler der Kommission bei Überwachung und Verwaltung von Zollquoten und -kontingenten stellen Handlungen oder Unterlassungen der Kommission dar, die sich nicht unmittelbar an den Wirtschaftsteilnehmer richten, sodass sie nicht von Artikel 119 UZK mangels Vorliegen eines aktiven Irrtums der Kommission gegenüber dem Wirtschaftsteilnehmer erfasst werden können. Solche Handlungen sind ja auch nicht geeignet, ein berechtigtes Vertrauen zu schaffen. Eine mögliche Erstattung oder ein Erlass aufgrund Fehler der Kommission bei Überwachung und Verwaltung von Zollquoten und -kontingenten, die nicht als Irrtum unter Artikel 119 UZK fallen, könnten jedoch von der Billigkeit nach Artikel 120 erfasst werden.25 Auch im Bereich der Verwaltung der Datenbanken können Fehler zwar unmittelbar einen Wirtschaftsteilnehmer betreffen, jedoch fehlt es auch hier am Vorliegen eines aktiven Irrtums der Kommission gegenüber dem Wirtschaftsteilnehmer. Außerdem werden die meisten der Datenbanken der Kommission nur zu Informationszwecken betrieben und sind daher gar nicht geeignet, ein Vertrauen in deren Richtigkeit zu erzeugen. Bei den tatsächlichen Handlungen der Kommission, die sich nicht in Form eines Rechtsakts ausdrücken, zeigt Artikel 119 UZK also, dass es sich um eine Vertrauensschutzbestimmung handelt und dass es insofern Schranken bei seiner Anwendung gibt. Nicht alle Handlungen der Kommission beruhen darauf, dass die Kommission als zuständige Behörde aktiv einen Irrtum gegenüber einem bestimmbaren Kreis von Wirtschaftsteilnehmern begeht und daher dessen berechtigtes Vertrauen in die Kommission verletzt. Fehlverhalten der Kommission, die sich nicht als Vertrauensverletzung erfassen lassen, sind daher bestenfalls nach Artikel 120 UZK im Rahmen der Billigkeit zu berücksichtigen.

24 Bei einer irrigen Beantragung oder einer zu späten Beantragung des Zugangs zur Quote oder zum Kontingent durch eine Zollbehörde der Mitgliedstaaten fällt das Fehlverhalten auf die Zollbehörde des Mitgliedstaats zurück, vgl. nur EuGH v. 17.2.2011  – C-494/09 ECLI:EU:C:2011:87 – Bolton Alimentari. 25 Zur Abgrenzung zu den Vorgängerbestimmungen von Artikel 119 und 120 UZK siehe EuG v. 8.10.2008 – T-51/07, ECLI:EU:T:2008:420 – Agrar-Invest-Tatschl Rz. 58: „Die Zielsetzung [des Artikel 119 UZK] ist nämlich insoweit enger als die [des Artikels 120], als sie lediglich das berechtigte Vertrauen des Abgabenpflichtigen in die Richtigkeit aller Gesichtspunkte schützen soll, die in die Entscheidung über die nachträgliche [Erhebung] der Zölle eingehen. [Artikel 120] stellt hingegen eine auf Billigkeitserwägungen beruhende Generalklausel dar“ (Hervorhebung hinzugefügt).

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III. Fehlverhalten der Kommission als „besondere Umstände“ nach ­Artikel 120 UZK Der gegenüber Artikel 119 UZK weitere Umfang des Artikels 120 UZK erlaubt es, Fehlverhalten der Kommission zu erfassen, die zwar einen Einfluss darauf hatten, dass eine Zollschuld zu niedrig festgesetzt wurde, die sich aber nicht auf einen von der Kommission gegenüber dem betroffenen Zollschuldner gesetzten Vertrauenstatbestand zurückführen lassen. Wie sich aus Artikel 116 Absatz 3 Buchstabe a) UZK erkennen lässt, ist ein Fehlverhalten der Kommission dann im Sinne des Artikels 120 UZK maßgeblich, wenn es auf eine „Pflichtversäumnis“ zurückzuführen ist. Auch wenn Artikel 116 Absatz 3 Buchstabe a) UZK bloß eine Zuständigkeitsvorschrift ist, so legt sie doch ein Verständnis nahe, das den Umfang des Artikels 120 UZK umschreibt. Nach Artikel 120 UZK kommen daher Pflichtversäumnisse in Betracht, die die Kommission zwar bei Vollziehung der Zollunion macht, aber eben nicht gegenüber Wirtschaftsteilnehmern setzt. Für die Billigkeit reicht es aus, wenn ein – oder mehrere – Wirtschaftsteilnehmer sich im Vergleich zu anderen Wirtschaftsteilnehmern, die die gleiche Tätigkeit ausüben, aufgrund der Pflichtversäumnis in einer außergewöhnlichen Lage befinden.26 Ein anerkanntes Beispiel ist das mögliche Fehlverhalten der Kommission bei der Überwachung der ordnungsgemäßen Durchführung von Abkommen, die die Union mit Drittstaaten abgeschlossen hat.27 Anhand dieses Beispiels lässt sich aber erkennen, dass es bei Pflichtversäumnissen der Kommission jedoch um mehr als nur Rechtspflichten geht: Letztlich hat die Kommission als „Hüter der Verträge“ auch die Pflicht, Wirtschaftsteilnehmer vor Schaden zu bewahren, nicht nur dadurch, dass sie die Mitgliedstaaten veranlasst, Unionsrecht einzuhalten, die Drittstaaten dazu drängt, Abkommen ordnungsgemäß anzuwenden, sondern auch dadurch, dass die Kommission etwa Warnhinweise herausgibt, nicht nur jene nach Artikel 119 Absatz 3 UZK, etwa auch im Rahmen einseitig gewährter Präferenzbegünstigen und wohl auch allgemein bei besonderen Gefahren betreffend Zollvorgänge.28 Fehlverhalten der Kommission kommt daher auch bei anderen Tätigkeiten in Betracht: So fallen etwa Fehler der Kommission bei Überwachung und Verwaltung von Zollquoten und -kontingenten in den Kreis der Pflichtversäumnisse der Kommissi-

26 Niestedt in Krenzler/Herrmann/Niestedt (Fn. 3), Artikel 120 UZK Rz. 4. 27 Jüngst EuG v. 19.7.2017 – T-752/14, ECLI:EU:T:2017:529 – Combaro, Rz. 67. 28 Zur Erlass- und Erstattungspraxis der Kommission nach Artikel 239 ZK, dem Vorgänger des Artikels 120 UZK, siehe Punkt 2.3.2 über „Pflichtverletzungen der zuständigen Behörden“ im Informationspapier über die Anwendung der Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b) und 239 des Zollkodex der Gemeinschaften, Seite 21 ff., verfügbar auf https://ec.europa.eu/ taxation_customs/sites/taxation/files/resources/documents/customs/procedural_aspects/ general/debt/guidelines_de.pdf (Stand: 9/2017), worin sich im Wesentlichen Beispiele für Fehlverhalten der Kommission in Zusammenhang mit den Ursprungsregeln finden.

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK

on.29 So zählt es wohl auch zu den Pflichten der Kommission, die Sprachfassungen der Union des TIR-Abkommens verfügbar zu machen.30 Fehler bei den Übersetzungen oder Unterlassen der Veröffentlichungen könnten der Kommission als Pflichtversäumnis zugerechnet werden. Auch das Betreiben und Warten der verschiedenen Datenbanken fällt unter solche Tätigkeiten. Ein in der Zukunft ernst zu nehmendes Beispiel für den erweiterten Pflichtenkreis der Kommission bietet etwa die Datenbank betreffend das System des registrierten Ausführers (REX). Zwar ist nach Artikel 80 UZK-IA eindeutig die Kommission für deren Verwaltung zuständig. Grundsätzlich sind für den Inhalt der REX-Datenbank jedoch die zuständigen Behörden der begünstigten Länder und die Zollbehörden der Mitgliedstaaten verantwortlich. Die Pflicht zur Veröffentlichung bestimmter Daten nach Artikel 82 Absatz 8 UZK-IA trifft jedoch allein die Kommission, und Irrtümer bei der Zurverfügungstellung dieser Daten fallen auf die Kommission zurück, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer im Vertrauen auf diese Daten eine zollbegünstigte Einfuhr vornimmt. Es liegt an der Kommission sicherzustellen, alles ihr Mögliche zu unternehmen, dass die Datenbank verfügbar ist, dass die Daten auf dem letzten ihr bekannten Stand sind und dass die Behörden, die Daten zur Verfügung zu stellen haben, sich auch entsprechend um die Qualität ihrer Daten kümmern. Als Pflichtversäumnis wäre auch anzusehen, dass anlässlich einer OLAF-Unter­ suchung der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer erst zu spät über den möglichen Untersuchungsgegenstand informiert wird und sie daher gegen mögliche Unregel­ mäßigkeiten nicht vorgehen konnte. Auch hier sollte das Fehlverhalten als mögliche „Pflichtversäumnis“ zu einer Billigkeitsentscheidung führen.31 Die Beispiele zeigen, dass Pflichtversäumnisse als Fehlverhalten der Kommission auch dann nach Artikel 120 UZK im Rahmen der Billigkeit maßgeblich sein können, wenn das Verhalten gerade nicht gegen eine Rechtspflicht verstößt: So ist die Kommission nicht rechtlich verpflichtet, Abkommen durchzusetzen, Warnhinweise zu veröffentlichen oder über Untersuchungen in einem frühen Stadium zu informieren. Im Gegensatz zum Irrtum erfordern Pflichtversäumnisse auch kein aktives Handeln. Auch ein Unterlassen der Kommission kann ein Pflichtversäumnis darstellen, wenn die Kommission eben einer Pflicht, etwas zu tun, nicht nachkommt. Tatsächlich scheint es bei der Billigkeit nach Artikel 120 UZK vielmehr darum zu gehen, der Kommission eine allgemeine Fürsorgepflicht für Wirtschaftsteilnehmer aufzutragen, die auf der Überlegung beruht, die Kommission sei für das allgemeine Funktionieren der Zollunion – auch über konkrete rechtliche Möglichkeiten hinaus – 29 So EuG v. 19.2.1998 – T-42/96, ECLI:EU:T:1998:40 – Eyckeler & Malt. 30 Nach Artikel 1 des Ratsbeschlusses 2009/477/EG über die Veröffentlichung einer konsolidierten Fassung des TIR-Übereinkommens, 2009/477/EG: Beschluss des Rates vom 28. Mai 2009 über die Veröffentlichung einer konsolidierten Fassung des Zollübereinkommens über den internationalen Warentransport mit Carnets TIR (TIR-Übereinkommen) vom 14. November 1975  mit den seither vorgenommenen Änderungen ABl. L 165 vom 26.6.2009, S. 1. 31 Vergleichbar mit den Sachverhalten in EuG v. 27.9.2005 – T-26/03, ECLI:EU:T:2005:338 – GeoLogistics und EuGH v. 7.9.1999 – C-61/98, ECLI:EU:C:1999:393 – De Haan Beheer.

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verantwortlich.32 Denn Billigkeit ist insbesondere dann angebracht, wenn es angesichts des Verhältnisses zwischen Wirtschaftsteilnehmer und Kommission unbillig wäre, den Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem Gang der Dinge nicht erlitten hätte.33 Aus Sicht einer Billigkeitsbestimmung scheint es auch gerechtfertigt, Besseres zu verlangen, als das Recht vorsieht.34 Umso wichtiger ist es aber, den Bogen nicht zu überspannen. Immerhin geht es nämlich darum, einen Wirtschaftsteilnehmer nur dann zu schützen, wenn er sich im Vergleich zu anderen, die eine vergleichbare Tätigkeit ausüben, in einer außergewöhnlichen Situation befindet. Die Außergewöhnlichkeit der Situation legt daher im Rahmen der Billigkeit nahe, das Interesse der Union an der vollen Beachtung der Zollvorschriften – einerlei, ob es sich um Unionsbestimmungen handelt oder um solche, die die Union binden – und zum anderen das Interesse des gutgläubigen Importeurs daran, keine Nachteile zu erleiden, die über das normale Geschäftsrisiko hinausgehen, gegeneinander abzuwiegen.35 Bezogen auf Pflichtversäumnisse der Kommission bedeutet dieses Abwägen, dass zu prüfen ist, wie weit sich die Kommission dabei von den bestehenden Rechtsvorschriften entfernt hat und über welche Informationen die Kommission über ihre angeblichen Pflichtversäumnisse verfügt. Sofern die Kommission sich an das Unionsrecht hielt und ihr lediglich vorzuwerfen ist, sie habe nicht von einer der davon gebotenen Möglichkeiten Gebrauch gemacht, umso eher muss auch nachgewiesen werden, dass die Kommission angesichts des ihr zumutbaren Informationsstands hätte handeln müssen. Ein Beispiel bieten die Warnhinweise nach Artikel 119 Absatz 3 UZK: Die Kommission ist rechtlich nicht verpflichtet, derartige Warnhinweise herauszugeben. Dennoch, sobald sich der Informationsstand der Kommission derartig verdichtet, dass von einer Gefahr für Einführer aus einem bestimmten Drittstaat auszugehen ist, umso eher wird anzunehmen sein, es sei unbillig, wenn die Kommission von der Möglichkeit zur Veröffentlichung eines Warnhinweises nicht Gebrauch gemacht hat. Außerdem muss ein so gefundenes Pflichtversäumnis der Kommission so weit gehen, tatsächlich das Geschäftsrisiko über das normale Maß hinaus zu erhöhen. Der Kommission kann auch nicht ein Geschäftsrisiko als Fehlverhalten angelastet werden, dass sie ohnehin nicht hätte verhindern können.36 32 Daher wird auch richtiger darauf verwiesen, dass Billigkeit dann zur Anwendung kommt, wenn „die Kommission ihre Sorgfaltspflicht [verletzte]“, wie bei EuG v. 10.5.2001 – T-186/97, T-187/97, T-190/97 bis T-192/97, T-210/97, T-211/97, T-216/97, T-217/97, T-218/97, T-279/97, T-280/97, T-293/97 und T-147/99, ECLI:EU:T:2001:133 – Kaufring, Rz. 268. 33 So schon EuGH v. 26.3.1987 – 58/86, ECLI:EU:C:1987:164 – Coopérative agricole d’approvisionnement des Avirons, Rz. 22. 34 So sprechen Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts, 8. Aufl. 2016, Rz. 1434 über Artikel 120 UZK als „Korrekturregelung“ gegenüber den ansonsten objektiven Zoll­ entstehungstatbeständen. 35 So ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH v. 25.7.2008  – C‑204/07  P, ECLI:EU:​ C:2008:446 – C.A.S., Rz. 93 und EuG v. 11.7.2002 – T-205/99, ECLI:EU:T:2002:189 – Hyper, Rz. 95; EuG v. 19.2.1998 – T-42/96, ECLI:EU:T:1998:40 – Eyckeler & Malt, Rz. 133. 36 So EuG v. 4.7.2002 – T-239/00, ECLI:EU:T:2002:175 – SCI UK, Rz. 66.

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Gerade hier zeigt sich der Billigkeitscharakter des Artikels 120 UZK: Die Abwägung soll nämlich sicherstellen, dass ein Geschäftsrisiko, das normalerweise die Wirtschaftsteilnehmer zu tragen haben, nicht auf die Kommission abgewälzt wird, um­ gekehrt aber auch die Kommission nicht zur Erhöhung des schon bestehenden Geschäftsrisikos beiträgt.

IV. Sorgfaltspflichten des Zollschuldners bei Fehlverhalten der ­Kommission Trotz der Unterschiede zwischen Artikel 119 und Artikel 120 UZK ist gerade der Tatbestand zum Fehlen der offensichtlichen Fahrlässigkeit des Betroffenen in gleicher Weise anzuwenden wie der eines Irrtum der Zollbehörden, der von einem gutgläubigen Zollschuldner nicht hätte erkannt werden können.37 Bezogen auf ein Fehlverhalten der Kommission, bedeutet dies, dass die Erkennbarkeit des Fehlverhaltens unter Berücksichtigung der Erfahrung der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, der Art des Fehlverhaltens und der von den Wirtschaftsteilnehmern aufgewandten Sorgfalt zu beurteilen ist. Dabei ist die Art des Fehlverhaltens unter Berücksichtigung des Komplexitätsgrades der betreffenden Regelung sowie der Dauer des Zeitraums, in dem die Kommission in ihrem Fehlverhalten verharrte, zu berücksichtigen.38 Offenkundige Gründe für das Fehlverhalten der Kommission müssen bei einem Wirtschaftsteilnehmer Zweifel an der Richtigkeit des Vorgehens der Kommission auslösen, und derartige Zweifel reichen aus, damit sich ein Zollschuldner hätte veranlasst gesehen, sich weitestgehend Aufschluss darüber zu verschaffen, ob diese Zweifel berechtigt sind.39 Ob ein Wirtschaftsteilnehmer Zweifel hätte haben müssen, beurteilt sich aber nach den verfügbaren Informationen. Es ist nämlich durchaus zuzugeben, dass die Kommission üblicherweise einen Informationsvorsprung hat und der Wirtschaftsteilnehmer nicht gehalten ist, diesen etwa durch Ausübung seines Anspruchs auf Akteneinsicht aufzuholen. Soweit aber Informationen für den Wirtschaftsteilnehmer im Besonderen oder im Allgemeinen zur Verfügung standen, kann er nicht darauf verweisen, diese nicht geklärt zu haben. 37 So ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH v. 1.4.1993 – C-250/91, ECLI:EU:C:1993:134 – Société Hewlett Packard France, Rz.  46; EuGH v. 20.11.2008  – C-375/07, ECLI:EU:C:2008:645 – Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading, Rz. 60 und EuGH v. 1.10.2009 – C‑552/08 P, ECLI:EU:C:2009:605 – Agrar-Invest-Tatschl, Rz. 52. 38 So ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH v. 11.11.1999 – C-48/98, ECLI:EU:C:1999:548 – Firma Söhl & Söhlke, Rz.  56 und EuG v. 27.9.2005  – T‑134/03 und T‑135/03, ECLI:EU:T:2005:339 – Common Market Fertilizers, Rz. 135. 39 So ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH v. 14.5.1996  – C‑153/94 und C‑204/94, ECLI:EU:C:1996:198  – Faroe Seafood, Rz.  100 und EuGH v. 16.3.2017  – C‑47/16, ECLI:EU:C:2017:220 – „Veloserviss“, Rz. 37.

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Ein gutes Beispiel bieten hier mögliche Übersetzungsfehler der Kommission: Soweit ein Wirtschaftsteilnehmer nämlich nachweisbar einer anderen Sprache mächtig ist, kann er nicht darauf bestehen, dass die ihn betreffende Sprachfassung der Union eindeutig sei, wenn die Fassung in der anderen Sprache der Union, der er auch mächtig ist, zumindest geeignet ist, Zweifel aufkommen zu lassen.

V. Verfahrensrechtliches bei Fehlverhalten der Kommission Aus Artikel 116 Absatz 3 Buchstaben a) und b) UZK ergibt sich, dass die Zollbehörden die Kommission mit Erlass- oder Erstattungsfällen zu befassen haben, die auf Pflichtversäumnisse oder Irrtümer der Kommission zurückgehen. Diese Bestimmungen hinterlassen den Eindruck, als würde die Kommission bei Anwendung des Artikels 119 UZK in eigener Sache entscheiden. Tatsächlich entspricht dies aber dem System des Artikels 116 Absatz 3 Buchstabe d) UZK, denn immerhin entscheiden Zollbehörden der Mitgliedstaaten auch über ihr eigenes Fehlverhalten bei der Beurteilung von Erlass- oder Erstattungsfällen, wenn es sich um Beträge unter 500 000 Euro handelt. Insofern ist es nur systemkonform, dass die Kommission ihre eigene Lage beurteilt. Jede andere Lösung würde nämlich beinhalten, dass Zollbehörden der Mitgliedstaaten Pflichtversäumnisse oder Irrtümer der Kommission zu beurteilen hätten und dass diese Beurteilung sodann vor nationalen Gerichten zu überprüfen wäre. Dadurch, dass die Kommission dafür zuständig ist, ist auch sichergestellt, dass sodann eine Prüfung durch europäische Gerichte erfolgt. Gerade der Rechtsweg zum EuGH stellt sicher, dass diese Entscheidung der Kommission auch objektiv überprüfbar bleibt. Ansonsten ändert sich aber nichts an den üblichen Verfahren für Erlass- oder Erstattungsfälle, welche auf ein Fehlverhalten der Kommission zurückzuführen sind. Der Zollschuldner hat das Vorliegen eines Irrtums oder eines Pflichtversäumnisses nachzuweisen, die Kommission hat das Vorliegen der Sorgfaltswidrigkeit nachzuweisen.40 Gerade diese Beweislastverteilung verwundert, ist es doch für den Wirtschaftsteilnehmer schwierig nachzuweisen, über welche Informationen die Kommission verfügte, als sie ihr Fehlverhalten setzte, ebenso wie es für die Kommission schwierig ist, den Kenntnisstand des Wirtschaftsteilnehmers zu erfahren. In der Praxis gilt es, auch den der Kommission grundsätzlich zustehenden Bewertungsspielraum zu erfassen. Damit die Beweislastverteilung gerecht bleibt, wird ein Fehlverhalten der Kommission bei einfachen Sachverhalten bereits dann angenommen, wenn die Kommission einen einfachen Fehler vorgenommen hat. Bei schwie­ rigen und komplexen Sachverhalten ist der Kommission jedoch ein weiterer Be­

40 So ständige Rechtsprechung, siehe nur EuG v. 17.9.1998 – T-50/96, ECLI:EU:T:1998:223 – Primex Produkte Import-Export, Rz.  138 und EuG v. 19.3.2013  – T-324/10, ECLI:EU:​ T:2013:136 – Firma Léon Van Parys, Rz. 86.

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Erstattung und Erlass nach Artikel 119 oder 120 UZK

urteilungsspielraum zuzugestehen, sodass letztlich der Zollschuldner den positiven Nachweis erbringen muss, dass die Kommission die Lage falsch bewertete.41 Was den Kenntnisstand des Wirtschaftsteilnehmers betrifft, so kann die Kommission auch auf Informationen, die außerhalb des Verfahrens für den konkreten Erlass- oder Erstattungsfall maßgeblich sind, zurückgreifen, etwa auf relevante Informationen, die im Rahmen einer OLAF-Untersuchung zutage traten. 42

VI. Schlusswort Vertrauensschutz und Billigkeit dienen der Gerechtigkeit im Einzelfall. Bei Artikel 119 und 120 UZK ist es nicht anders. Der Einzelfall erfordert aber nicht nur gerechte, sondern auch praktische Lösungen. Die Praxis der Kommission – angesichts der Herausforderungen an den Zoll im 21. Jahrhundert, schneller und besser auf den globalisierten Handel zu reagieren –, zunehmend Aufgaben auch für und zum Teil anstelle der Zollbehörden, rechtlich und tatsächlich, vorzunehmen, zeigt, dass Fehlverhalten der Kommission daher auch zunehmend in den Anwendungsbereich dieser beiden Bestimmungen des UZK kommen wird. Sich damit auseinanderzusetzen, wieweit sich der Wirtschaftsteilnehmer auf Artikel 119 und 120 UZK gegenüber der Kommission berufen kann, scheint daher höchste Zeit zu sein.

41 So die Analyse von Baumann, Entscheidungen der Europäischen Kommission über Erlass, Erstattung und Nacherhebung von Einfuhrabgaben (2002), S. 122 ff. 42 Jüngst EuGH v. 16.3.2017  – C‑47/16, ECLI:EU:C:2017:220  – „Veloserviss“, Rz.  49, dazu, dass es dabei Angaben zum Verhalten der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer bedarf, siehe Deimel, ZfZ 2017, 162.

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Elisabeth Frfr. Marschall von Bieberstein-Messerschmidt

Zollschuldner oder nicht? Das ist hier die Frage! Die eine Zollschuldnerschaft begründende Zurechenbarkeit fremden ­Verhaltens auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung Inhaltsübersicht

I. Einführung

II. Entwicklung der Vorschriften über den Kreis der Zollschuldner bei Verstößen 1. Zollschuldnerschaft in Deutschland nach dem Zollgesetz vom 14. Juni 1961 2. Harmonisierung auf der Ebene der ­Europäischen Gemeinschaften 3. Weitere Harmonisierung durch Einführung des Zollkodex 4. Erweiterung des Kreises der Zollschuldner durch den Modernisierten Zollkodex 5. Rechtslage nach dem Zollkodex der Union III. Zurechenbarkeit des Verhaltens Dritter bei Verstößen – Rechtsprechung des EuGH und Folgen für die Praxis 1. Zollschuld des unmittelbaren Verbringers durch Zurechnung des Handelns oder Unterlassens anderer Personen a) Der Fahrer und Beifahrer als Zollschuldner





b) Nebeneinander von Fahrzeug­ führern und mitreisendem Eigen­ tümer/Besitzer als Verpflichtete? c) Betrachtung auf Grundlage des Zollkodex der Union 2. Zollschuld durch Beteiligung einer bei der Einfuhr nicht anwesenden natürlichen Person a) Zollschuld von Hintermännern b) Zollschuldnerschaft bei unterblie­ bener oder nicht vollständiger ­Abgabenerhebung aufgrund ­unrichtiger oder unvollständiger Angaben c) Betrachtung auf Grundlage des Zollkodex der Union 3. Zollschuld eines Arbeitgebers durch Zurechnung des Verhaltens seiner ­Arbeitnehmer a) EuGH v. 23. September 2004 – Rs. C-414/02 – Ulustrans b) EuGH v. 25. Januar 2017 – Rs. C-679/15 – Ultra-Brag c) Betrachtung auf Grundlage des Zollkodex der Union

I. Einführung Seit Beginn der Harmonisierung der Regelungen über die Entstehung der Zollschuld und über die Zollschuldnerschaft auf europäischer Ebene durch Inkrafttreten der ZollschuldVO1 und der ZollschuldnerVO2 fragen sich Zollbeamte, Wirtschaftsbeteiligte, Wissenschaftler und die Justiz, wie der Begriff des Zollschuldners zu verstehen 1 Verordnung (EWG) Nr. 2144/87 des Rates vom 15. Juli 1987 über die Zollschuld, ABl. EG Nr. L 201 vom 22. Juli 1987, S. 1. 2 Verordnung (EWG) Nr. 1031/88 des Rates vom 18. April 1988 über die zur Erfüllung einer Zollschuld verpflichteten Personen, ABl. Nr. L 102 vom 21. April 1988, S. 5.

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ist, inwieweit sich Zollbeteiligte das Handeln oder Unterlassen anderer Personen zurechnen lassen müssen und ob und ggf. inwieweit eine Haftungsbegrenzung erfolgt. Die Beantwortung dieser Frage hat in der Regel ganz erhebliche finanzielle Auswirkungen – für die Beteiligten, aber auch für den Fiskus, der immer auf der Suche nach einem solventen Zollschuldner ist. Denn was nützt die oft mit erheblichem Aufwand betriebene und ggf. gerichtlich bestätigte Festsetzung von Einfuhrabgaben, wenn diese Forderung hinterher nicht realisiert werden kann? Auch in den mehr als zwanzig Jahren, in denen der Zollkodex (ZK)3 in Kraft war, konnten diese Fragen nicht abschließend beantwortet werden. Die Hoffnung, dass der zunächst konzipierte Modernisierte Zollkodex4 (MZK) oder der inzwischen in Kraft getretene Zollkodex der Union5 (UZK) auf diesem Gebiet Klarheit schaffen würde, hat sich nicht in allen Fällen erfüllt. Auch wenn sich zahlreiche – kleinere oder größere – Änderungen in den neuen Vorschriften finden, bieten diese – trotz der vorgenommenen Erweiterung des Kreises der Zollschuldner – keine abschließende Antwort auf alle bestehenden Fragen. Gleichwohl hat sich für die Praxis einiges geändert, und die Konturen der Zollschuldnerschaft scheinen in der letzten Zeit etwas deutlicher zu werden. Auch der EuGH ist bemüht, durch seine Rechtsprechung die zur Beurteilung heranzuziehenden Parameter immer mehr zu konkretisieren. In der Vergangenheit haben diverse Vorlagebeschlüsse der nationalen Gerichte dem EuGH Gelegenheit gegeben, sich mit der Frage zu befassen, inwieweit auch solche Personen als Zollschuldner anzusehen sind, die an der zollschuldauslösenden Handlung zwar selbst nicht unmittelbar beteiligt sind, aber mehr oder minder Anteil an der Zollschuldentstehung haben. Der vorliegende Beitrag soll die zu diesen Fragen ergangene Rechtsprechung des EuGH anhand ausgewählter Entscheidungen analysieren und sich an einer Strukturierung der in den Einzelfallentscheidungen zur Zollschuldnerschaft enthaltenen Aussagen zur Zurechenbarkeit fremden Verhaltens versuchen. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll lediglich einen von vielen Aspekten der Zollschuldnerschaft beleuchten.

II. Entwicklung der Vorschriften über den Kreis der Zollschuldner bei Verstößen 1. Zollschuldnerschaft in Deutschland nach dem Zollgesetz vom 14. Juni 1961 Vor Inkrafttreten der ZollschuldnerVO waren die Entstehung der Zollschuld und die Person des Zollschuldners in den einzelstaatlichen Gesetzen enthalten. In Deutsch-

3 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. Nr. L 302 vom 19. Oktober 1992, S. 1. 4 Verordnung (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 145 vom 4. Juni 2008, S. 1. 5 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union, ABl. Nr. L 269 vom 10. Oktober 2013, S. 1.

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land war dies das Zollgesetz (ZG).6 Während § 35a ZG für die Abfertigung zum freien Verkehr und § 58 ZG für die Fälle des nicht bewilligten besonderen Zollverkehrs und für die Abfertigung zu einem Freiverkehr, ohne dass die Voraussetzungen dafür vorlagen, zur Bestimmung des Zollschuldners noch ausschließlich auf den Zollbeteiligten verwies („Zollschuldner ist der Zollbeteiligte“), enthielt § 57 ZG für die Fälle, in denen Zollgut erstmals der zollamtlichen Überwachung vorenthalten oder entzogen oder unzulässig verändert wurde, differenziertere Regelungen. Zollschuldner war danach, wer erstmals das Zollgut der zollamtlichen Überwachung vorenthielt oder entzog oder unzulässig veränderte. Wer das Zollgut nach Entstehung, aber vor Erlöschen der Zollschuld übernahm oder an sich brachte und wusste oder wissen musste, dass es sich um Zollgut handelte, wurde damit weiterer Zollschuldner für diese Zollschuld (§ 57 Abs. 2 S. 1 und 2 ZG). Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, auch den nicht primär Handelnden oder Verantwortlichen als Zollschuldner in Anspruch zu nehmen, was den Kreis der Zollschuldner deutlich erweiterte. 2. Harmonisierung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften Nachdem mit der Richtlinie 79/623/EWG des Rates vom 25. Juni 1979 zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Zollschuld7 bereits ein wichtiger Schritt zur Angleichung der bislang nationalen Regelungen auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften erfolgt war (in Deutschland umgesetzt durch das Gesetz zur Änderung des Zollgesetzes vom 12. September 19808), erkannte der Rat, dass zur Durchsetzung einer einheitlichen Anwendung der für das gute Funktionieren der Zollunion wichtigen Vorschriften über die Entstehung und die Bestimmung der Höhe der Zollschuld unmittelbar wirkende Regelungen erforderlich waren. Die Umsetzung dieses Ziels erfolgte mit Erlass der Verordnung (EWG) Nr. 2144/87 des Rates vom 13. Juli 1987 über die Zollschuld9 (ZollschuldVO) und der von der Kommission erlassenen Verordnung (EWG) Nr. 597/89 vom 8. März 1989 mit Durchführungsvorschriften zur ZollschuldVO (ZollschuldDVO10). Flankierend dazu erließ der Rat die Verordnung (EWG) Nr. 1031/88 vom 18. April 1988 über die zur Erfüllung einer Zollschuld verpflichteten Personen11 (ZollschuldnerVO), um einheitliche rechtliche und wirtschaftliche Wirkungen in der gesamten Gemeinschaft zu gewährleisten.12 Darin erließ der Verordnungsgeber abschließende Regelungen über die Zollschuldnerschaft des Zollbeteiligten und des vollmachtlosen Vertreters für die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a ZollschuldVO (Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 ZollschuldnerVO). Die Regelungen, die die ZollschuldnerVO für die Zollschuldnerschaft beim vorschriftswidrigen Verbringen und beim Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung vorsah, waren 6 ZG vom 14. Juni 1961, BGBl. I vom 21. Juni 1961, S. 737. 7 ABl. Nr. L 179 v. 17.7.1979, S. 31. 8 BGBl. I 1980, S. 1695. 9 ABl. Nr. L 201 v. 22.7.1987, S. 15; vgl. Abs. 2 der Erwägungsgründe zu dieser Verordnung. 10 ABl. Nr. L 65 v. 9.3.1989, S. 11. 11 ABl. Nr. L 102 v. 21.4.1988, S. 5. 12 Abs. 2 der Erwägungsgründe zur ZollschuldnerVO.

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dagegen nur teilweise harmonisiert. Der Handelnde (Verbringer oder Entzieher) war in allen Mitgliedstaaten einheitlich zur Erfüllung der Zollschuld verpflichtet; ob weitere Personen als Zollschuldner in Betracht kamen, richtete sich dagegen nach nationalem Recht. So regelte die ZollschuldnerVO zwar, dass zur Erfüllung der Zollschuld gesamtschuldnerisch mit dem Verbringer auch Personen verpflichtet waren, die an diesem vorschriftswidrigen Verbringen beteiligt waren oder die die betreffende Ware erworben oder im Besitz hatten (Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a ZollschuldnerVO), und weitere Personen, die für dieses vorschriftswidrige Verbringen verantwortlich waren (Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a ZollschuldnerVO); die Zollschuldnerschaft dieser Personen stand jedoch unter dem Vorbehalt einer entsprechenden nationalen Regelung („nach den geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten“). Entsprechendes galt nach Art. 4 ZollschuldnerVO für das Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung. Auch hier war einheitlich in der Gemeinschaft die Person Zollschuldner, die die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hatte (Abs. 1 Unterabs. 1 der Vorschrift); weitere Zollschuldner waren „nach den geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten“ Personen, die an dem Entziehen beteiligt waren, sowie Personen, die die Waren erworben oder in Besitz hatten (Abs.  1 Unterabs.  2 Buchst. a der Vorschrift), und alle Personen, die für diese Entziehung verantwortlich waren (Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Vorschrift). In Deutschland ermöglichte §  57 Abs.  2 ZG die Inanspruchnahme weiterer Zollschuldner. Danach war Zollschuldner, wer erstmals das Zollgut der zollamtlichen Überwachung vorenthielt oder entzog oder unzulässig veränderte. Wer das Zollgut nach Entstehung, aber vor Erlöschen der Zollschuld (Abs. 1) übernahm oder an sich brachte und wusste oder wissen musste, dass es sich um Zollgut handelt, wurde damit weiterer Zollschuldner für diese Zollschuld. Dies führte in den Mitgliedstaaten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob entsprechende Regelungen zur Zollschuldnerschaft vorhanden waren oder nicht. Auch erfolgte auf Gemeinschaftsebene keinerlei Einschränkung in subjektiver Hinsicht. 3. Weitere Harmonisierung durch Einführung des Zollkodex Mit Einführung des Zollkodex erfolgte auf europäischer Ebene eine weitere Harmonisierung. Nicht nur die Vorschriften über die Entstehung der Zollschuld, sondern auch diejenigen über die Zollschuldnerschaft enthielten differenziertere Regelungen. In allen die Zollschuld betreffenden Artikeln wurde – ähnlich der bisherigen Regelung in § 57 Abs. 2 ZG – die Inanspruchnahme weiterer Personen als Zollschuldner von subjektiven Elementen abhängig gemacht, nach denen weitere Personen nur dann Zollschuldner wurden, wenn sie wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass sie durch die Beteiligung vorschriftswidrig handelten bzw. die Waren damit der zollamtlichen Überwachung entzogen (Art.  202 und 203, jeweils Abs.  3 zweiter Anstrich ZK) oder dass die Waren, die sie im Besitz oder erworben hatten, vorschriftswidrig verbracht bzw. der zollamtlichen Überwachung entzogen worden waren (Art. 202 und 203, jeweils Abs. 3 dritter Anstrich ZK). 348

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Damit war ein wichtiger Schritt zur Harmonisierung gelungen. Die bisher geltende Abhängigkeit der Zollschuldnerschaft weiterer Personen von entsprechenden nationalen Vorschriften und die damit sehr unterschiedliche Behandlung in den einzelnen Mitgliedstaaten waren wirtschaftlich in keiner Weise gerechtfertigt gewesen und hatten in vielen Fällen dazu geführt, dass der Abgabenanspruch nicht durchgesetzt werden konnte. Denn der primäre Zollschuldner war häufig nicht leistungsfähig, handelte es sich doch oft um den Lkw-Fahrer oder eine ähnliche Person. Nur bei einer Zollschuldentstehung, die auf – unrichtigen oder unvollständigen – Angaben in der Zollanmeldung beruhte, blieb die Zollschuldnerschaft der Person, die die erforderlichen Angaben geliefert und gewusst hatte oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass sie unrichtig waren, von entsprechenden innerstaatlichen Vorschriften abhängig (Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK). Deutschland hatte von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch gemacht.13 4. Erweiterung des Kreises der Zollschuldner durch den Modernisierten ­Zollkodex Auch der – allerdings nie vollständig in Kraft getretene – Modernisierte Zollkodex14 sah weitreichende Änderungen hinsichtlich der als Zollschuldner in Betracht kommenden Personen vor. So wurde bei der Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr oder in die vorübergehende Verwendung nunmehr unabhängig von entsprechenden nationalen Vorschriften auch Zollschuldner, wer bei einer Zollanmeldung die erforderlichen Angaben geliefert hatte und wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass sie unrichtig waren, wenn diese dazu geführt hatten, dass die Einfuhrabgaben ganz oder teilweise nicht erhoben wurden (Art. 44 Abs. 3 Unterabs. 2 MZK). Zudem wurde der Kreis der Zollschuldner in zwei Richtungen erweitert. So knüpfte nunmehr die Zollschuldnerschaft bei Verstößen primär an den Verpflichteten an. Während nach Art. 40 ZK nur die Person die Waren zu gestellen hatte, die die Ware verbracht oder die ggf. die Verantwortung für die Weiterbeförderung übernommen hatte, war nach Art. 95 Abs. 1 MZK nicht nur der Verbringer der Waren und die Person, die die Verantwortung für die Beförderung der Waren nach dem Verbringen in das Zollgebiet der Gemeinschaft übernommen hatte, zur Gestellung verpflichtet, sondern auch die Person, in deren Namen oder in deren Auftrag die Person handelte, die die Waren in dieses Gebiet verbracht hatte. Damit waren nun nicht mehr nur die Verbringer selbst und die übernehmenden Beförderer, sondern auch die vertretenen Personen und Auftraggeber unabhängig vom Vorliegen eines weiteren subjektiven Tatbestandsmerkmals (wissen oder vernünftigerweise wissen müssen) Zollschuldner. Darüber hinaus wurde auch der Kreis der weiteren Zollschuldner um die Personen erweitert, die im Auftrag des Verpflichteten handelten. Damit war nicht nur der vollmachtslose Vertreter gemeint; diese zollschuldrechtliche Folge ergab sich bereits aus 13 Vgl. Witte in Witte, Zollkodex, 6. Aufl. 2013, Art. 201 Rz. 13. 14 Verordnung (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 145 vom 4. Juni 2008, S. 1.

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der Fiktion in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 MZK, wonach dieser als in eigenem Namen und in eigener Verantwortung handelnde Person galt. Vielmehr wurden nach Art. 46 Abs. 3 Buchst. b und Art. 49 Abs. 3 Buchst. b MZK neben den Beteiligten bei Verstößen auch alle anderen Personen Zollschuldner, die im Auftrag der Person handelten, die die Verpflichtung zu erfüllen hatte, wenn sie wussten oder hätten wissen müssen, dass eine zollrechtliche Verpflichtung nicht erfüllt war. Die neuen Regelungen bedeuteten eine erhebliche Erweiterung der in Betracht kommenden Zollschuldner gegenüber der bisherigen Rechtslage. Damit konnte einerseits auch der Vertretene oder Auftraggeber, ohne weitere Voraussetzungen zu erfüllen, andererseits jeder, der im Auftrag des Verpflichteten handelte, bei Vorliegen der subjektiven Merkmale Zollschuldner werden, vom Vertreter bei Abgabe der Zollanmeldung bis zum Lkw-Fahrer und Lagerarbeiter.15 Sie alle liefen damit Gefahr, auch für das Verhalten anderer einstehen zu müssen. Im Falle des Entziehens war Zollschuldner, wer gegen die Verpflichtung verstoßen hatte, die gestellten Waren nicht ohne Zustimmung der Zollbehörden vom Ort der Gestellung zu entfernen (Art. 46 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. a MZK i. V. m. Art. 96 Abs. 3 MZK). Der Auftraggeber war lediglich im Falle einer Beteiligung bei Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen Zollschuldner (Art. 46 Abs. 3 Buchst. b MZK). 5. Rechtslage nach dem Zollkodex der Union Die im Modernisierten Zollkodex vorgesehene Erweiterung des Kreises der Zollschuldner hat der Verordnungsgeber im Zollkodex der Union beibehalten. Damit bleibt es im Falle der Überführung von einfuhrabgabenpflichtigen Nicht-Unionswaren in die Zollverfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr (Art. 77 Abs. 1 Buchst. a UZK) und der vorübergehenden Verwendung unter teilweiser Befreiung von den Einfuhrabgaben (Art. 77 Abs. 1 Buchst. b UZK) unabhängig von einzelstaatlichen Regelungen nach Art. 77 Abs. 3 Unterabs. 2 UZK bei der Zollschuldnerschaft derjenigen Person, die Angaben für die Zollanmeldung geliefert hat, die dazu führen, dass Abgaben ganz oder teilweise nicht erhoben werden, und die von der Unrichtigkeit der Angaben wusste oder hätte wissen müssen. Auch hinsichtlich der Zollschuldnerschaft bei Verstößen hat der Verordnungsgeber die Regelungen des Modernisierten Zollkodex übernommen. Zwar werden in der deutschen Sprachfassung im Rahmen der Zollschuldnerschaft (Art. 79 Abs. 3 Buchst. b und Art. 82 Abs. 3 Buchst. b UZK) andere Begriffe als im Modernisierten Zollkodex verwendet („Zollschuldner ist, wer wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen … und für Rechnung“ statt zuvor „im Auftrag der Person handelte, die die Verpflichtung zu erfüllen hatte“); dies stellt aber inhaltlich – anders als man aufgrund des Wortlauts vermuten könnte – keine Änderung gegenüber der entsprechenden Regelung im Modernisierten Zollkodex dar.16 Vielmehr ergibt ein Blick in die englische 15 Vgl. Witte in Witte (Fn. 13), Art. 201 Rz. 53. 16 So aber offenbar Witte/Henke/Kammerzell, Der Unionszollkodex, 2. Aufl. 2014, S.  102 oben.

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und französische Sprachfassung, dass in diesen unter Art. 79 Abs. 3 Buchst. b UZK dieselben Begriffe verwendet werden wie in Art. 46 Abs. 3 Buchst. b MZK („who acted on behalf of the person who was obliged to fulfil the obligation“ bzw. „qui a agi pour le compte de la personne qui était tenue de remplir l’obligation“). Mit Inkrafttreten des Zollkodex der Union steht den Zollverwaltungen damit gegenüber der bisherigen Rechtslage nach dem bisherigen Zollkodex ein deutlich größerer Kreis an möglichen Zollschuldnern zur Verfügung, unter denen sie – ggf. bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen – im Rahmen des ihnen obliegenden Ermessens eine Auswahl zu treffen haben. Zum einen sind nun auch der Vertretene und der Auftraggeber als zur Gestellung verpflichtete Personen ohne weitere Voraussetzungen nach Art. 79 Abs. 3 Buchst. a UZK Zollschuldner; auf der anderen Seite kann unter den weiteren subjektiven Voraussetzungen („wissen oder vernünftigerweise wissen müssen“) auch derjenige Zollschuldner sein, der für Rechnung des Pflichtigen gehandelt hat, jedoch auch ein sonstiger Beauftragter wie etwa ein Frachtführer, Spediteur oder eine Person, die bei der Erfüllung der Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen der Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, ihr Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung oder ihre Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung mitgewirkt hat (Art. 79 Abs. 3 Buchst. b UZK).17 Der Kreis der Zollschuldner wird damit auf den ersten Blick nur in eine Richtung, nämlich dem des jeweils schwächeren Glieds in der Handlungskette erweitert, indem die für Rechnung des Verpflichteten handelnde Person weiterer Zollschuldner werden kann. Witte spricht in diesem Zusammenhang eine Verwandtschaft mit dem im deutschen Recht bekannten Erfüllungsgehilfen an18, und auch Fuchs verwendet den Begriff des Gehilfen.19 Zwar steht die Zollschuldnerschaft dieser Personen unter dem Vorbehalt weiterer subjektiver Voraussetzungen; letztlich muss sich aber mit der Neuregelung ggf. auch ein Lagerarbeiter oder Lkw-Fahrer das Handeln des in der Regel wirtschaftlich weit leistungsfähigeren Verpflichteten oder seines Arbeitgebers zurechnen lassen, wenn er selbst den Fehler vernünftigerweise hätte erkennen können. Legt man bei der Beurteilung, ob ein Fehler vernünftigerweise hätte erkannt werden können, die bisherige Rechtsprechung zur groben und offensichtlichen Fahrlässigkeit zugrunde, dürfte die subjektive Voraussetzung zumindest bei professionellen Zolldienstleistern und ihren Angestellten sehr niederschwellig als erfüllt anzusehen sein.20 Dagegen enthält auch der Zollkodex der Union keine ausdrückliche Regelung, nach der der jeweilige Auftraggeber oder Arbeitgeber – soweit er nicht „verpflichtet“ ist – 17 Vgl. Deimel in Dorsch, Zollrecht, Art.  79 Rz.  51 (Juli 2016); Witte/Henke/Kammerzell (Fn.  16), S.  101; Lux, ZfZ 2014, 243, 245; Müller-Eiselt in Müller-Eiselt/Vonderbank, EG-Zollrecht, Fach 2100, Art. 79 Rz. 6. 18 Witte in Witte (Fn. 13), Art. 201 Rz. 53 zur vergleichbaren Regelung im MZK; Witte/Henke/ Kammerzell (Fn. 16), S. 101. 19 Fuchs, Das neue EG-Zollrecht, 2008, Rz. 311.6.1 zur vergleichbaren Regelung im MZK. 20 Vgl. Lux/Scheller/Zaczek, Sicherheitsleistung im neuen Zollrecht, ZfZ 2016, 202 (204) unter 3.

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automatisch (weiterer) Zollschuldner wird, wenn der Beauftragte oder Arbeitnehmer durch sein Handeln eine Zollschuld auslöst, weder mit noch ohne Erfüllung weiterer subjektiver Voraussetzungen. Dabei hätte es nahegelegen, diese Zielgruppe bei einer Erweiterung des Kreises der Zollschuldner ebenfalls ausdrücklich mit einzubeziehen. So aber bleibt es weiter Aufgabe der Zollverwaltungen und der Rechtsprechung zu prüfen, ob auch der jeweilige Unternehmer (Auftraggeber oder Arbeitgeber) sich das Handeln des Beauftragten oder der Angestellten zurechnen lassen muss und als Zollschuldner in Betracht kommt.

III. Zurechenbarkeit des Verhaltens Dritter bei Verstößen – ­Rechtsprechung des EuGH und Folgen für die Praxis Bei der Frage nach dem Zollschuldner ist nach den verschiedenen Fallgestaltungen zu unterscheiden. Neben der Differenzierung zwischen dem Pflichteninhaber und den weiteren Zollschuldnern (der Person, die für Rechnung des Pflichteninhabers handelt oder an der Handlung beteiligt war, die zur Nichterfüllung der Pflicht geführt hat, bzw. dem Erwerber oder Besitzer), wie sie Art. 79 Abs. 3 und 4 UZK vorsieht, kann auch innerhalb dieser Personenkreise weiter unterschieden werden. Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Zollschuldnerschaft in einzelnen, speziellen Fallgestaltungen unter dem Stichwort der Zurechnung fremden Verhaltens, auch wenn die Zollschuldnerschaft systematisch und dem Wortlaut der Vorschriften nach an eine eigene Handlung oder Unterlassung des Zollschuldners anknüpft. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Zollschuldnerschaft in diesen Fällen faktisch aus der Zurechnung des Verhaltens einer anderen Person herrührt. So wird der Fahrer eines Beförderungsmittels grundsätzlich als Verbringer aller im Fahrzeug befindlichen Waren angesehen, auch solchen, die andere in dem Fahrzeug versteckt haben oder für die (auch) andere gestellungspflichtig sind. Ob der Fahrer Kenntnis davon hatte oder nicht, spielt dabei keine Rolle (sogleich unter 1.). Ähnliches gilt, wenn eine Zollschuldnerschaft aus der objektiven Beteiligung an einem Pflichtenverstoß hergeleitet wird, auch wenn hier die subjektive Voraussetzung der Kenntnis bzw. des Kenntnis-Haben-Müssens als Korrektiv zur Verfügung steht (dazu unter 2.). Ganz offensichtlich ist die Zurechnung fremden Verhaltens in der dritten Fallgruppe, der Zollschuldnerschaft eines Arbeitgebers für das Verhalten seines Arbeitnehmers bzw. des Verpflichteten für Handlungen des Beauftragten (siehe unter 3.). 1. Zollschuld des unmittelbaren Verbringers durch Zurechnung des Handelns oder Unterlassens anderer Personen a) Der Fahrer und Beifahrer als Zollschuldner Eine wichtige Entscheidung in der Rechtsprechung des EuGH zum Verpflichteten als Zollschuldner bei Verstößen ist das Urteil vom 4. März 2004 in den verbundenen 352

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Rechtssachen C-238/02 und C-246/02 – Viluckas und Jonusas.21 In der Literatur hat es hauptsächlich deswegen Aufsehen erregt, weil es die Gestellungspflicht des Fahrzeugführers und des verantwortlichen Beifahrers für versteckte und verheimlichte Waren zementierte, auch wenn diese keine Kenntnis von den Waren hatten. Der BFH hatte in seinem Vorlagebeschluss22 noch dazu geneigt, die Gestellungspflicht des Fahrers und Beifahrers unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit von der subjektiven Möglichkeit einer Gestellungsmitteilung über die versteckten Waren abhängig zu machen.23 Der EuGH ist dem jedoch nicht gefolgt und hat aus der Gestellungspflicht des Verbringers letztlich eine Art Garantiehaftung der Fahrzeugführer hergeleitet. Auf der Grundlage dieser Entscheidung sah der BFH in der Folgezeit auch einen gutgläubigen Taxifahrer, der im Auftrag eines Kunden einen Anhänger mit in einem Hohlraum versteckten unversteuerten Zigaretten in das Zollgebiet der Gemeinschaft beförderte, als Zollschuldner für die auf den versteckten Waren ruhenden Abgaben an.24 Die Entscheidung ist folgerichtig, wenn man an dem Grundsatz festhält, dass die Gestellungspflicht ausschließlich an objektiven Maßstäben zu messen ist. b) Nebeneinander von Fahrzeugführern und mitreisendem Eigentümer/­ Besitzer als Verpflichtete? Schwerer scheint dem BFH eine entsprechende Entscheidung hinsichtlich eines Busfahrers gefallen zu sein, der als Zollschuldner für Zigaretten in Anspruch genommen wurde, die in Koffern versteckt waren, die keinem Reisenden zugeordnet werden konnten. Zwar handelte es sich hierbei lediglich um einen Beschluss in einem Verfahren wegen Prozesskostenhilfe; gleichwohl hat der BFH darin versucht, einen weiteren Aspekt in die Diskussion über die Verantwortlichkeit des Fahrers und Beifahrers einzubringen. So folgte er der Rechtsprechung des EuGH, indem er auch einen Busfahrer für nicht zuordenbare Gepäckstücke, in denen sich unverzollte und unversteuerte Zigaretten fanden, als gestellungspflichtig ansah, warf aber gleichzeitig die Frage auf, ob dies auch gelten könne, wenn eine Zuordnung des Gepäckstücks möglich sei und damit eine andere im Fahrzeug befindliche Person (ebenfalls) Verantwortung für die Verbringung der Waren trage.25 Der EuGH hatte in seiner oben angeführten Entscheidung Viluckas und Jonusas zwar entschieden, die Personen, die die versteckten Waren anzumelden haben, seien diejenigen, die die Herrschaft über das Fahrzeug im Zeitpunkt der Verbringung haben, nämlich u. a. die Fahrer, und zwar derjenige, der das Fahrzeug lenkt, und sein Beifahrer oder Ersatzmann, sofern er sich im Fahrzeug befindet. Die Anmeldepflicht, die die Fahrer treffe, würde für eine andere sich im Fahrzeug befindende Person gelten, wenn nachgewiesen sei, dass sie hinsichtlich der

21 Slg 2004, I-2141, ZfZ 2004, 159, HFR 2004, 592, AW-Prax 2004, 309. 22 BFH v. 7.5.2002 – VII R 39/01, BFHE 198, 255, BFH/NV 2002, 1117, ZfZ 2002, 309. 23 Rz. 67 des Vorlagebeschlusses (siehe vorherige Fn.). 24 BFH v. 20.7.2004 – VII R 45/01, BFH/NV 2005, 260, ZfZ 2005, 121. 25 BFH v. 14.9.2005 – VII S 7/05 (PKH), BFH/NV 2006, 148, ZfZ 2006, 93.

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Verbringung der Waren Verantwortung trägt.26 Die Formulierung lässt jedoch offen, ob diese zuletzt genannte Person neben den Fahrzeugführern zur Abgabe der Gestellungsmitteilung verpflichtet und damit weiterer Zollschuldner wäre oder ob sie anstelle der Fahrer die Gestellungsmitteilung abzugeben hätte und damit (alleiniger) Zollschuldner wäre. aa) Die auf die Viluckas-und-Jonusas-Entscheidung folgenden Urteile des EuGH haben diese Frage nicht abschließend beantwortet. Im Urteil vom 3. März 2005 in der Rs. C-195/03 – Papismedov27 – hat der EuGH auf das Urteil Viluckas und Jonusas verwiesen, in dem er ausführte, dass eine Person, die die Waren faktisch in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht hat, ohne sie anzugeben, auch dann nach Art. 202 Abs. 3 ZK Abgabenschuldner bleibe, wenn andere Personen für dieselben Waren aufgrund anderer Bestimmungen dieser Vorschrift zu Abgabenschuldnern erklärt werden können.28 Damit hat der EuGH aber nur eine Aussage über das Verhältnis des handelnden Verbringers als primären Zollschuldner zu den weiteren Zollschuldnern getroffen („nach anderen Bestimmungen dieser Vorschrift“), nicht aber zum Verhältnis mehrerer primärer Zollschuldner zueinander wie dem Fahrer auf der einen Seite und dem mitreisenden Eigentümer/Besitzer für eine Letzterem zuordenbare Ware auf der anderen Seite.29 bb) Stiehle geht davon aus, dass der Transportführer nur so lange im Hinblick auf die Gestellungsmitteilung Verpflichteter ist, bis eine Zuordnung zu einer anderen Person möglich ist und nachgewiesen werden kann, wer die Verantwortung für die Verbringung der Waren trägt.30 Folgte man dieser Auffassung, führte das dazu, dass man eine Art „vorübergehenden“ Zollschuldner hätte, nämlich den Fahrer bzw. Beifahrer. Dieser wäre dann so lange als Zollschuldner anzusehen, bis die Ware der eigentlich verantwortlichen Person zugeordnet werden kann. Offenbar soll nach Feststellung der verantwortlichen Person die Zollschuldnerschaft des Fahrers und Beifahrers entfallen, was jedoch einen entsprechenden Erlöschenstatbestand erfordern würde. Ein solches Verständnis würde dem Wortlaut und der Systematik der in der Vergangenheit und Gegenwart jeweils maßgeblichen Vorschriften widersprechen, die von feststehenden, ggf. auch mehreren Zollschuldnern ausgingen und -gehen. Die Zollschuldnerschaft ist ausschließlich davon abhängig, ob die entsprechenden Voraus­ setzungen erfüllt sind. Für die Frage, ob eine Person Zollschuldner ist, kann nicht maßgeblich sein, ob es einen anderen (weiteren) Zollschuldner gibt. Das Unbehagen, das man darüber empfindet, dass ein unwissender, gutgläubiger Fahrer Zollschuldner 26 EuGH v. 4.3.2004 – Rs. C-238/02 und C-246/02 – Viluckas und Jonusas, Slg. 2004, I-2141, ZfZ 2004, 159, HFR 2004, 592, AW-Prax 2004, 309, Rz. 23. 27 EuGH v. 3.3.2005  – Rs. C-195/03  – Papismedov, Slg. 2005, I-1667, HFR 2005, 603, ZfZ 2005, 192, Rz. 39. 28 EuGH v. 4.3.2004 – verbundene Rs. C-238/02 und C-246/02 – Viluckas und Jonusas, Slg. 2004, I-2141, ZfZ 2004, 159, HFR 2004, 592, AW-Prax 2004, 309, Rz. 29. 29 Vgl. dazu Fuchs, Nicht nur Fahrer und Beifahrer können verbringen und daher gestellungspflichtig sein!, ZfZ 2005, 284 (285 rechte Spalte). 30 Stiehle in Schwarz/Wockenfoth, Zollrecht  – Unionszollkodex –, Art. 79 Rz.  174 (August 2017).

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werden soll, obwohl der in erster Linie für das vorschriftswidrige Verbringen Verantwortliche feststeht, ist nicht über die Vorschriften der Zollschuldnerschaft zu beseitigen, sondern im Rahmen des Auswahlermessens bei der Frage, wer von mehreren Gesamtschuldschuldnern letzten Endes in Anspruch zu nehmen ist, angemessen zu berücksichtigen. cc) In der Literatur und Rechtsprechung wird die weitere Frage aufgeworfen, wer für das in einem Reisebus mitgeführte „persönliche Gepäck“, das sich im Besitz des Reisenden befindet, anmeldepflichtig ist. Stiehle31 geht ebenso wie Witte32 davon aus, dass das in einem Reisebus mitgeführte „persönliche Gepäck“, das sich im Besitz des Reisenden befindet, allein vom Reisenden verbracht wird, da es dem Zugriff des Fahrzeugführers entzogen sei. Eine ähnliche Auffassung vertritt der BFH in zwei Entscheidungen, in denen er ausführt, die Sachherrschaft des Fahrzeugführers erstrecke sich nicht auf von mitfahrenden Personen als persönliches Gepäck gleichsam in einer Besitzenklave aufbewahrte Sachen.33 Die erste, noch zur ZollschuldnerVO und damit vor der Viluckas-und-Jonusas-Entscheidung des EuGH ergangene Entscheidung betraf den Halter eines Fahrzeugs, in dessen Kofferraum der Fahrer Gepäckstücke mit unverzollten und unversteuerten Zigaretten aus einem Reisebus umgeladen hatte.34 Der Halter war Beifahrer und gab an, vom Inhalt der Gepäckstücke keine Kenntnis gehabt zu haben. Der BFH ging davon aus, dass nur der Fahrer die Zigaretten vorschriftswidrig verbracht habe, und verneinte eine (weitere) Zollschuldnerschaft des Halters/Beifahrers nach Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a ZollschuldnerVO. Vom allgemeinen Besitzwillen, den ein Halter eines Fahrzeugs, in dem er selbst anwesend sei, an allen Gegenständen habe, die sich in seinem Fahrzeug befänden, seien solche Gegenstände auszunehmen, die Mitreisende ersichtlich als ihr Gepäck in den Pkw mitbrächten und in ihrem ausschließlichen Besitz behalten wollten. An den Halter werde in diesem Fall kein Besitz – auch kein Mitbesitz oder Fremdbesitz – übertragen, weil ihm keine Sachherrschaft über die Gegenstände eingeräumt werden solle.35 Im zweiten Urteil, in dem auf die Viluckas-und-Jonusas-Entscheidung des EuGH verwiesen wird, hat der BFH die Zollschuldnerschaft eines Lkw-Fahrers, der nicht wissentlich in Möbeln versteckte Zigaretten transportiert hatte, u. a. anknüpfend an den verbrauchsteuerrechtlichen Begriff des Besitzes bejaht.36 Dass dem Führer eines Fahrzeugs die Möglichkeit der Sachherrschaft über sein Fahrzeug und alle in ihm befindlichen Gegenstände nicht fehle, bedürfe keiner Ausführung, sondern zur Klarstellung allenfalls der Einschränkung, dass sich diese Sachherrschaft nicht auf von mitfahren31 Stiehle in Schwarz/Wockenfoth, Zollrecht  – Unionszollkodex –, Art. 79 Rz.  174 (August 2017). 32 Witte in Witte (Fn. 13), Art. 202 Rz. 33d. 33 BFH v. 10.10.2007 – VII R 49/06 unter II, 2., Buchst. c, Doppelbuchst. aa, BFHE 218, 469, BFH/NV 2008, 499, ZfZ 2008, 85, und v. 6.10.1998 – VII R 20/98, letzter Absatz, BFH/NV 1999, 530, ZfZ 1999, 126. 34 BFH v. 6.10.1998 – VII R 20/98, letzter Absatz, BFH/NV 1999, 530, ZfZ 1999, 126. 35 BFH v. 6.10.1998 – VII R 20/98, BFH/NV 1999, 530, ZfZ 1999, 126. 36 BFH v. 10.10.2007 – VII R 49/06, BFHE 218, 469, BFH/NV 2008, 499, ZfZ 2008, 85.

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den Personen als persönliches Gepäck gleichsam in einer Besitzenklave aufbewahrte Sachen erstrecke.37 Diese möglicherweise dem Ergebnis geschuldete Sichtweise führt bei einer generalisierten Übertragung auf andere Fälle in der Praxis zu Schwierigkeiten. Wann ist ein Gepäckstück als „persönliches Gepäck“ anzusehen? Gilt das schon dann, wenn es einem Reisenden zugeordnet werden kann, oder nur, wenn dieser es unmittelbar mit sich führt? Wie ist Gepäck zu beurteilen, in dem sich persönliche Sachen mehrerer Personen befinden? Wie sind Gepäckstücke zu beurteilen, die zwar einer Person zuordenbare Waren enthalten, in denen aber ein Dritter ohne Kenntnis des Eigentümers Schmuggelware deponiert hat? In diesem Zusammenhang wird von den Autoren Witte und Stiehle auf das Urteil des FG München vom 14. April 2005 – 14 K 1440/02 Bezug genommen.38 Dem lag das vorschriftswidrige Verbringen eines wertvollen, gestohlenen Buches zugrunde, für das Fahrer und Beifahrer einen Lohn von 500 DM erhalten sollten. Beide – Fahrer und Beifahrer – waren von der Zollverwaltung als Gesamtschuldner für die durch das vorschriftswidrige Verbringen entstandene Einfuhrumsatzsteuer in Anspruch genommen worden. Kläger in dem genannten Verfahren war der Beifahrer. Die Entscheidung beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage, ob der Beifahrer anmeldepflichtig gewesen ist, was das Gericht unter Verweis auf die Viluckas-und-Jonusas-Entscheidung des EuGH bejaht hat. Dass der Bescheid gegen den Fahrer aufgehoben worden wäre, hat das Gericht dagegen nicht festgestellt. Hierzu enthält die Entscheidung keinerlei Angaben. Daher kann die Entscheidung auch nicht als Beleg dafür herangezogen werden, dass ausschließlich die Person, in deren persönlichem Gepäck sich die vorschriftswidrig verbrachte Ware befindet, Zollschuldner sei. dd) Die Frage lässt sich auf weitere Fallgestaltungen übertragen. Wer ist mitteilungspflichtig, wenn eine Person ein Gepäckstück einer anderen Person mit anmeldepflichtigen Waren durch den Ausgang für anmeldefreie Waren trägt oder fährt oder zwei Personen ihre einzeln zuordenbaren Gepäckstücke auf einem Trolley zusammen durch den Ausgang für anmeldefreie Waren schieben? Witte schlägt (noch zur alten Rechtslage nach dem ZK) vor, auf die Zuordenbarkeit der Gepäckstücke abzustellen. Gelingt dies, solle jeder nur hinsichtlich des eigenen Gepäcks Zollschuldner sein. Der jeweils andere könne dann als Beteiligter in Anspruch genommen werden.39 Damit stellt Witte letztlich auf ein subjektives Element und nicht auf das objektive Verbringen ab. Die Verpflichtung zur Gestellung der Waren obliegt aber in jedem Fall (neben weiteren Personen) auch nach der alten Rechtslage dem Verbringer (Art. 40 ZK bzw. Art. 139 Abs. 1 UZK), und zwar unabhängig davon, ob es sich um eigene Gepäck­ stücke handelt oder nicht. Bei dogmatischer Betrachtung kann es daher keinen Unterschied machen, wem die Gepäckstücke gehören, so dass beide Verbringer für 37 BFH v. 10.10.2007 – VII R 49/06 unter II, 2., Buchst. c, Doppelbuchst. aa, BFHE 218, 469, BFH/NV 2008, 499, ZfZ 2008, 85. 38 Veröffentlicht nur in der juris-Datenbank. 39 Witte in Witte (Fn. 13), Art. 202 Rz. 33d zu dem damals noch geltenden Art. 202 Abs. 3 erster Anstrich ZK.

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sämtliche auf dem Trolley befindlichen Gepäckstücke Gesamtschuldner sind. Zur sachgerechten Lösung ist auch in diesen Fällen auf das Auswahlermessen als Korrektiv zurückzugreifen. c) Betrachtung auf Grundlage des Zollkodex der Union Überzeugend oder nicht: Nach dem vom EuGH mit der Viluckas-und-Jonusas-Entscheidung eingeschlagenen und durch die Entscheidung Papismedov bestätigten Weg besteht eine Art Garantenstellung des Fahrzeugführers für in seinem Fahrzeug verbrachte Waren. Das kann im Ergebnis zu regelrecht absurden Ergebnissen führen. Zu Recht verweisen Müller-Eiselt40 und Fuchs41 auf die Folgen für Lokführer und Piloten, auch wenn kein Fall bekannt geworden ist, in dem jemand aus diesem Personenkreis als Zollschuldner für im Zug oder Flugzeug versteckte Waren in Anspruch genommen worden wäre. Letztlich kann hinsichtlich der Zollschuldnerschaft – soweit mehrere Zollschuldner vorhanden sind – nur auf der Ebene des Auswahlermessens ein angemessenes Ergebnis erzielt werden.42 Zwar ist nach dem Zollkodex der Union grundsätzlich auch an einen Erlöschenstatbestand zu denken. Der einzig in Betracht kommende Art. 124 Abs. 1 Buchst. h UZK dürfte in den Schmuggelfällen aber schon wegen des Täuschungsversuchs ausscheiden, wobei es im Rahmen dieser Vorschrift nicht darauf ankommt, ob der konkrete Zollschuldner eine Täuschungshandlung vorgenommen hat oder daran beteiligt war. Darüber hinaus darf der Verstoß, durch den die Zollschuld entstanden ist, keine erheblichen Auswirkungen auf die ordnungsgemäße Abwicklung des betreffenden Zollverfahrens gehabt haben. In welchen Fällen dies der Fall ist, regelt abschließend43 Art. 103 UZK-DA. Die geschilderten Sachverhalte werden von dieser Vorschrift nicht erfasst. Auch ein Erlass nach Art. 120 Abs. 1 UZK scheidet aus, da kriminelle Handlungen Dritter für einen Wirtschaftsbeteiligten grundsätzlich keine besonderen Umstände darstellen. Denn hierbei handelt es sich um allgemeine Risiken, denen jeder Wirtschaftsbeteiligte ausgesetzt ist.44 In der Rechtssache C-238/02 – Viluckas und Jonusas wurden die Abgaben zwar letztendlich aus Billigkeitsgründen erlassen. Dort ging es allerdings um Tabaksteuer. Der Erlass erfolgte ausweislich des Nichtannahmebeschlusses des BVerfG auf der Grundlage des Art. 239 Abs. 2 ZK i. V. m. Art. 899 Abs. 2 ZKDVO und (dem damals gelten40 Müller-Eiselt, Probleme bei der Umsetzung der jüngeren EuGH-Rechtsprechung zum Zollschuldrecht, ZfZ 2006, 218 (221, rechte Spalte). 41 Fuchs, Nicht nur Fahrer und Beifahrer können verbringen und daher gestellungspflichtig sein!, ZfZ 2005, 284 (286 rechte Spalte). 42 So wohl auch Müller-Eiselt, Probleme bei der Umsetzung der jüngeren EuGH-Rechtsprechung zum Zollschuldrecht, ZfZ 2006, 218 (221, rechte Spalte). 43 Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 124 UZK Rz. 59 (Februar 2017). 44 Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 120 UZK Rz. 35 m. w. N. (Februar 2017).

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den) § 21 Satz 2 TabStG45, der hinsichtlich des Erlasses und der Erstattung auf die Zollvorschriften verwies, in Verbindung mit §  227 AO.46 Auf die Tabaksteuer war Art. 239 ZK seit 2011 nicht mehr anwendbar.47 Das gilt auch nach der neuen Rechtslage im Hinblick auf Art. 120 UZK. Damit bleibt es auch nach dem Zollkodex der Union bei dem unbefriedigenden Ergebnis, dass Fahrer und Beifahrer sich einer Zollschuldnerschaft nicht entziehen können. 2. Zollschuld durch Beteiligung einer bei der Einfuhr nicht anwesenden ­natürlichen Person a) Zollschuld von Hintermännern Ein weiteres Urteil des EuGH (Rs. C-454/10 – Jestel48) hat in der zollrechtlichen Literatur und Judikatur eine nicht unerhebliche Bedeutung erlangt, weil es den Begriff der objektiven Beteiligung am vorschriftswidrigen Verbringen deutlich weiter zog, als er zum Teil bisher verstanden worden war. Das erstinstanzliche Verfahren49 umfasste mehrere Fallgestaltungen, wovon jedoch nur eine Eingang in ein Vorabentscheidungsersuchen fand. Der Kläger hatte über das Internet Kaufverträge über verschiedene Waren vermittelt, die anschließend von einem Dritten aus China in das Zollgebiet der Gemeinschaft versandt und aufgrund falscher Angaben bei der Einfuhr im Postverkehr ohne Erhebung der darauf ruhenden Abgaben in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden waren. Die Entscheidung befasste sich mit der Frage, ob der Kläger als am vorschriftswidrigen Verbringen Beteiligter und damit als weiterer Zollschuldner im Sinne des Art. 202 Abs. 3 zweiter Anstrich ZK anzusehen ist. Das in erster Instanz zur Entscheidung berufene FG Düsseldorf hatte keine Zweifel an der Beteiligung des Klägers und begründete dies damit, dass eine Beteiligung am vorschriftswidrigen Verbringen auch bereits in der Zusage einer späteren Unterstützungshandlung liegen könne, wenn der Gehilfe den Haupttäter dadurch in seinem schon gefassten Tatentschluss bestärke und ihm ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit gebe. Der Kläger habe dem chinesischen Versender nach eigenem Bekunden zugesagt, ihn bei dem Verbringen der Waren in das Zollgebiet der Gemeinschaft zu unterstützen, weil er schlecht Deutsch könne.50 Der BFH hielt eine Beteiligung des Klägers dagegen für fraglich, setzte das Verfahren aus und legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Dabei äußerte er Zweifel daran, dass sich der Kläger durch 45 Fassung vom 9.12.2006. 46 BVerfG v. 1.10.2008 – 1 BvR 2733/04, 1 BvR 2782/04, HFR 2009, 301. 47 § 21 Abs. 3 TabStG in der Fassung vom 21.12.2010. 48 Urteil v. 17.11.2011, Slg. 2011, I-11725, HFR 2012, 108, ZfZ 2012, 47. 49 FG Düsseldorf v. 8.5.2009 – 4 K 3971/08 Z, EU, veröffentlicht in der juris-Datenbank. 50 FG Düsseldorf v. 8.5.2009 – 4 K 3971/08 Z, EU, veröffentlicht in der juris-Datenbank, Rz. 15 ff.

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die Kaufvertragsvermittlung über das Internet am vorschriftswidrigen Verbringen beteiligt habe, und verband die Vorlage mit der Frage nach dem Maßstab für das subjektive Tatbestandsmerkmal „Wissenmüssen“ (Reicht es, wenn der Beteiligte in Betracht zieht, dass der Verkäufer die Waren oder einen Teil der Waren möglicherweise unter Hinterziehung der Einfuhrabgaben liefern wird? Reicht es gegebenenfalls aus, dass er dies für denkbar hält, oder wird er nur dann Zollschuldner, wenn er fest damit rechnet, dass dies geschehen wird?).51 Der EuGH urteilte, dass im Falle vorschriftswidrigen Verbringens auch eine Person als Zollschuldner anzusehen ist, die – ohne unmittelbar am Verbringen der Waren mitzuwirken – als Vermittlerin der Kaufverträge beteiligt war, wenn sie wusste oder hätte wissen müssen, dass das Verbringen vorschriftswidrig sein würde. Dabei legte der EuGH ein sehr weites Verständnis der objektiv zu betrachtenden Beteiligung zugrunde, indem er unter Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts eine direkte Beteiligung am vorschriftswidrigen Verbringen nicht für erforderlich hielt, sondern eine Beteiligung an Handlungen ausreichen ließ, die mit dem Verbringen in Zusammenhang stehen.52 Der Begriff der Beteiligung erfährt damit gegenüber dem bisherigen Verständnis eine deutliche Erweiterung. Witte überträgt die Aussagen des EuGH auf weitere Fall­ konstellationen, in denen die Beteiligungshandlung noch weiter vom tatsächlichen Verbringen entfernt ist, wie z. B. bei einem Betreiber der Internetplattform, dem ein Computerverkäufer einen Computer verkauft, mittels dessen sich der Plattformbetreiber Zugang zum Internet verschafft.53 Ob die Beteiligung an dieser Handlungskette wirklich endlos weitergesponnen werden kann, wie Witte es bewusst provokativ tut, ist fraglich. Der EuGH hatte nämlich darauf abgestellt, dass es sich beim Abschluss der Kaufverträge und den Lieferungen um Teile eines einzigen Vorgangs, nämlich des Verkaufs der Waren handelt54, wovon man beim Computerverkauf an den Internetplattformbetreiber sicher nicht mehr ohne weiteres ausgehen kann. Letztlich bedarf es keiner Entscheidung darüber, welche Handlungen (noch) einem einheitlichen Vorgang zuzuordnen sind, da in der Realität die subjektiven Voraussetzungen (wissen oder vernünftigerweise wissen müssen) den Kreis der Zollschuldner wieder eingrenzen. Denn je weiter die Beteiligungshandlung vom eigentlichen Handlungsgeschehen entfernt ist, umso weniger wird man nachweisen oder voraussetzen können, dass die Person vernünftigerweise vom Pflichtenverstoß hätte wissen müssen. Im Zusammenhang mit dieser subjektiven Voraussetzung stellte der EuGH darauf ab, ob der Vermittler alles unternommen hat, was vernünftigerweise von ihm erwartet 51 BFH, EuGH-Vorlage v. 3.9.2010 – VII R 23/10, BFH/NV 2010, 2313, ZfZ 2010, 324. 52 EuGH v. 17.11.2011 – Rs. C-454/10 – Jestel, Slg. 2011, I-11725, HFR 2012, 108, ZfZ 2012, 47, Rz. 17. 53 Witte, Noch einmal: Beteiligte als Zollschuldner beim vorschriftswidrigen Verbringen, AW-Prax 2012, 145 (146). 54 EuGH v. 17.11.2011 – Rs. C-454/10 – Jestel, Slg. 2011, I-11725, HFR 2012, 108, ZfZ 2012, 47, Rz. 18.

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werden kann, um sich zu vergewissern, dass die fraglichen Waren nicht vorschriftswidrig verbracht werden, insbesondere, ob er den Lieferanten darüber informiert hat, dass er die Waren beim Zoll anmelden muss.55 Woraus sich eine solche Verpflichtung ergeben soll, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Auch in den Schlussanträgen des Generalanwalts klingt eine Handlungsverpflichtung an, ohne eine Rechtsgrundlage oder einen Grund dafür zu nennen.56 Eine solche Verpflichtung könnte sich nur aus einer Garantenstellung des Klägers ergeben. Es ist jedoch nicht ersichtlich, woraus eine solche hergeleitet werden könnte.57 Zur Begründung der Entscheidung wäre der Rückgriff auf eine solche Handlungsverpflichtung auch nicht erforderlich gewesen. Ob der Beteiligte Maßnahmen ergriffen hat, um einen Pflichtenverstoß (damals ein vorschriftswidriges Verbringen) zu verhindern, ist vielmehr bei der Frage, ob die Person davon vernünftigerweise hätte wissen müssen, zu berücksichtigen. Hätte der Kläger im Fall Jestel den Versender auf die bei der Einfuhr im Postwege erforderlichen Angaben hingewiesen und hätte er davon ausgehen dürfen oder keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln, dass dieser die Vorschriften beachtet, hätte er wohl nicht vernünftigerweise wissen müssen, dass der Versender die Waren gleichwohl vorschriftswidrig verbringt. Somit obliegt dem Beteiligten nach Auffassung der Verfasserin – anders als vom EuGH vertreten – keine Pflicht, alles dafür zu tun, dass kein Pflichtenverstoß erfolgt. Ergreift er gleichwohl entsprechende Maßnahmen, ist dies im Rahmen der Prüfung, ob er vom Pflichtenverstoß hätte wissen müssen, zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Mit der Ausweitung des Begriffs der objektiven Beteiligung am vorschriftswidrigen Verbringen werden jedenfalls bei einem Vermittler, der keine (positive) Kenntnis von der Umgehung zollrechtlicher Vorschriften hat, diesem letzten Endes die Handlungen bzw. Unterlassungen des tatsächlichen Versenders zugerechnet. Eine Korrektur erfolgt ausschließlich über die weiteren subjektiven Voraussetzungen für eine Zollschuldnerschaft. b) Zollschuldnerschaft bei unterbliebener oder nicht vollständiger Abgaben­ erhebung aufgrund unrichtiger oder unvollständiger Angaben Dass der Zollanmelder auch dann Zollschuldner ist, wenn bei der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr die Einfuhrabgaben aufgrund falscher oder unvollständiger Angaben in der Zollanmeldung ganz oder teilweise nicht erhoben wurden, auch wenn die Angaben nicht von ihm stammen, ist nichts Neues. Macht beispielsweise eine vom Anmelder beauftragte Spedition bei der Anmeldung einen Fehler, ist dieser dem Zollanmelder zuzurechnen. Er hat eine Art Garantenstellung für die Angaben in der Zollanmeldung. Diese bleibt unberührt, auch wenn nach Art. 77 Abs. 3 Unter55 EuGH v. 17.11.2011 – Rs. C-454/10 – Jestel, Slg. 2011, I-11725, HFR 2012, 108, ZfZ 2012, 47, Rz. 24. 56 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón v. 14.7.2011 – C-454/10, Rz. 50, veröffentlicht unter https://curia.europa.eu und in der juris-Datenbank. 57 Siehe dazu Witte, Noch einmal: Beteiligte als Zollschuldner beim vorschriftswidrigen Verbringen, AW-Prax 2012, 145 (146).

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abs. 2 UZK nunmehr in allen Mitgliedstaaten daneben auch der Lieferant der Angaben Zollschuldner wird, soweit die subjektiven Voraussetzungen vorliegen. Der Kreis der Personen, die wegen der Lieferung falscher oder unvollständiger An­ gaben Zollschuldner werden, ist durch den EuGH jedoch noch einmal deutlich erweitert worden. In seinem Urteil vom 19. Oktober 2017 – Rs. C- 522/1658 hat er zu Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK, der in den Niederlanden durch nationale Regelungen anwendbar war, entschieden, „dass eine natürliche Person, die eng und bewusst an der Konzeption und künstlichen Errichtung einer Struktur von Handelsströmen … beteiligt war, die zu einer Minderung der gesetzlich geschuldeten Einfuhrabgaben geführt hat, unter den Begriff ‚Zollschuldner‘ im Sinne dieser Bestimmung fällt, auch wenn sie nicht selbst die unrichtigen Angaben gemacht hat, auf deren Grundlage die Zollanmeldung abgegeben wurde, sofern sich aus den Umständen ergibt, dass diese Person wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die mit dieser Struktur zusammenhängenden Umsätze nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern allein zu dem Zweck getätigt wurden, missbräuchlich in den Genuss im Unionsrecht vorgesehener Vorteile zu kommen“.59 Damit hat der EuGH den Kreis der Zollschuldner deutlich über den Wortlaut der Vorschrift hinaus erweitert. Zollschuldner soll also nicht nur derjenige sein, der die Angaben mittelbar oder unmittelbar geliefert hat – insoweit ergibt sich diese Rechtsfolge bereits aus der Vorschrift selbst –, sondern auch derjenige, der an der Lieferung der Angaben beteiligt war, indem er ein Firmengeflecht geschaffen hat, das dafür genutzt wurde, Angaben zu liefern, aufgrund derer die Abgaben nicht oder nicht vollständig erhoben wurden. Diese Sichtweise erinnert sehr an die Jestel-Entscheidung, in der der EuGH den Kreis der objektiv Beteiligten ebenfalls sehr weit gefasst hat. Die vorliegende Entscheidung geht aber noch darüber hinaus, indem der EuGH den Tatbestand des Handelnden genauso weit fasst wie den des Beteiligten, obwohl Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK (insoweit gleichlautend mit Art. 77 Abs. 3 Unterabs. 2 UZK) keine Regelung enthält, wonach der Beteiligte Zollschuldner wird. Es ist nicht ersichtlich, dass der EuGH mit seiner Entscheidung dogmatisch neue Wege beschreiten wollte. Vielmehr deutet die Tatsache, dass er ohne Schlussanträge und ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, darauf hin, dass er bei seiner Entscheidung mehr vom Ergebnis geleitet war als von der Systematik der Vorschriften über die Zollschuld. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung gut nachzuvollziehen. Entsprechend begründet der EuGH die Zurechnung der Abgabe falscher Angaben damit, der Kläger habe bewusst ein Firmengeflecht geschaffen, um die tatsächlichen Vorgänge zu verschleiern; unter diesen Umständen liefe es Sinn und Zweck des Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK zuwider, nur die Person als Zollschuldner anzusehen, die die Angaben geliefert habe.60

58 ECLI:EU:C:2017:778 – A gegen Staatssecretaris van Financiën –, bisher nur auf der Homepage der EU und über die juris-Datenbank abrufbar. 59 EuGH v. 19.10.2017 – Rs. C-522/16, Leitsatz 2. 60 EuGH v. 19.10.2017 – Rs. C-522/16, Rz. 51.

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So verständlich das Bestreben des EuGH ist, die eigentlichen Hauptverantwortlichen und Hintermänner in den Kreis der Zollschuldner mit einzubeziehen, birgt es doch eine gewisse Gefahr, die Zollschuldnerschaft am Gerechtigkeitsempfinden zu messen, ohne dies auf entsprechende Vorschriften stützen zu können. In dem vom EuGH entschiedenen Fall kommt hinzu, dass zu diesem Zeitpunkt der als Rechtsgrundlage bemühte Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK nicht in allen Mitgliedstaaten galt.61 Hätte die als Zollanmelderin aufgetretene Gesellschaft die Waren über ein deutsches Zollamt eingeführt, hätten auf dieser Rechtsgrundlage mangels einer entsprechenden nationalen Regelung keine Abgaben gegenüber dem Kläger festgesetzt werden können. c) Betrachtung auf Grundlage des Zollkodex der Union Beide Fälle wären – legt man die Rechtsprechung des EuGH zugrunde – auch nach dem Zollkodex der Union in gleicher Weise zu entscheiden. In der Rechtssache C-454/10 – Jestel wäre der Internetvermittler nach Art. 79 Abs. 3 Buchst. b UZK als Beteiligter Zollschuldner geworden, ohne dass sich etwas geändert hätte. Das Gleiche gilt für die Rechtssache C-522/16. Da der maßgebliche Inhalt der Vorschrift des Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 2 ZK, auf die sich die Entscheidung bezog, mit der Regelung in Art. 77 Abs. 3 Unterabs. 2 UZK übereinstimmt, ist die Rechtsprechung auf das neue Recht übertragbar. Auch wenn die Begründung für die Zollschuldnerschaft des Klägers dogmatisch nicht überzeugt, ist damit zu rechnen, dass der EuGH in vergleichbaren Fällen oder in anderen, in denen er ein entsprechendes Ergebnis für gerechtfertigt hält, erneut zu einer Zollschuldnerschaft kommt. Es wäre daher wünschenswert, wenn der Verordnungsgeber die seit Inkrafttreten des Art. 77 Abs.  3 Unterabs.  2 UZK in allen Mitgliedstaaten geltende Regelung über die Zollschuldnerschaft bei unrichtigen Angaben auf Beteiligte erweitern würde. 3. Zollschuld eines Arbeitgebers durch Zurechnung des Verhaltens seiner ­Arbeitnehmer Die Diskussion, inwieweit der Arbeitgeber für Handlungen und Unterlassungen des Arbeitnehmers einzustehen hat, ist nicht neu. Schon im Zusammenhang mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Viluckas und Jonusas62 hatte Fuchs in einer Anmerkung die Frage aufgeworfen, ob nicht das Unternehmen, für das der Fahrer und der Beifahrer tätig waren, als Verbringer der Ware angesehen werden muss63, sah diese Frage aber durch die genannte Entscheidung des EuGH verneint, der die Gestellungspflicht ausdrücklich auf die im Fahrzeug anwesenden Personen beschränkte, die 61 Siehe oben unter II. 3 letzter Absatz, II. 4. und 5, jeweils 1. Absatz. 62 Siehe oben unter III. 1. Buchst. a. 63 Fuchs, Anmerkung zu EuGH v. 4.3.2004 – verbundene Rechtssachen C-238/02 und C-246/02 – Viluckas und Jonusas, ZfZ 2004, 160 unter Verweis auf die Formulierung in Rz. 23 des Urteils.

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Verantwortung hinsichtlich der Verbringung der Waren tragen (in der Regel also Fahrer und Beifahrer). a) EuGH v. 23. September 2004 – Rs. C-414/02 – Ulustrans Spätestens seit der EuGH mit der Entscheidung in der Rechtssache C-414/02 – Ulustrans klargestellt hat, dass eine Person im Sinne des Art. 202 Abs. 3 ZK nicht nur eine natürliche, sondern auch eine juristische Person sein kann64, ihr aber ein Realakt wie das Verbringen nur mittels einer natürlichen Person möglich ist65, stellt sich die Frage, wann eine juristische Person sich das zu einer Zollschuld führende Handeln oder Unterlassen ihrer Arbeitnehmer zurechnen lassen muss. Denn dass der Dienstgeber automatisch für jede zollschuldbegründende Handlung einstehen muss, wie es zuweilen in der Literatur gefordert wurde66, hat der EuGH, den Schlussanträgen des Generalanwalts folgend67, in der genannten Entscheidung ausdrücklich ausgeschlossen.68 Gleichzeitig prüft der EuGH in seiner Entscheidung eine Zollschuldnerschaft des Dienstgebers sowohl nach Art. 202 Abs. 3 erster Anstrich ZK als desjenigen, der mit seinem Verhalten den Grund für die Zollschuldentstehung gesetzt hat, als auch nach dem zweiten Anstrich als Beteiligter, dort unter der weiteren subjektiven Voraussetzung des Wissens oder vernünftigerweise Wissenmüssens. Dem vom EuGH zu entscheidenden Fall lag die Einfuhr von vier Maschinen zum Spulen von Spinnstoffen zugrunde, die der Fahrer des Lkws aus der Schweiz ohne Gestellung in das Zollgebiet der Gemeinschaft eingeführt hatte. Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass auch der Dienstgeber unter den weiteren subjektiven Voraussetzungen Zollschuldner sein könne, wenn das vorschriftswidrige Verbringen der Waren nicht ihm zuzuschreiben sei, sondern auf einen Dienstnehmer zurückgehe, und er an diesem Verbringen beteiligt sei, was insbesondere dann der Fall sein könne, wenn es mit Mitteln oder Personal seines Unternehmens erfolgt sei.69 Bereits in dieser Entscheidung hat der EuGH  – ähnlich wie später in der Jestel-Entscheidung70 – den Kreis der als Zollschuldner in Frage kommenden Beteiligten zunächst sehr weit gezogen, um ihn dann über die subjektiven Voraussetzungen des Wissens oder vernünftigerweise Wissenmüssens wieder einzugrenzen. 64 EuGH v. 23.9.2004 – Rs. C-414/02 – Ulustrans, Slg. 2004, I-8633, HFR 2005, 73, ZfZ 2004, 371, Rz. 26. 65 Vgl. auch Fuchs, Nicht nur Fahrer und Beifahrer können verbringen und daher gestellungspflichtig sein!, ZfZ 2005, 284 (286 linke Spalte oben). 66 Fuchs, Nicht nur Fahrer und Beifahrer können verbringen und daher gestellungspflichtig sein!, ZfZ 2005, 284 (286 rechte Spalte), und ders., Anmerkung zu EuGH v. 4.3.2004 – verbundene Rechtssachen C-238/02 und C-246/02 – Viluckas und Jonusas, ZfZ 2004, 160. 67 Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano – Rs. C-414/02 – Ulustrans, Rz. 35. 68 EuGH v. 23.9.2004 – Rs. C-414/02 – Ulustrans, Slg. 2004, I-8633, HFR 2005, 73, ZfZ 2004, 371, Rz. 25, 31 und 44. 69 EuGH v. 23.9.2004 – Rs. C-414/02 – Ulustrans, Slg. 2004, I-8633, HFR 2005, 73, ZfZ 2004, 371, Rz. 30. 70 EuGH v. 17.11.2011 – Rs. C-454/10 – Jestel, Slg. 2011, I-11725, HFR 2012, 108, ZfZ 2012, 47, siehe oben.

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b) EuGH v. 25. Januar 2017 – Rs. C-679/15 – Ultra-Brag Mit dem Urteil in der Rechtssache Ultra-Brag vom 25. Januar 201771 hat der EuGH zwar weitere Fragen beantwortet, aber gleichzeitig eine Reihe neuer Fragen aufgeworfen. Der Entscheidung lag die Einfuhr von Transformatoren und Rollen auf Binnenschifffahrtswegen zugrunde. Wegen eines defekten anderen Transportschiffes war ein Schiffsführer, der zuvor zwei Rollen und zwei Transformatoren aus der EU in die Schweiz ausgeführt und bisher lediglich einen Transformator und eine Rolle dort abgeladen hatte, auf Anweisung des für Schwertransporte zuständigen Angestellten der Ultra-Brag AG ohne Gestellung des sich noch auf dem Schiff befindenden Transformators und der dazugehörenden Rolle wieder in das Zollgebiet der EU gefahren, um in Straßburg anstelle des havarierten Schiffes weitere Terminwaren abzuholen. Der für die Schwertransporte zuständige Angestellte der Ultra-Brag AG hatte dem Schiffsführer versichert, er kümmere sich um die zollrechtliche Abwicklung. Während er von den Schweizer Zollbehörden signalisiert bekommen hatte, dass von deren Seite keine Bedenken bestünden, er aber noch die deutschen Zollbehörden informieren müsse, kam es mit den deutschen Behörden wegen einer Autopanne zu keinem Kontakt mehr. Der EuGH entschied, dass eine juristische Person, deren Mitarbeiter, der nicht ihr gesetzlicher Vertreter ist, den Grund für das vorschriftswidrige Verbringen einer Ware in das Zollgebiet der Union gesetzt hat, als Schuldnerin der durch dieses Verbringen entstandenen Zollschuld angesehen werden kann, wenn dieser Mitarbeiter die in Rede stehende Ware unter Beachtung des Rahmens der ihm von seinem Arbeitgeber übertragenen Aufgaben und in Erfüllung der Weisungen, die ihm zu diesem Zweck von einem anderen insoweit im Rahmen seines eigenen Aufgabenbereichs befugten Mitarbeiter dieses Arbeitgebers erteilt worden sind, verbracht und daher im Rahmen seiner Zuständigkeit im Namen und für Rechnung seines Arbeitgebers gehandelt hat. Auf den ersten Blick scheint die Entscheidung klar und eindeutig zu sein. Beschäftigt man sich aber intensiver mit dieser Aussage, fällt die Einschränkung auf, dass ein Arbeitgeber nur dann Zollschuldner nach Art. 202 Abs. 3 erster Anstrich ZK wird, wenn der Arbeitnehmer „im Rahmen der ihm zu diesem Zweck erteilten Weisungen“ handelt. Ohne diese Weisung hätte der Arbeitgeber also nicht für die Handlung des Schiffsführers einzustehen. In den Schlussanträgen des Generalanwalts war diese Einschränkung nicht enthalten. Der Generalanwalt schlug vielmehr vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, „Art. 202 Abs. 3 erster Gedankenstrich des Zollkodex ist dahin auszulegen, dass eine juristische Person nach dieser Bestimmung Zollschuldnerin wird, wenn einer ihrer Beschäftigten, der nicht ihr gesetzlicher Vertreter ist, im Rahmen der ihm übertragenen Aufgaben und/oder im Rahmen seiner Zuständigkeit Waren vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Union verbracht hat“.72 Offenbar hatte der EuGH Sorge, dass die 71 EuGH v. 25.1.2017 – Rs. C-679/15 ECLI:EU:C:2017:40 – Ultra-Brag, ZfZ 2017, 98. 72 Schlussanträge des Generalanwalts N. Wahl in der Rs. C-679/15 – Ultra-Brag, Rz. 38.

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Zollschuldner oder nicht? Das ist hier die Frage!

Haftung des Arbeitgebers zu weit ausgedehnt würde, sähe man diesen schon dann als Zollschuldner an, wenn der tatsächliche Verbringer im Rahmen seines Aufgabenkreises gehandelt hat. Dabei hatte auch der Generalanwalt betont, dass die Haftung des Arbeitgebers nicht grenzenlos gelte. Eine Zollschuldnerschaft könne ausgeschlossen sein, wenn der Mitarbeiter außerhalb seines Aufgabenkreises handle oder er Anweisung nicht befolge. Das Gleiche gelte beim Schmuggel von Waren, an dem der Arbeitgeber nicht beteiligt sei.73 Jedenfalls nach alter Rechtslage bleibt es somit dabei, dass in der Regel nur der tatsächliche Verbringer selbst, also der Fahrer, Schiffsführer etc., und damit die wirtschaftlich am wenigsten leistungsfähige Person die Folgen zu tragen hat, die aus einem immer wieder vorkommenden Fehler an den Außengrenzen der EU entstehen. Das ist nicht nur moralisch fragwürdig, da der Fahrer in diesen Fällen keine Eigeninteressen verfolgt, gleichwohl aber ein horrendes Risiko auf sich nimmt, ohne dass der Arbeitgeber als Schuldner in Anspruch genommen werden kann, denn in der Regel kann dieser vernünftigerweise nicht wissen, dass die Ware vorschriftswidrig verbracht wird. Das Ergebnis ist auch dogmatisch kaum zu rechtfertigen. Warum soll der Arbeitgeber zwar Zollschuldner werden, wenn einer seiner Angestellten dem Verbringer eine falsche Anweisung gibt, nicht aber, wenn der angestellte Verbringer selbst einen Fehler macht? c) Betrachtung auf Grundlage des Zollkodex der Union Interessant ist es, die beiden Entscheidungen im Lichte der Rechtslage nach dem Zollkodex der Union zu betrachten. Denn in beiden Fällen führt dies zu anderen, befriedigenderen Ergebnissen. In der Rechtssache C-414/02 – Ulustrans, in der der Arbeitgeber im Falle der fehlenden Gestellung nur als Beteiligter und unter der weiteren Voraussetzung des Wissens oder Wissenmüssens vom vorschriftswidrigen Verbringen Zollschuldner wurde, ist aufgrund der Gestellungspflicht der Person, in deren Namen oder in deren Auftrag die Person handelt, die die Waren in das Zollgebiet der Union verbracht hat (Art. 139 Abs. 1 Buchst. b UZK), nunmehr auch der Dienstgeber nach Art. 79 Abs. 3 Buchst. a UZK als verpflichteter Zollschuldner, ohne dass es auf ein subjektives Element ankäme. In dem der Rechtssache C-679/15 – Ultra-Brag zugrunde liegenden Sachverhalt wäre wie bisher der Schiffsführer als Verbringer nach Art. 139 Abs. 1 Buchst. a UZK gestellungspflichtig. Da er den Transformator und die Rolle fraglos im Namen der Ultra-Brag AG in das Zollgebiet der EU verbracht hat, wäre auch diese zur Gestellung verpflichtet (Art. 139 Abs. 1 Buchst. b UZK) und damit wegen Verstoßes gegen die Gestellungspflicht nach Art. 79 Abs. 3 Buchst. a UZK Zollschuldnerin geworden, und zwar unabhängig davon, ob der Schiffsführer entsprechend einer Weisung gehandelt hat oder nicht. 73 Schlussanträge des Generalanwalts N. Wahl in der Rs. C-679/15 – Ultra-Brag, Rz. 35 und 36.

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Natürlich hat die juristische Person auch nach dem Zollkodex der Union nicht grenzenlos für Handlungen ihrer Angestellten einzustehen. Auch nach diesen Regelungen gilt die Zurechenbarkeit der Handlungen nur insoweit, als der Mitarbeiter der juristischen Person in ihrem Namen tätig wird. Dies dürfte nur dann der Fall sein, wenn er im Rahmen seines Aufgabenkreises handelt. Verbringt ein Lagerarbeiter Waren ohne Gestellung, ohne dass dies im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Lagerarbeiter geschieht, ist der Arbeitgeber für diese Ware ebensowenig gestellungspflichtig wie für Waren, die einer ihrer Angestellten schmuggelt. Dieses Ergebnis erscheint sachgerecht, da nunmehr der tatsächliche Wirtschaftsbeteiligte und nicht nur der Verbringer – in der Regel das schwächste Glied in der Kette – Zollschuldner wird, ohne dass ihm über seinen Verantwortungsbereich hinaus das Handeln seiner Arbeitnehmer zugerechnet würde. Auch steht der Zollverwaltung damit ein in der Regel wirtschaftlich leistungsfähigerer Schuldner zur Verfügung. Gleichzeitig tritt damit aber genau die Rechtsfolge ein, die der EuGH in den genannten Entscheidungen gerade hatte vermeiden wollen: die grundsätzliche Haftung der juristischen Person für Handlungen ihrer Mitarbeiter – wenn auch mit Ausnahmen. Fuchs, der dies schon immer gefordert hatte74, dürfte sich freuen.

74 Fuchs, Nicht nur Fahrer und Beifahrer können verbringen und daher gestellungspflichtig sein!, ZfZ 2005, 284 (286 rechte Spalte) und Anmerkung zu EuGH v. 4.3.2004 –verbundene Rechtssachen C-238/02 und C-246/02 – Viluckas und Jonusas, ZfZ 2004, 160.

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Zoll 4.0 – die zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks Inhaltsübersicht



b) Hinzurechnung der Kosten für die CAD-Daten c) Abzug der Kosten für die CAD-­ Daten 3. Die CAD-Daten/Software



V. Lösungsansätze 1. Zollrechtlicher Ansatz 2. Zollwertrechtlicher Ansatz 3. Zolltarifrechtlicher Ansatz

I. Einleitung

II. Der Einfluss des 3-D-Drucks auf ­Lieferketten III. Rechtlicher Überblick IV. Zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks 1. Der 3-D-Drucker a) Der Drucker als Arbeitsmaschine b) Druckerzeugnisse und Druckdaten 2. Das Rohmaterial a) Das Material als solches

VI. Fazit

Die Erhebung von Zollabgaben knüpft nach den internationalen und europäischen Regelungen an die Bewegung einer Ware über die Grenzen eines Zollgebiets an. Voraussetzung für die zollamtliche Erfassung und Überwachung einer Ware und ggf. deren Besteuerung ist das Verbringen einer Ware in das Zollgebiet der Union bzw. die Ausfuhr aus dem Zollgebiet. Jahrhundertelang fanden diese Warenbewegungen tatsächlich statt, d. h., ein physisch fassbarer Gegenstand wurde von einem Ort zu einem anderen verbracht und dort in den freien Verkehr überführt. Seit einigen Jahren ist es technisch möglich und mittlerweile auch in zahlreichen Industriebereichen üblich, im Rahmen des 3-D-Drucks nur noch die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, Waren – z. B. Ersatzteile in der Flugzeugindustrie, Verschleißteile für Autos, Hörgeräte, individualisierte Sportartikel oder auch Abendkleider – unmittelbar dort herzustellen, wo sie benötigt werden. Der vorliegende Beitrag zeigt die Auswirkung des 3-D-Drucks auf Lieferketten, nimmt eine zollrechtliche Einordung der Entwicklung vor und erläutert die für die Erhebung und Bemessung der Abgaben möglichen Ansätze.

I. Einleitung Der Begriff Industrie 4.01 (oder auch vierte industrielle Revolution) bezeichnet eine neue Stufe in der Organisation und des Managements der gesamten Wertschöpfungskette der industriellen Produktion. Das „Internet der Dinge“ beinhaltet  – über die Automatisierung der Produktionsabläufe der Siebziger Jahre hinaus – virtuell-physi1 Siehe hierzu auch die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Industrie 4.0 und digitaler Wandel: wohin der Weg geht“, COM (2016) 180 final, ABlEU Nr. C 389/50 v. 21. Oktober 2016.

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sche Produktionssysteme, bei denen Maschinen über Netzwerke miteinander verbunden und dabei Abläufe selbstständig zu steuern in der Lage sind. Ein frühes Beispiel dieser Technologie ist die Ende der Neunziger Jahre etablierte RFID-Technologie (radio frequency identification) , die – für uns heute selbstverständlich – ermöglicht, dass die Nutzungskarte eines Skifahrers distanzlos den Zugang zum Lift gewährleistet oder Rolltore sich beim bloßen Annähern öffnen. Mittlerweile aber „kommunizieren“ Maschinen die Bestände des vorhandenen Rohmaterials und ordern Nachschub bei „smarten“ Logistikern, „bestellen“ Wartungsleistungen aufgrund selbst diagnostizierter Probleme oder erstellen Einkaufslisten zum Auffüllen des heimischen Kühlschranks, die automatisiert an den Lieferdienst des Supermarkts übermittelt werden.2 Neben der Sensortechnologie, künstlicher Intelligenz, der Drohnen- und Nanotechnologie wird diese gesamtwirtschaftliche Entwicklung maßgeblich durch eine neue Herstellungstechnik begleitet, den 3-D-Druck.3 Der neue Vorstandsvorsitzende der adidas AG stellte in einem Interview seinen Plan vor, in naher Zukunft rund eine Million Paar Turnschuhe jährlich mit 3-D-Druck zu produzieren.4 Die Technik ermöglicht es vereinfacht, mit speziellen Druckern die gewünschten physischen Waren auf der Basis von sog. CAD-Daten (computer-aided design) schichtweise und unter Verwendung unterschiedlicher Materialien herzustellen. Dies gelingt nicht nur im weiten Feld der Kunststoffe, sondern mittlerweile auch standardisiert im Bereich der Metallverarbeitung und anderer Werkstoffe. Betriebswirtschaftlich interessant ist das fehlende Erfordernis hoher Herstellungszahlen, um die Einstiegsinvestitionen zu rechtfertigen. 3-D-Druck ist besonders geeignet für hochwertige, komplexe Komponenten, die zeitnah und nur in geringen Stückzahlen benötigt werden5, wie z. B. Spezialanfertigungen oder Prototypen. Aber wie am Beispiel adidas deutlich wird, sind auch Massenfertigungen sinnvoll. Die 3-D-Technologie hat aber auch Schattenseiten. Die neuseeländische Presse berichtete, es seien sog. „card skimmer devices“ im 3-D-Druckverfahren hergestellt worden, mit denen Kredit- und sonstige Magnetstreifenkarten unberechtigterweise ausgelesen und die enthaltenen Informationen gestohlen werden können. Auch seien 2 Zu zivilrechtlichen Einzelheiten der Nutzung digitaler Angebote siehe auch den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte, COM/2015/0634 final – 2015/0287 (COD) v. 9. Dezember 2015. 3 Die Nutzung des 3-D-Drucks ist auch Gegenstand der Verordnung (EU) 2017/1515 v. 31. August 2017 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 808/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über Gemeinschaftsstatistiken zur Informationsgesellschaft, ABlEU Nr. L 226/6. Diese Verordnung schafft die Grundlage für die statistische Erfassung der Nutzung von Instrumenten und Dienstleistungen der Informationsgesellschaft einschließlich des 3-D-Drucks. 4 Kasper Rorsted im FOCUS-Gespräch, Focus-Heft 28/17 v. 8. Juli 2017. 5 Einen Überblick über die technische Entwicklung, den Grad der Verbreitung und den Einfluss auf industrielle Abläufe bietet die Studie des schwedischen Kommerskollegium 2016: National Board of Trade (Hrsg.), Trade Regulation in a 3 D Printed World, April 2016, ISBN: 978-91-88201-12-6.

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online Druckdesigns für die Herstellung funktionsfähiger Waffen erhältlich.6 Mit dem Auslaufen der entsprechenden Patente für die verschiedenen Druckerkomponenten und dem sich anschließenden Preisverfall ist der 3-D-Druck zudem für jedermann auf der Welt leicht zugänglich.

II. Der Einfluss des 3-D-Drucks auf Lieferketten Der 3-D-Druck hat maßgeblichen Einfluss auf die industriellen Abläufe. Wurden und werden bisher Rohmaterialien für eine bestimmte Ware eingekauft, an den Hersteller des Vorproduktes geliefert, von diesem verarbeitet und an seinen Abnehmer gesendet, der dann – u. U. mit weiteren Zwischenschritten – das gewünschte Produkt herstellt und weltweit vertreibt, sind in Zeiten des 3-D-Drucks nur das Rohmaterial und der Drucker erforderlich, die an jedem Ort der Welt und damit auch direkt beim Endkunden errichtet bzw. eingesetzt werden können. Dazu erfordert es CAD-Dateien, die die Arbeitsanweisung an den Drucker enthalten, der mit dem im Einzelnen beschriebenen Rohmaterial gefüttert werden muss. Die CAD-Dateien stammen dabei üblicherweise nicht vom Lieferanten des Rohmaterials oder des Druckers, sondern sind über entsprechende Marktplätze im Internet erhältlich.

III. Rechtlicher Überblick Der 3-D-Druck betrifft zahlreiche Rechtsmaterien. Es stellt sich unter anderem die Frage, wer die gewerblichen Schutzrechte an den betroffenen Waren innehat. Die Patente auf die Drucker sind überwiegend ausgelaufen, spezielle Werkstoffe können einem Schutz zugänglich sein. Maßgeblich sind aber die Rechte an den Steuerungsdateien, die die Anweisungen an den 3-D-Drucker enthalten, und die Rechte an den zu druckenden Waren. Hier sind sowohl Urheberrechte hinsichtlich der Software, aber auch Geschmacksmusterrechte („Designrechte“) und Markenrechte denkbar, wenn z. B. die Turnschuhe auch weiterhin drei Streifen aufweisen sollen. Allerdings gilt es hier das Territorialitätsprinzip zu beachten. Gewerbliche Schutzrechte entfalten nur in den Territorien Wirkung, für die sie eingetragen sind. Dies bedeutet für die Rechte­ inhaber, den Schutz des geistigen Eigentums in einem noch größeren Ausmaß auf sämtliche Vertriebsländer zu erstrecken, also die Staaten, in denen das zu fertigende Produkt gedruckt wird, und nicht nur auf die (klassischen) Herstellungsländer zu konzentrieren. Herstellungs- und Vertriebsterritorium fällt beim 3-D-Druck typischerweise zusammen. Aufgrund der geänderten Abläufe in der Supply Chain spielen Warenursprungs- und Präferenzregeln eine untergeordnete Rolle. Herstellungsland ist jeweils der Staat, in dem die Ware gedruckt wird. Eine Be- oder Verarbeitung der Ware im Vorfeld schei6 Dominion Post, Alex Fensome, Printers Capable of making guns, 14. Februar 2017.

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det im Regelfall aus und kommt nur in Ausnahmefällen für das Rohmaterial in Betracht. Der Einfluss des Außenwirtschaftsrechts ist ebenfalls noch nicht geklärt, insbesondere weil der Entwurf für die neue Dual-Use-Verordnung7 eine Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs vorsieht. So soll der Begriff der „Güter mit doppeltem Verwendungszweck“ nunmehr gemäß Art. 2 Nr. 1 b der neuen Verordnung auch die Technologie für digitale Überwachung einschließen, die für die Begehung schwerwiegender Verletzungen der Menschenrechte oder des humanitären Völkerrechts verwendet werden oder eine Bedrohung für die internationale Sicherheit oder die Sicherheitsinteressen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten darstellen. Inwieweit hierunter auch der 3-D-Drucker bzw. die damit herzustellenden Waren fallen, ist nicht geklärt, bei sehr weiter Auslegung aber denkbar. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit die unter 2. aufgezeigte geänderte tatsächliche Konstellation die Erhebung von Abgaben für die verschiedenen in Betracht kommenden Waren ermöglicht und nach welchen Regelungen dies auch weiterhin möglich sein kann.

IV. Zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks Für die zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks muss zwischen den verschiedenen betroffenen Waren unterschieden werden: Zum einen wird der 3-D-Drucker selbst untersucht, anschließend das zum Drucken benötigte Rohmaterial und schließlich die CAD-Daten. 1. Der 3-D-Drucker a) Der Drucker als Arbeitsmaschine Der 3-D-Drucker ist ein körperlicher beweglicher Gegenstand und damit eine Ware. Eingeführt ist ein 3-D-Drucker mit dem tatsächlichen Verbringen in das Zollgebiet der Union.8 Mit der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art.  201 Abs. 1 Buchst. a, Art. 194 Abs. 1 UZK9 entsteht die Zollschuld gemäß Art. 77 Abs. 1 Buchst. a UZK. Maßgeblicher Bemessungszeitpunkt ist gemäß Art. 77 Abs. 2 i. V. m. Art. 85 Abs. 1 und Art. 172 UZK die Annahme der Zollanmeldung. Die Höhe der Einfuhrabgaben bemisst sich nach dem Zollwert, zuvörderst auf der Grundlage des 7 Für die Neufassung der Verordnung (EG) Nr. 428/2009 (EG-Dual-Use-Verordnung) vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (ABlEU 2009 Nr. L 134/1) hat die Kommission am 28. September 2016 einen Entwurf vorgelegt. 8 Dienstvorschrift Zollwertrecht, Z 51 01 v. 11. November 2017 (DV Z 5101) Abs. 5. 9 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 (– UZK –) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union, Amtsblatt der Europäischen Union – ABlEU – Nr. L 269/1. Zur Entwicklung des europäischen Zollrechts und der Stellung des internationalen Rechts vgl. grundlegend Krüger, Festschrift 100 Jahre Bundesfinanzhof.

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Transaktionswertes zu ermitteln, Art. 70 Abs. 1 UZK, und dem maßgeblichen Zollsatz, Art. 56 Abs. 1 UZK. Die Einreihung eines 3-D-Druckers erfolgt regelmäßig als Arbeitsmaschine nach dem zu verarbeitenden Material. Die Bundesfinanzverwaltung hat in der Vergangenheit eine vZTA für einen 3-D-Drucker für die Herstellung von Erzeugnissen aus Kunststoff mit der Einreihung in die Position 8477 der Kombinierten Nomenklatur (KN) erteilt10. b) Druckerzeugnisse und Druckdaten Unberücksichtigt bei der Ermittlung des Transaktionswertes des Druckers bleiben zum einen die nach der Einfuhr mit dem 3-D-Drucker hergestellten Waren als auch regelmäßig die für die Herstellung der Ware im 3-D-Druck erforderlichen CAD-Daten oder sonstige Software. aa) Die hergestellten Waren Die mit dem 3-D-Drucker hergestellten Waren und deren Verkaufserlöse werden grundsätzlich nicht in den Zollwert des Druckers einbezogen. Es handelt sich um Waren, die mit der eingeführten Ware (dem 3-D-Drucker) überhaupt erst produziert werden. Nur ausnahmsweise, wenn die Erlöse aus späteren Weiterverkäufen, sonstigen Überlassungen oder Verwendungen der eingeführten Ware dem Verkäufer unmittelbar oder mittelbar zugutekommen, wird der Wert der Erlöse dem tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis gemäß Art. 70 Abs. 2 i.V. m. Art. 71 Abs. 1 Buchst. d UZK hinzugerechnet. Allerdings erfolgt regelmäßig auch kein Abzug vom tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis. Selbst wenn im Kaufpreis für den 3-D-Drucker das Recht auf Vervielfältigung enthalten sein solle, handelt es sich hierbei nicht um das Recht auf Vervielfältigung der eingeführten Ware, Art. 72 Buchst. d UZK.11 Im 3-D-Druck wird nicht der Drucker selbst vervielfältigt, also die eingeführte Ware, sondern es wird eine neue Ware immer wieder hergestellt und in dem Sinne vervielfältigt. Dabei handelt es sich aber nicht um die eingeführte, sondern eine andere, erst herzustellende Ware. Anders lag die Fallkonstellation in der Entscheidung des FG Hamburg12 betreffend das Recht, ein Musikvideo Fernsehsendern gegen Entgelt zur Ausstrahlung zur Verfügung zu stellen. Hier handelt es sich um ein Vervielfältigungsrecht an der eingeführten Ware, nämlich dem in einer Videokassette verkörperten Musikvideo.

10 Die britischen Zollbehörden haben einen 3-D-Drucker ebenfalls in die Pos. 8477 KN eingereiht, vgl. BTi GB 502255783 v. 6. Januar 2015. 11 Vgl. zum Recht auf Vervielfältigung eines Musikvideos, dass bei der Ermittlung des Transaktionswertes zutreffend nicht berücksichtigt wird FG Hamburg v. 20. April 2004 – IV 331/01, ECLI:DE:FGHH:2004:0. 12 FG Hamburg v. 20. April 2004 – IV 331/01.

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bb) Die CAD-Daten/Herstellungssoftware In Betracht kommt die zollwertrechtliche Berücksichtigung der CAD-Daten beziehungsweise der für die Herstellung der zu druckenden Waren benötigten Software als geistige Beistellung gemäß Art. 71 Abs. 1 Buchst. b iv UZK.13 Allerdings gilt auch hier, dass es sich bei den CAD-Daten/Software um eine geistige Beistellung für die noch im Zollgebiet der Union herzustellenden Waren handelt und nicht um eine Beistellung für die eingeführte Ware, also den 3-D-Drucker.14 Dasselbe gilt für die Berücksichtigung der Kosten der CAD-Daten bzw. Software nach Art. 71 Abs. 1 Buchst. c UZK. Auch hier müsste es sich um Lizenzgebühren für die zu bewertende Ware handeln, die CAD-Daten und die Software sind aber für die Herstellung des Endprodukts erforderlich und nicht für die eingeführte Ware.15 Etwas anderes gilt selbstverständlich für die für den Betrieb des 3-D-Druckers erforderliche Software, also die Druckersoftware selbst, die entweder gemäß Art. 71 Abs. 1 Buchst. c UZK i.  V.  m. Art. 135 UZK-IA16 als Lizenzgebühr17 oder gemäß Art. 71 Abs. 1 Buchst. b UZK als geistige Beistellung zu berücksichtigen ist, abhängig davon, ob ein Lizenzvertrag geschlossen wurde (dann Buchst. c) oder nicht.

13 Diese Konstellation kommt allerdings in der Praxis kaum vor; die CAD-Daten bzw. die für den Druck benötigte Software wird regelmäßig nicht vom Druckerhersteller verkauft, sondern ist auf unabhängigen Marktplätzen erhältlich. 14 Anders die Konstellation in der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Compaq v. 16. November 2006 – C-306/04, ZfZ 2007, 69, wonach die dem Verkäufer vom Käufer kostenlos zur Verfügung gestellte und auf den eingeführten Computer aufgespielte Software dem Transaktionswert als geistige Beistellung bzw. Lizenzgebühr (der EuGH lässt dies offen) hinzugerechnet werden muss. Diese Entscheidung betraf eine geistige Beistellung, die die Funktionsfähigkeit der eingeführten Ware betraf, und nicht eine geistige Beistellung, die sich auf die erst noch herzustellende Ware bezieht. Sollte also im Wege des 3-D-Drucks eine Ware im Drittland unter Verwendung einer aus dem Zollgebiet stammenden Software hergestellt werden und die Software nicht nur für die Herstellung der zu druckenden Ware, sondern auch für deren spätere Funktionsfähigkeit erforderlich sein, so ist eine zollwertrechtliche Berücksichtigung geboten, s. hierzu auch die Schlussfolgerung der EU-Kommission 26 zur Beistellung von Software, abgedruckt bei Müller-Eiselt/ Vonderbank. 15 Nur ausnahmsweise, wenn die für die zu druckende Ware erforderliche Software im Drucker enthalten ist, kommt eine zollwertrechtliche Berücksichtigung in Betracht, vgl. hierzu EuGH v. 18. April 1991 – C-79/89, Slg 1991, I 1853. 16 Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 (UZK-IA) der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union, ABlEU Nr. L 343/558. 17 Zur folgenreichen Neuregelung der Einbeziehung von Lizenzgebühren vgl. Rinnert, Die wesentlichen Neuerungen im Zollwertrecht, ZfZ 2017, 139.

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Zoll 4.0 – die zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks

2. Das Rohmaterial a) Das Material als solches Hinsichtlich des Rohmaterials gelten dieselben Grundsätze wie für den 3-D-Drucker. Eingeführte Ware ist jeweils das Rohmaterial und nicht die daraus herzustellende Ware. Die britischen Zollbehörden reihen das Rohmaterial in die Pos. 3916 KN (Monofile aus Kunststoffen) ein18. In Betracht käme – und das ist ein Differenzierungsansatz gegenüber der Beurteilung beim 3-D-Drucker  – die Berücksichtigung der CAD-Daten als geistige Beistellung gemäß Art. 71 Abs. 1 Buchst. b iv UZK19, wollte man das Rohmaterial als physische Vorstufe für die noch herzustellenden Waren ansehen, das seinen Wert erst durch CAD-Daten erhält. Dies stellt allerdings eine weder in den Regelungen des UZK noch im GATT-Zollwertkodex vorgesehene Ausdehnung des Begriffs der eingeführten Ware dar. b) Hinzurechnung der Kosten für die CAD-Daten Eine Hinzurechnung der Kosten für die CAD-Daten20 zu dem tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis ist ausnahmsweise nur dann zulässig, wenn die CAD-Daten für die Herstellung einer Ware untrennbar mit dem eingeführten Rohmaterial verbunden oder in diesem verkörpert sind. Der EuGH21 hat zugunsten der Hinzurechnung von Lizenzgebühren zum Transaktionswert für ein erst im Einfuhrland angewendetes Verfahrenspatent für den Bau einer Maschine entschieden, wenn eine untrennbare Verkörperung des Verfahrens in der Einfuhrware gegeben ist.22 Dies sei dann der Fall, wenn die einzige wirtschaftlich sinnvolle Benutzung der Ware in der Durchführung des Verfahrens besteht und das Verfahren nur durch die Benutzung dieser Ware zur Wirkung gelangen kann. Übertragen auf das Rohmaterial für den 3-D-Druck bedeutet dies, dass mit dem Rohmaterial nur die in den CAD-Daten spezifizierte und keine andere Ware hergestellt werden kann. Dies ist in dem seltenen Fall möglich, in dem das Rohmaterial eine Sonderanfertigung für die herzustellende (und sonst keine andere denkbare) Ware ist und die CAD-Daten mit dem Rohmaterial gemeinsam verkauft werden. c) Abzug der Kosten für die CAD-Daten In keinem Fall kommt ein Abzug der im Rohmaterial ggf. enthaltenen (wenn die CAD-Daten ausnahmsweise mit dem Rohmaterial verkauft werden) Kosten für die 18 Vgl. Binding Tariff Information 6B 502255293 v. 7. Januar 2015 und 6B 503331792 v. 22. Dezember 2016. 19 Wenn diese überhaupt mit dem Rohmaterial gemeinsam verkauft würden. 20 Entweder als Lizenzgebühr gemäß Art. 71 Abs. 1 Buchst. c UZK, wenn eine entsprechende Vereinbarung geschlossen wurde, oder anderenfalls als geistige Beistellung gemäß Art. 71 Abs. 1 Buchst. b iv UZK. 21 Urteil v. 16. März 1978 – C-135/77, ZfZ 1978, 203. 22 Hierzu auch das WCO-Gutachten 4.3, abgedruckt bei Müller-Eiselt/Vonderbank, Fach 33.20.

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CAD-Daten gemäß Art. 72 Buchst. d UZK als Kosten für das Recht auf Vervielfältigung in Betracht. Nicht das Rohmaterial wird vervielfältigt, sondern die neue Ware wird mehrfach hergestellt. 3. Die CAD-Daten/Software Die CAD-Daten bzw. die Software für eine mit einem 3-D-Drucker herzustellende Ware wird regelmäßig auf einem virtuellen Marktplatz im Internet angeboten und von dort heruntergeladen. Es handelt sich also in den allermeisten Fällen nicht um ein bewegliches Gut und damit nicht um eine Ware. Anders sieht hingegen der Fall aus, wenn die CAD-Daten bzw. die Software auf einem Datenträger verkörpert sind und dieser Datenträger, unstreitig eine Ware, in den freien Verkehr überlassen wird. Der im Wesentlichen wertlose Datenträger erhält seinen Wert durch die darin enthaltene geistige Beistellung bzw. die lizenzierte Software. Dies spiegelt sich in dem Verkaufspreis wider, auf dessen Grundlage der Transaktionswert ermittelt wird.23 Allerdings ist davon auszugehen, dass entsprechende Druckdaten nicht verkörpert veräußert werden, sondern die Nutzung durch ein Herunterladen ermöglicht wird.24

V. Lösungsansätze Will der Gesetzgeber den zu erwartenden Einnahmenausfall aufgrund des 3-D-­ Drucks – sowohl hinsichtlich der Zölle als auch der Einfuhrumsatzsteuer – nicht hinnehmen, so bieten sich sowohl ein  – sehr weitgehender  – zollrechtlicher, ein zollwertrechtlicher als auch ein zolltarifrechtlicher Lösungsansatz an. 1. Zollrechtlicher Ansatz Der zollrechtliche Ansatz zum Erfassen des 3-D-Drucks knüpft an der rechtlichen Einordnung der für den Druckvorgang maßgeblichen Daten bzw. der erforderlichen Software an, die regelmäßig von einschlägigen Webseiten für den Druck heruntergeladen und nicht verkörpert ist. Sie erfüllt damit mangels Körperlichkeit nicht die Definition des Warenbegriffs. Allerdings gilt dies auch für den elektrischen Strom, der zumindest nach nationalem25 Verständnis dem Warenbegriff unterliegt.26 Diese 23 Häufig ist der Zollsatz für die Datenträger allerdings „frei“, sodass auch der mit Software bespielte Datenträger zollfrei eingeführt werden kann. 24 Siehe zur Auswirkung einer fehlenden Verkörperung einer urheberrechtlich geschützten Leistung auf die Erschöpfung des Urheberrechts EuGH in UsedSoft/Oracle v. 3. Juli 2012 – C-128/11, EU:C:2012:407, EuZW 2012, 648, dazu Hauck, Der Erschöpfungsgrundsatz im Patent- und Urheberrecht, EuzW 2017, 645. 25 Vgl. DV Zollwertrecht, Z 51 01, Abs. 5. 26 Die Einbeziehung des elektrischen Stroms in den Warenbegriff geht zurück auf den statistischen Warenbegriff in Art. 2 Buchst. a der sog. Intrastat-Verordnung, VO (WG) 638/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 31. März 2004 über die Gemeinschaftsstatistiken des Warenverkehrs zwischen Mitgliedstaaten […].

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Zoll 4.0 – die zollrechtliche Beurteilung des 3-D-Drucks

denkbare Ergänzung des Warenbegriffs ermöglicht auch eine außenwirtschaftsrechtlich vernünftige Handhabung der möglichen Schattenseiten des 3-D-Drucks. 2. Zollwertrechtlicher Ansatz Zollwertrechtlich müssten die Regelungen des GATT-Zollwertkodex und entsprechend der Art. 70  ff. UZK dahingehend ergänzt werden, dass die Herstellung von Waren nach der Einfuhr – ggf. beschränkt auf die Methode 3-D-Druck – ebenfalls erfasst wird. Es bietet sich bei Art. 71 Abs. 1 Buchst. b iv und Buchst. c UZK die Ergänzung „... für die Herstellung der eingeführten oder noch herzustellenden Waren ...“ beziehungsweise „... für die zu bewertenden oder noch herzustellenden Waren ...“ an. 3. Zolltarifrechtlicher Ansatz In das ohnehin jährlich von der Weltzollorganisation überarbeitete Harmonisierte System könnte als neue sechsstellige Unterposition in den jeweiligen Positionen, in die die typischen Rohmaterialen eingereiht werden, eine weitere Unterposition mit dem Wortlaut „... zur Herstellung von Waren im 3-D-Druck-Verfahren“ eingefügt werden, einhergehend mit einer entsprechenden Anpassung des Zollsatzes.

VI. Fazit Der 3-D-Druck revolutioniert die industrielle Fertigung von Waren grundlegend. Eine flexible Verlagerung des Herstellungsortes, der Wegfall produktionsbedingter Zwischenschritte und ein einfaches Ausgangsmaterial lassen erwarten, dass diese Technik erst am Anfang ihrer Verbreitung steht. 3-D-Druck reduziert die internationalen Warenbewegungen. Lediglich die Drucker und das Rohmaterial sind einer Verzollung zugänglich. Das für das Druckergebnis maßgebliche Know-how bzw. die erforderlichen Anweisungen ergeben sich aus CAD-Daten bzw. speziell konfigurierter Software, die virtuell und ohne Verkörperung auf entsprechenden Marktplätzen gehandelt und am Ort des 3-D-Drucks heruntergeladen werden können. Der Fiskus verliert mit dem Rückgang des grenzüberschreitenden Warenverkehrs eine bedeutsame Einnahmequelle. Soll dies nicht hingenommen werden, so sind Änderungen sowohl der zollrechtlichen als auch der zollwertrechtlichen und der zolltarifrechtlichen Regelungen denkbar.

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Lebensmittelzubereitung oder Arzneiware – die Abgrenzungskriterien nach der aktuellen ­EuGH-  Rechtsprechung Inhaltsübersicht

I. Einleitung



II. Grundlagen in der Nomenklatur III. Die Rechtsprechung des EuGH zur Abgrenzung der Arzneiwaren von den Lebensmittelzubereitungen bzw. Getränken 1. EuGH v. 30.4.2014 – C-267/13, ECLI:EU:C:2014:277 – Nutricia



2. EuGH v. 17.9.2015 – C-344/14, ECLI:EU:C:2015:615 – Kyowa Hakko Europe 3. EuGH v. 17.2.2016 – C-124/15, ECLI:EU:C:2016:87 – Salutas Pharma 4. EuGH v. 15.12.2016 – C-700/15, ECLI:EU:C:2016:959 – LEK

IV. Zusammenfassung

I. Einleitung In jüngerer Zeit war der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mehrfach mit der Einreihung von Nahrungsergänzungsmitteln oder ähnlichen Produkten in den Zolltarif befasst. Bei den Waren handelte es sich um Calcium-Brausetabletten, Aminosäuremischungen, Sondennahrung unter anderem aus Eiweiß, Vitaminen und Kohlehydraten oder um Erzeugnisse, die probiotische Bakterien enthielten. Solche Waren werden einerseits verzehrt oder dienen der Ernährung. Andererseits werden sie zur oder bei der Behandlung bestimmter Erkrankungen eingesetzt oder sollen diesen vorbeugen. Der EuGH hatte daher im Kern zu entscheiden, ob die jeweiligen Waren nach ihrer Beschaffenheit als Lebensmittelzubereitungen i. S. d. Position 2106 der Kombinierten Nomenklatur (KN) oder als Getränke i. S. d. Position 2202 bzw. als Arzneiwaren i. S. d. Position 3003 oder 3004 KN zu tarifieren sind und wie genau sich diese Positionen voneinander abgrenzen lassen. Der Unterschied bei der Abgabenberechnung ist beträchtlich. Während Arzneiwaren zollfrei eingeführt werden können, ist beispielsweise bei Lebensmittelzubereitungen der Unterpositionen 2106 10 20 KN oder 2106 90 92 KN ein Drittlandszollsatz von 12,8 % anzuwenden. Die Rechtsprechung des EuGH zu diesem Themenkomplex ist somit für die betroffenen Wirtschaftsbeteiligten von erheblichem finanziellem Interesse.

1 In diesem Beitrag wird ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wiedergegeben.

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II. Grundlagen in der Nomenklatur Die Position 2106 KN erfasst „Lebensmittelzubereitungen, anderweit weder genannt noch inbegriffen“. „Arzneiwaren (ausgenommen Erzeugnisse der Position 3002, 3005 oder 3006), die aus gemischten oder ungemischten Erzeugnissen zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken bestehen, dosiert (einschließlich solcher, die über die Haut verabreicht werden) oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf “, fallen in die Position 3004 KN. Die Position 3003 KN erfasst nicht dosierte Arzneiwaren aus gemischten Bestandteilen, stellt jedoch ebenfalls auf den therapeutischen oder prophylaktischen Zweck ab. Dass die hier im Mittelpunkt stehenden Waren die Beschaffenheitsmerkmale von Lebensmittelzubereitungen i.S.d. Position 2106 KN oder Getränken i.S.d. Position 2202 KN2 aufweisen und der Ernährung dienen bzw. als Nahrungsergänzungsmittel verwendet werden, lässt sich anhand ihrer Beschaffenheitsmerkmale der Waren meist schnell feststellen.3 Schwieriger ist jedoch zu beurteilen, ob diese Waren zugleich die Voraussetzungen für die Einreihung als Arzneiwaren i.S.d. Positionen 3003 oder 3004 KN erfüllen. Denn dann wären sie „anderweit genannt oder inbegriffen“4 und damit aus Kapitel 21 ausgeschlossen.5 Dies bestätigt auch die Anmerkung 1 Buchst. f zu Kapitel 21, die Waren der Position 3003 oder 3004 aus dem Kapitel 21 ausnimmt. Umgekehrt ergibt sich aus der Anmerkung 1 Buchst. a zu Kapitel 30 KN, dass Nahrungsmittel oder Getränke nicht in Kapitel 30 KN gehören. Für die in der jüngeren EuGH-Rechtsprechung beurteilten Waren kommen – da sie keine Stoffe wie Antibiotika oder Hormone enthalten – die Unterpositionen 3003 90 00 bzw. 3004 90 00 KN „andere“ sowie die Unterpos. 3004 50 10 „andere Arzneiwaren, Vitamine oder andere Erzeugnisse der Position 2936 enthaltend, in Aufmachungen für den Einzelverkauf “ (in der im Jahr 2007 geltenden Fassung bzw. jetzt 3004 50 00) in Betracht. In diesem Beitrag werden vier jüngere Entscheidungen des EuGH dargestellt, in denen dieser Abgrenzungskriterien zwischen den Positionen 3003 bzw. 3004 und 2106 bzw. 2202 KN herausgearbeitet oder in Anknüpfung an frühere Entscheidungen weiterentwickelt hat. Da sich der Wortlaut der einschlägigen Positionen nicht und der Wortlaut der relevanten Unterpositionen sowie der einschlägigen Anmerkungen und Erläuterungen in den Streitjahren im Vergleich zur derzeit gültigen Fassung nicht wesentlich geändert haben, wird bei der Nennung der Positionen bzw. Unterpositionen im Folgenden nicht mehr nach der jeweils im Streitjahr gültigen Fassung unterschieden, sondern nur noch die aktuell gültige Fassung wiedergegeben.

2 Die Position 2202 KN erfasst „Wasser, einschließlich Mineralwasser und kohlensäurehaltiges Wasser, mit Zusatz von Zucker, anderen Süßmitteln oder Aromastoffen, und andere nicht alkoholhaltige Getränke, ausgenommen Frucht- und Gemüsesäfte der Position 2009“. 3 Vgl. auch Erläuterungen zum Harmonisierten System – ErlHS – 02.0 und 29.0 zu Position 2106. 4 Vgl. Positionswortlaut zu Position 2106 KN und zu Position 2202 KN. 5 Vgl. auch EuGH v. 17.12.2009 – C-410/08 und 412/08, ECLI:EU:C:2008:700 – Swiss Caps; EuGH v. 9.2.2017 – C-441/15, ECLI:EU:C:2017:103 – Madaus.

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III. Die Rechtsprechung des EuGH zur Abgrenzung der Arzneiwaren von den Lebensmittelzubereitungen bzw. Getränken 1. EuGH v. 30.4.2014 – C-267/13, ECLI:EU:C:2014:277 – Nutricia Mit seinem Urteil Nutricia vom 30.4.2014 hat der EuGH über die Tarifierung von Sondennahrung entschieden. Die flüssige Zubereitung enthielt verschiedene Bestandteile wie Eiweiße, Vitamine, Kohlehydrate, Fette, Ballaststoffe und Mineralien und war enteral, das heißt über eine Magensonde, und nur unter ärztlicher Aufsicht zu verabreichen. Die Sondennahrung diente dazu, krankheits- oder leidensbedingte Unterernährung zu behandeln. In diesem Verfahren stellte sich die Frage, ob es sich bei der Ware um ein Getränk i.S.d. Position 2202 KN oder eine Arzneiware i.S.d. Position 3004 KN handelt. Denn der Verwendungszweck der Sondennahrung sprach neben der Art der Verabreichung für eine Einordnung als Arzneiware.6 Der EuGH konkretisierte die Anforderungen an eine Einreihung als Arzneiware in das Kapitel 30 dahin, dass diese „eindeutig bestimmbare therapeutische und prophylaktische Eigenschaften aufweisen, deren Wirkung sich auf bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert7, und ob sie zur Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens angewandt werden können.8 Auch wenn das betroffene Erzeugnis keine eigene therapeutische Wirkung hat, aber bei der Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens Anwendung findet, ist es als zu therapeutischen Zwecken zubereitet anzusehen, sofern es eigens für diese Verwendung bestimmt ist“.9 Ausgehend vom Wortlaut der Position 3004 KN, wonach Waren nur dann als Arzneiwaren angesehen werden können, wenn sie zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken bestimmt sind, hat der EuGH zwei Alternativen herausgearbeitet, in denen Waren in die Position 3004 KN einzureihen sind. Die erste Alternative betrifft Waren, die selbst therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen, wobei diese eindeutig bestimmbar sein müssen. Diese Waren sind aufgrund ihrer objektiven Eigenschaften geeignet, eine Krankheit oder ein Leiden zu behandeln oder dieser bzw. diesem vorzubeugen. Dabei wirken sie auf bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus ein. Die therapeutischen oder prophylaktischen Eigenschaften können  – in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Position 3004 KN („zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken“) – alternativ vorliegen.10 6 Vgl. auch ErlHS 09.1 zu Kapitel 22. 7 Vgl. auch EuGH v. 9.1.2007  – C-40/06, ECLI:EU:C:2007:2  – Juers Pharma; EuGH v. 19.1.2005  – C-206/03, ECLI:EU:C:2005:31  – SmithKline Beecham; vgl. auch EuGH v. 17.12.2009  – C-410/08 und C-412/08, ECLI:EU:C:2008:700  – Swiss Caps; EuGH v. 10.12.1998 – C-328/97, ECLI:EU:C:1998:601 – Glob-Sped. 8 Vgl. auch EuGH v. 12.7.2012  – C-291/11, ECLI:EU:C:2012:459  – TNT Freight Management. 9 EuGH v. 30.4.2014 – C-267/13, ECLI:EU:C:2014:277 – Nutricia Rz. 20. 10 Der EuGH wählt hier teilweise eine kumulative, teilweise eine alternative Formulierung, vgl. EuGH v. 30.4.2014 – C-267/13, ECLI:EU:C:2014:277 – Nutricia. Dies dürfte jedoch nur

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Hat eine Ware keine eigene therapeutische (und wohl auch prophylaktische11) Wirkung, kann sie dennoch in die Position 3004 KN eingereiht werden, wenn sie „bei der Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens Anwendung findet“ und „eigens für diese Verwendung bestimmt ist“. Ergibt sich also nicht bereits aus den objektiven Merkmalen und Eigenschaften der Ware ein therapeutischer oder prophylaktischer Zweck, werden die Art der Anwendung und deren Zusammenhang relevant. Danach muss ein Zusammenhang zur Verhütung oder Behandlung eines Leidens oder einer Krankheit bestehen, und  – worauf später noch einzugehen sein wird – die Ware muss für eine medizinische Verwendung bestimmt sein. Dieses Kriterium hat der EuGH in seiner Entscheidung Nutricia als einreihungserheblich erachtet und die Sondennahrung als Arzneiware im Sinne der Position 3004 KN angesehen, weil sie für die Behandlung krankheits- oder leidensbedingter Unterernährung verwendet wird und nur unter ärztlicher Aufsicht und auf enteralem Weg verabreicht werden darf.12 Ausschlaggebend war demnach insbesondere, dass die Sondennahrung nicht getrunken wird, sondern vom Arzt eine Magensonde gelegt werden muss, über die die Nahrung aufgenommen werden kann. Durch die Art der Verabreichung tritt der therapeutische Zweck, zu dem die Ware bestimmt ist, zutage mit der Folge, dass die Sondennahrung nicht in die Position 2202 KN, sondern in die Position 3004 KN einzureihen ist. Diese vom EuGH aufgestellten Kriterien zur Umschreibung der Position 3004 KN sind meines Erachtens griffig und mit dem Wortlaut der Position vereinbar. Nicht recht klar ist dagegen, worauf der EuGH mit seinen Ausführungen zur Anmerkung 1 Buchst. a zu Kapitel 30 KN hinauswill. Zunächst streift er die genannte Anmerkung, die näher beschriebene Nahrungsmittel oder Getränke sowie andere nicht intravenös zu verabreichende Nährstoffzubereitungen aus dem Kapitel 30 KN ausnimmt. Anschließend ergänzt der EuGH seine Warenbeschreibung und kommt wieder auf die Zweckbestimmung der Ware zu sprechen. Offen bleibt jedoch, welche Bedeutung die Anmerkung 1 Buchst. a zu Kapitel 30 KN für den Streitfall hat. Denn diese belässt ausdrücklich nur intravenös zu verabreichende Nährstoffzubereitungen in Kapitel 30 KN. Aber wie verhält es sich mit enteral zu verabreichenden Nährstoffzubereitungen? Wenn die genannte Anmerkung so zu verstehen sein sollte, dass ausschließlich intravenös zu verabreichende Nahrungsmittel oder Nährstoffzubereitungen in Kapitel 30 KN und somit auch in der Position 3004 KN verbleiben können und alle anderen einschließlich enteral zu verabreichende Waren aus Kapitel 30 KN ausgeschlossen sind, stünde dies im Widerspruch zum Positionswortlaut. Denn dieser spricht weder eine intravenöse noch eine enterale Verabreichung an, sondern stellt in erster Linie eine Ungenauigkeit bei der Abfassung des Urteils in der niederländischen Verfahrenssprache darstellen. In anderen Entscheidungen werden die therapeutischen und prophylaktischen Eigenschaften der Ware alternativ angesprochen, vgl. z.B. EuGH v. 9.1.2007  – C-40/06, ECLI:EU:C:2007:2 – Juers Pharma. 11 Dies stellt der EuGH erst in seinem Urteil v. 17.9.2015 – C-344/14, ECLI:EU:C:2015:615 – Kyowa Hakko Europe Rz. 29 klar. 12 EuGH v. 30.4.2014 – C-267/13, ECLI:EU:C2014:277 – Nutricia Rz. 24. In Rz. 30 spricht der EuGH von einem „therapeutischen Umfeld“.

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auf den therapeutischen oder prophylaktischen Zweck der Ware ab, der bei beiden Formen der Verabreichung gleichermaßen vorliegen kann. Ausgehend vom Positionswortlaut, darf die Anmerkung daher nicht in einem abschließenden Sinn verstanden werden. Vielmehr nennt sie mit der intravenösen Verabreichung nur einen Fall. Im Ergebnis sieht auch der EuGH die Anmerkung 1 Buchst. a zu Kapitel 30 nicht als abschließend an, indem er die Verwendung der Sondennahrung in einem therapeutischen Umfeld und die enterale Verabreichung für ausschlaggebend hält und die Sondennahrung der Position 3004 KN zuweist. 2. EuGH v. 17.9.2015 – C-344/14, ECLI:EU:C:2015:615 – Kyowa Hakko Europe Seine Kriterien zum Anwendungsbereich der Position 3004 KN hat der EuGH in ­seinem Urteil Kyowa Hakko Europe vom 17.9.2015 wieder aufgegriffen. Hier hatte der EuGH über die Tarifierung von Aminosäuremischungen zu entscheiden, die aus verschiedenen hochrein hergestellten Einzelaminosäuren bestanden und keine Kuh­ milchproteine enthielten. Nach weiterer Verarbeitung wurden diese für die Nahrungszubereitung für Säuglinge und Kleinkinder mit Kuhmilchproteinallergie verwendet. Auch hier stellte sich die Frage, ob diese Waren als Lebensmittelzubereitung in die Position 2106 KN oder als Arzneiware in die Position 3003 KN einzuordnen sind. Die Position 3003 KN unterscheidet sich von der Position 3004 KN dadurch, dass sie Arzneiwaren erfasst, die weder dosiert noch in Aufmachungen für den Einzelverkauf zusammengestellt sind. Der Unterschied liegt also – abgesehen von geringen Abweichungen in der Formulierung des Positionswortlauts – im Wesentlichen in der Art der Aufmachung der Erzeugnisse. Zunächst stellte der EuGH fest, dass die Waren grundsätzlich solche der Position 2106 KN seien. Anschließend prüfte er die Anmerkung 1 Buchst. f zu Kapitel 21 KN, die Arzneiwaren der Positionen 3003 und 3004 KN aus dem (allgemeinen) Lebensmittelkapitel ausschließt. Der EuGH wiederholte in diesem Zusammenhang die bereits oben wiedergegebene Definition für Erzeugnisse im Sinne des Kapitels 30 KN, die entweder eine eigene therapeutische oder prophylaktische Wirkung eines Erzeugnisses oder zumindest seine Anwendung bei der Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens, also die Bestimmung zu einer medizinischen Verwendung, verlangt.13 In der weiteren Begründung seiner Entscheidung war für den EuGH maßgeblich, dass die Aminosäuremischungen selbst nicht geeignet waren, eine Kuhmilchallergie zu behandeln oder zu heilen, sondern sie lediglich als Austauschstoff verwendet werden, um die Aufnahme von Kuhmilchproteinen und damit allergische Reaktionen vermeiden zu können. Infolgedessen war die erste Alternative, nämlich die eigene therapeutische oder prophylaktische Wirkung, zu verneinen. Somit blieb die zweite Alternative und mithin die Frage, ob die Aminosäuremischungen zu einer medizinischen Verwendung bestimmt waren, weil sie im Rahmen einer medizinischen Behandlung eingesetzt und unter ärztlicher Überwachung aufgenom13 EuGH v. 17.9.2015 – C-344/14, ECLI:EU:C:2015:615 – Kyowa Hakko Europe Rz. 29 und 31.

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men werden. Auch dies wurde klar verneint, weil die Aminosäuremischungen (nach Zusatz weiterer Stoffe) als Austauschnahrung im Rahmen der täglichen Ernährung aufgenommen werden und eine ärztliche Mitwirkung somit nicht erforderlich ist.14 Der EuGH hat im Ergebnis in seinem Urteil Kyowa Hakko Europe seine zuvor entwickelte Rechtsprechung konsequent beibehalten. Der Aufbau der Begründung orientiert sich jedoch mehr an der Systematik der Nomenklatur. Während der EuGH im Urteil Kyowa Hakko Europe mit der Anmerkung 1 Buchst. f zu Kapitel 21 KN beginnt, die Waren der Positionen 3003 oder 3004 KN15 aus dem Kreis der Lebensmittelzubereitungen ausschließt, wurde diese Anmerkung im Urteil Nutricia nicht angesprochen. Hier ging der EuGH lediglich auf die Anmerkung 1 Buchst. a zu Kapitel 30 KN ein. Im Ergebnis geht aus beiden Anmerkungen hervor, dass die Positionen 2106 und 3003 bzw. 3004 KN voneinander abzugrenzen sind und dass Waren, die grundsätzlich die Voraussetzungen beider Kapitel erfüllen, in das speziellere Kapitel 30 über die pharmazeutischen Erzeugnisse gehören. 3. EuGH v. 17.2.2016 – C-124/15, ECLI:EU:C:2016:87 – Salutas Pharma Anders argumentiert der EuGH in seiner Entscheidung Salutas Pharma vom 17.2.2016. Hier hatte sich der EuGH mit der Tarifierung von im Wesentlichen aus Calcium bestehenden Brausetabletten (500 mg Calcium pro Brausetablette), die zur Einnahme nach Auflösung in Wasser bestimmt waren, zu beschäftigen, und auch hier kam es im Wesentlichen auf die Abgrenzung der Positionen 2106 KN und 3004 KN an. In diesem Fall stützt der EuGH seine Begründung auf die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN, die in der Argumentation der Beteiligten eine zentrale Rolle gespielt hatte. Diese Zusätzliche Anmerkung ordnet pflanzliche Arzneizubereitungen und Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essenziellen Aminosäuren oder Fettsäuren, in Aufmachungen für den Einzelverkauf, unter bestimmten näher aufgeführten Voraussetzungen der Position 3004 zu. Unter anderem muss bei Zubereitungen auf der Grundlage der genannten Wirkstoffe die Menge eines dieser Stoffe pro auf dem Etikett angegebener empfohlener Tagesdosis deutlich höher sein als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis. Die Erläuterung 06.1 zur Kombinierten Nomenklatur (ErlKN) ergänzt diese Anmerkung und geht davon aus, dass die Menge an Vitaminen oder Mineralstoffen im Allgemeinen mindestens dreimal höher als die normalerweise empfohlene Tagesdosis ist. Da das Produkt alle in der Zusätzlichen Anmerkung 1 Buchst. a bis d zu Kapitel 30 KN16 genannten Kriterien erfüllte, war letztlich nur zu klären, ob die Calciummenge pro auf dem Etikett angegebener empfohlener Tagesdosis deutlich höher war als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis.17 Dies bejahte der EuGH, weil 14 Vgl. dazu auch ErlHS 18.1 zu Position 3004, wonach Lebensmittelzubereitungen, die nur Nährstoffe enthalten, nicht in die Position 3004 gehören. 15 Neben Hefen, die als Arzneimittel aufgemacht sind. 16 Die Zusätzliche Anmerkung 1 bezieht sich nur auf die Position 3004 KN, nicht auch auf die Position 3003 KN, in der nur undosierte Mischungen angesprochen werden. 17 Vgl. letzter Satz der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Position 3004 KN.

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der Calciumgehalt der empfohlenen Tagesdosis um mehr als 85 % über der für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlenen Tagesdosis für Calcium lag und der regelmäßige Verzehr von Calciummengen in Höhe des Dreifachen der empfohlenen Tagesdosis gesundheitsschädlich sein kann.18 Das Gericht betonte in diesem Zusammenhang, dass die in der ErlKN 06.1 zur Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN angesprochene Menge nicht zwingend sei. Allerdings ging der EuGH in seiner Urteilsbegründung nicht auf die in den Entscheidungen Nutricia und Kyowa Hakko Europe aufgestellten Kriterien ein. Dies wirft die Frage auf, wie die Definition des in Position 3004 KN genannten Verwendungszwecks und die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN zusammenspielen. Bei den Calciumbrausetabletten handelt es sich um Lebensmittelzubereitungen i. S. d. Position 2106 KN. Diese sind zum Verzehr bestimmt und ergänzen die normale Ernährung (vgl. dazu auch die Zusätzliche Anmerkung 5 zu Kapitel 21 KN). Es bleibt daher zu prüfen, ob es sich zugleich um Arzneiwaren i. S. d. Position 3004 KN handelt, die therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken dienen. Unter Anwendung der vom EuGH herausgearbeiteten Kriterien käme es darauf an, ob die Calciumbrausetabletten selbst eine therapeutische oder prophylaktische Wirkung aufweisen oder ob sie zu einer medizinischen Verwendung bestimmt sind. Im Beipackzettel zu den Calciumtabletten wird ausgeführt, die Brausetabletten würden zur Vorbeugung und Behandlung eines Calciummangels und zur Unterstützung einer speziellen Therapie zur Vorbeugung und Behandlung von Osteoporose angewandt. Dementsprechend sah das Finanzgericht Hamburg in seinem Vorlagebeschluss vom 24.2.201519 zumindest eine prophylaktische Wirkung als offensichtlich gegeben an. Darüber hinaus ging der vorlegende Senat mit den Beteiligten davon aus, dass die Ware wegen des enthaltenen Calciums auch therapeutischen Zwecken diene. Davon ausgehend könnte nach der EuGH-Rechtsprechung auch ohne die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN eine Einreihung in die Position 3004 KN bejaht werden, weil dann eine eigene prophylaktische und gegebenenfalls therapeutische Wirkung des Erzeugnisses bestünde. Für dieses Verständnis sprechen auch der Tenor der Entscheidung Salutas Pharma sowie die Ausführungen in Rz. 37, wonach es auf die in Position 3004 festgelegten objektiven Merkmale und Eigenschaften ankommt und wo der EuGH zu­ sätzlich auf die deutlich über das für die allgemeine Ernährung notwendige oder empfohlene Maß hinausgehende Menge an Mineralstoffen u. a. abstellt. Die zweite Alternative der in den Entscheidungen Nutricia und Kyowa Hakko Europe angewandten Argumentation käme dagegen nicht zum Tragen, weil die Einnahme der Brausetabletten nicht unter ärztlicher Aufsicht, sondern vielmehr im Rahmen oder neben der täglichen Ernährung zu Hause erfolgt. Die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN kann sich jedoch bei Nahrungsergänzungsmitteln durchaus als hilfreich erweisen20, weil deren Inhaltsstoffe wie z. B. Vita18 EuGH v. 17.2.2016 – C-124/15, ECLI:EU:C:2016:87 – Salutas Pharma Rz. 38. 19 Aktenzeichen 4 K 35/14, LMuR 2015, 111. 20 Für Waren mit anderen Inhaltsstoffen wie Penicillin, andere Antibiotika oder Hormone gilt die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN nicht. Diese werden in der Nomenklatur ausdrücklich angesprochen.

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mine oder Mineralstoffe auch Bestandteil anderer Lebensmittel sind und die genauen Wirkzusammenhänge daher möglicherweise schwerer nachzuweisen sind als bei anderen Substanzen. Die genannte Anmerkung legt hier zusätzliche konkrete Kriterien fest, die die Einordnung pflanzlicher Arzneizubereitungen und von Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essenziellen Aminosäuren oder Fettsäuren erleichtern und damit die einheitliche Auslegung der Nomenklatur sicherstellen sollen. Starre Grenzwerte, bei deren Überschreiten nicht mehr „nur“ eine Lebensmittelzubereitung i.S.d. Position 2106 KN, sondern bereits eine Arzneiware i.S.d. Position 3004 KN vorliegt, sind allerdings nicht angegeben. Einen anderen Eindruck erweckt die ErlKN 06.1 zu Kapitel 30, wo das Vorliegen einer wesentlich höheren Menge an Vitaminen oder Mineralstoffen bejaht wird, wenn die Ware im Allgemeinen eine mindestens dreimal höhere Menge dieser Stoffe als die normalerweise empfohlene Tagesdosis enthält. Weiterhin findet sich dort eine Tabelle mit Angaben zu der jeweils empfohlenen Tagesdosis pro Inhaltsstoff, sodass die „deutliche Überschreitung“ der empfohlenen Tagesdosis errechnet werden kann. Auch wenn die Erläuterungen nicht rechtsverbindlich, sondern lediglich ein „wichtiges Hilfsmittel für die Auslegung der Tarifpositionen“ sind21, wird hier – vordergründig betrachtet – zumindest für die meisten Fälle („im Allgemeinen“) eine klare und einfache Anleitung für die Tarifierung bestimmter Nahrungsergänzungsmittel gegeben. Doch ganz so einfach ist die Lösung nicht. Die Klägerin im Verfahren Salutas Pharma zweifelte unter anderem deshalb an der Wirksamkeit der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30, weil sie nach ihrer Auffassung nicht mit dem Harmonisierten System (HS) vereinbar war. Dieser Einwand beruhte darauf, dass in der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 – ergänzt durch die in ErlKN 07.2 zu Kapitel 30 tabellarisch aufgelisteten konkreten Tagesdosen pro Inhaltsstoff – darauf abgestellt wird, ob die Menge eines der dort genannten Stoffe pro auf dem Etikett angegebener empfohlener Tagesdosis deutlich höher sein muss als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis. Im Gegensatz dazu werden im Wortlaut der Position 3004 KN bestimmte Grenzwerte nicht genannt. Vielmehr wird dort auf den therapeutischen oder prophylaktischen Zweck der Ware abgestellt. Im Ergebnis steht also die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 im Widerspruch zum Positionswortlaut. Der EuGH stellte die Wirksamkeit der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 in seinem Urteil Salutas Pharma nicht infrage, jedoch ohne ausdrücklich auf die Unterschiede zum Positionswortlaut einzugehen. Er sprach lediglich die ErlKN 06.1 zur Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 an und stellte klar, dass die Vitamin- oder Mineralstoffmenge der empfohlenen Tagesdosis der aus diesen Stoffen bestehenden Produkte nicht zwingend dreimal höher sein müsse als die empfohlene Tagesdosis, um in die Position 3004 KN eingereiht werden zu können. Zu Recht sah der EuGH daher die in der Erläuterung angesprochene dreifache Menge der empfohlenen Tagesdosis an Vitaminen oder Mineralstoffen nicht zuletzt aufgrund der nicht abschließenden Formulierung („im Allgemeinen“) nicht als zwingend an, sondern wertete 21 Vgl. z. B. EuGH v. 17.2.2016 – C-124/15, ECLI:EU:C:2016:87 – Salutas Pharma.

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diese nur als Orientierungshilfe und ließ im Ergebnis eine um mehr als 85 % über der empfohlenen Tagesdosis liegende Calciummenge für eine Einreihung in Position 3004 KN ausreichen.22 Dadurch mildert der EuGH das Spannungsverhältnis zwischen der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 einschließlich der dazugehörigen Erläuterung und dem Positionswortlaut ab. Nicht zu befassen hatte sich der EuGH jedoch mit der Frage, wie Waren zu handhaben sind, die Vitamine oder Mineralstoffe in deutlich geringerer Menge enthalten. Sofern sie eine prophylaktische oder therapeutische Wirkung aufweisen, müssten diese aufgrund des maßgeblichen Positionswortlauts in die Position 3004 KN eingereiht werden. Hier bleiben weitere Entscheidungen des EuGH abzuwarten. Abgesehen von den inhaltlichen Ungereimtheiten der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 ist unklar, ob die Europäische Kommission bei Erlass dieser Zusätzlichen Anmerkung im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a i. V. m. Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. EG 1987 Nr. L 256, 1 – VO Nr. 2658/87 –) gehandelt hat. Danach ist die Europäische Kommission berechtigt, Zusätzliche (verbindliche) Anmerkungen zur KN zu erlassen. Die ersten sechs Stellen der KN beruhen jedoch auf dem HS, das von der Weltzollorga­nisation (WZO) geschaffen wurde. Als Vertragsparteien des Internationalen Über­einkommens über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (HS-Übereinkommen)23 sind die Union und die Mitgliedstaaten an das HS gebunden und gemäß Art. 3 Abs. 1 des HS-Übereinkommens nicht befugt, Posi­tionen des HS oder deren Tragweite zu ändern. Die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 bezieht sich jedoch nach ihrem Wortlaut auf die Position 3004 und damit auf das nicht ihrer Kompetenz unterliegende HS.  Daher wird kritisiert, die Europäische Kommission habe in die Kompetenzen der WZO eingegriffen, indem sie Regelungen für den Positionswortlaut der Position 3004 getroffen und somit ihre Befugnis überschritten habe.24 Andererseits kommen für die in der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 angesprochenen pflanzlichen Arzneizubereitungen und Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essenziellen Aminosäuren oder Fettsäuren nur die Unterpositionen 3004 50 00 oder 3004 90 00 KN in Betracht, weil in den vorher genannten Unterpositionen konkrete, andere Inhaltsstoffe wie Antibiotika und Hormone angesprochen werden. Dies spricht dafür, dass die Europäische Kommission damit im Ergebnis doch nur Regelungen zur KN hat treffen wollen, auch wenn diese in der siebten und achten Stelle keine über das HS hinausgehenden Unter-

22 Vgl. EuGH v. 17.2.2016 – C-124/15, ECLI:EU:C:2016:87 – Salutas Pharma Rz. 35 und 38. 23 ABl. EG 1987 Nr. L 198, 3 sowie Beschluss des Rates v. 7.4.1987 über den Abschluss des Internationalen Übereinkommens über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren sowie des dazugehörigen Änderungsprotokolls, ABl. EG 1987 Nr. L 198, 1; vgl. auch Verordnung vom 10. Dezember 1986 zu dem Internationalen Übereinkommen v. 14.6.1983 über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren und zu dem Änderungsprotokoll v. 24.6.1986, BGBl. II 1986, 1067. 24 Gellert, AW-Prax 2017, 215, 219.

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teilungen enthalten.25 Eine klare Aussage des EuGH zur Gültigkeit dieser Zusätzlichen Anmerkung steht jedoch noch aus. Das EuGH-Urteil Salutas Pharma weicht – auch wenn dort gänzlich anders argumentiert wird als in den Entscheidungen Nutricia und Kyowa Hakko Europe – nicht von der zuvor ergangenen EuGH-Rechtsprechung ab, sondern ergänzt sie in Bezug auf den häufig zu tarifierenden Warenkreis der Vitamin- und Mineralstoffpräparate. Es wäre jedoch hilfreich gewesen, wenn der EuGH argumentativ an die beiden genannten Vorentscheidungen angeknüpft hätte, um die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 KN in den Zusammenhang zu Kapitel 30 KN einzuordnen. Auch die Unterschiede zum Positionswortlaut sind noch nicht vollständig geklärt. 4. EuGH v. 15.12.2016 – C-700/15, ECLI:EU:C:2016:959 – LEK Erst in seiner Entscheidung LEK vom 15.12.2016 – Rs. C-700/15 kommt der EuGH auf die in Nutricia und Kyowa Hakko Europe dargelegten Grundsätze zurück. Im Verfahren LEK hatte der EuGH über die Tarifierung von (Gelatine-)Kapseln bzw. Tütchen mit Granulat zu entscheiden, die verschiedene Milchsäurebakterien (probiotische Bakterien) enthielten. Nach den Angaben in der jeweiligen Gebrauchsanweisung war der Anwendungszweck die prophylaktische und unterstützende Behandlung bei Durchfall, Blähungen und anderen Verdauungsproblemen, die aufgrund einer Störung des Gleichgewichts der Darmflora entstehen. Die Klägerin verfügte für diese Produkte über eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften. Zunächst stellte der EuGH klar, dass die Einordnung einer Ware als Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel26 (RL 2001/83/EG) nicht automatisch dazu führt, dass sie als Arzneiware im Sinne der Position 3004 KN einzuordnen ist.27 Denn die mit der genannten Richtlinie verfolgten Ziele seien andere als die der KN.28 Dem ist zuzustimmen, weil die RL 2001/83/ EG in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dient, während die VO Nr.  2658/87 die einheitliche Anwendung der KN in den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des HS zum Ziel hat. Anschließend nimmt der EuGH zur Abgrenzung der Positionen 2106 KN und 3004 KN Stellung. Hier greift er seine Rechtsprechung in Nutricia zu Kapitel 30 KN wieder auf29 und geht auf die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Position 3004 KN ein. Ausgehend davon, dass diese Zusätzliche Anmerkung nur „pflanzliche Erzeugnisse oder Er­ zeugnisse auf der Grundlage abschließend aufgezählter Wirkstoffe“ anspricht, näm25 Vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b VO Nr. 2658/87. 26 ABl. EU 2001 Nr. L 311, 67. 27 Ähnlich auch EuGH v. 19.1.2005 – C-206/03, ECLI:EU:C:2005:31 – SmithKline Beecham. 28 Vgl. EuGH v. 15.12.2016 – C-700/15, ECLI:EU:C:2016:959 – LEK; vgl. auch ErlKN 01.1 zu Kapitel 30. 29 Vgl. EuGH v. 15.12.2016 – C-700/15, ECLI:EU:C:2016:959 – LEK Rz. 42.

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lich „Vitamine, Mineralstoffe, essenzielle Aminosäuren oder Fettsäuren“, schloss der EuGH die vorliegend einzureihenden Waren aus der Position 3004 KN aus, weil es sich bei diesen Waren um Kulturen von Mikroorganismen handele. Er stellte außerdem klar, dass die Aufmachung oder Vermarktung eines Erzeugnisses sowie dessen Darbietung für eine Einreihung in die Position 3004 KN nicht maßgeblich ist.30 Dies ergibt sich auch aus der Zusätzlichen Anmerkung 5 zu Kapitel 21, wonach andere Lebensmittelzubereitungen, dosiert aufgemacht, wie Kapseln, Tabletten, Pastillen und Pillen, die zur Verwendung als Nahrungsergänzungsmittel bestimmt sind, in Position 2106 KN eingereiht werden, sofern sie anderweitig weder genannt noch inbegriffen sind. Im Ergebnis bejahte der EuGH eine Einreihung der Waren in die Position 2106 KN, weil Erzeugnisse wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden allgemein nützliche Wirkungen auf die Gesundheit haben und deren wesentlicher Bestandteil ein in Nahrungsergänzungsmitteln enthaltener Wirkstoff ist. Allgemein nützliche Wirkungen auf die Gesundheit reichen also für eine Einreihung in die Position 3004 KN nicht aus. Die besondere Eignung einer Ware für eine bestimmte Art der Ernährung führt nicht zu ihrer Einreihung als Arzneimittel, auch wenn diese Art der Ernährung zur Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens notwendig oder sinnvoll ist.31 Es kommt vielmehr auf die eigene therapeutische oder prophylaktische Wirkung eines Erzeugnisses oder dessen Verwendung bei der Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens an. Irritierend sind meines Erachtens die Ausführungen des EuGH zur Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 30 bzw. zu Position 3004 KN. Das Gericht scheint diese Anmerkung dahin zu verstehen, dass die Position 3004 nur solche pflanzlichen Erzeugnisse oder Erzeugnisse erfasst, die die in der Anmerkung aufgezählten Wirkstoffe enthalten. Ob die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 jedoch tatsächlich in einem abschließenden Sinne zu verstehen ist, ist meines Erachtens nicht eindeutig. Denn der Wortlaut der Position 3004 knüpft nicht an bestimmte Wirkstoffgruppen an. Darüber hinaus enthält die Position 3004 KN die Unterposition 3004 90 00 KN, die als Auffangposition ausgestaltet ist („andere“) und aus der sich ebenfalls keine Differenzierung nach den Inhaltsstoffen entnehmen lässt. Die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 trifft vielmehr eine Regelung für pflanzliche Arzneizubereitungen und Zubereitungen auf der Grundlage der dort aufgeführten Wirkstoffe, ohne jedoch Waren mit anderen Inhaltsstoffen generell aus der Position 3004 KN auszuschließen. Ein Ausschluss von Waren aus der Position 3004 KN nur deshalb, weil sie Mikroorganismen enthalten, wäre daher meines Erachtens kritisch zu sehen. Im Ergebnis erkennt der EuGH bei den zu tarifierenden Waren keinen prophylaktischen oder therapeutischen Zweck, sondern nur allgemein nützliche Wirkungen auf die Gesundheit, und weist daher zu Recht die Waren der Position 2106 KN zu. 30 Vgl. EuGH v. 15.12.2016 – C-700/15, ECLI:EU:C:2016:959 – LEK Rz. 45; EuGH v. 9.1.2007 – C-40/06, ECLI:EU:C:2007:2  – Juers Pharma; EuGH v. 19.1.2005  – C-206/03, ECLI:​ EU:C:2005:31 – SmithKline Beecham. 31 BFH v. 31.5.2016 – VII R 37/12, BFHE 254, 85.

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IV. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der EuGH in den genannten Urteilen griffige Kriterien zur Auslegung der Positionen 3003 und 3004 KN aufgestellt hat. Diese knüpfen an den therapeutischen oder prophylaktischen Zweck der Ware an und sind daher mit dem Positionswortlaut vereinbar. Leider bezieht der EuGH im Hinblick auf die Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 nicht eindeutig Stellung. Obwohl hier zumindest Zweifel hinsichtlich der Kompetenz der Europäischen Kommission zum Erlass einer Zusätzlichen Anmerkung dieses Inhalts bestehen und obwohl der Positionswortlaut keinen Zusammenhang zu bestimmten empfohlenen Tagesmengen hat, lässt sich nur vermuten, dass der EuGH diese Zusätzliche Anmerkung für wirksam hält. Er mildert die Formulierung dieser Zusätzlichen Anmerkung allerdings dahingehend ab, dass er die dreifache Menge der empfohlenen Tagesdosis nicht als Grenzwert betrachtet, bei dessen Überschreitung die Ware automatisch in Kapitel 30 einzureihen wäre. Vielmehr verwendet er die dreifache empfohlene Tagesdosis als Orientierungshilfe. Das Kriterium der „deutlichen Überschreitung“ der empfohlenen täglichen Dosis ist allerdings anfällig für eine unterschiedliche Auslegung in den Mitgliedstaaten. Unklar bleibt auch, ob die genannte Anmerkung in Bezug auf die Inhaltsstoffe in einem abschließenden Sinn zu verstehen ist. Letztlich bietet die Zusätzliche Anmerkung 1 nur vordergründig eine Auslegungshilfe zur Nomenklatur. Bei genauerer Betrachtung weist sie Ungenauigkeiten auf, die von der Europäischen Kommission korrigiert werden sollten.

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Die verbindliche Zolltarifauskunft im Rechtsschutzsystem des Unionszollkodex Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Rechtsnatur der verbindlichen Zoll­ tarifauskunft III. Rechtsschutz in Bezug auf verbindliche Zolltarifauskünfte 1. Hauptsacheverfahren a) Anfechtungsklage



b) Verpflichtungsklage c) Ablauf der Zolltarifauskunft im ­gerichtlichen Verfahren 2. Vorläufiger Rechtsschutz

IV. Altfälle

V. Fazit und Ausblick

I. Einleitung „Die verbindliche Zolltarifauskunft ist eine schriftliche Entscheidung über die zolltarifrechtliche Einreihung, die von den Zollbehörden eines Mitgliedstaates auf Antrag eines Wirtschaftsbeteiligten (Händlers) getroffen wird. Sie fördert die einheitliche Anwendung der Zollpolitik und trägt zur korrekten Erhebung der Zölle bei. Sie … verschafft sowohl dem Wirtschaftsbeteiligten als auch den Zollbehörden Rechtssicherheit bezüglich der Einreihung der betreffenden Waren.“1 Diese positiven Feststellungen, mit denen der Europäische Rechnungshof2 seinen Sonderbericht Nr. 2/2008 über verbindliche Zolltarifauskünfte3 einleitet, lassen nicht unbedingt erwarten, dass der Rechnungshof am System der verbindlichen Zolltarifauskünfte wesentliche Modifizierungen anmahnt. Das Gegenteil ist indes der Fall: Der Sonderbericht des Rechnungshofes mündet in die dringende Empfehlung an den Gesetzgeber der Union, die Inhaber der verbindlichen Zolltarifauskünfte zu verpflichten, die vZTA-Entscheidungen bei der Einfuhr anzugeben, um die Kontrolltätigkeit der Zollbehörden zu erleichtern.4 Hintergrund dieser Empfehlung des Rechnungshofes ist die damalige Rechtslage unter der Geltung des Zollkodex, wonach ein Wirtschaftsbeteiligter nicht verpflichtet war, bei der Anmeldung der Waren seine verbindliche Zolltarifauskunft vorzulegen. Werde die Existenz einer verbindlichen Zolltarifauskunft verschwiegen, so heißt es im Sonderbericht weiter, sei es für die

1 Kurzinformation des Europäischen Rechnungshofs v. 3.3.2008 zum Sonderbericht Nr. 2/2008 über verbindliche Zolltarifauskünfte. 2 Im Folgenden: Rechnungshof. 3 2008/C 103/01. 4 Vgl. Sonderbericht Nr. 2/2008, C 103/4; Kurzmitteilung v. 3.3.2008.

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Zollbediensteten schwierig, zu überprüfen, ob der Anmelder eine verbindliche Zolltarifauskunft besitze und die zolltarifliche Einreihung korrekt sei. Wie hat der Gesetzgeber die Empfehlung des Rechnungshofes umgesetzt? Eine ausdrückliche Verpflichtung, bei der Anmeldung der Waren eine bereits erteilte und noch gültige verbindliche Zolltarifauskunft vorzulegen, findet sich in den Normierungen des neuen Unionszollkodex (UZK)5 nicht. In den Vorschriften über die summarische Eingangsmitteilung bzw. die Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung heißt es zwar, dass die summarische Eingangsanmeldung alle Angaben enthält, die für eine Risikoanalyse zu Zwecken des Schutzes und der Sicherheit erforderlich sind (Art. 127 Abs. 5 UZK) bzw. für gestellte Nicht-Unionswaren ist eine Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung abzugeben, die alle für die Anwendung der Vorschriften über die vorübergehende Verwahrung erforderlichen Angaben enthält (Art. 145 Abs. 1 UZK). Eine Verpflichtung zur Angabe der verbindlichen Zolltarifauskunft in der Zollanmeldung ergibt sich aus diesen Normierungen indes nicht. Entsprechend verhält es sich im Hinblick auf die Regelung des Art. 23 Abs. 1 UZK, wonach der Inhaber der Entscheidung den Verpflichtungen nachzukommen hat, die sich aus dieser Entscheidung ergeben. Allerdings ist die Vorschrift des Art. 23 Abs.  1 UZK im Kontext der Regelung des Art. 23 Abs. 5 Satz 1 UZK zu sehen, wonach die Zollbehörden die Bedingungen und Voraussetzungen überwachen, die der Inhaber einer Entscheidung erfüllen muss. ­Gestützt auf die Ermächtigung des Art. 25 UAbs. 1 lit. c) UZK hat die Kommission insoweit in Art. 20 der Durchführungsverordnung (EU) Nr.  2015/2447 (UZK-IA)6 bestimmt, dass der Inhaber einer verbindlichen Zolltarifauskunft bei der Erfüllung der Zollförmlichkeiten für Waren, die unter die vZTA-Entscheidung fallen, auf diesen Umstand in der Zollanmeldung unter Nennung der Referenznummer der vZTA-Entscheidung hinweisen muss. Auch die delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 (UZKDA)7 enthält in Anhang B, Titel 1, Kapitel 3, Abschnitt 1, Gruppe 2 – Bezugnahmen auf Nachrichten, Dokumente, Zertifikate, Bewilligungen, unter Ziffer 2.3 die Anforderung, dass, ist der Anmelder oder der Einführer bei Einfuhranmeldungen der Inhaber einer gültigen verbindlichen Zolltarifauskunft für die Waren, die Gegenstand der Anmeldung sind, der Anmelder die Referenznummer der verbindlichen Zolltarif­ auskunft anzugeben hat. Mit dieser Verpflichtung zur Angabe einer bereits erteilten und noch gültigen verbindlichen Zolltarifauskunft in der Zollanmeldung korrespondiert eine Neuerung bezüglich des Rechtsinstituts der verbindlichen Zolltarifauskunft, die für die Wirtschaftsbeteiligten von erheblicher Bedeutung ist und nicht nur Entscheidungen betrifft, die seit dem 1.5.2016 wirksam geworden sind. Der Unions5 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.10.2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union, ABl. Nr. 269/1. 6 Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission v. 24.11.2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Zollkodex der Union, ABl. Nr. L 343/558. 7 Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 (UZK-DA) der Kommission v. 28.7.2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union, ABl. Nr. L 343/1.

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Die verbindliche Zolltarifauskunft im Rechtsschutzsystem des UZK

gesetzgeber hat nämlich zum einen die Bindungswirkung der verbindlichen Zolltarif­ auskunft auch auf den Wirtschaftsbeteiligten, den Inhaber der Entscheidung erstreckt. In Art. 33 Abs. 2 lit. a) UZK heißt es insoweit ausdrücklich: „Entscheidungen über verbindliche Zolltarifauskünfte sind sowohl für die Zollbehörden als auch gegenüber dem Inhaber der Entscheidung verbindlich.“ Zum anderen hat die Kommission in Art. 252 Satz 2 UZK-DA im Rahmen der Schlussbestimmungen festgelegt, dass auch Entscheidungen über verbindliche Zolltarifauskünfte, die am 1.5.2016 bereits in Kraft sind, ab dem 1.5.2016 sowohl für die Zollbehörden als auch für den Inhaber der Entscheidung bindend sind. Im Folgenden soll untersucht werden, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus der Erweiterung der Bindungswirkung der verbindlichen Zolltarifauskunft für den Inhaber der Entscheidung ergeben.

II. Rechtsnatur der verbindlichen Zolltarifauskunft Unter der Geltung des Zollkodex entsprach es einhelliger Ansicht in Rechtsprechung8 und Schrifttum9, dass es sich bei einer verbindliche Zolltarifauskunft um einen begünstigenden feststellenden Verwaltungsakt handelt, der allerdings keine Rechts­ folgen entfaltet, die vollzogen werden könnten. Die ausschließlich begünstigende Wirkung der verbindlichen Zolltarifauskunft wurde daraus abgeleitet, dass diese (lediglich) die Zollbehörden aller Mitgliedstaaten der Union, nicht jedoch den Inhaber der Entscheidung selbst hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung einer Ware band. Angesichts dieser einseitigen Bindungswirkung stellte sich eine verbindliche Zolltarif­ auskunft selbst dann als eine ausschließlich begünstigende Entscheidung dar, wenn der Inhalt der verbindlichen Zolltarifauskunft von dem Tarifierungsvorschlag des Antragstellers/Wirtschaftsbeteiligten ungünstig abwich und ihn insoweit „belastete“. Auch unter der Geltung des Unionszollkodex ist eine verbindliche Zolltarifauskunft als ein feststellender Verwaltungsakt anzusehen, der verbindlich (allein) die zolltarifrechtliche Einreihung einer Ware regelt, d.h. feststellt.10 Aus diesem sachlichen Umfang einer verbindlichen Zolltarifauskunft folgt, dass auch mit der Zolltarifauskunft nach Art. 33 UZK kein bestimmter Zollsatz als Voraussetzung für die (spätere) Abgabenerhebung festgeschrieben wird,11 was sich im Übrigen auch aus dem Umstand ergibt, dass sich die Höhe des Zolls nach dem zum jeweiligen Einfuhrzeitpunkt gültigen Zollsatz richtet, der während der Gültigkeitsdauer einer verbindlichen Zolltarif­ auskunft erheblich variieren kann. Mit Blick auf die Bindungswirkung der verbindli 8 Vgl. nur BFH v. 11.3.2004 – VII R 20/01, BFH/NV 2004, 1305; FG Hamburg v. 20.2.2014 – 4 V 140/13, juris; FG Hamburg v. 25.3.2013 – 4 V 4/13, juris. 9 Vgl. nur Alexander in Witte, ZK, 6. Aufl. 2013, Art. 8 Rz. 3; Weymüller in Dorsch, Art. 8 ZK Rz. 6. 10 In diesem Sinne auch Deimel in Krenzler/Herrmann/Niestedt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, Art. 33 UZK Rz. 9. 11 Schon gar nicht werden mit einer verbindlichen Zolltarifauskunft Einfuhrabgaben festgesetzt.

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chen Zolltarifauskunft sowohl den Zollbehörden aller Mitgliedstaaten der Union (Art. 26 UZK) als auch dem Inhaber der Entscheidung gegenüber fragt sich allerdings, ob die frühere Auffassung des ausschließlich begünstigenden Charakters einer verbindlichen Zolltarifauskunft noch aufrechterhalten werden kann.12 Zwar definiert der Unionszollkodex im Unterschied zum nationalen Recht (vgl. insoweit § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG und § 130 Abs. 2 AO)13 nicht, was unter dem Begriff der begünstigenden zollbehördlichen Entscheidung zu verstehen ist. Da sich die ­Abgrenzung zwischen begünstigenden und nicht begünstigenden/belastenden Entscheidungen auch im Bereich des Unionszollkodex stellt – Gegenstand einer Rücknahme- bzw. Widerrufsentscheidung einer Zollbehörde kann nur eine den Inhaber begünstigende Entscheidung sein (vgl. Art. 27 und 28 UZK) –, bestehen keine grundsätzlichen Bedenken, die Legaldefinition des § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG bzw. § 130 Abs. 2 AO auch für die Auslegung und das Verständnis der begünstigenden zollbehördlichen Entscheidung heranzuziehen.14 Als begünstigende zollbehördliche Entscheidungen sind mithin jedenfalls solche Entscheidungen anzusehen, die ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil begründen oder bestätigen. Ausgehend von diesem Verständnis sind somit nicht begünstigende und damit belastende Entscheidungen solche, die kein Recht oder keinen rechtlichen Vorteil begründen oder bestätigen, sondern dem Adressaten und Inhaber der Entscheidung ein Tun, Dulden oder Unterlassen, oder mit anderen Worten einen rechtlich oder sonst wie erheblichen Nachteil auferlegen. Als nicht begünstigende und damit belastende Entscheidungen gelten folglich insbesondere auch solche Handlungen einer Zollbehörde auf dem Gebiet des Zollrechts, die dem Inhaber der Entscheidung unmittelbar oder mittelbar Pflichten auferlegen, wie in concreto die Verpflichtung des Inhabers einer verbindlichen Zolltarifauskunft, bei der Einfuhr von Waren, die von dieser Zolltarifauskunft erfasst werden, in der Zollanmeldung die Referenznummer der vZTA-Entscheidung anzugeben. Aus diesen Überlegungen folgt, dass sich die Zolltarifauskunft nach Art. 33 UZK für den Inhaber der Entscheidung als eine zollbehördliche Entscheidung mit Doppelwirkung erweist, nämlich einerseits aufgrund ihrer Verbindlichkeit für die Zollbehörden der Mitgliedstaaten als Maßnahme mit begünstigender Wirkung, andererseits aufgrund ihrer Verbindlichkeit auch dem Inhaber gegenüber und der Verpflichtung zur Angabe der Referenznummer in der Zollanmeldung als eine beschwerende, d.h. belastende Maßnahme, wobei es keinen Unterschied macht, ob die Zolltarifauskunft dem Tarifierungsvorschlag des Inhabers der Entscheidung inhaltlich entspricht oder hiervon zu seinen Lasten abweicht, weil schon allein der Pflicht zur Angabe der verbindlichen Zolltarifauskunft eine belastende Wirkung zukommt.

12 Zumindest unklar Deimel in Krenzler/Herrmann/Niestedt (Fn. 10), Art. 27 UZK Rz. 2, der die verbindliche Zolltarifauskunft als eine (ausschließlich?) begünstigende Entscheidung bezeichnet. 13 Als begünstigender Verwaltungsakt gilt danach ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat. 14 In diesem Sinne auch unter der Geltung des ZK Weymüller in Dorsch, Art. 8 ZK Rz. 5; ­Alexander in Witte (Fn. 9), Art. 8 ZK Rz. 3.

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Die verbindliche Zolltarifauskunft im Rechtsschutzsystem des UZK

III. Rechtsschutz in Bezug auf verbindliche Zolltarifauskünfte Aus der erweiterten Bindungswirkung der verbindlichen Zolltarifauskunft auch dem Inhaber der Entscheidung gegenüber ergeben sich rechtliche Konsequenzen, die sowohl den Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren betreffen als auch den vorläufigen Rechtsschutz berühren. 1. Hauptsacheverfahren a) Anfechtungsklage Ist der Inhaber einer verbindlichen Zolltarifauskunft mit der zolltarifrechtlichen Einreihung der Ware durch die Zollbehörde nicht einverstanden, muss er die vZTA-Entscheidung anfechten (Art. 44 Abs. 1 UZK), um die unerwünschte Bindungswirkung der vZTA-Entscheidung zu beseitigen.15 Versäumt der Inhaber der Entscheidung die Einspruchs- bzw. Klagefrist, tritt eine Bindungswirkung für die Dauer von drei Jahren ein (Art. 33 Abs. 3 UZK). Für eine bloße Anfechtung der Zolltarifauskunft steht dem Inhaber der Entscheidung auch ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite, was sich aus dem eben auch belastenden Charakter dieser zollbehördlichen Entscheidung ergibt. Insoweit unterscheidet sich die heutige Rechtslage von der Situation vor Inkrafttreten des Unionszollkodex. Unter der Geltung des Zollkodex bestand für einen (Anfechtungs-) Einspruch und eine Anfechtungsklage keine Notwendigkeit, da der Inhaber der Entscheidung, war der Inhalt der Entscheidung für ihn ungünstig, von dieser keinen Gebrauch machen musste. b) Verpflichtungsklage Neben einer Anfechtungsklage kann der Inhaber der Entscheidung auch eine Verpflichtungsklage mit dem Ziel erheben, für die Ware, die Gegenstand des vZTA-Antrags war (Art. 33 Abs. 1 UZK), eine andere zolltarifliche Einreihung zu erstreiten. Hinsichtlich eines solchen Klageverfahrens stellt sich in der gerichtlichen Praxis die Frage, wie das Finanzgericht einen positiven Verpflichtungstenor mit Blick auf die beschränkte Geltungsdauer einer vZTA-Entscheidung von nurmehr drei Jahren – der Unionsgesetzgeber hat die Geltungsdauer der verbindlichen Zolltarifauskunft von sechs Jahren (Art. 12 Abs. 4 ZK) auf drei Jahre halbiert, um den raschen technischen Entwicklungen und Veränderungen Rechnung zu tragen – abzufassen hat bzw. abfassen kann. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, wenn das Finanzgericht über die Verpflichtungsklage entscheidet, dürfte seit der Beantragung der vZTA-Entscheidung bei der Zollbehörde selbst bei optimistischer Annahme ein Zeitraum von zwei Jahren vergangen sein. Bisheriger gerichtlicher Praxis entsprach es, die Zollbehörde zu verpflichten, eine neue verbindliche Zolltarifauskunft rückwirkend ab dem Aus-

15 So auch Deimel in Krenzler/Herrmann/Niestedt (Fn. 10), Art. 33 UZK Rz. 10 sowie bereits Schoenfeld, Rechtsschutz gegen verbindliche Zolltarifauskünfte, AW-Prax 2017, 3 (4).

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stellungsdatum der ursprünglichen vZTA-Entscheidung zu erteilen.16 Eine solche Verfahrensweise ist zwar auch heute möglich; sie dürfte aber dem Kläger in der Regel wenig behilflich sein, müsste er doch angesichts der kurzen Geltungsdauer von lediglich drei Jahren alsbald eine neue verbindliche Zolltarifauskunft beantragen und das – ungeachtet der Präjudizwirkung eines stattgebenden Urteils für zukünftige Zeiträume – auch mit offenem Ausgang. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, dass das Finanzgericht auf Antrag des Klägers die angegriffene vZTA-Entscheidung zwar aufhebt, die beklagte Zollbehörde aber verpflichtet, dem Kläger eine neue verbindliche Zolltarifauskunft für die Dauer von drei Jahren beginnend ab Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils zu erteilen. Der Kläger hätte Planungssicherheit über einen Zeitraum von vollen drei Jahren; die Interessen der beklagten Zollbehörde wären über die Vorschrift des Art. 34 UZK, die detailliert regelt, unter welchen Voraussetzungen vZTA-Entscheidungen vorzeitig ihre Gültigkeit verlieren bzw. widerrufen werden, hinreichend gewahrt. Eine Verpflichtung der beklagten Zollbehörde zum Erlass einer verbindlichen Zolltarifauskunft sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft scheidet dagegen aus, wenn der Gültigkeitszeitraum von drei Jahren (vgl. Art. 33 Abs. 3 UZK) überschritten wird. c) Ablauf der Zolltarifauskunft im gerichtlichen Verfahren Mit Blick auf die geringe Gültigkeitsdauer einer verbindlichen Zolltarifauskunft dürfte sich in der gerichtlichen Praxis künftig zunehmend auch die Problematik stellen, dass die angefochtene vZTA-Entscheidung während des gerichtlichen Verfahrens ungültig wird. Der Bundesfinanzhof geht jedenfalls in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass sich eine im Wege der Verpflichtungsklage angefochtene verbindliche Zolltarifauskunft, ist sie im Laufe des finanzgerichtlichen Verfahrens ungültig geworden, damit in anderer Weise im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO erledigt hat,17 und ein berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO, der entsprechend auf Verpflichtungsklagen anwendbar ist, nur anerkannt werden kann, wenn der Kläger eine neue verbindliche Zolltarifauskunft zur tariflich gleichen Ware beantragen will und eindeutig feststeht, dass eine materielle Rechtsänderung der Tariflage nicht eingetreten und daher mit Sicherheit anzunehmen ist, dass die Zollverwaltung an der von ihr im erledigten Verfahren vertretenen Auffassung bei der Erteilung der neuen verbindlichen Zolltarifauskunft festhalten wird.18 Diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs beruht auf der Überlegung, dass, werde eine im Wege der Verpflichtungsklage angefochtene vZTA-Entscheidung ungültig, der Klagegegenstand entfallen und der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei.19 Eine 16 Vgl. zuletzt FG Hamburg, Urt. v. 22.9.2017 – 4 K 54/17. Ebenso anscheinend die Praxis der Gerichte des Vereinigten Königreichs, vgl. EuGH v. 7.4.2011 – C-153/10, Slg. 2011, I-2775, Rz. 17. 17 Vgl. BFH v. 28.4.1998 – VII R 83/96, BFH/NV 1998, 1400 = ZfZ 1998, 372; v. 25.2.1997 – VII R 8/96, BFH/NV 1997, 453 = ZfZ 1997, 306. 18 Vgl. BFH v. 31.5.2016 – VII R 47/14, BFH/NV 2016, 1759 = ZfZ 2017, 10; v. 31.5.2016 – VII R 37/12, BFH/NV 2016, 1660 = ZfZ 2016, 267; v. 23.7.1998 – VII R 36/97, BFHE 186, 188 = ZfZ 1999, 16. 19 BFH v. 8.1.2014 – VII R 38/12, BFH/NV 2014, 562 = ZfZ 2014, 135.

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Die verbindliche Zolltarifauskunft im Rechtsschutzsystem des UZK

Fortführung des auf Verpflichtung der Zollverwaltung zur Erteilung einer verbindlichen Zolltarifauskunft gerichteten Klageverfahrens komme nicht in Betracht, da es keinen zollrechtlichen Anspruch auf eine bestimmte Tarifauskunft gebe. Werde dem Antragsteller eine verbindliche Zolltarifauskunft erteilt, sei sein Antrag beschieden, und zwar unabhängig davon, ob er die tarifliche Einreihung durch die Zollbehörde für zutreffend halte oder nicht.20 Diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gibt in zweifacher Hinsicht Anlass zum Nachdenken: Zum einen ist fraglich, ob sich die Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage mit dem Ungültigwerden der verbindlichen Zolltarifauskunft wirklich „in anderweitiger Weise“ (BFH, Urt. v. 28.4.1998 – VII R 83/96) erledigt hat. Zum anderen – sollte mit dem Ungültigwerden der verbindlichen Zolltarifauskunft eine Erledigung eingetreten sein  – ist zu hinterfragen, welche Anforderungen an die Anerkennung eines berechtigten Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO zu stellen sind. aa) Erledigung Erledigung in Bezug auf Anfechtungsklagen meint typischerweise Wegfall der Beschwer.21 Hat der Kläger die vZTA-Entscheidung lediglich angefochten (s.o.), um die unerwünschte Bindungswirkung der vZTA-Entscheidung zu beseitigen, tritt eine Erledigung der Hauptsache ein, wenn die angefochtenen vZTA-Entscheidung während des gerichtlichen Verfahrens ungültig wird. Die Beschwer, d.h. die mit dieser zollbehördlichen Entscheidung verbundene belastende Wirkung – scil. die Verpflichtung zur Angabe der verbindlichen Zolltarifauskunft im Rahmen der Zollanmeldung –, ist mit dem zeitlichen Auslaufen der Gültigkeit der vZTA-Entscheidung entfallen. Allerdings ist der zeitliche Regelungsgehalt der vZTA-Entscheidung mit Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer nur mit Wirkung ex-nunc entfallen mit der Folge, dass eine Aufhebung dieser zollbehördlichen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft nicht mehr in Betracht kommt. Eine Aufhebung der vZTA-Entscheidung mit Wirkung für die Vergangenheit ist dagegen weiterhin möglich. Die vZTA-Entscheidung hat sich nämlich nicht in vollem Umfang ihres Regelungsgehaltes, d.h. rückwirkend bis zum Zeitpunkt ihres Erlasses erledigt. Im Hinblick auf die Vergangenheit bleibt die verbindliche Zolltarifauskunft vielmehr unverändert wirksam. Diese, im nationalen Recht § 43 Abs. 2 VwVfG und § 124 Abs. 2 AO zu entnehmende Erkenntnis, gilt auch für den Bereich des Unionszollkodex. Zwar fehlt im Unionszollkodex eine den nationalen Bestimmungen (§ 43 Abs. 2 VwVfG bzw. § 124 Abs. 2 AO) vergleichbare Vorschrift. Die unveränderte Gültigkeit der vZTA in der Vergangenheit ergibt sich indes aus einem Zusammenspiel der in Art. 22 Abs. 4 und 5, Art. 27 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 3 UZK enthaltenen Normierungen. Mit Blick auf die nach alledem für die Vergangenheit fortbestehende vZTA-Entscheidung stellt sich allein die Frage, ob dem Inhaber der Entscheidung ein Rechtsschutz20 Vgl. BFH v. 8.1.2014 – VII R 38/12, BFH/NV 2014, 562 = ZfZ 2014, 135. 21 Vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 16.1.2017 – 7 B 1/16, juris, m.w.N.

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bedürfnis an einer rückwirkenden Aufhebung der Zolltarifauskunft zuzugestehen ist. Das könnte bei vordergründiger Betrachtung zweifelhaft sein, weil die in der verbindlichen Zolltarifauskunft angelegte Beschwer  – scil. die Angabe der vZTA-Entscheidung im Rahmen der Zollanmeldung – für die Vergangenheit nicht mehr erfüllt werden kann; die insoweit relevanten Zollanmeldungen dürften zwischenzeitlich alle bei der Zollstelle abgegeben worden sein. Abgesehen davon, dass der Nichthinweis auf die vZTA-Entscheidung steuerstrafrechtliche und statusrechtliche (Art. 38 ff. UZK) Konsequenzen nach sich ziehen kann, kommt der vZTA-Entscheidung für die Vergangenheit unverändert Tatbestandswirkung22 und damit eine rechtliche Beschwer zu, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis für eine rückwirkende Aufhebung zu bejahen sein wird, wenn Abgabenfestsetzungen in Bezug auf Waren, die von der vZTA-Entscheidung erfasst werden, noch nicht in Bestandskraft erwachsen sind. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf Verpflichtungsklagen, wenn der Kläger also das Ziel verfolgt, für die Ware, die Gegenstand des vZTA-Antrags war (Art. 33 Abs.  1 UZK), eine andere zolltarifliche Einreihung zu erstreiten. In Verpflichtungssituation tritt eine Erledigung erst und nur ein, wenn dem Kläger mit der erhobenen Verpflichtungsklage offensichtlich nicht mehr gedient ist,23 – oder mit anderen Worten – wenn eine Entscheidung des Gerichts nicht mehr möglich oder sinnvoll und die Klage deshalb wegen Wegfalls des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden ist.24 Typische Erledigungsereignisse im Hinblick auf Verpflichtungsklagen sind etwa der Tod des Berechtigten bei höchstpersönlichen Rechten,25 die Ernennung eines Konkurrenten auf den vom Kläger begehrten Beförderungsposten,26 das Ende des Wahltages, aus dessen Anlass der Kläger die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zum Aufstellen von Wahlplakaten erstreiten wollte,27 oder die Beendigung des Volksfestes, an dem der Kläger mit einem Stand teilnehmen wollte.28 Da die im Rahmen einer Verpflichtungsklage angegriffene vZTA-Entscheidung ihren Regelungsgehalt mit Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer lediglich mit Wirkung ex-nunc verloren hat, die Zolltarifauskunft aber für die Vergangenheit unverändert wirksam bleibt, ist eine Entscheidung über das Verpflichtungsbegehren bezogen auf den in der Vergangenheit liegenden Zeitraum dem Gericht nicht nur möglich, sondern für den Kläger auch sinnvoll. Zwar kann der Kläger die verbindliche Zolltarifauskunft nicht mehr nachträglich im Rahmen der bereits angemeldeten Einfuhren vorlegen; die Zolltarifauskunft verliert indes nicht ihre Tatbestandswirkung mit Blick auf noch offene Erstattungsverfahren.

22 Siehe hierzu näher unter bb) Fortsetzungsfeststellungsinteresse. 23 Vgl. zum Begriff der Erledigung in Verpflichtungssituationen W.-R. Schenke/R. P. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 113 Rz. 102. 24 In diesem Sinne Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 113 Rz. 100. 25 W.-R. Schenke/R. P. Schenke in Kopp/Schenke (Fn. 23), § 113 VwGO Rz. 103. 26 Vgl. W.-R. Schenke/R. P. Schenke in Kopp/Schenke (Fn. 23), § 113 VwGO Rz. 112. 27 Vgl. OVG des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 11.7.2017 – 1 LB 92/15, juris. 28 Vgl. VG Würzburg, Urt. v. 26.11.2008 – W 2 K 08.1641, juris.

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Sofern mit der hier vertretenen Auffassung eine Verpflichtung der beklagten Zollbehörde, dem Kläger eine neue verbindliche Zolltarifauskunft für die Dauer von drei Jahren beginnend ab Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils zu erteilen, für zulässig erachtet wird, ist zu beachten, dass dem Kläger keine Zolltarifauskunft zugesprochen wird, die eine längere Gültigkeitsdauer als drei Jahre hat (arg. Art. 33 Abs.  3 UZK). Im Rahmen eines Verpflichtungsverfahren muss sich der Kläger daher entscheiden, entweder die Verpflichtung zur Erteilung einer Zolltarifauskunft bezogen auf den vergangenen Zeitraum oder Verpflichtung zum Erlass einer neuen Zolltarif­ auskunft ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung. bb) Fortsetzungsfeststellungsinteresse Folgt man den vorstehenden Überlegungen nicht und geht stattdessen mit dem Bundesfinanzhof davon aus, dass mit dem Ungültigwerden der verbindlichen Zolltarif­ auskunft eine Erledigung des Rechtsstreits eingetreten ist, bleibt zu beleuchten, w ­ elche Anforderungen an die Anerkennung eines berechtigten Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO zu stellen sind. Die verbindliche Zolltarifauskunft mit der getroffenen zolltariflichen Einreihung der Ware ist Grundlage für die Anwendung vieler Maßnahmen, die in den Unionsvorschriften vorgesehen sind, wie insbesondere die zu entrichtenden Einfuhr- und Ausfuhrabgaben (Art. 56 Abs. 1 UAbs. 1 UZK), die in Bereichen des Warenverkehrs vorgeschriebenen sonstigen Maßnahmen (Art. 56 Abs. 1 UAbs. 2 UZK), die Geltung von Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen (Art. 34 Abs. 9 UAbs. 2 UZK) sowie die Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs (Art. 57 Abs.  1 UZK). Eine verbindliche Zolltarifauskunft soll dem Wirtschaftsteilnehmer Sicherheit geben, wenn Zweifel hinsichtlich der Einreihung einer Ware in die geltende Kombinierte Nomenklatur bestehen, und ihn davor schützen, dass die Zollbehörden ihre Auffassung über die Einreihung einer Ware nachträglich ändern.29 Auch wenn eine verbindliche Zolltarifauskunft nicht als Grundlagenbescheid im Sinne des § 171 Abs. 10 AO anzusehen ist – abgesehen davon, dass die nationale Vorschrift des § 171 AO nicht auf das Verständnis und die Auslegung unionsrechtlicher Begrifflichkeiten ausstrahlen kann –, die Entscheidung der Zollbehörde bezüglich der zolltarifrechtlichen Einreihung einer Ware hat indes Tatbestandswirkung und hindert eine eigenständige Prüfung der zolltarifrechtlichen Einreihung dieser Ware im Rahmen anderer zollbehördlicher Entscheidungen. Vor diesem Hintergrund ist ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO bereits anzuerkennen, wenn der Kläger glaubhaft macht, dass er vor dem Zeitpunkt, zu dem die verbindliche Zolltarifauskunft ihre Geltung verlor, Waren ein- bzw. ausgeführt hat, die der in der vZTA-Entscheidung beschriebenen Ware entsprechen (vgl. 33 Abs. 4 UZK), und dass in Bezug auf diese Waren die Abgabenfestsetzungen noch nicht in Bestandskraft erwachsen sind.

29 EuGH v. 7.4.2011 – C-153/10 – Sony Supply Chain Solutions, Slg. 2011, I-2775, Rz. 24; v. 2.12.2010  – C-199/09  – Schenker, Slg. 2010, I-12311, Rz.  16; v. 29.1.1988  – C-315/96  – Lopex Export GmbH, Slg. 1988, I-317, Rz. 28.

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Bemerkenswerterweise ist die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bezüglich der Anerkennung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses bei einer im Klageverfahren ungültig gewordenen verbindlichen Zolltarifauskunft nicht ganz einheitlich. In seinem Urteil vom 31.5.201630 billigt der Bundesfinanzhof der Klägerin aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalles ein berechtigtes Interesse an der beantragten Feststellung bei einer nach Art. 12 Abs. 5 lit. a) Ziff. 1 ZK ungültig gewordenen verbindlichen Zolltarifauskunft zu, weil die „Klägerin anderenfalls eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Einreihungsentscheidung in den ursprünglichen, im Rahmen dieses Verfahrens angegriffenen vZTA aufgrund der Rechtsänderung nicht mehr erreichen (könnte)“. Dass der Bundesfinanzhof bei der Prüfung der Frage, ob dem Kläger, ist eine angefochtene verbindliche Zolltarifauskunft ungültig geworden, ein berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO zuzuerkennen ist, maßgeblich darauf abhebt, dass der Kläger anderenfalls eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Einreihungsentscheidung nicht erreichen könnte, stellt einen denkwürdigen (neuen?) Ansatz in der Rechtsprechung dar, der konsequent fortgedacht zur Folge hätte, dass in Klageverfahren auf Klägerseite ein berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse stets anzuerkennen wäre, denn alle Kläger könnten sich darauf berufen, dass anderenfalls eine Überprüfung der Einreihungsentscheidung nicht mehr erreicht werden könnte. Ein solches Verständnis würde letztlich die für die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche besondere Sachurteilsvoraussetzung des besonderen Interesses an der begehrten Feststellung aufgeben und wäre mit dem Gesetz, das in § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO ausdrücklich ein berechtigtes Interesse des Klägers an der Feststellung verlangt, schwerlich zu vereinbaren. 2. Vorläufiger Rechtsschutz Dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine zollbehördliche Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat, hat der Unionsgesetzgeber auch für den Anwendungsbereich des Unionszollkodex festgeschrieben (vgl. Art. 45 Abs. 1 UZK). Diese unionsrechtliche Festschreibung zieht die prozessuale Konsequenz aus den Normierungen der Art. 22 Abs. 4 und 29 UZK, wonach Entscheidungen der Zollbehörden grundsätzlich sofort vollziehbar sind. Das in Art. 45 Abs. 1 UZK niedergelegte Prinzip, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine zollbehördliche Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat, ist – im Unterschied zum nationalen Recht, wonach im Wesentlichen nur Abgabenbescheide sofort vollziehbar sind (vgl. §  361 Abs. 1 AO, § 69 Abs. 3 FGO, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) – umfassend und nicht auf Abgabenbescheide beschränkt. Das Prinzip der sofortigen Vollziehbarkeit des Art. 45 Abs. 1 UZK umfasst sämtliche zollbehördlichen Entscheidungen und damit auch die verbindliche Zolltarifauskunft, die der Inhaber der Entscheidung mit dem Ziel angefochten hat, die Bindungswirkung des Art. 33 Abs. 2 lit. a) UZK aus dem Weg zu schaffen. Vor diesem Hintergrund stellt sich für den Inhaber einer vZTA-Entscheidung die Frage, ob er sich mit Erfolg im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutz­ antrags an das Finanzgericht wenden kann, um von der Verpflichtung zur Angabe der 30 BFH v. 31.5.2016 – VIII R 47/14, BFH/NV 2016, 1759 = ZfZ 2017, 10.

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verbindlichen Zolltarifauskunft in der Zollanmeldung bei der Einfuhr gleichartiger Waren suspendiert zu sein. Unter der Geltung des Zollkodex war für ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO im Hinblick darauf kein Raum, dass der verbindlichen Zolltarifauskunft angesichts der Bindungswirkung nur den Zollbehörden gegenüber eine den Inhaber der Entscheidung ausschließlich begünstigende Wirkung zukam; sie entfaltete damit keine Rechtsfolgen, die hätten vollzogen werden können.31 Seit dem 1.5.2016 ist die Bindungswirkung der verbindlichen Zolltarifauskunft auch auf den Inhaber der Entscheidung erstreckt worden (vgl. Art. 33 Abs. 2 lit. a) UZK); der nunmehr den Inhaber der Entscheidung sowohl begünstigende als auch belastende Charakter der verbindlichen Zolltarifauskunft lässt auch die Erfolgsaussichten eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 69 Abs. 3 FGO in einem anderen Licht erscheinen: Ein Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO setzt einen vollziehbaren Verwaltungsakt voraus. Als vollziehbar gelten gemeinhin alle Verwaltungsakte, die dem Adressaten eine Leistungspflicht auferlegen oder die Grundlage für eine Leistungspflicht sind.32 Vom ­Begriff der Vollziehung werden darüber hinaus aber auch behördlichen Maßnahmen erfasst, die nicht zwangsweise erfolgen.33 Auch rechtsgestaltende Verwaltungsakte können vollziehbar sein.34 Als Vollziehung ist daher letztlich jeder Gebrauch seiner Wirkungen, d.h. jede Verwirklichung seines materiellen Regelungsinhalts zur Herbeiführung der in ihm ausgesprochenen Rechtsfolgen anzusehen.35 Mit Blick auf diese weite Begriffsbestimmung sind auch Feststellungsbescheide als Grundlagenbescheide, die durch den Erlass entsprechender Folgebescheide verwirklicht werden (vgl. §  69 Abs.  2 Satz 4 FGO), vollziehbar und damit aussetzungsfähig.36 Bei einer verbindlichen Zolltarifauskunft handelt es sich zwar um einen feststellenden Verwaltungsakt – die Zollbehörde stellt aufgrund der vZTA-Entscheidung fest, wie die Ware zolltariflich einzureihen ist –; sie stellt indes  – in der Terminologie des nationalen Rechts – keinen Grundlagenbescheid dar. Dieser Umstand steht jedoch der Annahme, dass auch eine verbindliche Zolltarifauskunft vollziehbar und damit aussetzungsfähig ist, nicht entgegen. Insoweit ist nämlich zum einen zu berücksichtigen, dass die verbindliche Zolltarifauskunft aufgrund ihrer Tatbestandswirkung in die Nähe eines Grundlagenbescheides rückt. Zum anderen ist zu bedenken, dass Vollziehung jede Verwirklichung eines Verwaltungsaktes umfasst, der den Status quo des Adressaten nachteilig beeinflusst. Eine solche nachteilige Beeinflussung des Status quo des Inhabers ist bei einer verbindlichen Zolltarifauskunft aufgrund ihrer auch belastenden Wirkung – scil. Verbindlichkeit auch dem Inhaber gegenüber verbunden mit der Ver31 FG Hamburg v. 20.2.2014 – 4 V 140/13, juris; v. 25.3.2013 – 4 V 4/13, juris. 32 Vgl. nur Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 20. 33 So z.B. ausdrücklich Gosch in Gosch, § 69 FGO Rz. 30. 34 BFH v. 19.12.2014 – II B 115/14, BFH/NV 2015, 473. 35 In diesem weiten Sinne ausdrücklich BFH v. 19.12.2014 – II B 115/14, BFH/NV 2015, 473; Gosch in Gosch, §  69 FGO Rz.  30; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, §  69 FGO Rz. 205. 36 Allgemeine Ansicht, vgl. nur Gosch in Gosch, §  69 FGO Rz.  51; Stapperfend in Gräber, 8. Aufl. 2015, § 69 FGO Rz. 81.

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pflichtung zur Angabe der Referenznummer in der Zollanmeldung – gegeben. Eine verbindliche Zolltarifauskunft unter der Geltung des Unionszollkodex ist folglich als vollziehbar und damit auch aussetzungsfähig anzusehen. Der Inhaber einer verbindlichen Zolltarifauskunft, der um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei Gericht über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO nachsucht, bleibt freilich gehalten, zunächst gemäß § 69 Abs. 4 FGO bei den Zollbehörden einen Aussetzungsantrag zu stellen und deren Entscheidung abzuwarten. Die Anwendbarkeit des § 69 Abs. 4 FGO wird durch Art. 45 UZK nicht ausgeschlossen.37 Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §  114 FGO kommt übrigens auch unter der Geltung des Unionszollkodex nicht in Betracht.38 Abgesehen davon, dass eine einstweilige Anordnung nur dem vorläufigen Rechtsschutz dient und sich daher auf eine vorläufige Regelung beschränken muss – sie ist folglich grundsätzlich unzulässig, soweit sie das Ergebnis der Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnehmen und dieser endgültig vorgreifen würde –, gelten die Regelungen des § 114 Abs. 1 bis 3 FGO nicht, soweit ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO statthaft ist. Eine Suspendierung von der Verpflichtung zur Angabe der verbindlichen Zolltarifauskunft im Rahmen der Zollanmeldung kann der Inhaber der Entscheidung – das haben die vorstehenden Erörterungen deutlich gemacht – durch einen vorläufigen Rechtsschutzantrag nach § 69 Abs. 3 FGO erreichen.

IV. Altfälle Die Kommission hat in der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 im Rahmen der Schlussbestimmungen – und nicht im Kontext des Unterabschnitts 3 „Entscheidungen über verbindliche Auskünfte“ des 2. Abschnitts in Kapitel 2, Titel I – festgeschrieben, dass (auch) Entscheidungen über verbindliche Zolltarifauskünfte, die am 1.5.2016 bereits in Kraft sind, ab dem 1.5.2016 sowohl für die Zollbehörden als auch den Inhaber der Entscheidung bindend sind (Art. 252 Satz 2 UZK-DA). Diese Festschreibung der Kommission hat nicht nur zur Konsequenz, dass auch der Inhaber einer „alten“, d.h. vor dem 1.5.2016 ergangenen verbindlichen Zolltarifauskunft bei der Erfüllung der Zollförmlichkeiten für Waren, die unter die vZTA-Entscheidung fallen, auf diesen Umstand in der Zollanmeldung unter Angabe der Referenznummer der vZTA-Entscheidung hinweisen muss. Vielmehr hat die Kommission den „alten“ verbindlichen Zolltarifauskünften aufgrund der Erstreckung der Bindungswirkung auch auf den Inhaber der Entscheidung einen neuen Regelungsinhalt gegeben. Dieser Befund ist vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass die „alten“ verbindlichen Zolltarifauskünfte zum einen durchweg in Bestandskraft erwachsen und daher  – sollte der Inhaber der Entscheidung mit dieser nicht einverstanden sein – nicht mehr an37 FG Hamburg v. 1.3.2017 – 4 V 23/17, juris. 38 Vgl. zur Rechtslage unter der Geltung des Zollkodex: FG Hamburg, Beschl. v. 3.6.2014 – 4 V 93/14, juris.

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fechtbar sein dürften und zum anderen auf Antrag des Inhabers nicht widerrufen werden können; die Bestimmung des Art. 34 Abs. 5 Satz 2 UZK schließt nämlich einen Widerruf auf Antrag des Inhabers der Entscheidung ausdrücklich aus. Da im Regelfall davon auszugehen ist, dass die „alten“ verbindlichen Zolltarifauskünfte dem Inhaber der Entscheidung nicht erneut bekannt gegeben sein dürften, können bzw. konnten diese Rechtsschutz gegen unliebsame vZTA-Entscheidungen mittels Einspruch innerhalb der Jahresfrist des § 356 Abs. 2 AO – beginnend ab dem 1.5.2016, vgl. Art. 256 UZK-DA – ergreifen. Ob Inhaber „alter“ vZTA-Entscheidungen diesen Weg gegangen sind, lässt sich zurzeit noch nicht absehen; das Finanzgericht Hamburg haben jedenfalls noch keine Klagen gegen „alte“ vZTA-Entscheidungen erreicht. Die rechtliche Option, „alte“ vZTA-Entscheidungen, die von der in Art. 256 Satz 2 UZK-DA festgeschriebenen Ausweitung der Bindungswirkung auch auf den Inhaber der Entscheidung erfasst werden, anzufechten, stellt eine mit Blick auf die Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 13 EMRK hinreichende Rechtsschutzmöglichkeit dar, die insoweit Zweifel an der Vereinbarkeit des Art. 256 UZK-DA mit dem Unionsrecht nicht aufkommen lässt.39 Freilich bleibt die Frage, ob die Kommission mit dem Erlass der Regelung des Art. 252 Satz 2 UZK-DA ihre Befugnis zur Verabschiedung nicht legislativer Rechtsakte überschritten hat, oder mit anderen Worten, ob Art. 252 Satz 2 UZK-DA mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Nach Art. 290 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV kann der Kommission in Gesetzgebungsakten die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschiften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen. Überträgt der Unionsgesetzgeber der Kommission in einem Gesetzgebungsakt eine delegierte Befugnis nach Art. 290 Abs. 1 AUEV, obliegt ihr der Erlass von Vorschriften, die die nicht wesentlichen Vorschriften dieses Aktes ergänzen oder ändern.40 Nach Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV müssen in dem Gesetzgebungsakt, mit dem diese Delegation vorgenommen wird, Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt werden. Dieses Erfordernis impliziert, dass die Übertragung einer delegierten Befugnis dem Erlass von Vorschriften dient, die sich in einen rechtlichen Rahmen einfügen, wie er durch den Basisgesetzgebungsakt definiert wird.41 Basisgesetzgebungsakt ist der Unionszollkodex. Über Art. 36 UZK ist die Kommission ermächtigt worden, delegierte Rechtsakte gemäß Art. 284 UZK zu erlassen, um Folgendes zu regeln: zum einen die bestimmten Fälle gemäß Art. 37 Abs. 7 lit. b) und Art. 34 Abs. 8 39 A.A. Möllenhoff/Pahlke, Die beidseitige Bindungswirkung der vZTAs nach neuem Recht, ZfZ 2016, 51 (52), die annehmen, dass Art. 252 UZK-DA „aufgrund der fehlenden Rechtsschutzmöglichkeit mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar sein dürfte.“ Dous in Dorsch, Zollrecht, Art. 33 UZK Rz.  28, nimmt sogar an, dass diese Rechtslage „nicht unbillig“ sei, da „es den betroffenen Inhabern der vZTA möglich gewesen wäre, sich gleich nach Erteilung der unliebsamen vZTA mit einem Rechtsbehelfs zu wehren …“. 40 EuGH v. 18.3.2014 – C-427/12, ABl. EU 2014 Nr. C 142/8 – Kommission/Parlament und Rat, Rz. 38. 41 EuGH v. 18.3.2014 – C-427/12, ABl. EU 2014 Nr. C 142/8 – Kommission/Parlament und Rat, Rz. 38.

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lit. b) UZK, in denen vZTA- und vUA-Entscheidungen zu widerrufen sind (Art. 36 lit. a) UZK), zum anderen die Fälle gemäß Art. 35 UZK, in denen Entscheidungen über verbindliche Auskünfte in Bezug auf andere Faktoren erlassen werden, auf deren Grundlage Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben erhoben oder andere handelspolitische Maßnahmen angewendet werden (Art. 36 lit. b) UZK). Der Unionsgesetzgeber hat somit die Kommission über Art. 36 UZK lediglich zum Erlass von Vorschriften ermächtigt, die den Widerruf von vZTA- bzw. vUA-Entscheidungen betreffen bzw. die verbindliche Auskünfte in Bezug auf andere Faktoren als die zolltarifliche Einreihung und Bestimmung des Ursprungs von Waren vorsehen. Die Ermächtigung nach Art. 36 UZK umfasst dagegen nicht, die Bindungswirkung einer verbindlichen Zolltarifauskunft in personeller und zeitlicher Hinsicht – Erstreckung auch auf den Inhaber der Entscheidung bzw. auf sog. Altfälle – zu erweitern. Art. 252 UZK-DA dürfte daher in Art. 36 UZK keine Rechtsgrundlage finden. Überdies stellt die Ausweitung der Bindungswirkung der vZTA-Entscheidung auch dem Inhaber gegenüber nach Art. 33 Abs. 2 lit. a) UZK eine wesentliche Neuerung im Recht der verbindlichen Auskünfte dar. Nach Art. 290 UAbs. 1 AEVU darf der Kommission nach Art. 290 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV lediglich die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte zur Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Vorschriften des Basisgesetzgebungsaktes zu erlassen. Nicht wesentliche Vorschriften in diesem Sinne sind solche, die die Grund­ entscheidung des Gesetzgebers im Basisgesetzgebungsakt nicht berühren, d.h. nicht ändern, nicht einschränken oder nicht erweitern. Letzteres ist durch die Erstreckung der Bindungswirkung auch auf den Inhaber einer „alten“ vZTA-Entscheidung indes geschehen. Die Kommission hat daher ihre Befugnis zur Verabschiedung nicht legislativer Rechtsakte auch insoweit überschritten.

V. Fazit und Ausblick Die Umsetzung der Empfehlung des Rechnungshofes, die Inhaber der verbindlichen Zolltarifauskünfte zu verpflichten, diese bei der Einfuhr anzugeben, um die Kontrolltätigkeit der Zollbehörden zu erleichtern,42 ist für die Wirtschaftsbeteiligten mit erheblichen Konsequenzen verbunden. Insbesondere die Erweiterung der Bindungswirkung der vZTA-Entscheidung auch gegenüber dem Inhaber macht es erforderlich, die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen verbindliche Zolltarifauskünfte zu überdenken und auch neue Wege zu wagen. Noch stehen grundlegende Entscheidungen der Finanzgerichte zur verbindlichen Zolltarifauskunft unter der Geltung des Unionszollkodex aus. Sie werden aber nicht lange auf sich warten lassen. Mit Spannung zu beobachten wird insoweit auch sein, wie sich die Gerichte gegenüber dem delegierten Rechtsakt in Art.  252 UZK-DA verhalten werden. Über kurz oder lang wird die verbindliche Zolltarifauskunft auch den Europäischen Gerichtshof erreichen.

42 Vgl. Sonderbericht Nr. 2/2008, C 103/4; Kurzmitteilung v. 3.3.2008.

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AEO – Schnittstelle zwischen Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht Inhaltsübersicht

b) Organisation der Arbeitsabläufe und der betrieblichen Verfahren c) Buchhaltung von AEO-zertifizierten Firmen d) Endverwendung e) Prüfungen/Überwachung f) Aufbewahrung g) Fazit

I. Zum Zusammenhang von Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht

II. Art. 39 lit. a UZK 1. Zur herrschenden Auslegung 2. Anmerkungen zur herrschenden ­Ansicht zu Art. 39 lit. a UZK 3. UZK-IA, ZK-DVO 4. AEO-Kriterien nach den Leitlinien der Europäischen Kommission 5. Außenwirtschaftsrecht als Teil des Zollrechts? III. Compliance im Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht 1. Compliance im Zollrecht 2. Compliance im Außenwirtschaftsrecht 3. Gemeinsamkeiten von AEO und ICP a) Qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl

IV. Zur Rechtsnatur des AEO-Status

V. Bindungswirkung des AEO-Testats im außenwirtschaftsrechtlichen Strafverfahren 1. Einleitung 2. Beispielfall a) Sachverhalt b) Zur rechtlichen Bewertung

I. Zum Zusammenhang von Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht Zollrecht ist gemäß §  1 AO Steuerrecht. Außenwirtschaftsrecht hingegen ist Wirtschaftsverwaltungsrecht ohne jeden Bezug zum Steuerrecht.1 Zollrecht unterfällt der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Union (Art. 3 Abs. 1 lit. a AEUV) und beruht auf den Art. 33, 114 und 207 AEUV. Danach erlassen der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament mit qualifizierter Mehrheit Verordnungen, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten (Art. 288 AEUV). Nationales Zollrecht ist nur als verfahrensmäßige Ergänzung unter Beachtung des Vorrangs des Unionsrechts zulässig.2 Außenwirtschaftsrecht hingegen ist primär nationales Recht3, wobei allerdings Art. 206 ff. AEUV (= Art. 131 ff. EG) mehrere Ermächtigungsgrundlagen für europäisches Außenwirtschaftsrecht vorsehen, wiederum unter Vorrang des 1 Vgl. zur Definition des Außenwirtschaftsrechts Wolffgang/Simonsen/Tietje (Hrsg.), AWR-­ Kommentar, Loseblatt, Einleitung, Rz. 1–19. 2 Vgl. Witte, ZK, 6. Aufl. 2013, vor Art. 1. 3 Vgl. Bieneck (Hrsg.), Handbuch des Außenwirtschaftsrechts mit Kriegswaffenkontrollrecht, 1. Teil, 1. Abschnitt, 1. Kapitel, § 4.

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Unionsrechts.4 In der Praxis ist die europäische Dual-Use-Verordnung (DUV) von herausragender Bedeutung.5 Zollrecht ist unionsrechtlich freilich kein Steuerrecht. Art. 113 AEUV beschränkt die Steuergesetzgebung auf Unionsebene auf Situationen, in denen eine Harmonisierung notwendig ist, um das Bestehen und Funktionieren des Binnenmarktes zu sichern und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Unionsrechtliches Steuerrecht (v. a. MwStSystRL, VStSystRL) ist in aller Regel Richtlinienrecht, das vom Rat einstimmig erlassen wird. Außenwirtschaftsrecht ist Ausfuhrkontrolle, hauptsächlich mittels Ausfuhrverboten und Ausfuhrgenehmigungen. Insoweit kann es auch als zollrechtliches VuB-Sonderrecht der Art. 150, 134 Abs. 1 UZK (vormals: Art. 58 Abs. 2 ZK) aufgefasst werden, auch weil die Vorschrift „Einfallstor für einen ausgesprochen weiten VuB-Begriff “6 ist. Erstaunlich ist deshalb, dass unter Außenwirtschaftsrecht teilweise auch Zollrecht verstanden wird.7 Das Umgekehrte, unter Zollrecht auch Außenwirtschaftsrecht zu fassen, gibt mehr Sinn. Das Außenwirtschaftsrecht liegt in der Federführung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (und inoffiziell des Auswärtigen Amts), während das Bundesministerium der Finanzen mit der Zollverwaltung hier als Überwachungs- und Verfolgungsbehörde tätig ist. Primär zuständig für die Durchführung des Außenwirtschaftsrechts ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Dennoch sind die Gemeinsamkeiten augenfällig. Beide Rechtsgebiete beziehen sich auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr8, wobei Außenwirtschaftsrecht auch den Dienstleistungs-, Kapital-, Zahlungs- und sonstigen Wirtschaftsverkehr erfasst und Grenze hier auch die der einzelnen Mitgliedstaaten ist. Beide Rechtsgebiete sind im Sicherheitsgedanken verwurzelt, das Zollrecht im besonderen Maße seit der ZK-Reform 2005.9 Außenwirtschaftsrechtlich sensible Güter werden im zweistufigen Ausfuhrverfahren des UZK exportiert, wobei die Ausfuhrzollstelle auch die außenwirtschaftsrechtliche Zulässigkeit der Ausfuhr prüft. Auch nimmt die Zollverwaltung, nicht das BAFA, die Außenprüfung vor; sie verfolgt auch außenwirtschaftsrechtliche Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, Letzteres in der Funktion der Staatsanwaltschaft.10 Der AEO ist nun der Kulminationspunkt, in dem sich Außenwirtschaftsrecht und Zollrecht treffen. Denn zu der AEO-Bewilligungsvoraussetzung der angemessenen 4 Vgl. Efring in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle, 2015, S. 7 f.; Lux, ZfZ 1990 196. 5 Vgl. zur Neufassung des Art. 4 Abs. 2 DUV Ott, AW-Prax 2017, 163, 166 f.; Voss/Eßner, Der Zollprofi 2017, 8 ff. 6 Vgl. Henke/Rinnert in Witte (Fn. 2), ZK, Art. 58 Rz. 12. 7 Vgl. Bachmann, AW-Prax 2000, 448. 8 Zur Grenzüberschreitung vgl. Wolffgang/Simonsen/Tietje (Fn. 1), Einleitung, Rz. 12 f. 9 Vgl. dazu instruktiv Summersberger in Hübschmann/Hepp/Spitaler, ZK, Art. 5a Rz. 5 ff.; vgl. auch Hütwohl, ZfZ 2017, 230. 10 Hier sollte je nach Fragestellung das BAFA beteiligt werden, vgl. Schrömbges, AW-Prax 2008, 515.

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„Einhaltung der Zollvorschriften“ des Art.  39 lit. a UZK (= Art.  5a Abs.  2 UAbs.  1, 1. Anstrich ZK) gehört nach einhelliger Ansicht auch das Außenwirtschaftsrecht.11

II. Art. 39 lit. a UZK12 1. Zur herrschenden Auslegung Art. 39 lit. a UZK schreibt vor, dass der Antragsteller „keine schwerwiegenden oder wiederholten Verstöße gegen die zoll- und steuerrechtlichen Vorschriften und keine schweren Straftaten im Rahmen seiner Wirtschaftstätigkeit begangen (hat)“. Was eine Zollvorschrift ist, definiert nun Art. 5 Nr. 2 UZK wie folgt: „Zu den ‚zollrechtlichen Vorschriften‘ gehören alle folgenden Rechtsinstrumente: a) der Zollkodex sowie die auf Unionsebene und auf einzelstaatlicher Ebene zu seiner Ergänzung oder Durchführung erlassenen Vorschriften, b) der Gemeinsame Zolltarif, c) die Rechtsvorschriften über das Unionssystem der Zollbefreiungen, d) internationale Übereinkünfte, die zollrechtliche Vorschriften enthalten, soweit sie in der Union anwendbar sind.“ Trotzdem soll Art. 5 Nr. 2 UZK umfassend in der Weise zu verstehen sein, dass danach das Außenwirtschaftsrecht, aber beispielsweise auch das Marktordnungsrecht zum Zollrecht gehört.13 2. Anmerkungen zur herrschenden Ansicht zu Art. 39 lit. a UZK Entgegen der ganz herrschenden Ansicht versteht sich dieser „weite“ Begriff des Zollrechts im Rahmen des AEO aber nicht von allein. Für das Außenwirtschaftsrecht habe ich das bereits unter 1. dargestellt. Aber auch das europäische Ausfuhrerstattungsrecht als Teil des Marktordnungsrechts ist kein Zollrecht.14

11 Vgl. nur Witte (Fn. 2), ZK, Art. 5a Rz. 22; vgl. auch Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts, 8. Aufl. 2016, Rz. 92–168. 12 Vgl. Witte, AW-Prax 2017, 251. Im Übrigen: Art. 14 lit. a MZK verlangte einen „Nachweis über die bisherige Einhaltung der zoll- und steuerrechtlichen Vorschriften“. Hingegen verlangte Art. 5a ZK nur die „bisher angemessene Einhaltung der Zollvorschriften“. Allerdings durfte der Antragsteller nicht wegen einer schweren Straftat im Zusammenhang mit seiner wirtschaftlichen Tätigkeit verurteilt worden sein, Art. 14f lit. b ZK-DVO. 13 Vgl. nur Witte, AW-Prax 2017, 241, 242. 14 Vgl. Schrömbges in Dorsch, ZK, Ergänzungslieferung Februar 2004, D 2, Rz. 13 und 14.

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Grundsatz ist, dass europäisches Zoll- und Außenwirtschaftsrecht im Ausfuhrerstattungsrecht dann gilt, wenn Letzteres dies anordnet. Zollrecht unterscheidet sich wesentlich von dem subventionsrechtlichen Marktordnungsrecht15, das ein eigenständiges Rechtsgebiet zur vornehmlich preislichen Stabilisierung und Regulierung der Agrarmärkte der Union ist. Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht dürfen deshalb aufgrund vermeintlicher Sachzusammenhänge nicht einfach im Wege der Auslegung auf das Ausfuhrerstattungsrecht übertragen werden, wie dies in der Praxis gleichwohl geschieht. Ungeklärt ist etwa die Frage, ob ein von der Europäischen Kommission verhängtes Embargo die Entstehung des Erstattungsanspruchs verhindert. Da das Erstattungsrecht nicht die zoll- bzw. außenwirtschaftsrechtliche Zulässigkeit der Ausfuhr voraussetzt16, müsste die Frage insbesondere dann verneint werden, wenn die einschlägige Festsetzungsverordnung für die vom Embargo betroffenen Drittländer Erstattungen vorsieht. Dennoch stehen Zollrecht, Außenwirtschaftsrecht und Erstattungsrecht durchaus in einem engen Zusammenhang. Die verfahrensmäßige Abwicklung der Ausfuhr der Erstattungsware erfolgt durch die Ausfuhr- und Ausgangszollstellen im „erstattungsrechtlichen Zollverfahren“17, also letztlich im Ausfuhrverfahren des UZK, in dem ­Außenwirtschaftsrecht geprüft wird. Auch verweist das Ausfuhrerstattungsrecht auf materielles Zollrecht, etwa auf das Ursprungsrecht.18 So wie die Agrarzölle auf der Einfuhrseite den Unionsmarkt vor Billigeinfuhren schützen, sichern die Ausfuhrerstattungen auf der Ausfuhrseite die Präferenz der Union auf den Drittlandsmärkten. Im Übrigen hat der BFH19 im Zusammenhang mit der Verhängung außenwirtschaftsrechtlicher Sanktionen entschieden, dass die Kommission bei der Festsetzung der ­Erstattungssätze über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, in dem sie auch allgemeinpolitische (Handels-)Erwägungen, somit auch außenwirtschaftliche Belange berücksichtigen darf. Schließlich: Selbst für Antidumping-Zölle lässt sich die Auffassung20 vertreten, sie seien kein Zollrecht i.  S.  d. UZK. Auch sind Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach dem Außenwirtschafts- und Marktordnungsrecht, auch solche im Zusammenhang mit Antidumping-Zöllen, keine Zollstraftaten.21

15 So auch der EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-334/95, Krüger. 16 Vgl. auch EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 106/75. 17 Vgl. dazu ausführlich Stanke in CMA-Arbeitshandbuch „Ausfuhrerstattung“, 2. Aufl. 1997, 75; das „erstattungsrechtliche Subventionsverfahren“ wird vom HZA Hamburg-Jonas nach dem VwVfG gesteuert. 18 Vgl. Olbrisch und Schrömbges in Paschke/Graf/Olbrisch (Hrsg.), Hamburger Handbuch des Exportrechts, 2. Aufl. 2014, Beck, Abschnitt 30 und 31. 19 BFH v. 23.2.1988 – VII R 31/87, BFHE 152, 382, 389. 20 Vgl. nur Dannecker, Die Grenze des sachlichen Anwendungsbereichs des Finanzstrafrechts in Leitner (Hrsg.), Finanzstrafrecht 2004, 67, 104, Punkt VI; a. A. die AEO-Leitlinien der Europäischen Kommission unter 2.1.4. 21 Vgl. Möller/Retemeyer, Zoll- und Verbrauchsteuerrecht, Kap. C.2. Rz. 69.

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3. UZK-IA, ZK-DVO Aus den UZK-IA folgt, dass insbesondere Außenwirtschaftsrecht und Marktordnungsrecht zu den Zollvorschriften des Art. 39 Abs. 1 lit. a UZK bzw. Art. 5a Abs. 2 UA 1, 1. Anstrich ZK gehören. Art. 25 Abs. 1 lit. f UZK-IA (vorher: Art. 14i lit. d ZK-DVO) lautet: „Der Antragsteller verfügt über eine Verwaltungsorganisation, die Art und Größe des Unternehmens entspricht und für die Verwaltung der Warenbewegungen geeignet ist, sowie über interne Kontrollen, mit denen Fehler verhindert, erkannt und korrigiert sowie illegale oder nicht ordnungsgemäße Geschäfte verhindert und erkannt werden können.“ Art. 25 Abs. 1 lit. g UZK-IA (vorher: Art. 14i lit. e ZK-DVO) lautet: „Der Antragsteller verfügt gegebenenfalls über ausreichende Verfahren für die Bearbeitung von Lizenzen und Genehmigungen, die auf der Grundlage handelspolitischer Maßnahmen erteilt wurden oder sich auf den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen beziehen.“ Und Art. 25 Abs. 1 lit h UZK IA (vorher: Art. 14i lit. f ZK-DVO) lautet: „Der Antragsteller verfügt über ausreichende Verfahren für die Archivierung seiner Aufzeichnungen und Informationen und für den Schutz vor Informationsverlust.“ 4. AEO-Kriterien nach den Leitlinien der Europäischen Kommission Obwohl die AEO-Guidelines unter „2.I.1. Allgemeines“ u. a. ausführen: „Eine Definition des Begriffs ‚zollrechtliche Vorschriften‘ ist Artikel 5 Nummer 2 UZK zu entnehmen. ‚Steuerrechtliche Vorschriften‘ sind in einem weiteren Sinne zu verstehen und beschränken sich nicht auf Steuern in Verbindung mit der Ein- und Ausfuhr von Waren (Mehrwertsteuer, Unternehmenssteuern, Verbrauchsteuern usw.). Allerdings sollte der Begriff ‚steuerrechtliche Vorschriften ‘ auf Steuern begrenzt sein, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirtschaftstätigkeit des Antragstellers stehen.“22 stellen sie unter „2.I.2. Geringfügige Zuwiderhandlungen“ fest: „Der Antragsteller sollte über funktionierende interne Kontrollsysteme verfügen; zu berücksichtigen ist auch, ob die Zuwiderhandlung vom Antragsteller selbst im Rahmen seiner internen Kontrollen aufgedeckt und den Zollbehörden unverzüglich mitgeteilt wurde.“

22 Die Ansicht von Witte, AW-Prax 2017, 251, dass dies eine Auslegung contra legem sein soll, ist nicht ganz verständlich. Das Tatbestandsmerkmal „im Rahmen seiner Wirtschaftstätigkeit“ lässt sich ohne großen argumentativen Aufwand auf alle Vorschriften i.S.d. Art. 39 lit. a UZK beziehen.

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Unter „2.I.3. Wiederholte Zuwiderhandlungen“ führen die Leitlinien sodann aus: „Bei Verstößen, die zunächst als geringfügig oder unbedeutend angesehen werden, sollten die Zollbehörden prüfen, ob gleichartige Zuwiderhandlungen wiederholt vorgekommen sind; in diesem Fall sollten die Zollbehörden untersuchen, ob diese Wiederholung insbesondere der Tätigkeit einer oder mehrerer bestimmter Personen im Unternehmen des Antragstellers zuzuschreiben oder die Folge struktureller Defizite in den Systemen des Antragstellers ist. Die Zollbehörden sollten ferner prüfen, ob die betreffende Zuwiderhandlung weiterhin auftritt oder ob der Antragsteller ihre Ursache festgestellt und dafür gesorgt hat, dass sie künftig nicht mehr vorkommt. Sollte die Zuwiderhandlung jedoch in verschiedenen Zeiträumen erneut auftreten, könnte dies auf ein unzureichendes internes Management des Unternehmens hinsichtlich der Einleitung von Maßnahmen zur künftigen Vermeidung der Wiederholung derartiger Zuwiderhandlungen hindeuten …“ Beispiele für „schwere Zuwiderhandlungen“ listen die Leitlinien unter 2.I.4 schließlich wie folgt auf: „Unter Berücksichtigung dieser Hinweise und unter der Voraussetzung, dass in den geprüften Einzelfällen keine sonstigen Umstände vorliegen, denen Rechnung getragen werden müsste, können folgende Verstöße als Beispiele für schwere Zuwiderhandlungen dienen: ȤȤ zollrechtliche Vorschriften ȤȤ Schmuggel, ȤȤ Betrug wie z.B. bewusste falsche zolltarifliche Einreihung, zu geringe oder überhöhte Wertangabe oder falsche Ursprungsangabe zur Umgehung von Zöllen, ȤȤ Verstöße im Zusammenhang mit Rechten des geistigen Eigentums (IPR), ȤȤ Betrug im Zusammenhang mit Antidumping-Vorschriften, ȤȤ Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit Verboten und Beschränkungen, ȤȤ Fälschungen und ȤȤ alle sonstigen Verletzungen zollrechtlicher Vorschriften …“ 5. Außenwirtschaftsrecht als Teil des Zollrechts? Die herrschende Ansicht von einem sehr weiten Verständnis des Begriffs der „zollrechtlichen Vorschriften“ i.S.d. Art. 5 Nr. 2 UZK lässt sich im Rahmen des Art. 39 lit. a UZK dennoch gut vertreten. Denn: Nach § 1 Abs. 1 ZollVG23 ist zwar eine wesentliche Aufgabe der Zollverwaltung die Einnahmeerzielung24 und der Schutz der finanziellen Einnahmen der Union. Gleichzeitig überwacht die Zollverwaltung aber die Einhaltung aller Vorschriften i. Z. m. dem grenzüberschreitenden Warenverkehr der EU 23 In der Fassung v. 23.6.2017 (BGBl. I S. 1822). 24 2015: 133 Mrd. Euro; davon Zoll: 5,2 Mrd. Euro.

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(vgl. § 1 Abs. 3 ZollVG). Dazu zählt selbstverständlich für den „Exportweltmeister“ Deutschland 2016 das Außenwirtschaftsrecht.25 Dabei ist ein elektronisches Risikomanagement installiert worden, um sensitive Exporte rechtzeitig zu erkennen, Ausfuhrgenehmigungspflichten zu identifizieren und Verstöße gegen Beschränkungen frühzeitig zu erkennen. Spätestens seit „9/11“ ist das Zollrecht auch Gefahrenabwehrrecht, es soll die Sicherheit in der internationalen Lieferkette sicherstellen. Zentrales Instrument dafür ist der AEO, letztlich ein Compliance Management i.Z.m. dem grenzüberschreitenden Warenverkehr. So meint Mildenberger:26 „Eine verantwortungsvolle Unternehmensstrategie und umfassende Anstrengungen Ihrerseits zur rechtskonformen Gestaltung von Ausfuhrgeschäften sind damit das Gegenstück der Zusammenarbeit mit der Zollverwaltung. Neben dem Grundverständnis der deutschen Zollverwaltung als einer modernen und effizienten Wirtschaftsverwaltung möchte ich einen wichtigen Aspekt der bereits genannten Kernaussage ‚Sicherheit‘ besonders hervorheben … Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich aus der politischen Situation in Krisengebieten oder aus einer erhöhten terroristischen Bedrohungslage ergeben, erfordern ein umfassendes aktuelles und systematisches Risikomanagement – in der Zollverwaltung und in den Betrieben … So liegt die Herausforderung in der Gestaltung und Umsetzung des Außenwirtschaftsrechts zum großen Teil darin, den Grundsatz der Freiheit des Außenhandels mit den Regelungs- und Kontrollmechanismen, die z. B. eine Verbreitung von Kriegswaffen in politisch instabile Weltregionen verhindern sollen, in Einklang zu bringen … Je besser der Informationsfluss, desto effektiver wird sich die Umsetzung neuer Gesetze und Verordnungen wie z. B. der Außenwirtschaftsverordnung oder der in der Revision befindlichen Dual-Use-Verordnung in den Unternehmen und Verwaltungen, aber auch die Zusammenarbeit aller Beteiligten gestalten … Die Exportkontrolle fußt auf internationalen Resolutionen, europäischen Beschlüssen und Verordnungen und nationalen Gesetzen und Verordnungen. Probleme in der Auslegung und Umsetzung dieser Gesetzgebung offenbaren sich oftmals erst, wenn die Zollbehörden die Ordnungsmäßigkeit einer Ihrer Ausfuhr- oder Einfuhrlieferungen in Frage stellen. Die Zollverwaltung und das Bundesministerium der Finanzen sind insbesondere bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung stets bestrebt, in enger Kooperation mit den anderen Beteiligten der Exportkontrolle solche Vorgänge im Rahmen ihres gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums einer konstruktiven Lösung zuzuführen.“

25 2015: Exporte i.H.v. 1,2 Billionen Euro, 41 Mio. Anmeldungen, vgl. Mildenberger, AW-Prax 2017, 178, 180 f. 26 Unterabteilungsleiterin in der Zollabteilung des BMF, AW-Prax 2017, 178, 181.

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Art. 39 lit. a UZK ist folglich ein zentrales Element der Zuverlässigkeitsprüfung von Akteuren in der internationalen Lieferkette. Der AEO-Status testiert diese umfassend zu verstehende Zuverlässigkeit, die mittlerweile weltweite Entsprechungen hat.27 Insoweit bestehen keine Bedenken, den Begriff „Zollvorschriften“ i.S.d. Art. 39 lit.  a UZK auch auf das Außenwirtschaftsrecht zu beziehen.

III. Compliance im Zollrecht und Außenwirtschaftsrecht 1. Compliance im Zollrecht28 Mit der VO Nr. 648/2005 vom 13.4.200529 ist Art. 5a in den Zollkodex und damit der Status „Zugelassener Wirtschaftsbeteiligter“ eingefügt worden. Mittlerweile hat sich die englische Abkürzung AEO (für Authorized Economic Operator) eingebürgert. Der AEO vervollständigt das neue zollrechtliche Sicherheitskonzept von effizienteren Kontrollen, basierend auf einer Risikoanalyse und einem Risikomanagement. Damit wird gleichsam unabhängig von einer konkreten Warenbewegung eine Risikoanalyse bezogen auf eine bestimmte Person bzw. auf ein bestimmtes Unternehmen vorgenommen. Wichtig ist hierbei – entsprechend den Leitlinien der Weltzollorganisation30 – insbesondere die Sicherheit der internationalen Verteilerkette.31 Zum Gesamtkonzept gehört es, denjenigen Wirtschaftsbeteiligten gesetzliche Vorteile zukommen zu lassen, die bestimmte, genau definierte und vorab überprüfte Anforderungen erfüllen. Die gemeinsamen Kriterien und Verfahrensregelungen ergeben sich aus Art. 28 ff. UZK, 29 ff. UZK-IA, 23 ff. UZK-DA (vormals Art. 5a ZK und den Art. 14a–14x ZK-DVO). Zu diesem Zertifizierungsverfahren gehört nach Art. 39 lit. b UZK auch ein „zufriedenstellendes System zur Führung der Geschäftsbücher und gegebenenfalls der Beförderungsunterlagen, das angemessene Zollkontrollen ermöglicht“32, das außenwirtschaftsrechtliche Fragestellungen umfasst. Wie Mielken/Thornton33 zu Recht feststellen: „Man kann zusammenfassend feststellen, dass das Programm eine Vielzahl von zollrechtlich bedeutsamen organisatorischen Anforderungen an ein Unternehmen stellt, die darauf abzielen, dass ein AEO-zertifiziertes Unternehmen selbstständig Prozeduren einführt, die ‚Best Practice‘-Standards genügen. Diese werden vom Zoll durch ein komplexes und sehr detailliertes schriftliches Prüfungsverfahren in Verbindung mit einer 27 Vgl. Eßner, Der Zollprofi 2017, 8. 28 Vgl. dazu Witte, Der AEO im UZK, AW-Prax 2016, 75; 122; 193. 29 ABl. 2005 Nr. 117/13. 30 WCO, SAFE, Framework of Standards to secure and facilitate global trade, letzte Fassung Juni 2015, URL: http://www.wcoomd.org/en/topics/facilitation/instrument-and-tools/ tools/~/media/2B9F7D493314432BA42BC8498D3B73CB.ashx. 31 Vgl. Aigner, AW-Prax 2005, 281. 32 Vgl. auch Teil 2, Abschnitt II der AEO-Leitlinien der Europäischen Kommission. 33 In Ehlers/Wolffgang (Fn. 4), Die Rolle des AEO in der Ausfuhrkontrolle – Zwischen Compli­ ance und Vereinfachung?, S. 459, 461.

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Vor-Ort-Kontrolle abgeprüft, und ‚Compliance‘ wird festgestellt. Die Verpflichtung an Unternehmen, ein Monitoring-Verfahren nach AEO-Genehmigung einzuführen, soll danach sicherstellen, dass diese Standards ständig weitergeführt und entwickelt werden.“ Zum AEO-Zertifizierungsverfahren sowohl bei den schriftlichen als auch bei der Vor-Ort-Kontrolle gehören Fragen der Ausfuhrkontrolle.34 2. Compliance im Außenwirtschaftsrecht Auch im Außenwirtschaftsrecht ist ein internes Kontrollprogramm (ICP) vorgeschrieben, damit sensible Güter nicht unkontrolliert und rechtswidrig in den internationalen Handel gelangen. Wie beim AEO sind damit Vergünstigungen verbunden. So wird ein Wirtschaftsbeteiligter ohne ICP nicht „Zertifizierter Empfänger“ von bestimmten Rüstungsgütern35, oder er erhält ohne ICP keine Sammelgenehmigung (SAG).36 Ähnlich wie beim AEO wird in einem schriftlichen Verfahren und durch eine Vor-Ort-Prüfung festgestellt, ob das Unternehmen über ein effektives ICP verfügt. Rechtsgrundlage des ICP ist § 8 Abs. 2 Satz 1 AWG, wonach „die Erteilung der Genehmigung … von sachlichen und persönlichen Voraussetzungen, insbesondere der Zuverlässigkeit des Antragstellers, abhängig gemacht werden“ kann. Die Norm ist in Verbindung mit den „Grundsätzen der Bundesregierung zur Zuverlässigkeit von Exporteuren“ vom 10.8.200137 zu lesen und gibt dem BAFA den Handlungsspielraum im Rahmen der Zuverlässigkeitsprüfung (ZVP) vor. So müssen Unternehmen, die gelistete Güter exportieren, im Einzelgenehmigungsverfahren zwingend einen Ausfuhrverantwortlichen (AV) benennen.38 Darin erklärt der AV (in der Regel der Geschäftsführer oder ein Vorstandsmitglied) gegenüber dem BAFA, dass er ein funktionierendes innerbetriebliches Exportkontrollsystem installiert hatte. Wie ein maßgeschneidertes also, von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedliches, funktionsfähiges ICP auszusehen hat, folgt aus den zitierten Grundsätzen der Bundesregierung sowie dem Merkblatt des BAFA zum ICP.39 Danach ist für ein effektives ICP erforderlich: 34 EU-AEO-Fragenkatalog, URL: http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/­ customs/policy_issues/customs_security/aeo_self_assessment_de.pdf. 35 Zertifizierungsverfahren nach § 9 AWG, 2 AWV und Art. 9 der Verteidigungsgüterrichtlinie RL 2009/43. 36 BAFA, Merkblatt Internal Compliance Programme, URL: http://www.ausfuhrkontrolle. info/ausfuhrkontrolle/de/arbeitshilfen/merkblaetter/merkblatt_icp.pdf; wird derzeit überarbeitet, die Veröffentlichung ist für Ende 2017 geplant, unter II.3. 37 URL: http://ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/vorschriften/zuverlaessigkeit_aus​ fuhrverantwortlicher/index.html. 38 Vgl. BAFA-Merkblatt ICP unter I.6. 39 Die Zuverlässigkeitsgrundsätze der Bundesregierung werden durch die Empfehlungen der Europäischen Kommission zum Zertifizierungsverfahren nach der Verteidigungsgüter-

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1. Richtige Personalwahl und technische Mittel für die Abwicklung von Ausfuhren Dabei geht es einerseits um die Auswahl von Mitarbeitern, die entsprechende fachliche (juristische und technische) Kenntnisse besitzen und persönlich zuverlässig sein müssen. Zum anderen ist ein EDV-gestütztes Exportkontrollprogramm, wie der Einsatz von aktuellen Arbeitsmitteln und Einhaltungs-Handbüchern, vorgeschrieben. 2. Aufbauorganisation/Verteilung der Zuständigkeiten speziell für die Exportkon­ trolle Dabei sollte eine zentrale Koordinierungsstelle für die betriebsinterne Exportkontrolle eingerichtet werden. 3. Prüfungen/Überwachung Dabei sind wirksame Kontrollmechanismen aufzubauen und interne Systemprüfungen durchzuführen, wozu auch ein Monitoring von Gesetzesänderungen gehört. 4. Ablauforganisation/betriebliche Verfahren und allgemeine Sensibilisierung Dieses Kernstück des ICP soll betriebliche und organisatorische Exportkontrollverfahren durch schriftliche Anleitungen und Leitfäden fixieren. Dies beinhaltet auch die Sensibilisierung, Schulung und Information der Mitarbeiter. 5. Physische und technische Sicherheit, was durch den AEO-Status „Sicherheit“ belegt werden kann 6. Aufzeichnungen/Aufbewahrung von relevanten Dokumenten Das BAFA unterstellt zunächst einmal die Erklärung des AV zum ICP als richtig, sein Unternehmen verfüge über ein effektives ICP. Anders ist es nur, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Unternehmen gegen außenwirtschaftsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Im letzteren Fall stoppt das BAFA die Bearbeitung der Anträge und fordert den AV zur Stellungnahme auf. Bei einer zufrieden­ stellenden Antwort wird die Bearbeitung der Anträge fortgesetzt, sonst bleibt die Bearbeitung der Anträge ausgesetzt, und die ZVP geht weiter. Anhaltspunkte für Verstöße erhält das BAFA insbesondere über die Ergebnisse von Außenwirtschaftsprüfungen des Zolls und über Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaften, die ein Ermittlungsverfahren bei Vorliegen „zureichende[r] tatsächliche[r] Anhaltspunkte“ gemäß § 152 StPO einleiten.40 Bei der ZVP wird nicht nur der Sachverhalt, der Anlass für die Durchführung der Prüfung gegeben hat, geprüft, sondern alle Aspekte des ICP werden beleuchtet. Das richtlinie näher ausgestaltet, URL: http://www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/ gueterlisten/ausfurhliste/al_abschnitt_a.pdf. 40 Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren hat die „unangenehme“ Konsequenz, dass das Unternehmen nicht mehr als „unbedenklich“ eingestuft und von öffentlichen Ausschreibungsverfahren ausgeschlossen wird – trotz des Grundsatzes in dubio pro reo.

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Ergebnis wird in einem Prüfbericht festgehalten. Das Unternehmen wird dann zur Erarbeitung und Vorlage eines Konzepts zur Behebung aufgezeigter Fehler oder ­Systemschwächen aufgefordert. Sofern das Unternehmen kooperiert, wird das Antragsverfahren fortgesetzt. Abgeschlossen wird die ZVP jedoch erst nach Implementierung eines wirksamen ICP sowie nach (positivem) Abschluss eines etwaigen Strafverfahrens. 3. Gemeinsamkeiten von AEO und ICP a) Qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl Beide Systeme setzen auf zuverlässiges Personal, das sich in Zollangelegenheiten auskennt und sich weiterbildet. Dazu gehört, wie dargelegt, auch das Außenwirtschaftsrecht. Bei Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen in den USA ist die Verpflichtung zu Sicherheits- und Hintergrundüberprüfungen von Mitarbeitern (z. B. Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses) nahezu unabdingbar. So kann eine systematische Überprüfung der Staatangehörigkeit bei Neuangestellten und externen Dienstleistern vor unabsichtlichen de facto Ausfuhren schützen (bekannt im US-Ausfuhrkontrollrecht als „deemed exports“), die Unternehmen ungewollt in Programme für Massenvernichtungswaffen verwickeln könnten. b) Organisation der Arbeitsabläufe und der betrieblichen Verfahren AEO kann nur werden, wer unter Benennung des Personals umfassend den Registrierungsvorgang und den Materialfluss der Waren, beginnend mit deren Ankunft über die Lagerung bis zur Verarbeitung und Versendung, kontrolliert. Zollrelevante Arbeitsabläufe in den Abteilungen Buchhaltung, Einkauf, Verkauf, Zoll, Fertigung, Material- und Warenwirtschaft sowie Logistik werden bewertet, Anweisungen für die Überprüfung von Unregelmäßigkeiten und selbst die Vorgehensweisen für das Korrekturlesen werden analysiert. c) Buchhaltung von AEO-zertifizierten Firmen Jeder Wareneintrag der Buchhaltung bis zu seiner Quelle kann bei einem AEO zurückverfolgt werden. Dort sind eine Vielfalt von Daten vorhanden, z. B. mit Bezug auf Verkauf, Einkauf und Bestellungen, Bestandsüberwachung, Lagerung (und Verbringung zwischen Lagerstandorten), Fertigung, Verkauf und Verkaufsaufträge, Zollanmeldungen und Dokumentation, Versand, Beförderung, Buchhaltung (z.B. Fakturierung, Gutschriften, Lastschriften) und Überweisungen/Zahlungen. d) Endverwendung Ein AEO-zertifiziertes Unternehmen hat spezielle Maßnahmen zur Überprüfung relevanter Umstände installiert. Ein AEO muss eine eindeutige Feststellung der Han413

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delspartner (inklusive der Kunden) ermöglichen, um die internationale Lieferkette zu sichern und regelmäßig Sicherheits- und Hintergrundüberprüfungen vorzunehmen.41 Dazu muss nachvollziehbar darlegt werden, dass die Handelspartner und Beschäftigten anhand von Namenslisten in Terrorismus- und Sanktionsverordnungen regelmäßig überprüft werden.42 e) Prüfungen/Überwachung Im Rahmen der AEO-Betriebsprüfung werden alle im Unternehmen vorhandenen Kontrollmechanismen beleuchtet, auch bzgl. Ausfuhrlizenzen. Führt ein Unternehmer Güter mit doppeltem Verwendungszweck oder Militärgüter aus, ist zur Erlangung des AEO-Status erforderlich, dass das interne Kontrollsystem diesbezüglich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen vorsieht. f) Aufbewahrung Das AEO-Zertifikat setzt voraus, dass weitgehende Maßnahmen zur Aufzeichnung, Archivierung und Sicherung der Daten, inklusive Back-ups, Wiederherstellung von Dateien und Fallback-Vorkehrungen, getroffen wurden. g) Fazit ICP und AEO zielen also gemeinsam darauf ab, dass Unternehmen selbstständig Prozeduren einführen, die „Best Practice“-Standards genügen. Diese werden vom Zoll durch ein komplexes und sehr detailliertes schriftliches Prüfungsverfahren in Ver­ bindung mit einer Vor-Ort-Kontrolle abgeprüft, und „Compliance“ (= Übereinstimmung mit den einschlägigen Regelungen, Rechtstreue) wird festgestellt. Ein Monitoring-Verfahren nach der AEO-Zertifizierung soll gewährleisten, dass diese Standards auch im ICP ständig weitergeführt und entwickelt werden, vgl. Art. 35 UZK-IA (vormals: Art. 14q Abs. 4 und Abs. 5 ZK-DVO). Mielke/Thornton43 kommen deshalb zu Recht zu folgendem Fazit: „Zoll- und Außenwirtschaftsrecht sind eng miteinander verbunden. Die unabhängig voneinander eingeführten Kontrollprogramme, AEO und ICP, weisen klare Parallelen auf, sowohl bei der Ziel- als auch Umsetzung, den Voraussetzungen und Anforderungen. Der Vergleich und unsere Bewertung erlauben den Schluss, dass bei AEO-zertifizierten Unternehmen, die mit militärischen oder ‚Dual-Use‘-Gütern handeln, die grundlegenden Anforderungen der Ausfuhrkontrolle an ein effizientes ICP bereits vorhanden sind und nicht mehr (oder nur bedingt) erneut geprüft werden sollten. Der Status eines AEO-zertifizierten Unternehmens als ‚gesetzestreu und vertrauenswürdig‘ sollte auch in 41 Art. 14k Abs. 1 lit. e und f ZK-DVO (= Art. 28 lit. d und e UZK-IA). 42 Dienstvorschrift zum Zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten AEO, E-VSF Z 05 20. 43 In Ehlers/Wolffgang (Fn.  4), Die Rolle des AEO in der Ausfuhrkontrolle  – Zwischen Compli­ance und Vereinfachung?, S. 461.

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der Exportkontrolle anerkannt werden. Eine Gewährung von speziellen Erleichterungen für AEOs wäre daher ein sehr wünschenswerter und willkommener neuer Ansatz. Insbesondere Verfahrensvereinfachungen und weitere Vorteile für ‚AEOs der Ausfuhrkontrolle‘ sollten bei einer Neuaufläge der Dual-Use-Verordnung gleich mitbedacht werden.“

IV. Zur Rechtsnatur des AEO-Status Der personenbezogene Status des AEO wird auf Antrag verliehen. Er ist ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt (VA), der die vom AEO-Zertifikat umfassten Vorgänge als „gesetzestreu und vertrauenswürdig“ verbindlich und bestandskräftig feststellt.44 Mit anderen Worten: Das AEO-Testat ist ein Feststellungsbescheid i.S.d. § 118 AO bzw. eine zollrechtliche Entscheidung des Hauptzollamts i.S.d. Art. 39 UZK (vormals: Art. 4 Nr. 5 ZK), mit dem unter Zugrundelegung der Auskünfte des Wirtschaftsbeteiligten im Formular „Selbstbewertung zum AEO-Antrag“ verbindlich festgestellt wird, dass er auch über ein effektives ICP verfügt. Damit stellt sich zunächst die Frage, ob das HZA im Rahmen einer Außenprüfung das ICP nachträglich wieder infrage stellen darf. Das dürfte angesichts der Bindungswirkung des AEO-Testats ausgeschlossen sein. Solange die Rücknahme- bzw. Widerrufsvorschriften des Art. 27, 28, 31, 32 UZK (vormals: Art. 8, 9 ZK) nicht eingreifen und das HZA nicht nach diesen Vorschriften bestands- bzw. rechtskräftig vorgegangen ist, steht auch im Rahmen einer nachträglichen Außenprüfung aufgrund des AEO-Testats fest, dass der Wirtschaftsbeteiligte über ein effektives ICP verfügt. Davon darf die Außenprüfung nicht abweichen, sondern hat dieses vielmehr als Tatsache in seinem Prüfbericht festzustellen. Eine weitergehende Frage ist, ob das BAFA einem AEO die außenwirtschaftsrechtliche Zuverlässigkeit im Hinblick auf Kriterien absprechen darf, die das Hauptzollamt im Rahmen des AEO-Zertifizierungsverfahrens positiv geprüft hat. Ob eine solche rechtliche Bindungswirkung gegenüber dem BAFA angenommen werden kann, ist nicht einfach zu beantworten und soll hier nicht näher erörtert werden45; sie wäre aber jedenfalls wünschenswert. Denn würde das BAFA von den „Entscheidungsgründen“ des Hauptzollamts abweichen, wäre eine rechtsstaatliche schwer erträgliche Kollision gegeben, die auch das Verhältnis von BAFA und Zollverwaltung belasten dürfte. Eine de facto Bindungswirkung sollte daher angenommen werden dürfen.

44 Vgl. auch Witte (Fn. 2), ZK, Art. 5a Rz. 6, vgl. auch Meinl, Finanz Journal 2008, 15, 18. 45 Vgl. aber zur Bindungswirkung einer Mitteilung des BAFA gegenüber der Zollverwaltung im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens, dass die der außenwirtschaftsrechtlichen Genehmigung beigefügte Auflage erfüllt ist, Schrömbges, AW-Prax 2008, 515.

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V. Bindungswirkung des AEO-Testats im außenwirtschaftsrechtlichen Strafverfahren 1. Einleitung Das Hauptzollamt – in Österreich das Zollamt – wird im Außenwirtschaftsrecht in seiner originären Zollfunktion (AEO-Zertifizierungsverfahren, Außenprüfung), aber auch als Strafverfolgungsbehörde tätig. Die Frage ist, ob und inwieweit das AEO-Zertifikat sich im außenwirtschaftsrechtlichen Strafverfahren auswirkt. Wird mit dem AEO-Status auch testiert, dass der Wirtschaftsbeteiligte über ein effektives ICP verfügt, geht die herkömmliche Auffassung zum ICP46 wohl dahin, es bei der Strafzumessung als strafmildernd zu berücksichtigen; das zumindest sollte auch für das AEO-Testat gelten. Es lässt sich aber auch die Auffassung vertreten, dass ein AEO i. d. R. überhaupt keinen fahrlässigen Embargo- oder Genehmigungsverstoß begehen kann. Das soll an einem Fall aus meiner Praxis illustriert werden, der sich in Österreich zugetragen hat und der die Besonderheit aufweist, dass es dort ein Unternehmensstrafrecht47 gibt. 2. Beispielfall a) Sachverhalt Die Betriebsprüfung des Zollamts führte bei AT außenwirtschaftsrechtliche Ermittlungen gemäß §§ 24 ZollR-DG, 144, 147 Abs. 1 BAO durch. Prüfungsbeginn war der 10.12.2012. Am 28.11.2013 stellten die Prüfer AT ihre Ergebnisse der Prüfung vor. Danach soll es bei der Ausfuhr einiger Güter Verstöße gegen die DUV wegen nicht beantragter Ausfuhrgenehmigungen gegeben haben. Die Prüfer teilten hingegen nicht mit, in welchen konkreten Fällen AT gegen die DUV verstoßen haben sollte. Sie eröffneten wohl, dass die Verstöße ihrer Auffassung nach Straftaten seien. Sie stellten anheim, strafbefreiende Selbstanzeige gemäß § 29 FinStrG zu stellen (obwohl diese hier unstatthaft war).48 Im Vertrauen auf die Richtigkeit dieses Ratschlags und der Auskünfte erstattete AT Selbstanzeige. Der Selbstanzeige beigefügt war eine Aufstellung der bei AT bis zum 28.11.2013 bekannten Fälle, bei denen keine Ausfuhr- bzw. Verbringungsgenehmigung nach der DUV vorlag. Grundlage dafür waren die von den Prüfern genannten Produkte. Trotz des Verdachts gerichtlich strafbarer Handlungen nach dem Außenwirtschaftsrecht wurde die Außenprüfung ohne den Hinweis fortgesetzt, dass AT aufgrund ihres strafprozessualen Schweigerechts (keine Selbstbezichtigung) nicht mehr zur Mitwirkung verpflichtet war.

46 Vgl. Ott, AW-Prax 2017, 163. 47 In Deutschland vgl. § 130 OWiG: Ahndung von Organisationsverschulden im Ordnungswidrigkeitsrecht. 48 Zur Selbstanzeige nach deutschem Außenwirtschaftsrecht vgl. Ott, AW-Prax 2017, 163; zur Selbstanzeige nach österreichischem Außenwirtschaftsrecht vgl. Schrömbges/Gesinn in Ehlers/Wolffgang (Fn. 4), S. 115.

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Das Zollamt in seiner Funktion als Finanzstrafbehörde 1. Instanz verdächtigt AT nun im Anlassbericht vom 8.10.2015, u.a. durch benannte Prokuristen vorsätzlich anlässlich von 17 Tathandlungen im Zeitraum … ohne eine erforderliche DUV-Genehmigung Güter in Drittstaaten ausgeführt zu haben, § 79 Abs. 1 Z. 2 AußWG 2011. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von AT soll sich aus § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (i. f. VbVG) ergeben. Diese Vorschrift lautet: „(1) Dieses Bundesgesetz regelt, unter welchen Voraussetzungen Verbände für Straftaten verantwortlich sind und wie sie sanktioniert werden, sowie das Verfahren, nach dem die Verantwortlichkeit festgestellt und Sanktionen auferlegt werden. Straftat im Sinne dieses Gesetzes ist eine nach einem Bundes- oder Landesgesetz mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung; auf Finanzvergehen ist dieses Bundesgesetz jedoch nur insoweit anzuwenden, als dies im Finanzstrafgesetz, BGBl. Nr. 129/1958, vorgesehen ist. (2) Verbände im Sinne dieses Gesetzes sind juristische Personen sowie eingetragene Personengesellschaften und Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigungen.“ Dabei ging aus dem Anlassbericht des Zollamts in keiner Weise hervor, welches konkrete strafbare Verhalten aufgrund welcher konkreten Umstände AT als Verband zugerechnet werden soll. Im Bericht steht insoweit nur: „Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einem Unternehmen in der Größe der (AT) … die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen nur durch interne Kontrollsysteme erreicht werden (EDV-Versandsperre, Handbuch Exportkontrolle etc.) werden (sic!). Schließlich führt die Arbeitsteilung dazu, dass Entscheidungsträger nicht alle Arbeitsprozesse selbst in der Hand haben. Rechtsverstöße Dritter lassen sich somit nicht mit Gewissheit ausschließen. Sich jedoch darauf zu verlassen, es werde schon nichts passieren, ohne Vorkehrungen wie interne Kontrollsysteme zu treffen, stellt bedingten Vorsatz dar.“ b) Zur rechtlichen Bewertung Wir haben dagegen u. a. wie folgt argumentiert: aa) Keine gesetzlichen Anforderungen Es gibt bis heute keine gesetzlichen Anforderungen dafür, wie die innerbetriebliche Exportkontrolle organisiert sein muss. Mit § 49 AußWG 2011 ist lediglich die Verpflichtung eingeführt worden, organisatorische Sicherungsmaßnahmen einzuführen. Wie diese aber beschaffen sein sollen, wird nicht geregelt, sie werden vielmehr dem Ermessen des jeweiligen Unternehmens überantwortet. Es gibt nicht einmal ministerielle Richtlinien (Verwaltungsvorschriften), wie Exportunternehmen dieses Ermessen ausüben sollten. Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz, der im Strafrecht in ganz besonderem Maße gilt, müssen sich aber die Compliance-Pflichten auch im Bereich der Exportkontrolle aus dem Gesetz ergeben. Überlässt aber das Gesetz die Einrich417

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tung bzw. die Ausgestaltung der innerbetrieblichen Exportkontrolle dem Ermessen des Exportunternehmens, scheidet eine strafbare Handlung von AT nach dem VbVG von vorneherein aus. Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass jedes strafbare Verhalten durch bestimmte und eindeutige Merkmale gesetzlich umschrieben sein muss. Greift also weder das Ministerium noch das Zollamt in die Ermessensausübung durch verbindliche Anordnungen ein, dann ist es angesichts des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes unter dem Aspekt des Außenwirtschaftsstrafrechts auch dem Ermessen der AT überlassen, wie sie die Exportkontrolle organisiert. Allenfalls Untätigkeit oder Missbrauch könnten eine Strafbarkeit begründen, nicht aber die nachträgliche zollamtliche Einschätzung, ob die von AT ergriffenen Maßnahmen ausreichend sind oder nicht. Bereits unabhängig von den nachfolgenden Ausführungen ist deshalb aus den dargelegten Gründen eine Strafbarkeit von AT nicht gegeben. bb) AEO-Zertifikat für die Einhaltung der gebotenen und zumutbaren Sorgfalt der AT-Entscheidungsträger Maßstab ist hier zunächst § 3 VbVG. Diese Vorschrift lautet: „(1) Ein Verband ist unter den weiteren Voraussetzungen des Abs. 2 oder des Abs. 3 für eine Straftat verantwortlich, wenn 1. die Tat zu seinen Gunsten begangen worden ist oder 2. durch die Tat Pflichten verletzt worden sind, die den Verband treffen. (2) Für Straftaten eines Entscheidungsträgers ist der Verband verantwortlich, wenn der Entscheidungsträger als solcher die Tat rechtswidrig und schuldhaft begangen hat. (3) Für Straftaten von Mitarbeitern ist der Verband verantwortlich, wenn 1. Mitarbeiter den Sachverhalt, der dem gesetzlichen Tatbild entspricht, rechtswidrig verwirklicht haben; der Verband ist für eine Straftat, die vorsätzliches Handeln voraussetzt, nur verantwortlich, wenn ein Mitarbeiter vorsätzlich gehandelt hat; für eine Straftat, die fahrlässiges Handeln voraussetzt, nur, wenn Mitarbeiter die nach den Umständen gebotene Sorgfalt außer acht gelassen haben; und 2. die Begehung der Tat dadurch ermöglicht oder wesentlich erleichtert wurde, dass Entscheidungsträger die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt außer acht gelassen haben, insbesondere indem sie wesentliche technische, organisatorische oder personelle Maßnahmen zur Verhinderung solcher Taten unterlassen haben. (4) Die Verantwortlichkeit eines Verbandes für eine Tat und die Strafbarkeit von Entscheidungsträgern oder Mitarbeitern wegen derselben Tat schließen einander nicht aus.“

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Nach § 3 VbVG kann sich also die strafrechtliche Verantwortlichkeit von AT aus rechtswidrigen und schuldhaften Straftaten eines Entscheidungsträgers (§ 3 Abs. 2 VbVG) oder aus der rechtswidrigen Straftat eines Mitarbeiters (§ 3 Abs. 2 VbVG) ergeben, wobei Letztere dadurch ermöglicht oder erleichtert worden sein muss, dass Entscheidungsträger (wozu auch Prokuristen gehören) die gebotene und zumutbare Sorgfalt außer Acht ließen. Da eine Strafbarkeit der Entscheidungsträger aufgrund aktiven Tuns vorliegend nicht in Betracht kommt, ist AT sowohl im Fall des § 3 Abs. 2 VbVG als auch des § 3 Abs. 3 VbVG nur dann verantwortlich i.S.d. VbVG, wenn ihre Entscheidungsträger die gebotene und zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben. Im Fall des § 3 Abs. 2 VbVG schließt ein Handeln entsprechend den Sorgfaltsanforderungen bereits das Vorliegen einer Straftat aus, im Fall des § 3 Abs. 3 VbVG die Zurechnung zum Verband. Hingegen wird – entgegen der Auffassung des Zollamts – allein wegen eines Organisationsverschuldens keine Verantwortlichkeit i. S. d. VbVG begründet. Bei der Beurteilung der hier also allein entscheidenden Frage, ob Entscheidungsträger die gebotene und zumutbare Sorgfalt beachteten, können die organisatorischen Maßnahmen, die ein Entscheidungsträger (nicht) veranlasst hat, eine Rolle spielen, müssen es aber nicht (vgl. den Wortlaut des § 3 Abs. 3 Z. 2 VbVG, „insbesondere“). Indes ist durch eigene Rechtsakte des Zollamts bewiesen, dass die Entscheidungsträger von AT den Sorgfaltsanforderungen Genüge getan haben. In den Jahren 2012/2013 bemühte sich AT um die zollamtliche Anerkennung als zuverlässiger Wirtschaftsbeteiligter, also um die Erteilung eines AEO-Zertifikats „Zollrechtliche Vereinfachungen/Sicherheit“ (AEOF). In dem Formular „Selbstbewertung zum AEO-Antrag“, welches AT dem Antrag beifügte, ist unter 5.6 Nichtfiskalische Anforderungen (I.2.5.6 - 5.6.1 Nichtfiskalische Aspekte) zu lesen: „a) Handeln Sie mit Gütern mit doppeltem Verwendungszweck und/oder mit Waren, für die Einfuhrgenehmigungen erforderlich sind, oder mit Waren, die bestimmten Ausfuhrbeschränkungen, Embargos oder anderen nichtfiskalischen Anforderungen unterliegen? Wenn ja, beschreiben Sie kurz die Verfahren, mit denen Sie sicherstellen, dass die für diese Güter und Waren geltenden Vorschriften eingehalten werden (z. B. Verwaltung von Lizenzen, Genehmigungen, spezielle Zuständigkeiten, speziell ausgebildete Mitarbeiter usw.). b) Gibt es in Ihrem Unternehmen spezielle Arbeitsanweisungen, Handbücher oder sonstige Richtlinien für derartige Waren und Güter? Ja/Nein.“ Im darauf folgenden Abschnitt, Selbstbewertung des Antragstellers, ist zu lesen: „a) Embargos: Hier richten wir uns nach der Länderliste der UNO bzw. EU, die für (AT) maßgeblich sind. Laufendes Beispiel ist IRAN, wo bereits die Anfrage bei unserem iranischen Vertreter überprüft wird (Liste ‚iranwatch.org‘ ist die Basis, im Zweifelsfall wird auch die österr. Außenhandelsstelle konsultiert; nur wenn der Kunde OK ist, wird von uns angeboten. Die gleiche Prüfschleife wird bei Auftragserhalt gefahren). Exportgenehmigungen sind auch ein Thema bei hochtechnologischen Geräten … In diesen Fällen erfolgt der Antrag, wenn … eine bestimmte Technologiestufe aufweist und somit in die Du419

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al-Use-Kategorie fällt, auf Exportbewilligung beim BMfWA in Wien. Dual-Use-Themen können uns dort betreffen, wo es um … geht. Auch hier erfolgt die Anfrage beim BMfWA auf dem entsprechenden Formblatt und ist ein End Use Certificate (ausgestellt vom Endkunden) beizufügen. Als Exportbeauftragter ist Senior Vice President … registriert. b) Die Länderverantwortlichen wissen um Embargothemen in den jeweiligen Ländern Bescheid und auch, dass Nichtbeachtung zu erheblichen Problemen führen kann. Daher auch, wie im Fall Iran geschildert, eine mehrfache Prüfschleife (Kunde und Produkt). Generell ist unsere Produktpalette unbedenklich und nur ganz wenige Produkte … bzw. Länder kritisch bzw. bewilligungspflichtig.“ Das Zollamt erteilte daraufhin AT das AEOF-Zertifikat mit Wirkung zum 14.6.2013 ohne jede Einschränkung oder Vorgabe. Der Status des AEOF wird auf Antrag verliehen, der von der zuständigen Zollbe­ hörde, hier dem Zollamt, zu prüfen und zu bescheiden ist, vgl. § 54 Abs. 1 ZollR-DG, Art. 26 UZK-DA (vormals: Art. 14n ZK-DVO). Kriterium für die Verleihung des ­AEOF-Status ist u.a., dass der Antragsteller über ein zufriedenstellendes System der Führung der Geschäftsbücher und gegebenenfalls der Beförderungsunterlagen nach Art. 5a Abs. 2 UAbs. 1 zweiter Gedankenstrich ZK (= Art. Art. 39 lit. b UZK) verfügt. Was hierunter zu verstehen ist, regelt Art. 14i ZK-DVO (= Art. 25 UZK-IA). Demnach muss der Antragsteller u.a., so Art. 14i lit. d ZK-DVO, „… eine Verwaltungsorganisation haben, die Art und Größe des Unternehmens entspricht und für die Verwaltung der Warenbewegungen geeignet ist, und über interne Kontrollen verfügen, mit denen illegale oder nicht ordnungsgemäße Geschäfte erkannt werden können;“ Zudem muss der Antragssteller gegebenenfalls über angemessene Sicherheitsstandards verfügen, wie aus Art. 5a Abs. 2 UAbs. 1 vierter Gedankenstrich ZK (=Art. 39 lit. e UZK) hervorgeht. Hierunter sind gemäß § 14k ZK-DVO (= Art. 28 UZK-IA) u. a. zu verstehen „d) gegebenenfalls bestehen Verfahren für die Handhabung von Einfuhr- bzw. Ausfuhrgenehmigungen im Zusammenhang mit Verboten und Beschränkungen, mit denen diese Waren von anderen Waren unterschieden werden“. Das Zollamt hat die im Zusammenhang mit diesen Anforderungen erteilten Selbstauskünfte geprüft und entschieden, dass die darin beschriebenen organisatorischen Maßnahmen ausreichend sind, auch für außenwirtschaftsrechtliche Zwecke. Ansonsten hätte das Zollamt AT den AEOF-Status nicht erteilt (bzw. nicht erteilen dürfen). Damit steht aber verbindlich auch mit Wirkung für die Vergangenheit ab 2010 ff. fest (Art. 14h ZK-DVO [= Art. 24 UZK-IA]: Ex-post-Betrachtung der letzten drei Jahre), dass die in der Selbstauskunft zum AEO-Antrag beschriebenen, von den Entscheidungsträgern bei AT, insbesondere den verantwortlichen Beauftragten, veranlassten organisatorischen Maßnahmen der zu beachtenden zumutbaren und gebotenen Sorgfalt entsprachen. 420

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Es liegt somit durch die Verleihung des AEO-Status eine zollrechtliche Entscheidung i.S.d. Art. 4 Nr. 5 ZK vor, nach der die Entscheidungsträger von AT, insbesondere die verantwortlichen Beauftragten, die zumutbare und gebotene Sorgfalt auch in diesem Zeitraum beachtet haben. Die Rechtskraft (in Deutschland Bestandskraft) dieser Entscheidung kann auch nicht mehr mit Hinweis auf die nunmehr geäußerten Verdächtigungen des Zollamts durchbrochen werden. Dafür kämen ausschließlich Art. 8 und 9 ZK in Betracht. Art. 8 ZK – Rücknahme von rechtswidrigen Entscheidungen – scheidet schon deshalb von vorneherein aus, weil AT den ganzen prüfungsrelevanten Sachverhalt offengelegt und das Zollamt in keiner Weise getäuscht hat. Ob ein Widerruf nach Art. 9 ZK in Betracht kommen könnte, kann dahinstehen, weil ein solcher Widerruf nur ex nunc, also nur für die Zukunft wirken könnte. Die angeblichen und dazu im Widerspruch stehenden Feststellungen des Zollamts im Prüfbericht sind also schon im Ansatz nicht geeignet, den Entscheidungsträgern von AT, insbesondere den verantwortlichen Beauftragten, ein vorsätzliches oder fahrlässiges Fehlverhalten vorzuwerfen. Mit dem AEOF-Zertifikat ist also rechtsverbindlich, auch für den hier verfahrensgegenständlichen Zeitraum festgestellt, dass AT ein dem Gesetz entsprechendes IKS etabliert hatte. Infolgedessen haben sich die Entscheidungsträger von AT einwandfrei verhalten, weil sie damit im Einklang handelten. Im Zollrecht ist anerkannt49, dass die Verleihung des AEO-Zertifikats ein Organisationsverschulden ausschließt. Nichts anderes kann aus den dargelegten Gründen im Außenwirtschaftsrecht gelten, weil die gesamte Organisationsstruktur des (späteren) AEO einer intensiven Prüfung unterzogen und für gut befunden worden ist. Selbst im Rahmen des im Oktober 2015 durchgeführten AEO-Monitorings ist das ICP von AT unbeanstandet geblieben, obwohl das Zollamt sogar bereits im Zeitpunkt der Erteilung des AEOF-Zertifikats am 24.5.2013 den im Prüfbericht manifestierten strafrechtlichen Verdacht hegte. Auch diese Erkenntnis untermauert, dass das Zollamt mit der Verleihung des AEO-­ Status eine insgesamt zufriedenstellende innerbetriebliche Exportkontrolle bei AT „abgesegnet“ hat. Dieses „O.k.“ kann nunmehr, wie dargelegt, im verfahrensgegenständlichen Zeitraum nicht mehr rückgängig gemacht werden. cc) Allgemeines zur Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabs Welche Vorkehrungen im Einzelnen zu veranlassen sind50, damit der Entscheidungsträger mit der gebotenen und zumutbaren Sorgfalt handelt, 49 Vgl. nur Witte (Fn. 2), ZK, Art. 204 Rz. 42. 50 Vgl. RV BlgNr 994 XXII GP 23 – die dortigen Ausführungen zu § 3 Abs. 3 VbVG sind auf den Fall des § 3 Abs. 2 VbVG übertragbar; vgl. auch das BAFA-Merkblatt ICP unter II.2: Es gibt kein „Muster“-ICP.

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„kann abstrakt nicht beantwortet werden; dies wird im Einzelfall je nach Größe und Struktur des Verbandes, den von dessen Tätigkeiten ausgehenden Gefahren, dem Ausbildungsstand und der Verlässlichkeit der Mitarbeiter usw. festzustellen sein. Maßstab für die gebotene Sorgfalt kann – wie auch sonst bei der Feststellung objektiver Sorgfaltswidrigkeit, zu deren Umschreibung hier die Formulierung ‚nach den Umständen gebotene Sorgfalt außer Acht lassen‘ aus § 6 Abs. 1 StGB übernommen wurde – eine Rechtsnorm, eine Verkehrsnorm oder (in deren Ermangelung) das hypothetische Verhalten eines ‚mit den rechtlich geschützten Werten angemessen verbundenen, besonnenen und einsichtigen Menschen‘ (RV zum StGB, 30 BlgNR XIII.GP 68) sein (vgl. Burgstaller, WK2 § 6 Rz. 38, 42 ff.; Fuchs, AT I6, 12. Kap., Rz. 12 ff.). Die vorgeschlagene Regelung knüpft daher – wie der Fahrlässigkeitsbegriff im Individualstrafrecht – an bestehende Normen an und will keine zusätzlichen schaffen.“ Zudem darf vom Entscheidungsträger nichts verlangt werden, was unmöglich, nicht geboten oder nicht zumutbar ist51: „Das Kriterium der ‚gebotenen Sorgfalt‘ beinhaltet, dass Maßnahmen überhaupt möglich sind. Sind die Maßnahmen nicht möglich, nicht geboten oder nicht zumutbar, so ist der Verband von der Verantwortlichkeit frei. Durch das Attribut ‚wesentlich‘ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Nichtbefolgung bloßer Formalvorschriften noch keinen Sorgfaltsverstoß im Sinn der Bestimmung darstellt.“ Maßstab für ein den Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 3 Z. 2 VbVG entsprechendes Verhalten sind die §§ 37 AußHG 2005 bzw. 79 AußWG 2011 sowie die §§ 26 AußHG 2005 bzw. 49, 50 AußWG. Um ex ante feststellen zu können, ob eine Unternehmensorganisation zu einem bestimmten Zeitpunkt den regulatorischen Anforderungen entsprach und die Entscheidungsträger den Sorgfaltsanforderungen nach den außenhandelsrechtlichen bzw. außenwirtschaftsrechtlichen Bestimmungen nachkamen, ist zunächst die zum betreffenden Zeitpunkt geltende Rechtslage unter Berücksichtigung einschlägiger Sekundärquellen aus Rechtsprechung, Exekutive und Literatur zu definieren. Hieraus sind die Sorgfaltsanforderungen abzuleiten. Der entsprechende Befund ist sodann mit den von den Entscheidungsträgern veranlassten Maßnahmen abzugleichen. Jedenfalls dann, wenn die veranlassten Maßnahmen den Anforderungen an die Sorgfaltspflicht entsprachen, handelten die Entscheidungsträger mit der zumutbaren und gebotenen Sorgfalt (wie sodann ausgeführt). dd) Zur Abfertigungspraxis des Zollamts Wie bereits ausgeführt, begann am 10.12.2012 die Außenprüfung der AT durch das Zollamt. Damit waren dem Zollamt die verfahrensgegenständlichen und nach seiner Auffassung gegen das AußWG 2011 verstoßenden Ausfuhren bekannt. Dennoch fertigte es weiterhin die Ausfuhren gleicher oder ähnlicher Waren beanstandungslos ab, obwohl es nach Art. 73 Abs. 1 ZK (= Art. 194 Abs. 1 UZK) i. V. m. Art. 58 Abs. 2 ZK 51 Vgl. Fn. 50.

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(= Art. Art. 134 Abs. 1 UZK) i. V. m. § 29 ZollR-DG verpflichtet gewesen wäre, die verfahrensgegenständlichen Waren nicht zur Ausfuhr zu überlassen. Außenwirtschaftsrechtliche Genehmigungserfordernisse sind Verbote und Beschränkungen (VuB) i. S. d. Art. 58 Abs. 2 ZK52, deren Einhaltung im zollrechtlichen Ausfuhrverfahren durch die Zollverwaltung sicherzustellen ist. Liegt ein Verstoß gegen VuB vor, darf die Zollanmeldung, hier die Ausfuhranmeldung gemäß Art. 63 ZK (= Art. 172 Abs. 1 UZK), nicht angenommen werden.53 Sodann besteht nach der Rechtsprechung des EuGH54 gemäß Art. 78 ZK (= Art. 173 UZK) die Verpflichtung der Zollbehörde, eine VuB-widrige Ausfuhranmeldung für ungültig zu erklären oder, so der BFH55, die Annahme der Zollanmeldung nach Art. 8 ZK zurückzunehmen. Vom Standpunkt des Zollamts aus, das ab dem 10.12.2012 mit der außenwirtschaftsrechtlichen Außenprüfung begann, hätte die Annahme der Ausfuhranmeldungen in Bezug auf die vermeintlich genehmigungspflichtigen Waren nach Art. 58 Abs. 2 i.V.m. Art. 63 ZK abgelehnt bzw. insoweit angenommene Ausfuhranmeldungen nach Art. 78 ZK für ungültig erklärt oder zurückgenommen werden müssen. Da AT darauf vertrauen darf, dass das Zollamt sich rechtmäßig verhält und seine Verpflichtungen nach dem Zollkodex einhält, durfte es trotz der im Rahmen der Prüfung geäußerten Bedenken von der Zulässigkeit der streitgegenständlichen Ausfuhren ausgehen; denn offenbar waren diese Bedenken nicht stichhaltig genug, sonst hätte das Zollamt nach der dargestellten Rechtslage verfahren müssen. Das Zollamt ist eine rechtliche Einheit mit unterschiedlichen Stellen. Sollten die Außenprüfer ihre Bedenken der Abfertigungsstelle nicht mitgeteilt haben, ist das ein Organisationsmangel, den das Zollamt zu verantworten hat, nicht aber AT. Es geht hier also nicht darum, ob die außenwirtschaftsrechtlichen Genehmigungserfordernisse im elektronischen Ausfuhrverfahren e-Zoll56 normalerweise tatsächlich geprüft werden. Hier geht es vielmehr darum, dass das Zollamt von einem möglichen Verstoß gegen VuB ausging und dennoch keine Maßnahmen ergriff. Diese Rechtslage bedeutet im vorliegenden Zusammenhang: Zwar ist es Sache des Ausführers, erforderliche außenwirtschaftsrechtliche Genehmigungen einzuholen und diese nach Art. 62 Abs. 2 ZK (= Art. 163 Abs. 1 UZK) der Ausfuhranmeldung beizufügen, die eine Zollanmeldung i.S.d. Art. 4 Nr.  17 ZK (= Art. 5 Nr. 12 UZK) ist. Ist aber der Ausfuhr ein förmliches Genehmigungsverfahren vorgeschaltet, wie das bei DUV-Gütern der Fall ist, liegt ein sog. relatives Ausfuhrverbot i.S.d. Art. 58 Abs. 2 ZK vor. Dieses hat die Ausfuhrzollstelle des Zollamts zu prüfen, die über die Zulässigkeit der Ausfuhr zu befinden hat. Ausfuhrzollstelle ist nach Art. 4 Nr. 4c ZK (= Art. 1 Nr. 16 UZK-DA): 52 Vgl. etwa Schulmeister in Witte (Fn. 2), ZK, Art. 79 Rz. 9. 53 Vgl. Schulmeister (Fn. 52); Henke/Rinnert in Witte (Fn. 2), ZK, Art. 58 Rz. 10. 54 Urteil v. 10.12.2015 – C-427/14. 55 Urteil v. 21.7.2009 – VII R 2/08. 56 In Deutschland ATLAS.

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„Ausfuhrzollstelle: die von den Zollbehörden gemäß den Zollvorschriften bezeichnete Zollstelle, bei der die Förmlichkeiten, einschließlich angemessener Kontrollen auf der Basis einer Risikoanalyse, durchzuführen sind, damit die das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassenden Waren eine zollrechtliche Bestimmung erhalten.“ Das Zollamt war also im Rahmen des zollrechtlichen Ausfuhrverfahrens verpflichtet, die verfahrensgegenständlichen Güter nicht zur Ausfuhr zu überlassen und dabei auf die nach seiner Ansicht bestehende außenwirtschaftsrechtliche Genehmigungspflicht hinzuweisen.57 Aus diesen wiederholt gravierenden Verstößen gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung58 lassen sich verschiedene (ggf. sogar außenwirtschaftsstrafrechtliche) Folgerungen ziehen. Eine Schlussfolgerung liegt aber auf der Hand: Die auch während der Außenprüfung weiterhin betriebene Abfertigungspraxis des Zollamts bestätigte AT in ihrer Einschätzung, dass ihre innerbetriebliche Exportkontrolle in Ordnung ist; sonst hätte das Zollamt die Ausfuhr der zu diesem Zeitpunkt als verdächtig eingestuften Güter gestoppt, jedenfalls aber stoppen müssen. AT durfte indes darauf vertrauen, dass sich das Zollamt rechtmäßig verhält und deshalb auch seine Verpflichtungen aus Art. 73 Abs. 1 ZK i. V. m. § 29 ZollR-DG einhält. Ist dem aber so, durfte AT davon ausgehen, gegen keine außenwirtschaftsrechtlichen Genehmigungserfordernisse verstoßen zu haben. Insoweit begründet der Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung auch Vertrauensschutz.59 ee) Nicht vorwerfbarer Rechtsirrtum der Entscheidungsträger Die Entscheidungsträger haben – das Vorliegen aller sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen hier einmal hypothetisch unterstellt – nicht schuldhaft gehandelt, weil in ihrer Person ein nicht vorwerfbarer Rechtsirrtum gemäß § 9 Abs. 1 und 2 (österreichisches) StGB vorliegt.60 Nach § 9 Abs. 2 StGB ist der Rechtsirrtum dann vorzuwerfen, wenn das Unrecht für den Täter wie für jedermann leicht erkennbar war oder wenn sich der Täter mit den einschlägigen Vorschriften nicht bekannt gemacht hat, obwohl er seinem Beruf, seiner Beschäftigung oder sonst den Umständen nach dazu verpflichtet gewesen wäre. Hierzu stellt das AEO-Zertifikat verbindlich fest, dass die Entscheidungsträger sich sorgfältig verhalten haben. Diese Verbindlichkeit gilt nicht nur im Rahmen der Außenprüfung, sondern muss auch im Strafverfahren gelten. Das außenwirtschaftsrechtliche 57 Diese Rechtslage widerspiegelt übrigens auch die österreichische BMF-Richtlinie AH-3100 i.d.F. v. 1.9.2009. 58 Vgl. dazu Lux/Schrömbges, Zoll und Mehrwertsteuer – Praxisleitfaden unter Einschluss der Verbrauchsteuer, 2014, S. 196 f. m.w.N. zur Rechtsprechung. 59 Vgl. Lux/Schrömbges (Fn. 58). 60 Vgl. zum Tatbestandsirrtum und zum (vermeidbaren) Verbotsirrtum im Außenwirtschaftsrecht nach § 17 StGB instruktiv Ott, AW-Prax, 2017, 163.

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Strafrecht ist, ähnlich wie das Zoll- und Steuerstrafrecht, Blankettrecht, entscheidend ist der Verstoß gegen eine außenwirtschaftsrechtliche (oder zollrechtliche) Vorschrift. Mit anderen Worten, das AEO-Testat ist bindend auch im außenwirtschaftsrechtlichen Strafverfahren. Will man dem nicht folgen, so hat die AEO-Bewilligung jedenfalls aber die Qualität einer behördlichen Auskunft, die nach der Rechtsprechung und Literatur einen nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum begründet. Beim Zollamt handelt es sich um eine fachlich kompetente und objektive Stelle, die über die zur richtigen Beurteilung der rechtlichen Qualität des Täterverhaltens (hier in Form einer vermeintlichen Verletzung von exportkontrollrechtlichen Sorgfaltspflichten) erforderliche Sachkunde verfügt und von der eine objektive und allein von ihrer Sachkunde getragene Auskunft erwartet werden konnte.61 Dies gilt ohne Weiteres auch für den Bereich des Finanzstrafrechts: Eine unrichtige Rechtsauskunft des Finanzamts, an der sich der Abgabenpflichtige orientiert, führt jedenfalls zu einem entschuldbaren Rechtsirrtum und schließt damit selbst einen Fahrlässigkeitsvorwurf aus.62 Das muss sinngemäß auch für Auskünfte des Zollamts, hier in Form des AEO-­Zertifikats, gelten. Mit der AEO-Bewilligung hat das Zollamt klar zu erkennen gegeben, dass es das Verhalten der Entscheidungsträger von AT für ausfuhrrechtskonform und damit strafrechtlich für irrelevant hält. Selbst wenn also diese AEO-Bewilligung kein Feststellungsbescheid hinsichtlich des ICP sein sollte bzw. keine Bindungswirkung im Strafverfahren entfalten sollte, so läge darin aber jedenfalls eine (verbindliche) Auskunft des Zollamts, dass das von ihm geprüfte ICP den gesetzlichen Anforderungen genügt; diese Auskunft führt dazu, dass AT ein aktuelles Unrechtsbewusstsein nicht vorgeworfen werden kann – und zwar auch dann, wenn sie falsch gewesen sein sollte. Jede Ausfuhr beinhaltet zwei verbindliche Rechtsakte, zum einen die Prüfung der Zulässigkeit der Ausfuhr durch die Ausfuhrzollstelle (Annahme der Ausfuhranmeldung nach Art. 63 ZK, eine zollrechtliche Entscheidung nach Art. 4 Nr. 5 ZK) und zum anderen die Freigabe der Ausfuhr insbesondere auch im Hinblick auf VuB durch die Ausgangszollstelle (sog. Überlassung nach Art. 73 ZK, ebenfalls eine zollrechtliche Entscheidung nach Art. 4 Nr. 5 ZK). Nimmt man nun die AEO-Zertifizierung und die Außenprüfung des Zollamts hinzu, ist die Rechtslage hier in ihrer Gewichtung jedenfalls vergleichbar mit der Rechtsauskunft einer zuständigen und sachlich kompetenten Behörde, die im Falle ihrer Unrichtigkeit zur Entschuldung, hier der AT und ihrer Entscheidungsträger, führt.63 61 Vgl. OGH Ris-Justiz RS0089613; vgl. auch Steininger in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum StGB, § 9 Rz. 69,70 m.w.N. 62 Vgl. Seiler/Seiler, Kommentar zum FinStrG, § 9 Rz. 42 mit Hinweis auf VwGH v. 19.4.1988, 86/14/0049. 63 Vgl. Steininger in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Fn.  61), StGB, §  9 Rz. 75; i.d.S.  auch VwGH v. 13.12.2007, 2004/09/0063: „Die Erteilung einer (auch unrichtigen) Auskunft durch die für die Vollziehung eines Gesetzes zuständige Behörde, ein bestimmtes Verhalten sei nicht strafbar, stellt aber einen Schuldausschließungsgrund dar (vgl. z.B. die hg. Erkenntnisse vom

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ff) Zum Bestimmtheitsgrundsatz Das Bestimmtheitsgebot ist in Art. 18 B-VG64 und Art. 7 EMRK geregelt. Wegen der Intensität der Grundrechtseingriffe durch strafrechtliche Sanktionen sind die Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot besonders hoch. Der Bereich der Strafbarkeit muss – ebenso wie der der Straffreiheit – deshalb vorhersehbar sein. Das setzt voraus, dass die Strafgesetze möglichst eindeutig und bestimmt sind. Die Abgrenzung des erlaubten vom unerlaubten Verhalten muss nach dem Grundsatz nullum crimen sine lege so eindeutig sein, dass jeder berechtigte Zweifel des Normunterworfenen ausgeschlossen ist.65 Die Strafvorschriften müssen so klar gestaltet sein, dass es dem Einzelnen möglich ist, sein Verhalten am Gesetz zu orientieren. Es darf nicht die Aufgabe der Rechtsanwendung sein, im Wege der Auslegung eine fehlende Strafrechtsnorm zu supplieren.66 Die österreichische und deutsche Strafrechtsprechung hat diesbezüglich die Formel entwickelt, dass ein strafbarer Normverstoß nur dann anzunehmen ist, wenn er eindeutig gegeben und hierüber kein Zweifel möglich ist.67 Dabei dürfen die Bestimmtheitsanforderungen aber auch nicht überspannt werden; das gilt insbesondere im Nebenstrafrecht, das zur nachdrücklichen Ahndung von Verstößen gegen Normen des Verwaltungsrechts eingesetzt wird.68 Ist der Gesetzgeber aber in der Lage, die Wertentscheidung weiter zu konkretisieren, und unterlässt er dies, ist der Bestimmtheitsgrundsatz verletzt.69 Zweifellos hätte der Gesetzgeber die „Pflichten …, die den Verband treffen“ (§ 3 Abs. 1 VbVG) in dem AußWG 2011 hinsichtlich des ICP näher konkretisieren können und zur Begründung einer Strafbarkeit auch konkretisieren müssen; unsere Ausführungen zum AEO belegen dies. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die Implemen­tierung eines internen Kontrollsystems gerade nicht als Pflicht ausgestaltet hat, der Wortlaut des § 49 Abs. 2 AußWG 2011 ist insoweit eindeutig („Geeignete Maßnahmen im Sinne von Abs. 1 können jedenfalls sein: …“). Selbst wenn man mit der Staatsanwaltschaft meinen sollte, eine gesetzliche Aufzählung und die Konkretisierung von Sorgfaltspflichten im Rahmen von Fahrlässigkeitsdelikten im hier gegebenen Zusammenhang sei nicht erforderlich, dann würde Folgendes gelten: Mangels Rechts- und Verwaltungsvorschriften und einer Verkehrssitte 18. Mai 1994, Zl. 93/09/0176, und vom 19. November 2002, Zl. 2002/21/0096)“, S. 52, KVIII; vgl. ferner OGH v. 27.6.1985 – Z. 12 Os 55/85 m.w.N. 64 Für Deutschland vgl. Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 1 Rz. 1 ff. 65 VwSlg. 9671 A/1978; ähnlich VfSlg 11.218/1987; 11.132/1986. 66 VfGH v. 13.12.1991, G 280, 281/91, G 325/91, JBl 1992, 372. 67 Vgl. Kienapfel/Höpfel, AT14 Z 4 Rz.19 sowie Höpfel, WK2 § 1 Rz. 4 jeweils mit Nachweisen zur Rechtsprechung und Lehre; zur deutschen Rechtslage vgl. z.B. BGHSt 4, 32; BGH, NJW 1977, 1695; BGHSt 27, 320. 68 Vgl. Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2, Rz. 32, 33. 69 Vgl. Schönke/Schröder (Fn. 64), StGB, § 1 Rz. 20.

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in Österreich70 im maßgeblichen Zeitraum liegt die Ausgestaltung des ICP im Ermessen von AT. Dieses Ermessen hätte AT nur dann in strafbarer Weise fehlerhaft ausgeübt, wenn AT gar nicht tätig geworden wäre; das aber ist nicht der Fall. Keinesfalls entsprach es irgendeiner Übung, ein EDV-gestütztes internes Exportkontrollsystem einzurichten. Die gegenteilige Auffassung der Staatsanwaltschaft ist nicht nachvollziehbar. Weiters: Gestritten wird „auf einmal“ darüber, ob das ICP ausreichend war. Dabei hatte das Zollamt im Rahmen der AEO-Zertifizierung bescheinigt, dass AT das nach den gegebenen Umständen erforderliche Maß an Sorgfalt eingehalten hat. Allein dieser „Streit“ offenbart, dass das „Gesetz“ hier nicht bestimmt genug ist. Schließlich: Das Zollamt hat AT bei der AEO-Prüfung eine funktionsfähige Exportkontrolle bescheinigt, später bei der Betriebsprüfung vertrat es die gegenteilige Auffassung. Eine derart widersprüchliche Auffassung eines Zollamts kann nicht Grundlage eines strafbewehrten Vorwurfs sein, das würde den Bestimmtheitsgrundsatz elementar verletzen. gg) Ergebnis Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren eingestellt.

70 Für Deutschland gilt das nicht, vgl. nur das BAFA-Merkblatt ICP.

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Kultur – einige Gedanken Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Begriffsbestimmung: Ein- und Ausfuhr III. Unterschiedlicher Schutzzweck 1. Kulturgüterrecht, Provenienz und ­Ursprung 2. Abgabenrecht in der Einfuhr a) Liberalisierung des Handels durch Abkommen b) Zollfreiheit in der Einfuhr nach der ZBefrVO



c) Steuerermäßigte oder steuerfreie Einfuhr d) Zollrechtliche und umsatzsteuer­ liche Kulturgüter e) Betrugsbekämpfung in Österreich f) Folgen der Liberalisierung? 3. Warenverkehrsbeschränkungen

IV. Abschließende Würdigung

… Von Neapel fuhr ich wieder nach Rom, wo ich eine reizende Woche bei Lord Berners verlebte. Dann kehrte ich in die Schweiz zurück. Ich werde niemals das Abenteuer vergessen, das mir begegnete, als ich bei Chiasso die Grenze überschreiten wollte. Picasso hatte mir in Rom ein Portrait geschenkt, das er von mir gemacht hatte, und diese Zeichnung hatte ich mitgenommen. Als auf der militärischen Überwachungsstelle meine Koffer revidiert wurden, fiel den Beamten das Blatt in die Hände. Um nichts in der Welt wollten sie es durchlassen. Sie fragten mich, was es darstellte, und als ich ihnen sagte, dass es ein Porträt von mir sei, das ein sehr bedeutender Künstler gezeichnet habe, weigerten sie sich, das zu glauben. „Das ist kein Porträt, sondern ein Plan“, entgegnete man mir. „Gewiss“, erwiderte ich, „es ist der Plan meines Gesichts und weiter nichts.“ Es gelang mir jedoch nicht, die Herren zu überzeugen. Infolge dieses Streites verpasste ich den Schweizer Anschlusszug, und ich musste bis zum nächsten Tage in Chiasso bleiben. Es blieb mir nichts übrig, als das Porträt zu Händen von Lord Berners an die englische Botschaft in Rom zu schicken. Er übersandte es mir später von Paris aus mit Kurierpost unter diplomatischem Verschluss …1

I. Einleitung Der globale Kulturgüterhandel ist wirtschaftlich von herausragender Bedeutung. So betrug der weltweite Jahresumsatz 2015 nach Berechnungen der Tefaf (European Fine Art Foundation) insgesamt 63,4 Mrd. US-Dollar; auf Österreich entfiel ein Anteil von 1%, knapp 426 Mio..2 In der öffentlichen Wahrnehmung der letzten Jahre ist der Kul1 Stravinsky, Picasso und der Schweizer Zoll, Du: kulturelle Monatsschrift 1961, 74. 2 https://www.tefaf.com/about/art-market-report; s. auch http://derstandard.at/20000327333​ 24/Kunstmarkt-2015-Knapp-64-Milliarden-Dollar-Umsatz-weltweit (24.8.2017).

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turgüterhandel aber vor allem ein illegaler Markt: Nach Schätzungen von Interpol, UNESCO und UNODC3 beträgt der jährliche Umsatz am illegalen Kunsthandel zwischen 6 und 8 Mrd. Dollar; im Jahr 2000 betrug er noch 4,5 Mrd:4 Es soll sich nach Drogen um den zweitgrößten illegalen Markt handeln.5 Weil es sich aber bei Kulturgütern nicht schon dem Grunde nach um verbotene Waren handelt, wird der Verkauf auch nicht im Verborgenen, sondern in der Öffentlichkeit als „kultureller Schwarzmarkt“ abgewickelt.6 Auch nach Einschätzung der deutschen Zollverwaltung ist der illegale Handel mit Kulturgütern ein „echter Wirtschaftsfaktor“, weil der Handel enorm ansteigt.7 Kulturgüter- und Zollrecht sind Materien, die über die Ein- und Ausfuhr von Kulturgütern untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn hier von Kultur und Zoll die Rede sein soll, ist vorerst zu fragen, wie diese Materien verbunden sind. Um diese Verknüpfung sichtbar zu machen, ist darzustellen, was eine Ausfuhr im Kulturgüterrecht bestimmt und wie sie mit der darauffolgenden Einfuhr in einen anderen Staat verbunden ist. Bedauerlicher Weise gibt es jedoch weder eine einheitliche internationale Definition einer Ein- oder Ausfuhr noch eines Kulturguts.8 Die jeweiligen Rechtsquellen unterscheiden überdies zwischen Kultur- und Naturgütern; hier soll aber nur auf Güter abgestellt werden, die von Menschen geschaffen wurden und die bedeutsam sind. Die Schutzwürdigkeit eines Kulturguts lässt sich grob durch den Grad seines Wertes für Gesellschaften bestimmen, darin liegt die rechtserhebliche Bedeutung.9 Die Begriffe bleiben folglich nur einer autonomen Auslegung zugänglich.10 Die völkerrechtlichen Abkommen sowie europarechtlichen und nationalen Normen zum Schutze des Kulturguts sind freilich zahlreich11; für diesen Beitrag soll nur die so 3 United Nations Office on Drugs and Crime. 4 Ö1 Mittagsjournal v. 13.8.2015; Wessel, Das schmutzige Geschäft mit der Antike, 2015, S. 143; zu den Schätzungen s. auch Anton, Rechtshandbuch Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, S. 48. 5 Anton vermutet sogar 10 Mrd. Dollar; Anton (Fn. 4), S. 2, 50. 6 Chatelain, Mittel zur Bekämpfung des Diebstahls von Kunstwerken und ihres unerlaubten Handels im Europa der Neun, 1978, S. 23 ff; zit. von Anton (Fn. 4), S. 2. Zum europäischen Kunstmarkt in den 1990iger Jahren s. Reichelt, Europäischer Kunstmarkt, ÖJZ 1994, 339. 7 http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Verbote-Beschraenkungen/verbote-beschraenkun​ gen_node.html (22.8.2017); s. auch Anton (Fn. 4), S. 46. 8 Siehr, Die EU-Richtlinie 2014/60/EU vom 15.5.2014 zum Kulturgüterschutz und der Referentenentwurf vom 14.9.2015 für ein deutsches Gesetz zur Neuregelung des Kulturgutschutzrechts, Bulletin Kunst & Recht 2/2015, 1 (10). 9 Zum Wert von Kulturgütern s. z.B. Krischok, Der rechtliche Schutz des Wertes archäologischer Kulturgüter, 2015, S. 21 ff. 10 Bieczyński, Der Kunstbegriff im Schrifttum und in der Rechtsprechung des BVerfG – Analyse der Meilensteine, KUR 6/2011, 188; Brunbauer, Aktuelle Rechtsprechung zum weiten Kulturgutbegriff, Bulletin Kunst & Recht 2/2015, 45. 11 Z.B. Europäische Kulturabkommen (1954), öBGBl.1958/80; Europäisches Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes (London 1969, Valetta rev. 1992), öBGBl.III 2015/22; VO (EG) 116/2009 des Rates v. 18.12.2008 über die Ausfuhr von Kulturgütern, ABl. EG 2009 Nr. L 39, 1; VO (EU) 1081/2012 der Kommission v. 9.11.2012 zur Durchfüh-

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genannte Pariser Konvention von 1970 hervorgehoben werden.12 Dabei handelt es sich um ein Abkommen, das eine rechtswidrige Aus- und Einfuhr im Warenverkehr zwischen den Vertragsstaaten verhindern soll. Ein Abkommen, das in Deutschland 200713, in Österreich hingegen erst 2015 ratifiziert wurde.14 Bei Kulturgütern in der Ein- und Ausfuhr gelangen aber nicht nur Kulturgüterschutzund Zoll-, sondern auch Umsatzsteuer- und Sanktionsrecht zur Anwendung.

II. Begriffsbestimmung: Ein- und Ausfuhr Wenn in Abkommen zum Kulturgüterrecht auf Ausfuhren abgestellt wird, so ist – soweit ersichtlich  – das bloße körperliche Überschreiten der jeweiligen Staatsgrenze gemeint. In der Regel soll ein Verbringen, das heißt ein Verlassen desjenigen Staatsgebietes verhindert werden, zu dem eine kulturelle Bindung besteht. Zum Schutze des nationalen Kulturguts soll die Ausfuhr beschränkt werden, etwa durch vorhergehende Anzeige-, Melde-, Eintragungspflichten oder Erwirkung von Bewilligungen.15 Spiegelbildlich gilt das auch für die Einfuhr. Während das Kulturgüterrecht an die bloße Überschreitung von Staatsgrenzen anknüpft, kommt es aus umsatzsteuerlicher Sicht wegen Art. 30 MwStSystRL nach österreichischer Auffassung in der Einfuhr auf das Gelangen eines Gegenstandes in das Inland an (§ 1 Abs. 1 Z 3 öUStG)16, nach deutscher Ansicht hingegen auf eine Einfuhr im Inland (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 dUStG)17. Auch wenn der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Z 3 öUStG Gegenteiliges vermuten lässt, ist für eine steuerliche Einfuhr in Österreich nach der h.L. und Rsp. nicht nur eine Warenbewegung über eine Grenze erforder-

rung der VO (EG) 116/2009 des Rates über die Ausfuhr von Kulturgütern, ABl. EU 2012 Nr. L 324, 1; s. umfassende Auflistung in Odendahl (Hrsg.), Kulturgüterrecht, 2006. Zu den nationalen Kulturgüterschutzrechten s. http://www.unesco.org/culture/natlaws/ (17.8.2017). 12 Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut v 14.11.1970, BT-Drucks. VI/3511, S. 3 ff. 13 BGBl. 2007 II S. 626; umgesetzt durch das Gesetz zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens v. 14.11.1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut und zur Umsetzung der Richtlinie 93/7/EWG des Rates vom 15. März 1993 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten Kulturgütern (Kulturgüterrückgabegesetz KultGüRückG), BGBl. I S. 757, 2547 (Nr. 21). 14 ÖBGBl.III 2015/139; umgesetzt durch das Bundesgesetz über die Rückgabe unrechtmäßig verbrachter Kulturgüter (Kulturgüterrückgabegesetz – KGRG), öBGBl. I 2016/119; s auch Cornu, Implementation of the 1970 UNESCO Convention in Europe, 2012. 15 Es soll ein „Abwandern“ verhindert werden; s. Schnelle, Der Abwanderungsschutz von Kulturgütern im Lichte der Freihandelsordnungen von AEUV und GATT, 2015, S. 93 ff. 16 Bieber, Der Einfuhrbergriff im Zoll-, Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerrecht in Achatz/ Tumpel/Summersberger (Hrsg.), Umsatzsteuer und Zoll, 2013, S. 33, 44 ff. 17 Oelmaier in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuergesetz, § 1 UStG Rz. 154 (80. EL Juni 2017); Robisch in Bunjes, Umsatzsteuergesetz, 16. Aufl. 2017, § 1 UStG Rz. 157.

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lich,18 sondern auch eine zollrechtliche Überlassung, um einen – ordnungsgemäßen – Einfuhrvorgang im Sinne des UStG zu verwirklichen.19 Dem Zollrecht hingegen ist eine Legaldefinition der Einfuhr gänzlich fremd20; das bloße Überschreiten einer Grenze ist zollrechtlich betrachtet keine Einfuhr. I.d.R. kommt es auf die Überlassung zum freien Verkehr an (Art. 201 UZK);21 Einfuhrabgaben werden auf verwirklichte Einfuhren erhoben (Art. 5 Nr. 20 UZK). Sohin besteht eine Übereinstimmung mit dem umsatzsteuerlichen Einfuhrumsatz, wenn man rechtswidrig verbrachte Gegenstände nicht in Betracht zieht.22 Trotzdem verwendete der historische Zollrechtsetzer auch im Zollrecht immer wieder den Begriff einer Einfuhr und meinte damit das Überschreiten, das körperliche Verbringen über eine Grenze, ohne dass dies im heutigen abgabenrechtlichen Sinne schon einer zollbaren Einfuhr gleichkommt; eine veraltete Sichtweise freilich.23 Erst in jüngerer Zeit unterscheidet er zwischen dem Eingang, also dem bloße Überschreiten einer Grenze, und der Einfuhr einer Ware durch „Verzollung“.24 Schon 1917 hat Lamp diese – historisch zu verstehende – „Doppeldeutigkeit“ des zollrechtlichen Begriffs der Einfuhr in den Blick genommen, wenn er betonte, dass dies zweierlei bedeuten könne: das Überschreiten einer Grenze oder das Eingehen in einen Wirtschaftskreislauf i.Z.m. der Besteuerung.25 Vorgelagert ist einer zoll- und steuerlichen Einfuhr – im Gegensatz zum Kulturgüterschutzrecht – nicht das Überschreiten einer Staats-, sondern einer Zollgrenze, auch wenn beide Grenzen häufig ident sind. Diese Doppeldeutigkeit des Einfuhrbegriffes im Zollrecht, auf die Lamp verwies, erhellt sich heute neuerlich im Verhältnis zwischen Kulturgüterschutz- und Zollrecht. Aus steuerlicher Sicht bedeutet freilich der Verkauf und die Lieferung eines Gegenstandes z.B. zwischen Unternehmern aus Österreich und Deutschland weder eine 18 VwGH v. 11.2.1982 – 81/16/0157. 19 Ruppe/Achatz, Umsatzsteuergesetz: Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 1 UStG Rz. 443; VwGH v. 1.12.1987  – 87/16/0043; UStR 2000 Rz.  102; VwGH v. 10.7.2008  – 2007/16/0025; Summersberger, Doppelbesteuerung durch zweimalige Vorschreibung der Umsatzsteuer?, AWPrax 2009, 272; zum steuerlichen Einfuhrbegriff s. auch VfGH v. 10.1.1987 – B 1260/86 und jüngst BFG v. 12.7.2017 – RV/5200065/2014. 20 S. schon Summersberger, Die Einfuhrumsatzsteuer – Bedeutung und Wesen in Achatz et al (Hrsg.), S.  19 zur Rechtslage vor dem 1.5.2016. An diesem Umstand hat auch der UZK nichts geändert. 21 Witte/Henke/Kammerzell, Der Unionszollkodex, 3. Aufl. 2017, S. 184. 22 S. dazu Bieber, Zum Verhältnis zwischen Einfuhrumsatzsteuerschuldentstehung und Einfuhrzollschuldentstehung, taxlex 2017, 237; Pistotnig, Entstehen Zollschuld und Einfuhrumsatzsteuerschuld immer gleichzeitig?, BFGjournal 2016, 365 zu BFG v. 28. 9. 2016 – RV/5200013/2015. 23 Summersberger, Gibt es eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Zoll- und Einfuhrumsatzsteuerrecht?, in FS Tanzer, 2014, S. 279, 285. 24 S. die Definitionen einer Einfuhr- und einer Eingangszollstelle in Art. 4 Nr. 4a und 4b ZK (alt). Diese Definitionen sind dem UZK zwar fremd, eine Unterscheidung dieser beiden Arten lässt sich aber dem Rechtstext ebenfalls entnehmen (s. z.B. Art. 127 Abs. 3 und 133 Abs. 1 UZK). 25 Lamp, Die Theorie des deutschen Zollrechts und der Entwurf einer neuen österreichischen Zollordnung, 1917, S. 57.

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Ausfuhr aus Österreich noch eine Einfuhr in Deutschland, sondern eine inner­ gemeinschaftliche Lieferung26 bzw. einen Erwerb. Nach kulturgüterschutzrechtlichen Bestimmungen hingegen wird ein Gegenstand ausgeführt, wenn er das Staatsgebiet des jeweiligen Bindungsstaates verlässt: Der Realakt des Verbringens über die Staatsgrenze ist rechtserheblich, unabhängig davon, ob die Verbringung innerhalb der Union oder in Drittstaaten erfolgt.27 Auch wenn es sich bei Kulturgütern um sensible Waren handelt, bleiben sie Gegenstände des Handelsverkehrs, auf die Unionsrecht anwendbar ist.28 Der Begriffsgehalt der zollrechtlichen Ausfuhr in der Form, dass es darauf ankommt, dass eine Ware das Zollgebiet der Union körperlich verlässt, ist mit den umsatzsteuerlichen und kulturgüterschutzrechtlichen Normen deckungsgleich: Ein Verkauf nach Mexiko wäre z.B. nach allen Materien eine Ausfuhr, weil der Gegenstand aus der EU in einen Drittstaat gelangt, nur der Zeitpunkt der Vollendung unterscheidet sich. Zoll- und umsatzsteuerlich ist die Ausfuhr mit Überschreiten der ­Außengrenze vollendet,29 die kulturgüterrechtliche Ausfuhr hingegen schon mit Verlassen des Staatsgebietes.30

III. Unterschiedlicher Schutzzweck 1. Kulturgüterrecht, Provenienz und Ursprung Das Ziel aller kulturgüterschutzrechtlichen Normen und besonders der Pariser Konvention ist es, die territoriale Bindung von Kulturgütern, ihre „besondere Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gebiet“31, zu erhalten.32 Wie diese territoriale Bindung (Provenienz) belegt werden kann, ist Gegenstand entsprechender Auseinandersetzungen in der Literatur; es ist die Nationalität von Kulturgut, an die kulturgüterschutzrechtliche Normen anknüpfen.33 Tatsächlich ist es aber häufig nicht möglich – im Gegensatz zu Waren im Sinne der zollrechtlichen Ursprungsregeln  – diese nationale Zuordnung mit entsprechender Gewissheit festzustellen.34 Vor allem bei 26 Aus zollrechtlicher Sicht ist diese Verbringung ohnehin bedeutungslos, sofern es sich um Unionswaren handelt. 27 §  16 Abs.  1 öDMSG; s. Fuchs, Denkmalschutzrecht in Bachmann/Baumgartner/Feik/ Fuchs/Giese/Jahnel/Lienbacher (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 2016, S. 429, 445 ff. 28 EuGH v. 10.12.1968 – Rs 7/68 – Kommission/Italien, ZfZ 1969, 364. 29 Zu den Erscheinungsformen der Ausfuhr s. Summersberger (Hrsg.), Die Ausfuhr im Abgaben-, Finanzstraf- und Außenwirtschaftsrecht, 2017. 30 Zur vorübergehenden Ausfuhr s. Pieler/Reis, Die Leihe von Kulturgut nach der österreichischen Rechtsordnung, KUR 2/2007, 37, 40. 31 Engstler, Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts, 1962, S. 13. 32 Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005, S. 434. 33 Krit. Lenski, Der uneingestandene Nationalismus des deutschen Kulturgüterschutzes, DÖV 2015, 677. 34 „Gehört ein von einem Chinesen in den USA zu einem aztekischen Symbol bearbeiteter Bernstein nach China, in die USA, nach Mexiko oder an die Samlanddküste?“ Beispiel nach Gornig, Haftung von Staaten für die Zerstörung und Verschleppung von Kulturgütern in

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historischen Kulturgütern, so genannten „Antiken“, kann eine eindeutige Zuordnung scheitern, wenn ein Kulturgut zu mehreren Kulturkreisen Bindungen aufweist. Es können auch Staaten, zu denen kulturellen Bindungen bestehen, zerfallen; die Rechtsnachfolge kann strittig sein.35 Aus diesen Gründen werden verschiedene Provenienztheorien vertreten,36 unionsrechtlich wird hingegen auf ein reines Territorialitätsprinzip abgestellt.37 Ist die Provenienz geklärt und werden gestohlene Waren illegal aus- und nachfolgend in einen anderen Staat eingeführt, hat der rechtmäßige Eigentümer einen Rückgabeanspruch (UNIDROIT-Abkommen).38 In der Pariser Konvention hingegen wird der konkrete Akt der Warenbewegung über eine Grenze in öffentlich-rechtlicher Einordnung betont. Freilich bleibt es erforderlich, dass das Kulturgut auch von entsprechendem Wert ist, d.h. „archäologischer Müll“ ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert unterliegt keinerlei Beschränkungen, weil er nicht schutzwürdig ist.39 Die zollrechtliche Herkunft, d.h. der präferenzrechtliche oder nichtpräferenzrechtliche Ursprung einer zollrechtlichen Ware ist in Art. 59 ff. UZK legal definiert.40 Ein Ursprungsbefund kann von einem mit dem Zollrecht vertrauten Rechtsanwender in der Regel ohne sachverständigen Beweis bestimmt werden, sofern alle entsprechenden Informationen vorhanden sind.41 Bei der Provenienz hingegen bedarf es der Unterstützung durch Expertisen; es gibt aber auch Kulturgüter ungeklärter Herkunft. 42 Die Provenienz und der zollrechtliche Ursprung sind jedenfalls nicht deckungsgleich. Der Präferenzursprung bestimmt den Zollsatz eines Kulturgutes nur, wenn die Ware nicht ohnehin als „Kunstgegenstand, Sammlungsstück oder Antiquität“ des Kapitels 97 ex Tarif („Kombinierte Nomenklatur“ – KN) zollfrei ist. Andere Kunstgegenstände wie z.B. geknüpfte Teppiche, Tapisserien, Schmuck, Gold- und Silberschmiedearbeiten, Uhren, Möbel u.Ä. sind in eine Reihe anderer Tarifpositionen (TP) einzureihen

Mammitzsch/Föllinger/Froning/Gornig/Jungraithmayr (Hrsg.), Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft. Universitas litterarum nach 1968, S. 55, 59. 35 Streinz, Kulturgüter und Staatensukzession in Streinz (Hrsg.), Handbuch des Museumsrechts 4: Internationaler Schutz von Museumsgut, 1998, S. 161 ff. 36 Odendahl (Fn. 32), S. 409; Franke, Die Nationalität von Kunstwerken, 2012, S. 101 ff. 37 VO (EG) 116/2009 des Rates v. 18.12.2008 über die Ausfuhr von Kulturgütern, ABl. EG 2009 Nr. L 39, 1; VO (EU) 1081/2012 der Kommission v. 9.11.2012 zur Durchführung der VO (EG) 116/2009 des Rates über die Ausfuhr von Kulturgütern, ABl. EU 2012 Nr. L 324, 1. 38 UNIDROIT Konvention über gestohlene oder rechtswidrig ausgeführte Kulturgüter vom 24.6.1995; s. http://www.uni.d.R.oit.org/english/conventions/1995culturalproperty/1995​ culturalproperty-e.pdf (17.8.2017) als zivilrechtliche Ergänzung der Pariser Konvention; s. Faria, UNESCO, Unidroit und Kulturgüterschutz, Bulletin Kunst & Recht 2/2014, 5 (11); zur Verhinderung illegaler Ausfuhren s. Odendahl, Das zwischenstaatliche Komitee zur Förderung der Rückgabe von Kulturgut an die Ursprungsländer oder dessen Restitution im Falle eines illegalen Erwerbs (UNESCO Rückgabe Komitee), KUR 3-4/2015, 83 (84). 39 Schwarze, Der Schutz des nationalen Kulturguts im europäischen Binnenmarkt, JZ 3/1994, S. 111 (116) Fn. 52. 40 Witte/Henke/Kammerzell (Fn. 21), S. 87 ff. 41 S. aber z.B. EuGH v. 23.10.2014 – C-437/13 – Unitrading, ECLI:EU:C:2014:2318 Rz. 6. 42 Müller-Karpe, Antikenhandel./.Kulturgüterschutz, KUR 3/4 2010, 91.

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und aus diesem Grund auch zollpflichtig.43 Sie können präferenzbegünstigt eingeführt werden, sofern der Ursprung nachgewiesen werden kann. 2. Abgabenrecht in der Einfuhr a) Liberalisierung des Handels durch Abkommen Die Einfuhr von Kulturgütern ist frei von Hemmnissen jeglicher Art.44 Diese Freiheit ist in den Anfängen dem Völkerbund45, später den Bemühungen der UNO (UNESCO) zu verdanken, da erkannt wurde, dass die Regelungen in den einzelnen Staaten nicht nur komplex, sondern auch gänzlich unterschiedlich ausgestaltet waren.46 Erreicht werden sollte die Freiheit des Warenverkehrs durch Abkommen, die den Abbau von tarifären und nichttarifären Hemmnissen zum Ziel hatten und die heute noch in Geltung stehen: Der erste Schritt war das Abkommen von Beirut 1948.47 Es dient dem Zweck, eine „Freistellung“ von Einfuhrzöllen, mengenmäßigen Beschränkungen und Einfuhrbewilligungen zu erreichen (Art. 1). Eine Begünstigung im Einfuhrstaat verlangt zwingend eine Bescheinigung des Ausfuhrstaates, dass der Gegenstand (optischer oder akustischer Art) über einen „erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakter“ i.S.d. Art. I verfügt; diese Bescheinigung ist vom Einfuhrstaat beim Import zu überprüfen (Art. IV Z 1 und 4). Bei Zweifeln ist der Einfuhrstaat verpflichtet, den Ausfuhrstaat mit dem Ziel zu konsultieren, eine Freistellung zu erreichen.48 Das Recht des Einfuhrstaates bleibt aber unberührt, Gegenstände in Übereinstimmungen

43 VwGH v. 20.6.1990 – 90/16/0055; VwGH v. 19.3.1997 – 96/16/0097. 44 Es gibt – neben der möglichen Einreihung außerhalb des Kapitels 97 – seit jüngerer Zeit eine Ausnahme, auf die an geeigneter Stelle eingegangen werden soll. 45 Die Bemühungen in der Zwischenkriegszeit zur Liberalisierung waren wenig erfolgreich und blieben auf Spielfilme sowie „Formen der Tonwiedergabe“ beschränkt; Kulturgüter im herkömmlichen Sinne waren noch nicht erfasst; s. Convention for Facilitating the International Circulation of Films of an Educational Character v. 11.10.1933; s Liebich, Kultur ohne Handelsschranken, 1972, S.  16. Dieses Abkommen begünstige „Lehrfilme“; Völkerbund. Schulfilm, Schweizerische Lehrerinnenzeitung, Band 34,1933 – 1934, Heft 8, S. 132; s. auch Druick, The Inter­national Educational Cinematograph Institute, reactionary modernism, and the formation of film studies, Canadian Journal of Film Studies Vol. 16, No. 1, 2007, S. 80 (89); https://www.uia.org/s/or/en/1100031712 (14.9.2017); zu den Aufgaben der Vorläuferorganisation der UNESCO i.Z.m. Abkommen s. Völkerbund: das internationale Institut für geistige Zusammenarbeit, 1927, 30. 46 UNESCO, Trade Barriers to Knowledge, 2. Aufl. 1955, S. 5 ff. Zu den österreichischen Normen s. S. 35-37. 47 Übereinkommen zur Erleichterung der internationalen Verbreitung von optischem und akustischem Material erzieherischen, wissenschaftlichen und kulturellen Charakters (Beiruter Abkommen) v. 10.12.1948; s. Liebich (Fn. 45), S. 105 ff. 48 Liebich (Fn.  45), S.  17, 18. Der Anwendungsbereich bleibt aber auf wenige Gegenstände beschränkt.

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mit den nationalen Gesetzen zu zensieren, oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Einfuhrverbote oder -beschränkungen auszusprechen (Art. V).49 Von größerer Bedeutung war das Abkommen von Florenz 1950,50 das drei wesentliche Ziele umsetzen sollte: Zum Ersten eine generelle Begünstigung von kulturellen Gegenständen („original works of creative art“), zum Zweiten einen Abbau von Zöllen und zum Dritten eine Bevorzugung von „amtlich zugelassenen Museen“ („accred­ ited“).51 Bei Gegenständen kulturellen Charakters, die in einer taxativen Liste genannt sind, ist auf die Erhebung von Zöllen zu verzichten und die Einfuhr ist auch sonst nicht zu belasten (Art. I); entsprechende Einfuhrbewilligungen sind zu erteilen (Art. II Z 2); verbindende Charakteristika worin der kulturelle Wert besteht, fehlen aber. Kultur­ güter, die nur vorübergehend, etwa zur Ausstellung „eingeführt“ werden, soll nach Art. III jede nur mögliche Einfuhrerleichterung gewährt werden. Das betrifft Bewilligungen in der Einfuhr ebenso, wie die „Befreiung von Zöllen sowie von den anläßlich der Einfuhr zu erhebenden inneren Abgaben und inneren Belastungen aller Art […]“. In Art. IV verpflichten sich die Staaten, gemeinsam den freien Austausch von Kulturgütern zu fördern, die Einfuhrverfahren durch Verwaltungsvereinfachungen zu liberalisieren und für eine rasche Zollabfertigung zu sorgen; Einschränkungen aus Gründen der nationalen Sicherheit, öffentlichen Sittlichkeit und Ordnung sind möglich (Art.  V). Die Abgabenfreiheit bleibt aber beschränkt auf diverse Gegenstände, wie z.B. Malereien, Lithographien, Zeichnungen, Originalwerke der Bildhauerei oder 100 Jahre alte Antiquitäten (Anlage B Z 1 bis 3 und 5). Wissenschaftliche Sammlungen und Sammlungsgegenstände sind zollfrei, wenn sie zu nicht kommerziellen Zwecken eingeführt werden (Anlage B Z 5), d.h. nicht für den Verkauf bestimmt sind. Für Galerien, Museen und ähnliche Einrichtungen greift die Zollfreiheit unter der Bedingung, dass die Gegenstände nicht verkauft werden (Anlage B Z 4). Ergänzt wurde das Abkommen von Florenz durch das Nairobi-Protokoll 197652, das einerseits Befreiungen auch in der Ausfuhr vorsieht (Art. III), andererseits im Anhang B weitere Gegenstände in den Anwendungsbereich des Abkommens von Florenz einbezieht. In der Präambel wurde als Ziel eine weitere Liberalisierung des Handels mit Kulturgütern genannt, auch wenn bereits auf die Pariser Konvention verwiesen wird.53

49 Übereinkommen zur Erleichterung der internationalen Verbreitung von optischem und akustischem Material erzieherischen, wissenschaftlichen und kulturellen Charakters (Beiruter Abkommen) v. 10.12.1948; mit Stand 2.9.1972 wurde das Übereinkommen von 38 Staaten unterzeichnet, zuletzt Montenegro (2006); s. http://www.unesco.org/eri/la/convention. asp?KO=12064&language=E (28.8.2017). 50 Abkommen über die Einfuhr von Gegenständen erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters v. 22.11.1950, öBGBl.1958/180. 51 Barriers to the Import and Export of Educational, Scientific and Cultural Material v. 8.3.1949, GATT/CP/12. 52 ÖBGBl.1994/804; Odendahl (Fn. 32), S. 137; zum Text s. Odendahl (Fn. 11), S. 36 ff. 53 Mit Stand 2.9.2017 gibt es 102 Vertragsstaaten; zuletzt Mali (2014); s. http://www.unesco. org/eri/la/convention.asp?KO=12074&language=E (2.9.2017).

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Das Abkommen von Florenz beschränkt sich nicht auf eine Zollfreiheit, sondern verlangt eine Freistellung von anderen Belastungen wie z.B. der EUSt.54 In der Folge wurden Begünstigungen für nur vorübergehend eingeführte Güter (ohne Entrichtung von Einfuhrabgaben) geschaffen, die aber nicht Gegenstand dieses Beitrags sein sollen (Carnet A.T.A Verfahren).55 b) Zollfreiheit in der Einfuhr nach der ZBefrVO Das Unionsrecht folgt dem Aufbau des Abkommens von Florenz in Art. 42 ff. ZBefrVO56 (Befreiungen für erzieherische, wissenschaftliche oder kulturelle Zwecke). Unabhängig vom Verwendungszweck oder Empfänger sind nach Art. 42 ZBefrVO Gegenstände des Anhangs I zollbefreit. Das betrifft Bücher, Veröffentlichungen und Dokumente (Anhang I A), eine steuerbefreite Einfuhr wird aber nicht gewährt (§ 6 Abs. 4 Z 4 lit. g UStG 1994).57 Bild- und Tonmaterial erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters (Anhang I B) ist zollbefreit, wenn es entweder von den Vereinten Nationen oder von einer ihrer Sonderorganisationen hergestellt wurde und überdies in der Liste zu Anhang II A erfasst ist;58 die Einfuhr ist überdies steuerfrei (§ 6 Abs. 4 Z 4 lit. g UStG 1994). Die Gegenstände des Anhangs II („Bild- und Tonmaterial, Sammlungsstücke und Kunstgegenstände erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters“) sind i.S.d. Art. 43 ZBefrVO zollbefreit, wenn sie durch „öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen und Anstalten erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters“ i.S.d. Art. 43 lit. a ZBefrVO eingeführt werden; es kommt sohin auf die Gemeinnützigkeit i.S.d. BAO an.59 Darunter fallen öffentlich-rechtliche Anstalten wie der ORF oder entsprechende Museen, wenn sie durch einen gemeinnützigen Rechtsträger geführt werden (§§  34  ff.) BAO.60 Andere Einrichtungen wie private Fernsehanstalten, Museen oder Galerien bedürfen nach Art. 43 lit. b ZBefrVO einer behördlichen Ermächtigung zum steuerfreien Bezug und unterliegen einer Verwendungsbeschränkung.61 Die zollfreie Einfuhr muss für den Staat beantragt werden, in

54 S. schon § 31 Abs. 3 ZollG i.d.F BGBl.1992/463, ErläutRV 533 BlgNR 18.GP 36; VfGH v. 27.11.1995 – B361/94; VwGH v. 29.6.1996 – 95/16/0227. 55 Zollabkommen über das Carnet A.T.A. für die vorübergehende Einfuhr von Waren (A.T.A. Abkommen 1961), öBGBl.1963/239; zur Bedeutung für den Kulturgüterverkehr s. Weis, Kunst über die Grenzen, KUR 1/2006, 13 ff.; s. auch http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/ Zoelle/Zollverfahren/Voruebergehende-Verwendung/Carnet-ATA/carnet-ata_node.html (2.9.2017). 56 VO (EG) 1186/2009 des Rates v 16.11.2009 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (kodfizierte Fassung), ABl. EG 2009 Nr. L 324, 23. 57 UFS v. 6.9.2007 – ZRV/0250-Z2L/03. 58 UFS v. 6.9.2007 – ZRV/0250-Z2L/03 zu Art.50 ZBefrVO (alt); VO (EWG) 83/918 des Rates v. 28.3.1983, ABl. EWG 1983 Nr. L 105, 1. 59 Vgl. Ritz, BAO, 6. Aufl. 2017, § 35 BAO Rz. 1 ff. 60 Summersberger in Kofler/Tumpel (Hrsg.), Steuerrecht, 2. Aufl. 2017, S. 54 Rz. D41. 61 Art. 43 lit. b i.V.m. Anhang II B ZBefrVO; Art.48, 49 ZBefrVO.

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dem der Gegenstand Verwendung findet und zwar – i.d.R. – schon vor der Einfuhr.62 Die Zollbehörde prüft die Voraussetzungen der Zollfreiheit vor der Einfuhr und erlässt einen Grundlagenbescheid (§§  86  ff. ZollR-DG i.V.m. 25 Z  5 ZollR-DV; 185  BAO),63 der Bindungswirkung für die zollfreie Einfuhr entfaltet.64 Bei der anschließenden Überführung in den freien Verkehr ist eine Prüfung der Voraussetzungen sohin nicht mehr erforderlich.65 Um die Zollfreiheit rückgängig zu machen, wäre eine Aufhebung des der Befreiung zugrunde liegenden Grundlagenbescheids erforderlich.66 Die DVO zur ZBefrVO67 verlangt eine Verpflichtungserklärung des Leiters der begünstigten Einrichtung hinsichtlich Einhaltung der Auflagen: Unmittelbar nach der Überlassung der Gegenstände sind diese an den angemeldeten Verwendungsort zu bringen und in das Bestandverzeichnis der Organisation aufzunehmen. Der Leiter oder dessen Bevollmächtigter ist verpflichtet, die zollbehördlichen Kontrollmaßnahmen zu dulden.68 Ein Verleih, eine Vermietung, eine Veräußerung oder Überlassung an eine nicht berechtigte Einrichtung lässt die Abgabenschuld entstehen, ebenso wenn die Einrichtung selbst ihre Berechtigung verloren hat oder der Gegenstand zu nicht begünstigten Zwecken verwendet wird und die Zollbehörde nicht unterrichtet wurde (Art.  48, 49 ZBefrVO). Es greift folglich ein allgemeines Verfügungsverbot. Wird der Gegenstand z.B. an ein anderes Museum in Österreich weiter übergeben, hat dieses ebenfalls eine Verpflichtungserklärung abzugeben und dies dem Zollamt vor der Übergabe nachzuweisen. Das Zollamt bewilligt anschließend die abgabenfreie Weitergabe der Waren an den neuen Berechtigten, um die Abgabenfreiheit nicht zu gefährden. Wird der Gegenstand hingegen an einen anderen Mitgliedstaat (Mu­ seum oder eine Galerie) weitergeliefert, ist dies ebenfalls zu bewilligen; allerdings vorbehaltlich der nationalen Bestimmungen des Empfängerstaates. In der Praxis wird, sofern der Gegenstand nicht dauerhaft in der Union verbleiben soll, das so genannte Verfahren Carnet A.T.A gewählt, das die Entstehung einer Abgabenschuld verhindert.69 Zwar sind Kulturgüter in der Regel ohnehin nach Kapitel 97 ex Tarif zollfrei, allerdings gewinnen die o.a. Ausführungen dann an Bedeutung, wenn auch eine Steuerfreiheit erwirkt werden soll (EUSt). c) Steuerermäßigte oder steuerfreie Einfuhr Nach Art. 103 Abs.  1 MwStSystRL sind die Mitgliedstaaten (MS) berechtigt, auf die Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten, die nach 62 Zur nachträglichen Erlassung eines Grundlagenbescheides s. UFS v. 29.4.2004  – ZRV/­ 0156-Z2L/02. 63 Ritz (Fn. 59), § 185 BAO. 64 Summersberger, Zur Bindungswirkung von Grundlagenbescheiden, AW-Prax 2007, 212. 65 UFS v. 10.11.2003  – ZRV/0204-Z2L/02; UFS v. 29.4.2004  – ZRV/0156-Z2L/02; UFS v. 6.9.2007 – ZRV/0250-Z2L/03. 66 VwGH v. 24.6.2010 – 2010/16/0031; BFG v. 11.5.2010 – ZRV/0124-Z1W/09. 67 VO (EU) 1225/2011 der Kommission v. 28.11.2011, ABl. EU 2011 Nr. L 314, 20. 68 ZK-2030 Arbeitsrichtlinie Außertarifliche Befreiungen, S. 20–24 (Stand 1.5.2016). 69 Weis (Fn. 55), KUR 1/2006, 13 ff.

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Art. 311 Abs.1 Z 2,3 und 4 im Anhang IX Teil A – C gelistet sind, einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden. Die Steuersätze in der Union variieren stark: Hochsteuerländer sind z.B. Griechenland 24%, Kroatien 25% und Ungarn 27%. Demgegenüber stehen MS wie die Niederlande und Portugal mit 6% oder Zypern mit 5%.70 In Österreich beträgt der Satz 13% (Anlage zu § 10 Abs. 2 UStG Z 10 – 13). Nach Art. 143 lit. b MwStSystRL werden Gegenstände in der Einfuhr befreit, die in der RL 83/181/EWG v. 23.4.198371 genannt sind; ersetzt durch RL 2009/132/EG (EUSt-BefrRL).72 Nach Art. 81 Abs. 1 lit. q und r EUSt-BefreiungsRL fallen darunter „Sammlungsstücke und Kunstgegenstände, erzieherischen, wissenschaftlichen und kulturellen Charakters“; eine Deckungsgleichheit mit Anhang II lit. B ZBefrVO. Aus diesem Grund hat der nationale Gesetzgeber die Gegenstände, die zollbefreit sind, mit öBGBl. 1994/663 auch von der EUSt befreit.73 Er löste dies mit einer Regelungstechnik unter Nennung der (befreiten) Gegenstände nach der ZBefrVO74, wenn in § 6 Abs. 4 Z 4 öUStG normiert ist, dass die Einfuhr von Gegenständen befreit ist, die nach Titel I, II und IV zollfrei eingeführt werden können (Kunstgegenstände und Sammlungsstücke sind von Titel II erfasst). In § 6 Abs. 4 Z 4 lit. g öUStG i.d.g.F. verweist er auf Art. 42 und 43 ZBefrVO i.V.m. lit. B der Anhänge I und II ZBefrVO, schränkt im Übrigen aber ein, weil die Steuerfreiheit nur greift, wenn die Gegenstände unentgeltlich eingeführt oder im Falle der entgeltlichen Einfuhr nicht von einem Unternehmer geliefert werden.75 Daraus folgt, dass die Einfuhr von Gegenständen, die zu Zwecken einer Versteigerung eingeführt werden, i.d.R. steuerpflichtig bleibt.76 Wird ein Gegenstand im Handel entgeltlich erworben, ist die darauffolgende Einfuhr ebenfalls steuerpflichtig. Steuerlich begünstigt sind nach Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL Museen, Galerien und andere Einrichtungen, die von den zuständigen Behörden der MS zur Einfuhr dieser Gegenstände ermächtigt worden sind. Auch der Kreis der Begünstigten entspricht sohin der ZBefrVO nach Spalte 3 Anhang II lit. B; ebenso ist auch eine Ermächtigung durch die Zollbehörde erforderlich. Allerdings sind steuerlich nach dem Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL nur solche Einrichtungen begünstigt, die durch die Zollbehörde zum zollfreien Bezug ermächtigt wurden. Da aber „öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen und Anstalten erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters“ weder in Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL genannt und überdies schon ex lege (Art. 43 lit. a ZBefrVO) zur zollfreien Einfuhr berechtigt sind, werden sie von der Zollbehörde zu einer zollfreien Einfuhr auch nicht „ermächtigt“. Nimmt man Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL und den Verweis auf die ZBefrVO in den Blick, lässt sich schließen, dass öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen 70 https://ec.europa.eu/taxation_customs/business/vat_de (4.9.2017). 71 ABl. EWG 1983 Nr. L 105, 38. 72 ABl. EG 2009 Nr. L 292, 5. 73 ErläutRV 1715 BlgNR 18.GP, 55, 56. 74 Schellmann, Die Befreiungsvorschriften im Bereich der Einfuhrumsatzsteuer in Achatz (Hrsg.), Praxisfragen zum UStG 1994, 1995, S. 89, 94. 75 Weitere Einschränkung s. § 6 Abs. 4 Z 4 lit. a öUStG. 76 Möller in Dorsch, Zollrecht, Art. 42 VO Zollbefr. Rz. 5 (Stand August 2013).

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zum steuerfreien Bezug nicht berechtigt sind. Der Gesetzgeber hingegen unterscheidet im öUStG nicht zwischen begünstigten Einrichtungen nach Zoll- und Umsatzsteuerrecht, er lässt eine steuerfreie Einfuhr durch öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen zu.77 Zweifelhaft ist, ob aufgrund der – weitgehenden – Deckungsgleichheit der befreiten Gegenstände und begünstigten Personen auch eine Anwendbarkeit des Art. 1 ZBefrVO bejaht werden muss; d.h. ob die Einfuhr eines Gegenstandes auch tatsächlich zollfrei bewirkt werden muss oder ob die Berechtigung zum zollfreien Bezug schon ausreichend ist. Fraglich ist sohin, ob die Steuerfreiheit zwingend von der Abgabe einer Zollanmeldung iSd Art 1 ZBefrVO abhängt, weil die Erlangung einer Zollfreiheit dies erfordert; oder mit anderen Worten: Ist der unredliche Einführer zur Steuerfreiheit berechtigt? Ist – nach nationalem Recht – die Erlassung eines Grundlagenbescheides (§§ 86 ff. ZollR-DG iVm 25 Z 5 ZollR-DV; 185 BAO) erforderlich, um eine Steuerfreiheit zu erwirken?78 Steuerbefreiungen in der Einfuhr sind nach der Rsp. des VwGH restriktiv auszulegen.79 Sofern der Gesetzgeber auf Gegenstände einer „Einfuhr“ (§  6 Abs.  4 Z  1  ff. öUStG) abstellt, verweist er auf alle Erscheinungsformen einer Einfuhr und schränkt nicht auf eine „Überlassung zum freien Verkehr“ als einzige Erscheinungsform einer rechtskonformen Einfuhr ab. Es ist sohin grundsätzlich unerheblich, ob die Einfuhr recht- oder unrechtmäßig erwirkt wird, da die Steuerfreiheit jedenfalls zu gewähren ist: Auch ein „Schmuggler“ kommt in den Genuss einer Steuerbefreiung, sofern die Steuerbefreiung an der Art des Gegenstandes gleichsam „haftet“ und die Befreiung aus sachlichen Gründen zu gewähren ist, wie z.B. bei der Einfuhr von Anlagegold.80

77 Möchte man allerdings „öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen und Anstalten erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters“ unter dem Begriff „andere Einrichtungen“ i.S.d Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL subsumieren, ändert dies wenig, weil in diesem Fall ebenfalls eine zollbehördliche Ermächtigung erforderlich wäre, die aber zollrechtlich nicht zulässig ist. Allenfalls ließe sich vertreten, dass es dem Gesetzgeber nur darauf ankam, dass eine Einrichtung zum zollfreien Bezug berechtigt ist, was aber dem Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL nicht zu entnehmen ist. 78 UFS v. 6.10.2003  – ZRV/0175-Z2L/02; 29.10.2007  – ZRV/0249-Z2L/03; Summersberger, Einfuhr von Büchern durch eine ausländische Privatuniversität: Erfordernisse für die Befreiung für die Einfuhrumsatzsteuer, UFSaktuell 2007, S.  354; s. auch Melhardt/Tumpel, Umsatzsteuergesetz 2015, 2. Aufl. 2015, § 6 UStG Rz. 785. 79 So schon VwGH v. 16.9.1964 – 1163/62; VwGH v. 19.3.1997 – 96/16/0097 zu den Anforderungen an „Originalwerke der Bildhauerei und Plastik“. 80 Die Steuerfreiheit nach § 6 Abs. 4 Z 1 i.V.m. Abs. 1 Z 8 lit. j UStG stützt sich auf Art. 344 und 346 MwStSystRL. Nach Art. 143 lit. a MwStSystRL muss in der Einfuhr Steuerfreiheit gewährt werden, wenn die Lieferung eines Gegenstandes aus sachlichen Gründen steuerfrei ist; Ruppe/Achatz (Fn.  19), §  6 UStG Rz.  183 ff, 494; s. auch BFG v. 20.10.2014  – RV/5200221/2013; BFG v. 22.5.2015 – RV/5200264/2013; VwGH v. 28.9.2000, 99/16/0302; Achatz, Der Handel mit Zahnersatz im Binnenmarkt, in Kirchhof/Nieskens (Hrsg.), FS Reiß, 2008, S. 169; Summersberger, Nicht vollständige Umsetzung der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie, AW-Prax 2001, 152.

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Für Kulturgüter wird zwar in den Art. 42 ff. ZBefrVO – im Gegensatz etwa zu Übersiedlungs- oder Heiratsgut – die Abgabe einer Zollanmeldung für die Erlangung einer Zollfreiheit nicht ausdrücklich verlangt81, allerdings fordert die ZBefrVO für alle zollrechtlichen Befreiungstatbestände in Art. 1 die Verwirklichung einer Einfuhr durch Überlassung zum freien Verkehr.82 Eine vorschriftswidrige Verbringung von Kulturgütern durch Nichtabgabe einer Zollanmeldung löst unzweifelhaft eine Zollpflicht aus.83 Einer richtlinienkonformen Auslegung des § 6 Abs. 4 Z 4 lit. g öUStG zufolge könnte man nun der Ansicht zuneigen, dass es sich steuerlich  – in Folge des §§  6 Abs. 4 Z 4 i.V.m. 6 Abs. 4 Z 4 lit. g öUStG – um eine sachliche Befreiung für Gegenstände handelt, die von zugelassenen Einrichtungen eingeführt werden können. Eine zollfreie Einfuhr als Voraussetzung für die Steuerfreiheit verlangt Art. 81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefreiungsRL i.V.m. Art 143 lit. b MwStSystRL gerade nicht, sondern lediglich eine behördliche Ermächtigung zum zollfreien Bezug. Eine Berechtigung setzt aber wiederum die Einhaltung der Vorschriften der ZBefrVO voraus. Bei der Einfuhr von Kulturgütern bleibt es sohin m.E. auch steuerlich erforderlich, dass der Begünstigte von der Zollbehörde  – im Einklang mit Art.  143 lit.  b MwStSystRL i.V.m. Art.  81 Abs. 1 lit. r EUSt-BefrRL und § 6 Abs. 4 Z 4 lit. g öUStG sowie Art. 43 i.V.m. Spalte 3 Anhang II lit. B ZBefrVO – nicht nur zu einem zollfreien Bezug ermächtigt ist, sondern er auch seine Absicht, einen Gegenstand steuerfrei einzuführen, durch Abgabe einer Zollanmeldung kundtut, um seine Ermächtigung zu erhalten.84 Eine vorschriftswidrige Verbringung i.S.d. Zollrechts führt sohin zur Steuerpflicht.85 Die Ermächtigung zum zoll- und steuerfreien Bezug wird einer Einrichtung gem. §  88  ZollR-DG überdies nur erteilt (und aufrecht erhalten), die aus „persönlichen, amtlichen oder betrieblichen Umständen heraus in der Lage ist, die Voraussetzungen für die Abgabenbefreiung oder die Verwendungspflicht zu erfüllen“. Diese Eignung verlangt entsprechende behördliche Ermittlungen, mit welchen Gegenständen der Abgabepflichtige handelt und ob er über eine entsprechende Rechtstreue verfügt.86 Sohin ist die Erlassung eines Grundlagenbescheides in Anwendung des §§ 26 Abs. 1 öUStG iVm 2 Abs.  1 ZollR-DG auch für die EUSt rechtskonform.87 Bestrafungen nach dem FinStrG werden sohin mittelbar steuerliche Auswirkungen haben.88 Man 81 FG Hamburg v. 29.6.2015 – 4K 359/14 Z,EU, Rz. 44. 82 FG München v. 28.6.2012 – 14 K 298/11. 83 FG Hamburg v. 29.6.2015 – 4K 359/14 Z,EU. 84 Über die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 ZollR-DG lässt sich dies ebenfalls argumentieren, wobei die Anwendbarkeit des Zollrechts für die USt der Zuständigkeit des Steuergesetz­ gebers obliegt. Dieser kann die Anwendbarkeit des Zollrechts i.S.d. §  2 Abs.  1 letzter S. ZollR-DG durch Sondernomen im UStG auch ausschließen, was er aber – siehe oben – im Ergebnis nicht getan hat (Arg. „und nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist“). 85 FG München v. 28.6.2012 – 14 K 298/11. 86 Hier spannt sich wieder der Bogen zurück zum Jahr 1949, in dem im Zuge der Schaffung des Abkommens von Florenz Bevorzugungen nur für „amtlich zugelassene Museen“ gewährt werden sollte, Fn. 51. 87 ZK-2030, Arbeitsrichtlinie Außertarifliche Befreiungen, S. 10 - 9 (Stand: 1.5.2016); s. auch 363/ME 18.GP Erläut 70. 88 Anton, Band 2: Zivilrecht  – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, S.  552 Rz. 368 ff.

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könnte überdies auch aus einem Verstoß gegen den „UNESCO Code of Ethics for Dealers in Cultural Property“89 mangelnde persönliche oder betriebliche Eignung ableiten, die eine steuerfreie Einfuhr verhindert.90 d) Zollrechtliche und umsatzsteuerliche Kulturgüter Abgabenrechtlich bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen zoll- und umsatzsteuerlichen Kulturgütern oder – um der Bezeichnung des Rechtsetzers im Abgabenrecht zu folgen – „Kunstgegenständen“.91 Nach Ansicht des BMF sind Waren der TP 9701 bis 9705 des Abschnitts XXI Gegenstände i.Z.m. Art. 43 lit. b i.V.m. Anhang II B ZBefrVO.92 Darüber hinaus gibt es aber auch zollrechtliche Kunstgegenstände, die nicht in das Kapitel 97 einzureihen sind. Der Zolltarif ist in seinem Aufbau in der Tat nicht darauf gestützt, jegliche Kunstgegenstände in das Kapitel 97 einzureihen, wie sich aus den Anmerkungen erschließen lässt.93 Unter diesen „weiten“ Kunstgegenstandsbegriff fallen z.B. echte Perlen oder Zuchtperlen, Edelsteine und Schmuckseine der TP 7101 bis 7103.94 Orientteppiche sind nur mit entsprechendem Nachweis, Teppiche, die nach 1930 hergestellt wurden, keinesfalls in den Abschnitt XXI einzureihen.95 Auch Hölzer mit Einlegearbeit (Intarsien oder Marketerie), Schmuckkassetten, Besteckkästen und ähnliche Waren aus Holz, Statuetten und andere Ziergegenstände aus Holz verbleiben i.d.R. im Kapitel 44.96 Ebenso sind (u.U. auch wertvolle) Musikin­strumente nicht zwingend Kunstgegenstände des Kapitels 97, sondern in das Kapitel 92 einzureihen.97 Nach der (älteren) Rsp. waren sohin z.B. Unikatschmuck und Schmuckskulpturen, selbst wenn sie von (akademischen) Künstlern entworfen und selbst produziert wurden, nicht als Kunstgegenstand des Kapitels 97 anerkannt.98 Dieser Umstand erschließt sich aus der vorzunehmenden Abgrenzung zwischen Kunstgegenständen von solchen Waren, die den Charakter einer Handelsware haben, wie z.B. Serienerzeugnisse, Abgüsse und handwerkliche Erzeugnisse.99 Dass der Entwurf von Künstlern entworfen und hergestellt 89 http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/illicit-trafficking-of-cultural-property/­ legal-and-practical-instruments/UNESCO-international-code-of-ethics-for-dealers- ­incultural-property (12.9.2017). 90 S. Anton, Neuer Schutz archäologischer Kulturgüter in Wittinger/Wendt/Ress (Hrsg.), FS Fiedler, S 319, 326. 91 Auf die Darstellung des kulturgüterschutzrechtlichen Begriffes wird verzichtet, das würde den beabsichtigten Rahmen dieses Beitrages sprengen. 92 ZK-0230, Arbeitsrichtlinie Außertarifliche Befreiungen, S. 20 – 23 (Stand 1.5.2016). 93 VwGH v. 15.4.1997 – 96/14/0010. 94 Erläuterungen zum HS (9706) letzter S.; Baldasty/Fasching/Praschak, Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur (Stand 1.1.2002). 95 Nationale deutsche Anmerkung 10.0 ff; s www.auskunft.ezt-online.de. 96 Z.B. 4420101110: Statuetten aus Holz (handgearbeitet); Zollsatz: 3%. 97 Erläuterungen zum HS (Kapitel 92, Anm. c); www.auskunft.ezt-online.de. 98 VwGH v. 20.6.1990  – 90/16/0055; zu einer jüngeren (vergleichbaren) Entscheidung s. VZTA v. 25.7.2016 – GB503104806. 99 S. deutsche Anmerkung 3 zum Kapitel 97; www.auskunft.ezt-online.de.

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wurde, ändert grundsätzlich nichts an der Einreihung, wenn der Charakter einer Handelsware zu bejahen ist.100 Der Begriff eines begünstigten umsatzsteuerlichen Kunstgegenstands ist im Hinblick auf die KN – allgemein betrachtet – enger, im Vergleich mit den begünstigten zollrechtlichen Kunstgegenständen hingegen breiter: So sind zwar nach der MwStSystRL und UStG die TP 9701 – 9703 als Kunstgegenstände mit einem ermäßigten Steuersatz von 13% erfasst,101 allerdings auch solche, die keine (zollrechtlichen) Kunstgegenstände sind: Sowohl Tapisserien der TP 5805 (z.B. Gobelins, Wandteppiche aus Seide und Wolle wie Aubusson, Beauvais) als auch Textilentwürfe für Wandbekleidung nach künstlerischen Originalentwürfen i.S.d. 6304. Diese sind zwar als Kunstgegenstand umsatzsteuerlich mit 13% begünstigt, bleiben aber ex Tarif zollbelastet (5805: 5,6%, Zollpräferenz: 0%; 6304: Zollsatz 12%, Zollpräferenz: 0%).102 Sie sind von der ZBefrVO nicht erfasst, da es sich nicht um Kunstgegenstände i.S.d. Anhangs II B der ZBefrVO handelt, eine zollfreie Einfuhr ist folglich nicht möglich. Zwar lässt es der Zollrechtsetzer in Spalte 1 des Anhangs II B offen, welche TP tatsächlich befreit sein sollen, weil er nur das Wort „verschiedene“ verwendet. Entsprechend der Überschrift zu Abschnitt XXI werden Kunstgegenstände des Kapitels 97 befreit. Der zollrechtliche und der umsatzsteuerliche Sammlungsgegenstand sind hingegen deckungsgleich (9704 bis 9705).103 e) Betrugsbekämpfung in Österreich In der Praxis gibt es abgaben- oder finanzstrafrechtliche Verfahren vor dem Bundesfinanzgericht in den Fällen, in denen unzweifelhaft ein Kunstgegenstand des Kapitels 97 eingeführt wird, kaum.104 Abgesehen davon, dass die Tarifierung von modernen Kunstformen zuweilen strittig ist105, ist häufiger über Sachverhalte zu entscheiden, in denen der kulturelle Wert einer Ware bloß behauptet wird, um eine Abgabenfreiheit in der Einfuhr zu lukrieren, wie z.B. im Zusammenhang mit „historischen Fahrzeugen“.106 Von 2011 bis 2016 gab es in Österreich nachweislich keinen einzigen zollbehördlichen Aufgriff von Kulturgütern des Kapitels 97, die im Herkunftsstaat zuvor illegal aus- und in Österreich nachfolgend eingeführt wurden.107 Der Grund ist geradezu banal: Diese Einfuhren waren – aus rein abgabenrechtlicher Sicht – kein zoll100 S. aber BFH v. 8.1.2003 – VII R 11/02, HFR 2003, 596. 101 Art. 311 Abs. 1 Z 2 i.V.m. Anhang IX A MwStSystRL; Anlage 2 Z 10, 11 und 12 zu § 10 Abs. 3 und § 24 öUStG. 102 Andere Kunstgegenstände i.S.d. Anhang IX Teil A MwStSystRL wie z.B. Originalwerke aus Keramik oder Werke aus Emaillekunst sind nach österreichischem Recht nicht begünstigt. 103 Art. 311 Abs. 1 Z 2 i.V.m. Anhang IX B MwStSystRL; freilich auch Antiquitäten nach 9706; s. Art. 311 Abs. 1 Z 2 i.V.m. Anhang IX C MwStSystRL. 104 Klumpner, Kunst- oder Ziergegenstand? Voraussetzungen für die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes für Kunstgegenstände, UFSjournal 2013,  229. 105 Kirchmeier, Abgaben auf die Einfuhr von Werken der Videokunst, KUR 3/2006, S. 78. 106 Summersberger, Der „Oldtimer“ im Zoll- und Steuerrecht, taxlex 2013, S. 176. 107 2913/AB-BR/2016 v. 27.6.2016 zu 3144/J-BR; https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/ BR/AB-BR/AB-BR_02913/imfname_542790.pdf (14.9.2017).

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rechtliches Risiko, weil Kunstgegenstände in der Einfuhr zollfrei sind:108 Ein Grund, sich mit der Pariser Konvention und dem Sanktionsrecht zu befassen und die Frage zu beantworten, wie sich die Ratifizierung der Pariser Konvention durch Österreich und Deutschland auf das Zollrecht auswirkt. Durch die Ratifizierung dieses UNESCO-Abkommens 2015 ist Österreich einer zunehmenden Kritik entgegengetreten, nicht energisch genug gegen illegalen Kulturgüterhandel in der Ein-, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut vorzugehen.109 f) Folgen der Liberalisierung? Im Schrifttum wird vermutet, dass sich die zoll- und umsatzsteuerliche Abgabenfreiheit und die Verfahrensvereinfachungen auf den internationalen Kulturgüteraustausch nur gering ausgewirkt haben dürften.110 Ich teile diese Ansicht nicht, weil die Raschheit von Verfahren ein entsprechender Wettbewerbsfaktor im internationalen Handel ist, was für jede Art von Gegenständen gleichermaßen gilt.111 Überdies lässt sich auch historisch ein ständiges Ringen um rasche und einfache Verfahren sowie Senkung der Abgabensätze erkennen;112 der Handel mit Kulturgütern lässt sich von diesen Entwicklungen nicht abkoppeln. Überdies könnte das Abkommen von Florenz auf eine Reihe von Drittstaaten Auswirkungen gehabt haben, weil Einfuhren in Drittstaaten regelmäßig zollfrei sind.113 Unabhängig vom Befund ändert dies freilich nichts am zollrechtlichen Ziel, nämlich den kulturellen Austausch zwischen den Völkern durch den Abbau jeglicher Hemm108 Wenn man aber nur 10% des geschätzten Marktes als illegal ansieht, beträgt der Umfang des illegalen Marktes in Österreich deutlich über 40 Mio. Dollar. Hinsichtlich Einfuhren aus Syrien und dem Irak bestand wegen des Sanktionsrechts hingegen ein Risiko; zumindest wenn man einem „weiten“ Zollrechtsbegriff folgt; s. Summersberger, Die Auskunft im Außenwirtschaftsrecht – Teil 1: Umfang und Grenzen, UFSaktuell 2004, 316 ff. 109 So schon Pieler, Internationaler Kulturgüterschutz und die UNESCO Konvention von 1970, 2009, S. 7; s. auch ErläutRV 456 BlgNR 25.GP 1; der Gesetzgeber spricht von einer „zunehmenden Isolierung“ Österreichs; Mairitsch, Österreich 129. Vertragsstaat der ­UNESCO-Konvention von 1970, Bulletin Kunst & Recht 2/2015, 40. 110 Odendahl ist der Ansicht, dass die Auswirkungen des Abkommens von Florenz gering waren; Odendahl (Fn. 32), S. 132. Schorlemer hingegen vertritt die Ansicht, dass das Abkommen von Florenz ursächlich dafür war, dass Kulturgüter bei der Einfuhr in die (damalige) EG schon seit den späten 60iger Jahren des vorigen Jahrhunderts tariflich befreit waren; s. auch Schorlemer, Internationaler Kulturgüterschutz, 1992, S. 356. 111 S z.B. Bolhöfer, Trade Facilitation – WTO-Recht und dessen Reform zur Erleichterung des internationalen Warenhandels, 2006. 112 Summersberger/Bieber, Informationsbereitstellung im Außenhandel, StAW 2016, 99  ff. Überdies darf ergänzt werden, dass der Rechtsetzer des Abkommens von Nairobi selbst den Abbau von Schranken als wirkungsvolles Instrument einstufte und aus diesem Grund den Anwendungsbereich des Abkommens von Florenz erweiterte; s. Präambel zum Protokoll von Nairobi 1976. 113 S. Daten in http://madb.europa.eu/madb/indexPubli.htm (22.8.2017). Freilich sind auch Kulturgüter Gegenstand von WTO-Runden gewesen, sodass die Ursache für Zollfreiheit auch in den Zollsenkungsrunden gefunden werden könnte.

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nisse zu fördern: Es soll die Verbreitung des jeweiligen nationalen Kulturguts im Ausland gefördert werden.114 In der Tat bleibt es aus zollrechtlicher Sicht bedeutungslos, ob sich der Einführer auf die ZBefrVO stützen kann, da Gegenstände nach Kapitel 97 ohnehin zollfrei sind.115 Damit wird die im Abkommen von Florenz 1950 normierte Begünstigung in der Union nicht auf den „Austausch und Verbreitung“ durch Ausstellungen etc. begrenzt, sondern erweitert die Abgabenfreiheit auch auf Kunstgegenstände, die diesen Zielen nicht zu dienen bestimmt sind, weil sie nicht nur von Einrichtungen, sondern auch von natürlichen Personen angeschafft und privat oder kommerziell genutzt werden. Eine Entwicklung, die dem Ziel des Abkommens von Florenz zwar widerspricht, allerdings aus europäischer, freilich auch aus rein österreichischer Sicht, historisch schon sehr lange belegt werden kann.116 Die bloße tarifliche Zollfreiheit bleibt für die Erhebung der EUSt ohne Einfluss:117 Aus umsatzsteuerlicher Sicht macht es aber einen Unterschied, ob sich der Einführer auf die tarifliche oder außertarifliche Abgabenfreiheit stützen kann, weil nur die Anwendung der ZBefrVO eine steuerfreie Einfuhr möglich macht. Aus diesem Grund kann die Unterwerfung unter eine Befreiungsbestimmung der ZBefrVO selbst dann sinnvoll sein, wenn die Ware schon aus tariflichen Gründen befreit wäre: Es kann auf die rechtserheblichen Folgen einer TP verzichtet werden, weil die Ware aus außertariflichen Gründen Zollfreiheit genießt. Der ermäßigte Steuersatz von 13% bleibt bei Einfuhren auch bei einer tariflichen Zollfreiheit garantiert (§ 10 Abs. 2 i.V.m. Anlage 2 Z 12 UStG). 3. Warenverkehrsbeschränkungen Ausfuhrbeschränkungen zum Schutz des heimischen Kulturguts sind schon in der ersten Republik durch den nationalen Gesetzgeber erlassen worden.118 Es gab dazu auch in den frühen Jahren immer wieder spektakuläre Fälle wie z.B. die rechtswidrige Ausfuhr von Albrecht Dürers „Feldhasen“119 oder einer Skulptur von Adriaen de Vries.120 In den letzten Jahren sind – neben der Pariser Konvention und über nationale oder unionsrechtliche Ausfuhrverbote hinaus – sanktionierende VO erlassen wor114 Hipp, Schutz von Kulturgütern in Deutschland, 2000, S.  139; s. schon die Präambel zu Florenz 1950. 115 S.  schon Entscheidung über die Genehmigung eines Teils des Gemeinsamen Zolltarifs, ABl. EWG 1960 Nr. 1537 zu 99.05. 116 Die Zollfreiheit von Kulturgütern ist für Österreich historisch sehr weit zurückzuverfolgen: Das Zolltarifgesetz von 1924 sah in der Tarifklasse XLV eine durchgehende Zollfreiheit vor; BGBl.1924/445 ebenso wie zuvor das Zolltarifgesetz 1906 in der Tarifklasse L; RGBl. 1906/20. 117 Schellmann, Die Befreiungsvorschriften im Bereich der Einfuhrumsatzsteuer in Achatz (Hrsg.), Praxisfragen zum UStG 1994, 1995, S. 89, 94. 118 StGBl 1918/90, Ploil, Ausfuhrverbot und private Kunstrestitution, Bulletin Kunst & Recht 2/2015, 30 ff. 119 Standard-online v. 1.6.2016; http://derstandard.at/2460033/Causa-Feldhase-Volksanwalt-­ haette-sich-Anzeige-gegen-Albertina-erwartet (20.9.2017). 120 Standard-online v. 4.7.2011; http://derstandard.at/1308680362535/Kunstmarkt-Mit-­ Mythen-­zur-Ausfuhrbewilligung (20.9.2017).

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den. Die Beschränkungen wirken sich nicht fiskalisch aus, erhöhte Zölle auf Kulturgüter werden nicht erhoben. Im Zusammenhang mit zu sanktionierenden Staaten wie etwa dem Irak oder Syrien soll aber der kulturelle Ausverkauf verhindert werden; dies wird durch ein umfassendes Ein-, Ausfuhr- und Handelsverbot sichergestellt, auch wenn diese VO Kulturgüterschutz nicht vorrangig betonen.121 Das Telos des originären Kulturgüterschutzrechtes in Form der Pariser Konvention ist zwar anders gewichtet, greift aber  – sofern die Konvention auch in innerstaatliches Recht gegossen wird122 – ebenso einschränkend in den Warenverkehr ein. In der Tat ist die Dichte von behördlichen Kontrollen in der Ein- als auch in der Ausfuhr nicht in allen Staaten ident. Eine fehlende Harmonisierung in der Art und Intensität von Zollkontrollen ist dem Umstand geschuldet, dass die personellen Kapazitäten unterschiedlich verteilt sind. Wenn die Ausfuhrkontrolle sohin nur bruchstückhaft erfolgt, weil z.B. der Ausfuhrstaat nicht über entsprechende Möglichkeiten behördlicher Kontrollen verfügt, bleibt eine Ausfuhrbeschränkung weitgehend wirkungslos. In diesem Fall muss die Ausfuhrbeschränkung durch ein entsprechendes Importverbot im  – anschließenden  – Einfuhrstaat ergänzt werden123 Eine fehlende Ausfuhrbewilligung verhindert nämlich eine nachfolgende Einfuhr in einem anderen Staat nicht, es sei denn, es ist – wie in Kanada – normiert, dass eine Ausfuhrbewilligung ein zwingendes Erfordernis für eine nachfolgende Einfuhr ist.124 Die Pariser Konvention betont diese enge Verbindung zwischen illegaler Aus- und nachfolgender Einfuhr allerdings nicht zweifelsfrei, auch wenn es den Schutz des fremden Kulturguts betont und dem Grunde nach einen übernationalen Ansatz verfolgt, wie der Präambel zu entnehmen ist, nämlich dass das kulturelle Erbe aller Staaten zu beachten ist.125 Die Konvention knüpft in mehreren Artikeln an die Begriffe Ein- und Ausfuhr an126, zwingt aber nur zur Zusammenarbeit zwischen den Staaten (Art. 2), verweist allgemein auf einen zu verhindernden Widerspruch zu den Bestimmungen der Konvention (Art. 3) und begnügt sich – im Unterschied zu den Entwürfen, auf die Pieler verweist127 – mit dem Verbot der Einfuhr von Kulturgut, das aus einem Museum oder einem religiösen oder weltlichen öffentlichen Baudenkmal oder einer ähnlichen Einrichtung in einem anderen Vertragsstaat gestohlen worden ist 121 Art. 3 VO (EG) 2003/1210 des Rates v. 7.7.2003 über bestimmte spezifische Beschränkungen in den wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zu Irak und zur Aufhebung der VO (EG) 1996/2465, ABl. EU 2003 Nr.  L 169, 6; Art.11 c i.V.m. Anhang XI VO (EU) 2012/36 v. 18.1.2012 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr.  442/2011, ABl. EU 2012 Nr.  L 16, 1  ff; eingefügt durch VO (EU) 2013/1332 v. 13.12.2013, ABl. EU 2013 Nr. L 335, 3 ff. 122 Pieler, Kulturgüterschutz (Fn. 109), S. 19 m.w.N. 123 Peters, Aktuelle Entwicklungen des Kulturgutschutzrechts in Deutschland und der EU, Bulletin Kunst & Recht 2/2014, 19, 21. 124 Pieler, Kulturgüterschutz (Fn. 109), S. 110. 125 Pieler, Kulturgüterschutz (Fn. 109), S. 13 Fn. 56. 126 Art. 2, 3, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 13 und 14. 127 Pieler, Kulturgüterschutz (Fn. 109), S. 83.

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[Art. 7 b) i) ]. Gegenstände, die nicht gestohlen wurden, unterliegen sohin einem geringeren Schutzniveau. Es sollen nach Art.  7  a) auch (nur) Museen und ähnlichen Einrichtungen am Erwerb von widerrechtlich ausgeführtem Kulturgut gehindert werden. In anderen Fällen ist eine Ausfuhr lediglich unzulässig, verhindert aber dem Wortlaut nach eine darauffolgende Einfuhr nicht, lässt aber Verfahren zur Wiedererlangung des Kulturguts zu (Art. 11, 13c). Eine zwingende Verknüpfung zwischen Aus- und Einfuhr ist hingegen der UNESCO Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser (2001) zu entnehmen.128 In Art. 14 ist normiert, dass von anderen Staaten unerlaubt ausgeführtes Kulturgut in das eigene Hoheitsgebiet weder eingeführt, gehandelt oder in Besitz genommen werden darf, ein Abkommen, das Österreich aber bislang nicht ratifiziert hat.129 Schon die Erlassung eines Ausfuhrverbots verhindert sohin eine legale Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat. Im Gegensatz zu den Kulturgütern verlangt der Schutz von Naturgütern die enge Beziehung zu einem Ursprungs- oder Herkunftsland aber nicht, was die Vollziehung freilich deutlich vereinfacht. Jüngst wurden nun aber in Deutschland und Österreich Verpflichtungen aus der Pariser Konvention 1970 durch weitgehende Einfuhrverbote umgesetzt, um andere Staaten beim Erhalt ihres nationalen Kulturguts zu unterstützen, sodass der ursprünglichen Absicht, den Handel mit Kulturgütern zu liberalisieren, ein deutliches Hemmnis im Interesse des Kulturgüterschutzrechts entgegengesetzt wurde.130 Aus diesem Grund ist die Einfuhr von Kulturgütern sohin nunmehr auch ein zollrechtliches Risiko, weil eine rechtswidrige Ausfuhr auch zu einer rechtswidrigen Einfuhr führt, wenn die Legalität des Einfuhrvorgangs nicht durch entsprechende Dokumente des Ausfuhrstaates bewiesen werden kann. Es kommt freilich auf das körperliche Verbringen, nicht auf die Überlassung zum freien Verkehr an, um ein Delikt zu verwirklichen, die besonderen Verfahren sind nicht anzuwenden. Um eine Strafbarkeit zu bejahen, ist es freilich nicht ausreichend, wenn das Kulturgut bloß illegal ausgeführt wurde, es bedarf eines tatsächlichen Verbringens in das Inland.131

IV. Abschließende Würdigung Die anzuwenden Rechtsquellen sind nach ihrem Schutzzweck zu differenzieren und zwar danach, ob die Norm dem Schutz eines Kulturguts dient und aus diesem Grunde 128 http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/underwater-cultural-heritage/ (28.8.2017); Topal-Gökceli, Die UNESCO-Konvention zum Schutz des Unterwasserkulturerbes, Kunst & Recht Bulletin 1/2010, 30. 129 http://www.unesco.org/eri/la/convention.asp?KO=13520&language=E&order=alpha (16.9.2017). 130 § 28 deutsches Kulturgutschutzgesetz – KGSG; 31.7.2016, BGBl. I S. 1914, Nr. 39; § 4 öst. Kulturgüterrückgabegesetz – KGRG, BGBl. I 2016/19. 131 So aber die Materialien nach deutschem Recht; 6.11.2015 – BR-Drucksache 538/15, S. 106; http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2015/0538-15.pdf (17.9.2017). Es dürfte sich aber um ein Redaktionsversehen handeln.

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Beschränkungen im Wirtschaftsverkehr unterworfen ist (Aus- und nunmehr auch Einfuhr), ob es sich um typische abgabenrechtliche, d.h. zoll- oder umsatzsteuerliche Gestaltungen handelt oder ob vielleicht sogar der Regelungszweck ein ganz anderer ist und völlig anderen Interessen zu dienen bestimmt ist (Sanktionsrecht). Je nach dem Schutzzweck ergibt sich ein zollrechtliches Risiko. Wir bewegen uns folglich in einem Spannungsverhältnis: Einerseits soll nämlich der Kulturgüteraustausch durch eine (fast) durchgängige Abgabenfreiheit gefördert werden, weil der freie Austausch von Ideen und Wissen den geistigen Fortschritt sichert, der durch den Austausch von kulturellen Gegenstände verkörpert wird132. Andererseits betont zwar auch die Pariser Konvention, dass der „Austausch von Kulturgut unter den Nationen zu wissenschaftlichen, kulturellen und erzieherischen Zwecken das Wissen über die menschliche Zivilisation vertieft, das kulturelle Leben aller Völker bereichert und die gegenseitige Achtung und Wertschätzung unter den Nationen fördert“, schränkt diese Freiheit aber wieder ein, weil eine „unzulässige Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut der Verständigung zwischen den Nationen im Wege steht“.133 Folglich ist es der Abwanderungsschutz, der diese Freiheit des Warenverkehrs wieder einschränkt.134 Sohin ist nicht nur Kulturgüterschutzrecht, wie es schon Ludwig Engstler 1963 treffend formuliert hat, einem „Spannungsverhältnis zwischen einer territorialen Bindung von Kulturwerten einerseits und deren freier Verschiebbarkeit andererseits“135 unterworfen, weil sich darin der Interessensgegensatz zwischen Marktbeteiligten und Kulturgutschützern nach Außen kehrt. Vielmehr ist auf einer weiteren – verschobenen – Ebene auch das Verhältnis zwischen Abgaben-, Kulturgüter- und Sanktionsrecht davon betroffen, weil auch diese rechtlichen Pole in ihren Zielsetzungen immer weiter auseinanderdriften. So sehr Kulturgüterschutzrecht von allergrößter Bedeutung für das kulturelle Erbe von Staaten und Völkern ist, muss meiner Ansicht nach der Schutz verhältnismäßig ausgestaltet bleiben, will man vermeiden, dass der Austausch von wertvollen Kulturgütern nur mehr durch Schmuggel aufrechterhalten werden kann.136 Es gibt sohin weder einen schrankenlosen Kulturgüterverkehr noch schrankenlose Schranken staatlicher Eingriffe („Schranken – Schranken“).

132 S. Erwägungen 1 und 2 des Abkommens von Florenz 1950. 133 Erwägungsgrund 6 des Abkommens von Florenz 1950. 134 Pieler, Kulturgüterschutz (Fn. 109), S. 3. 135 Engstler, Bindung (Fn. 31), S. 19. 136 Eine Befürchtung, die anlässlich der Einführung von Ausfuhrverboten durch die VO Nr. 3911/92 des Rates v. 9.12.1992, ABl. EWG 1992 Nr. L 395, 1 geäußert wurde; Süddeutsche Zeitung v. 2.3.1993, 11. Die Sorge war verständlich: Griechenland verbot zu diesem Zeitpunkt z.B. die Ausfuhr sämtlicher Ausgrabungen; ähnlich auch Italien. Eine Rechtslage, die bei näherer Untersuchung vermutlich auch heute in manchen Staaten noch gefunden werden könnte.

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Zentrale Zollabwicklung und steuerrechtliche Vereinfachung Inhaltsübersicht

I. Fragestellung: Bedeutung der zentralen Zollabwicklung für das Umsatzsteuerrecht

II. Bestimmung des steuerrechtlichen Einfuhrorts 1. Einfuhr im Unionsrecht a) Regelungen der MwStSystRL b) Bewertung des Normsystems c) EuGH-Rechtsprechung 2. Einfuhr im nationalen Recht 3. Folgen für die Einfuhr bei zentraler Zollabwicklung a) Einfuhrort im Allgemeinen b) Einfuhrort bei zentraler Zollabwicklung



4. Ergebnis

III. Verwendung im Anschluss an die ­Einfuhr 1. Problemstellung 2. Keine Vereinfachung bei Annahme steuerrechtlicher Einfuhr im Mitgliedstaat des physischen Verbringens 3. Vereinfachung aufgrund steuerrecht­ licher Einfuhr im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung a) Ort der Anschlusslieferung b) Fallgruppenweise Betrachtung 4. Mögliche Neuregelungen 5. Ergebnis IV. Zusammenfassung

Prof. Wolffgang hat sich immer wieder auch mit umsatzsteuerrechtlichen Fragestellungen mit Bezug zum Zollrecht beschäftigt. Ein Zukunftsthema in diesem Bereich sind die umsatzsteuerrechtlichen Folgen der zentralen Zollabwicklung und damit die Frage, ob die hiermit angestrebte Vereinfachung auch steuerrechtlich zum Tragen kommen kann.

I. Fragestellung: Bedeutung der zentralen Zollabwicklung für das ­Umsatzsteuerrecht Das Verhältnis von Zoll- und Einfuhrumsatzsteuerrecht ist nicht spannungsfrei.1 Dies zeigt sich auch am Beispiel der zentralen Zollabwicklung. Nach Art. 179 UZK können die Zollbehörden einem zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten auf Antrag bewilligen, bei der Zollstelle seines Ansässigkeitsorts Zollanmeldungen für Waren abzugeben, die bei einer anderen Zollstelle gestellt werden. Die Anmeldungszollstelle und die Gestellungszollstelle tauschen dabei die für die Überprüfung der Zollanmeldung und für die Überlassung der Waren erforderlichen Informationen aus. Wird die Zollschuld durch die Überführung von einfuhrabgabenpflichtigen Nicht-­ Unionswaren in das Zollverfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr

1 Vgl. hierzu eingehend Wolffgang, UR 2017, 845 ff.

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nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a UZK begründet, entsteht sie gemäß Art. 87 Abs. 1 UZK an dem Ort, an dem die Zollanmeldung abgegeben wird.2 Die zentrale Zollabwicklung entfaltet ihre Wirkung vor allem dann, wenn die Anmeldungs- und die Gestellungszollstelle in unterschiedlichen Mitgliedstaaten gelegen sind. Der Einführer kann dann Zollanmeldungen auch insoweit in seinem Ansässigkeitsmitgliedstaat abgegeben, als diese Waren betreffen, die er bei Zollstellen in anderen Mitgliedstaaten gestellt.3 Durch diese Konzentrationswirkung vereinfacht sich für ihn die Erfüllung der Zollformalitäten. Damit stellt sich die Frage, welche Folgen sich aus einer zentralen Zollabwicklung umsatzsteuerrechtlich ergeben. Insoweit bestehen zwei Problembereiche. Zum einen geht es um die Bestimmung des steuerrechtlichen Einfuhrorts, der trotz zentraler Zollabwicklung im Mitgliedstaat des physischen Verbringens liegen könnte4 und damit zu einer steuerrechtlichen Registrierungspflicht in diesem Mitgliedstaat führen kann. Zum anderen ist die Folgeverwendung im Anschluss an die Einfuhr zu berücksichtigen. Ist der Einführer Unternehmer, wird er eingeführte Gegenstände in aller Regel für seine wirtschaftliche Tätigkeit und damit für Lieferungen und sonstige Leistungen verwenden. Erbringt er derartige Leistungen umsatzsteuerrechtlich im Mitgliedstaat der Gestellung und damit im Mitgliedstaat des physischen Verbringens, können auch dafür dort umsatzsteuerrechtliche Registrierungs- und Erklärungspflichten entstehen, die den Vorteil der zentralen Zollabwicklung und damit die Verlagerung von Erklärungspflichten aus dem Mitgliedstaat des physischen Verbringens in den Ansässigkeitsmitgliedstaat zunichtemachen. Steuerliche Registrierungspflichten lassen sich in derartigen Fällen nur selten wie etwa im Rahmen einer Fiskalvertretung vermeiden, wenn z.B. der Einfuhr eine steuerfreie innergemeinschaftliche Anschlusslieferung nachfolgt.5 Außerhalb dieser nur eingeschränkt anwendbaren Sonderregelung stellt sich damit die Frage, ob die mit der zentralen Zollabwicklung gewollte Vereinfachung steuerrechtlich konterkariert wird. Hierfür ist entscheidend, ob überhaupt in Bezug auf die steuerrechtliche Einfuhr und eine umsatzsteuerrechtliche Anschlussverwendung Steuertatbestände im Mitgliedstaat des physischen Verbringens verwirklicht werden. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.

2 Lux in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 179 UZK Rz. 1. 3 Lux in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 179 UZK Rz. 1. 4 Zu den Folgen bei einer wortlautorientierten Betrachtung vgl. Lux in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO/FGO, Art. 179 UZK Rz. 3 und Wäger, ZfZ 2008, 121 ff., 123. 5 Vgl. hierzu Art. 204 MwStSystRL und § 22a UStG sowie BMF v. 11.5.1999, BStBl. I 1999, 515, Rz. 5.

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II. Bestimmung des steuerrechtlichen Einfuhrorts 1. Einfuhr im Unionsrecht a) Regelungen der MwStSystRL aa) Steuerbarkeit und Definition Die Regelungen der MwStSystRL zur Einfuhr folgen in ihrer Systematik denen zur Lieferung und zur Dienstleitung. Dementsprechend bestehen auch bei der Einfuhr gesonderte Regelungen zur Steuerbarkeit, zur Definition der Einfuhr, dem Ort der Einfuhr, zum Eintritt von Steuertatbestand und Steueranspruch sowie weitere – hier nicht zu vertiefende – Bestimmungen zu Bemessungsgrundlagen und Befreiungstatbeständen. Die Einfuhr von Gegenständen unterliegt ohne weitere Voraussetzungen gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL dem Anwendungsbereich der Richtlinie. Für die Steuerbarkeit kommt es somit nicht darauf an, ob eine Einfuhr durch einen Unternehmer vorliegt oder ob sich die Einfuhr im Rahmen eines entgeltlichen Vorgangs vollzieht. Bei der Definition der Einfuhr differenziert die Richtlinie in Art. 30 MwStSystRL danach, ob es sich um einen Gegenstand handelt, der sich im freien Verkehr der Union befindet. Ist dies wie bei Drittlandswaren zu verneinen, genügt für die Einfuhr nach dieser Definition das bloße Verbringen in die Gemeinschaft (Union). Bei Gegenständen des freien Verkehrs kommt es demgegenüber nur dann zu einer Einfuhr, wenn sie aus einem Gebiet verbracht werden, das zum Zollgebiet, aber nicht zum Steuergebiet der Union gehört. Diesem Sonderfall, wie er etwas beim Verbringen von den Kanarischen Inseln in das Inland vorliegt, soll im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden. bb) Ort Zum Ort der Einfuhr ordnet Art. 60 MwStSystRL an, dass diese in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird. Ergänzt wird dies durch Art. 61 MwStSystRL. Danach besteht insbesondere eine Sonderregelung für Gegenstände, die sich nicht im freien Verkehr befinden und damit für Nicht-Unionswaren (Nichtgemeinschaftswaren). Unterliegen diese vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Union (Gemeinschaft) einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne des Art. 156 MwStSystRL, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren, erfolgt die Einfuhr in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Gegenstand diesen Verfahren oder der sonstigen Regelung nicht mehr unterliegt.

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cc) Steuertatbestand und Steueranspruch Steuertatbestand und Steueranspruch treten gemäß Art. 70 MwStSystRL zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt. Weitere Sonderregelungen bestehen nach Art. 71 MwStSystRL. Unterliegen die Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Gemeinschaft den in Art. 61 MwStSystRL bezeichneten Verfahren oder Regelungen, treten Steuertatbestand und Steueranspruch gemäß Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesen Verfahren oder diesen sonstigen Regelungen nicht mehr unterliegen. Ergänzt wird dies schließlich durch Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL. Sowohl für eingeführte Gegenstände, die Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung unterliegen, wie auch für eingeführte Gegenstände, auf die das nicht zutrifft, wird angeordnet, dass Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben entstehen oder aber dass – bei Fehlen einer Zollpflicht – die für Zölle geltenden Vorschriften gleichwohl anzuwenden sind. Für die hier zu erörternden Fragestellungen kommt es dabei maßgeblich auf den Eintritt des Steuertatbestandes an, so dass dem Entstehen des Steueranspruchs nicht gesondert nachzugehen ist. b) Bewertung des Normsystems aa) Abweichung vom Regelprinzip Die Bestimmungen der Richtlinie zur Einfuhr folgen der auch für Lieferungen und Dienstleistungen bestehenden Systematik, weisen aber in Bezug auf die Bestimmung des Steuertatbestandes einen gravierenden Unterschied auf. Der Steuertatbestand tritt gemäß Art. 63 MwStSystRL bei Lieferungen und Dienstleistungen mit dem Bewirken (Erbringen) dieser in Art. 14 ff. und Art. 24 ff. MwStSystRL definierten Leistungen ein, ohne die Definition der Lieferung oder Dienstleistung zu beeinflussen. Das Bewirken oder Erbringen der Leistung betrifft damit nur die Verwirklichung anderweitig definierter Tatbestände. Diesem Prinzip entspricht nur Art. 70 MwStSystRL, der für den Eintritt des Steuertatbestandes darauf abstellt, dass eine Einfuhr erfolgt. Zu einem Bruch mit der allgemeinen Systematik kommt es bereits durch Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL, nach dem es für den Eintritt des Steuertatbestandes auf die Ortsbestimmung in Art. 61 MwStSystRL ankommt. Dies ist für sich betrachtet im Ergebnis nicht bedeutungsvoll, kann man Art. 61 MwStSystRL letztlich auch als eine gesetzgeberische fehlverortete Regelung ansehen, die steuersystematisch bereits im Anschluss an die Einfuhrdefinition in Art. 30 MwStSystRL zu treffen gewesen wäre. Schwerwiegender ist die durch Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL – sowohl bei Zollpflicht auch bei Fehlen der Zollpflicht angeordnete  – Maßgeblichkeit des ­Zolltatbestandes für die Entstehung des steuerrechtlichen Einfuhrtatbestandes. Denn Art. 30 MwStSystRL definiert die Einfuhr ohne Bezugnahme auf das Zollrecht. 452

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Damit stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis das Erfolgen der Einfuhr (Art. 70 MwStSystRL), die Beendigung der in Art.  61 MwStSystRL genannten Regelungen (Art. 71 Abs.  1 UA 1 MwStSystRL) und die Maßgeblichkeit des Zolltatbestandes (Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL) zueinanderstehen. bb) Vorrang des Zollschuldtatbestandes Bei systematischer Betrachtungsweise ist das Anknüpfen an den Zolltatbestand nach Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL als vorrangig anzuwendende Regelung maßgeblich. Der Steuertatbestand der Einfuhr liegt dann mit dem Eintritt des Zolltatbestandes und dabei mit dem Eintritt des Zollschuldtatbestandes vor. Diese Bestimmungen verdrängen die allgemeinen Regelungen in Art. 70 und Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL. Dies ist auch in Bezug auf den Ort der steuerrechtlichen Einfuhr zu beachten. In Bezug auf die Ortbestimmung der steuerrechtlichen Einfuhr enthalten Art. 60 und Art. 61 MwStSystRL nur Regelungen für den Fall, dass sich der Eintritt des Steuertatbestandes der Einfuhr nach Art. 70 und Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL richtet. Demgegenüber verfügt die Richtlinie über keine Bestimmung zur Ortsbestimmung für den Fall, dass sich der Eintritt des Steuertatbestandes entsprechend Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL nach dem Zollschuldtatbestand richtet. Diese Regelungslücke ist dahingehend zu schließen, dass es dann für den Ort der steuerrechtlichen Einfuhr auf den Ort der zollrechtlichen Einfuhr ankommt. Ein gleichwohl erfolgendes Abstellen auf die hierfür nicht geschaffenen Regelungen in Art. 70 und Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL wäre sinnwidrig. c) EuGH-Rechtsprechung aa) Urteile des EuGH (1) Bestimmung des Einfuhrorts Zu einer Vorgängerbestimmung von Art. 61 MwStSystRL hat der EuGH im Urteil Liberexim6 entschieden, dass ein Gegenstand an dem Ort nicht mehr den in dieser Bestimmung genannten Verfahren und Regelungen unterliegt, an dem die Zollschuld aufgrund eines Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung oder eines sonstigen Pflichtverstoßes entsteht. (2) Unterbleiben der Einfuhr aufgrund Beschlagnahmung beim vorschriftswidrigen Verbringen Im Urteil Dansk Transport og Logistik7 hat sich der EuGH mit einer Vorgängerbestimmung von Art. 71 Abs. 1 UA 1 und 2 MwStSystRL befasst. Nach seinem Urteil sind 6 EuGH v. 11.7.2002 – C-371/99, Liberexim, EU:C:2002:433, Rz. 92 ff. 7 EuGH v. 29.4.2010 – C-230/08, Dansk Transport og Logistik, EU:C:2010:231.

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Waren, die vorschriftswidrig in das Zollgebiet verbracht und von den Zollbehörden bei ihrem Verbringen in die Gemeinschaft beschlagnahmt und vernichtet werden, gemäß Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL nicht als in die Gemeinschaft eingeführt anzusehen, so dass der Steuertatbestand der Einfuhr nicht eingetreten ist. Kommt es hierzu erst nachdem die Ware bereits über die erste Zollstelle hinausgelangt ist, entsteht der steuerrechtliche Einfuhrtatbestand demgegenüber nach Art. 71 Abs. 1 UA 2 MwStSystRL. Dies deutet auf ein Komplementärverhältnis der beiden Bestimmungen hin, nach dem die erste den Eintritt des Einfuhrtatbestandes aufschiebt, während beim Entfallen der dort genannten Bedingungen der steuerliche Einfuhrtatbestand nach der zweiten Bestimmung eintritt. Mit dieser Entscheidung hat der EuGH zudem einer starren Anknüpfung des Eintritts des steuerlichen Einfuhrtatbestandes an den bloßen Tatbestand der Zollschuldentstehung eine Absage erteilt. Denn der EuGH geht davon aus, dass der steuerliche Einfuhrtatbestand aufgrund eines vorschriftswidrigen Verbringens gemäß Art. 202 ZK entstanden, aber aufgrund des Erlöschenstatbestandes nach Art. 233 Abs. 1 Buchst. d ZK, der für die Beschlagnahme und Einziehung vorschriftswidrig verbrachter Ware gilt, erloschen ist.8 Der EuGH kann daher so verstanden werden, dass die steuerrechtliche Verweisung auf die Zollvorschriften zu Tatbestand und Anspruch so zu verstehen ist, dass sich diese Verweisung nicht nur auf die Zollschuldentstehungstatbestände, sondern auch auf einzelne Erlöschenstatbestände bezieht. (3) Raub aus dem Zolllagerverfahren Im Urteil Harry Winston9 ging es um Waren, die aus den Zolllager geraubt wurden. Der EuGH nimmt hier eine Zollschuldentstehung nach Art. 203 ZK an, so dass ein Unterbleiben der Zollschuldentstehung nach Art. 206 ZK, der nur die Entstehung nach Art. 202 und Art. 204 ZK für die Fälle der Vernichtung, der Zerstörung oder des unwiederbringlichen Verlusts aus Gründen von Zufall oder von höherer Gewalt erfasst, nicht in Betracht kommt. In Bezug auf den Steuertatbestand der Einfuhr entschied der EuGH, dass der Raub von Waren, die dem Zolllagerverfahren unterliegen, zum Eintritt des Steuertatbestandes der Einfuhr gemäß Art. 71 Abs. 1 UA 2 MwStSystRL führt. In seinem Urteil erwähnt der EuGH die Entstehung des Einfuhrtatbestandes nach Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL, wenn Gegenstände den dort genannten Verfahren nicht mehr unterliegen, ohne sich aber mit dem systematischen Verhältnis der einzelnen Tatbestände des Art. 71 MwStSystRL zu befassen. Allerdings deutet das Urteil darauf hin, dass Art. 71 Abs. 1 UA 2 MwStSystRL als vorrangiger Sondertatbestand zu Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL anzusehen sein könnte.10 8 EuGH v. 29.4.2010 – C-230/08, Dansk Transport og Logistik, EU:C:2010:231, Rz. 98. 9 EuGH v. 11.7.2013 – C-273/12, Harry Winston, EU:C:2013:466. 10 EuGH v. 11.7.2013 – C-273/12, Harry Winston, EU:C:2013:466, Rz. 40.

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(4) Überschreitung der Gestellungsfrist im Versandverfahren Im Urteil X BV11 hatte sich der EuGH mit der Überschreitung der Gestellungsfrist im Versandverfahren zu beschäftigen, die zwar nicht zu einer Zollschuldentstehung nach Art. 203 ZK, wohl aber zur Zollschuldentstehung nach Art. 204 ZK führt. In Bezug auf den Steuertatbestand der Einfuhr entschied der EuGH zur Vorgängerbestimmung von Art. 61 MwStSystRL lediglich, dass das nationale Gericht zu prüfen habe, ob die Ware aufgrund der Überschreitung der Gestellungsfrist dem externen Versandverfahren „noch oder nicht mehr unterliegt, was gegebenenfalls zum Entstehen einer Zollschuld gemäß den Art. 203 oder 204 des Zollkodex führt.“12 Während dies die Möglichkeit in den Raum stellt, dass die Ware trotz Zollschuldentstehung noch dem in Art. 61 MwStSystRL genannten Verfahren unterliegen könnte, spricht die weitere Urteilsbegründung dafür, dass es für die Frage, ob die Ware einem derartigen Verfahren noch unterliegt, darauf ankommt, ob die Zollschuld entstanden ist.13 Dementsprechend beantwortet der EuGH die ihm gestellte Frage dahingehend, dass die Ware auch dann dem Verfahren nicht mehr unterliegt, wenn die Zollschuld nach Art. 204 ZK entstanden ist.14 (5) Verfahrensfehler vor Wiederausfuhr Im Urteil Eurogate und DHL15 musste sich der EuGH mit zwei Arten von Verfahrensfehlern befassen. Zum einen ging es um die Entnahme von Nichtgemeinschaftswaren im Zolllagerverfahren, die mit einer zeitlichen Verzögerung von 11 bis 126 Tagen in den Bestandsaufzeichnungen erfasst wurden. Die Zollbehörde stellte diesen Fehler erst fest, nachdem die Waren bereits wieder ausgeführt worden waren. Hierdurch war die Zollschuld nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK entstanden, wie der EuGH in Bezug auf diese Rechtssache bereits in einem früheren Urteil entschieden hatte.16 Zum anderen ging es um Nichtgemeinschaftsware, die im externen Versandverfahren ohne die erforderliche Gestellung in das Drittlandsgebiet befördert wurde. Auch hier war die Zollschuldentstehung nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. b ZK unstreitig. In Bezug auf die Pflichtverletzung im Zolllagerverfahren ging der EuGH davon aus, dass die Ware trotz der Zollschuldentstehung nach Art. 204 ZK weiter dem Zolllagerverfahren unterlegen habe, so dass sich die Ware nach der Vorgängerregelung zu Art. 61 MwStSystRL immer noch in dem dort bezeichneten Zolllagerverfahren befunden habe. Bemerkenswert ist dabei nicht nur das Ergebnis, sondern auch seine Begründung. Der EuGH führt für den Verbleib der Ware im Zolllagerverfahren an, 11 EuGH v. 15.5.2014 – C-480/12, X BV, EU:C:2014:329. 12 EuGH v. 15.5.2014 – C-480/12, X BV, EU:C:2014:329, Rz. 52. 13 EuGH v. 15.5.2014 – C-480/12, X BV, EU:C:2014:329, Rz. 53 f. 14 EuGH v. 15.5.2014 – C-480/12, X BV, EU:C:2014:329, Rz. 55 und Antwort auf die zweite Frage. 15 EuGH v. 2.6.2016 – C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, EU:C:2016:405. 16 EuGH v. 6.9.2012 – C-28/11, Eurogate Distribution, EU:C:2012:533.

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dass der Pflichtverstoß erst nach der Wiederausfuhr festgestellt worden sei.17 Mit dieser Maßgabe hätte der EuGH eigentlich bereits die Zollschuldentstehung verneinen können. Für den Fall der fehlenden Gestellung im Versandverfahren ging der EuGH davon aus, dass die Ware bei der Wiederausfuhr dem Versandverfahren noch unterlegen habe. 18 Ob dies ohne die vorgeschriebene Gestellung überhaupt hinreichend feststellbar ist, spielte für den EuGH keine Rolle. (6) Entziehen aus zollamtlicher Überwachung in Freizonen Über Verfahrensfehler vor der Wiederausfuhr von Nichtgemeinschaftsware hatte der EuGH auch im Urteil Wallenborn Transports19 zu entscheiden. Hier wurde in das Zollgebiet eingeführte Nicht-Unionsware (Nichtgemeinschaftsware) zum externen Versandverfahren angemeldet, in diesem Verfahren in den Freihafen Hamburg befördert, dort ohne Gestellung bei der Bestimmungszollstelle entladen und sodann über Finnland nach Russland wieder ausgeführt. Der EuGH befasst sich mit vier Themenbereichen. ȤȤ Der EuGH geht zunächst davon aus, dass Art. 61 i.V.m. Art. 156 Abs. 1 Buchst. b und Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL nicht nur in Bezug auf das Versandverfahren, sondern auch hinsichtlich des Freihafens anzuwenden ist, da es sich beim Freihafen um eine in Art. 156 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL genannte Freizone handelt.20 ȤȤ Weiter wird die Ware nach dem Urteil des EuGH aufgrund der unterbliebenen Gestellung der zollamtlichen Überwachung auch dann entzogen, wenn die erforderliche Gestellung in der Freizone unterbleibt, so dass zollrechtlich die Zollschuld nach Art. 203 ZK entsteht.21 Diese ist jedenfalls im Hinblick auf die Zugehörigkeit der Freizone zum Zollgebiet22 zutreffend. ȤȤ Damit kommt der EuGH zur eigentlich entscheidenden Frage, welche Folgen sich steuerrechtlich aus dem Entziehen aus der im Zusammenhang mit dem Versandverfahren bestehenden zollamtlichen Überwachung ergeben, wenn in der Freizone entzogen wird. Hierzu geht der EuGH davon aus, dass ein Gegenstand, der der zollamtlichen Überwachung, die im Zusammenhang mit einem Versandverfahren besteht, in einer Freizone entzogen wird, gleichwohl noch der Freizonenregelung unterliegen kann.23 Im Hinblick auf den Eintritt des Steuertatbestandes der Einfuhr verneint der EuGH die Anwendung von Art. 71 Abs. 1 UA 2 MwStSystRL, da 17 EuGH v. 2.6.2016 – C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, EU:C:2016:405, Rz. 65 f. 18 EuGH v. 2.6.2016 – C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, EU:C:2016:405, Rz. 75 ff. 19 EuGH v. 1.6.2017 – C-571/15, Wallenborn Transports, EU:C:2017:417. 20 EuGH v. 1.6.2017 – C-571/15, Wallenborn Transports, EU:C:2017:417, Rz. 44 ff. 21 EuGH v. 1.6.2017 – C-571/15, Wallenborn Transports, EU:C:2017:417, Rz. 51 f. 22 Art. 166 ZK. 23 EuGH v. 1.6.2017 – C-571/15, Wallenborn Transports, EU:C:2017:417, Rz. 52.

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es an einem „Ort der Einfuhr“ fehle. Der Steueranspruch der Einfuhr trete nur dann ein, wenn die Ware in den Wirtschaftskreislauf der Union überführt werde.24 ȤȤ Schließlich geht es um die Frage, ob nach Art. 71 Abs. 1 UA 2 MwStSystRL der steuerliche Einfuhrtatbestand vorliegen kann, da neben dem Zollschuldtatbestand nach Art. 203 ZK für steuerliche Zwecke auch die Anwendung von Art. 204 ZK bejahen sei. Dem verweigert sich der EuGH zutreffend, indem er auf die vorrangige Anwendung von Art. 203 ZK verweist und einer nur steuerrechtlichen Zusatzanwendung von Art. 204 ZK eine Absage erteilt.25 Ob dem Urteil des EuGH über den Einzelfall hinaus weitergehende Folgerungen entnehmen lassen, erscheint fraglich. Denn die eigentliche Problematik des Falles besteht darin, dass der Freihafen und damit die Freizone zwar zum Zollgebiet der Union, nach der Ausgestaltung des nationalen Steuerrechts in § 1 Abs. 2 Satz 1 UStG aber nicht zum Steuergebiet des betroffenen Mitgliedstaats gehört. Sieht man diesen Ausschluss aus dem Steuergebiet als unionsrechtskonform an26, erfolgte das Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung bereits nicht im Steuergebiet der Union, so dass der EuGH beim dritten Fragenkomplex zur Recht davon ausgeht, dass es an einem „Ort der Einfuhr“ in der Union fehlt. (7) Schwund im Versandverfahren Zu einem Warenschwund im Versandverfahren aufgrund einer defekten Verschlussvorrichtung hat der EuGH im Urteil Latvijas27 entschieden, dass es zollrechtlich zwar nicht zu einem Entziehen nach Art. 203 ZK kommt, aber eine Pflichtverletzung nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK vorliegt. Dabei gilt aber die Zollschuld als nach Art. 206 ZK nicht entstanden, wenn die Beschädigung der Entladevorrichtung als höhere Gewalt oder Zufall entsprechend dieser Bestimmung anzusehen ist.28 Unabhängig hiervon ist nach dem Urteil des EuGH für den in dieser Weise unwiederbringlich verlorenen Warenteil keine Steuer aufgrund einer Einfuhr nach Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL zu entrichten. Die Diskrepanz zwischen Zoll- und Steuerrecht begründet der EuGH damit, dass das Ausscheiden aus den in Art. 61 MwStSyst­ RL genannten Verfahren zu einem Eingang in den Wirtschaftskreislauf der Union führen muss, woran es fehlt, wenn eine Ware nicht mehr existiert und von niemanden

24 EuGH v. 1.6.2017 – C-571/15, Wallenborn Transports, EU:C:2017:417, Rz. 24. 25 EuGH v. 1.6.2017 – C-571/15, Wallenborn Transports, EU:C:2017:417, Rz. 61 ff. 26 Nach einer Protokollerklärung zu Art. 16 der 6. USt-RL (abgedruckt bei Birkenfeld/Forst, Das Umsatzsteuerrecht im Europäischen Binnenmarkt, 2. Aufl., Berlin 1994, 221) darf der deutsche Gesetzgeber sie vom territorialen Anwendungsbereich der 6. USt-RL ausnehmen (vgl. dazu Schlienkamp, UR 1992, 157 [158]), sofern eine Besteuerung des Letztverbrauchs – wie durch § 1 Abs. 3 UStG – sichergestellt wird; vgl. hierzu auch Jansen in Birkenfeld/Wäger, USt-Hdb, § 1 Abs. 2, 2a UStG, Rz. 35. 27 EuGH v. 18.5.2017 – C-154/16, Latvijas dzelzceļš, EU:C:2017:392. 28 EuGH v. 18.5.2017 – C-154/16, Latvijas dzelzceļš, EU:C:2017:392, erster und zweiter Leitsatz.

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mehr verwendet werden kann.29 Zur Anwendung von Art. 71 Abs. 1 UA 2 MwStSyst­ RL äußert sich der EuGH nicht. In der Sache hätte dieses Ergebnis auch damit begründet werden können, dass das Nichtentstehung der Zollschuld nach Art. 206 ZK der Annahme einer Einfuhr im Steuerrecht entgegensteht. bb) Bewertung der Rechtsprechung (1) Differenzierung zwischen Zoll- und Steuerrecht Betrachtet man die EuGH-Rechtsprechung, wirken insbesondere die beiden Urteile Eurogate widersprüchlich. So soll die Feststellung, dass Entnahmen aus dem Zolllagerverfahren erst verspätet und dabei erst nach einer Wiederausfuhr in den Bestandsaufzeichnungen erfasst wurden, der Zollschuldentstehung nach Art. 204 Abs.  1 Buchst. a ZK nicht entgegenstehen, während gleichzeitig keine steuerrechtliche Einfuhr vorliegt, da der Pflichtverstoß erst nach der Wiederausfuhr festgestellt wurde, so dass die Ware bis zur Wiederausfuhr dem Zolllagerverfahren unterlegen habe.30 Bereits im Hinblick auf darauf, dass der EuGH sowohl in Bezug auf die Zollschuldentstehung als auch für den steuerlichen Einfuhrtatbestand auf den Eingang in den Wirtschaftskreislauf der Union abstellt31, erscheint dies fragwürdig. Die Differen­ zierung des EuGH lässt sich auch nicht mit den unterschiedlichen Blickwinkeln von Art. 204 ZK, der nach einem Verfahrensverstoß fragt, und Art. 61 MwStSystRL, für den es darauf ankommt, ob Waren den dort genannten Verfahren und Regelungen unterliegen, rechtfertigen. Denn auch die Zollschuld nach Art. 204 ZK entsteht nicht, wenn sich „Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.“ Unterliegt die Ware i.S.v. Art. 61 MwStSystRL trotz Verfahrensfehlern noch den dort genannten Verfahren haben sich diese auch nicht wirklich auf die Durchführung des Verfahrens ausgewirkt und können sich dann auch nicht zollschuldbegründend auswirken. Damit geht es eigentlich um eine steuerrechtliche Korrektur der überdehnten Rechtsprechung des EuGH zum Zollschuldrecht, die bereits geringfügige Verfahrensfehler als zollschuldbegründend bewertet und dabei den fast schon willkürlich gebildeten Katalog des Art. 859 ZK-DVO als abschließende Regelung der Fälle ansieht, in denen sich Verfehlungen i.S.  von Art. 204 ZK nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.32 Die sich hieraus ergebende Differenzierung zwischen Zoll- und Steuerrecht ist aufgrund des hierfür erforderlichen, aber fehlenden 29 EuGH v. 18.5.2017 – C-154/16, Latvijas dzelzceļš, EU:C:2017:392, Rz. 67 ff. 30 S. oben II.1.c)aa)(5). 31 EuGH v. 29.4.2010 – C-230/08, Dansk Transport og Logistik,EU:C:2010:231, Rz. 91 und EuGH v. 11.7.2013 – C-273/12, Harry Winston, EU:C:2013:466, Rz. 41. 32 EuGH v. 11.11.1999 – C-48/98, Söhl & Söhlke, EU:C:1999:548, Rz. 43.

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Sachgrundes bedauerlich. Letztlich ist eine derartige Unterscheidung aber gegenüber einer Fehlerübertragung aus dem Zoll- in das Steuerrecht vorzugswürdig. Ein Übermaß an Kritik erübrigt sich allerdings, da der Unionsgesetzgeber aufgrund der Neuregelungen durch den UZK der bisherigen Rechtsprechung des EuGH den Boden entzogen hat. So wurden zum einen die bisherigen Zollschuldtatbestände beim vorschriftswidrigen Verbringen, bei der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung und bei Verfahrensfehlern nach Art. 202 bis Art. 204 ZK in einem Tatbestand zusammengefasst. Nach Art. 79 UZK entsteht in diesen Fällen die Zollschuld nach einheitlichen Regeln für Verstöße. Noch wichtiger sind zum anderen die erweiterten Tatbestände für das Erlöschen der Zollschuld nach Art. 124 UZK. Dabei führt nunmehr insbesondere das Verbringen der Ware aus dem Zollgebiet gemäß Art. 124 Abs. 1 Buchst. k UZK zu einem Erlöschen der Zollschuld. Damit hat für die heute bestehende Rechtslage die vom EuGH als zutreffend erachtete Differenzierung zwischen Zoll- und Steuerrecht dadurch ihr Ende gefunden, als dass nunmehr in den Fällen, in denen bereits der EuGH steuerrechtlich den Einfuhrtatbestand verneint hat, aufgrund der Neuregelung nunmehr auch die Zollschuld erlischt.33 Hieraus ergibt sich nun auch eine Rückkoppelung auf das Steuerrecht. Denn nach der EuGH-Rechtsprechung, die aufgrund von Tatbeständen, die zum Erlöschen der Zollschuld führen, steuerrechtlich die Einfuhr verneint34, tritt nach Maßgabe der Verweisung der MwStSystRL35, die sich heute auf den UZK bezieht, der steuerliche Einfuhrtatbestand bei einer Warenverbringung in Drittländer nach Art. 124 Abs. 1 Buchst. k UZK nicht ein.36 (2) Differenzierung zwischen verspäteter und unterbliebener Gestellung Fragwürdig ist auch die Differenzierung des EuGH zwischen verspäteter und unterbliebener Gestellung. In beiden Fällen entsteht nach den EuGH-Urteilen X BV37 sowie Eurogate und DHL38 die Zollschuld nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK. Steuerrechtlich soll demgegenüber nach dem Urteil X BV die Überschreitung der Gestellungsfrist im Versandverfahren dazu führen, dass die Ware Art. 61 MwStSystRL nicht mehr unterliegt, so dass steuerrechtlich der Einfuhrtatbestand vorliegt, während bei einem völligen Unterbleiben der Gestellung nach dem Urteil Eurogate und DHL steuerrechtlich keine Einfuhr vorliegt, da die Ware den in Art. 61 MwStSystRL gennannten Verfahren weiter unterliegen kann.39 Diese Unterscheidung ist für offensichtlich unzutreffend und erklärt sich daraus, dass im Urteil Eurogate und DHL zusätzlich eine Wiederausfuhr angenommen wurde. 33 S. oben II.1.c)aa)(5). 34 S. oben II.1.c)aa)(2). 35 S. oben II.1.b)bb). 36 Zutreffend Wolffgang, UR 2017, 845 ff., 852. 37 S. oben II.1.c)aa)(4). 38 S. oben II.1.c)aa)(5). 39 S. oben II.1.c)aa)(4) und (5).

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Damit ist sowohl für den Fall der verspäteten Gestellung als auch für den der unterbliebenen Gestellung von einer Zollschuldentstehung auszugehen, die nur aufgrund der Wiederausfuhr sowohl die Zollschuld als auch den steuerrechtlichen Einfuhrtatbestand nach Art. 124 Abs. 1 Buchst. k UZK entfallen lässt.40 (3) Verhältnis der Steuertatbestände bei der Einfuhr Nicht eindeutig ist die EuGH-Rechtsprechung zum Eintritt des steuerlichen Einfuhrtatbestandes, wenn Gegenstände nicht mehr den in Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL genannten Verfahren unterliegen, und dem Eintritt des steuerlichen Einfuhrtatbestandes aufgrund einer Zollschuldentstehung nach Art. 71 Abs. 1 UA 2 und entsprechend Art. 71 Abs. 2 MwStSystRL. Die EuGH-Urteile Harry Winston41 und X BV42 deuten darauf hin, dass sich der Eintritt des steuerlichen Einfuhrtatbestandes nach der Zollschuldentstehung richtet. Gegenstände unterliegen danach dann nicht mehr den Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL genannten Verfahren und Regelungen, wenn für sie eine Zollschuld entstanden ist. Eine Sperrwirkung im dem Sinne, dass trotz Zollschuldentstehung keine steuerrechtliche Einfuhr vorliegt, ist dann Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL nur insoweit zu entnehmen, als diese Bestimmung auch die Verwendung für Bohrinseln und Förderplattformen erfasst. Demgegenüber könnte aus dem EuGH-Urteil Eurogate und DHL43 eine weitergehende Sperrwirkung abgeleitet werden, da der EuGH trotz Zollschuldentstehung die steuerliche Einfuhr verneint.44 Dies beruht aber nach der hier vertretenen Auffassung auf der nunmehr überholten Rechtsprechung zum alten Zollkodex und ist nicht auf die Rechtslage nach dem UZK zu übertragen.45 2. Einfuhr im nationalen Recht Im nationalen Recht bestehen die vorstehend beschriebenen Auslegungsprobleme46 nicht. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG ordnet an, dass als Einfuhrumsatzsteuer die Einfuhr von Gegenständen im Inland oder in den österreichischen Gebieten Jungholz und Mittelberg steuerbar ist. Nach § 21 Abs. 2 UStG gelten für die Einfuhrumsatzsteuer die Vorschriften für Zölle sinngemäß. Ausgenommen sind die Vorschriften über den aktiven

40 Zudem könnte Art. 124 Abs. 1 Buchst. h UZK bei einer verspäteten Gestellung zu einem Erlöschen der Zollschuld führen, wenn sich hieraus keine erheblichen Auswirkungen auf ordnungsgemäße Verfahrensabwicklung ergeben, kein Täuschungsversich vorliegt und die Formalitäten nachträglich erfüllt werden; vgl. hierzu auch die im Vergleich zu Art. 859 ZKDVO weit großzügigere Regelung in Art. 103 DA. 41 S. oben II.1.c)aa)(3). 42 S. oben II.1.c)aa)(4). 43 S. oben II.1.c)aa)(5). 44 So aber Schrömbges/Killmann, AwPrax 2017, 119 ff., 122 f.: „sensationelle Feststellungen“ im Urteil „Eurogate II“. 45 S. oben II.1.d)bb)(1). 46 S. oben II.1.

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Zentrale Zollabwicklung und steuerrechtliche Vereinfachung

Veredelungsverkehr nach dem Verfahren der Zollrückvergütung und über den passiven Veredelungsverkehr. Damit hat sich der nationale Gesetzgeber letztlich dafür entschieden, bei der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL Vorrang einzuräumen. Auf dieser Grundlage erübrigt sich eine Art. 70 und Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL entsprechende Anordnung. Nach der hier vertretenen Auffassung47 ist damit den Anforderungen der Richtlinie genügt. Anders ist es nur für die Verwendung von Gegenständen für die in Art. 71 Abs. 1 UA 1 i.V.m. Art. 61 und Art. 156 Abs. 1 Buchst. d und e MwStSystRL bezeichneten Bohrinseln oder Förderplattformen. Eine gesonderte Umsetzung wurde möglicherweise im Hinblick auf das Fehlen praktischer Anwendungsfälle oder das bei einer derartigen Verwendung bestehende Recht auf Vorsteuerabzug nicht als erforderlich angesehen. Der Ausschluss des aktiven Veredelungsverkehrs nach dem Verfahren der Rückvergütung ist nach der Abschaffung dieser Verfahrensform mit dem Übergang zum UZK bedeutungslos geworden. Dem Ausschluss des Verfahrens der passiven Veredelung kommt im Hinblick auf die Sonderregelung zur Bemessungsgrundlage in § 11 Abs. 2 UStG ohnehin keine Bedeutung zu. 3. Folgen für die Einfuhr bei zentraler Zollabwicklung a) Einfuhrort im Allgemeinen Nach dem Wortlaut der Richtlinie in Art. 60 f. MwStSystRL erfolgt die Einfuhr entweder in dem Mitgliedstaat, in den der Gegenstand verbracht wird, oder in dem Mitgliedstaat, in dem der Gegenstand den in Art. 61 MwStSystRL genannten Regelungen nicht mehr unterliegt. Betrachtet man die Rechtslage demgegenüber nach Maßgabe des hier angenommenen Vorrangs der Zollschuldentstehung48, erfolgt die Einfuhr an dem Ort, an dem die Zollschuld entsteht. Unterschiede ergeben sich aus diesen beiden Sichtweisen bislang eher nicht. Wird ein aus einem Drittland eingeführter Gegenstand z.B. im Mitgliedstaat A in das Zolllagerverfahren überführt, das im Mitgliedstaat B im Zusammenhang mit einer dort vorgenommenen Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr beendet wird, kommt es sowohl nach dem Wortlaut von Art. 61 i.V.m. Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL als auch nach der hier vertretenen Sichtweise aufgrund des hier angenommenen Vorrangs von Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL zu einer steuerrechtlichen Einfuhr im Mitgliedstaat B.49 47 S. oben II.1.b)bb). 48 S. oben II.1.b)bb) und 1.c)bb). 49 Gesondert zu überlegen ist, ob im Verhältnis der beiden Mitgliedstaaten auch eine innergemeinschaftliche Lieferung und ein innergemeinschaftlicher Erwerb vorliegen können. Auf der Grundlage des EuGH v. 8.11.2015 – C-165/11, Profitube, EU:C:2012:692 dürfte dies zu bejahen sein. Die vom EuGH bejahte Annahme einer Steuerbarkeit der Lieferung im Zoll-

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b) Einfuhrort bei zentraler Zollabwicklung Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zur Bestimmung von Einfuhr und Einfuhrtatbestand sind aber künftig für die zentrale Zollabwicklung von entscheidender Bedeutung. Wird für einen aus einem Drittland eingeführten Gegenstand, der sich bei der Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr im Mitgliedstaat A befindet, im Rahmen der zentralen Zollabwicklung die Zollanmeldung für die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr im Mitgliedstaat B abgegeben, so dass die Zollschuld im Mitgliedstaat B entsteht, stellt sich die Frage, in welchem der beiden Mitgliedstaaten die steuerrechtliche Einfuhr erfolgt. Bei einer wortlautbetonten Auslegung von Art. 61 i.V.m. Art. 70 und Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL kommt es zur steuerrechtlichen Einfuhr im Mitgliedstaat A, da die Voraussetzungen für eine Ortsverlagerung in den Mitgliedstaat B nach Art. 71 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL nicht vorliegen. Anders ist es nach der hier vertretenen Auffassung. Aus dem sich aus Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL ergebenden Vorrang des Zolltatbestandes folgt50, dass sich auch der Ort der Einfuhr nach dem Ort richtet, an dem die Zollschuld entsteht. Führt die zentrale Zollabwicklung dabei aufgrund der im Mitgliedstaat B abgegeben Zollanmeldung zur Überführung in den freien Verkehr einer Zollschuldentstehung im Mitgliedstaat B, liegt danach der Ort der steuerrechtlichen Einfuhr im Mitgliedstaat B. 4. Ergebnis Der Wortlaut von Art. 60 und Art. 61 MwStSystRL deutet darauf hin, dass sich der steuerrechtliche Einfuhrort bei der zentralen Zollabwicklung nicht in dem Mitgliedstaat befindet, in dem die Zollanmeldung abgegeben wird, sondern in dem Mitgliedstaat, in dem sich der Gegenstand befindet, für den die Zollanmeldung abgegeben wird. Demgegenüber ist unter Berücksichtigung der Regelungen zum Eintritt des Steuertatbestands eine Auslegung vorzugswürdig, nach der sich auch der Ort der steuerrechtlichen Einfuhr nach den zollrechtlichen Vorschriften richtet. Kommt den Art. 71 Abs. 1 UA 2 und Abs. 2 MwStSystRL beim Eintritt des Steuertatbestandes Vorrang zu, ist dies auch bei der Bestimmung des Einfuhrorts zu beachten. Im nationalen Recht ergibt sich dies unproblematisch aus § 21 Abs. 2 UStG.

lagerverfahren ist allerdings bereits im Ausgangspunkt verfehlt, vgl. Wäger, UR 2013, 81 ff., 82 f. Von einem „Kuriosum“ geht Scheller, UR 2016 ff., 566 aus. 50 S. oben II.1.b)bb) und 1.c)bb).

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Zentrale Zollabwicklung und steuerrechtliche Vereinfachung

III. Verwendung im Anschluss an die Einfuhr 1. Problemstellung Befindet sich ein Gegenstand im Mitgliedstaat A, während die Zollschuld für die Einfuhr im Rahmen der zentralen Zollabwicklung im Mitgliedstaat B entsteht, kommt es neben der Frage, an welchen Ort die steuerrechtliche Einfuhr erfolgt, auch auf die steuerrechtlichen Folgen einer Anschlussverwendung an. Dabei sind im Wesentlichen drei Fallgestaltung denkbar. Der Gegenstand verbleibt im Mitgliedstaat des physischen Verbringens (Mitgliedstaat A), er gelangt in den Mitgliedstaat, in dem die Zollschuld entstanden ist (Mitgliedstaat B) oder der Gegenstand gelangt in einen dritten Mitgliedstaat. 2. Keine Vereinfachung bei Annahme steuerrechtlicher Einfuhr im ­Mitgliedstaat des physischen Verbringens Geht man aufgrund einer wortlautbetonten Anwendung von Art. 60 und Art. 61 MwStSystRL davon aus, dass die steuerrechtliche Einfuhr im Mitgliedstaat des physischen Verbringens erfolgt, scheitert die mit der zentralen Zollabwicklung bezweckte Vereinfachung gleich mehrfach. Der Einführer muss sich im Mitgliedstaat der Einfuhr zum einen zur Versteuerung der Einfuhr steuerrechtlich registrieren. Gleiches gilt zum anderen im Hinblick auf die Anschlussverwendung. Kommt es im Mitgliedstaat des physischen Verbringens zu einer Inlandlieferung, ist diese durch den Einführer als Lieferer zu versteuern. Anders ist es nur, wenn der dort nicht ansässige Einführer den Gegenstand für eine sonstige Leistung oder Werklieferung verwendet und die Regelungen zur Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers anzuwenden sind51 oder der Mitgliedstaat des physischen Verbringens die Regelungen zum sog. Reverse Charge anders als im Inland auch allgemein auf Lieferungen ausländischer Unternehmer anwendet. Auch in den beiden anderen Fällen besteht eine Registrierungspflicht. Ist der Abnehmer Unternehmer, ist sowohl bei einer Lieferung in den Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung als auch bei einer Lieferung in einen dritten Mitgliedstaat eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung zu erklären. Bei einer Lieferung an Verbraucher gilt dasselbe im Rahmen des Versandhandels, wenn die Umsatzschwellen überschritten sind52. Eine Vereinfachungswirkung tritt dabei auch nicht durch die dann mögliche Steuerfreiheit der Einfuhr nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL ein. Denn diese ändert nichts an den Erklärungspflichten in Bezug auf Einfuhr und innergemeinschaftliche Anschlusslieferung. Zu einer Vereinfachung kommt es dann nur insoweit, als der Einführer die Möglichkeit der Fiskalvertretung53 nutzt.

51 Art. 194 MwStSystRL und § 13b UStG. 52 Art. 33 MwStSystRL und § 3c UStG. 53 S. oben I.

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3. Vereinfachung aufgrund steuerrechtlicher Einfuhr im Mitgliedstaat der ­zentralen Zollabwicklung a) Ort der Anschlusslieferung aa) Unionsrecht Auf der Grundlage der hier vertretenen Auffassung folgt aus der zollrechtlichen Vereinfachung auch eine steuerrechtliche Vereinfachung. Für die Versteuerung der Einfuhr ergibt sich dies bereits aus deren Erfassung im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung.54 Zudem lassen die sich aus einer Anschlussverwendung ergebenden steuerrechtlichen Pflichten gleichfalls im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung erfüllen. Für den Fall einer der Einfuhr nachfolgenden Lieferung folgt dies aus Art. 32 MwStSystRL. Nach Art. 32 Abs. 1 MwStSystRL gilt als Ort der Lieferung der Ort, an dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befindet, wenn der Gegenstand vom Lieferer, vom Erwerber oder von einer dritten Person versandt oder befördert wird. Befindet sich der Gegenstand im Mitgliedstaat des physischen Verbringens, kommt es nach dieser Bestimmung zu einer Lieferung aus diesem Mitgliedstaat und damit zu den bereits beschriebenen Regis­ trierungspflichten in diesem Mitgliedstaat.55 Demgegenüber verlagert sich der Lieferort unter den Bedingungen des Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL. Liegt der Ort, von dem aus die Gegenstände versandt oder befördert werden, in einem Drittgebiet oder in einem Drittland, gelten der Ort der Lieferung, die durch den Importeur bewirkt wird, der gemäß Art. 201 MwStSystRL als Steuerschuldner bestimmt oder anerkannt wurde, sowie der Ort etwaiger anschließender Lieferungen danach als in dem Mitgliedstaat gelegen, in den die Gegenstände eingeführt werden. Im Fall der Versendung oder Beförderung aus einem Drittland verlagert sich somit der Lieferort für die der Einfuhr nachfolgenden Lieferungen in den Mitgliedstaat der Einfuhr und damit nach der hier vertretenen Auffassung in den Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung. bb) Nationales Recht Das nationale Recht weicht bei der Umsetzung von Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL von der Richtlinie ab. Gelangt der Gegenstand der Lieferung bei der Beförderung oder Versendung aus dem Drittlandsgebiet in das Inland, gilt der Ort der Lieferung dieses Gegenstands nach § 3 Abs. 8 UStG als im Inland gelegen, wenn der Lieferer oder sein Beauftragter Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer ist.

54 S. oben II.4. 55 S. oben I.

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Zentrale Zollabwicklung und steuerrechtliche Vereinfachung

Als problematisch erweist sich dabei, dass die Ortsverlagerung nach § 3 Abs. 8 UStG tatbestandlich voraussetzt, dass der Gegenstand der Lieferung bei der Beförderung oder Versendung aus dem Drittlandsgebiet in das Inland gelangt. Demgegenüber stellt Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL nur darauf ab, dass der Ort, von dem aus die Gegenstände versandt oder befördert werden, in einem Drittgebiet oder in einem Drittland liegt. Während sich die Bedingung für die Ortsverlagerung nach der Richtlinie nur auf den Abgangsort bezieht und in Bezug auf den Ort der Beendigung der Versendung oder Beförderung offen definiert ist, verlangt das nationale Recht eine Beendigung der Warenbewegung im Inland. Nach dem Wortlaut des nationalen Rechts kommt somit die Erfassung der Anschlusslieferung im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung nicht in Betracht, da sich der gelieferte Gegenstand im Mitgliedstaat des physischen Verbringens befindet. Allerdings erscheint § 3 Abs. 8 UStG auch als auslegungsfähig in dem Sinne, dass für das Gelangen in das Inland auf den Ort der steuerrechtlichen Einfuhr abzustellen ist. Das Gelangen ist dann rechtlich in dem Sinne auszulegen, dass ein Gegenstand rechtlich im Inland eingeführt ist. Liegt der Ort der steuerrechtlichen Einfuhr im Rahmen der zentralen Zollabwicklung entsprechend der hier vertretenen Auffassung im Inland, genügt dies für eine Verlagerung des Lieferorts in den Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung. Es bestehen dann zwischen Richtlinie und Unionsrecht keine Unterschiede. b) Fallgruppenweise Betrachtung aa) Verwendung im Mitgliedstaat des physischen Verbringens Für die bereits beschriebenen drei Fallgruppen entfallen damit steuerliche Registrierungspflichten fast vollständig. Verbleibt der Gegenstand im Mitgliedstaat des physischen Verbringens und liegt eine Lieferung an einen anderen Unternehmer in diesem Mitgliedstaat vor, kommt es steuerrechtlich nach Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL zu einer innergemeinschaftlichen Lieferung aus dem Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung in den Mitgliedstaat des physischen Verbringens, die unter den allgemeinen Bedingungen des Art. 138 MwStSystRL steuerfrei ist. Im Hinblick auf diese der Einfuhr nachfolgende innergemeinschaftliche Lieferung kann die Einfuhr dann nach Art. 143 MwStSystRL steuerfrei sein. Ist der Abnehmer kein Unternehmer, gelten die allgemeinen Regelungen für den Versandhandel.56 Verwendet der Unternehmer den Gegenstand für eine von ihm im Mitgliedstaat des physischen Verbringens ausgeführte Werkleistung oder Werklieferung, die dort zu einer Steuerschuld des Leistungsempfängers führt, besteht im Mitgliedstaat des physischen Verbringens keine Registrierungspflicht. Es liegt auch kein innergemeinschaftliches Verbringen vor, das für den Einführer zur Erfassung eines in-

56 Art. 33 MwStSystRL und § 3c UStG.

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nergemeinschaftlichen Erwerbs im Mitgliedstaat des physischen Verbringens führen würde.57 Verwendet der Unternehmer den von ihm eingeführten Gegenstand in einer von ihm im Mitgliedstaat des physischen Verbringens unterhaltenen Betriebsstätte, die dort Leistungen erbringt, ist er im Hinblick hierauf in diesem Mitgliedstaat ohnehin steuerrechtlich registrierungspflichtig, so dass sich die Frage nach einer steuerrechtlichen Vereinfachung erübrigt. Es ist dann von einem innergemeinschaftlichen Verbringen58 auszugehen, bei dem im Mitgliedstaat der Betriebsstätte zu einer Erklärungspflicht eines Erwerbs kommt. bb) Verwendung im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung Verwendet der einführende Unternehmer den Gegenstand im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung, gilt die Anschlusslieferung als in diesem Mitgliedstaat erbracht. Es besteht keine Notwendigkeit für die Annahme einer Anschlusslieferung aus dem Mitgliedstaat des physischen Verbringens in den Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung. Hierdurch ergeben sich keine Kontrolldefizite. Denn im Hinblick auf die Regelung in Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL ist eine Abschlussverwendung im Mitgliedstaat der zen­ tralen Zollabwicklung zu vermuten, wenn der Unternehmer keine anderweitige ­Verwendung wie etwa im Mitgliedstaat des physischen Verbringens durch eine dann vorliegende innergemeinschaftliche Lieferung aus dem Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung nachweist. cc) Verwendung in einem Drittmitgliedstaat Liefert der Unternehmer den von ihm eingeführten Gegenstand in einen dritten Mitgliedstaat, ist diese Lieferung wiederum nach Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung steuerbar und bei einer Lieferung an einen anderen Unternehmer gemäß Art. 138 MwStSystRL steuerfrei. Ansonsten treten die gleichen Rechtsfolgen ein wie bei einer Lieferung im Mitgliedstaat des physischen Verbringens.59 4. Mögliche Neuregelungen Die zentrale Zollabwicklung findet ihr steuerrechtliches Pendant in der zentralen Umsatzversteuerung („one-stop-shop“). Dies erfasst bislang nur außerhalb der Gemeinschaft ansässige Unternehmer, die Telekommunikations-, Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen oder sonstige Leistungen auf elektronischem Weg erbringen.60 57 Art. 17 Abs. 2 Buchst. b, f und g MwStSystRL, § 1 Abs. 2 UStG. 58 Art. 17 Abs. 1 MwStSystRL, § 1 Abs. 2 UStG. 59 S. oben III.3.b)aa). 60 Art. 358 ff. MwStSystRL und § 18 Abs. 4c UStG.

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Zentrale Zollabwicklung und steuerrechtliche Vereinfachung

Der Unionsgesetzgeber hat die Möglichkeit zur zentralen Umsatzversteuerung nunmehr um den sog. Versandhandel erweitert.61 Damit stellt sich die Frage, ob eine zentrale Umsatzversteuerung auch für die Anschlusslieferung von Gegenständen angeordnet werden sollte, deren Einfuhr der zentralen Zollabwicklung erfolgt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies überflüssig, da die Anschlusslieferungen steuerrechtlich fast ausnahmslos im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung zu erfassen sind. Nach der Gegenauffassung kommt es zu einer der zentralen Zollabwicklung entsprechenden steuerrechtlichen Vereinfachung nur, wenn das System der zentralen Umsatzversteuerung nochmals erweitert wird. 5. Ergebnis Die zentrale Zollabwicklung führt sowohl nach Art. 32 Abs. 2 MwStSystRL als auch bei richtlinienkonformer Auslegung von § 3 Abs. 8 UStG dazu, dass sich der Ort der der Einfuhr nachfolgenden Lieferung in den Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung verlagert.

IV. Zusammenfassung Die mit der zentralen Zollabwicklung bezweckte Vereinfachung durch die Verlagerung von Erklärungspflichten in den Ansässigkeitsmitgliedstaat führt zu steuerrechtlichen Folgefragen. Dabei ist zu entscheiden, ob sich der Gegenstand aufgrund der zollrechtlichen Einfuhr im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung auch steuerlich in diesem Mitgliedstaat befindet. Bei einer an der Warenbewegung orientierten Betrachtungsweise ist dies zu verneinen, so dass sich der Einführer im Hinblick auf die Einfuhr und die der Einfuhr nachfolgende Anschlussverwendung im Mitgliedstaat der physischen Wareneinfuhr steuerrechtlich registrieren lassen muss. Die zollrechtliche Vereinfachung wird damit steuerrechtlich konterkariert. Demgegenüber ist nach der hier vertretenen Auffassung einer rechtlichen Betrachtungsweise der Vorzug zu geben. Die zentrale Zollabwicklung führt danach nicht nur zoll- sondern auch steuerrechtlich zu einer Einfuhr im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung. Nach den Lieferortbestimmungen verlagert sich damit auch der Ort von Anschlusslieferungen in diesen Mitgliedstaat. Damit kommt es z.B. bei einer Lieferung an einen Abnehmer im Mitgliedstaat des physischen Verbringens zu einer innergemeinschaftlichen Anschlusslieferung aus dem Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung. Bei der Lieferung an einen Abnehmer im Mitgliedstaat der zentralen Zollabwicklung handelt es sich demgegenüber um eine Inlandslieferung in diesem Mitgliedstaat. 61 Vgl. Art. 2 der Richtlinie (EU) 2017/2455 vom 5. Dezember 2017 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen mit Wirkung ab 1.1.2021.

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Carsten Weerth

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018): Entwicklung und Anwendung der HS-Nomenklatur, Entstehung neuer Lücken Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Überblick der HS-Positionen, ­HS-­Unterpositionen und ­KN-­Unterpositionen III. Untersuchung der Entstehung neuer Lücken in der HS-Nomenklatur

IV. Untersuchung der Anmerkungen zur HS-Nomenklatur

V. Untersuchung der Anwendung der HS-Nomenklatur weltweit

VI. Zusammenfassung

I. Einleitung Das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Kodierung von Waren des internationalen Handels (HS) hat seit 1988 – seit nunmehr 30 Jahren – für eine Angleichung der weltweit verwendeten Nomenklaturen für statistische und zolltarifliche Zwecke gesorgt, da es in über 200 Ländern und Wirtschaftsgebieten angewendet wird und über 98 % des weltweiten Handels damit klassifiziert werden.1 Im Schrifttum wurde ausführlich über die Entstehung2, die Ansprüche3 und die Anwendungsprobleme der HS-Nomen­klatur berichtet.4 Die Nomenklatur des HS ist bislang sechsmal überarbeitet worden: 1992 sind nur Schreibfehler berichtigt worden, größere Überarbeitungen fanden in den fünf folgenden Revisionen statt  – mit dem HS 19965, HS 20026, HS 1 Vgl. WCO, URL: http://www.wcoomd.org → WCO topics → Nomenclature und Wind, HS 2007: What’s it All About?, Global Trade and Customs Journal (GTCJ) 2007, Vol. 2 No. 2, 79. 2 Vgl. Stobbe, Von der Warenbezeichnung zur Codenummer – Der Zoll auf dem Weg ins Internet, ZfZ 1998, 43 f. und Müller, Ausarbeitung eines Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren, ZfZ 1975, 73-75. 3 Vgl. Anonymus, Das Internationale Abkommen über das Harmonisierte System zur Warenbezeichnung und –Codierung, ZfZ 1987, 235-238, Cludius, Harmonisiertes System, ein anspruchsvoller Anfang, ZfZ 1987, 298-303 und Reiser/Wurzinger, Das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren des internationalen Handels – Aktueller Stand der Arbeiten zur Erleichterung des internationalen Handels und zur Verbesserung internationaler Statistiken, Köln, 1987. 4 Exemplarisch Weerth, Anwendungsprobleme des Gemeinsamen Zolltarifs beim Zugang zum Europäischen Binnenmarkt, Dissertation, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Göttingen, 2007 m.w.H. 5 Vgl. Czakert, Die Revision des Harmonisierten Systems zum 1. Januar 1996, AW-Prax 1995, 422-424 und Czakert, Das Harmonisierte System 1996, Köln, 1995. 6 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2002, AW-Prax 2001, 373-376.

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Carsten Weerth

20077, HS 20128 und HS 20179 sind bestimmte Positionen im Gefüge der Nomenklatur gestrichen worden, die nicht wieder verwendet werden. Dieser Beitrag bietet anlässlich der 30-jährigen Jubiläums der HS-Anwendung 2018 einen Überblick über die Entwicklung der HS-Positionen (vierstellig beziffert), der HS-Unterpositionen (sechsstellig beziffert) und der KN10-Unterpositi­onen (achtstellig beziffert), eine Untersuchung der immer häufiger entstehenden Lücken in der Nomenklatur sowie der Anwendung der HS-Nomenklatur weltweit. Das HS ist mit 156 Vertragsstaaten das erfolgreichste rechtlich bindende Übereinkommen der World Customs Organization (WCO). Es besteht weiterhin ein Entwicklungspotential in der Mitgliedschaft des HS, da mehr als 50 Staaten oder Wirtschaftsgemeinschaften die Nomenklatur anwenden, ohne Vertragspartei zu sein. Besondere Bedingungen gelten für Entwicklungsländer, welche ältere Fassungen der Nomenklatur verwenden dürfen. Die Untersuchung arbeitet heraus, dass viele Vertragsparteien ältere Fassungen der Nomenklatur verwenden, obwohl es sich um weit entwickelte Volkswirtschaften oder Staaten in Europa handelt.

II. Überblick der HS-Positionen, HS-Unterpositionen und ­KN-­Unterpositionen Die Grundstruktur der HS-Nomenklatur ist seit 1988 unverändert: 21 Abschnitte (römische Ziffern) und 96 zweistellig bezifferte Kapitel (01–76 und 78–97; Kapitel 77 ist nicht besetzt). Die Anzahl der HS-Positionen (vier arabische Ziffern) und HS-Unterpositionen (sechs arabische Ziffern) hat sich geringfügig verändert (vgl. Tabelle 1). Im Jahr 1988 bestand die HS-Nomenklatur aus 1.241 Positionen sowie 5.019 HS-Unterpositionen.11 In einer ersten Revision des HS 1992 wurden nur Schreibfehler behoben, mit der zweiten Revision 1996 wurden erste Veränderungen im Zolltarifschema vorgenommen. Weitere Revisionen folgten in den Jahren 2002, 2007, 2012 und 2017. Im Jahr 2002 bestand die Nomenklatur aus 1.244 HS-Positionen sowie 5.224 HS-Unterpositionen12 und im Jahr 2017 bestand die Nomenklatur aus 1.222 HS-Positionen und 5.387 HS-Unterpositionen.13

7 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2007, AW-Prax 2006, 499-503. 8 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2012, AW-Prax 2011, 307-311. 9 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2017, AW-Prax 2016, 399-404. 10 KN = Kombinierte Nomenklatur. 11 Vgl. Stobbe, Von der Warenbezeichnung zur Codenummer – Der Zoll auf dem Weg ins Internet, ZfZ 1998, 44. 12 Vgl. Statistisches Bundesamt, Warenverzeichnis für die Außenhandelsstatistik, Ausgabe 2006, XI. 13 Vgl. Weerth, Entwicklung des Harmonisierten Systems, neue Lücken und alle Anmerkungen der HS-Nomenklatur - HS 2017, BDZ-Fachteil 2017, F28-F30, wo die Entwicklung der HS-Nomenklatur mit Stand 2017 dargestellt und diskutiert werden.

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30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018) Tabelle 1: Anzahl der HS-Positionen und HS-Unterpositionen in den Jahren 1988 (HS 1988), 1996 (HS 1996), 2002 (HS 2002)14, für 2007 (HS 2007)15, für 201216 (HS 2012) und für 201717 (HS 2017) Jahr

1988

1996

2002

2007

2012

2017

HS-Pos.

1.241

1.241

1.244

1.221

1.224

1.222

HS-UPos.

5.019

5.338

5.223

5.052

5.205

5.387

Die Nomenklatur des HS bildet die Grundlage für die KN. Nach Art. 1 Abs. 2 der VO-KN18 umfasst die KN a) die Nomenklatur des Harmonisierten Systems; b) die gemeinschaftlichen Unterteilungen dieser Nomenklatur, genannt „Unterpositionen KN“, wenn ihnen ein Zollsatz zugeordnet ist; c) die Einführenden Vorschriften, die Zusätzlichen Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln und die Fußnoten, die sich auf die Unterpositionen KN beziehen.19 Die tatsächliche Nomenklatur der KN ist in Anhang I der VO-KN enthalten. In diesem Anhang sind nach Art. 1 Abs. 3 der VO-KN auch die Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs und – soweit anwendbar – die statistischen besonderen Maßeinheiten und weitere erforderliche Angaben festgelegt. Im Jahr 2017 besteht die Nomenklatur der KN zusätzlich zu den o.g. 21 Abschnitten, 96 zweistellig bezifferten Kapiteln, 1.222 vierstellig bezifferten HS-Positionen und 5.387 sechsstellig bezifferte HS- Unterpositionen aus 9.528 achtstellig bezifferten KN-Unterpositionen.20 Die Anzahl der achtstelligen KN-Unterpositionen ist starken Schwankungen unterworfen, sie sank bis zum HS 2012 und ist mit dem HS 2017 wieder leicht angestiegen (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Anzahl KN-Unterpositionen in den Jahren 1996 (HS 1996), 2002 (HS 2002), 2007 (HS 2007), 2012 (HS 2012), 2017 (HS 2017)21 Jahr KN-UPos.

1996

2002

2007

2012

2017

10.518

10.400

9.720

9.414

9.528

14 Vgl. Statistisches Bundesamt, WA, Ausgaben 2002, XI; für die Angabe aus 1988, vgl. Stobbe, Von der Warenbezeichnung zur Codenummer – Der Zoll auf dem Weg ins Internet, ZfZ 1998, 44. 15 Vgl. Sonnefeld, AW-Prax 2006, 48 und Statistisches Bundesamt, WA, Ausgabe 2007, XI. 16 Vgl. Statistisches Bundesamt, WA, Ausgabe 2016, XI. 17 Vgl. Statistisches Bundesamt, WA, Ausgabe 2017, XI. 18 VO-KN = Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 in der jeweils geltenden Fassung. 19 So der Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der VO-KN. 20 Vgl. Statistisches Bundesamt, WA, Ausgabe 2007, XI. 21 Vgl. Statistisches Bundesamt, WA, Ausgaben 2002, 2007, 2012, 2017, XI.

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Carsten Weerth

III. Untersuchung der Entstehung neuer Lücken in der HS-Nomenklatur Im Rahmen der Überarbeitung der HS-Nomenklatur werden vor allem aufgrund der Veränderung der Handelsmuster oder des technischen Fortschritts einzelne Positionen gestrichen oder neu gefasst. Allgemeine Prinzipien zur Nummerierung von neuen oder modifizierten Unterpositionen und der Wieder­verwendung von entfernten HS-Codenummern wurden von der Weltzollorganisation (WCO, World Customs Organization) erarbeitet und angewendet.22 Die HS-Codenummern wurden nur verändert, wenn der Positionswortlaut oder Unterpositionswortlaut verändert wurde und sich die Bandbreite der von der Unterposition erfassten Waren erheblich geändert hat – allerdings nur, wenn sie danach noch in die Struktur der HS-Nomenklatur hinein passten. In einigen Fällen wurden die HS-Codenummern neu zugeordnet, obwohl die von der Unterposition erfassten Waren dieselben geblieben sind. Auf der anderen Seite sind einige Unterpositionswortlaute deutlich verändert worden, obwohl die alte HS-Codenummer beibehalten wurde. Diese allgemeinen Prinzipien zur Nummerierung von neuen oder modifizierten Unterpositionen kann bei Streichungen alter HS-Codenummern und von Positionswortlauten, die nicht wieder verwendet werden, dazu führen, dass die Kontinuität der HS-Nomenklatur unterbrochen wird und Lücken entstehen - diese Lücken werden bei künftigen Modernisierungen der HS-Nomenklatur immer häufiger entstehen.23 Mit dem HS 1996 trat erstmals eine Lücke in Kapitel 15 auf, weil die Position 1519 gestrichen wurde. Mit dem HS 2002 traten Lücken auch in den Kapiteln 25, 41 und 85 auf (Streichung von sechs Positionen). Mit dem HS 2007 traten neue Lücken auf in den Kapitel 05, 14, 28, 42, 44, 48, 53, 65, 70, 74, 78, 79, 80, 84, 85, 90, 92 und 95. Bereits bestehende Lücken in den Kapiteln 15, 27 und 41 wurden mit dem HS 2007 nicht geschlossen, allerdings wurde die Posi­ tion 8508 wieder neu besetzt. Mit dem HS 2012 sind keine neuen Lücken entstanden.24 Mit dem HS 2017 sind dagegen wieder neue Lücken in den Kapiteln 28, 69 und 84 entstanden: gestrichen wurden die die Pos. 2848, 6908 und 8469.25

22 Vgl. Wind, HS 2007: What’s it All About?, Global Trade and Customs Journal (GTCJ) 2007, Vol. 2 No. 2, 82. 23 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2002, AW-Prax 2001, 374. 24 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2012, AW-Prax 2011, 307-311. 25 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2017, AW-Prax 2016, 399-404.

472

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018)

Die bisher bei der Weiterentwicklung des HS entstandenen Lücken wurden aus Gründen der Klarheit dabei nicht wieder geschlossen. Übersicht 1: Übersicht der 34 Positionen, die im HS 2007 nicht mehr enthalten gewesen sind:26 0503, 0509, 1402, 1403, 1519, 2527, 2838, 2851, 4108, 4109, 4110, 4111, 4204, 4815, 5304, 6503, 7012, 7414, 7416, 7417, 7803, 7805, 7906, 8004, 8005, 8006, 8485, 8520, 8524, 9009, 9203, 9204, 9501, 9502. Beispiel: Mit dem HS 2002 wurde die Struktur des gesamten Kapitel 41 „Häute, Felle (andere als Pelzfelle) und Leder“ wird aufgrund der industriellen Praxis überarbeitet und verändert. Die Positionen 4108, 4109, 4110 und 4111 wurden gestrichen. Die HS-Codenummern wurden im HS 2002 nicht wieder verwendet – es entstand eine Lücke in der Nomenklatur. Die Waren wurden von den neu geschaffenen Positionen 4112, 4113, 4114 und 4115 sowie anderen Positionen mit erfasst. Tabelle 3: Die Lücke im Kapitel 41, HS 2002 HS 1996

HS 2002

4107

4107

4108



4109



4110



4111





4112



4113



4114



4115

Weitere Lücken entstanden mit dem HS 2002 in den Kapiteln 25 und 85, da die Positionen 2527 und 8508 ersatzlos gestrichen wurden – insgesamt wurden somit sechs Positionen gestrichen, deren HS-Codenummern vorerst nicht wieder verwendet wurden.27 Allerdings sind mit dem HS 2002 auch neun neue Positionen geschaffen worden, die den bisherigen Positionen des HS hinzugefügt wurden: Pos. 3825, 4112, 4113, 4114, 4115, 6003, 6004, 6005 und 6006.

26 Vgl. Weerth, HS 2007: New Gaps Emerging within All Customs Tariffs, Global Trade and Customs Journal (GTCJ) 2008, Vol. 3 No. 4, 141. 27 Vgl. Weerth, Das Harmonisierte System 2002, AW-Prax 2001, 374.

473

Carsten Weerth Beispiele: Mit dem HS 2007 wurden die Positionen 7414, 7416 und 7417 des Kapitels 74 „Kupfer und Waren daraus“ aufgrund des geringen Handelsvolumens gestrichen. Die HS-Code­ nummern wurden im HS 2007 nicht wieder verwendet – es entstanden zwei Lücken in der Nomenklatur. Das gleiche gilt für die Positionen 8004 bis 8006 des Kapitels 80 „Zinn und Waren daraus“, für die Positionen 8520 und 852428, für die Positionen 9202 und 9203 des ­Kapitels 92 „Musikinstrumente; Teile und Zubehör für diese Instrumente“ und für die Posi­ tionen 9501 und 9502.29 Tabelle 4: Die Lücken im Kapitel 74, HS 2007 HS 2002

HS 2007

7414



7415

7415

7416



7417



7418

7418

Tabelle 5: Die Lücke im Kapitel 80, HS 2007 HS 2002

HS 2007

8003

8003

8004



8005



8006



8007

8007

Tabelle 6: Die Lücke im Kapitel 92, HS 2007 HS 2002

HS 2007

9201

9201

9202



9203



9204

9204

Da mit dem HS 2012 keine weiteren Lücken entstanden sind, konnten erst mit dem HS 2017 neue Lücken entstehen (Übersicht 2). 28 Vgl. Weerth, Pos. 8520 und 8524 sind weggefallen, AW-Prax 2007, 51 f. 29 Vgl. Weerth, Pos. 9501 und 9502 sind weggefallen, AW-Prax 2007, 51.

474

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018) Übersicht 2: Übersicht der 37 Positionen, die im HS 2017 nicht mehr enthalten sind: 0503, 0509, 1402, 1403, 1519, 2527, 2838, 2848, 2851, 4108, 4109, 4110, 4111, 4204, 4815, 5304, 6503, 6908, 7012, 7414, 7416, 7417, 7803, 7805, 7906, 8004, 8005, 8006, 8469, 8485, 8520, 8524, 9009, 9203, 9204, 9501, 9502. Beispiel: Tabelle 7: Die Lücke im Kapitel 84, HS 2017 HS 2012

HS 2017

8467

8467

8468

8468

8469

-

8470

8470

IV. Untersuchung der Anmerkungen zur HS-Nomenklatur Die Anmerkungen zum HS und zur KN sind nach den Allgemeinen Vorschriften 1 und 6 von fun­damentaler Bedeutung, da nur die Positionswortlaute (und Unterpositionswortlaute) für die Einreihung von Waren von Bedeutung sind. Systematische Untersuchungen zu den Anmerkungen gibt es nur sehr wenige – zu nennen sind zwei Untersuchungen zu den Arten von Anmerkungen und eine Untersuchung zum HS 2007 / zur KN 2007.30 Erstmals wurde 2008 die Zahl der Anmerkungen und insbes. der Zusätzlichen Anmerkungen des HS 2007 und der KN 2007 ermittelt und veröffentlicht: 380 Anmerkungen, 56 UPos-Anmerkungen und 98 Zusätzliche Anmerkungen der EG (insges. 534 Anmerkungen), wobei mehr als 60 % der Zusätzlichen Anmerkungen sich auf landwirtschaftliche Waren bezogen.31 Eine aktuelle Untersuchung aller Anmerkungen und ein Vergleich aller Anmerkungen der HS 2017 und der KN 2017 im Vergleich zu den Vorgängerversionen (seit dem HS 2002/der KN 2002) haben sehr ähnliche Ergebnisse erbracht (386 Anmerkungen, 63 UPos-Anmerkungen, 109 Zusätzliche Anmerkungen, insges. 558 Anmerkungen), wobei der Anteil der Zusätzlichen Anmerkungen der EU für landwirtschaft­lichen Waren auf 64 % angestiegen ist.32 30 Vgl. Theis, Die Arten und Zweck der Anmerkungen in der Nomenklatur – Ein Überblick der verschiedenen Anmerkungen im Zolltarif, AW-Prax 2003, 73-79 und Weerth, Die Anmerkungen zur Kombinierten Nomenklatur, ZfZ 2004, 257-260. 31 Vgl. Weerth, HS 2007: Notes of the Tariff Nomenclature and the Additional Notes of the EC, World Customs Journal (WCJ) 2008, Vol. 2 No. 1, 111-115. 32 Vgl. Weerth, World Customs Journal (WCJ) 2017, Vol. 11 No. 1, 49-68; dieser einzigartige Datensatz umfasst 20 Jahre der HS-Evolution hinsichtlich der Anmerkungen des HS und der Zusätzlichen Anmerkungen der KN.

475

Carsten Weerth

V. Untersuchung der Anwendung der HS-Nomenklatur weltweit Die Weltzollorganisation (WCO) hatte Anfang 2008 erstmals eine Übersicht zur tatsächlichen Anwen­dung der HS-Nomenklatur in allen HS-Vertragsparteien bekannt gemacht33, die auf 32 Seiten die genaue Situation in allen HS-Vertragsparteien beleuchtet. Von den damals 133 HS-Vertragsstaaten wendeten nicht alle Vertragsparteien die Nomenklatur in der Fassung des HS 2007 an – diese Erkenntnis überrasch­te, weil doch diese Behauptung von der WCO bislang immer aufgestellt worden ist.34 Eine genaue Untersuchung dieser Situation (HS 2007 im Jahr 2008) wird in der Folge vorgenommen (Tabelle 8).35 Tabelle 8: Übersicht der HS-Vertragsparteien, die im Jahr 2008 andere Fassungen der HS-Nomenklatur anwendeten (HS 1992 – HS 2002) Lfd. Nr.

HS-Vertragspartei

HS-Nomenklatur

1

Äthiopien

HS 2002

2

Bangladesch

HS 2002

3

Benin

HS 2002

4

Eritrea

HS 2002 (?)

5

Gabun

HS 2002

6

Guinea

HS 2002

7

Haiti

HS 1996

8

Iran

HS 2002

9

Jemen

HS 1996 (?)

10

Kambodscha

HS 2002

11

Kamerun

HS 2002

12

Katar

HS 2002

13

Kenia

HS 2002

14

Kolumbien

HS 2002

15

Kongo, Demokr. Republik

HS 2002

33 WCO, Position of Contracting Parties to the Harmonized System Convention And Non-Contracting Party Administrations, February 2008, URL: http://www.wcoomd.org/ files/1.%20Public%20files/PDFandDocuments/ Harmonized%20System/Situation%20au%​ 2014-02-2008-EN.pdf (19.04.2008) 2008. 34 Vgl. WCO, URL: http://www.wcoomd.org → WCO topics → Nomenclature und Wind, HS 2007: What’s it All About?, Global Trade and Customs Journal (GTCJ) 2007, Vol. 2 No. 2, 79. 35 Vgl. Weerth, Harmonized System in the Developing Countries, Global Trade and Customs Journal (GTCJ) 2008, Vol. 3 No. 2, 379-382.

476

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018) Lfd. Nr.

HS-Vertragspartei

HS-Nomenklatur

16

Libyen

HS 2002

17

Malediven

HS 2002

18

Mali

HS 2002

19

Mauretanien

HS 2002

20

Moldawien

HS 2002

21

Nigeria

HS 2002

22

Panama

HS 2002

23

Peru

HS 2002

24

Philippinen

HS 2002

25

Swasiland

HS 2002

26

Tschad

HS 1992

27

Ukraine

HS 2002

28

Usbekistan

HS 2002

29

Venezuela

HS 2002

30

Vereinigte Arab. Emirate

HS 2002

31

Syrien



32

Tadschikistan



33

Tansania



Die Anwendung des HS 2007 wurde von Tadschikistan, Tansania und Syrien 2008 nicht bestätigt. Tatsächlich wurden 30 HS-Vertragsparteien festgestellt, die das HS 2007 nicht anwendeten, von denen jedoch keines ein Industriestaat gewesen ist. Es handelte sich vorrangig um Entwicklungsländer aus Afrika, Südamerika, der Karibik und Asien. Aus Europa waren allerdings Moldawien und die Ukraine enthalten. Diese Möglichkeit der teilweisen Anwendung der HS-Nomenklatur ist nach Art. 4 des HS-Übereinkommens (HSÜ) möglich. Welche Fassung des HS jedoch anzuwenden ist, ist im gesamten Übereinkommen nicht geregelt. Die hier festgestellte Situation spricht dafür, dass die Entwicklungsländer eine Regelungslücke des HSÜ ausnutzen – die WCO ist aufgerufen, Entwicklungsländer bei der Einführ­ung der jeweils aktuellen Fassung der HS-Nomenklatur zu unterstützen. Erst durch die einheitliche Anwendung derselben Fassung der HS-Nomenklatur werden die Handelsdaten weltweit vergleichbar und der Welthandel wird an dieser Stelle vereinfacht. Welche Fassungen der HS-Nomenklatur die anderen Staaten und Wirtschaftsgebiete anwenden, die die HS-Nomenklatur lediglich akzeptieren und anwenden, ohne jedoch HS-Vertragspartei zu sein, war 2008 nicht bekannt. 477

Carsten Weerth

Seitdem hat die WCO jährlich ein Dokument zur tatsächlichen Anwendung der HS-Nomenklatur veröf­fentlicht. Im Jahr 2017 zeigt sich für das HS 2017 folgendes Bild36 (Tabelle 9). Tabelle 9: Übersicht der HS-Vertragsparteien, die im Jahr 2017 andere Fassungen der HS-Nomenklatur anwendeten (HS 1992 – HS 2012) Lfd. Nr.

HS-Vertragspartei

HS-Nomenklatur

1

Ägypten

HS 2012

2

Albanien

HS 2012

3

Äthiopien

HS 2012

4

Bahamas

HS 2007

5

Bangladesch

HS 2012

6

Benin

HS 2007

7

Botswana

HS 2012

8

Brunei

HS 2012

9

Burundi

HS 2017 ab 2019

10

Djibouti

HS 2012

11

Ecuador

HS 2012

12

Elfenbeinküste

HS 2007

13

Eritrea

HS 2002

14

Gabun

HS 2007

15

Georgien

HS 2012

16

Guatemala

HS 2012

17

Guinea Bissau

HS 2012

18

Haiti

HS 2007

19

Island

HS 2007

20

Jemen

HS 2012

21

Kamerun

HS 2012

22

Katar

HS 2012

36 WCO, Position of Contracting Parties to the Harmonized System Convention and Non-­ Contracting Party Administrations, URL: http://www.wcoomd.org/en/topics/nomen​ ­clature/overview/position-of-contracting-parties-to-the-hs-and-non-contracting-party-­ administrations.aspx und URL: http://www.wcoomd.org/~/media/wco/­public/global/pdf/ topics/nomenclature/overview/hs-contracting-parties/positions-of-cp/situation_hs.­ pdf?la=en (25.7.2017), 2017; für eine erste umfangreiche Analyse vgl. Weerth, Globally Uniform Harmonized System Nomenclature? Waivers For Developing Countries And Membership Development: Situation 2017, Customs Scientific Journal CUSTOMS (CSJ) 2017, Vol. 7 No. 1, 50-62.

478

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018) Lfd. Nr.

HS-Vertragspartei

HS-Nomenklatur

23

Kenia

HS 2012

24

Kongo, Demokr. Republ.

HS 2017 ab 2018

25

Kongo, Republik

HS 2012

26

Kuba

HS 2012

27

Kuwait

HS 2007

28

Lesotho

HS 2012

29

Libyen

HS 2012

30

Madagaskar

HS 2012

31

Malawi

HS 2017 ab 2018

32

Malaysia

HS 2012

33

Mali

HS 2007

34

Mauretanien

HS 2002

35

Moldawien

HS 2017 ab 2018

36

Mosambik

HS 2012

37

Myanmar

HS 2012

38

Namibia

HS 2007

39

Niger

HS 2007

40

Nigeria

HS 2007

41

Papua Neuguinea

HS 2007

42

Philippinen

HS 2012

43

Sao Tomé und Príncipe

HS 2012

44

Senegal

HS 2012

45

Singapur

HS 2012

46

Swasiland

HS 2012

47

Syrien

HS 2012

48

Tadschikistan

HS 2007

49

Tansania

HS 2012

50

Tschad

HS 2007

51

Uganda

HS 2012

52

Ukraine

HS 2017 ab 2018

53

Usbekistan

HS 2012

54

Vereinigte Arab. Emirate

HS 2007

55

Vietnam

HS 2017 ab 2018

56

Zentral Afrikan. Republik

HS 2007

479

Carsten Weerth

Zu den interessanten Ergebnissen der WCO-Veröffentlichung vom 1.3.201737 zählt, dass nur 118 von mehr als 150 HS-Mitgliedstaaten das HS 2012 überhaupt eingeführt haben: bis März 2017 hatten 83 von 156 HS-Vertragsparteien das HS 2017 eingeführt. Im Vergleich zur Situation vor zehn Jahren (Tabelle 8) hat sich die Anzahl der Vertragsparteien, welche die Umstellung auf die neue HS-Version nicht fristgerecht vorgenommen haben, deutlich erhöht (von 30 auf 56). Vier Vertragsparteien kündigen die Einführung ab 2018 an, eine (kürzlich beigetretene Vertrags­partei) ab 2019. Die Einführung des HS 2017 wurde erst am 1.1.2017 vorgenommen, weswegen eine verzögerte (technische oder rechtliche) Umsetzung in einigen Vertragsparteien verständlich ist. Das gilt insbesondere für neu beitretende HS-Vertragsparteien. Aus Europa hatten fünf HS-Vertragsparteien die Umstellung nicht vorgenommen: Albanien, Georgien, Island, Moldawien und die Ukraine. Erstaunlich ist auch die Erkenntnis, dass reiche Golf-Anrainerstaaten 2017 noch mit veralteten HS-Nomenklaturen arbeiten: Kuwait und VAE (HS 2007) sowie Katar (HS 2012). Die WCO hat inzwischen auch die Anwendung der Nomenklatur durch Nicht-Vertragsparteien dokumen­tiert38 (Übersicht 10).

37 WCO, Position of Contracting Parties to the Harmonized System Convention and Non-Contracting Party Admi­nistrations, URL: http://www.wcoomd.org/en/topics/nomen​ clature/overview/position-of-contracting-parties-to-the-hs-and-non-contracting-­partyadministrations.aspx und URL: http://www.wcoomd.org/~/media/wco/public/global/pdf/ topics/nomenclature/overview/hs-contracting-parties/positions-of-cp/situation_hs.pdf​ ?la=en (25.7.2017), 2017. 38 WCO, Position of Contracting Parties to the Harmonized System Convention and Non-Contracting Party Admi­nistrations, URL: http://www.wcoomd.org/en/topics/nomen​ clature/overview/position-of-contracting-parties-to-the-hs-and-non-contracting-party-­ administrations.aspx und URL: http://www.wcoomd.org/~/media/wco/public/­global/pdf/ topics/nomenclature/overview/hs-contracting-parties/positions-of-cp/situation_hs.pdf​ ?la=en (25.7.2017), 2017; für eine erste umfangreiche Analyse vgl. Weerth, Globally Uniform Harmonized System Nomenclature? Waivers For Developing Countries And Membership Development: Situation 2017, Customs Scientific Journal CUSTOMS (CSJ) 2017, Vol. 7 No. 1, 50-62.

480

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018) Tabelle 10: Übersicht der HS-Anwendungsparteien, die im Jahr 2017 keine HS-Vertragsparteien sind und Fassungen der HS-Nomenklatur anwendeten (HS 2007 – HS 2017); WCO-Mitgliedstaaten sind mit einem # gekennzeichnet, WTO-Mitgliedstaaten sind mit einem * gekennzeichnet, WTO-Beobachter mit ** Lfd. Nr. Staat/Wirtschaftsgebiet

HS-Nomenklatur

1

Afghanistan#*

2

Antigua und Barbuda *

?

3

Äquatorial Guinea**

?

4

Barbados *

?

5

Belize#*

?

6

Bermuda#

HS 2017

7

Cook Inseln

?

8

Curaçao

HS 2017

9

Dominica*

10

El Salvador *

HS 2017

11

Gambia *

?

12

Grenada*

?

13

Guayana#*

HS 2007

14

Honduras#*

15

Hongkong, China *

HS 2017

16

Irak **

?

17

Jamaica *

?

18

Kiribati

?

19

Laos *

?

20

Liechtenstein*

HS 2007

21

Macao, China*

HS 2017

22

Marshall Inseln

?

23

Mikronesien

?

24

Neukaledonien

HS 2007

25

Nicaragua *

?

26

Niue

?

27

Ost-Timor#**

?

28

Palästina#

HS 2017

HS 2007 #

#

#

? #

#

? #

#

#

#

#

481

Carsten Weerth Lfd. Nr. Staat/Wirtschaftsgebiet

482

HS-Nomenklatur

29

Palau

?

30

Polynesien

?

31

Samoa#*

HS 2007

32

Seychellen#*

?

33

Solomon Inseln*

?

34

Somalia **

?

35

St. Kitts und Nevis*

?

36

St. Lucia *

?

37

St. Pierre und Miquelon

?

38

St. Vincent und die Grenadinen*

?

39

Süd-Sudan#

?

40

Surinam*

?

41

Tonga *

42

Trinidad und Tobago *

HS 2007

43

Turkmenistan

?

44

Tuvalu

?

45

Vanuatu*

HS 2017

46

Wallis und Futuna Inseln

?

47

Anden Gemeinschaft

?

48

Gemeinsamer Markt für das östliche und südliche Afrika (COMESA)

?

49

Gemeinschaft unabhängig­er Staaten (CIS)

?

50

Golf Kooperationsrat (GCC)

?

51

Karibische Gemeinschaft (CARICOM)

?

52

Lateinamerikanische Integrationsvereinigung (LAIA)

?

53

Südlicher gemeinsamer Markt (MERCOSUR)

?

54

Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA)

?

55

Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft Zentralafrikas (CEMAC)

?

56

Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWACS)

?

#

#

HS 2012

#

#

#

30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018)

46 Länder und zehn Wirtschaftsgemeinschaften, Wirtschafts- und Währungsunionen oder Zollunionen wenden die HS-Nomenklatur an. 21 dieser Länder sind nicht Mitgliedstaat der WCO. 25 Länder sind WCO-Vertragsparteien, ohne HS-Vertragsparteien zu sein. Nur von 14 der 46 Staaten ist bekannt, welche Version der HS-Nomenklatur sie verwenden: Sechs Nicht-HS-Vertragsparteien verwenden noch das HS 2007, eine Nicht-HS-Vertragspartei verwendet das HS 2012 und sieben Nicht-HS-Vertragsparteien haben bereits das HS 2017 eingeführt. In 32 Fällen ist der WCO nicht bekannt, welche Version des HS die Nicht-HS-Vertragspartei verwendet. Eine weitere erstaunliche Erkenntnis ist, dass von 46 Ländern, die als HS-Anwender Nicht-HS-Vertrags­parteien sind, immerhin 26 WTO-Vertragsstaaten sind und die ausgehandelten Zollsätze (auf Grundlage der HS-Nomenklatur) ohnehin anzuwenden haben. Vier weitere Nicht-HS-Vertragsparteien sind WTO-Beobachter.

VI. Zusammenfassung Die HS-Nomenklatur hat sich im Laufe von dreißig Jahren (1988 bis 2018) erheblich weiter entwickelt. Die Anzahl der HS-Positionen ist nahezu gleich geblieben, die Anzahl der HS-Unterpositionen ist zunächst gestiegen und später wieder auf die Ausgangsanzahl gesunken. Die Anzahl der KN-Unterpositionen ist seit 1996 immer weiter gesunken von etwa 10.500 auf etwa 9.400, um mit dem HS 2017 wieder auf 9.528 anzusteigen. Durch Überarbeitungen der Nomenklatur sind immer mehr Lücken im Zolltarifschema entstanden. Mit dem HS 1996 war zunächst nur eine Position weggefallen, mit dem HS 2002 sind sechs weitere Positionen gestrichen worden. Durch die Revision des HS 2007 waren mit den ersten sieben weggefal­lenen Positionen insgesamt 34 Positionen nicht mehr im Gefüge der Nomenklatur enthalten. Die Tendenz war bis zum HS 2007 stark ansteigend. Mit dem HS 2012 war keine weitere Position weggefallen, mit dem HS 2017 sind jedoch drei weitere Positionen weggefallen, so dass 2017 genau 37 Lücken in der Nomenklatur enthalten sind. Neben dem (von Anfang) an nicht besetzten Kapitel 77 sind nunmehr auch viele Positionen der Nomenklatur nicht mehr besetzt – ein Zeichen für die Entwicklung und Reife der HS-Nomenklatur. Hinsichtlich der Anmerkungen zur HS-Nomenklatur, die nach der Allgemeinen Vorschrift 1 eine zentrale Bedeutung bei der Einreihung der Waren haben, sind nur vier systematische Untersuchungen bekannt. Insbesondere eine aktuelle Untersuchung

483

Carsten Weerth

vergleicht vier HS-Versionen (HS 2002 – HS 2017) hinsichtlich der Anzahl und Lage der Anmerkungen (und insbes. der Zusätzlichen Anmerkungen der KN).39 Allerdings wird die HS-Nomenklatur nicht weltweit einheitlich angewendet. Die Nomenklatur des HS 2007 wurde nur in 99 von 133 HS-Vertragsparteien angewendet. 30 HS-Vertragsparteien wendeten 2008 noch eine alte Version des HS an, drei weitere Vertragsparteien hatten im Februar 2008 die Anwendung des HS 2007 noch nicht bestätigt, eine Vertragspartei hatte die Anwendung des HS 2007 ab 2009 vorgesehen. Das Bild hat sich 2017 gewandelt: 83 von 156 Vertragsparteien haben das HS 2017 erfolgreich eingeführt. 56 HS-Vertragsparteien nutzen noch alte HS-Nomenklaturen. Vier HS-Vertragsparteien haben die Einführung des HS 2017 ab 2018 angekündigt, eine ab 2019.40 Entwicklungsländer dürfen aufgrund von Art. 4 des HSÜ die Nomenklatur eingeschränkt anwenden. Einige Entwicklungsländer nutzen offenbar eine Regelungslücke im HSÜ aus und wenden alte Fassungen der Nomenklatur an (frühere Fassungen der Nomenklatur des HS 2012 oder gar des HS 2007), ohne die jeweils aktuelle Fassung der HS-Nomenklatur anzuwenden. Mit der Veröffentlichung der detaillierten Daten zur Anwendung des HS anlässlich des 20. Jubiläums der HS-Nomenklatur (im Jahr 2008) hatte die WCO erstmals tiefe Einblicke in das Innenleben dieses internationalen Übereinkommens und auch der praktischen Probleme der Anwendung geboten. Seitdem werden diese Daten jährlich veröffentlicht. Inzwischen sind auch Daten zu den Anwendungen durch Nicht-HS-Vertragsparteien bekannt: Im Jahr 2017 wendeten 46 Nicht-HS-Vertragsstaaten die HS-Nomenklatur an, wovon 26 WTO-Vertragsparteien sind, vier weitere haben WTO-Beobachterstatus. Dieses Ergebnis ist erstaunlich, da diese 26 Vertrags­parteien die auf Grundlage der HS-Nomenklatur ausgehandelten Zollsätze ohnehin anzuwenden haben. Mit der Anwendung der Nomenklatur ohne den Status als HS-Vertragspartei verzichten die Staaten auf die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Anwendung der Nomenklatur durch die Teilnahmen an Sitzungen zur Auslegungen der Nomenklatur und der Festlegung von Einreihungsentscheidungen sowie der Mitarbeit bei Revisionen und Neufassungen der Nomenklatur. Im Juni 2017 hatte die WCO182 Vertragsparteien, und das HS ist mit 156 Vertragsstaaten das erfolg­reichste rechtlich bindende Übereinkommen der WCO.41

39 Vgl. Weerth, World Customs Journal (WCJ) 2017, Vol. 11 No. 1, 49-68. 40 Die Zahlen summieren sich nicht zur Gesamtzahl von 156 HS-Vertragsparteien auf, u.a. weil die EU ebenfalls Vertragspartei ist, jedoch die 28 Mitgliedstaaten einzeln als Anwender aufgeführt werden und einige kürzlich beigetretene Vertragsparteien erst in der Zukunft das HS verbindlich einführen. 41 Vgl. Weerth, Globally Uniform Harmonized System Nomenclature? Waivers For Developing Countries And Membership Development: Situation 2017, Customs Scientific Journal CUSTOMS (CSJ) 2017, Vol. 7 No. 1, 50-62.

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30 Jahre Harmonisiertes System (1988–2018)

Es besteht weiterhin ein Entwicklungspotential in der Mitgliedschaft der WCO und des HS, da mehr als 50 Staaten oder Wirtschaftsgemeinschaften die Nomenklatur anwenden, ohne WCO-Vertragspartei (21 Staaten), bzw. ohne HS-Vertragspartei (46 Staaten) zu sein. Besondere Bedingungen gelten für Entwicklungsländer, welche ältere Fassungen der Nomenklatur verwenden dürfen. Die Untersuchung arbeitet heraus, dass viele HS-Vertragsparteien ältere Fassungen der Nomenklatur verwenden, obwohl es sich um weiter entwickelte Volkswirtschaften (Kuwait und VAE: HS 2007 sowie Katar und Singapur: HS 2012) oder Staaten in Europa handelt (Albanien, Georgien, Island, Moldawien und die Ukraine). Das HS und seine Nomenklatur sind jedoch alles in allem nach 30 Jahren eine große Erfolgsgeschichte.

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Der AEO setzt neue, verschärfte Maßstäbe! Fast jeder muss sie einhalten. Wie aus einem „normalen“ Wirtschafts­ beteiligten ein anonymer AEO geworden ist. Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Die Kriterien des Art. 39 UZK 1. Einhaltung der Vorschriften a) Zoll- und steuerrechtliche ­Vorschriften b) Straftaten im Rahmen der ­Wirtschaftstätigkeit c) Bewertete Personen 2. Geschäftsunterlagen 3. Zahlungsfähigkeit 4. Berufliche oder praktische Befähigung a) Praktische Befähigung b) Berufliche Befähigung 5. Zwischenergebnis

III. Art. 39 UZK als Voraussetzung für ­andere Bewilligungen 1. Exklusive Vorteile für den AEO 2. Verweis auf Art. 39 UZK IV. Monitoring und Unterrichtungspflicht 1. Überwachungspflichten 2. Unterrichtungspflicht

V. Aussetzung und Widerruf 1. Aussetzung 2. Widerruf 3. Rücknahme

VI. Der anonyme AEO VII. Der zertifizierte Steuerpflichtige VIII. Zusammenfassung

I. Einleitung Als Folge der Anschläge von New York und Washington am 11.9.2001 wurde der Versuch gestartet, die Sicherheit der internationalen Lieferkette zu erhöhen. Seitens der Weltzollorganisation (WZO) ist dazu 2005 die erste Fassung eines „SAFE Framework of Standards to Secure and Facilitate Global Trade“ (WCO SAFE Framework)1 vorgelegt worden. Die darin empfohlenen Maßnahmen sind zwischenzeitlich mehrfach fortgeschrieben2 und auch im Zollrecht der EU umgesetzt worden. Dazu gehören einmal die summarischen Eingangs-3 und Ausgangsanmeldungen4 mit Mitteln der elektronischen Datenverarbeitung gem. Art.  6 UZK. Zudem sind als Kompensation für die 1 http://www.wcoomd.org/en/media/newsroom/2005/may/wco-releases-final-draft-frame​ work-of-standards.aspx. 2 http://www.wcoomd.org/en/topics/facilitation/instrument-and-tools/tools/~/media/55F0​ 0628A9F94827B58ECA90C0F84F7F.ashx. 3 Art. 127 ff. UZK, Art. 104 ff. UZK-DelVO, Art. 182 ff. UZK-DVO. 4 Art. 263 ff. UZK, Art. 244 f. UZK-DelVO.

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Verschärfungen vielfältige Erleichterungen für den legalen, zuverlässigen Handel geschaffen worden. Der legale Handel wird alsdann als sogenannter zugelassener Wirtschaftsbeteiligter5 beschrieben. Da das Konzept lange Zeit anhand englischer Texte diskutiert wurde, hat sich im deutschsprachigen Bereich die Abkürzung AEO für „Authorised Economic Operator“ durchgesetzt. Der AEO wird unabhängig von konkreten Ein- oder Ausfuhren auf Herz und Nieren überprüft und erhält in der Folgezeit vielfältige Vorteile. Statt einer regelmäßig wiederholten Zertifizierung unterliegt er einem permanenten Monitoring.6 Dieser ab 2008 besonders zu beantragende Status ist im Unionszollkodex einerseits mit verschärften Voraussetzungen und andererseits mit weiteren Vergünstigungen versehen worden.7 Ferner ist das zunächst nur für den AEO-Status vorgesehene Bewilligungsverfahren in Art. 22 UZK als Normalverfahren für alle Bewilligungen verankert worden. Außerdem sind die Bewilligungsvoraussetzungen für den AEO in Art. 39 UZK an vielen Stellen des UZK ganz oder teilweise als Voraussetzungen für andere Bewilligungen festgeschrieben worden.8 Damit werden die ursprünglich nur für eine eher geringe Zahl von besonders ausgewählten Wirtschaftsbeteiligten vorgesehen Maßstäbe nunmehr zumindest teilweise an die überwiegende Zahl der Wirtschaftsbeteiligten angelegt. Das wiederum hat die deutsche Zollverwaltung in der 2017 begonnenen Neubewertung von ca. 70000 bestehenden sogenannten Altbewilligungen berücksichtigt und Kriterien bezogen zunächst allein die Voraussetzungen des Art. 39 UZK überprüft und neu bewertet.9 ȤȤ Deshalb soll in einem ersten Schritt auf diese teilweise neuen und verschärften Voraussetzungen eingegangen werden. Nur wer die hohen Anforderungen an den AEO kennt, kann ermessen, welche Verschärfungen mit dem UZK auf alle Wirtschaftsbeteiligten zugekommen sind. ȤȤ Alsdann geht es zweitens genau um die anderen Bewilligungen, die einzelne oder alle Voraussetzungen des Art. 39 UZK voraussetzen. Ihre Zahl ist erstaunlich hoch. ȤȤ In einem dritten Schritt wird dargelegt werden, wie basierend auf den bisherigen Regeln für den AEO im UZK alle Bewilligungen gem. Art. 23 UZK überwacht werden und welche Pflichten dabei den jeweiligen Inhaber treffen.10 ȤȤ Viertens geht es um die Aussetzung und den Widerruf von einzelnen Bewilligungen. Auch dabei zeigt sich, die Vorreiterrolle des AEO und die mit dem UZK um 5 Art. 5a ZK, Art. 38, 39 UZK. 6 Witte, Der AEO im UZK, Teil 3 – Bewilligungserteilung, Monitoring, AW-Prax 2016, 193. 7 Witte, Der AEO im UZK, Teil 1 – Arten, Übergangsregelungen, Vorteile, AW-Prax 2016, 122. 8 Witte in Witte, UZK, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rz. 69 ff. 9 Witte, Neubewertung und Neuerteilung von Bewilligungen, AW-Prax 2017, 182. 10 Alexander in Witte (Fn. 8), Art. 23 UZK Rz. 8 ff.

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gesetzte Anpassung der Reaktionsmöglichkeiten bei Verstößen. Zusätzlich sind die Auswirkungen auf andere Bewilligungen in den Blick zu nehmen. Vereinfacht gesagt müssen bei identischen Voraussetzungen, identische Rechtsfolgen eintreten. Das wiederum kann faktisch zu einem Flächenbrand führen, der bei Verstößen weitere, wenn nicht alle Bewilligungen eines AEO betrifft. ȤȤ Fünftens soll der Versuch unternommen werden, die Folgerungen für die „normalen“ Wirtschaftsbeteiligten aufzuzeigen, die keine AEO sind. Dabei wird sich herausstellen, dass der UZK praktisch alle Wirtschaftsbeteiligten zu von mir sogenannten anonymen AEOs macht.11 Den Begriff habe ich geprägt in Anlehnung an den Begriff des anonymen Christentums.12 Das bedeutet eine faktische Verschärfung jeglicher Bewilligungsvoraussetzungen und zwar unabhängig von der Zertifizierung eines Unternehmens als AEO.

II. Die Kriterien des Art. 39 UZK Zur Prüfung der Voraussetzungen des Art. 39 UZK ist gem. Art. 26 UZK-DVO u.a. ein von den Zollbehörden der Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellter Fragebogen zur Eigenkontrolle vorzulegen. Die in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlichen Fragen fußten auf einem Fragenkatalog in den Leitlinien zum AEO.13 Mittels derartiger Leitlinien versucht die EU-Kommission unterhalb der verbindlichen UZK-DelVO und UZK-DVO die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten. Deshalb liefert sie neben dem Fragebogen auch Auslegungshilfen zu den einzelnen Voraussetzungen des Art. 39 UZK.14 In Deutschland wird ein sogenannter Fragenkatalog zur Selbstbewertung gefordert.15 1. Einhaltung der Vorschriften Erste Bewilligungsvoraussetzung ist gem. Art. 39 Buchst. a UZK, dass der Antragsteller keine schwerwiegenden oder wiederholten Verstöße gegen die zoll- oder steuer-

11 Witte, Der anonyme AEO, AW-Prax 2015, 109. 12 Der bekannte große katholische Theologe des letzten Jahrhunderts Karl Rahner hat den Begriff des anonymen Christentums geprägt. Nach dieser Formel sind alle Menschen, also auch solche außerhalb des offiziellen Christentums, aufgrund des für alle geltenden Heilswillens Gottes als „anonyme Christen“ anzusehen sind, wenn sie in Selbstlosigkeit und Liebe und damit – ihnen selbst unbewusst – in einer Art Nachfolge Christi leben (s. dazu http://universal_lexikon.deacademic.com/206362/anonymes_Christentum). 13 Zugelassene Wirtschaftsbeteiligte, Leitlinien, TAXUD/ B2/2011 – Rev. 6 http://www.zoll. de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zugelassener-Wirtschaftsbeteiligter-AEO/Antragsverfahren/ Fragenkatalog-Selbstbewertung/fragenkatalog-selbstbewertung_node.html. 14 S. Fn. 13, S. 34 ff. 15 http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zugelassener-Wirtschaftsbeteiligter-AEO/­ Antragsverfahren/Fragenkatalog-Selbstbewertung/fragenkatalog-selbstbewertung_node. html.

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rechtlichen Vorschriften und keine schweren Straftaten im Rahmen ihrer Wirtschafts­ tätigkeit begangen hat. Art. 24 UZK-DVO regelt die Einzelheiten. a) Zoll- und steuerrechtliche Vorschriften Die zoll- und steuerrechtlichen Vorschriften sind nach überwiegender Lesart umfassend zu verstehen. aa) Zollrecht Das Zollrecht ist in Art. 5 Nr. 2 UZK definiert. Erfasst wird einmal das Zollrecht ieS gem. Art. 5 Nr. 2 Buchst. a auf Unionsebene und auf einzelstaatlicher Ebene. Zudem gehören zum Zollrecht das Marktordnungs-, Warenursprungs- und Präferenzrecht, Zolltarifrecht, Außenwirtschaftsrecht und sämtliche, teilweise noch nicht harmonisierten Verbote und Beschränkungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr. Selbstverständlich ist auch die ZollbefrVO Teil des Zollrechts. Insoweit hat sich gegenüber der früheren Rechtslage gem. Art. 5a ZK nichts verändert. bb) Steuerrecht Mit dem Unionszollkodex ist das Erfordernis einer allgemeinen steuerrechtlichen Zuverlässigkeit hinzugekommen. Auch hier geht es um das gesamte Recht und nicht nur um das mit Im- und Exporten verbundene zumeist nationale Steuerrecht. Damit werden alle Vorgänge im Binnenmarkt und im jeweiligen Mitgliedsstaat erfasst. Unerheblich ist dabei, wem die Steuern zustehen16. Erstaunlicherweise versucht die Kommission in ihren Leitlinien den Umfang des Steuerrechts einzuschränken. Unter 2.I.1. heißt es: „ ‚Steuerrechtliche Vorschriften‘ sind in einem weiteren Sinne zu verstehen und beschränken sich nicht auf Steuern in Verbindung mit der Ein- und Ausfuhr von Waren (Mehrwertsteuer, Unternehmenssteuern, Verbrauchsteuern usw.). Allerdings sollte der Begriff ‚steuerrechtliche Vorschriften‘ auf Steuern begrenzt sein, die ‚in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirtschaftstätigkeit des Antragstellers stehen‘“.17 Eine Begründung für die gegen den ausdrücklichen Wortlaut vorgenommene Einschränkung auf Steuern, die im direkten Bezug zu den konkreten wirtschaftlichen Aktivitäten des Antragstellers stehen oder gar auf Umsatzsteuer und Verbrauchsteuern fehlt. Erstaunlich ist zum einen, dass die Einschränkung nur für den Bereich der Steuern vorgenommen wird, nicht aber für das Zollrecht. Wer derartige Einschränkungen macht, muss sie konsequenterweise auf die Zollvorschriften ausdehnen und folge16 So auch die Generalzolldirektion, Verfügung zur Umsetzung des Unionszollkodex (GZD – Z 0440 -4/16 – DV.A. 31 v. 27. April 2016) E-VSF N 18 2016 Nr. 73, S. 26. 17 S. Leitlinien Fn. 13.

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richtig Verstöße gegen die Zollvorschriften im privaten Bereich als unerheblich ansehen. Seltsam ist zum anderen, dass bei der steuerrechtlichen Zuverlässigkeit nur auf Steuern abgestellt werden soll, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirtschafts­ tätigkeit des Antragstellers stehen. Wenn die nach Art. 24 (1) UZK-DVO zu bewertenden Personen gegen das Steuerrecht bei einem anderen Unternehmen verstoßen, hätte das keine Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit des zu beurteilenden Wirtschaftsbeteiligten. Leitungskräfte könnten nach begangenen Straftaten unproblematisch in anderen Unternehmen u.U. sogar desselben Konzerns tätig sein, da die Verstöße nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirtschaftstätigkeit des neuen Unternehmens stünden. All das zeigt, wie fragwürdig eine derartige Einschränkung ist. Es scheint fast so, als ob die Kommission über das Ausmaß der Verschärfung der Anforderungen erschrocken ist und die Geister, die sie rief so wenigstens teilweise wieder loswerden will. b) Straftaten im Rahmen der Wirtschaftstätigkeit Zudem dürfen keine schweren Straftaten im Rahmen der Wirtschaftstätigkeit des Antragstellers begangen worden sein. Damit ist das gesamte Strafrecht gemeint. Die GZD nennt als Beispiele für derartige schwere Straftaten: Korruption, Betrug, Umweltverbrechen, Cyber-Kriminalität und Geldwäsche.18 Ergänzend ist den Leitlinien der Kommission unter 2.I.4. zu entnehmen: ȤȤ Konkursbetrug (Insolvenzbetrug), ȤȤ jegliche Zuwiderhandlung gegen gesundheitsrechtliche Vorschriften ȤȤ jegliche Zuwiderhandlung gegen umweltrechtliche Vorschriften, ȤȤ Betrug im Zusammenhang mit der Dual-Use-Verordnung, ȤȤ Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, ȤȤ Bestechung und Korruption, ȤȤ Betrug, ȤȤ mittelbare oder unmittelbare Beteiligung an terroristischen Aktivitäten, ȤȤ mittelbare oder unmittelbare Beteiligung an der Förderung oder Unterstützung ­illegaler Migration in die EU.19

18 Verfügung Fn. 16, S. 17. 19 S. Leitlinien Fn. 13.

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c) Bewertete Personen Zur Beurteilung der angemessenen Einhaltung der Vorschriften ist letztlich auf die persönliche Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit von Menschen abzustellen. Drei Gruppen kommen gem. Art. 24 (1) UZK-DVO in Betracht: ȤȤ Der Antragsteller selbst – auch soweit er eine natürliche Person ist, ȤȤ die Geschäftsleitung bei juristischen Personen oder Personenvereinigungen - also Geschäftsführer und Vorstand - und deren Kontrollgremien wie Beirat und Aufsichtsrat, ȤȤ sowie die Person, die für die Zollangelegenheiten des Antragstellers zuständig ist. Die letzte Gruppe beinhaltet nicht nur eine einzige Person, sondern sowohl in- wie externe Personen. Interne Personen sind regelmäßig die Leitungen der Zollabteilungen nebst Vertretern. Häufig lassen sich Unternehmen zudem, von Dienstleistern vertreten. Soweit diese dadurch für die Zollangelegenheiten verantwortlich zuständig sind, müssen sie ihrerseits zuverlässig die Vorschriften einhalten. Wenngleich dieser Personenkreis nicht neu ist, sondern im Hinblick auf das Zollrecht seit 2008 überprüft wird, ergibt sich durch die Art und Weise der Überprüfung der steuerlichen Zuverlässigkeit eine besondere Brisanz. Die zollrechtliche Zuverlässigkeit der betroffenen Personen wurde und wird durch zollinterne INZOLL-Abfragen überprüft. INZOLL-Abfragen decken jedoch den steuerrechtlichen Bereich nur teilweise mit ab und zwar hinsichtlich der von der Zollverwaltung erhobenen Verbrauchsteuern und der Kraftfahrzeugsteuer. Deshalb sieht die deutsche Zollverwaltung vor, mittels Auskunftsersuchens bei dem jeweils zuständigen Finanzamt nachzufragen, ob steuerrechtliche Verstöße begangen wurden. Die Finanzämter sollen dann Auskunft über steuerrechtliche Verstöße der angefragten Personen erteilen. Zu diesem Zweck verlangen die HZÄ im Fragenkatalog zur Selbstbewertung die Angabe der jeweiligen Finanzämter und persönlichen Steueridentifikationsnummern der zu überprüfenden Personen.20 Die Überprüfung

20 Erläuternd heißt es dazu auf der Homepage der deutschen Zollverwaltung: „Zur Ermöglichung des Informationsaustausches mit den Finanzbehörden der Länder ist die Angabe der Steuer-ID und des zuständigen Finanzamtes notwendig. Dies ermöglicht nicht nur die zweifelsfreie und zeitnahe Identifikation der betroffenen Personen, sondern gewährleistet darüber hinaus auch den Schutz personenbezogener Daten. Ohne die Angabe der Steuer-ID wäre es erforderlich, für die zweifelsfreie Zuordnung weitere spezifische Angaben, wie z.B. die Adresse und Personalausweisnummer, abzufragen. Unabhängig davon kann die Steuer-ID lediglich durch die Finanzbehörden der Länder ausgewertet werden. Die Abfrage bei den Finanzämtern erfolgt mit einem standardisierten Formblatt; die Finanzämter melden ihre Erkenntnisse im Wege einer rot/grün Meldung. Ein konkreterer Informationsaustausch ist erst vorgesehen, wenn den Finanzämtern Erkenntnisse über schwere oder wiederholte Verstöße gegen steuerrechtliche Vorschriften vorliegen.“ http://

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der Zulässigkeit dieses Vorgehens hat das FG Düsseldorf21 in einer Vorlagefrage in die Hände des EuGHs gelegt.22 Als Reaktion darauf hat die deutsche Zollverwaltung die Abfrage der Steuer-Identifikationsnummer im Rahmen der Neubewertung und bei Neuanträgen zur Erteilung zollrechtlicher Bewilligungen vorerst ausgesetzt.23 2. Geschäftsunterlagen Zweite Voraussetzung ist gem. Art. 39 Buchst. b UZK des Nachweises eines erhöhten Maßes an Kontrolle der Tätigkeiten und Warenbewegungen mittels eines Systems der Führung der Geschäftsbücher und gegebenenfalls Beförderungsunterlagen, das geeignete Zollkontrollen ermöglicht. Die Einzelheiten sind in Art. 25 UZK-DVO und den sie interpretierenden Leitlinien niedergelegt. Zufriedenstellend muss das System der Geschäftsbücher und Beförderungsunterlagen sein, nicht fehlerfrei. Einzelne Ungereimtheiten stehen der Bewilligung nicht entgegenstehen. Gemäß Art. 25 UZK-DVO sind die nachfolgenden Punkte besonders zu prüfen: ȤȤ das Buchführungssystem, ȤȤ die Integration der Aufzeichnungen für Zollzwecke in das Buchführungssystem ȤȤ den physischen und elektronischen Zugang der Zollbehörden zum Buchführungssystem, Geschäftsbüchern und den Unterlagen, ȤȤ ein Logistiksystem, das zwischen Unions- und Nicht-Unionswaren unterscheidet, ȤȤ das Vorhandensein eines entsprechenden Organisations- und internen Kontrollsystems, ȤȤ gegebenenfalls ein Verfahren zur Bearbeitung von Genehmigungen und Lizenzen für die Einfuhr und/oder Ausfuhr der Waren, ȤȤ Archivierung von Aufzeichnungen und Informationen und Schutz vor Verlust, ȤȤ Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Computersysteme vor unbefugtem Eindringen und zur Sicherung der Dokumentationen. 3. Zahlungsfähigkeit Dritte Bewilligungsvoraussetzung ist gem. Art. 39 Buchst. c UZK die Zahlungsfähigkeit des Antragstellers. Es geht um eine ausreichende finanzielle Leistungsfähigkeit, www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Neubewertung-zollrechtlicher-Bewilligungen/Fra​ gen-Antworten/fragen-antworten_node.html 21 FG Düsseldorf v. 9.8.2017 – 4 K 1404/17 Z, http://www.fg-duesseldorf.nrw.de/behoerde/ presse/pressemitteilungen/17_08_281eugh-vorlagebeschluss/index.php; Möllenhoff, Die Frage nach der Steuer-ID wird dem EuGH vorgelegt, AW-Prax 2017, 354. 22 Rs. C-496/17. 23 http://www.zoll.de/SharedDocs/Aktuelle_Einzelmeldungen/DE/Fachmeldungen/azr_neu​ bewertung_bewilligungen.html.

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um etwaigen Zahlungsverpflichtungen auch gegenüber den Zollstellen nachkommen zu können. Einzelheiten ergeben sich aus Art. 26 UZK-DVO und den ergänzenden Leitlinien. Selbstverständlich darf gegen den Antragsteller kein Insolvenzverfahren laufen, Art. 26 (1) Buchst. a UZK-DVO. Er muss in den letzten drei Jahren seine Zahlungsverpflichtungen in Bezug auf Zölle, Steuern oder sonstigen Abgaben bei oder im Zusammenhang mit der Ein- oder Ausfuhr von Waren nachgekommen sein, Art. 26 (1) Buchst. b UZK. Über die vorhandene Liquidität ist der Nachweis zu führen. Glaubhaftmachung reicht nicht aus.24 4. Berufliche oder praktische Befähigung Mit dem UZK wurde in Art. 39 Buchst. d UZK ein viertes, neues und zusätzliches Bewilligungskriterium eingeführt. Der Antragsteller muss praktische oder berufliche Befähigungen haben, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der ausgeübten Tätigkeit stehen. Eine dieser beiden Fähigkeiten reicht aus. Die Einzelheiten konkretisiert Art. 27 UZK-DVO. a) Praktische Befähigung Der Antragsteller oder die für seine Zollangelegenheiten zuständigen Personen müssen gem. Art. 27 (1) Buchst. a UZK-DVO eine mindestens dreijährige praktische Erfahrung im Zollbereich nachweisen oder die Einhaltung einer von einer europäischen Normungsorganisation verabschiedeten Qualitätsnorm für den Zollbereich. Da momentan noch keine Qualitätsnorm von einer europäischen Normungsorganisation für den Zollbereich festgelegt worden ist, Art. 27 (1) Buchst. a ii UZK-DVO, ist allein die 3-jährige praktische Erfahrung Bewilligungskriterium. b) Berufliche Befähigung Alternativ haben diese Personen gem. Art. 27 (1) Buchst. b UZK-DVO eine abgeschlossene zollrechtliche Ausbildung nachzuweisen, deren Umfang der Beteiligung dieser Personen an den zollrelevanten Tätigkeiten entspricht. Da der Antragsteller zumeist eine juristische Person ist, geht es im Zollalltag um Mitarbeiter oder Dienstleister. Die Ausbildung muss von der Zollbehörde selbst oder anerkannten Bildungseinrichtungen oder anerkannten oder akkreditierten Berufs- oder Wirtschaftsverbänden erteilt worden sein. Solange weder Bildungseinrichtungen noch Berufs- und Wirtschaftsverbände diesbezüglich anerkannt bzw. akkreditiert worden sind, kommt allein die erste Möglichkeit in Betracht.

24 Vgl. Borde, Bewertung der Zahlungsfähigkeit - Kriterien der EU-Leitlinien zu Art. 39 Buchst. c UZK, AW-Prax 2017, 404.

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5. Zwischenergebnis Damit sind die verschärften Bewilligungsvoraussetzungen des AEO C genannt, die bei weiteren zollrechtlichen Vereinfachungen eine bedeutende Rolle spielen. Art. 39 Buchst. e UZK muss nur vom AEO S erfüllt werden und kann vorliegend außer Acht gelassen werden.

III. Art. 39 UZK als Voraussetzung für andere Bewilligungen Art. 39 UZK ist in zweifacher Form Voraussetzung für andere Bewilligungen. Zum einen wird für einzelnen Vereinfachungen exklusiv der AEO C-Status gefordert. Zum anderen wird in vielen Fällen das Vorliegen einzelner oder aller Vorrausetzungen der Buchstaben a bis d verlangt. 1. Exklusive Vorteile für den AEO Bestimmte Vorteile im UZK verlangen zwingend den Status eines AEO C oder AEO F. Damit wird eine exklusive Verbindung zwischen dem AEO-Status und Vorteilen hergestellt. Zugleich sind andere Wirtschaftsbeteiligte von bestimmten Vergünstigungen ausgeschlossen. Im Einzelnen geht es um ganz unterschiedliche Themen, etwa um die reduzierte Gesamtsicherheit bei entstandenen Zollschulden und anderen Abgaben, Art. 95 (3) UZK. Bei Überlassung von Waren zum zollrechtlich freien Verkehr gem. Art. 201 UZK entstehen regelmäßig Zollschulden gem. Art. 77 UZK und sonstigen Abgaben. Sie werden häufig nicht sofort beglichen. Vielmehr ist dem Beteiligten gem. Art. 110 UZK Zahlungsaufschub global für einen Gesamtbetrag bewilligt worden. Dazu bedarf es einer Sicherheitsleistung. Diese kann ein AEO C gem. Art. 95 (3) UZK als auf 30 % reduzierte Gesamtsicherheit leisten, Art. 158 (2) UZK-DVO. Ferner sind zu nennen die ȤȤ Beförderung in der vorübergehenden Verwahrung, Art. 148 (5) Buchst. b und c UZK, Art. 118 UZK-DelVO, ȤȤ zentrale Zollabwicklung, Art. 179 UZK, ȤȤ Befreiung von der Gestellungspflicht bei der Anschreibung der Zollanmeldung in der Buchführung des Anmelders, Art. 182 (3) Buchst. a UZK, ȤȤ Eigenkontrolle, Art. 185 UZK. Bei diesen Vorteilen reicht es nicht, die AEO-Voraussetzungen zu erfüllen. Der Wirtschaftsbeteiligte muss zuvor den Status des AEO C oder AEO F bewilligt bekommen haben.

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2. Verweis auf Art. 39 UZK Daneben gibt es Vorschriften, die auf Art. 39 UZK und damit auf Voraussetzungen des AEO verweisen. Man braucht in diesen Fällen kein AEO zu sein, um eine Bewilligung zu erhalten. Wer allerdings AEO ist, erfüllt die Voraussetzungen eo ipso. Weitere Prüfungen sind nicht erforderlich. Die Themenbereiche sind vielfältig: ȤȤ Zollvertretung in anderen Mitgliedstaaten: Art. 18 (3) UZK verweist auf Art. 39 Buchst. a–d UZK. ȤȤ Gesamtsicherheit: Art. 95 (1) UZK verweist auf Art. 39 Buchst. a und d UZK. ȤȤ Reduzierte Gesamtsicherheit oder Absehen von der Sicherheit bei möglichen Zollschulden und anderen Abgaben: Art. 95 (2) UZK verweist auf Art. 39 Buchst. b und c UZK. ȤȤ Ausnahmen vom zeitweiligen Verbot der Verwendung von Gesamtsicherheiten: Art. 96 (2) UA 2 UZK verweist auf Art. 39 Buchst. b und c UZK. ȤȤ Gewährung von Vereinfachungen beim Zollwert nach Art. 73: Art. 71 (2) UZK-­ DelVO verweist auf Art. 39 Buchst. a UZK. ȤȤ Einrichtung eines Linienverkehrs gem. Art. 155 (2) UZK: Art. 120 (2) Buchst. b UZK-DelVO verweist auf Art. 39 Buchst. a UZK. ȤȤ Erleichterungen bei der Ausstellung eines Nachweises des zollrechtlichen Status von Unionswaren: Art. 128 (1) UZK-DelVO verlangt, dass die Kriterien des Art. 39 Buchst. a und b UZK erfüllt werden. ȤȤ Regelmäßige Inanspruchnahme vereinfachter Zollanmeldungen gem. Art. 166 (2) UZK: Art. 145 (1) Buchst. a UZK-DelVO verweist auf Art. 39 Buchst. a UZK. ȤȤ Bewilligung für die Anschreibung in der Buchführung des Anmelders gem. Art. 128 (1) UZK: Art. 150 (1) UZK-DelVO verweist auf Art. 39 Buchst. a, b und d UZK. ȤȤ Zugelassene Wieger von Bananen müssen gem. Art. 155 Buchst. a UZK-DelVO die Kriterien des Art. 39 Buchst. a UZK erfüllen. ȤȤ Zugelassene Empfänger für TIR-Zwecke müssen gem. Art. 187 (1) Buchst.  c UZK-DelVO die Voraussetzungen des Art. 39 Buchst. a, b und d UZK erfüllen. ȤȤ Vereinfachungen beim Unionsversand wie zugelassener Versender, zugelassener Empfänger, Verwendung besonderer Verschlüsse usw. gem. Art. 233 (4) UZK verlangen gem. Art. 191 UZK-DelVO, dass der Antragsteller die Voraussetzungen des Art. 39 Buchst. a, b und d UZK erfüllt. Zudem interpretiert die deutsche Zollverwaltung Art. 148 (2) Buchst. b UZK für das Verwahrungslager im Lichte des Art. 39 UZK. Es geht um die Gewähr für die ordnungsgemäße Durchführung der Vorgänge. Gefordert wird in der Verfügung zur 496

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Umsetzung des Unionszollkodex neben dem Vorliegen einer auf das Verwahrungslager abgestellten Betriebsorganisation ȤȤ ein zufriedenstellendes System der Geschäftsbücher und Beförderungsunterlagen gem. Art. 39 Buchst. b UZK, Art. 25 UZK-DVO sowie ȤȤ die Einhaltung der Vorschriften gem. Art 39 Buchst. a UZK, Art. 24 UZK-DVO.25 Entsprechendes muss folgerichtig für Art. 211 (3) Buchst. b UZK bei den Bewilligungen der besonderen Verfahren gelten. Weiterhin verlangt Art. 244 (4) UZK Teilaspekte des Art. 39 UZK. So haben die Zollbehörden die Möglichkeit, Personen die Ausübung einer Tätigkeit oder Dienstleistung in der Freizone zu untersagen, die nicht die erforderliche Gewähr für die Einhaltung der zollrechtlichen Vorschriften bieten. Damit ist klargestellt, dass der AEO-Status zwar nicht Voraussetzung für derartige Verfahrensvereinfachungen oder Tätigkeiten ist. Wirtschaftsbeteiligte können, auch ohne AEO zu sein, in den Genuss dieser zollrechtlichen Erleichterungen kommen. Sie müssen jedoch teilweise dieselben Voraussetzungen wie ein AEO C erfüllen, also quasi AEO C sein können. Was auf den ersten Blick wie ein Ausdehnen der Vorteile für den AEO C aussehen mag – er erfüllt ja alle Voraussetzungen für die vorstehenden Begünstigungen und braucht deren Vorliegen nicht erneut darzutun – erweist sich umgekehrt als deutliche Verschärfung und damit letztlich als Nachteil für alle anderen Wirtschaftsbeteiligten.

IV. Monitoring und Unterrichtungspflicht Zu den wesentlichen Neuerungen im UZK gehören die Art. 22 ff. UZK zu den zollrechtlichen Entscheidungen. Damit wird quasi ein Allgemeiner Teil Verwaltungsakte betreffend geschaffen. Übernommen werden dabei vorher in Art. 5a ZK und Art. 14a ff. ZK-DVO enthaltene Regelungen. 1. Überwachungspflichten Dazu zählt etwa das bis zum 30.4.2016 in Art. 14q (4) ZK-DVO vorgeschriebene permanente Monitoring von Entscheidungen. Sie ist nunmehr in Art. 23 (5) UZK enthalten und betrifft nicht nur den AEO-Status, sondern alle Entscheidungen. Danach überwachen die Zollbehörden die Bedingungen und Voraussetzungen, die der Inhaber einer Entscheidung erfüllen muss. Sie überwachen ferner, dass die sich aus dieser Entscheidung ergebenden Verpflichtungen eingehalten werden.26 25 S. Leitlinien Fn. 16, S. 31. 26 Umso erstaunlicher ist die zeitliche Beschränkung der Bewilligungsdauer von aktiver und passiver Veredelung sowie vorübergehender Verwendung und Endverwendung auf maximal 5 Jahre, Art. 173 UZK-DelVO. Bewilligungen, die einem permanenten Monitoring unterliegen brauchen nicht zeitlich begrenzt zu werden.

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2. Unterrichtungspflicht Um dieses Monitoring erfolgreich durchführen zu können muss u.a. gem. Art. 23 (2) UZK der Inhaber der Entscheidung die Zollbehörden unverzüglich über alle nach dem Erlass der Entscheidung eintretenden Ereignisse unterrichten, die Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung der Entscheidung oder ihren Inhalt haben könnten. Bislang war diese Pflicht gem. Art. 14w ZK-DVO beim AEO angesiedelt. Zudem betraf sie gem. Art. 87 (2) ZK Bewilligungsinhaber von Zollverfahren mit wirtschaftlicher Bedeutung gem. Art. 84 (1) Buchst. a ZK.27

V. Aussetzung und Widerruf Ändern sich nach Bewilligungserteilung die Verhältnisse, kann es zum Statusverlust kommen. Dazu hat die EU-Kommission 2005 mit dem AEO erstmals ein Zwei-Stufen-System eingeführt, das im UZK für alle Bewilligungen übernommen worden ist. Dem eigentlichen Widerruf, der Rücknahme oder Änderung einer Entscheidung geht regelmäßig die Aussetzung voraus, Art. 16 UZK-DelVO. 1. Aussetzung Bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird, wird dem Inhaber der Entscheidung Gelegenheit gegeben, zeitnah Abhilfe zu schaffen. Bei der Aussetzung gem. Art. 23 (4) Buchst. b UZK gelten zunächst die allgemeinen Regeln, Art. 16–18 UZK-­ DelVO. Besonderheiten ergeben sich bei den Rechtswirkungen der Aussetzung, Art. 30 UZK-­ DelVO. Zunächst geht es um die Auswirkungen der Aussetzung der AEO-Bewilligung, wenn der AEO weitere Bewilligungen hat. Dabei gelten folgende Grundsätze: ȤȤ Die Aussetzung einer AEO-Bewilligung wegen Nichterfüllung einer Voraussetzung des Art. 39 UZK wirkt sich auf alle Entscheidungen in Bezug auf diesen AEO aus, die auf der AEO-Bewilligung im Allgemeinen oder auf einer der spezifischen Voraussetzungen beruhen, Art. 30 (1) UZK-DelVO. ȤȤ Umgekehrt hat die Aussetzung einer Entscheidung, die die Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften auf einen AEO betrifft, nicht automatisch die Aussetzung der AEO-Bewilligung zur Folge, Art. 30 (2) UZK-DelVO. Mit der Anfang 2017 begonnenen Neubewertung bestehender Bewilligung28 haben die HZÄ Kriterien bezogen zunächst die AEO-Voraussetzungen des Art. 39 UZK geprüft. Soweit sie bejaht worden sind, liegen sie zukünftig allen weiteren Bewilligungen zugrunde. Damit kann die Aussetzung des AEO-Status wie ein Flächenbrand wirken und viele andere Bewilligungen betreffen. 27 Henke in Witte, Zollkodex, 6. Aufl. 2013, Art. 87 Rz. 3 f. 28 S. Witte (Fn. 9) und http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Neubewertung-zollrechtli​ cher-Bewilligungen/neubewertung-zollrechtlicher-bewilligungen_node.html.

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Der AEO setzt neue, verschärfte Maßstäbe!

Wenn der Wirtschaftsbeteiligte die geforderten Abhilfemaßnahmen (ggf. nach Fristverlängerung) getroffen hat, wird die Aussetzung gem. Art. 18 (1) Buchst. b UZK-­ DelVO zeitnah aufgehoben. Gleiches gilt, wenn ganz allgemein die Aussetzungsgründe nicht mehr vorliegen, Art. 18 (1) Buchst. a UZK-DelVO. Die Aussetzung kann auch durch Rücknahme, Widerruf oder Änderung der Entscheidung beendet werden, Art. 18 (1) Buchst. c UZK-DelVO. Insoweit ergeben sind die bislang allein beim AEO geltenden Kriterien auf alle Entscheidungen übertragen worden. 2. Widerruf Der Widerruf einer Entscheidung ergibt sich aus den allgemeinen Regeln nach Art. 28 UZK. Die Folgen für den AEO sind in Art. 34 UZK-DVO geregelt und entsprechen denen der Aussetzung gem. Art. 30 UZK-DelVO. Der Gesetzeswortlaut ist unterschiedlich, muss aber im Lichte gegenseitigen Bezugs interpretiert werden. Zunächst geht es um die Auswirkungen des Widerrufs, wenn der AEO mehrere Bewilligungen hat. Dabei gelten die vorstehenden Grundsätze. ȤȤ Der Widerruf einer AEO-Bewilligung wegen Nichterfüllung des Art. 39 UZK wirkt sich auf alle Entscheidungen in Bezug auf diesen AEO aus, die auf der AEO-Bewilligung im Allgemeinen oder auf einer der spezifischen Voraussetzungen beruhen, Art. 34 (1) UZK-DVO. ȤȤ Umgekehrt hat der Widerruf einer Entscheidung, die die Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften auf einen AEO betrifft, nicht automatisch den Widerruf der AEO-Bewilligung zur Folge, Art. 34 (2) UZK-DVO. 3. Rücknahme Die Rücknahmeregelungen des Art. 27 UZK gelten bei allen Bewilligungen. Der wichtigste Fall dürfte Falschangaben im Fragenkatalog zur Selbstbewertung bei Antragstellung betreffen. Wegen der Folgen hätte man Regelungen erwarten können, die denen von Aussetzung und Widerruf ähneln. Von der Ermächtigung in Art. 32 UZK ist jedoch bislang kein Gebrauch gemacht worden. Da es dabei um einen Durchführungsrechtsakt gem. Art. 291 AEUV geht, können die Mitgliedstaaten die Lücke füllen. Es bietet sich an, wie bei der Aussetzung bzw. beim Widerruf zu verfahren: Die Rücknahme der AEO-Bewilligung wirkt sich auf andere Bewilligungen aus, aber nicht umgekehrt.

VI. Der anonyme AEO Fast man die vorstehenden Überlegungen zusammen wird zunächst deutlich, dass die AEO-Maßstäbe auf andere Bewilligungen übertragen werden. Art. 39 UZK ist die zentrale Bewilligungsnorm im UZK. 499

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ȤȤ Zum einen wird bei vielen Bewilligungsvoraussetzungen auf Art. 39 UZK verwiesen und damit gefordert, dass der Wirtschaftsbeteiligte zumindest teilweise dieselben Kriterien erfüllt wie der AEO C. ȤȤ Andere Regelungen greifen bestehende AEO-Bewilligungen auf und sehen die Voraussetzungen beim AEO als gegeben an. ȤȤ Schließlich und endlich gibt es einzelne Bewilligungen, die exklusiv dem AEO C vorbehalten sind. Zwar verlangt der UZK nur in wenigen Fällen AEO zu sein. Faktisch sieht die Lage jedoch völlig anders aus. Da die Bewilligungsvoraussetzungen vielfach identisch sind, wird konsequenterweise auch identisch geprüft werden müssen, etwa unter Verwendung des Fragebogens zur Selbstbewertung. Damit werden viele Wirtschaftsbeteiligte zumindest teilweise wie ein AEO behandelt. Die hervorgehobene Stellung des AEO wird nivelliert. Die Anforderungen an die übrigen Wirtschaftsbeteiligten werden deutlich erhöht. Mittels Art. 23 UZK wird aus jedem Inhaber einer Entscheidung gleichsam ein anonymer AEO gemacht. Die Absätze 2 und 5 haben es in sich. Nach Art. 23 (5) UZK überwachen die Zollbehörden „die Bedingungen und Voraussetzungen, die der Inhaber einer Entscheidung erfüllen muss. Sie überwachen ferner, dass die sich aus dieser Entscheidung ergebenden Verpflichtungen eingehalten werden“. Ob Zolllager, aktive und passive Veredelung, vorübergehende Verwendung, Endverwendung, zugelassener Versender und zugelassener Empfänger. Die Zollverwaltung überwacht die Bedingungen und Voraussetzungen wie beim AEO. Konsequenterweise geschieht das regelmäßig mittels eines alle Bewilligungen umfassenden Monitoringplans. Der Wirtschaftsbeteiligte hat keinerlei Einfluss darauf. Er wird zum anonymen AEO. Konsequenterweise verlangt Art. 23 (2) UZK, dass der Inhaber der Entscheidung „die Zollbehörden unverzüglich über alle nach dem Erlass der Entscheidung eintretenden Ereignisse (unterrichtet), die Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung der Entscheidung oder ihren Inhalt haben könnten“. Jeder Bewilligungsinhaber muss also Ansprechpartner nebst Vertretung für die Zollstellen benennen und dafür sorgen, dass diese unternehmensintern über alle zollrelevanten Vorgänge unterrichtet werden. Damit muss er die Zollprozesse organisieren wie früher nur ein AEO. Auch dadurch wird er zum anonymen AEO.

VII. Der zertifizierte Steuerpflichtige Zwischenzeitlich hat auch das Umsatzsteuerrecht den AEO entdeckt. Die EU-Kommission hat am 4.10.2017 ein Paket von Richtlinien- und Verordnungsvorschlägen vorgelegt für die nach ihren Worten „größte Reform der EU-Mehrwertsteuervorschriften seit einem Vierteljahrhundert“.29 Das neue Recht soll ab dem 1.1.2019 gelten 29 So heißt es in der Pressemitteilung der EU-Kommission v. 4.10.2017 zu dem Vorschlagspaket, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-3443_de.htm.

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Der AEO setzt neue, verschärfte Maßstäbe!

und beinhaltet u.a. die Einführung eines sog. „zertifizierten Steuerpflichtigen“, der sich an dem Konzept des zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten im Zollbereich orientiert.30 Der zertifizierte Steuerpflichtige wird als eines der wesentlichen Elemente der ersten Stufe des endgültigen Mehrwertsteuersystems für den Handel zwischen Unternehmen innerhalb der Union angesehen.31 Unternehmen, die als AEO C zertifiziert sind, erfüllen bereits die Bewilligungen für den zertifizierten Steuerpflichtigen. Daraus wird deutlich, dass über den Umweg des Steuerrechts die Voraussetzungen des AEO erfüllt werden müssen.

VIII. Zusammenfassung Die als Folge der Terroranschläge vom 11.9.2001 geschaffene Figur des zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten hat im UZK eine deutliche Aufwertung erhalten. Das Bewilligungsverfahren, die Bewilligungsvoraussetzungen, die Überwachung des Status und die Reaktionsmöglichkeiten auf Verstöße sind vereinfacht gesagt auf alle zollrechtlichen Bewilligungen übertragen worden. Art. 39 UZK enthält die zentralen Bewilligungsvoraussetzung, die nicht nur ein AEO erfüllen muss, sondern teilweise oder gar vollständig die Inhaber weiterer Vereinfachungen. Die Anforderungen sind gegenüber der Vorgängerregelung des Art. 5a ZK deutlich verschärft worden. Neben der zollrechtlichen Zuverlässigkeit ist nunmehr die steuerrechtliche erforderlich. Zudem dürfen keine schweren Straftaten im Rahmen der Wirtschaftstätigkeit des Unternehmens begangen worden sein, Art. 39 Buchst.  a UZK. Weiterhin wird die praktische oder berufliche Befähigung gefordert, Art. 39 Buchst. d UZK. Ferner wurden einerseits die Vorteile des AEO ausgedehnt. Er kommt als die Voraussetzungen qua Status Erfüllender erleichtert in den Genuss weiterer Vereinfachungen. Die AEO-Bewilligung ist gleichsam die Basis für alle weiteren. Andererseits ist durch den Verweis auf die verschärften Voraussetzungen des Art. 39 UZK bei anderen Bewilligungen die Latte deutlich höher gelegt worden. Die Anforderungen an die „normalen“ Bewilligungsinhaber wurden derart verschärft, dass sie als anonyme AEOs bezeichnet werden können.

30 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf die Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des Mehrwertsteuersystems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen Mitgliedstaaten (COM(2017) 569 final); https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/ rep/1/2017/DE/COM-2017-569-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF. 31 Vgl. Harksen, Umfassende Reform des Mehrwertsteuerrechts in der EU geplant, AW-Prax 2017, 419; Harksen/Höink/Witte, Der zertifizierte Steuerpflichtige – Einzug des AEO in die Umsatzsteuer? Die Neuerungen der Reform des Mehrwertsteuerrechts, MwStR 2018, 57.

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Nicht zuletzt die Schaffung des zertifizierten Steuerpflichtigen erfordert das Erfüllen der Voraussetzungen. Das wird auch deutlich an dem alle Bewilligungen betreffenden Monitoringsystem des Art. 23 (5) UZK und der damit verbundenen Unterrichtungspflicht nach Art. 23 (2) UZK. Betrachtet man all diese Punkte, wird erkennbar, dass der UZK nicht nur die früheren Verfahren fortführt, sondern einen großen Qualitätssprung beinhaltet. Dieser betrifft nicht nur den AEO, sondern alle Bewilligungen. Die verschärften Maßstäbe, die an den AEO gelegt werden müssen nicht nur von ihm, sondern auch ganz oder teilweise von jedem „normalen“ Wirtschaftsbeteiligten erfüllt werden. Damit werden alle Bewilligungsinhaber zum anonymen AEOs.

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Die österreichische Ratspräsidentschaft Juli – Dezember 2018 Prioritäten im Zollbereich Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Allgemeiner Kontext III. Legislativvorhaben 1. Bereits vorliegende, in Verhandlung stehende Vorschläge a) Vorschlag für eine Richtlinie über den Rechtsrahmen für Zollrechtsverletzungen und Sanktionen b) Vorschlag für eine Verordnung über die Überwachung von Barmitteln



c) Vorschlag für eine Verordnung über die Einfuhr von Kulturgütern 2. Mögliche Vorschläge

IV. Weitere Themen 1. Governance der Zollunion 2. Internationales Umfeld 3. Brexit

V. Ausblick

I. Einleitung Die Europäische Union scheint an einem Scheideweg zu stehen. Der bevorstehende Austritt des Vereinigten Königreichs hat die Europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten zunächst in eine Sinnkrise gestürzt. Doch scheint dieser Einschnitt auch zu einer Rückbesinnung auf die eigentlichen und ursprünglichen Gründungsideen der Europäischen Union zu führen. Einer der zentralen und am weitestgehenden integrierten Bereiche ist natürlich die Zollunion, welche am 1. Juli 1968 in Kraft getreten ist. Österreich übernimmt am 1. Juli 2018 die Ratspräsidentschaft, somit genau am 50. Jahrestag der Zollunion. Wir werden dies zum Anlass nehmen, mit Optimismus an der Verstärkung und Weitervertiefung der Zollunion zu arbeiten. Aus Anlass der Festschrift für Prof. Dr. Michael Wolffgang, deren Zweck auch ein Ausblick in die Zukunft sein soll, wird daher auf die aktuellen Themen in Brüssel, konkret den Rat, betreffend die Zollunion eingegangen. Wenngleich sich mittlerweile seit dem Verfassen dieses Beitrags2 manches geändert haben mag, so erscheint dies dennoch ein guter Anlass für einen solchen Überblick.

1 Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. 2 Oktober 2017.

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II. Allgemeiner Kontext Eine erste Auswirkung der Brexit-Abstimmung war die Änderung der Abfolge der Ratspräsidentschaften. Denn ursprünglich hätte nach dem Ratsbeschluss vom 1.9.20093 das Vereinigte Königreich den Vorsitz im zweiten Halbjahr 2017 übernehmen sollen. Aus naheliegenden Gründen  – eine Vorsitzführung durch einen Mitgliedstaat, welcher seinen Austritt vorbereitet, scheint nicht sinnvoll  – wurde mit ­Zustimmung des Vereinigten Königreichs beschlossen, die Reihenfolge der Präsidentschaften abzuändern. Großbritannien verzichtete, alle nachfolgenden Vorsitze wurden mit Beschluss des Rates vom 26.7.20164 um jeweils ein halbes Jahr vorgerückt. Somit verschob sich für Österreich nicht nur der Termin, also zweites Halbjahr 2018 statt erstes Halbjahr 2019, sondern es wechselte auch das Trio. Statt mit Rumänien und Finnland teilt sich Österreich nun die Triopräsidentschaft mit Estland und Bulgarien. Das Trio Estland, Bulgarien und Österreich hat sich selbst ein Achtzehnmonatsprogramm auferlegt mit dem Titel „Die strategische Agenda voranbringen“.5 Wenngleich in selbigem Programm die Zollunion per se nicht erwähnt wird, sind doch einige Themen angesprochen, welche für die Zollbehörden von Relevanz sind. Genannt seien Themen wie der grenzüberschreitende elektronische Handel, die Fortsetzung der Arbeiten an Freihandelsabkommen, der mehrjährige Finanzrahmen für den Zeitraum nach 2020 und die Bekämpfung von Terrorismus, Terrorismusfinanzierung und Geldwäsche. Auf Basis dessen haben sich die drei Staaten für den Zollbereich auf ein informelles Trioprogramm geeinigt unter dem Slogan „Smart and Cooperative Customs“. Jeder der drei Partner hat sich unter diesem Generalthema einen besonderen Fokus gegeben, das ist bei Estland das Vorantreiben der Entwicklung von IT-Systemen, bei Bulgarien die Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn und bei Österreich die Zusammenarbeit innerhalb der Zollunion. Im Folgenden sollen die anstehenden Themen konkreter aufgeschlüsselt werden, einerseits nach Legislativvorhaben, andererseits nach sonstigen Fragen.

3 Beschluss des Rates 2009/908/EU vom 1.12.2009 zur Festlegung von Maßnahmen für die Durchführung des Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat und über den Vorsitz in den Vorbereitungsgremien des Rates (ABlEU. L 322 vom 9.12.2009, S. 28). 4 Beschluss des Rates 2016/1316/EU vom 26.7.2016 zur Änderung des Beschlusses 2009/908/ EU zur Festlegung von Maßnahmen für die Durchführung des Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat und über den Vorsitz in den Vorbereitungsgremien des Rates (ABlEU. L 208 vom 2.8.2016, S. 42). 5 http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9934-2017-INIT/de/pdf (abgerufen am 22.10.2017).

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III. Legislativvorhaben 1. Bereits vorliegende, in Verhandlung stehende Vorschläge a) Vorschlag für eine Richtlinie über den Rechtsrahmen für Zollrechts­ verletzungen und Sanktionen6 Hintergrund dieses Vorschlags ist der Umstand, dass das Zollrecht vollständig harmonisiert ist, seine Durchsetzung jedoch im Rahmen des nationalen Rechts erfolgt. Dies bedeutet unter anderem, dass die Mitgliedstaaten die Einhaltung der Zollvorschriften gewährleisten müssen, und zwar nicht nur durch angemessene Arbeitsmethoden und Kontrollmaßnahmen, sondern aus general- und spezialpräventiven Überlegungen auch durch die Verhängung von strafrechtlichen und anderen Sank­ tionen bei Verstößen. Die Verpflichtung zur grundsätzlichen Einrichtung eines strafrechtlichen Systems ergibt sich aus Art. 42 des Unionszollkodex (UZK)7, wonach jeder Mitgliedstaat „Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ vorsehen muss, welche „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein zu haben. Doch bleibt die konkrete Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen, wodurch dies nach 28 unterschiedlichen Rechtsrahmen und verschiedenen Verwaltungs- und Justiztraditionen erfolgt. Die Unterschiede in den Strafrechtssystemen sind teilweise recht bemerkenswert, etwa im Hinblick auf die Verschuldensfrage, die Strafbemessung oder die Frage der justiziellen bzw. rein administrativen Verhängung von Strafen. Diese Unterschiede haben die Kommission dazu veranlasst, im Jahr 2013 einen Vorschlag zur Annäherung dieser strafrechtlichen Systeme für den Zollbereich vorzuschlagen. Eine der von der Kommission geäußerten Sorgen war dabei die angebliche Gefahr von Umleitungen von Waren in besonders „strafrechtsfreundliche“ Mitgliedstaaten. Es zeigte sich rasch, dass die Mitgliedstaaten erhebliche Probleme mit Aufbau und Inhalt des Vorschlags hatten  – langwierige Verhandlungen in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe Zollunion haben zu keinem Ergebnis geführt. Da das Strafrecht im Allgemeinen eben nicht harmonisiert, sondern nach wie vor nationale Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist, fiel es vielen Staaten schwer, für einen im Gesamtkontext relativ kleinen Teilbereich, nämlich das Zollstrafrecht, völlig andere Zugänge zu akzeptieren, welche den generellen nationalen Strafrechtstraditionen widersprechen würden. Beispielhaft sei etwa die im Vorschlag enthaltene Idee einer verschuldensunabhän­ gigen strafrechtlichen Haftung für gewisse Verstöße genannt, was dem für das deutsche und österreichische Strafrecht fundamentalen Grundsatz „nulla pœna sine culpa“ (keine Strafe ohne Schuld) zuwiderläuft.

6 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsrahmen der Europäischen Union in Bezug auf Zollrechtsverletzungen und Sanktionen vom 13.12.2013 (COM/2013/0884 final – 2013/0432 (COD)). 7 Verordnung (EG) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.10.2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (Neufassung), ABlEU. L 269 vom 10.10.2013, S. 1.

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Die Diskussionen sind dementsprechend festgefahren; aus österreichischer Sicht erscheint derzeit eine Fortsetzung der Verhandlungen nicht aussichtsreich. Beim Co-­ Gesetzgeber, dem Europäischen Parlament, waren die Fortschritte um einiges größer, hat es doch am 5.7.2017 seine Stellungnahme in erster Lesung beschlossen, wenngleich mit teils äußerst erheblichen Änderungsvorschlägen zum ursprünglichen Vorschlag.8 Eine Einigung zwischen Rat und Parlament lässt sich derzeit nicht vorhersagen. b) Vorschlag für eine Verordnung über die Überwachung von Barmitteln9 In Ergänzung zur dritten Geldwäscherichtlinie10 wurde bereits 2005 eine Verordnung zur Kontrolle der Barmittel an den EU-Außengrenzen angenommen.11 Auch auf Wunsch vieler Mitgliedstaaten hat die Kommission Ende 2016 einen Vorschlag zur Änderung dieser Verordnung12 vorgelegt, welcher einerseits gewisse Anwendungsprobleme beheben soll und andererseits auf aktuelle Entwicklungen, insbesondere im Bereich der Terrorismusfinanzierung, reagieren soll. Zu den zu behebenden Problemen zählen die bisher unvollständige Erfassung der grenzüberschreitenden Bewegungen von Barmitteln durch die Ausnahme unbegleiteter Barmittel etwa in Postsendungen, Schwierigkeiten beim Austausch von Informationen zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten, keine Möglichkeit der Behandlung von Beträgen unter dem Schwellenwert selbst bei offensichtlich kriminellem Hintergrund sowie eine unvollständige Definition des Begriffs „Barmittel“. Um diese Probleme zu beheben, schlug die Kommission eine Ausweitung auf Post- und Kurierdienstsendungen, die Einrichtung einer zentralen Datenbank, die Ausweitung der Befugnisse der Behörden bei Beträgen unter dem Schwellenwert sowie eine Ausdehnung des Begriffs „Barmittel“ von reinem Bargeld auf andere hochliquide Instrumente wie Feingold, übertragbare Inhaberpapiere und Guthabenkarten vor.

8 Legislative Entschließung P8_TA(2017)0300 des Europäischen Parlaments vom 5.7.2017 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsrahmen der Europäischen Union in Bezug auf Zollrechtsverletzungen und Sanktionen (COM(2013)0884 – C8-0033/2014 – 2013/0432(COD)). 9 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Barmitteln, die in die Union oder aus der Union verbracht werden, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1889/2005 vom 21.12.2016 (COM/2016/0825 final – 2016/0413 (COD)). 10 Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, ABlEU. L 309 vom 25.11.2005, S. 15. 11 Verordnung (EG) Nr.  1889/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2005 über die Überwachung von Barmitteln, die in die Gemeinschaft oder aus der Gemeinschaft verbracht werden, ABlEU. L 309 vom 25.11.2005, S. 9. 12 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Barmitteln, die in die Union oder aus der Union verbracht werden, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.  1889/2005 (COM/2016/0825 final  – 2016/0413 (COD)).

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Aufgrund des offensichtlichen Bedarfs dieser Änderungen schritten die Verhandlungen in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe Zollunion unter maltesischem Vorsitz sehr rasch voran – bereits am 30.6.2017 konnte Einigung im Ausschuss der Ständigen Vertreter auf ein Mandat für die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament erzielt werden.13 Im Parlament hingegen hielt sich der Fortschritt zunächst in Grenzen, erst am 6.7.2017 wurde der Vorschlag in die zuständigen Ausschüsse verwiesen. Dennoch wird erwartet, dass die Verhandlungen rasch weiterschreiten werden und eine Einigung zwischen Parlament und Rat möglicherweise bereits unter österreichischem Vorsitz erzielt werden kann. c) Vorschlag für eine Verordnung über die Einfuhr von Kulturgütern14 Bereits seit dem Jahr 2009 besteht ein europäischer Rechtsrahmen für die Ausfuhrkontrolle bei Kulturgütern.15 Die Einfuhr selbiger ist hingegen bislang keinen über das allgemeine Zollrecht hinausgehenden Bestimmungen unterlegen. Angesichts aktueller sicherheitspolitischer Bedrohungsszenarien ist jedoch auch dieses Thema in den Vordergrund gerückt, insofern als Handel mit geplünderten und geraubten Kulturgütern der Finanzierung von Terrorismus dienen dürfte. In der Europäischen Sicherheitsagenda 201516 wurde dies ebenso thematisiert wie beim Treffen der Staatsund Regierungschefs der G20 am 8.7.2017. Auch der Rat hat die Kommission in seinen Schlussfolgerungen vom 12.2.201617 aufgefordert, in diesem Bereich möglichst schnell einen Legislativvorschlag zu unterbreiten. Dieser ist im Juli 2017 übermittelt worden. Er hat nach seinem Inhalt zwei Ziele, nämlich einerseits die eben erwähnte Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung und andererseits den Schutz der besonders wichtigen Kulturgüter von Staaten, die nicht Mitglied der EU sind. Damit sind sehr ambitionierte, aber durchaus begrüßenswerte Zielsetzungen vorhanden. Der Vorschlag sieht eine Einteilung der Kulturgüter in zwei verschiedene Kategorien vor, nämlich zunächst besonders hochriskante Waren wie etwa archäologische Ausgrabungen und Denkmäler. Für diese wäre bereits vor der Einfuhr in die EU eine Einfuhrlizenz bei den Behörden des Einfuhrlandes innerhalb der EU zu beantragen unter Nachweis der rechtmäßigen Provenienz. Für alle anderen, weniger riskanten Kulturgüter würde eine Erklärung des Einführers im Zeit-

13 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Barmitteln, die in die Union oder aus der Union verbracht werden, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1889/2005 – Mandat für Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament (ST 10286 2017 ADD 1 REV 1 – 2016/0413 (OLP)). 14 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einfuhr von Kulturgütern (COM/2017/0375 final – 2017/0158 (COD)). 15 Verordnung (EG) Nr. 116/2009 des Rates vom 18.12.2008 über die Ausfuhr von Kulturgütern, ABlEU. L 39 vom 10.2.2009, S. 1. 16 Mitteilung der Kommission vom 28.4.2015, COM(2015) 185. 17 Schlussfolgerungen des Rates zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung, ST 6068/16.

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punkt der Anmeldung zur Überführung in den freien Verkehr bzw. zu einem besonderen Verfahren reichen. Das Versandverfahren wäre generell ausgenommen. Der Vorschlag wurde von den Mitgliedstaaten durchaus positiv aufgenommen, wenngleich im Konkreten noch einiges an Klärungsbedarf vorzuliegen scheint, etwa konkret zum System dieser neuartigen Form der Einfuhrlizenz. Die Verhandlungen unter estnischem Vorsitz in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe schritten daher langsam, aber stetig und zielstrebig voran. 2. Mögliche Vorschläge Ohne zu viel spekulieren zu wollen, darf auch kurz auf mögliche zukünftige Vorschläge eingegangen werden. So wird seit Längerem ein Vorschlag zur Neukodifizierung des Zolltarifs18 erwartet, insbesondere zur Anpassung an die geänderte Terminologie und die Verfahren nach dem Vertrag von Lissabon. Gleiches gilt für die Verordnung zu Luftfahrttauglichkeitsbescheinigungen.19 Ob es zu einer neuerlichen Verschiebung der Fristen zur elektronischen Umsetzung aller Verfahren nach dem Unionszollkodex kommt20, ist naturgemäß noch offen, wenngleich es nicht völlig unwahrscheinlich ist, zumal die absolute Frist von 2020 zur Implementierung aller elektronischen Systeme zunehmend unrealistisch erscheint. Eine solche Verschiebung nach hinten bedürfte jedenfalls eines Legislativvorschlags der Kommission und der Annahme in Parlament und Rat.

IV. Weitere Themen 1. Governance der Zollunion Am 21.12.2016 hat die Kommission ihre schon seit Längerem erwartete Mitteilung zur Entwicklung der Zollunion und ihrer Governance veröffentlicht.21 Auf Basis einer fundierten Analyse des aktuellen Zustandes wird darin ein ambitionierter Ausblick auf die weitere Entwicklung gemacht. Es sei demnach nicht nur eine einheitliche Strategie der Zollunion nötig, dies müsse auch vernetzter und gehaltvoller geschehen. Die möglichst enge Zusammenarbeit der Zollbehörden („acting as one“) soll demnach

18 Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23.7.1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABlEU. L 256 vom 7.9.1987, S. 1, i. d. g. F. 19 Verordnung (EG) Nr. 1147/2002 des Rates vom 25.6.2002 zur zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte Waren, die mit Luftfahrttauglichkeitsbescheinigungen eingeführt werden, ABlEU. L 170 vom 29.6.2002, S. 8. 20 Fn. 7. 21 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Entwicklung der Zollunion der EU und ihrer Governance, COM(2016) 813 final.

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Die österreichische Ratspräsidentschaft Juli – Dezember 2018

nicht nur den Behörden selbst helfen, sondern auch den Bürgern und Partnern aus der Wirtschaft ein verbessertes Arbeitsumfeld im Zollbereich bieten. 2. Internationales Umfeld Neben der Modernisierung der Zollunion mit der Türkei sind auch Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Japan, MERCOSUR, Mexiko, Chile, Indonesien, den Philippinen, Australien und Neuseeland entweder angekündigt oder bereits im Laufen. Bereits unterschrieben und vorläufig anwendbar ist das CETA-Abkommen mit Kanada, während die TTIP-Verhandlungen mit den USA derzeit eher nicht allerhöchste politische Priorität haben dürften. 3. Brexit Die Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union liegen bei der europäischen Kommission. Die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten haben diese bislang jedoch vollinhaltlich unterstützt, ein gemeinsames Vorgehen ist dabei absolut essenziell. Die Zollbehörden als Umsetzungsbehörden werden ein allfälliges Verhandlungsergebnis – oder auch das Fehlen eines solchen zum Zeitpunkt des Austritts – so schnell wie möglich in die Praxis umsetzen müssen, um eine Behinderung der Warenströme zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU auf das absolut notwendige Mindestmaß zu senken. Es ist jedoch offensichtlich, dass – außer für den unwahrscheinlich erscheinenden Fall, dass das Vereinigte Königreich trotz Brexit in Binnenmarkt und Zollunion verbleibt – Zollkontrollen an den Grenzen einzuführen sind. Das Vereinigte Königreich wird als Drittland zu behandeln sein, auch bei noch so guten Übergangs- oder Partnerschaftslösungen. Der vom Königreich wiederholt geäußerte Wunsch nach der Vermeidung physischer Grenzen erscheint dabei illusorisch. Österreich wird, da die Schlussphase der Verhandlungen in seine Ratspräsidentschaft fallen dürfte, die zollrechtliche Umsetzung neuer Maßnahmen als ehrlicher Vermittler möglichst rasch und friktionslos vorantreiben.

V. Ausblick Österreich übernimmt zum dritten Mal nach 1998 und 2006 den Vorsitz im Rat der Europäischen Union, mit einer typisch österreichischen Mischung von Pragmatismus und Optimismus. 50 Jahre nach dem Inkrafttreten der größten und erfolgreichsten Zollunion in der Geschichte steht diese vor wechselnden und oft nicht vorhergesehenen Herausforderungen. Dennoch erscheint ihr Zustand robust. Die Zollunion ist eine der großen Erfolgsgeschichten der Europäischen Union.

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Die Haftung des Hinterziehers und Hehlers für eigene (Tabak-)Steuerschulden gemäß § 71 AO Inhaltsübersicht Prolog

I. Einleitung und Problemstellung 1. Steuerschuldnerschaft beim Besitzer von Schmuggelzigaretten 2. Beweisprobleme bei unbekanntem Reiseweg der Schmuggelware 3. Die Auslegung von § 71 AO 4. Lösungsansatz: Koexistenz von Schuld und Haftung 5. Gang der Untersuchung

II. Allgemeines zu Schuld und Haftung 1. Wortbedeutungen von Schuld und Haftung 2. Gesetzgebungsgeschichte der Delikts­ obligation a) § 135 Vereinszollgesetz

b) Schaffung eines Haftungstat­ bestands (§ 92a/§ 112 RAO) c) Änderung des § 112 RAO d) Überführung in die Abgaben­ ordnung (§ 71 AO) III. Entwicklung der herrschenden Meinung 1. Koexistenz von Schuld und Haftung 2. Exklusivität von Schuld und Haftung IV. Der Hinterzieher haftet auch für die eigene Steuerschuld 1. Begriffliche Argumente 2. Entstehungsgeschichte von § 71 AO 3. Gesetzeszweck und Rechtsnatur 4. Systematik 5. Zusammenfassung 6. Bedeutung für die Praxis

Prolog Bei den Recherchen für den nachfolgenden Beitrag zur Festschrift für Hans-Michael Wolffgang hat der Verfasser auch ältere Literatur gesichtet. Hierbei stieß er auf das Vorwort des 5. Jahrgangs der Zeitschrift für Zollwesen und Reichssteuern – der Vorläuferin der allseits bekannten ZfZ. Hierin verkündete im Jahre 1905 Oberregierungsrat Hausbrand, weiland Mitglied der Hamburgischen Generalzolldirektion, das Motto seiner Herausgeberschaft: Überall regt es sich unter unseren Fachgenossen, um Hand anzulegen an die wissenschaftliche Bearbeitung des großen und interessanten Stoffes. Die Zeitschrift will diesem Streben die Stätte bereiten. […] Ihre Aufgabe ist die aus den Erfahrungen des dienstlichen Wirkens schöpfende wissenschaftliche Forschung. Sie soll ihr redlich Teil dazu beitragen, wo es gilt, die Grundbegriffe unseres Rechtsstoffes zu klären, die Erscheinungen der täglichen Verwaltungspraxis dem auf jenen Grundbegriffen aufgebauten System einzuordnen, die Bedeutung und Wirkung der einzelnen Bestimmungen nach fachlichen Gesichtspunkten festzustellen.

Hehre Worte, die zugleich als Leitgedanken für das Lebenswerk des Jubilars dienen können.

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I. Einleitung und Problemstellung Der nachfolgende Beitrag behandelt das Verhältnis von Schuldnerschaft und Haftung im Steuerrecht. Er möchte jedoch diese Rechtsinstitute nicht im Allgemeinen1 beleuchten. Sein Ziel ist es vielmehr herauszuarbeiten, wie das Verhältnis von Schuld und Haftung in § 71 AO, der die Haftung des Beteiligten (§ 28 Abs. 2 StGB) an einer Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei regelt, positiviert worden ist. Anlass für die Klärung der Reichweite von § 71 AO ist eine verbrauchsteuerrechtliche Problematik, die sich seit der Neufassung des Tabaksteuergesetzes 2010 bei der Inanspruchnahme von Tabakschmugglern stellt (dazu 1.). Diese neue Rechtslage führt zu erheblichen Beweisproblemen für die Zollbehörden (dazu 2.). Vor diesem Hintergrund erhält die Reichweite von § 71 AO besondere praktische Bedeutung (dazu 3.) 1. Steuerschuldnerschaft beim Besitzer von Schmuggelzigaretten Das Tabaksteuergesetz (TabStG) unterscheidet bei der Steuerentstehung zwischen der Verbringung der Tabakwaren aus anderen EU-Mitgliedstaaten und deren Einfuhr aus Drittstaaten. Auf der Grundlage des TabStG 19922 waren Personen, die an dem illegalen Grenzübertritt der Zigaretten nicht beteiligt waren, ohne größere Schwierigkeiten als Schuldner der Tabaksteuer heranzuziehen, sofern man ihnen den Besitz der unverzollten und unversteuerten Zigaretten nachweisen konnte. Bei der Verbringung war nämlich – neben dem Verbringer – Schuldner der Tabaksteuer auch der Empfänger der Waren, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt hatte (§ 19 S. 2 TabStG 1992). Durch das Grundsatzurteil des Bundesfinanzhofs vom 11.11.20143 wurde klargestellt, dass Empfänger auch derjenige sein kann, der die Zigaretten nach Beendigung des Verbringungsvorgangs in Besitz genommen hat, also auch ein im Binnenland angetroffener Zwischenhändler oder Endverbraucher. Bei der Einfuhr von Tabakwaren war ebenfalls der Besitzer Schuldner der Tabaksteuer, weil § 21 S. 1 TabStG 1992 – wie schon § 10 TabStG 19804 – die Zollvorschriften für sinngemäß anwendbar erklärte (Art. 202 Abs. 3, 3. Anstrich Zollkodex5). Durch die Neufassung des Tabaksteuergesetzes mit Wirkung vom 1.4.20106 fallen Steuerschuldnertatbestände bei Einfuhr und Verbringung neuerdings auseinander. Während die Voraussetzungen für die Steuerschuldnerschaft bei der Verbringung 1 Hierzu ausführlich: Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, VJSchrStuFR 1927, 567; Goutier, Die Haftung im Steuerrecht, 1978; Mösbauer, Die Haftung für die Steuerschuld, 1990; Bax, Die Haftung nach allgemeinem Abgabenrecht aus steuer- und verfassungsrechtlicher Sicht, 1991. 2 Art. 1 des Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetzes v. 21.12.1992, BGBl. I 1992, 2150. 3 BFH v. 11.11.2014 – VII R 44/11, ZfZ 2015, 108. 4 BGBl. 1979, 2118; siehe BR-Drs. 651/92, S. 212. 5 Das zusätzliche Kriterium, nach dem der Besitzer jedenfalls hätte wissen müssen, dass die Ware vorschriftswidrig verbracht war, ist beim Besitz von Tabakwaren ohne deutsche Steuerzeichen regelmäßig erfüllt, da jeder, der selbst raucht oder mit Tabakwaren handelt, weiß, dass Zigaretten in Deutschland deutsche Steuerzeichen tragen müssen. 6 Viertes Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen, BGBl. I 2009, 1870.

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nicht verändert wurden7, verzichtete der Gesetzgeber bei der Einfuhr auf die Bezugnahme auf die Zollvorschriften. Vielmehr schuf er einen tabaksteuerrechtlichen Steuerschuldnerbegriff.8 Nach § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG 2010 ist bei der Einfuhr von Tabakwaren nur noch Steuerschuldner, wer an der zollrechtlichen Anmeldung der Waren oder an der unrechtmäßigen Einfuhr beteiligt war. Der bloße Besitz der Zigaretten, ohne dass ein persönlicher Bezug zur Einfuhr hergestellt werden kann, führt damit nicht mehr zur Steuerschuldnerschaft. Hieraus folgt, dass Personen, die an dem illegalen Grenzübertritt der Zigaretten nicht beteiligt waren, nur dann Schuldner der Tabaksteuer sind, wenn nachgewiesen wird, dass die Ware verbracht wurde, d.h. aus einem anderen Mitgliedstaat ins Bundesgebiet gelangt ist. Wurden die Zigaretten dagegen – etwa mit einem Schiff oder auf dem Luftweg – aus einem Drittstaat ins deutsche Steuergebiet eingeführt, wird nur diejenige Steuerschuldnerin, die an diesem Vorgang beteiligt war. 2. Beweisprobleme bei unbekanntem Reiseweg der Schmuggelware Dieses Auseinanderfallen der Voraussetzungen für die Steuerschuldnerschaft bei Einfuhr und Verbringung führt zu großen praktischen Problemen. In den typischen Fällen, in denen Schmuggelzigaretten bei Personen im Binnenland sichergestellt werden oder anhand von Telekommunikationsüberwachungsdaten nachgewiesen werden kann, dass sie Tabakwaren an- oder verkauft haben, lässt sich der genaue Reiseweg der Zigaretten häufig nicht feststellen. Die Gründe hierfür sind vielgestaltig: Die Beteiligten dürfen schweigen9. Selbst wenn sie zur Aussage bereit sind, kennen sie oft nur ihren unmittelbaren Lieferanten. Wegen des naturgemäß konspirativen Charakters des Schmuggelgeschäfts haben sie häufig keine Informationen über den Ursprung der in einer vielgliedrigen Lieferkette gehandelten Kontrabande. Wenn überhaupt Zigaretten sichergestellt werden und sich die Verurteilung nicht ausschließlich auf abgehörte Telefonate und SMS stützt, tragen diese häufig keine Steuerzeichen. In einem derart gelagerten Fall, in dem es keine Indizien für den Reiseweg der Zigaretten gab, hat das Finanzgericht Hamburg mit Urteil vom 15.7.201510 einen Steuerbescheid aufgehoben, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Zigaretten verbracht worden waren, so dass der in Anspruch genommene Besitzer der Zigaretten mithin nicht Steuerschuldner war. 3. Die Auslegung von § 71 AO In Reaktion auf die Entscheidung des Finanzgerichts Hamburg vom 15.7.2015 erlassen mehrere Hauptzollämter gegenüber Zigarettenschmugglern nunmehr regelmäßig Haftungsbescheide gemäß § 71 AO, um die hinterzogene Tabaksteuer geltend zu machen. Andere Hauptzollämter, die bisher nur Steuerbescheide erlassen haben, erwä 7 § 23 Abs. 1 S. 2 TabakStG 2010 ist hinsichtlich der Tatbestandsalternative „Empfänger, sobald der Besitz an den Tabakwaren erlangt hat“ identisch mit § 19 S. 2 TabakStG 1992. 8 BR-Drs. 169/09 v. 20.2.2009, S. 145 (zu § 21). 9 Zur Möglichkeit einer Beweismaßreduzierung FG Hamburg v. 23.6.2017 – 4 K 217/16, juris. 10 FG Hamburg v. 15.7.2015 – 4 K 43/15, ZfZ-Beilage 2016, 29.

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gen diesen Schritt. Auch in der Literatur rät man den Behörden hierzu.11 Man könnte meinen, dass durch den Rückgriff auf Haftungsbescheide die soeben dargestellten Beweisprobleme hinsichtlich des Reisewegs ihre Bedeutung verlieren. Einziges geschriebenes Tatbestandsmerkmal von § 71 AO ist nämlich die Beteiligung an einer Steuerhinterziehung oder einer Steuerhehlerei. Die Zollbehörden könnten – statt sich mit dem Reiseweg der Zigaretten beschäftigen zu müssen – ihr Augenmerk auf den sachlich eigentlich relevanten Aspekt richten, nämlich die Frage, ob die in Anspruch genommene Person tatsächlich Besitzerin der Zigaretten war. So einfach ist die Sache freilich nicht. Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur (unten III.2.) verlangt nämlich bei § 71 AO als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal, dass der Haftungsschuldner nicht zugleich Steuerschuldner ist. Auf dieser Grundlage stellt sich für die Zollbehörden beim Haftungsbescheid dasselbe Problem wie beim Erlass eines Steuerbescheids, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Für die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids muss nachgewiesen werden, dass die Ware eingeführt worden ist, der Haftungsschuldner also nicht zugleich Schuldner der Tabaksteuer ist. Dies stellt die Behörde vor erhebliche Herausforderungen: Die Beweislage hinsichtlich des Reiseweges der Zigaretten ist nämlich in der Regel unklar (oben 2.). Konkrete Ermittlungsergebnisse fehlen meist. Es liegt dann im Auge des Betrachters, ob sich aus der Zusammenschau von Telefonüberwachungsprotokollen, ausländischen Steuerzeichen, Observationsergebnissen und allgemeiner Lebenserfahrung der Reiseweg nachweisen lässt. Hinzu kommt, dass Beteiligte ihren Vortrag anpassen, je nachdem ob sie durch Steuer- oder Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. So kommt es zu einem Hase-und-Igel-Spiel: Gegen den Steuerbescheid verteidigen sich die in Anspruch Genommenen mit dem Einwand, dass nicht nachgewiesen sei, dass die Ware aus einem anderen Mitgliedstaat verbracht worden sei. Erlässt die Behörde in Reaktion hierauf einen Haftungsbescheid, wird der Vortrag umgekehrt: Man verweist dann beispielsweise darauf, dass man die Ware von einem unbekannten polnischen Lieferanten erhalten habe, der die Ware seinerseits aus der Ukraine oder Weißrussland geliefert bekommen habe. Kommt es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung, besteht auf der Grundlage der herrschenden Meinung die Gefahr, dass ein Steuer- bzw. ein Haftungsbescheid Jahre nach Einleitung des Besteuerungsverfahrens aufgehoben wird, weil das Gericht zu einer anderen Einschätzung im Hinblick auf den Reiseweg kommt als die Zollbehörden. Die Behörde kann dann zwar den Steueranspruch durch die jeweils andere Bescheidart geltend machen. Der hierdurch entstehende administrative Aufwand ist jedoch beträchtlich. Wird der Adressatin Aussetzung der Vollziehung gewährt, wofür bei ungeklärtem Reiseweg einiges spricht, erhält sie außerdem Gelegenheit, Vermögenswerte, in die vollstreckt werden könnte, beiseite zu schaffen. 4. Lösungsansatz: Koexistenz von Schuld und Haftung Die Praxis verlangt vor diesem Hintergrund nach einer Lösung. Klar ist nämlich, dass eine Person, der der Besitz unverzollter und unversteuerter Zigaretten nachgewiesen 11 Weidemann, Anm. zu BFH – VII R 44/11, ZfZ 2015, 111 (112).

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werden kann, in Anspruch genommen werden muss12. Dies könnte zum einen durch eine neuerliche Änderung des Tabaksteuergesetzes erfolgen, etwa indem für die Einfuhr auf den heute geltenden Art. 79 Abs. 3 Buchst. c) UZK13 verwiesen wird. Für eine darauf gerichtete Tätigkeit des Gesetzgebers gibt es allerdings bisher keine Anhaltspunkte. Zum anderen könnte die Lösung in einer Neuinterpretation des Verhältnisses von Schuld und Haftung bei § 71 AO liegen. Bei Lichte betrachtet steht die überkommene Auffassung hierzu nämlich auf einem brüchigen Fundament. Auch wenn es mittlerweile nahezu allgemeine Meinung in Literatur und Rechtsprechung ist, dass sich Schuld und Haftung auch bei § 71 AO gegenseitig ausschließen (unten III.2.), fällt schon beim ersten näheren Hinsehen auf, dass der Bundesfinanzhof sich zu dieser Frage nur einmal in Bezug auf § 71 AO geäußert hat (unten III.2.). Die – soweit ersichtlich – einzige ausführliche Begründung für die Exklusivitätsthese findet sich in einem Urteil vom 19.10.197614. Sie bezieht sich jedoch nicht auf § 71 AO, sondern auf § 111 RAO – der Vorgängervorschrift von § 70 AO. Die herrschende Meinung hat diese Auffassung auch unter Geltung der Abgabenordnung unkritisch übernommen und auf § 71 AO ausgedehnt. Das Finanzgericht Hamburg hat die Neuinterpretation von §  71 AO im Sinne der Koexistenz von Schuld und Haftung gewagt. Im Beschluss vom 18.11.2016 (4 V 142/16)15 sowie im Beschluss vom 27.6.2017 (4 V 251/16)16 kommt es zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Änderung der Systematik der AO 1977, der Besonderheiten der Gesetzgebungsgeschichte des § 71 AO und der Sonderregeln für Steuerhinterzieher in der Abgabenordnung in § 71 AO kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal hineinzulesen ist, der Hinterzieher also auch für eigene Steuerschulden durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden kann. 5. Gang der Untersuchung Die Begründung für die Koexistenz von Schuld und Haftung bei § 71 AO soll im Folgenden vertieft werden. Hierzu sind zunächst allgemeine Ausführungen zum Verhältnis von Schuld und Haftung (dazu II.1.) und zur Gesetzgebungsgeschichte erforderlich (dazu II.2.). Danach soll die Entwicklung der herrschenden Meinung nachvollzogen werden (dazu III.). Schließlich wird die Begründung für die Koexistenzthese bei § 71 AO entfaltet (dazu IV.).

12 Ausnahmen bilden die Reisefreimengen, hierzu Bender in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 241. EL Febr. 2017, Art. 158 UZK Rz. 62. 13 Danach ist Steuerschuldner – wie bei Art. 202 Abs. 3, 3. Anstrich ZK – der Besitzer der Waren. 14 BFHE 120, 329 (332 f.). 15 EFG 2017, 182 [Nr. 54]; ZfZ-Beilage 2017, 44. Die Beschwerde gegen den Beschluss wurde als unzulässig zurückgewiesen (BFH v. 9.2.2017 – VII B 169/16, n.v.). 16 juris. Zum Beschwerdeverfahren siehe unten IV.6.

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II. Allgemeines zu Schuld und Haftung Vor der Exegese von § 71 AO sollen zwei Aspekte vorab beleuchtet werden, die für die Auslegung von Bedeutung sind. Hierbei wird zunächst vor Augen geführt, dass Schuld und Haftung zwei einfachrechtliche Rechtsbegriffe sind. Sie haben also keinen weitergehenden Inhalt, als er ihnen durch das einfache Recht beigemessen wird (dazu 1.). Weiter soll die Entwicklung der Tatbestände für die Inanspruchnahme des deliktisch Handelnden im Steuerrecht dargestellt werden (dazu 2.). 1. Wortbedeutungen von Schuld und Haftung Während der Begriff der „Schuld“ als Leistensollen17 auf gesetzlicher oder vertraglicher Grundlage relativ klar umrissen ist, ist der rechtliche Haftungsbegriff schillernd. Er kann in germanischer Rechtstradition mit „Zugriffsmacht und Gebundensein für Schuld“18 oder „Einstehenmüssen für eine Schuld“19 verstanden werden. Gleichzeitig wird er als Synonym für obligatio im Sinne von Verpflichtung oder Schuldverhältnis  angewandt.20 Im Zivilrecht finden sich beide Bedeutungen. So wird Haftung in deutsch­rechtlicher Tradition im Sinne einer „Befugnis zur Zwangsvollstreckung“21 verstanden. Der obligatio steht die Verwendung von Haftung als Synonym für „Verantwortlichkeit“22 im Sinne eines gesetzlichen Schuldverhältnisses wegen Verschuldensund Gefährdungshaftung näher. Im Steuerrecht wird der Begriff der Haftung nicht definiert. § 191 Abs. 1 S. 1 AO enthält zwar eine Legaldefinition des Haftungsschuldners. Sie ist jedoch selbstreferentiell, indem sie auf denjenigen verweist, der kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Hiermit wird auf die §§ 69–76 AO verwiesen, die ihrerseits keine Definition enthalten. Hieraus wird deutlich, dass es keinen vorpositiven, gleichsam ontologischen Haftungsbegriff gibt. Dies gilt erst recht im Steuerrecht. Die Aufgabe, die sich vor diesem Hintergrund dieser Beitrag für einen bescheidenen Teil des Haftungsrechts stellen will, wurde bereits im Jahre 192723 von Arens in einem größeren Kontext formuliert (Hervorhebung im Original): Man spricht von Haftung, als ob darunter ein einheitlicher, scharf umrissener Begriff zu verstehen oder als ob die Verwendung des Wortes Haftung in einem bestimmten Sinne allein berechtigt oder mindestens den übrigen, etwa in der Sprache der Steuergesetze sich findenden Bedeutungen vorzuziehen wäre. Jedoch ist durchaus noch ungeklärt, ob sich ein einheitlicher Begriff der Haftung im Steuerrecht aufstellen lässt oder aber ob die Verwendung des Wortes Haftung in mehreren Bedeutungen notwendig oder doch zweckmäßig ist. 17 Goutier (Fn. 1), S. 17. 18 Arens (Fn. 1), 567. 19 Goetzeler, Die Steuerhinterziehung als Rechtsgrundlage für die steuerliche Pflicht des Hinterziehers, VJSchrStuFR 1928, 196 (236). 20 Arens (Fn. 1), 568. 21 Bax (Fn. 1), S. 25. 22 Bax (Fn. 1), S. 25 f. 23 Arens (Fn. 1), 568.

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Die Haftung für eigene (Tabak-)Steuerschulden

2. Gesetzgebungsgeschichte der Deliktsobligation Die ursprüngliche Fassung der Reichsabgabenordnung (RAO)24 kannte keinen (Haftungs- oder Steuerschuld-)Tatbestand, auf dessen Grundlage ein Steuerhinterzieher wegen seines deliktischen Handelns in Anspruch genommen werden konnte. Die Rechtsfigur der Deliktsobligation (obligatio ex delicto), also die aus dem Delikt folgende zivilrechtliche Zahlungspflicht, war lediglich im Zoll- und Verbrauchsteuerrecht anerkannt (dazu a). Erst 1929 wurde sie in die Abgabenordnung eingefügt (dazu b) – d)). a) § 135 Vereinszollgesetz Für das Tabaksteuerrecht vertrat der Reichsfinanzhof seit 192225 die Auffassung, dass das Tabaksteuergesetz 1919 implizit davon ausgehe, dass der Steuerhinterzieher auch zur Entrichtung der Steuer verpflichtet sei.26 Hinsichtlich des Zolls konnten die Behörden für die Inanspruchnahme des Steuerhinterziehers auf § 135 Vereinszollgesetz von 1.7.1869 (VZG)27, der die Zollhinterziehung (Defraudation) regelte, zurückgreifen. Dieser Vertrag wurde durch Art. 40 der Reichsverfassung von 1871 zum Reichsgesetz28 und galt bis 1939 fort29. In § 135 VZG hieß es: 1 Wer es unternimmt, die Ein- oder Ausgangsabgaben (§§ 3 und 5) zu hinterziehen, macht sich einer Defraudation schuldig und hat die Confiscation der Gegenstände, in Bezug auf welche die Defraudation verübt worden ist, und zugleich eine dem vierfachen Betrage der vorenthaltenen Abgaben gleichkommende Geldbuße verwirkt. 2Diese Abgaben sind außerdem zu entrichten.

§ 135 S. 2 VZG wurde als Anspruchsgrundlage für die Inanspruchnahme des Hinterziehers verstanden. Da ein eigenständiger Haftungstatbestand fehlte, konnte der Hinterzieher nur als Schuldner der Abgabe in Anspruch genommen werden.30 Der Reichsfinanzhof vertrat hierbei zunächst die Auffassung, dass § 135 VZG ein Sonderdelikt sei, bei dem nur der Zollschuldner im Sinne von § 13 VZG31 Täter der Defraudation sein könne. Erst 1931 dehnte er den Täterkreis auf sämtliche Personen aus.32

24 RGBl. 1919, 1993. 25 RFH v. 8.2.1922 – A Z IV a A 7/22, JW 1922, 1473 [Nr. 5]. 26 Goetzeler (Fn. 19), 197 ff.; Borbe, Der Haftungsanspruch aus § 112 AO, ZfZ 1950, 379 (379). 27 Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes Nr. 30 v. 16.7.1869, 317 (356); Text auch bei Bax (Fn. 1), S. 43. 28 v. Bonin, Praktischer Führer durch das Zoll- und Verbrauchssteuerrecht, 1. Aufl. 1934, S. 9; siehe auch Hausbrand, Zur Revision des Vereinszollgesetzes, ZfZuR 1905, 4 ff. 29 Hellauer, Zollverkehr, 1941, S. 9. 30 Siehe die Rechtsprechungsnachweise bei Goetzeler (Fn. 19), 197 ff., 200 (Fn. 3 und 4) und Borbe (Fn. 26), 379. 31 Der Inhaber (natürlicher Besitzer) des zollpflichtigen Gegenstandes und derjenige, der diesen Gegenstand aus einer öffentlichen Niederlage entnimmt. 32 Siehe RFHE 30, 227 (229 f.) sowie die Nachweise bei Borbe (Fn. 26), 379 [re. Sp.].

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b) Schaffung eines Haftungstatbestands (§ 92a/§ 112 RAO) Erst im Jahre 1929 wurde in § 92a RAO die Deliktsobligation im allgemeinen Steuerrecht positiviert. Sie sollte bereits 1926 im Rahmen des Spiritusmonopolgesetzes als neuer Abs.  3 zu §  92 RAO in die Reichsabgabenordnung aufgenommen werden.33 Dies gelang jedoch ebenso wenig wie der Versuch, sie 1928 im Rahmen des Steueranpassungsgesetzes34 gesetzlich zu verankern. Erst im Rahmen der Änderung des Tabaksteuergesetzes wurde §  92a RAO35 Gesetz. Er lautete (Hervorhebung hinzugefügt): Wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht, haftet, soweit er nicht Steuerschuldner ist, für den Betrag, in dessen Höhe Steuereinnahmen verkürzt oder Steuervergünstigungen zu Unrecht gewährt oder belassen werden.

Diese Fassung von § 92a RAO hatte den folgenden Hintergrund: Bis zur Änderung der Rechtsprechung 193136 betrachtete der Reichsfinanzhof die Zolldefraudation nach § 135 S. 1 VZG als Sonderdelikt, dass nur der Zollschuldner nach § 13 VZG begehen konnte.37 Hierdurch entstanden Lücken bei der Inanspruchnahme des fremdnützigen Hinterziehers, der selbst nicht Zollschuldner war. Eine solche Konstellation war im Zollrecht nicht untypisch, etwa wenn ein Vertreter, Bevollmächtigter oder Gehilfe des Importeurs zu dessen Vorteil, aber ohne dessen Wissen eine Hinterziehung begeht.38 Diese Lücke sollte in der Abgabenordnung geschlossen werden. In der amtlichen Begründung hieß es:39 Für diese Fälle [in denen jemand, der nicht Steuerschuldner ist, eine Steuerhinterziehung begeht] ist eine Vorschrift des Inhalts erforderlich, daß der Steuerdefraudant, soweit er nicht bereits Steuerschuldner ist, neben dem Steuerschuldner für die Nachzahlung der hinterzogenen Steuer haftet.

In der Art, wie § 92a RAO gefasst war, wurde zum einen klargestellt, dass es sich bei dieser Positivierung der Deliktsobligation nicht – wie im Zoll- und Verbrauchsteuerrecht (oben a) – um einen Steuerschuldtatbestand, sondern einen Haftungstatbestand handelt. Zum anderen wurde durch den Zusatz „soweit er nicht Steuerschuldner ist“ die Exklusivität von Schuld und Haftung bei der Inanspruchnahme des Steuerhinterziehers zum Ausdruck gebracht. Die endgültige Fassung der Norm als §  92a RAO trägt damit die Handschrift von Goetzeler, der 1928 in seiner umfassenden und luziden Studie Die Steuerhinterziehung als Rechtsgrundlage für die steuerliche Pflicht des 33 Art. 36 Nr.  2 des Entwurfes eines Einführungsgesetzes zum Spiritusmonopolgesetz vom 16.11.1926, RT-Drs. III/2888 v. 23.11.1926, S. 7; hierzu Trapp, Der Entwurf eines Spiritusmonopolgesetzes in seinen Beziehungen zum Steuerrecht, ZfZ 1927, 17 (20) [li. Sp.]. 34 Art. I Nr. 21 des Entwurfes eines Steueranpassungsgesetzes v. 28.11.1928, RT-Drs. IV/568 v. 3.12.1928, S. 33. 35 Art. VII Nr.  3 des Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes v. 22.12.1929, RGBl. 1929 I 234, 238; Gesetzentwurf in RT-Drs. IV/1506 v. 17.12.1929. 36 RFH v. 2.3.1931 – IV A 217/31, RFHE 30, 227, 229 f. 37 Borbe (Fn. 26), 379 [re. Sp.] 38 Borbe (Fn. 26), 380 [re. Sp.]. 39 RT-Drs. III/2888 v. 23.11.1926, S. 15; RT-Drs. IV/zu 568 v. 7.1.1929, S. 214.

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Hinterziehers,40 begründet hatte, dass die Steuerdeliktsobligation ihrem Wesen nach keine Steuerschuld, sondern die Haftung für eine Steuerschuld darstelle.41 § 92a RAO wurde unverändert als § 112 in die Reichsabgabenordnung 193142 übernommen. c) Änderung des § 112 RAO Da § 112 RAO 1931 ausdrücklich verlangte, dass der in Anspruch genommene nur haftet, soweit er nicht Steuerschuldner ist, war die Forderung des Reichsfinanzhofs43 am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme nur konsequent, dass für die Geltendmachung eines auf §112 RAO gestützten Haftungsanspruchs grundsätzlich44 die Feststellung erforderlich sei, dass der in Anspruch Genommene nicht Steuerschuldner ist. Dies stellte die Steuerbehörden vor die Aufgabe, in jedem Einzelfall entscheiden zu müssen, ob jemand Schuldner oder Haftender ist. In Reaktion auf dieses Urteil wurde § 112 RAO im Jahre 1934 dahingehend geändert, dass der in Anspruch Genommene haftet, „auch wenn er nicht Steuerschuldner ist“.45 Der Gesetzgeber wollte die Finanzbehörden hierdurch von der vom Reichsfinanzhof postulierten Notwendigkeit entbinden, die Feststellung treffen zu müssen, dass der in Haftung Genommene nicht Steuerschuldner ist. Dieser Arbeitsaufwand sei fachlich nicht gerechtfertigt, weil es für den in Anspruch Genommenen unerheblich sei, ob er als Steuerschuldner oder Haftender verpflichtet werde.46 Durch die Änderung von § 112 RAO im Jahr 1934 wurde die Exklusivität von Schuld und Haftung ausdrücklich aufgehoben. Schuld und Haftung konnten mithin in einer Person koexistieren. Die gewählte Formulierung („auch wenn er nicht Steuerschuldner ist“) überrascht aus heutiger Sicht, weil sie die Existenz eines Grundsatzes vorauszusetzen scheint, nach dem jemand nur dann hafte, wenn er auch Schuldner der Steuer sei. Ausreichend wäre es gewesen festzustellen, dass jemand nach § 112 RAO hafte, „auch wenn er Steuerschuldner ist“. Möglicherweise sollte durch die gewählte Formulierung klargestellt werden, dass die – allerdings bereits 1931 aufgegebene – Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zum eingeschränkten Kreis der Verpflichteten nach § 135 S. 2 ZVG (siehe oben), nicht mehr gelten solle. Denkbar ist auch, dass in den 40 Fn. 19. 41 Goetzeler (Fn. 19), 241 ff., 259 ff.; siehe S. 261 für den Formulierungsvorschlag für einen zwischen § 92 und § 93 AO einzufügenden Tatbestand, der ausdrücklich nur für Personen gelten sollte, „wenn diese, ohne Steuerschuldner zu sein, eine Steuerhinterziehung … begehen.“ (Hervorhebung zugefügt). 42 RGBl. 1931 I 161, 177. 43 RFH v. 25.1.1933 – IV A 70/32, RFHE 32, 276 f. 44 Eine Ausnahme solle nur gelten, wenn sich nicht ermitteln lasse, dass der Hinterzieher nicht der eigentliche Steuerschuldner sei. 45 Abschnitt II Nr. 10 des Steueranpassungsgesetzes v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 925 (932). 46 Reinhardt, Haftung bei Steuerhinterziehung (§ 112 RAO), DStZ 1936, 597 (598); siehe auch Borbe (Fn. 26), 380 [re. Sp.].

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ursprünglichen Text möglichst wenig eingegriffen werden sollte (Es wurde nur „soweit“ durch „auch wenn“ ersetzt.). d) Überführung in die Abgabenordnung (§ 71 AO) § 112 RAO in der Fassung von 1934 blieb bis zur Ablösung durch § 71 AO unverändert. In den gleichlautenden Entwürfen der Abgabenordnung 1974 wurde  – unter Erweiterung auf die Teilnehmer an der Steuerstraftat – dessen Inhalt in § 71 AO übernommen, wobei der Zusatz „auch wenn er nicht Steuerschuldner ist“ weggelassen wurde.47 In der Begründung der Abgabenordnung 1974 heißt es lediglich: „Die Vorschrift entspricht dem bisherigen § 112 AO“.48 Die Streichung des genannten Zusatzes wird in der Begründung nicht erwähnt. Damit wird das Verhältnis von Schuld und Haftung im § 71 AO – anders als etwa im § 70 Abs. 1 AO – nicht mehr ausdrücklich angesprochen.

III. Entwicklung der herrschenden Meinung 1. Koexistenz von Schuld und Haftung Ursprünglich ging der Bundesfinanzhof von einer Koexistenz von Schuld und Haftung aus. In einer Entscheidung des II. Senats aus dem Jahr 1951 sah er sich nicht gehindert, einen Steuerschuldner als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Verfahren zu § 111 RAO (jetzt § 70 AO), der – anders als § 112 RAO – das Verhältnis von Schuld und Haftung nicht ausdrücklich regelte, konnte eine Person nicht als Steuerschuldner in Anspruch genommen werden, weil die Steuerschuld verjährt war. Dies schlösse jedoch ihre Inanspruchnahme als Haftungsschuldner nicht aus. Es bestehe nämlich kein Hindernis, „jemand aufgrund eines Steuertatbestandes sowohl als Steuerschuldner […] wie auch als Haftungsschuldner […] oder nur aus dem einen oder dem anderen Schuldgrund in Anspruch zu nehmen“.49 Zu § 112 RAO wurde in der Literatur noch bis 1974 die Auffassung vertreten, dass die im Urteil des Reichsfinanzhofs vom 25.1.1933 (oben II.2.c) geforderte Feststellung, dass der in Haftung Genommene nicht Steuerschuldner sein dürfe, durch die Änderung von § 112 RAO überholt sei.50 Diese Kommentatoren, die sich der Entstehung

47 BT-Drs. VI/1982 v. 19.3.1971, S. 29; BT-Drs. 7/79 v. 25.1.1973, S. 30. 48 BT-Drs. VI/1982 v. 19.3.1971, S. 120. 49 BFH v. 30.11.1951 – II z 148/51 U, BFHE 56, 39 (42) = juris Rz. 11. 50 Von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, RAO/FGO, 77. EL Juni 1974, Rz. 1; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung, Band I, 9. Aufl. 1963, § 112 Rz. 2; Borbe (Fn. 26), 379, referiert die Änderung von § 112 RAO 1934 und legt sie augenscheinlich seinen Ausführungen zu Grunde; so i.E. auch Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 1961, §  112 RAO Rz. 1 und Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis der Besitz- und Verkehrssteuern, 1951/1952, S. 127 [Anm. 1 zu § 112] („Damit ist der Kreis der

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von §  112 RAO erinnern konnten,51 gingen damit noch von einer Koexistenz von Schuld und Haftung aus. 2. Exklusivität von Schuld und Haftung Eine Änderung der Rechtsprechung trat  – soweit ersichtlich  – mit dem Urteil des VII. Senats des Bundesfinanzhofs vom 12.5.1970 (VII R 34/68) ein. Der VII. Senat wies in einer Entscheidung zu § 111 RAO die vom II. Senat noch im Jahr 1951 vertretene Koexistenzthese ausdrücklich zurück.52 Begründet wurde diese weitreichende Kehrtwende mit dem lapidaren Hinweis, dass „Haften“ das Einstehenmüssen für eine fremde Schuld bedeute und dem Verweis auf § 97 Abs. 2 RAO, nach dem die Vorschriften für die Steuerpflichtigen nur sinngemäß auf die Haftenden anwendbar seien.53 Seitdem bedeutet in ständiger Rechtsprechung des VII. Senats „haften“ im Sinne der Abgabenordnung das Einstehen für eine fremde Schuld. Daher sei es ausgeschlossen, dass jemand für eine eigene Schuld hafte.54 Festzuhalten ist hierbei jedoch, dass sich der VII. Senat noch nie zum Verhältnis von Schuld und Haftung bei § 71 AO (oder § 112 RAO) geäußert hat. Zu dieser Norm gibt es allerdings eine Entscheidung des X.  Senats55, die sich den grundsätzlichen Ausführungen zum Verhältnis von Schuld und Haftung des VII. Senats angeschlossen hat.56 Zur Begründung der Exklusivität von Schuld und Haftung in der Abgabenordnung wurde neben dem Postulat einer begrifflichen Unvereinbarkeit von Schuld und Haftung57 darauf abgestellt, dass in § 97 Abs. 2 RAO die Vorschriften für die Steuerpflichtigen, die nach § 97 Abs. 1 RAO nur die Steuerschuldner waren, nur sinngemäß auf die Haftenden für anwendbar erklärt wurden, und nach § 149 RAO ein Haftungsbescheid grundsätzlich nicht mehr ergehen durfte, wenn die Steuerschuld verjährt war. Hierin komme nicht nur zum Ausdruck, dass primär der Steuerschuldner herangezogen werden solle und dass die Haftung nur eine Hilfsfunktion ausübe, sondern auch, dass nur derjenige haften könne, der nicht selbst Steuerschuldner sei.58 Die überwiegende Literatur59 hat sich dieser Ansicht auch im Hinblick auf § 71 AO angeschlos-

haftungspflichtigen Personen – im Gegensatz zu § 109 AO – soweit wie nur möglich gezogen.“). 51 Die Änderung des §  112 RAO 1934 ignorierte dagegen Kühn, Reichsabgabenordnung, 2. Aufl. 1950, § 112 Rz. 2. 52 BStBl. II 1970, 606, BFHE 99, 178 (180) = juris Rz. 10. 53 A.a.O. 54 BFH v. 19.10.1976 – VII R 63/73, BFHE 120, 329 (332 f.) = juris Rz. 13 f. (zu § 111 RAO); v. 15.4.1987  – VII R 160/83, BFHE 149, 505 (506) = juris Rz.  6 (zu §§  103, 109 AO); v. 14.12.1988 – VII R 107/86, BFH/NV 1989, 549 (550) = juris Rz. 10 (zu §§ 69, 34 Abs. 1 AO); v. 11.7.2001 – VII R 29/99, HFR 2002, 277, juris Rz. 11 (zu § 191 AO, § 419 BGB). 55 BFH v. 7.3.2006 – X R 8/05, BFHE 212, 398 (404) = juris Rz. 27 (zu § 71 AO). 56 Siehe jedoch unten Fn. 75. 57 BFH v. 15.4.1987 – VII R 160/83, juris Rz. 6; v. 7.3.2006 – X R 8/05, juris Rz. 27. 58 BFH v. 19.10.1976 – VII R 63/73, juris Rz. 13. 59 A.A. Mösbauer (Fn. 1), S. 9, 96 m.w.N.

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sen.60 Für § 71 AO würde das Dogma der Exklusivität von Schuld und Haftung bedeuten, dass die Vorschrift um das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal61 „und der Haftende kein Steuerschuldner ist“ ergänzt werden müsse.

IV. Der Hinterzieher haftet auch für die eigene Steuerschuld Anders als die herrschende Meinung postuliert der Verfasser – mit dem Finanzgericht Hamburg (oben I.4.) – bei § 71 AO die Koexistenz von Schuld und Haftung. Die vom Bundesfinanzhof zu § 111 Abs. 1 RAO entwickelte Begründung für die Exklu­ sivität dieser Anspruchsgrundlagen für die Geltendmachung von Steueransprüchen ist unter der h ­ eutigen Abgabenordnung nicht auf § 71 AO übertragbar. § 71 AO ist folglich nicht um ein ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal zu ergänzen. Begriffliche Argumente gebieten eine derartige Ergänzung des Wortlauts nicht (dazu 1.). Die Entstehungsgeschichte von § 71 AO (dazu 2.) sowie der Gesetzeszweck (dazu 3.) zeigen deutlich, dass der Gesetzgeber bewusst auf dieses zusätzliche Merkmal verzichtet hat. Systematische Argumente lassen sich hiergegen nicht anführen (dazu 4.). Im Einzelnen: 1. Begriffliche Argumente Zunächst ist es begrifflich keineswegs zwingend, dass sich Schuld und Haftung gegenseitig ausschließen. Die Wörter „Schuld“ und „Haftung“ allein legen dies gerade nicht nahe. Begrifflich schließen sie sich nur dann aus, wenn sie als exklusive Rechtsinstitute definiert werden. Es ist jedoch auch möglich, die Eigenhaftung als vom Haftungsbegriff erfasst anzusehen.62 Die Abgabenordnung hat sich nicht auf einen bestimmten Inhalt der Begriffe festgelegt. § 191 Abs. 1 AO bestimmt lediglich den Begriff „Haftungsschuldner“ als diejenige Person, die „kraft Gesetzes für eine Steuer haftet“. Die Vorschrift verweist damit auf die Haftungstatbestände der §§ 69–76 AO, ohne diese inhaltlich näher zu konkretisieren. Im Übrigen verwendet die Abgabenordnung die Begriffe Schuld und Haftung nicht konsistent. Neben der genannten Legaldefinition des Haftungsschuldners als Haftender i.S.d. §§ 69 ff. AO spricht § 45 Abs. 2 S. 1 AO von der „Haftung“ der Erben, meint aber deren bürgerlich-rechtliche Schuld. § 45 Abs. 2 S. 2 AO wiederum verweist mit den Vorschriften über eine „steuerrechtliche Haftung der Erben“ wiederum auf die §§ 69 ff. AO.

60 Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 233. EL Juni 2015, § 71 AO Rz. 4; Jatzke in Beermann/Gosch, AO/FGO, 128. EL Dez. 2016, § 71 AO, Rz. 7; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 147. EL Januar 2017, § 71 AO Rz. 7; ders. a.a.O., 140. EL, Mai 2015, vor § 69 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, 142. EL Okt. 2015, § 33 AO Rz. 5; Rüsken in Klein, AO, 13. Aufl. 2016, § 71 Rz. 1; Goutier (Fn. 1), S. 46 f. 61 So ausdrücklich Rüsken in Klein, AO, 13. Aufl. 2016, § 71 Rz. 1. 62 So ausdrücklich Mösbauer (Fn. 1), S. 9 und S. 96; Goutier (Fn. 1), S. 17.

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2. Entstehungsgeschichte von § 71 AO Bei isolierter Betrachtung könnte man die Streichung des aus heutiger Sicht überflüssigen63 Zusatzes „auch wenn er nicht Steuerschuldner ist“ in § 71 AO als Rückkehr zum Grundsatz der Exklusivität von Schuld und Haftung begreifen. Betrachtet man die Gesetzes­änderung jedoch im Kontext der Entstehungsgeschichte des Haftungstatbestandes ergibt sich ein anderes Bild: Während § 92a RAO 1929 (= § 112 RAO 1931) nach seinem klaren Wortlaut von der Exklusivität von Schuld und Haftung des wegen eines Delikts in Anspruch genommenen Steuerbürgers ausging (oben II.2.b), ließ die durch das Urteil des Reichsgerichts vom 25.1.1933 ausgelöste Änderung von § 112 RAO im Jahre 1934 genauso wenig Zweifel daran aufkommen, dass die Steuerschuldnerschaft des in Anspruch Genommenen seiner Inhaftungnahme nicht entgegensteht (oben II.2.c). Es war diese Fassung, die bis zur Einführung der Abgabenordnung 1977 fortgalt. Vor diesem Hintergrund ist die Streichung des Zusatzes „auch wenn er nicht Steuerschuldner ist“ in § 112 RAO durch § 71 AO zu interpretieren: Die Begründung zu § 71 AO stellt ausdrücklich klar, dass die neue Vorschrift dem bisherigen § 112 RAO entspreche. Gleichzeitig erwähnt sie die Auslassung des hier in Rede stehenden Einschubs nicht (oben II.2.d). Dies kann nur so verstanden werden, dass es sich hierbei um eine Änderung handeln sollte, die den materiellen Gehalt der Norm nicht verändert, d. h. das Verhältnis von Schuld und Haftung sollte in § 71 AO so abgebildet werden, wie es bereits in § 112 RAO ausgestaltet war. Der Wortlaut von § 112 RAO 1934, wonach der in Anspruch Genommene haftet, auch wenn er nicht Steuerschuldner ist, kann – wie bereits dargelegt – nur so verstanden werden, dass gerade keine Exklusivität von Schuld und Haftung besteht. Hätte man stattdessen das Exklusivitätsdogma in § 71 AO positivieren und damit zur ursprünglichen Fassung von § 112 RAO zurückkehren wollen, hätte dies in der Gesetzesbegründung zur Abgabenordnung 1974 Anklang finden müssen. Dass dies gerade nicht gewollt war, ergibt sich aus einem Vergleich mit der Gesetzesbegründung zu §  70 AO. Dort wurde nämlich  – in Ergänzung der Vorgängervorschrift des §  111 Abs. 1 RAO – ausdrücklich aufgenommen, dass nur diejenigen Vertretenen haften könnten, „soweit sie nicht Steuerschuldner sind“. Zur Begründung64 wird Bezug genommen auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 12.5.197065, in der er für § 111 RAO – in Abkehr von einer früheren Entscheidung aus dem Jahr 1951 (oben III.1.) – gestützt auf § 97 Abs. 2 RAO die Exklusivitätsthese von Schuld und Haftung aufgestellt hatte. Hieraus wird deutlich, dass dem Gesetzgeber die Problematik um das Verhältnis von Schuld und Haftung bei den einzelnen Haftungstatbeständen und die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs dazu bewusst war. Eine gesetzgeberische Reaktion erfolgte nur in Bezug auf die Vorschrift, zu der sich auch die Entscheidun-

63 Vgl. Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 233. EL Juni 2015, § 71 AO Rz. 2. 64 BT-Drs. VI/1982 v. 19.3.1971, S. 119. 65 BFH v. 12.5.1970 – VII R 34/68, BStBl. II 1970, 606.

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gen verhalten, nämlich § 111 RAO bzw. § 70 AO, nicht jedoch zu § 71 AO. „Kurios“66 kann man den Umstand, dass § 70 AO sich – anders als § 111 RAO – mit dem Verhältnis von Schuld und Haftung auseinandersetzt, während § 71 AO dies – anders als § 112 RAO – nicht tut, nur finden, wenn man die beschriebenen Umstände außer Acht lässt und von einem ungeschriebenen Exklusivitätsdogma von Schuld und Haftung ausgeht, das unabhängig vom Gesetzeswortlaut Geltung beansprucht. Löst man sich jedoch von diesem Vorverständnis, stellt sich die Neufassung von §§ 70 f. AO als planvolle Reaktion des Gesetzgebers auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs dar. Auch der Bundesfinanzhof war sich bewusst, dass der Wortlaut von § 112 RAO 1934 das an sich keine Ausnahme duldende und unveränderliche Exklusivitätsdogma in Frage stellte. In seiner Entscheidung vom 19.10.197667 zu § 111 Abs. 1 RAO erwähnt er ihn, behauptet dann jedoch, dass er „nur dem Scheine“ nach auf der Vorstellung der Koexistenz von Schuld und Haftung beruhe. Die Änderung von § 112 RAO im Jahre 1934 sei nämlich „in Wirklichkeit“ nur eine Reaktion auf die Entscheidung des Reichsfinanzhofs vom 25.1.1933. Warum diese zutreffende Beschreibung des Anlasses für die Änderung von § 112 RAO gegen die Koexistenzthese – die durch diese Änderung gerade positiviert wird – sprechen soll, verrät das Gericht dem Leser nicht. Es handelt sich hierbei im wahrsten Sinne des Wortes um ein Scheinargument. In seiner jüngsten Äußerung zu § 71 AO68 hat der Bundesfinanzhof versucht, seine Argumentation aus der beschriebenen Entscheidung vom 19.10.1976 nachvollziehbarer zu machen. In jener Entscheidung – so der Bundesfinanzhof im Jahre 2017 – habe er den Sinn und Zweck der 1934 vorgenommenen Änderung des § 112 RAO darin erblickt, „die Finanzverwaltung von der vom RFH auferlegten Feststellungspflicht zu befreien“69, also der Pflicht, bei der Inanspruchnahme einer Person als Haftende feststellen zu müssen, dass sie nicht auch Steuerschuldner sei. Hierauf lässt sich zunächst erwidern, dass es für diese Deutung in der Entscheidung vom 19.10.1976 keine Anknüpfungspunkte gibt, weil sie – wie oben dargelegt – lediglich die Entstehungsgeschichte von § 112 RAO 1934 referiert. Auch eine genaue Betrachtung der Entscheidung des Reichsfinanzhofs vom 25.1.1933 und des Wortlauts von § 112 RAO 1934 stützen die These, dass § 112 RAO 1934 das Exklusivitätsdogma unangetastet lassen und lediglich eine Feststellungslastregelung treffen wollte, nicht. Der Reichsfinanzhof hat nämlich ausdrücklich festgestellt: „Die Haftung nach § 112 AO [in der Fassung von 1931] trifft den Hinterzieher oder Hehler nur, soweit er nicht Steuerschuldner ist.“70 Damit wird eine klare Aussage zum Tatbestand der Norm („soweit er nicht Steuerschuldner ist“) getroffen. Erst aus dieser (zutreffenden) Auslegung leitete er die Pflicht ab, festzustellen, dass ein in Anspruch Genommener nicht 66 So Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 147. EL Jan. 2017, § 71 AO Rz. 7. 67 BFH v. 19.10.1976 – VII R 63/73, BFHE 120, 329 (332 f.) = juris Rz. 14. 68 BFH v. 24.10.2017 – VII B 99/17 (n.v.). Es handelt sich um die Beschwerdeentscheidung zum Beschluss des FG Hamburg v. 27.6.2017 (oben I.4.). 69 Beschluss, S. 8. 70 RFHE 32, 276 (276).

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Steuerschuldner ist. Die 1934 herbeigeführte Änderung von § 112 RAO, nach der der Hehler/Hinterzieher haftet, „auch wenn er nicht Steuerschuldner ist“ (Hervorhebung hinzugefügt), verändert nach seinem klaren Wortlaut den Tatbestand der Haftungsvorschrift. Für eine bloße Modifikation der Feststellungslast gibt es dagegen keine Anhaltspunkte. Plausibel wird die Argumentation des Bundesfinanzhofs nur dann, wenn man davon ausgeht, dass die Exklusivität von Schuld und Haftung, wie sie ursprünglich in §§ 97 und 111 RAO festgelegt wurde, nicht mehr verändert werden konnte – eben weil es sich um ein Dogma handelt. Auf dieses Verständnis weist die Feststellung des Bundesfinanzhofs in seinem Urteil vom 19.10.1976 hin, dass die „bereits durch §§ 97 und 111 [RAO] geschaffene Rechtslage“ durch „die erst nachträglich in die Reichsabgabenordnung eingefügte Vorschrift des § 112“ nicht habe geändert werden sollen. Man fragt sich bei dieser Argumentation allerdings, warum die durch zwei einfachgesetzliche Normen (§§ 97, 111 RAO) mit einem spezifischen Anwendungsbereich geschaffene Rechtslage die Änderung der Rechtslage in einem anderen Bereich (Haftung des Hinterziehers gem. § 112 RAO) sperren sollte. Ein solches Verständnis der Unab­ änderlichkeit bestimmter „Grundwertungen der AO und der darauf beruhenden Exklusivität von Steuerschuld und Haftung“71 sind nicht mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) und dem Grundsatz der parlamentarischen Diskontinuität vereinbar. Sie verlangen nämlich, dass spätere Gesetzgeber – innerhalb der von der Verfassung vorgegebenen Grenzen – Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren können müssen.72 Doch selbst wenn man der Deutung des Bundesfinanzhofs folgt, und die 1934 vorgenommene Änderung von § 112 RAO als bloße Befreiung von der Feststellungslast interpretiert, würde dies nichts daran ändern, dass nach der Gesetzesbegründung von § 71 AO (siehe oben) diese Norm inhaltlich § 112 RAO 1934 entsprechen sollte. In diesem Fall müsste man § 71 AO so verstehen, dass bei der Inhaftungnahme nicht festgestellt werden müsste, dass der in Anspruch Genommene nicht Steuerschuldner ist. In ihrer praktischen Auswirkung würde kein Unterschied zur hier vertretenen Auffassung bestehen: Die Finanzbehörden könnten nämlich Personen nach § 71 AO in Haftung nehmen, ohne feststellen zu müssen, dass diese Person nicht Steuerschuldner ist. 3. Gesetzeszweck und Rechtsnatur Auch der Zweck von § 71 AO, der in der Steuersicherung73 liegt, und seine Rechtsnatur als Schadensersatzanspruch74 sprechen für die hier vertretene Auffassung. Wenn das Gesetz einen Schadensersatzanspruch begründen will, ist es ohne weitere Anhaltspunkte schwer nachvollziehbar, warum nicht – wie auch im Zivilrecht – eine An71 So BFH v. 24.10.2017 – VII B 99/17, n.v., S. 9. 72 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (Rn. 53). 73 Goetzeler (Fn. 19), 236; Mösbauer (Fn. 1), S. 3, 4. 74 Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 233. EL Juni 2015, §  71 AO Rz.  3, 27; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 147. EL Jan. 2017, § 71 AO Rz. 1.

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spruchskonkurrenz zwischen (steuer)schuldrechtlichen und deliktischen Ansprüchen bestehen soll. Von der Warte des Schadenersatzrechts aus betrachtet gibt es keine Gründe, warum eine Person, die den deliktischen Tatbestand erfüllt, nur deshalb nicht haften soll, weil sie zugleich auch einen anderen Steuerentstehungstatbestand verwirklicht hat.75 4. Systematik Es lassen sich keine systematischen Argumente anführen, die gegen die von der Entstehungsgeschichte und dem Gesetzeszweck von § 71 AO getragene Koexistenzthese sprechen. Der Bundesfinanzhof erblickte in dem Stufenverhältnis zwischen Schuld und Haftung, das in § 97 Abs. 1 und Abs. 2 RAO zum Ausdruck kam, ein Argument für die Exklusivität von Schuld und Haftung.76 Dieses Argument ist mittlerweile überholt, da das Verhältnis zwischen Steuerschuld und Haftung dogmatisch umgestaltet wurde. In § 33 Abs. 1 AO werden nämlich Steuerschuldner und Haftende gleichberechtigt und -verpflichtet als Steuerpflichtige benannt. Sie werden damit abgabenrechtlich gleichgestellt77 und konsequenterweise in § 44 Abs. 1 AO als Gesamtschuldner behandelt. Selbst wenn mit dem Bundesfinanzhof78 die Akzessorietät und Subsidiarität der Haftung gegenüber der Steuerschuldnerschaft (§§ 191 Abs. 5 S. 1, § 219 S. 1 AO) Anhaltspunkte für eine vom Gesetzgeber gewollte Exklusivität von Schuld und Haftung böten, könnten sie  – anders als bei §  111 RAO, auf den sich das genannte Urteil des Bundesfinanzhofs bezog – für die hier in Rede stehende Haftung nach § 71 AO nicht herangezogen werden. Die Haftung des Steuerhehlers ist nämlich weder akzessorisch (§ 191 Abs. 5 S. 2 AO) noch subsidiär (§ 219 S. 2 AO).79 Der Haftende kann daher gleichzeitig mit und unabhängig vom Steuerschuldner in Anspruch genommen werden. Die nach der hier vertretenen Lesart von § 71 AO gegenüber anderen Haftungsvorschriften vereinfachte Inanspruchnahme des Haftenden fügt sich nahtlos ein in eine Reihe von Vorschriften, die die Inanspruchnahme des Steuerhinterziehers gegenüber anderen Steuerpflichtigen erleichtern. Neben den bereits erwähnten §§ 191 Abs. 5 S. 2 und 219 S. 2 AO wird durch § 169 Abs. 1 S. 2 AO die Festsetzungsfrist für die hinterzogene Steuer auf zehn Jahre ausgedehnt. Die Sperrwirkung für die Aufhebung oder 75 Für das Nebeneinander von Schuld und Haftung auch BFH v. 7.3.2006 – X R 8/05, BFHE 212, 398 (404) = juris Rz. 31, ohne allerdings die Exklusivitätsthese aufzugeben. Hierfür muss der BFH die Rechtsfigur des Zahlungsverpflichteten einführen. Ein Steuerschuldner kann danach dann als Haftender in Anspruch genommen werden, wenn er für die Steuerschuld nicht zahlungsverpflichtet ist, z.B. nach Aufteilung einer Gesamtschuld gemäß §§ 268 ff. AO (juris Rz. 30). 76 BFH v. 19.10.1976 – VII R 63/73, juris Rz. 13. 77 Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 140. EL Mai 2015, vor § 69 AO Rz. 12; Olgemöller, Haftung für Zollschulden, ZfZ 2006, 74 (77) m.w.N. 78 BFH v. 19.10.1976 – VII R 63/73, juris Rz. 13. 79 Hierzu BFH v. 12.9.2014 – VII B 99/13, juris Rz. 25.

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Änderung von Steuerbescheiden, die auf eine Außenprüfung zurückgehen, gilt nicht im Falle einer Steuerhinterziehung (§ 173 Abs. 2 AO). Außerdem ist mit § 235 AO eine Verzinsungspflicht für hinterzogene Steuern niedergelegt. Schließlich findet sich auch an anderer Stelle im Steuerrecht eine Durchbrechung des Grundsatzes der Exklusivität von Schuld und Haftung. In § 7 Abs. 8 S. 3 Versicherungsteuergesetz80 wird die Grenze zwischen Schuld und Haftung vollständig aufgehoben, indem der Haftende sowohl durch Steuer- als auch durch Haftungsbescheid belangt werden kann. Die Frage, ob der Steuerschuldner auch als Haftender (durch Haftungsbescheid) in Anspruch genommen werden darf, kann vor diesem Hintergrund nicht kategorial beantwortet werden. Es ist vielmehr eine Frage der steuerpolitischen Wertung, wie weit die Zugriffsmöglichkeiten der Finanzverwaltung reichen sollen und welcher begründungsmäßige Aufwand hierfür erforderlich sein soll. Die Antwort hierauf hat der Gesetzgeber über die Zeit unterschiedlich und nuanciert für verschiedene Haftungstatbestände gegeben. 5. Zusammenfassung Auch wenn der Befund zutreffen mag, dass sich nach der „Systematik der Abgabenordnung“81 oder „dem Steuerrecht“82 Schuld und Haftung ausschließen, man also nur für eine fremde Schuld haften kann, handelt es sich hierbei nicht um ein Dogma, sondern einen Grundsatz, der sich aus der Analyse des einfachen Rechts ergeben hat. Dies impliziert, dass Durchbrechungen möglich sind83 und verfassungsrechtlich möglich sein müssen (oben 2.). Die vorigen Ausführungen zeigen, dass im Falle von § 71 AO eine solche Ausnahme gemacht wurde. Auf die eingangs (siehe oben II.1.) zitierte, von Arens gestellte Frage ist daher zu antworten, dass die Verwendung des Wortes Haftung in mehreren Bedeutungen dogmatisch notwendig und praktisch zweckmäßig ist. Bei seiner Analyse hat der Verfasser nicht übersehen, dass die Gesetzesänderung von § 112 RAO, auf die er seine Rechtsauffassung maßgeblich stützt, in die Zeit des Na­ tionalsozialismus fällt. In dem auf den Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Fritz Reinhardt – einem überzeugten Nationalsozialisten84 – zurückgehenden Gesetz von 1934, mit dem § 112 RAO geändert wurde, wurde gleichzeitig festgeschrieben, dass die Steuergesetze nach „nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen“ seien.85 Die hier in Rede stehende Gesetzesänderung ist jedoch frei von nationalsozialistischer Ideologie. Sie unterfiel damit nicht dem Aufhebungsgesetz für nationalsozia80 BGBl. 1996 I 22. 81 Rüsken in Klein, AO, 13. Aufl. 2016, § 71 Rz. 1. 82 Koch in AO 1977, 2. Aufl. 1979, § 71 Rz. 3; ähnlich Bax (Fn. 1), S. 28 m.w.N.; siehe schon Arens (Fn. 1), 574 u. 647 und Goetzeler (Fn. 19), 236. 83 Siehe bereits Goetzeler (Fn. 19), 236. 84 Siehe nur dessen Ausführungen zur Rolle der nationalsozialistischen Weltanschauung für die Beamten in ZfZ 1936, 381 ff.; ausführlich zu Reinhardt siehe Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995, S. 51 ff. 85 RGBl. I 1934, 925, 925.

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listisch gefärbte Vorschriften des Alliierten Kontrollrats aus dem Jahre 194686 und galt bis zur AO 1977 fort. In ihr wird lediglich ohne Anschauung einer Person geregelt, unter welchen Voraussetzungen der deliktisch Handelnde haften soll. Diese Frage stellt sich auch für einen grundrechtsgebundenen demokratischen Rechtsstaat, der zur Erfüllung von Staatsaufgaben auf finanzielle Mittel angewiesen ist87. 6. Bedeutung für die Praxis § 71 AO ist auf sämtliche Steuerarten anwendbar. Die hier vertretene Rechtsauffassung erleichtert die Arbeit der Steuerbehörden, ohne dass die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen eingeschränkt werden. Für den Adressaten der Steuerforderung ist es nämlich im Regelfall gleichgültig, ob er als Steuer- oder Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird. Ob sich diese Auffassung durchsetzen wird, bleibt freilich abzuwarten. Mit Beschluss vom 24.10.201788 hat der Bundesfinanzhof zwar – unter Aufhebung der Entscheidung des FG Hamburg vom 27.6.2017 (oben I.4.) – die Vollziehung eines Haftungsbescheids insoweit ausgesetzt, als der in Haftung Genommene überwiegend wahrscheinlich auch Steuerschuldner ist. Er hat dies nachvollziehbarerweise darauf gestützt, dass wegen der herrschenden Meinung zum Verhältnis von Schuld und Haftung bei § 71 AO Unsicherheiten in der Beurteilung einer streitentscheidenden Rechtsfrage bestünden. Gleichzeitig hat er es ausdrücklich nicht für geboten gehalten, über die aufgeworfene Rechtsfrage abschließend zu entscheiden.89 Es bleibt zu hoffen, dass dem Bundesfinanzhof bald in einem Hauptsacheverfahren Gelegenheit gegeben wird, genau dies zu tun.

86 Kühn/Kutter, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl. 1974, § 1 StAnpG Rz. 1 [S. 803]. 87 Siehe bspw. den Aufsatz von Borbe (Fn.  26), 379, der mit den Worten beginnt: „Illegale Einfuhren und Schwarzhandel fügen der Volkswirtschaft der Bundesrepublik schweren Schaden zu.“. 88 Oben Fn. 68. 89 S. 9 des Beschlusses.

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Hans-Jürgen Bleihauer

Umsatzsteuer und Zolltarif Inhaltsübersicht

I. Die Zolltarifnomenklatur als recht­ liches Instrumentarium zur Waren­ definition

II. Die Anwendung der Nomenklatur zur Bestimmung von Steuerermäßigungen

III. Probleme bei der Ermittlung des ­Steuersatzes IV. Zur aktuellen Rechtsprechung

I. Der Zolltarif als rechtliches Instrumentarium zur Warendefinition Der Zolltarif wird nicht erst seit heute hinsichtlich seiner juristischen Relevanz gelegentlich unterschätzt. In seiner Substanz besteht jeder Zolltarif aus zwei Grundelementen, einer Warennomenklatur und den dazugehörigen Zollsätzen. Namentlich die Zolltarifnomenklatur stellt das wohl umfassendste Verzeichnis aller im Handel möglichen beweglichen Waren dar. Hinzu kommt als nicht zu unterschätzender Vorteil die Tatsache, dass es sich bei der in der EU verwendeten Nomenklatur um einen Akt handelt, der auf internationalem Recht beruht und in Form des Harmonisierten Systems der Bezeichnung und Codierung von Waren nahezu weltweit Anwendung findet. Das Harmonisierte System untergliedert die Gesamtheit der Waren in ȤȤ 21 Abschnitte, ȤȤ 97 Kapitel – das Kap. 77 ist dabei nicht mit Waren belegt, ȤȤ 1222 Positionen, ȤȤ 5387 Unterpositionen. Vordergründig vermutet man hier vor allem eine Rechtsmaterie, die mit der Tätigkeit der Zollverwaltung in Verbindung zu bringen ist. Das ist zunächst sicher richtig, allerdings in letzter Konsequenz zu kurz gedacht. Namentlich in solchen Rechtsge­ bieten, bei denen ein Bezug auf konkrete Waren oder Warenumsätze dem Ermitteln welcher auch immer gearteten Rechtsfolge vorausgeht, bedient man sich aus Rationalitätsgründen und wohl auch aus Gründen einer möglichst großen definitorischen Exaktheit einer umfassenden, genauen und logisch strukturierten Warennomenklatur. Das betrifft neben den eigentlichen Zöllen u.  a. die Außenhandelsstatistik, das Bestimmen von Steuergegenständen im Verbrauchsteuerrecht, das Außenwirtschaftsrecht und im nicht unbeträchtlichen Umfang auch das nationale Umsatzsteuerrecht. Letzteres liegt betreffs seiner Umsetzung im nationalen Bereich in Verantwortung der Finanzämter. Diese sind naturgemäß nicht auf zolltarifrechtliche Fragen spezialisiert. 531

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Daraus folgt, dass immer dann, wenn zolltarifliche Rechtsfragen zu berücksichtigen sind, ein enges Zusammenwirken von Zollbehörden und Finanzämtern Regel und Ansatz für Problemlösungen sein sollte. Nicht zuletzt ergibt sich hier auch ein breites Feld für steuerberatende Berufe. Angesichts des empirisch belegbaren Abbaus von Zöllen sind Rechtsfragen außerhalb der eigentlichen Zollerhebung bei der Arbeit mit der Zolltarifnomenklatur immer mehr im Mittelpunkt von praktischer Rechtsanwendung und Rechtsprechung. Angesichts einer ansonsten vorhandenen umfangreichen Literatur zu Fragen des Umsatzsteuerrechts sind jedoch jene Probleme, die sich mit der Verknüpfung desselben mit zolltarifrechtlichen Fragen befassen, eher selten Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchungen. Hilfreich für potenzielle Steuerschuldner und darüber hinaus auch für die Finanzämter ist bei der praktischen Anwendung des UStG1 die Möglichkeit der Einholung einer unverbindlichen Auskunft zu Umsatzsteuerzwecken. Dabei geht es regelmäßig darum, ob der ermäßigte Steuersatz oder der Regelsatz zur Anwendung kommen muss. Solche Auskünfte erteilt auf Antrag die Zollbehörde in jenen Fällen, wo es sich um einen inländischen Umsatz handelt. Da eine solche Auskunft allerdings keine Entscheidung im rechtlichen Sinne darstellt, ist eine Anfechtung durch den Antragsteller nicht möglich. Wohl aber kann die darauf aufbauende Steuerfestsetzung angefochten werden. Bei geplanten Einfuhren mit einer daran anknüpfenden Einfuhrumsatzsteuer besteht darüber hinaus für den Einführer die Möglichkeit, gemäß Art. 33 UZK eine verbindliche Zolltarifauskunft einzuholen. In beiden Fällen informiert die Zollverwaltung über die zolltarifliche Einreihung. In deren Ergebnis ist die Ermittlung des anzuwendenden Steuersatzes problemlos möglich. In der Literatur wird gelegentlich die Unverbindlichkeit von solchen Auskünften kritisch bewertet. So stellt Stadie die Frage, was ein Anfragender mit einer unverbindlichen Auskunft überhaupt solle.2 Hier ist Stadie zumindest insofern zuzustimmen, als weiterführende Überlegungen dazu durchaus angebracht sind. Wenn bei Einfuhren in das Zollgebiet der EU verbindliche Auskünfte langjährig bewährt sind, könnte angesichts der nicht unerheblichen pekuniären Relevanz auch bei Auskünften zu Umsatzsteuerzwecken de lege ferenda im nationalen Recht Verbindlichkeit angestrebt werden. Gleichwohl fehlt dazu bislang die rechtliche Grundlage, zumal dies kein Gegenstand des supranationalen Zollrechts sein kann.

II. Die Anwendung der Nomenklatur zur Bestimmung von ­Steuerermäßigungen Auf die Anwendung des Zolltarifs im nationalen Umsatzsteuerrecht verweist indirekt § 12 UStG, indem die daran geknüpfte Anlage 2 in einer Auflistung der Umsätze mit ermäßigtem Steuersatz zur Definition strukturelle Elemente der Zolltarifnomenklatur nutzt. Die Möglichkeit dazu wird unmittelbar durch Art. 98 Abs. 3 MwStSystRL3 1 UStG v. 21.2.2005, BGBl. I 2005 S. 386. 2 Stadie, Kommentar zum UStG, § 12 UStG Rz. 18. 3 RL 2006/112/EG v. 28.11.2006, ABl. EU L 347, S. 1.

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eingeräumt. Auch in der Rechtsprechung wird auf die Verbindlichkeit zolltarifrechtlicher Normen in diesem Bereich des Umsatzsteuerrechts verwiesen.4 Allerdings bleibt bei dieser grundsätzlich richtigen Feststellung zu beachten, dass z. B. bei dem ausgesprochen relevanten Problem der Auslegung zolltariflicher Rechtsbegriffe Ausnahmen nicht zu umgehen sein werden. Generell lässt sich feststellen, dass mit der Tarifnomenklatur als Rechtsakt die dort enthaltenen Begriffe zur Warenansprache zu Rechtsbegriffen werden. Da es sich hierbei um Warenbezeichnungen aus faktisch allen wirtschaftlichen Bereichen handelt, geht es häufig auch um die exakte und ge­ legentlich auch strittige Begriffsdefinition. Hier liefert die Nomenklatur selbst nur wenig Hilfe in Form klassischer Legaldefinitionen. So z. B. zu Datenverarbeitungsmaschinen in Kap. 84 Anm. 5 A oder zu Stahl in Kap. 72 Anm. 1 d). Eine weitere Verbesserung der juristischen Stringenz der Nomenklatur wäre durch die zahlenmäßige Erweiterung von Legaldefinitionen in Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln zweifelsfrei zu erreichen. Mehr definitorische Elemente enthalten die Erläuterungen zur KN. Diese tragen zwar, wie vom EuGH nahezu regelmäßig festgestellt, als wesentliches Erkenntnismittel maßgeblich zur Auslegung der Nomenklatur bei5, sind allerdings in letzter Konsequenz nicht rechtlich verbindlich. Besonders schwierig ist damit die Situation bei jenen Begriffen, die in zolltariflichen Akten keinerlei Auslegung finden. Hier wäre es wohl schwer akzeptabel, eine zumindest hilfsweise Nutzung von Normen außerhalb des Zolltarifrechts als unzulässig abzulehnen. Derartige Begriffe gibt es durchaus häufig. Im Zuge der innovativen Entwicklung immer neuer Produkte dürfte dabei mit Sicherheit keine Entspannung in Sicht sein. Auch umsatzsteuerlich relevante Waren sind von diesem Dilemma betroffen. Zu verweisen ist hier beispielhaft auf solche Begriffe wie „diätetisches Lebensmittel“ oder „Nahrungsergänzungsmittel“. Was, so fragt sich der damit Befasste, sollte zur Auslegung dieser zolltariflichen Rechtsbegriffe dienen, wenn zwar keine immanente Definition im Zolltarifrecht selbst, wohl aber umfassende Definitionen in anderen rechtlichen Bereichen vorhanden sind? Diese Fragen bedürfen ohne Zweifel einer weiteren Aufmerksamkeit in der Rechtswissenschaft, vor allem im zolltarifrechtlichen Schrifttum und beim Rechtsanwender. Bei der Anwendung zolltariflicher Regelungen stellt sich ferner die Frage, ob sich die Anwendbarkeit des Zolltarifrechts lediglich auf die Ansprache steuerermäßigter Umsätze durch Verweisung auf entsprechende Positionen der KN erstreckt oder ob hier zolltarifliche Vorschriften in ihrer Gesamtheit anzuwenden sind. Solche Fragen können durchaus eine erhebliche praktische Relevanz erlangen, so z. B., wenn ein inländischer Hersteller Produkte auf dem inländischen Markt umsetzt, die zolltariflich als Warenzusammenstellung i. S. der Allgemeinen Vorschrift 3 b) der Kombinierten Nomenklatur zu bewerten sind. Von Vorteil ist dabei, dass gerade die Warenzusammenstellung eine relativ umfangreiche Ausregelung erfährt. Zu erwähnen sind hierbei insbesondere die Leitlinien zur Einreihung von für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellungen in die Kombinierte Nomenklatur.6 Enthält die Zusam4 So das FG Düsseldorf v. 20.2.2013 – 4 K 2960/12 u, juris. 5 Vgl. z. B. EuGH v. 14.7.2016 – C-97/15 Rz. 40, juris. 6 ABl. EU 2013 C 105, S. 1.

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menstellung Waren, deren Umsatz für sich betrachtet zum Teil unter den Regelsteuersatz und zum Teil unter den ermäßigten Steuersatz fällt, wäre nach den zolltariflichen Vorschriften jene Codierung der KN zutreffend, die den charakterverleihenden Bestandteil der gesamten Zusammenstellung erfasst. Dieses Konzept verfolgt die zur Auflösung von Positionskonkurrenzen geschaffene Allgemeine Vorschrift 3 b), deren Quelle das Harmonisierte System ist. Der charakterverleihende Bestandteil wäre dann auch für die umsatzsteuerliche Bewertung aller Bestandteile der Zusammenstellung maßgeblich. Ob dies den umsatzsteuerrechtlichen Intentionen immer voll entspricht, mag dahingestellt bleiben. So bietet sich rechtlich zumindest in Einzelfällen die Möglichkeit, den Regelsteuersatz durch eine entsprechende Gestaltung der Zusammenstellung legal zu umgehen, indem der charakterverleihende Bestandteil so gewählt wird, dass er in die Auflistung der Anlage 2 zu § 12 UStG fällt. Gleichermaßen relevant kann die umsatzsteuerliche Bewertung von Umschließungen werden. Nach Lippross ist hier unter Anwendung umsatzsteuerlicher Rechtsgrundsätze zu entscheiden, ob es sich bei der Umschließung um eine unselbstständige Nebenleistung handelt. In solchen Fällen teile dann die Umschließung das umsatzsteuerrechtliche Schicksal der Gesamtleistung. Freilich wird in diesem Zusammenhang betont, dass bei der Bewertung derartiger Sachverhalte eine weitgehende Übereinstimmung mit zolltariflichen Grundsätzen bestehen würde.7 Unabhängig davon stellt sich gleichwohl die Frage, ob eine Anwendung zolltarifrechtlicher Vorschriften nicht auch konsequent die Anwendung der Allgemeinen Vorschrift 5 der Kombinierten Nomenklatur hinsichtlich der Bewertung von Verpackungen und Umschließungen impliziert. Nicht verkannt werden darf, dass der rechtlich vorgesehene konsequente Verweis auf zolltarifliche Vorschriften ggf. dem Anliegen des nationalen Umsatzsteuerrechts widersprechen kann. So fallen in Anwendung der Anlage 2 zu § 12 UStG Bücher der Pos. 4901 der KN gemäß Nr. 49 der Anlage 2 unter den ermäßigten Steuersatz, gleiche Produkte als Hörbücher indes nicht. Letztere werden zolltariflich von Pos. 8523 erfasst. De lege ferenda bleibt in solchen Fällen noch immer die Möglichkeit sog. Ex­ positionen. Dazu können in Anlage 2 Festlegungen getroffen werden, die von der zolltarifrechtlichen Auslegung von Begriffen abweichen. Verwendete Begriffe unterliegen dann einer rein umsatzsteuerlichen Auslegung, wie dies bereits bei dem Begriff „Milchmischgetränke“ der Fall ist.8

III. Probleme bei der Ermittlung des Steuersatzes Das rechtspolitische Anliegen der umsatzsteuerrechtlichen Regelungen bedingt, dass häufig gerade relativ komplizierte Zolltarifpositionen jene Umsätze definieren, die einem ermäßigten Satz unterliegen. Das betrifft vordergründig den Bereich der Lebensmittel und der Getränke. Relevant sind dabei insbesondere Abgrenzungsfragen zwischen Umsätzen mit ermäßigtem Steuersatz und Regelsteuersatz. Solche können 7 Vgl. Lippross, Umsatzsteuer 2012, 23. Aufl., S. 735. 8 Ziff. 35, Anlage 2 zu § 12 UStG.

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häufig bei Warenumsätzen mit Produkten auftreten, die zwischen Lebensmittelzubereitungen der Pos. 2106 und Arzneimitteln der Pos. 3004 abzugrenzen sind. Konkret betrifft das Produkte, die eine für Arzneimittel nachweisbare therapeutische Wirkung besitzen, dabei aber gleichsam Merkmale eines Nahrungsergänzungsmittels aufweisen. Zolltarifrechtliche Regelungen sind in diesem Zusammenhang hinsichtlich ihrer Schlüssigkeit teilweise konkretisierungsbedürftig. Symptomatisch ist dafür die Zusätzliche Anmerkung 1 Kap. 30. Diese regelt konkrete Merkmale, bei deren Vorliegen als Rechtsfolge die Einreihung der entsprechenden Ware unter die Pos. 3004 als Arzneimittel zu erfolgen hat. Umsatzsteuerrechtliche Konsequenz ist die Anwendung des Regelsatzes. Das Problem besteht in der Frage, ob und wie im Zusammenhang mit der Zus. Anm. 1 neben dieser die Tatbestandsmäßigkeit des Positionswortlautes geprüft werden muss. Unklar ist nach wie vor, ob bei Erfüllung der Zus. Anm. 1 gleichsam davon ausgegangen werden kann, dass auch der Wortlaut der Pos. 3004 in vollem Umfang erfüllt ist. Dort werden therapeutische oder prophylaktische Zwecke zwingend gefordert. Das Problem ist grundsätzlicher Natur. Zusätzliche Anmerkungen dürfen in ihrer Substanz den Inhalt von HS-Positionen nicht verändern. Vor dem Hintergrund der teilweise komplizierten KN-Positionen zur Definition der Umsatzsteuerermäßigung treten nahezu folgerichtig immer wieder Probleme auf. So wird z.  B. durch die VO(EU)2015/22549 die Festlegung getroffen, dass Fotobücher nicht unter die Pos. 4901, sondern vielmehr unter die Pos. 4911 der KN fallen. Damit unterliegt deren Umsatz dem Regelsteuersatz. Während Pos. 4901 Bücher, Broschüren und ähnliche Drucke erfasst, handelt es sich bei Pos. 4911 um eine Art Sammelposition für sonstige, also in den Pos. 4901 bis 4910 nicht aufgenommene Druckerzeugnisse. Dass es sich bei Fotobüchern nicht um Waren der Pos. 4901 handelt, wird vor allem mit fehlendem Text begründet. Indes können Fotobücher durchaus umfangreiche Textpassagen aufweisen. Die Rechtsauffassung gem. o. g. Verordnung ist allerdings neu. In der Vergangenheit war die Verwaltungspraxis im Regelfall bei Pos. 4901. Hier stellt sich die Frage, ob diese veränderte Auffassung einer stringenten zolltariflichen Subsumtion standhalten kann. Wegen der unmittelbaren Gültigkeit von Verordnungen der EU haben die Zollverwaltung und damit auch das Finanzamt bei der Entscheidung zunächst keine andere Wahl. Eine kritische Wertung sollte indes nicht ausgeschlossen werden. Ein weiterer komplizierter Problemkreis findet sich im Warenkreis des Kap. 97 der KN. Betroffen sind dabei bestimmte Kunstgegenstände und Sammlungsstücke, deren Umsatz gem. Ziff. 53 und 54 der Anlage 2 ermäßigt besteuert wird. Beide Kategorien sind im erheblichen Maße interpretationsbedürftig. Unter Nr.  53 werden expressis verbis Kunstgegenstände genannt, die dann in den Buchstaben a) bis c) mit Verweis auf die Pos. 9701 bis 9703 der Kombinierten Nomenklatur aufgegliedert werden. Hier ist zu bemerken, dass bei der zolltariflichen Zuordnung der künstlerische Wert der entsprechenden Waren nicht zu beurteilen ist. Die vorhandene Auslegungsbedürftigkeit erforderte eine letztlich umfangreiche Rechtsprechung. Eine Besonderheit besteht in der Tatsache, dass vor allem Sammlungsstücke oft solche Gegenstände dar9 ABl. L 321 v. 5.12.2015, S. 8–9.

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stellen, die auch als alltägliche Gebrauchsgegenstände Verwendung finden oder in früheren Zeiten gefunden haben. Somit kann beispielhaft ein Umsatz mit Haushaltsgeschirr sowohl unter den steuerlichen Regelsatz als auch unter den ermäßigten Satz fallen, Letzteres aber nur dann, wenn es sich dabei um Sammlungsstücke handelt. Deren Definition ist indes aus gutem Grund sehr eingrenzend. Bereits im Jahr 1985 legte der EuGH Kriterien für Sammlungsstücke fest: „Sammlungsstücke im Sinne der Tarifnummer 99.05 des GZT sind Gegenstände, die geeignet sind, in eine Sammlung aufgenommen zu werden, das heißt Gegenstände, die verhältnismäßig selten sind, normalerweise nicht ihrem ursprünglichen Verwendungszweck gemäß benutzt werden, Gegenstand eines Spezialhandels außerhalb des üblichen Handels mit ähnlichen Gebrauchsgegenständen sind und einen hohen Wert haben. Von geschichtlichem oder völkerkundlichem Wert im Sinne der Tarifnummer 99.05 des GZT sind solche Sammlungsstücke, die einen charakteristischen Schritt in der Entwicklung der menschlichen Errungenschaften dokumentieren oder einen Abschnitt dieser Entwicklung veranschaulichen.“10 Sicher werfen Formulierungen wie „verhältnismäßig selten“ oder „hoher Wert“ erneut erhebliche Fragen auf. Selten kann ein Gegenstand nur dann sein, wenn lediglich einzelne Exemplare vorhanden sind und wenn dieser Umstand tatsächlich auch nachweisbar ist. Von einer besonderen Relevanz sind auch Umsätze mit sog. Oldtimern. Besonders für Sammler besteht hier ein gesteigertes Interesse, von einer ermäßigten Umsatzsteuer zu profitieren. Allerdings sind die Anforderungen an derartige Fahrzeuge sehr spezifisch und durch gerichtliche Entscheidungen präzise vorgegeben. Gefordert wird ein historischer oder völkerrechtlicher Wert. Dazu ist erforderlich, dass sich das Fahrzeug im Originalzustand befindet. Wesentliche Änderungen an Fahrgestell, Motor, Steuer- oder Bremssystem sind nicht zulässig. Darüber hinaus muss es sich um ein nicht mehr hergestelltes Modell handeln, das mindestens 30 Jahre alt ist. Ein entscheidendes Kriterium ist weiterhin die Veranschaulichung oder ­Dokumentierung eines charakteristischen Schrittes in der Entwicklung der menschlichen Errungenschaften.11 Diese geforderten Eigenschaften belegen, dass eine Einreihung von Oldtimern in Pos. 9705 der Kombinierten Nomenklatur mit der Folge einer ermäßigten Umsatzsteuer eher selten sein wird. Auch bei Gemälden und Zeichnungen gibt es erheblichen Raum für Konflikte. Die Nomenklatur ist in diesem Fall konsequent. Nicht die künstlerische Qualität ist entscheidend, sondern vielmehr die Art und Weise der Herstellung. Steuerlich begünstigt sind damit vollständig von Hand geschaffene bildliche Darstellungen. Unstrittig künstlerisch wertvolle Darstellungen, die teilweise in einem fotografischen Verfahren geschaffen wurden, fallen hingegen nicht unter die Pos. 9701 und sind folglich umsatzsteuerlich mit dem Regelsatz belegt. 10 EuGH v. 10.10.1985 – Rs. 200/84, ErlKN Pos. 9705 (HS) Rz. 01.0 ff. 11 EuGH v. 3.12.1998 – Rs. C-259/97.

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Auch die in Pos. 9702 erfassten Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst sind in Anlage 2 UStG aufgenommen. Hierzu hat der BFH in einem Beschluss folgende Entscheidung getroffen: „In Auflagen von 1.000 Stück hergestellte Bronzeskulpturen sind keine dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst, wenn angenommen werden kann, dass bei dieser Anzahl der Reproduktionen der Originalcharakter des Werks sich ‚verflüchtigt‘, der Beitrag des Künstlers also an Bedeutung verloren hat.“12 Der Beschluss reflektiert im Wesentlichen auch die Anm. 3 Kap. 97, nach der Serien­ erzeugnisse nicht unter die Pos. 9703 und damit nicht unter den Warenkreis der Anlage 2 fallen. Insofern wird in solchen Fällen der umsatzsteuerliche Regelsatz zutreffend sein.

IV. Zur aktuellen Rechtsprechung Aus der Kompliziertheit der Bestimmung des ermäßigten Steuersatzes resultieren nahezu zwangsläufig häufige gerichtliche Verfahren. In der jüngeren Rechtsprechung spielten bei der Anwendung von Anlage 2 zu § 12 UStG besonders folgende Fragen eine Rolle: ȤȤ tarifliche Zuordnung von Schlachtnebenerzeugnissen, die zu Futtermitteln verarbeitet werden sollen (Ziff. 2 Anlage 2) Richtig wird hier in einem Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts festgestellt, dass es auf die vorgesehene Verwendung der Fleischwaren nicht ankommt. Wenn diese nicht für die menschliche Ernährung, sondern für die Produktion von Heimtierfuttermitteln verarbeitet werden sollen, ist das für die Einreihung in Kap. 2 der Kombinierten Nomenklatur ohne Belang. Insofern kommt in Anwendung der zolltariflichen Vorschriften gem. § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i. V. m. Anlage 2 der ermäßigte Steuersatz zur Anwendung.13 ȤȤ Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Lebensmittelzubereitungen (Ziff. 33 Anlage 2)14; ȤȤ Bewertung von Druckerzeugnissen, insbesondere von Werbeschriften (Ziff. 49 Anlage 2)15; In diesem Zusammenhang ist besonders Anm. 5 Kap. 49 von Bedeutung. Danach sind Veröffentlichungen, die überwiegend Werbezwecken dienen, in Pos. 4911 einzureihen. Damit fallen diese nicht, wie etwa Waren der Pos. 4901, also Bücher,

12 BFH v. 9.9.2010 – VII B 63/10 – Rz. 8, juris. 13 Vgl. Niedersächsisches FG v. 18.5.2017 – 5 K 250/15, juris. 14 BFH v. 5.5.2015 – VII R 10/13, juris. 15 Vgl. FG München v. 31.8.2016 – 3 K 3080/14, juris.

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Broschüren und ähnliche Drucke, unter jene Umsätze, die der umsatzsteuerlichen Ermäßigung unterliegen. ȤȤ Abgrenzung zwischen Originalerzeugnissen der Bildhauerkunst und Handelsware bzw. Serienprodukten (Ziff. 53 Anlage 2)16; ȤȤ Abgrenzung zwischen Getränken und Lebensmittelzubereitungen (Ziff. 33 Anlage 2). Als besonders problematisch sind jene gerichtlichen Verfahren zu nennen, die sich mit dem zolltariflichen Getränkebegriff beschäftigen. Dieser ist in Abgrenzung zu anderen Nomenklaturbereichen umsatzsteuerlich von besonderer Brisanz. Wenn auf Grundlage eines Urteils des EuGH aus dem Jahre 198117 davon ausgegangen wird, dass faktisch alle genießbaren Substanzen mit flüssiger Konsistenz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unter den zolltariflichen Getränkebegriff fallen sollen, liegt hier eine sehr problematische Vereinfachung vor. Getränke werden im o. g. Urteil wie folgt definiert: „Der Inhalt dieses Begriffs ist nach objektiven und nachprüfbaren Kriterien zu bestimmen. Folglich darf seine Tragweite nicht von rein subjektiven und veränderlichen Faktoren abhängig gemacht werden wie zum Beispiel von der Art und Weise, in der ein Erzeugnis eingenommen wird, oder vom Zweck seiner Einnahme, je nachdem, ob es darum geht, beispielsweise den Durst zu löschen, die Gesundheit zu fördern oder andere Ergebnisse zu erreichen. Unter Getränken im Sinne dieser Tarifnummer sind daher alle Flüssigkeiten zu verstehen, die zum menschlichen Genuss geeignet und bestimmt sind, ohne dass es auf die eingenommene Menge oder die besonderen Zwecke ankommt, denen die verschiedenen Arten genießbarer Flüssigkeiten dienen können.“ Indem radikal auf Konsistenz und Genießbarkeit reduziert wurde, fallen unter diese Definition auch Produkte, deren Umsatz eigentlich ermäßigt sein müsste, Letzteres vor allem im Nahrungsmittelbereich. So ist die juristische Auseinandersetzung über Sondennahrung eine fast endlose Odyssee, die mit einer Einreihung als Arzneimittel der Pos. 3004 freilich nur ein vorläufiges Ende gefunden hat. Ein Produkt, das zur Ernährung von physisch temporär oder dauernd beeinträchtigten Menschen dient, sollte allein aus gesundheitspolitischen Erwägungen nicht steuerlich höher belastet werden als das „normale“ und oft sogar nicht gerade gesundheitsfördernde und mit 7 Prozent Umsatzsteuer bedachte Nahrungsmittel. Sowohl die bisher praktizierte und gerichtlich bestätigte Einreihung von Sondennahrung als Getränk der Pos. 2202 oder Arzneimittel der Pos. 3004 zieht indes den Regelsteuersatz von 19 Prozent nach sich. Die Causa ist zolltarifrechtlicher Natur, und damit bleibt von vornherein bestimmt, welche juristische Disziplin hier für Abhilfe sorgen kann und muss. Anderenfalls wäre auch hier die Abweichung von zolltariflichen Auslegungen durch den nationalen Gesetzgeber als Ultima Ratio denkbar.

16 Vgl. FG Baden-Württemberg v. 22.6.2015 – 14 K 3317/13, juris. 17 EuGH v. 26.3.1981 – C 114/80, Slg. 1981, S. 895.

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Abgrenzungsbereiche oder auch Einreihungsalternativen wären hier wiederum in erster Linie umsatzsteuerlich begünstigte Nahrungsmittel, insbesondere solche der Pos. 2106. Wenn der EuGH in nahezu allen Urteilen zu zolltariflichen Einreihungsfragen völlig richtig feststellt, dass die objektive Warenbeschaffenheit maßgeblich für die Einreihung sei18, hat dies Konsequenzen. Eine objektive Beurteilung einer Ware umfasst letztlich auch ihre vorgesehene Zweckbestimmung. Nun kann die unter Umständen völlig differenzierte tatsächliche Warenverwendung letztlich kaum ein tarifliches Kriterium sein. Wohl trifft dies aber zu für jenen Verwendungszweck, dem die Ware in ihrer Objektivität entspricht. Daraus folgt, dass Sondennahrung im Regelfall der Ernährung solcher Menschen dient, die aus physischen Gründen zu einer normalen Nahrungsaufnahme nicht in der Lage sind. Anders formuliert, würde das Unterbleiben der Zuführung solcher Sondennahrung dazu führen, dass der Bedürftige verhungert. Insofern ist eine Bewertung solcher Sondennahrung als Arzneimittel gleichermaßen kritisch zu betrachten. Auswirkungen haben die differenzierten Rechtsauffassungen vornehmlich im Bereich der Umsatzsteuer. Die Rechtsprechung selbst ist auf diesem Gebiet in bemerkenswerter Weise differenziert. Bereits im Jahr 2010 stellte das Hessische Finanzgericht in einem Urteil fest, dass es sich bei Produkten zur diätetischen Behandlung von Mangelernährungen um Getränke der Pos. 2202 handelt, sofern diese als Sondennahrung eingesetzt werden.19 Im gleichen Jahr befindet das Finanzgericht Münster, Sondennahrung sei kein Getränk, sondern eine Lebensmittelzubereitung des Kap. 21. Folge ist die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes.20 Zur Klärung der Rechtslage entscheidet der BFH mit Beschluss, Sondennahrung als Getränk in Pos. 2202 einzureihen.21 Konsequenz ist die Anwendung des umsatzsteuerlichen Regelsatzes. Der BFH stützt sich dabei in erster Linie auf das bereits erwähnte Bierhefeurteil des EuGH aus dem Jahre 1981. In einem erneuten Urteil des FG Münster erfolgt nunmehr die Einreihung von Sondennahrung in Pos. 3004 als Arzneimittel. Dabei stützt sich das Gericht auf den Umstand, dass derartige Produkte im Rahmen einer ärztlichen Behandlung verabreicht werden, wobei das Ziel darin besteht, eine Unterernährung zu vermeiden oder zu beseitigen.22 Auch hier findet damit umsatzsteuerlich der Regelsatz Anwendung. Gleichwohl bleibt die Frage, wie eine auch durch das Gericht anerkannte Funktion zur Ernährung gleichsam Arzneimittel mit einer therapeutischen oder prophylaktischen Wirkung sein kann. Eine befriedigende und rechtlich unangreifbare Lösung scheint auch damit keineswegs gefunden. Als Fazit bleibt festzustellen, dass die Verweisung aus dem Umsatzsteuerrecht in das supranationale Zolltarifrecht durchaus zweckmäßig ist. Allerdings sollten von der Kombinierten Nomenklatur abweichende Konkretisierungen, wie partiell bereits geschehen, mit Blick auf rechtspolitische Zielstellungen des Umsatzsteuerrechts im Focus bleiben. 18 Vgl. z. B. EuGH v. 8.9.2016 – C 409/14 – Rz. 76, juris. 19 Hessisches FG v. 25.11.2010 – 7K 3205/08, juris. 20 FG Münster v. 16.12.2010 – 5 K 1462/09 U, juris. 21 BFH v. 24.9.2014 – VII R 54/11 U, juris. 22 FG Münster v. 5.3.2015 – 5 K 3876/11 U, juris.

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Das Bestimmungslandprinzip im Verbrauchsteuerrecht Dargestellt anhand der Steuerentstehung im Zusammenhang mit dem Bezug und dem Verbringen von verbrauchsteuerpflichtigen Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten Inhaltsübersicht

I. Regelungsbereich, Funktion und ­Bedeutung

II. Unionsrechtliche Vorgaben 1. Überblick 2. Besteuerungsgebot 3. Steuerschuldner III. Nationale Ausgestaltung 1. Grundstruktur a) Harmonisierte Verbrauchsteuer­ gesetze b) Regelung des Tabaksteuergesetzes 2. Gemeinsame Entstehungsvoraus­ setzungen a) Steuerrechtlich freier Verkehr b) Gewerblicher Zweck









3. Unterschiede in den nationalen ­Entstehungstatbeständen a) Entstehungszeitpunkt b) Steuerschuldner 4. Ausnahme von der Steuerentstehung 5. Abgrenzung der Entstehungstat­ bestände a) Ordnungsgemäßes Verfahren b) Zweifelsfälle 6. Schaffung eines einheitlichen ­Entstehungstatbestandes 7. Steuerentstehung aufgrund einer ­Unregelmäßigkeit a) Unionsrechtliche Vorgaben b) Anwendungsbereich 8. Zerstörung und Verlust 9. Fazit

I. Regelungsbereich, Funktion und Bedeutung Die Regelungen über den Verkehr mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren des freien Verkehrs mit anderen Mitgliedstaaten sind als Folge der Verbrauchsteuerharmonisierung das Pendant zu den Regelungen über das Steueraussetzungsverfahren. Mit der Verbrauchsteuerharmonisierung sollte der Binnenmarkt verwirklicht werden, um so unter Wegfall der Binnengrenzen den freien Warenverkehr zu realisieren. Die Besteuerungssystematik ist insbesondere durch die Einführung des Steueraussetzungsverfahrens vereinheitlicht worden, aber die einzelnen Mitgliedstaaten besitzen weiterhin allein die Erhebungs- und Ertragskompetenz. In diesem Umstand liegt ein erheblicher Unterschied zu dem Zollrecht. Dies hat auch Auswirkungen auf die steuerrechtlich relevanten Warenverkehre. Anders als im Zollrecht ist nicht nur die Warenbewegung mit Gebieten außerhalb des Verbrauchsteuergebiets der Union von Bedeutung, sondern auch die Warenbewegung innerhalb des Verbrauchsteuergebietes der Union1, da nur so der jeweiligen, sich wechselnden Erhebungs- und Ertragskompetenz 1 Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde die Existenz der „EG“ beendet, und der EG-Vertrag wurde umbenannt in „Vertrag über die Arbeitsweise

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Rechnung getragen werden kann. Der innergemeinschaftliche Warenverkehr ist aber nur dann einer überwachenden Steuerregelung zugänglich, wenn eine Nämlichkeit der verbrauchsteuerpflichtigen Ware gegeben ist. Dies ist bei leitungsgebundenen Waren nicht der Fall. Daher bleiben der Strom und das gasförmiges Erdgas außerhalb der Betrachtung.2

II. Unionsrechtliche Vorgaben 1. Überblick Die maßgeblichen Vorgaben der Systemrichtlinie (SystemRL) befinden sich in Kapitel V „Beförderung und Besteuerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren nach der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“. Eine Differenzierung erfolgt zwischen dem „Erwerb durch Privatpersonen“ (Abschnitt 1, Art. 32 RL 2008/118), dem „Warenbesitz in einem anderen Mitgliedstaat“ (Abschnitt 2, Art. 33 RL 2008/118) und „Fernverkäufe“ (Abschnitt 3, Art. 36 RL 2008/118). Gegenüber der SystemRL 92/12 sind zwei weitere Regelungsbereiche neu eingefügt worden, was auch die Unvollständigkeit der früheren Rechtslage verdeutlicht. Zum einen regelt Art. 37 RL 2008/118, dass für in einen anderen Mitgliedstaat verbrachte Waren dort die Verbrauchsteuer nicht geschuldet wird, wenn die verbrauchsteuerpflichtigen Waren dort aufgrund i­hrer Beschaffenheit oder infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt oder einer von den zuständigen Behörden erteilten Genehmigung vollständig zerstört wurden oder diese unwiederbringlich verloren gegangen sind. Zum anderen ist mit Art. 38 RL 2008/118 ein Entstehungstatbestand eingefügt worden, der bei Unregelmäßigkeiten während der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren einschlägig ist. Zuvor bestand eine derartige Regelung nur für die Beförderung unter Steueraussetzung. 2. Besteuerungsgebot Für die nationalen Regelungen über den Bezug und Besitz zu gewerblichen Zwecken3 beinhaltet dementsprechend Art. 33 RL 2008/118 die unionsrechtlichen Vorgaben. Nach Art. 33 Abs.  1 RL 2008/118 unterliegen verbrauchsteuerpflichtige Waren der Verbrauchsteuer, wobei die Regelung selbst keinen konkreten Steuerentstehungs­ tatbestand beinhaltet.4 Nach Jatzke regelt die Vorschrift ihrem Wortlaut nach den der Europäischen Union“. Seitdem wird die Bezeichnung „Europäische Union“ verwendet. Dementsprechend wird in älteren Rechtsquellen auf die Bezeichnung „Europäische Gemeinschaft“ abgestellt. 2 Für verflüssigtes Erdgas (nicht leitungsgebunden) gelten wiederum aufgrund eines entsprechenden Verweises die Regelungen über das Verbringen zu gewerblichen Zwecken, vgl. § 40 EnergieStG. 3 § 23 TabStG, § 149 BranntwMonG, § 24 AlkStG, § 20 SchaumwZwStG, § 29 i. V. m. § 20 SchaumwZwStG, § 20 BierStG, § 17 KaffeeStG, § 15 EnergieStG, § 34 i. V. m. § 15 EnergieStG. 4 Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg, Verbrauchsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, E 25; Jatzke, Europäisches Verbrauchsteuerrecht, 2016, Rz. C 99; anders noch Jatzke, Die neue Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie, ZfZ 2009, 116.

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Das Bestimmungslandprinzip im Verbrauchsteuerrecht

­ intritt der Verbrauchsteuerpflichtigkeit im Bestimmungsmitgliedstaat und dessen E Erhebungskompetenz.5 Grundsätzlich regelt die SystemRL die Verbrauchsteuerpflichtigkeit mit „EU-Blick“, vgl. Art. 2 RL 2008/118. Danach tritt diese für Waren mit ihrer Herstellung, gegebenenfalls einschließlich ihrer Förderung, innerhalb des Gebiets der Gemeinschaft oder ihrer Einfuhr in das Gebiet der Gemeinschaft ein. Eine Orientierung an das Gebiet eines Mitgliedstaats erfolgt nicht. Zutreffender liegt der Sinn und Zweck der Regelung in der Zuweisung der Ertragskompetenz, der zweite von Jatzke genannte Aspekt, womit dem Grundgedanken des Bestimmungslandprinzips Rechnung getragen wird. Darüber hinaus stellt Art. 33 Abs. 1 RL 2008/118 ein zwingendes Besteuerungsgebot auf, ohne dieses wäre auch die Zuweisung der Erhebungs- und Ertragskompetenz überflüssig. Damit haben die Mitgliedstaaten einen Entstehungstatbestand zu normieren, jedoch wird ihnen die Ausgestaltung des geforderten Entstehungstatbestandes überlassen. Anknüpfungspunkt für die Steuerentstehung soll für verbrauchsteuerpflichtige Waren, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sind, das Inbesitzhalten zu gewerblichen Zwecken in einem anderen Mitgliedstaat sein, wenn in diesem (… und dort …) die Waren zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen sind. Damit ist das Inbesitzhalten nicht relevant, wenn die verbrauchsteuerpflichtigen Waren in diesem Mitgliedstaat nicht zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen sind, womit auf eine Durchfuhr abgestellt wird. Nach dem Wortlaut erfüllt somit generell jede Durchfuhr nicht die Tatbestandsmerkmale des Besteuerungsgebots. Erst Absatz 4 bringt mit seiner einschränkenden Konkretisierung zum Ausdruck, dass nur die Durchfuhr unter Einhaltung der in Art. 34 RL 2008/118 festgelegten Formalitäten nicht den Entstehungstatbestand verwirklichen soll. Dementsprechend soll der Passus „… und dort zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen sind …“ im Besteuerungsgebot des Art. 33 Abs. 1 RL 2008/118 nur der Ausklammerung der Durchfuhr i. S. d. Art. 34 RL 2008/118 dienen, bei der der erforderliche gewerbliche Zweck fehlt. Die Verknüpfung des Besteuerungsgebots mit der Ausnahme bei einer ordnungsgemäßen Beförderung im Rahmen einer Durchfuhr, die keine Steuerentstehung auslösen soll, ist unzureichend. Auch wenn die Regelungsabsicht erkennbar ist, wäre vor dem Hintergrund, dass die Richtlinienregelungen durch die Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen, eine korrekte Bezugnahme auf Art. 34 im Besteuerungsgebot des Art. 33 Abs. 1 RL 2008/118 sicherlich sinnvoll gewesen. Zumindest aus dem Regelungszusammenhang ist erkennbar, dass nicht jede Durchfuhr vom Besteuerungsgebot ausgenommen sein soll. So ist das Verbringen von Schmuggelware, die in einem anderen Mitgliedstaat vermarktet werden soll, vom Besteuerungsgebot erfasst, selbst wenn sie im Durchfuhrmitgliedstaat unentdeckt bleibt.6 Eine sprachlich klare Regelung, die die beabsichtigte Intention zum Ausdruck bringt, kann allein durch die Streichung der Worte „und dort zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen ist“ erreicht werden.

5 Jatzke (Fn. 4), Rz. C 99. 6 Dem dürfte auch nicht das EuGH-Urteil v. 5.3.2015 – Rs. C-175/14 – Prankl, ZfZ 2015, 98 gegenstehen, wonach nur der Mitgliedstaat erhebungsberechtigt sein soll, der den Schmuggel aufgedeckt hat. In der Entscheidung wird jedenfalls eine Steuerentstehung nicht negiert.

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Sobald die Ware sich im Bestimmungsmitgliedstaat befindet, ist allein das Inbesitzhalten maßgeblich, da ein solches, ohne dass eine Lieferung oder Verwendung vorgesehen ist, kaum vorstellbar ist. 3. Steuerschuldner Unter Berücksichtigung der Ausgestaltung des Besteuerungsgebots kommen als Steuerschuldner die Personen in Betracht, in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden, wobei mit „Lieferung“ die in den Mitgliedstaat, in den die verbrauchsteuerpflichtige Ware verbracht wurde, gemeint ist. Die Regelung ist nicht sehr präzise und daher unter Umständen auslegungsbedürftig. So ist fraglich, ob hierunter bei einem mehrstufigen Handel im Bestimmungsmitgliedstaat auch der Zwischenhändler subsumiert werden kann. Nach ihrem Wortlaut lässt sich aus Art. 33 Abs. 3 RL 2008/118 nicht entnehmen, dass nur die erste Lieferung nach Grenzübertritt erfasst sein soll. Der Zwischenhändler kann wohl auch als die Person angesehen werden, an die die Waren im anderen Mitgliedstaat geliefert werden. Auch diese ist Steuerschuldner nach Art. 33 Abs. 3 RL 2008/118 und muss nach dem Wortlaut „an die die Waren geliefert werden“ nicht zwingend die Person sein, die die Waren auch verwendet. Ebenso wie bei dem Begriff „Lieferung“ kann aus dem Wortlaut der Regelung nicht entnommen werden, dass nur die erste Person, an die die verbrauchsteuerpflichtige Ware nach Grenzübertritt geliefert worden ist, erfasst werden soll. Darüber hinaus ist auch der Lieferer Steuerschuldner. Zwar stellt die Regelung über den Steuerschuldner (Art. 33 Abs. 3 RL 2008/118) auf das Besteuerungsgebot (Absatz 1) ab, der sich auf eine Lieferung im Bestimmungsland bezieht, dennoch dürfte auch der Lieferer, der die Ware in den Bestimmungsmitgliedstaat befördert, erfasst sein. Zumindest kann er als Person, in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden, angesehen werden. Auch diese „Variante“ enthält die Regelung über den Steuerschuldner. Im Ergebnis ist der Kreis der Steuerschuldner weit gefasst, wofür auch der den Mitgliedstaaten eingeräumte Gestaltungsspielraum spricht. Fraglich ist, ob alle genannten Personen auch zwingend Steuerschuldner werden oder ob Art. 33 Abs.  3 RL 2008/118 nur die Personen nennt, die als Steuerschuldner in Betracht kommen und die Auswahl den Mitgliedstaaten überlässt. Die Aufzählung ist aufgrund der Wendung „entweder oder“ alternativ. Damit wird auch der Ausgestaltung des Besteuerungsgebots in Absatz 1, welches die Konkretisierung des Steuerentstehungstatbestandes den Mitgliedstaaten überlässt, Rechnung getragen. Ob auch der EuGH diese Sichtweise vertritt, kann bezweifelt werden.7 Für einen Gestaltungsspielraum spricht auch die Ausgestaltung der Steuerschuldnerschaft im Falle der Über­ führung in den steuerrechtlich freien Verkehr in Art. 8 RL 2008/118. Anders als in

7 Vgl. EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-165/13 – Stanislav Gross, ZfZ 2014, 253. In den Entscheidungsgründen (Rz. 25) stellt der EuGH beim Verbringen von Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs in einen anderen Mitgliedstaat darauf ab, dass jeder Besitzer der Waren Steuerschuldner der Verbrauchsteuer ist. Dabei weist der EuGH darauf hin, dass dies auch aus den Regelungen der SystemRL 2008/118 folge, da die Entscheidung die RL 92/12 betraf.

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Art. 33 Abs. 3 werden dort den einzelnen Überführungstatbeständen exakt Personen als Steuerschuldner zugordnet.

III. Nationale Ausgestaltung 1. Grundstruktur Die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben erfolgte – mit Ausnahme der Regelung im Tabaksteuergesetz, vgl. § 23 TabStG – in den nationalen Gesetzen durch zwei Entstehungstatbestände.8 Daher wird vorliegend zunächst auf die übrigen nationalen Regelungen der harmonisierten Verbrauchsteuern abgestellt und separat auf die Regelung des Tabaksteuergesetzes eingegangen. a) Harmonisierte Verbrauchsteuergesetze Der jeweilige Absatz 1 kann als Grundtatbestand bezeichnet werden und erfasst den regulären Geschäftsverlauf. Der jeweilige Absatz 2 erfasst die Fälle, die nicht dem Anwendungsbereich von Absatz 1 unterliegen. Damit hat sich der nationale Gesetzgeber nicht an dem unionsrechtlichen Besteuerungsgebot in Art. 33 Abs.  1 RL 2008/118 orientiert und entspricht weiterhin eher den Vorgaben der Vorgängerrichtlinie RL 92/12.9 Der reguläre Grundfall dürfte darin liegen, dass ein Kaufgeschäft mit Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs über Binnengrenzen hinweg getätigt wird. Hauptakteur, quasi Urheber hinsichtlich der Warenbewegung, ist der Bezieher, auf den auch die nationalen Regelungen bei dem Steuerentstehungszeitpunkt und der Stellung als Steuerschuldner abstellen. Dabei werden bzgl. des Entstehungszeitpunktes die zivilrechtlichen Gefahrtragungsregelungen berücksichtigt. Erst wenn der Gefahrübergang auf den Bezieher erfolgt ist, kommt es zur Steuerentstehung. Unter Berücksichtigung der Erhebungskompetenz ist dies beim Verbringen in das Steuergebiet durch den Bezieher der Grenzübertritt und bei einer Empfangnahme der Ware erst im Steuergebiet der Zeitpunkt der Empfangnahme. b) Regelung des Tabaksteuergesetzes Schon aus der Überschrift „Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten, Versandhandel“ des § 23 TabStG wird deutlich, dass die Regelungsstruktur des Tabaksteuergesetzes für diese Warenverkehre von der der Systemricht­ linie und der anderen nationalen Verbrauchsteuergesetze abweicht. Die Waren­ verkehre „Verbringen/Bezug zu gewerblichen Zwecken“ und „Versandhandel“ werden 8 Die Regelung im EnergieStG ist nicht vollständig deckungsgleich mit den Regelungen in den anderen Verbrauchsteuergesetzen, zu den Abweichungen s. Bongartz in Bongartz/Schröer-­ Schallenberg (Fn. 4), E 27. 9 Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg (Fn. 4), E 25.

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zusammengefasst.10 Darüber hinaus erfolgt keine Differenzierung zwischen einem vermeintlichen Grundfall (Verbringen/Bezug durch einen Bezieher, der jeweilige Absatz 1) und anderen Fällen (der jeweilige Absatz 2) wie in den anderen Verbrauchsteuergesetzen. Zurückzuführen ist dies auf das im Tabaksteuerrecht vorherrschende Steuerzeichensystem. Einheitlich wird verlangt, dass kein Verbringen durch eine Privatperson gegeben ist und dass die Waren aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats verbracht werden. Im Tabaksteuerrecht muss das Verbringen entgegen § 17 TabStG erfolgen. Dies bedeutet, dass nur Tabakwaren ohne deutsche Steuerzeichen von § 23 TabStG erfasst werden.11 Ein „ordnungsgemäßes“ Verbringen von Tabakwaren mit deutschen Steuerzeichen aus dem steuerrechtlich freien Verkehr, die nicht von §  23 TabStG erfasst werden, ist jedoch kaum vorstellbar. Dies würde nämlich bedeuten, dass die Tabakwaren sich im Abgangsmitgliedstaat im steuerrechtlich freien Verkehr befinden und für sie deutsche Steuerzeichen bereits bezogen und verwendet worden sind, womit es durch den Bezug zur Entstehung der Steuerzeichenschuld gekommen ist. Besteht auch im Abgangsmitgliedstaat eine Steuer­ zeichenverwendungspflicht, dürften schon die Ordnungsregelungen bezüglich der Steuerzeichenverwendung nicht erfüllt werden können. Auch wäre der Bezug der deutschen Steuerzeichen nur möglich, wenn der Verbringer die Tabakwaren selbst hergestellt hat und damit Hersteller ist. Darüber hinaus müssen sich aufgrund von Art. 8 RL 2014/40/EU auf den Verpackungen in vorgeschriebener Größe vorgegebene Warnhinweise in den Amtssprachen des Mitgliedstaats, in dem das Erzeugnis in ­Verkehr gebracht wird, befinden.12 Auch diese Vorgaben dürften nicht erfüllbar sein, sodass insgesamt Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs eines anderen ­Mitgliedstaats im Steuergebiet nicht verkehrsfähig sind. Denkbar wäre nur die Fallkonstellation, dass aus einem anderen Mitgliedstaat Tabakwaren, die für den deutschen Markt bestimmt sind und daher bereits mit deutschen Steuerzeichen versehen sind, unter Steueraussetzung befördert werden und noch vor dem Verbringen ins Steuergebiet dem Steueraussetzungsverfahren entzogen werden. Im Ergebnis ist ein reguläres Verbringen von Tabakwaren aus dem freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats nicht möglich. Dementsprechend ordnet § 23 TabStG, neben der Normierung eines Steuerentstehungstatbestandes, die Sicherstellung der Tabakwaren ohne deutsche Steuerzeichen nach § 215 AO an. Damit sollen Tabakwaren ohne deutsche Steuerzeichen im Steuergebiet nicht in den Wirtschaftskreislauf gelan-

10 Vgl. Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg (Fn. 4), K 96. 11 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 219; Bongartz, Der Warenverkehr und der steuerrechtliche Status verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Verbrauchsteuerrecht, ZfZ 1997, 141; Middendorp, Verbringen von Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten, ZfZ 2011, 197. 12 RL 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen, ABl. L 127/1. Diese Richtlinie wurde umgesetzt durch das Gesetz über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (TabakerzG), welches am 20.5.2016 in Kraft getreten ist, BGBl. I 2016, 569.

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gen. Von seiner Wirkung her entspricht der § 23 TabStG einer Verbotsnorm.13 Insoweit ist die grundsätzlich in der Europäischen Union bestehende Warenverkehrsfreiheit durch das Steuerzeichensystem eingeschränkt. Seine steuerschuldrechtliche Wirkung kommt daher insbesondere in den Fällen des innergemeinschaftlichen Schmuggels zum Tragen. „Geschmuggelte“ Tabakwaren lösen einerseits die Steuerentstehung gemäß § 23 TabStG aus und unterliegen andererseits der Sicherstellung.14 2. Gemeinsame Entstehungsvoraussetzungen a) Steuerrechtlich freier Verkehr Sowohl der jeweilige Absatz 1 als auch der Absatz 2 verlangen, dass die verbrauchsteuerpflichtigen Waren aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats bezogen bzw. in das Steuergebiet gelangen. Handelt es sich nicht um Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs, kann nur ein Steueraussetzungsverfahren gegeben sein. Im Verbrauchsteuerrecht existieren nur diese beiden Verfahren. Eine Ware, die nicht unter Steueraussetzung steht, befindet sich zwangsläufig im steuerrechtlich freien Verkehr. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Status „steuerrechtlich freier Verkehr“ nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Ware auch versteuert ist bzw. ein Entstehungstatbestand verwirklicht wurde.15 Der Übergang aus dem Steueraussetzungsverfahren in den steuerrechtlich freien Verkehr ist grundsätzlich mit einer Steuerentstehung verbunden, denn Anknüpfungspunkt für die Steuerentstehung in Verbindung mit einem Steueraussetzungsverfahren ist die Überführung der verbrauchsteuerpflichtigen Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr. Neben der systemlogischen Ausnahme, dass ein Übergang in ein anderes Steueraussetzungsverfahren eine Steuerentstehung nicht auslöst, weil es an einer Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr fehlt, kann auch nach der nationalen Systematik, trotz Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr, ein Verfahren der Steuerbefreiung der Steuerentstehung entgegenstehen.16 Mittlerweile beinhalten alle Verbrauchsteuergesetze eine Definition des Begriffs „steuerrechtlich freier Verkehr“.17

13 Vgl. Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg (Fn.  4), K 96; Middendorp, Verbringen von Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten, ZfZ 2011, 198  f.; Jäger in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht mit Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, 206. 14 Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken vgl. Middendorp, Verbringen von Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstatten, ZfZ 2011, 205. 15 Vgl. zu den Auslegungsschwierigkeiten des Begriffs „versteuert“ bzw. „nachweislich versteuert“ BFH v. 20.9.2016 – VII R 7/16, ZfZ 2016, 308 = BFHE 255, 360. 16 Vgl. z. B. § 8 Abs. 1 EnergieStG. 17 Vgl. z. B. § 1a Nr. 10 EnergieStG, wobei die Definition auch ein zollrechtliches Nichterhebungsverfahren miteinbezieht. Dazu ist anzumerken, dass dann noch keine Einfuhr erfolgt ist und somit noch keine verbrauchsteuerpflichtige Ware existiert, vgl. Art. 2 RL 2008/118.

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b) Gewerblicher Zweck Nur ein Verbringen bzw. Bezug zu gewerblichen Zwecken führt zur Steuerentstehung. Auch wenn es an einer gesetzlichen Definition sowohl in den unionsrechtlichen Vorgaben als auch in den nationalen Regelungen fehlt, dürfte dieses Tatbestandsmerkmal zu keinen Problemen führen. Zu berücksichtigen ist aber, dass von seiner Funktion her der verbrauchsteuerrechtliche Begriff „zu gewerblichen Zwecken“ weiter gefasst ist, als wenn der Begriff im reinen wirtschaftlichen Zusammenhang verwendet wird. Denn er steht im Zusammenhang mit einer weiteren Art des freien Verkehrs, nämlich dem Verbringen zu privaten Zwecken. Diese Warenbewegung unterliegt anders als der Verkehr zu gewerblichen Zwecken dem Ursprungslandprinzip. Soweit die gesetzlichen Vorgaben für diese Warenbewegung, die im Steuergebiet keine Steuerentstehung auslöst – insoweit ist der Hinweis auf die Steuerfreiheit in den nationalen Regelungen systematisch ungenau –, nicht vorliegen, greift das Bestimmungslandprinzip, vgl. Art. 33 Abs. 1 UAbs. 2 RL 2008/118. Auch diese Fälle werden vom verbrauchsteuerrechtlichen Begriff des gewerblichen Zwecks erfasst.18 Der gewerbliche Zweck muss aber nicht im Zusammenhang mit dem Konsum der verbrauchsteuerpflichtigen Ware stehen. War die SystemRL 92/12 diesbezüglich noch nicht eindeutig, kann dies nunmehr aus Art. 33 Abs. 4 RL 2008/118 geschlossen werden. Danach gilt der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren vor ihrer Ankunft im Bestimmungsmitgliedstaat nicht gewerblichen Zwecken dienend, wenn diese nach Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr anschließend innerhalb der Gemeinschaft zu gewerblichen Zwecken befördert werden. Damit soll eine mehrfache Steuerentstehung bei einer ordnungsgemäßen Beförderung durch mehrere Mitgliedstaaten vermieden werden. Voraussetzung ist aber, dass die Waren unter Einhaltung der in Art. 34 RL 2008/118 festgelegten Formalitäten (vereinfachtes Begleitdokument) befördert werden. Damit erfüllt der Beförderer außerhalb des Bestimmungsmitgliedstaats mangels eines gewerblichen Zwecks bei einem ordnungsgemäßen Versand nicht die im Besteuerungsgebot normierten Entstehungsvoraussetzungen.19 Nach Ankunft im Bestimmungsmitgliedstaat ist dieser aber gegeben, sodass auch allein die Beförderung der verbrauchsteuerpflichtigen Ware im Bestimmungsmitgliedstaat die Voraussetzungen des Besteuerungsgebots erfüllen. Eine ähnliche Regelung beinhalten auch die nationalen Verbrauchsteuergesetze, aber im Unterschied zur Richtlinienregelung ist die Regelungswirkung dieser Ausnahme ausdrücklich auf Durchfuhren beschränkt. Dementsprechend ist diese Ausnahme auch nur im jeweiligen Absatz 2 vorgesehen, da der jeweilige Absatz 1 einen Bezieher im Steuergebiet verlangt.20 Das Abstellen der nationalen Regelung auf „Durchfuhren“ entspricht dem Richtlinienrecht. Denn die Ausnahme, dass es an einem gewerblichen Zweck fehlt, gilt nur bis zur Ankunft im Bestimmungsmitgliedstaat. Aus Sicht der Mitgliedstaaten kann dies nur bei einer Durchfuhr gegeben sein. Damit liegt nach allen Regelungen mit Grenz­ 18 Jatzke weist darauf hin, dass für das Verständnis ein Rückgriff auf Art. 32 RL 2008/118 (Erwerb durch Privatperson) erforderlich ist, vgl. Jatzke (Fn. 4), Rz. C 100; Jatzke, Die neue Systemrichtlinie, ZfZ 2009, 116. 19 Zu den Ungenauigkeiten der Ausgestaltung vgl. Ausführungen unter II.2. 20 Vgl. z. B. § 15 Abs. 2 S. 2 EnergieStG.

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übertritt im Bestimmungsmitgliedstaat der erforderliche gewerbliche Zweck vor, denn es wird nicht auf die Ankunft am Bestimmungsort abgestellt. Somit stellt auch allein die Beförderung der verbrauchsteuerpflichtigen Ware im Bestimmungsmitgliedstaat einen entsprechenden gewerblichen Zweck dar, auf den sich die Steuerentstehung stützen kann. Darüber hinaus stellt die Richtlinienregelung einleitend („unbeschadet Art. 38 …“) klar, dass die Ausnahme hinsichtlich des Vorliegens eines gewerblichen Zwecks nicht der Besteuerung aufgrund einer Unregelmäßigkeit entgegensteht. Auch ohne diese Klarstellung liegen die Entstehungsvoraussetzungen von Art. 38 RL 2008/118 vor, da diese Norm nicht auf das Vorliegen eines gewerblichen Zwecks abstellt. Besteuerungsgrund ist allein das Begehen einer Unregelmäßigkeit. Eine weitere Ausnahme vom Besteuerungsgebot mangels Vorliegens eines gewerblichen Zwecks normiert Art. 33 Abs. 5 RL 2008/118 für Waren, die sich an Bord eines zwischen zwei Mitgliedstaaten verkehrenden Wasser- oder Luftfahrzeugs befinden, aber nicht zum Verkauf stehen, solange sich das betreffende Fahrzeug im Gebiet eines Mitgliedstaats befindet. 3. Unterschiede in den nationalen Entstehungstatbeständen a) Entstehungszeitpunkt Die Anwendung der Absätze 1 und 2 kann zu unterschiedlichen Entstehungszeitpunkten führen. Liegt der jeweilige Absatz 2 vor, entsteht die Steuer mit dem Verbringen in das Steuergebiet, da dies das „erstmals Inbesitzhalten“ bedeutet. Zum gleichen Zeitpunkt entsteht die Steuer nach dem jeweiligen Absatz 1, wenn der Bezieher selbst die verbrauchsteuerpflichtigen Waren ins Steuergebiet befördert oder befördern lässt.21 Demgegenüber entsteht aber die Steuer erst mit der Empfangnahme durch den Bezieher, wenn dieser nicht für die Beförderung verantwortlich ist. b) Steuerschuldner Der sogenannte Grundtatbestand (der jeweilige Absatz 1) nennt als Steuerschuldner allein den Bezieher22 und macht insoweit von dem weit gefassten „Richtlinienangebot“ in Art. 33 Abs. 3 RL 2008/118 keinen Gebrauch. Der Richtlinienphilosophie folgt die Ausgestaltung der Steuerschuldnerschaft im jeweiligen Absatz 2, wonach der Versender, der Verwender und derjenige, der die Waren in Besitz hält, Steuerschuldner sind. Diese dürften dann ggf. Gesamtschuldner gemäß § 44 AO sein, auch wenn dies die Verbrauchsteuergesetze an dieser Stelle nicht ausdrücklich normieren, im Gegensatz zur Regelung der Steuerschuldnerschaft bei der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr23 und im Zusammenhang mit der Einfuhr24. Die Aufnahme des 21 Vgl. z. B. § 149 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BranntwMonG. 22 Vgl. z. B. § 15 Abs. 1 S. 3 EnergieStG. 23 Vgl. z. B. § 8 Abs. 2 S. 5 EnergieStG. 24 Vgl. z. B. § 19b Abs. 2 S. 2 EnergieStG.

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Versenders in den Kreis der Steuerschuldner dürfte richtlinienkonform sein, zumindest wenn der Versender den Transport selbst durchführt, da dann die Waren sich in seinem Besitz befinden, auf den das Unionsrecht u. a. abstellt. Nicht eindeutig dürfte dies sein, wenn der Versender den Transport nicht selbst durchführt. Der Versender ist dann zwar nach nationalem Zivilrecht mittelbarer Besitzer, jedoch dürfte fraglich sein, ob für die Beurteilung das nationale Besitzrecht maßgeblich ist, da hier eine Warenbewegung zwischen den Mitgliedstaaten betroffen ist. Folgt das Merkmal „Besitz“ aus dem Unionsrecht, ist auf die tatsächliche Sachherrschaft abzustellen, die beim mittelbaren Besitz i. S. v. § 868 BGB nicht gegeben ist. So hat bereits der BFH entschieden, dass im nationalen Zivilrecht verankerte Regelungen, wie z.  B. Rege­ lungen über die Besitzdienerschaft, nicht zur Auslegung von Bestimmungen der ­Verbrauchsteuerrichtlinien herangezogen werden können, womit unionsrechtliche Bestimmungen autonom sind und grundsätzlich losgelöst von nationalen sachenrechtlichen Bestimmungen auszulegen sind.25 Andererseits überlässt Art. 33 Abs. 1 RL 2008/118 die Ausgestaltung des Entstehungstatbestandes den Mitgliedstaaten, sodass die Berücksichtigung des nationalen Besitzrechts zulässig sein könnte, soweit der gesteckte Richtlinienrahmen nicht überschritten wird.26 Die Richtlinienregelung erfasst als Steuerschuldner aber auch die Person, die die Lieferung vornimmt. Als eine solche Person kann auch der Versender, der den Transport nicht selbst durchführt, angesehen werden. Denn die Richtlinienregelung stellt nicht auf die Beförderung ab und verlangt auch nicht, dass die Person die Lieferung selbst vornimmt, sodass an dieser Stelle die tatsächliche Sachherrschaft für die Stellung als Steuerschuldner nicht erforderlich ist. Darüber hinaus würde ansonsten auch kein Unterschied zu der Person, in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden, bestehen, die ebenfalls als möglicher Steuerschuldner aufgelistet ist. 4. Ausnahme von der Steuerentstehung Die nationalen Regelungen schließen für den Fall, dass die verbrauchsteuerpflichtigen Waren aufgrund ihrer Beschaffenheit oder infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen sind, eine Steuerentstehung aus.27 Regelungstechnisch wird diese Ausnahme durch Verweis auf die Normen, die diese Ausnahme für die Steuerentstehung durch Über25 Vgl. BFH v. 10.10.2007 – VII R 49/06; v. 21.10.2015 – VII B 39/15, BFH/NV 2016, 230. 26 Bzgl. der Verwender- und Verteilerverkehre im Energiesteuerrecht hat der BFH, mit Verweis auf Schröer-Schallenberg in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStG, StromStG, § 24 Rz. 2, entschieden, dass es sich um nationale Verfahren handelt, die nicht im Unionsrecht geregelt sind und daher die Mitgliedstaaten bei der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung frei sind, BFH v. 21.10.2015 – VII B 39/15, BFH/NV 2016, 230. 27 Vgl. z. B. § 15 Abs. 2a EnergieStG, § 20 Abs. 3 BierStG. Diese Regelungen schließen in den genannten Fällen eine Steuerentstehung aus, während die unionsrechtliche Vorgabe in Art. 7 Abs. 4 RL 2008/118 RL hierin eine Ausnahme von der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr sieht. Damit erwecken die nationalen Regelungen den Eindruck, dass auch Untergang und Schwund eine Entnahme aus dem Steuerlager oder einen Verbrauch im Steuerlager darstellen.

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führung in den steuerrechtlich freien Verkehr regeln, eingebunden. Einerseits sieht das Unionsrecht eine vergleichbare Regelung nicht vor. Vielmehr besteht in Art. 37 RL 2008/118 eine Regelung, die in derartigen Fällen nicht die Steuerentstehung ausschließt, sondern darauf abstellt, dass eine Steuer nicht geschuldet wird, vgl. Ausführungen unter III. 7. Andererseits ist der Anwendungsbereich der nationalen Regelungen sehr fraglich.28 Auch die Gesetzesbegründung gibt keinen weiteren Hinweis, als dass die Steuer in den genannten Fällen nicht entsteht.29 Die Ausnahmen von der Steuerentstehung machen nur Sinn, wenn ansonsten z. B. die vollständige Zerstörung aufgrund höherer Gewalt zur Steuerentstehung führt. Die Entstehungsregelungen stellen aber im Wesentlichen auf die Besitzerlangung/tatsächliche Sachherrschaft ab. Ist die vollständige Zerstörung vor Besitzerlangung erfolgt, liegen die Entstehungsvoraussetzungen noch nicht vor, sodass die Ausnahmeregelung ins Leere läuft. Eine derartige Konstellation wäre nur denkbar bei unter dem jeweiligen Absatz 1 der nationalen Regelungen fallenden Sachverhalten und auch nur dann, wenn der Bezieher beliefert wird, vgl. z. B. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EnergieStG. In allen anderen Situationen ist bereits mit Grenzübertritt der Entstehungstatbestand verwirklicht. Eine Anwendung der nationalen Ausnahmeregelung würde zu einer rückwirkenden Aufhebung des Steuerentstehungstatbestandes führen und wäre mit dem Besteuerungssystem einer bedingten Steuer (§ 50 AO) vergleichbar. Dieses vor der Verbrauchsteuerharmonisierung im deutschen Verbrauchsteuerrecht vorherrschende Besteuerungssystem ist aber gerade mit der Harmonisierung abgeschafft worden. Darüber hinaus fehlt der Ausnahmeregelung jegliche zeitliche Begrenzung. Dass eine entstandene Steuer nicht nachträglich wieder entfallen kann, dafür spricht auch die im deutschen Verbrauchsteuerrecht grundsätzlich verankerte Systematik. Danach kann eine versteuerte Ware des steuerrechtlich freien Verkehrs, die z. B. untergegangen ist, grundsätzlich nicht entsteuert werden. Ein Bedarf für eine Ausnahmeregelung besteht im Falle einer Steuerentstehung im Zusammenhang mit einer Unregelmäßigkeit, s. Ausführungen zu III. 7. 5. Abgrenzung der Entstehungstatbestände a) Ordnungsgemäßes Verfahren Der jeweilige Absatz 2 kommt nur dann zur Anwendung, wenn der jeweilige Absatz 1 nicht einschlägig ist, womit die Anwendung von Absatz 2 maßgeblich davon abhängt, ob der Bezug der verbrauchsteuerpflichtigen Ware durch einen Bezieher erfolgt. Der Begriff „Bezieher“ ist nicht im nationalen Recht definiert, und da diese Figur nicht Bestandteil des Unionsrechts ist, findet sich auch in den Richtlinien keine Definition. Aus der Gesamtkonstruktion des Steuerentstehungstatbestandes beim Verbringen/ Bezug von verbrauchsteuerpflichtigen Waren aus dem steuerrechtlich freien Verkehr 28 Einhellige Meinung, vgl. Soyk, Energie- und Stromsteuerrecht, 4. Aufl. 2017, S. 293; Soyk in Friedrich/Soyk, Energiesteuern, §  15 EnergieStG Rz.  53; Bongartz in Bongartz/Schröer-­ Schallenberg (Fn. 4), E 33. 29 Vgl. BT-Drs. 16/12267, 97.

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eines anderen Mitgliedstaats lässt sich herleiten, dass der jeweilige Absatz 1 den „ordnungsgemäßen“ und vermeintlichen Regelfall abdecken soll. Ein Indiz hierfür ist allein der Umstand, dass es sich beim jeweiligen Absatz 2 um einen Auffangtatbestand handelt, ebenso die unterschiedliche Ausgestaltung des Entstehungszeitpunktes wie auch die Stellung als Steuerschuldner. Bei einem ordnungsgemäßen Ablauf, quasi immer dann, wenn der Steueranspruch grundsätzlich nicht gefährdet ist, ist das Abstellen allein auf den Bezieher als Steuerschuldner und auf einen späteren Zeitpunkt, wenn der Bezieher beliefert wird, vertretbar. Demgegenüber gebietet es sich in den Fällen, in denen der speziell geregelte und beschriebene Verfahrensablauf nicht eingehalten wird, einen frühestmöglichen Entstehungszeitpunkt zu wählen und den Kreis der Steuerschuldner weit zu fassen. Diese „Grobdifferenzierung“ ließe sich leichter vornehmen, wenn im Tatbestand eine Bezugnahme auf das erforderliche begleitende Verwaltungsdokument gegeben wäre, was auch zu einer größeren Rechtsklarheit ­führen würde. Wird das vereinfachte Begleitdokument nicht verwendet, dürfte der Auffangtatbestand zur Anwendung kommen. Eine derartige Klarstellung ist vergleichsweise bei der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung gegeben. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, schreiben sowohl die ­SystemRL als auch die nationalen Verbrauchsteuergesetze zwingend vor, dass die Beförderung mit einem elektronischen Verwaltungsdokument (eVd) nach Art. 21 RL 2008/118 erfolgen muss.30 Fehlt es hieran, liegt keine Beförderung unter Steueraussetzung vor. Die Pflicht zur Verwendung eines vereinfachten Begleitdokuments hat der Versender im Ursprungslandmitgliedstaat.31 Dies bedingt, dass er in Kenntnis ist, dass es sich um einen grenzüberschreitenden Warenverkehr handelt. Sofern er den Transport nicht selbst durchführt oder in Auftrag gibt, kann ihm diese Kenntnis fehlen und die Verwendung des vereinfachten Begleitdokuments unterbleiben. Eine „Erforschungspflicht“ kann dem „Versender“/Verkäufer nicht auferlegt werden.32 Verantwortlich ist in diesen Fällen derjenige, der die innergemeinschaftliche Warenbewegung vornimmt. Der Grundtatbestand (der jeweilige Absatz 1) liegt grundsätzlich bei einem „Zwei-Personen-Verhältnis“ vor, wenn den Beteiligten die Vornahme eines grenzüberschreitenden Warenverkehrs bewusst ist und das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt wird. Auch wenn es an einem „Zwei-Personen-Verhältnis“ fehlt, kann der Grundtatbestand gegeben sein, wenn der Verkäufer keine Kenntnis vom grenzüberschreitenden Warenverkehr hat, da der Bezieher/Käufer den Transport selbst durchführt bzw. organisiert und er selbst das Verfahren ordnungsgemäß durchführt. Verfahrenstechnisch tritt dann allein der Bezieher in Erscheinung.

30 Vgl. Art. 21 RL 2008/118 und z. B. § 9d EnergieStG. 31 Die unionsrechtliche Vorgabe enthält Art. 34 Abs. 1 RL 2008/118, die nationale Umsetzung erfolgt durch Regelungen in den Durchführungsverordnungen, vgl. z. B. §§ 44, 39 EnergieStV. 32 Vgl. EuGH v. 18.7.2013 – C-315/12 – Metro Cash & Carry Danmark, ECLI:EU:C:2013:503.

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b) Zweifelsfälle Selbst wenn das vereinfachte Begleitdokument verwendet wurde, ist in vielen Fallkonstellationen fraglich, ob der Grundfall gegeben ist. aa) Fehllieferung Nicht selten dürften die Fälle sein, in denen die tatsächliche Warenlieferung mit der papiermäßigen Lieferung nicht übereinstimmt. Das vereinfachte Verwaltungsdokument wurde zwar ausgefertigt, aber die dort aufgelistete Ware bzw. Warenmenge stimmt mit der tatsächlich gelieferten Ware nicht überein. Sofern man für den jeweiligen Absatz 1 verlangt, dass das Verfahren ordnungsgemäß eingehalten wurde, wofür auch spricht, dass ansonsten die Abgrenzung zwischen den beiden Absätzen noch „unschärfer“ wird, wäre dieser Entstehungstatbestand nicht einschlägig. Diese Sichtweise ist auch in der Verwaltungsvorschrift niedergelegt worden.33 Damit erfolgt tendenziell eine Anlehnung an die Sichtweisen, die bei Beförderungen unter Steueraussetzung vertreten werden, obwohl die gesetzlichen Regelungen über den Bezug/das Verbringen von Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten eine Verknüpfung des materiellen Rechts mit den Verfahrensregelungen nicht ausdrücklich vorsehen, anders als die Regelungen zum Steueraussetzungsverfahren. Auch ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Waren, die unter Steueraussetzung stehen, um unversteuerte Waren handelt und somit die Frage der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Raum steht. Demgegenüber geht es beim innergemeinschaftlichen Warenverkehr mit Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs um einen Wechsel bei der Ertragskompetenz. Wird eine andere Ware als in den Dokumenten angegeben ausgeliefert, kommt der jeweilige Absatz 2 zur Anwendung, womit letztlich jeder, der die Ware in Besitz ge­ halten hat, als Steuerschuldner in Betracht kommt. Gleiches dürfte gelten, wenn die Waren an eine Person geliefert werden, die nicht als Bezieher in den Dokumenten aufgeführt ist, da es dann an einer geleisteten Sicherheitsleistung fehlen dürfte. Bei Mehrmengen käme neben dem jeweiligen Absatz 1 für die zutreffende Warenmenge der jeweilige Absatz 2 für die Mehrmenge zur Anwendung. Dies kann zu verschiedenen Steuerschuldnern führen, sofern nicht der Bezieher die Ware selbst in das Steuergebiet befördert hat. Die nationale Ausgestaltung der Besteuerungsgrundlage kann somit dazu führen, dass bei einer Warenbewegung für verschiedene Warenmengen verschiedene Entstehungstatbestände zur Anwendung kommen und verschiedene Steuerschuldner in Betracht kommen. Ein Ergebnis, welches die Frage nach einem rechtfertigenden Grund aufwirft. Allein eine sich aus dem Abgleich zwischen den papiermäßigen Angaben und der tatsächlich gelieferten Warenmenge ergebende Fehlmenge hat keine Auswirkung auf den zur Anwendung kommenden Entstehungstatbestand nach dem jeweiligen Abs. 1 für die gelieferte Menge, da für diese geringere Warenlieferung eine ausreichende Si33 Vgl. Verwaltungsvorschrift steuerrechtlich freier Verkehr  – ohne Energieerzeugnisse, V 9990/15/1000, Abs. 39 und 40.

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cherheitsleistung besteht. Jedoch dürfte zusätzlich eine Steuerentstehung aufgrund einer Unregelmäßigkeit zu prüfen sein, vgl. z. B. § 18a EnergieStG. bb) Tatsächliche Sachherrschaft Aus logistischen Gründen kann der Bezieher dem Lieferer aufgeben, die Waren direkt an seinen Abnehmer zu befördern. In derartigen Fällen spricht man nach dem nationalen Besitzrecht von einem sog. „Geheißerwerb“. In diesen Fällen hat die Person, auf deren Geheiß die Waren an einen Dritten geliefert wird, keine tatsächliche Sachherrschaft erlangt und damit auch keinen Besitz. Soweit ersichtlich, ist bislang im Verbrauchsteuerrecht der sog. Geheißerwerb als nicht ausreichend angesehen worden, um eine steuerrechtlich relevante Rechtsposition zu erlangen, und zwar auch dann, wenn es nicht um die Auslegung unionsrechtlicher Vorgaben geht, sondern um Regelungsbereiche, die der freien Gestaltung durch die Mitgliedstaaten unterliegen. So hat der Bundesfinanzhof, das Verfahren der steuerfreien Verwendung betreffend, entschieden, dass ein Geheißerwerb nach § 929 S. 2 BGB nicht als ausreichend für eine Abgabe i. S. d. § 30 Abs. 1 EnergieStG angesehen werden kann.34 Auch nach der Verwaltungsvorschrift zum steuerrechtlich freien Verkehr ist zumindest die mittelbare Sachherrschaft (mittelbarer Besitz) für den Status „Bezieher“ erforderlich.35 Fehlt es hieran, wäre der jeweilige Absatz 2 einschlägig, sodass die Steuer bereits mit Grenz­ übertritt entsteht und der Lieferer Steuerschuldner wird. Demgegenüber wäre die Person, die die Lieferung initiiert hat, kein Steuerschuldner. Aus fiskalischer Sicht ist dieses Ergebnis „unglücklich“, da dann die Person, die die Sicherheit geleistet hat, kein Steuerschuldner wäre und es zugleich zweifelhaft sein dürfte, dass der Beförderer ebenfalls eine Sicherheit geleistet hat, zumal für ihn die Stellung als Steuerschuldner überraschend sein dürfte. Aber auch nach dem Richtlinienrecht ist der „Bezieher ohne tatsächliche Sachherrschaft“ nicht ausdrücklich als möglicher Steuerschuldner vorgesehen. Nach Art. 33 Abs. 3 RL 2008/118 wird Steuerschuldner die Person, die die Lieferung vornimmt oder in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden oder an die die Waren geliefert werden. Allenfalls könnte der „Bezieher ohne tatsächliche Sachherrschaft“ als Person angesehen werden, die die Lieferung vornimmt, da er die erfolgte Lieferung veranlasst hat. Damit kann die Ausgestaltung der Beförderungsvereinbarung für die Auswahl der Besteuerungsgrundlage entscheidend sein. Gibt der Bezieher die Beförderung in Auftrag, erlangt er aufgrund des Beförderungsvertrages und des dann bestehenden Besitzmittlungsverhältnisses bereits mittelbaren Besitz, womit der jeweilige Absatz 1 zur Anwendung kommt. Ob bei einer vereinbarten Bringschuld die Angabe eines abweichenden Lieferortes dem gleichsteht, dürfte zumindest nach der Rechtsprechung fraglich sein, obwohl sprachlich auch dieser Fall unter Ausblendung der Besitzverhältnisse ein „Verbringenlassen“ darstellt. Eine extensive Sicht, die auch den Geheiß­ erwerb berücksichtigt, ließe sich sicherlich leichter vertreten, wenn darauf abgestellt

34 BFH v. 14.5.2013 – VII R 39/11, BFH/NV 2013, 1713, ZfZ 2013, 299. 35 Verwaltungsvorschrift steuerrechtlich freier Verkehr, V 9990/15/1000, Abs. 7.

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werden kann, wer die Lieferung veranlasst hat oder für die Empfangnahme auch das „In-Empfang-nehmen-Lassen“ ausreichend ist. cc) Falsche Ware, aber „korrekte Papiere“ Bestellt wird von einem deutschen Händler Ware A (Biermischgetränk) bei einem niederländischen Händler. Dieser versendet aber aufgrund eines Übermittlungsfehlers die Ware B (Mischgetränkt mit Ethylalkohol). Im vereinfachten Begleitdokument ist die Ware B aufgelistet. Damit entsprechen die papiermäßigen Angaben der tatsächlich beförderten Ware, nicht jedoch der von A aufgegebenen Bestellung. Fraglich dürfte sein, ob auch in diesem Fall A Bezieher i. S. d. jeweiligen Absatzes 1 ist oder ob das Merkmal „Bezieher“ eine Komponente dahingehend enthält, dass der Bezieher von der gelieferten Ware Kenntnis haben muss. Immer wieder stellt sich die Frage, inwieweit die Entstehungstatbestände subjektive Elemente enthalten.36 Grundsätzlich stellen die verbrauchsteuerrechtlichen Steuerentstehungstatbestände auf Realakte ab, auch wenn in jüngerer Zeit vereinzelt subjektive Elemente von Bedeutung sind. So werden nach dem Energiesteuerrecht bestimmte Waren erst dann zu einem Energieerzeugnis, wenn sie dazu bestimmt worden sind, als Kraft- oder Heizstoff verwendet zu werden, vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 EnergieStG. Auch mag dem Begriff „Bezieher“ im allgemeinen Sprachgebrauch ein subjektives Element innewohnen. Jedoch ist bei der Begriffsauslegung immer die steuerrechtliche Intention zu berücksichtigen. Durch das überwiegende Abstellen auf Realakte im Verbrauchsteuerrecht soll möglichst ohne Nachforschungen das Vorliegen von Tatbestandsmerkmalen feststellbar sein und nicht erst im Nachhinein. Auch wenn in einem derartigen Fall fraglich ist, ob die Beförderung unter zulässiger Verwendung eines Begleitdokuments nach Art. 34 RL 2008/118 erfolgt, da die Angaben in der „Bezieheranzeige“ z.  B. nach §  15 Abs.  3 EnergieStG nicht mit den Angaben im Beförderungsdokument übereinstimmen, ist dies bei einer Kontrolle während der Beförderung nicht feststellbar. Dies allein dürfte aber nicht ausschlaggebend sein. Zwar hat das nachträgliche Eintreten von Umständen grundsätzlich im Verbrauchsteuerrecht auf die Beurteilung der vorherigen Rechtslage keinen Einfluss, sondern führt allenfalls zu einer Neubeurteilung. Dies gilt aber nicht für nachträgliche Erkenntnisse über Umstände, die bereits im Beurteilungszeitpunkt existierten. Wie bereits dargelegt, kann als Differenzierungsgrund zwischen den jeweiligen Absätzen 1 und 2 das staatliche Fiskalinteresse gesehen werden. Aber dieses kann in derartigen Fällen zumindest teilweise tangiert sein, wenn der Besteller von einer Warenlieferung ausgeht, die mit einer niedrigeren Steuer belastet ist als die Ware, die tatsächlich geliefert wird, da dann die geleistete Sicherheit nicht die gesamte Steuer absichert. Des Weiteren wird der Lieferer mangels entsprechender Kenntnis keine Anzeige abgegeben und keine Sicherheit geleistet haben. Unabhängig davon, ob in derartiger Fallgestaltung der Absatz 1 oder der Absatz 2 mangels Bezieherstatus zur 36 Allgemein zu dieser Thematik Jatzke, Subjektive Tatbestandselemente im besonderen Verbrauchsteuerrecht am Beispiel der Kraftstoffbesteuerung, Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 34.

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Anwendung kommt, kann bei einer Belieferung einer Person im Bestimmungsmitgliedstaat auf eine Sicherheitsleistung erst zurückgegriffen werden, wenn diese Person die Waren in Besitz hält. Die Heranziehung des jeweiligen Absatzes 2 führt zwar zu einer erweiterten Steuerschuldnerschaft und die Steuer würde immer mit Grenzübertritt entstehen, aber die Sicherung der Fiskalinteressen durch eine Sicherheitsleistung würde nicht verbessert. Auch wäre bei einer vergleichbaren Warenbewegung unter Steueraussetzung das Beförderungsverfahren nicht zu beanstanden. dd) Mehrere Bezieher? Kommt der jeweilige Absatz 1 zur Anwendung, wird auf den Bezieher hinsichtlich der Steuerentstehung und der Steuerschuldnerschaft abgestellt. Beliefert der Bezieher einen weiteren Zwischenhändler, der im Anschluss Verwender beliefert, so könnte auch dieser Zwischenhändler Bezieher und damit Steuerschuldner sein. Dies könnte insoweit fraglich sein, als der Warenbezug durch den Zwischenhändler nicht mehr im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grenzübertritt steht. Ob für die Stellung als Steuerschuldner ein unmittelbarer Bezug zur grenzüberschreitenden Lieferung gegeben sein muss, war auch bei der Auslegung des Begriffs „Empfänger“ in § 19 TabStG a. F. von Bedeutung. Der BGH verlangte einen derartigen Bezug, sodass der Warenbesitz eines Zwischenhändlers, nachdem die Ware zur Ruhe gekommen war, nicht die Stellung als Steuerschuldner begründete. Demgegenüber kam der BFH zu dem Ergebnis, dass § 19 TabStG a. F. richtlinienkonform dahingehend auszulegen ist, dass Empfänger auch eine Person sein kann, die erst nach Beendigung des Vorgangs des Verbringens aus einem anderen Mitgliedstaat im Steuergebiet Besitz an nicht mit deutschen Steuerzeichen versehenen Zigaretten erlangt hat.37 Zuvor hat der EuGH auf Vorlage des BFH die Feststellung getroffen, dass die Mitgliedstaaten keine nationale Regelung treffen dürfen, die es ausschließt, Personen als Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen, die nicht die ersten Besitzer der Waren im Bestimmungsland gewesen sind.38 Daraus ließe sich herleiten, dass jeder Besitzer Steuerschuldner wird. Fraglich ist, ob diese Rechtsprechung auf den Begriff „Bezieher“ übertragbar ist. Einer­seits war § 19 TabStG a. F., der durch den jetzigen fast deckungsgleichen § 23 TabStG abgelöst worden ist und keine Differenzierung innerhalb der Besteuerungsgrundlage enthielt, Gegenstand der Entscheidungen, und andererseits handelte es sich um einen innergemeinschaftlichen Schmuggel. Eine derartige Warenbewegung würde mit anderen verbrauchsteuerpflichtigen Waren jedenfalls den jeweiligen Absatz 2 verwirklichen, womit jeder Besitzer der Waren Steuerschuldner wird. Insoweit kommt man nach allen nationalen Vorschriften zum selben Ergebnis. Der EuGH stellt in seiner Entscheidung auch auf die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs ab, weshalb jeder Besitzer als Steuerschuldner in Betracht kommt. Es soll die Erhebung der Verbrauchsteuer „sicherer“ gemacht werden. Aber auch diese Ausführungen in den Entscheidungsgründen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass gerade 37 BFH v. 11.11.2014 – VII R 44/11, BFH/NV 2015, 629, ZfZ 2015, 108. 38 Vgl. EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-165/13 – Stanislav Gross, ZfZ 2014, 253.

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bei einem Schmuggel der Steueranspruch gefährdet ist. Von daher können diese Grundsätze nicht auf eine innergemeinschaftliche Warenbewegung übertragen werden, die unter Einhaltung der Verfahrensvorschriften und erfolgter Sicherheits­ leistung durchgeführt wird, wie es der jeweilige Absatz 1 verlangt. Damit können bei einem mehrstufigen Handel nicht alle Zwischenhändler als Bezieher und damit Steuerschuldner angesehen werden. 6. Schaffung eines einheitlichen Entstehungstatbestandes Wie oben dargelegt, birgt die Schaffung von sich ausschließenden Entstehungstatbeständen für eine Warenbewegung unter Benennung verschiedener Steuerschuldner Anwendungsschwierigkeiten in sich. Aus den Regelungen über die Steuerschuldnerschaft lässt sich die vermeintliche gesetzgeberische Intention herleiten. Werden die Verfahrensvorschriften beachtet, kommt allein der Bezieher als Steuerschuldner in Betracht. Damit soll bei einer ordnungsgemäßen Warenbewegung der ansonsten unbeteiligte Beförderer steuerschuldrechtlich unbehelligt bleiben. Wenn im Ergebnis die Stellung als Steuerschuldner das Regelungsbedürfnis ist, stellt sich die Frage, ob die Zielerreichung mittels verschiedener Entstehungstatbestände, die nicht zweifelsfrei voneinander abgegrenzt werden können, zielführend ist. Angebracht scheint vielmehr eine einheitliche Regelung der Steuerentstehung mit einer anschließenden Differenzierung bei der Normierung der Steuerschuldner. Damit könnte auch eine Anlehnung an die Struktur des Besteuerungsgebots aus Art. 33 Abs. 1 RL 2008/118 erreicht werden, von der die jetzige Ausgestaltung erheblich abweicht. Auch könnte grundsätzlich die Auswahl der Steuerschuldner weit gefasst werden, wobei in der Ausgestaltung auch einfließen kann, ob eine tatsächliche Sachherrschaft generelle Grundvoraussetzung ist. Das in der jetzigen Ausgestaltung der Entstehungstatbestände zum Ausdruck kommende Bedürfnis, bei einer ordnungsgemäßen Warenlieferung nur den „Bezieher“ als Steuerschuldner in Betracht zu ziehen, kann durch eine entsprechende Ausnahmeregelung erreicht werden. So kann bestimmt werden, dass bei Einhaltung der in Art. 34 RL 2008/118 niedergelegten Verfahrensvorschriften allein das Befördern nicht die Steuerschuldnerstellung begründet. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass ein Auswahlermessen gegeben ist, wenn mehrere Steuerschuldner existieren, vgl. § 5 AO. 7. Steuerentstehung aufgrund einer Unregelmäßigkeit a) Unionsrechtliche Vorgaben Die Steuerentstehung aufgrund einer Unregelmäßigkeit ist erstmals in Art. 38 RL 2008/118 aufgenommen worden und durch entsprechende Regelungen in das nationale Recht umgesetzt worden, vgl. z. B. § 18a EnergieStG. Die Ausgestaltung orientiert sich dabei im Kern an den Regelungen über die Unregelmäßigkeiten während der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung, vgl. Art. 7 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a i. V. m. Art. 10 RL 2008/118. Dies gilt insbesondere für die Definition des Begriffs „Unregelmäßigkeit“, wonach ein während der Beförderung eintretender Fall, aufgrund dessen eine Beförderung oder ein Teil einer Beförderung 557

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verbrauchsteuerpflichtiger Waren nicht ordnungsgemäß beendet wurde, als „Unregelmäßigkeit“ gilt. Auch die Ausnahmen (Zerstörung und Verlust, Art. 37 und Art. 10 Abs. 6 i. V. m. Art. 7 Abs. 4 RL 2008/118) sind deckungsgleich. Ebenso wurde in beiden Regelungsbereichen ein „Rückabwicklungsgebot“ für den Fall aufgenommen, dass innerhalb einer Frist von drei Jahren der Ort der Unregelmäßigkeit, der sich zunächst nicht ermitteln ließ, festgestellt werden kann. Aus dem Zusammenhang mit dem „regulären“ Besteuerungsgebot kann die Besteuerung aufgrund einer Unregelmäßigkeit bei einer Durchfuhr oder einer Fehlmengenfeststellung zur Anwendung kommen. Steuerschuldner sind die Personen, die Sicherheit geleistet haben, und die, die an der Unregelmäßigkeit beteiligt waren. Damit wird der Beförderer bei einer Durchfuhr auch im Falle einer Unregelmäßigkeit nicht zum Steuerschuldner, sofern er an der Unregelmäßigkeit nicht beteiligt war. b) Anwendungsbereich Entsprechend der Richtlinienvorgabe sehen alle nationalen Verbrauchsteuergesetze eine Steuerentstehung bei einer Unregelmäßigkeit während der Beförderung von Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten vor. Teilweise wird der Begriff „Unregelmäßigkeit“ erneut definiert (vgl. § 18a Abs. 2 EnergieStG), teilweise wird auf die Definition, die in den Regelungen zur Beförderung unter Steueraussetzung enthalten ist, verwiesen (vgl. § 26 Abs. 1 S. 3 AlkStG). Inhaltlich bestehen keine Unterschiede. Der Entstehungstatbestand greift entsprechend der Richtlinienvorgaben auch, wenn eine Unregelmäßigkeit im Steuergebiet festgestellt wird, jedoch der Ort der Unregelmäßigkeit sich nicht bestimmen lässt. Auch insoweit besteht eine Deckungsgleichheit zu den Regelungen, die die Beförderung unter Steueraussetzung betreffen. Eine Steuerentstehung aufgrund einer Unregelmäßigkeit kann nur in Betracht kommen, wenn nicht bereits ein anderer Entstehungstatbestand einschlägig ist, denn nur insoweit besteht überhaupt ein Besteuerungsbedürfnis. Wie bei der Beförderung unter Steueraussetzung liegt keine Unregelmäßigkeit vor, wenn die verbrauchsteuerpflichtigen Waren aufgrund ihrer Beschaffenheit oder infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt oder einer von den zuständigen Behörden erteilten Genehmigung vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen sind.39

39 Art. 38 Abs. 4 RL 2008/118 verweist auf Art. 37 (Zerstörung und Verlust), der für den Regelungsbereich Kapitel V „steuerrechtlich freier Verkehr“ geschaffen worden ist, sodass ein Verweis auf die gleichlautende Regelung für die Beförderung unter Steueraussetzung in Art. 7 Abs. 4 nicht erforderlich ist, anders Jatzke (Fn. 4), Rz. C 112.

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aa) Durchfuhr Bei einer ordnungsgemäßen Durchfuhr kommt es grundsätzlich zu keiner Steuerentstehung, da es an einem gewerblichen Zweck fehlt, der von den ansonsten einschlägigen Entstehungstatbeständen vorausgesetzt wird, vgl. II., III.2.b. Zur Absicherung der fiskalischen Interessen löst in derartigen Fällen eine Unregelmäßigkeit eine Steuer­ entstehung aus. Steuerschuldner ist nach den nationalen Regelungen die Person, die die Waren in Besitz hält. Damit weicht die nationale Ausgestaltung der Steuerschuldnerschaft erheblich von den Richtlinienvorgaben ab. Einerseits wird derjenige, der die Unregelmäßigkeit ausgelöst hat bzw. an ihr beteiligt war, kein Steuerschuldner. Andererseits wird aber der Beförderer zum alleinigen Steuerschuldner, den die Richtlinie nur dann als Steuerschuldner erfasst, wenn er an der Unregelmäßigkeit beteiligt war. Dies folgt daraus, dass die nationalen Regelungen im Falle einer Durchfuhr auf die Person abstellen, die die Waren in Besitz hält, vgl. z. B. § 18a Abs. 3 S. 1 EnergieStG. Auch die Person, die die Sicherheit geleistet hat, kommt nach den nationalen Regelungen nicht als Steuerschuldner in Betracht, worin eine weitere Abweichung von den Richtlinienvorgaben liegt. Demgegenüber löst eine Durchfuhr ohne Einhaltung der Verfahrensvorschriften bereits eine „reguläre“ Steuerentstehung nach dem jeweiligen Absatz 2 mit Grenzübertritt aus, sodass eine spätere Unregelmäßigkeit steuerschuldrechtlich ohne Bedeutung ist. bb) Beförderung zum Bezieher Die nationale Ausgestaltung der Steuerentstehung sieht vor, dass bei einer Belieferung des Beziehers die Steuer erst zum Zeitpunkt der Empfangnahme durch den Bezieher entsteht, vgl. z. B. § 15 Abs. 1 S. 1 Buchst. a EnergieStG. Damit kann es auch bis zur Empfangnahme durch den Bezieher zu einer Unregelmäßigkeit kommen, die eine Steuerentstehung auslöst. Steuerschuldner ist allein der Sicherheitsleistende. Auch hier wird die Person, die die Unregelmäßigkeit begangen hat oder an ihr beteiligt war, nicht erfasst. cc) Fehlmengenfeststellung während der Beförderung Eine Unregelmäßigkeit in der Form der Fehlmengenfeststellung dürfte nur bei Verwendung eines vorgeschriebenen Begleitdokuments in Betracht kommen. So verlangen die Durchführungsvorschriften zu der gesetzlichen Regelung über die Unregelmäßigkeit, dass der Bezieher festgestellte Abweichungen gegenüber den Angaben im vereinfachten Begleitdokument dem zuständigen Hauptzollamt unverzüglich anzuzeigen hat, vgl. z. B. § 38 Abs. 1 AlkStV. Fraglich könnte sein, ob die Feststellung durch den Bezieher noch eine Feststellung während der Beförderung ist. Diese Frage stellt sich unabhängig davon, ob eine Beförderung unter Steueraussetzung oder eine Be­ förderung von Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten ­gegeben ist, da die Regelungsstrukturen identisch sind. Daher können die Gerichtsentscheidungen, die zur Beförderung unter Steueraussetzung ergangen sind, herange559

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zogen werden.40 Danach sind Feststellungen, die bis zur verfahrenstechnischen Beendigung getroffen werden, während der Beförderung erfolgt. Die Beendigung der Warenbewegung, die mit Ankunft beim Bezieher gegeben sein dürfte, ist nicht maßgeblich. Damit können die vom Bezieher festgestellten Abweichungen eine Unregelmäßigkeit begründen. dd) Ware trifft nicht am Bestimmungsort ein Im Gegensatz zu den Regelungen zur Beförderung unter Steueraussetzung sehen Art. 38 RL 2008/118 und die entsprechenden nationalen Vorschriften keine Steuer­ entstehung vor, wenn die Ware nicht am Bestimmungsort eintrifft und während der Beförderung keine Feststellungen getroffen worden sind.41 Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass es sich bereits im Abgangsmitgliedstaat um Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs handelt, anders als bei einer Beförderung unter Steueraussetzung. Somit bedarf es, anders als bei einer Beförderung unter Steueraussetzung, keiner Zuweisung der Erhebungskompetenz.42 8. Zerstörung und Verlust Wie oben bereits erwähnt, liegt in den in Art. 37 RL 2008/118 (Zerstörung und Verlust) genannten Fällen keine Unregelmäßigkeit vor. Vergleichbare Regelungen beinhalten die nationalen Verbrauchsteuergesetze.43 Der eigentliche Regelungsinhalt besteht aber in dem Gebot, dass in derartigen Fällen die Verbrauchsteuer in diesem Mitgliedstaat nicht geschuldet wird. Dieses Postulat ist nicht an eine Steuerentstehung geknüpft, die verhindert werden soll. Dementsprechend ist die Konsequenz auch nicht, dass die Steuer nicht entsteht, sondern die Steuer nicht geschuldet wird. Damit erstreckt sich der Anwendungsbereich dieser Regelung auch oder gerade auch auf Fallkonstellationen, in denen nach Verwirklichung des Entstehungstatbestandes die Zerstörung oder der Verlust eintreten. Diese Regelung dürfte Folge einer konsequenten Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips sein. Steht fest, dass im Bestimmungsland die verbrauchsteuerpflichtige Ware nicht mehr in den Wirtschaftskreislauf gelangen und konsumiert werden kann, besteht kein Grund mehr, die Erhebungs- und Ertragskompetenz beim Bestimmungsmitgliedstaat zu belassen. Insoweit ordnet diese Regelung eine nachträgliche Korrektur an. Die nationalen Verbrauchsteuergesetze beinhalten keine vergleichbare Regelung. Sie schließen nur eine Steuerentstehung durch Zerstörung und Verlust der Ware aus. Die 40 FG Hamburg v. 13.6.2013 – 4 K 80/12, ZfZ 2014, Beilage 2014, Nr. 4, 58; BFH 31.5.2016 – VII R 40/13, ZfZ 2016, 244; EuGH v. 28.1.2016 – Rs. C-64/15 – BP Europa, ZfZ 2016, 66. 41 Art. 10 Abs. 4 RL 2008/118 weist in derartigen Fällen dem Abgangsmitgliedstaat die Erhebungskompetenz zu. 42 Nach Jatzke wurde auf die Aufnahme der in Art. 10 Abs. 4 RL 2008/118 genannten Fallkonstellationen verzichtet, Jatzke (Fn. 4), Rz. C 112. 43 Die nationalen Regelungen verweisen auf die Ausnahmeregelung, die das Steueraussetzungsverfahren betrifft, vgl. §  18a Abs.  2 EnergieStG mit Verweis auf §  8 Abs.  1a EnergieStG.

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Verknüpfung mit dem Entstehungstatbestand führt dazu, dass quasi kein Anwendungsbereich gegeben ist, s. oben III.4. Treten die Zerstörung oder der Verlust nach der Steuerentstehung ein, hat dies keine Auswirkung. Im Ergebnis kommt es in diesen Fällen zu einer Besteuerung im Abgangs- und im Bestimmungsmitgliedstaat, womit eine Doppelbesteuerung gegeben ist. Auch wenn bisher im nationalen Verbrauchsteuerrecht ein Untergang einer Ware, die sich im steuerrechtlich freien Verkehr befindet, keine Berücksichtigung findet, muss beim innergemeinschaftlichen Warenverkehr das Bestimmungslandprinzip beachtet werden. Danach ist aber nur eine spätere Zerstörung etc. für die Steuererhebung im Abgangsmitgliedstaat ohne Bedeutung, während im Bestimmungsmitgliedstaat dieser Umstand zu berücksichtigen ist. Insoweit sind die Richtlinienvorgaben nicht ins deutsche Recht umgesetzt worden. Die Berücksichtigung des Bestimmungslandprinzips dürfte sogar derart vorherrschend sein, dass eine Zerstörung oder ein Verlust bei sämtlichen Beförderungen zu berücksichtigen ist, und zwar unabhängig davon, ob diese unter Beachtung der in Art. 34 RL 2008/118 niedergelegten Voraussetzungen erfolgt ist oder nicht. Wie das Besteuerungsgebot in Art. 33 Abs. 1 RL 2008/118 stellt auch die Regelung über die Zerstörung und den Verlust (Art. 37 RL 2008/118) allein auf eine innergemeinschaftliche Beförderung ab und beinhaltet keinen Bezug zu den in Art. 34 RL 2008/118 niedergelegten Verfahrensvoraussetzungen. Damit führt die konsequente Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips dazu, dass auch ein Schmuggler von der Zerstörung bzw. dem Verlust „profitiert“. 9. Fazit Das Bestimmungslandprinzip ist eine tragende Säule der Verbrauchsteuerharmonisierung. Es dient im Wesentlichen der Aufteilung der Ertragskompetenz zwischen den Mitgliedstaaten und der Zuweisung der Erhebungsbefugnis, um einen freien Warenverkehr zu gewährleisten. Regelungsgegenstand ist insbesondere der Warenverkehr innerhalb der Union. Das Funktionieren dieser Warenverkehre erfordert in den Mitgliedstaaten abgestimmte Regelungen, was wiederum eine klare unionsrechtliche Vorgabe unabdingbar macht. Das Unionsrecht begnügt sich mit der Normierung eines Besteuerungsgebotes und sieht von der Ausgestaltung eines Besteuerungstatbestandes ab. Der so den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellte Gestaltungsspielraum bei grenzüberschreitenden Warenbewegungen kann der unionsweiten einheitlichen Ausfüllung des Bestimmungslandprinzips entgegenstehen. Auch fordert das Bestimmungslandprinzip eine Gesamtbetrachtung der Besteuerung einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware in der Union und verlangt als Ergebnis die Feststellung, dass es nur zu einer unionsweiten Steuerbelastung gekommen ist. Dabei sind die Gründe, die zur Besteuerung geführt haben, unerheblich. Es kann keine einzelstaatlichen Interessen geben, die dem Bestimmungslandprinzip übergeordnet werden können. Die nationalen Regelungen haben dieses Prinzip zumindest teilweise in den Bereichen der Steuerentlastung, Verlust und Zerstörung sowie bei Verfahrensfehlern, nicht realisiert. 561

Rainer Brandl / Peter Pichler

Der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie Inhaltsübersicht

I. Rechtssache Santogal 1. Sachverhalt 2. Feststellungen des Gerichtshofs

II. Ausgewählte Vorjudikatur des EuGH zum Grundsatz der Rechtssicherheit im Bereich der Mehrwertsteuer 1. Rechtssache Salomie und Oltean 2. Rechtssache Fatorie 3. Rechtssache Teleos 4. Rechtssache Traum EOOD 5. Rechtssache Netto Supermarkt III. Analyse der Rechtsprechung des EuGH



1. Divergenz zwischen den Feststellungen zum Vorsteuerabzug und zur Steuerbefreiung bei Exportlieferungen 2. Versagung der Steuerbefreiung bei ­Exportlieferungen 3. Einschränkung bei betrugsbehafteten Fällen a) Rechtsversagung bei Mehrwert­ steuerbetrug und Missbrauch b) Steuerbetrug/Steuerhinterziehung/ Mehrwertsteuermissbrauch c) Beteiligung an der Steuerhinter­ ziehung in einer Lieferkette

IV. Zusammenfassung

Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist nicht nur allgemein ein zentraler Bestandteil jeder Rechtsordnung, sondern findet auch vermehrt Eingang in die Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie 2006/112. Dies soll als Anlass für eine nähere Analyse genommen werden, wobei Ausgangspunkt für diese Analyse die Feststellungen des EuGH in der Rechtssache Santogal1 sind. Darin ging es um die Frage, ob unter dem Blickwinkel des Grundsatzes der Rechtssicherheit die Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung nachträglich versagt werden darf, wenn die Behörde die Unterlagen zur betreffenden Lieferung bereits geprüft und ursprünglich die Steuerbefreiung akzeptiert hat.

I. Rechtssache Santogal 1. Sachverhalt Im gegenständlichen Fall veräußerte die im Automobilhandel tätige und in Portugal ansässige Gesellschaft Santogal im Januar 2010 einen neuen Luxussportwagen an einen angolanischen Staatsbürger.

1 EuGH v. 14.6.2017 – C-26/16, ECLI:EU:C:2017:453 – Santogal M-Comércio e Reparação de Automóveis.

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Rainer Brandl / Peter Pichler

Anlässlich des Erwerbs teilte der Käufer Santogal mit, dass (i) er sich in Spanien niedergelassen habe und das Fahrzeug für seinen dortigen persönlichen Gebrauch bestimmt sei, (ii) er es nach Spanien versenden und selbst den Transport übernehmen wolle und (iii) er beabsichtige, es in Spanien einer technischen Überprüfung zu unterziehen und seine Zulassung zu veranlassen. In diesem Zusammenhang legte der Käufer auch seine spanische Ausländeridentitätsnummer sowie eine Kopie seines angolanischen Passes vor. Auf Basis dieser Dokumente ging Santogal davon aus, dass der Verkauf des Fahrzeugs als steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung eines neuen Fahrzeugs zu qualifizieren ist, und führte für den Verkauf keine Mehrwertsteuer in Portugal ab. In der Folge wurde das Fahrzeug auf einem Anhänger von Portugal nach Spanien transportiert. Ergänzend übermittelte der Käufer an Santogal einen Nachweis über die technische Überprüfung des Fahrzeugs in Spanien ebenso wie eine Bescheinigung über eine vorübergehende (für ein Jahr gültige) „touristische“ Zulassung des Fahrzeugs in Spanien. Hinsichtlich der Adressangaben des Erwerbers in dieser Bescheinigung bestanden Abweichungen gegenüber der vom Erwerber beim Kauf genannten Anschrift sowie auch gegenüber den Angaben in der Ausländeridentitätsnummer. Im Zuge nachträglicher Ermittlungen der portugiesischen Steuer- und Zollverwaltung wurde festgestellt, dass der Erwerber nicht in Spanien wohnhaft sei, dort keiner Tätigkeit nachgehe und entsprechend einer Auskunft der spanischen Behörden niemals eine Steuererklärung in Spanien eingereicht habe. Überdies verfüge der Erwerber bereits seit dem Jahr 2001 über eine portugiesische Steuernummer und habe einen Wohnsitz in Portugal. Auf Basis dieser Feststellungen versagte die portugiesische Steuer- und Zollverwaltung nachträglich die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung und setzte gegenüber Santogal im Oktober 2014 portugiesische Umsatzsteuer für den Verkauf fest. Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens wurde dem Gerichtshof u. a. die Frage vorgelegt, ob bei der gegebenen Sachverhaltskonstellation die Grundsätze der Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes der nachträglichen Versagung der Steuerbefreiung entgegenstehen. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass Santogal das gegenständliche Fahrzeug zuvor von Mercedes-Benz Portugal erworben hatte und die Verbringung des Fahrzeugs nach Portugal durch eine Zollanmeldung festgestellt worden war. Auf Basis der erhaltenen Informationen und Unterlagen von Santogal stellte Mercedes-Benz Portugal einen Antrag, die betreffende Zollanmeldung aufgrund der Versendung des Fahrzeugs nach Spanien für ungültig erklären zu lassen, und wurde diesem Antrag von den zuständigen portugiesischen Behörden nach entsprechender Prüfung der vorgelegten Unterlagen im März 2011 stattgegeben (und somit rund dreieinhalb Jahre vor der späteren Versagung der Steuerbefreiung). 2. Feststellungen des Gerichtshofs Nach der einleitenden Feststellung, dass die Vorlagefragen zulässig sind, äußert sich der Gerichtshof zunächst zu den materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung 564

Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie

für innergemeinschaftliche Lieferungen von neuen Fahrzeugen. Demnach darf die Steuerbefreiung nicht von der Voraussetzung abhängig gemacht werden, dass der Erwerber des Fahrzeugs im Bestimmungsmitgliedstaat niedergelassen oder wohnhaft ist. Ebenso darf die Steuerbefreiung nicht allein deshalb verweigert werden, weil das Fahrzeug Gegenstand einer nur vorübergehenden Zulassung im Bestimmungsmitgliedstaat ist. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass im vorliegenden Fall eine nachträgliche Vorschreibung der Mehrwertsteuer für den Verkauf unzulässig ist, wenn nicht bewiesen ist, dass die vorübergehende Zulassung ausgelaufen ist und dass die Mehrwertsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat entrichtet wurde oder wird. In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof insbesondere aus, dass der Verkäufer nicht verpflichtet sein kann, den schlüssigen Beweis zu erbringen, dass das Fahrzeug im Bestimmungsmitgliedstaat einer endgültigen Verwendung zugeführt worden und die touristische Zulassung, gegebenenfalls nach Zahlung der Mehrwertsteuer in diesem letzten Mitgliedstaat, ausgelaufen ist. Hinsichtlich der Frage zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes verweist der Gerichtshof zunächst darauf, dass es nicht gegen das Unionsrecht verstößt, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt und alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einem Steuerbetrug führt.2 Sollte der betreffende Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einem Steuerbetrug des Erwerbers verknüpft war, und hat er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um diesen zu verhindern, müsste ihm der Anspruch auf Steuerbefreiung versagt werden.3 Ob dies gegenständlich der Fall ist, muss vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer umfassenden Beurteilung aller Gesichtspunkte und den tatsächlichen Umständen des Ausgangsverfahrens geprüft werden. Nach Ansicht des Gerichtshofs konnte unter Berücksichtigung der vom Erwerber zum Zeitpunkt des Verkaufs gemachten Angaben vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass dieser in Spanien wohnhaft war und dass er die notwendigen Schritte unternommen hatte, um das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fahrzeug, wenn auch im Rahmen einer speziellen Zulassungsregelung, dort zu verwenden. Es hat jedoch das vorlegende Gericht zu prüfen, ob Santogal die erforderliche Sorgfalt hat walten lassen, um sicherzustellen, dass sie sich aufgrund des bewirkten Umsatzes nicht an einem Steuerbetrug beteiligt hatte. Insoweit ist hinzuzufügen, dass Santogal eine erhöhte Sorgfalt walten lassen musste. Dies zum einen angesichts des Wertes des fraglichen Fahrzeugs und zum anderen deshalb, weil eine Privatperson beim Erwerb eines neuen Fahrzeugs selbst dann keinen Vorsteuerabzug beanspruchen kann, wenn ein erworbenes Fahrzeug weiterverkauft wird, und daher ein größeres Interesse daran hat, sich der Besteuerung zu entziehen, als ein Wirtschaftsteilnehmer.4 Darüber hin2 EuGH v. 6.9.2012 – C-273/11, ECLI:EU:C:2012:547 – Mecsek-Gabona, Rz. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung. 3 EuGH v. 6.9.2012 – C-273/11, ECLI:EU:C:2012:547 – Mecsek-Gabona, Rz. 54. 4 EuGH v. 18.11.2010 – C-84/09, ECLI:EU:C:2010:693 – X, Rz. 43.

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aus ist im Rahmen der Beurteilung insbesondere zu prüfen, ob Santogal angesichts der Angaben, über die sie verfügte oder verfügen konnte, wissen konnte, dass die vorübergehende Zulassung nur für nicht Ansässige bestimmt war und dass der Erwerber mehrere Anschriften in Spanien angegeben hatte, was Zweifel hinsichtlich seines tatsächlichen Wohnsitzes aufkommen lassen konnte. Neben dem Verhalten des Verkäufers ist aus Sicht des Gerichtshofs auch das der portugiesischen Behörden zu berücksichtigen. Diesbezüglich trifft der EuGH in seinem Urteil folgende Aussage: „Für den Fall, dass Santogal die Unterlagen zwecks Inanspruchnahme der Steuerbefreiung des fraglichen Umsatzes vorgelegt hat und diese Unterlagen durch die zuständige Behörde geprüft und akzeptiert wurden – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit es verwehrt, dass ein Mitgliedstaat, der die vom Verkäufer als Nachweise für den Anspruch auf Steuerbefreiung vorgelegten Unterlagen zunächst akzeptiert hat, diesen Verkäufer später wegen eines vom Erwerber begangenen Steuerbetrugs, von dem der Verkäufer weder Kenntnis hatte noch haben konnte, zur Zahlung der auf diese Lieferung entfallenden Mehrwertsteuer verpflichten kann.“ Soweit sich das vorlegende Gericht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass sich nach ständiger Rechtsprechung jeder auf diesen Grundsatz berufen kann, bei dem eine Verwaltungsbehörde aufgrund bestimmter Zusicherungen, die sie ihm gegeben hat, begründete Erwartungen geweckt hat.5 Ein Steuerpflichtiger kann sich jedoch nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in die Aufrechterhaltung einer Situation berufen, die durch Steuerbetrug gekennzeichnet ist.6 Der Gerichtshof kommt somit zum Ergebnis, dass „Art. 138 Abs. 2 lit. a der MwSt-RL sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes dem entgegenstehen, dass der Verkäufer eines neuen Fahrzeugs, das vom Erwerber in einen anderen Mitgliedstaat befördert und in diesem Mitgliedstaat vorübergehend zugelassen wird, im Fall eines vom Erwerber begangenen Steuerbetrugs später verpflichtet ist, die Mehrwertsteuer zu entrichten, sofern nicht anhand objektiver Elemente bewiesen ist, dass dieser Verkäufer wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz mit einem Steuerbetrug des Erwerbers verknüpft war, und dass er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um seine Beteiligung an diesem Steuerbetrug zu verhindern“.

5 EuGH v. 9.7.2015 – C-183/14, ECLI:EU:C:2015:454 – Salomie und Oltean, Rz. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung. 6 EuGH v. 29.4.2004 – C-487/01 und C-7/02, ECLI:EU:C:2004:263 – Gemeente Leusden und Holin Groep, Rz. 77.

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II. Ausgewählte Vorjudikatur des EuGH zum Grundsatz der ­Rechtssicherheit im Bereich der Mehrwertsteuer 1. Rechtssache Salomie und Oltean7 In der Rechtssache Salomie und Oltean wurden von Privatpersonen Wohnungen verkauft und diese Lieferungen unter Verweis auf eine in diese Richtung gehende Praxis der Finanzverwaltung als nicht der Umsatzsteuer unterliegende Tätigkeit behandelt. Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte die rumänische Finanzverwaltung jedoch zur Auffassung, dass insoweit eine der Mehrwertsteuer unterliegende Tätigkeit vorliegt und stellte sich in diesem Zusammenhang u. a. die Frage der Zulässigkeit einer derartigen Vorgehensweise unter dem Blickwinkel der Rechtssicherheit. In seinem Urteil verweist der Gerichtshof auf seine ständige Rechtsprechung, wonach die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes von den Organen der Europäischen Union, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien einräumen, beachtet werden müssen.8 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ergibt sich daraus u. a., dass die Vorschriften des Unionsrechts eindeutig sein müssen und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein muss. Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt in besonderem Maß, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen.9 Ebenso müssen die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten auf den vom Unionsrecht erfassten Gebieten eindeutig formuliert sein, sodass einerseits den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht wird und andererseits die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt werden, deren Einhaltung sicherzustellen.10 Im vorliegenden Fall führt der Gerichtshof weiter aus, dass die nationalen rumänischen Rechtsvorschriften hinreichend klar und genau bestimmen, dass die Lieferung eines Gebäudes bzw. Grundstücks in bestimmten Fällen der Mehrwertsteuer unterliegen kann. Der Umstand allein, dass die Steuerbehörde einen bestimmten Umsatz innerhalb der Verjährungsfrist als eine der Mehrwertsteuer unterliegende wirtschaftliche Tätigkeit umqualifiziert, kann daher für sich genommen und bei Fehlen weiterer Umstände keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit begründen.11 Daher kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass der Grundsatz der Rechts 7 EuGH v. 9.7.2015 – C-183/14, ECLI:EU:C:2015:454 – Salomie und Oltean. 8 In diesem Sinne u. a. EuGH v. 29.4.2004 – C-487/01 und C-7/02, ECLI:EU:C:2004:263 – Gemeente Leusden und Holin Groep, Rz.  57, EuGH v. 26.4.2005  – C-376/02, ECLI:C:​ 2005:251  – „Goed Wonen“, Rz.  32, und EuGH v. 14.9.2006  – C-181/04 bis C-183/04, ECLI:EU:C:2006:563 – Elmeka NE, Rz. 31. 9 EuGH v. 15.12.1987 – C-325/85, ECLI:EU:C:1987:546 – Irland/Kommission, Rz. 18. 10 EuGH v. 21.6.1988 – C-257/86, ECLI:EU:C:1988:324 – Kommission/Italien, Rz. 12. 11 Diese Aussagen bestätigt der EuGH auch in der Rechtssache C-144/14, ECLI:EU:C:2015:452 – Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, vom gleichen Tag 9.7.2015.

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sicherheit es verbiete, dass die Steuerbehörde unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens infolge einer Steuerprüfung der Auffassung ist, dass die in diesem Verfahren in Rede stehenden Immobilienumsätze der Mehrwertsteuer hätten unterworfen werden müssen. 2. Rechtssache Fatorie12 In dieser Rechtssache Fatorie hat der EuGH festgestellt, dass eine in den Fällen des Übergangs der Steuerschuld (reverse-charge) zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer vom Leistungsempfänger nicht als Vorsteuer abgezogen werden kann, und zwar auch dann nicht, wenn die Berichtigung dieses Fehlers wegen der Insolvenz des Leistungserbringers unmöglich ist.13 In seiner Begründung verweist der Gerichtshofs darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung das Recht auf Vorsteuerabzug nur für diejenigen Steuern besteht, die geschuldet werden – d. h., mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen – oder die entrichtet worden sind, sowie sie geschuldet wurden. Da die von Fatorie an den Leistenden gezahlte Mehrwertsteuer nicht geschuldet wurde und diese Zahlung eine materielle Voraussetzung des Reverse-Charge-Verfahrens nicht erfüllt, steht Fatorie kein Recht auf Vorsteuerabzug zu. Im gegenständlichen Fall wurde Fatorie hinsichtlich der mit Umsatzsteuer ausgestellten Rechnung zunächst der Vorsteuerabzug gewährt und dem gestellten Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer von der rumänischen Finanzverwaltung stattgegeben. Im Rahmen einer zweiten Prüfung änderte die Finanzverwaltung jedoch ihre Rechtsansicht und wurde Fatorie nachträglich der Vorsteuerabzug versagt. Nach den Feststellungen des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann. Im Rahmen des Verfahrens verwies die rumänische Regierung auf eine nationale Verordnung, wonach es in Ausnahmefällen zulässig ist, innerhalb der Verjährungsfrist für einen bestimmten Zeitraum eine erneute Prüfung vorzunehmen, wenn zusätzliche Informationen, die den Steuerprüfern zum Zeitpunkt der Prüfung nicht bekannt waren, oder Rechenfehler zutage treten, die sich auf die Prüfungsergebnisse auswirken. Eine derartige Regelung, deren Klarheit und Vorhersehbarkeit für den Steuerpflichtigen nach Ansicht des Gerichtshofs nicht ernsthaft in Zweifel gezogen worden sind, genügt dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Im Ergebnis bestätigt der Gerichtshof die Vorgehensweise der rumänischen Finanzverwaltung. Demnach steht der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Verwaltungspraxis der nationalen Steuerbehörden nicht entgegen, wonach diese eine Entscheidung, mit der sie das Recht eines Steuerpflichtigen auf Abzug der Mehrwertsteuer anerkannt haben, innerhalb einer Ausschlussfrist zurücknehmen und im Anschluss

12 EuGH v. 6.2.2014 – C-424/12, ECLI:EU:C:2014:50 – Fatorie. 13 So auch EuGH v. 26.4.2017 – C-564/15, ECLI:EU:C:2017:302 – Farkas.

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an eine erneute Prüfung die Zahlung dieser Steuer nebst Verzugszinsen von ihm fordern. 3. Rechtssache Teleos14 In der Rechtssache Teleos ging es um die Lieferung von Mobiltelefonen durch verschiedene britische Gesellschaften wie Teleos und die Frage der Anwendbarkeit der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen. Konkret akzeptierten die britischen Steuerbehörden zunächst die von Teleos vorgelegten Dokumente (u.  a. CMR-Frachtbrief), und infolge dessen wurden die Lieferungen unter Anwendung des Nullsatzes von der Mehrwertsteuer befreit. Bei später durchgeführten Kontrollen stellten die Behörden jedoch fest, dass in einigen Fällen in den CMR-Frachtbriefen ein falscher Bestimmungsort angegeben war, es die angegebenen Frachtführer gar nicht gab oder diese keine Mobiltelefone transportierten und dass die angegebenen Kennzeichen der Transportfahrzeuge keinen tatsächlich existierenden Fahrzeugen oder für den Transport solcher Waren ungeeigneten Fahrzeugen zuzuordnen waren. Die Behörden schlossen daraus, dass die Mobiltelefone das Vereinigte Königreich nie verlassen hatten, und setzten daher für diese Lieferungen Mehrwertsteuer fest. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hatte Teleos keinen Anlass, an den Angaben in den CMR-Frachtbriefen oder an der Echtheit dieser Frachtbriefe zu zweifeln, war sie an keinem Betrug beteiligt und wusste nicht, dass die Mobiltelefone das Vereinigte Königreich nicht verlassen hatten. Überdies kam dieses Gericht zu dem Ergebnis, dass Teleos ernsthafte und gründliche Untersuchungen betrieben hatte, um sich von der Zuverlässigkeit des Käufers zu überzeugen, und auf dieser Basis über keinen konkreten Beweis für die Fehlerhaftigkeit der Angaben in den Frachtbriefen verfügte. Nach Ansicht des Gerichtshofs würde es gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen, „wenn ein Mitgliedstaat, der die Voraussetzungen für die Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung festgelegt hat, indem er u. a. eine Liste von Unterlagen aufgestellt hat, die den zuständigen Behörden vorzulegen sind, und der die vom Lieferanten als Nachweise für das Recht auf Befreiung vorgelegten Unterlagen zunächst akzeptiert hat, den Lieferanten später zur Zahlung der auf diese Lieferung entfallenden Mehrwertsteuer verpflichten könnte, wenn sich herausstellt, dass die betreffenden Gegenstände wegen eines vom Erwerber begangenen Betrugs, von dem der Lieferant weder Kenntnis hatte noch haben konnte, den Liefermitgliedstaat in Wirklichkeit nicht verlassen haben“. Der Gerichtshof kommt folglich zum Ergebnis, dass „die zuständigen Behörden des Liefermitgliedstaats nicht befugt sind, einen gutgläubigen Lieferanten, der Beweise vorgelegt hat, die dem ersten Anschein nach sein Recht auf Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen belegen, zu verpflichten, später Mehrwertsteuer auf diese Gegenstände zu entrichten, wenn die Beweise sich als falsch herausstellen, jedoch nicht erwiesen ist, dass der Lieferant an der Steuerhinterziehung beteiligt war, 14 EuGH v. 27.9.2007 – C-409/04, ECLI:EU:C:2007:548 – Teleos u. a.

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soweit er alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihm vorgenommene innergemeinschaftliche Lieferung nicht zu seiner Beteiligung an einer solchen Steuerhinterziehung führt“. 4. Rechtssache Traum EOOD15 Der Rechtssache Traum EOOD liegt eine ähnliche Konstellation wie in der Rechtssache Santogal zugrunde. Im Rahmen einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Bulgarien nach Griechenland legte der Lieferant Traum seinen bulgarischen Steuererklärungen die Rechnungen mit der griechischen UID-Nummer des Erwerbers, Annahme- und Übergabeprotokolle, Frachtbriefe sowie unterzeichnete Bescheini­gungen über den Erwerb von Waren vor und wurde die Steuerbefreiung von der bulgarischen Finanzverwaltung zunächst bescheidmäßig akzeptiert (nachdem sie entsprechend den Angaben im Vorlagebeschluss die griechische UID-Nummer des Erwerbers geprüft hatte). Zu einem späteren Zeitpunkt stellte die bulgarische Finanzbehörde nach nochmaliger Prüfung allerdings fest, dass der griechische Erwerber zum Lieferzeitpunkt über keine gültige UID-Nummer verfügte, und versagte daraufhin nachträglich die Steuerbefreiung. Zusätzlich machte die Behörde geltend, dass der Lieferant weder die Echtheit der Unterschrift auf den Dokumenten noch die Bevollmächtigung der Person nachgewiesen habe, die diese Dokumente im Namen des Erwerbers unterzeichnet habe. In seinem Urteil verweist der Gerichtshof auf seine Vorjudikatur zum Grundsatz der Rechtssicherheit und hier insbesondere auf die Ausführungen in der Rechtssache Teleos. In seinen weiteren Ausführungen merkt der Gerichtshof an, dass die Behörde den Beweis der Echtheit der Unterschrift des Erwerbers ebenso wie die Vorlage einer Vollmacht erst im Rahmen der späteren Steuerprüfung gefordert hat. Es würde jedoch dem Grundsatz der Rechtssicherheit widersprechen, die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung mit der Begründung zu versagen, dass der Lieferant solche zusätzlichen Beweise bei einer späteren Kontrolle dieser Umsätze nicht vorgelegt habe, obwohl die von Traum zusammen mit der Steuererklärung vorgelegten Belege den nach den bulgarischen Rechtsvorschriften vorzulegenden Dokumenten entsprachen und zunächst von dieser Behörde auch als Nachweise für das Recht auf Befreiung akzeptiert wurden. Bezüglich der UID-Nummer des Erwerbers verweist der Gerichtshof auf seine Rechtsprechung, wonach eventuelle Unregelmäßigkeiten des Registers der Steuerpflichtigen nicht dazu führen, dem Wirtschaftsteilnehmer, der sich auf die Angaben in diesem Register gestützt hat, die Steuerbefreiung zu nehmen. Es widerspräche folglich dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Verkäufer allein deshalb zur Mehrwertsteuer heranzuziehen, weil die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Erwerbers rückwirkend aus dem Register gelöscht wurde. Konkret verweist der Gerichtshof darauf, dass die UID-Nummer in den von Traum vorgelegten Rechnungen enthalten und diese Angaben von der Steuerbehörde nach Prüfung in der MIAS-Datenbank 15 EuGH v. 9.10.2014 – C-492/13, ECLI:EU:C:2014:2267 – Traum.

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bestätigt wurden. Erst im Rahmen einer späteren Prüfung stellte die gleiche Behörde fest, dass es an einer gültigen UID-Nummer des Erwerbers fehlte. Unter diesen Umständen würde eine Versagung der Steuerbefreiung den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit widersprechen. 5. Rechtssache Netto Supermarkt16 Nach den Feststellungen des EuGH in der Rechtssache Netto Supermarkt ist die Steuerbefreiung für eine Ausfuhrlieferung auch dann anwendbar, wenn zwar die materiellen Voraussetzungen für eine derartige Befreiung nicht vorliegen, der Lieferant dies allerdings auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte, da die Ausfuhrnachweise vom Abnehmer gefälscht wurden. In Bezug auf den Grundsatz der Rechtssicherheit bestätigt der EuGH seine in der Rechtssache Teleos getroffenen Aussagen.

III. Analyse der Rechtsprechung des EuGH 1. Divergenz zwischen den Feststellungen zum Vorsteuerabzug und zur ­Steuerbefreiung bei Exportlieferungen Die vorstehend angeführten Urteile verdeutlichen, dass der Gerichtshof die Frage der Anwendbarkeit des Grundsatzes der Rechtssicherheit primär bei Sachverhaltskonstellationen zu prüfen hatte, bei denen von der Finanzbehörde zunächst ein bestimmtes Recht (z. B. Vorsteuerabzug, Steuerbefreiung) anerkannt wurde, jedoch die Behörde in der Folge ihre Rechtsansicht geändert und nachträglich Mehrwertsteuer vorgeschrieben hat. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Divergenz zwischen den Aussagen des Gerichtshofs in der Rechtssache Fatorie zur nachträglichen Versagung des Vorsteuerabzugs bei Reverse-Charge-Umsätzen einerseits und den Feststellungen zur nachträglichen Versagung der Steuerbefreiung bei Ausfuhr- und innergemeinschaftlichen Lieferungen in den Rechtssachen Santogal, Teleos, Netto Supermarkt und Traum andererseits. Demnach hat es der Gerichtshof in der Rechtssache Fatorie als mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar angesehen, wenn eine nationale Steuerbehörde eine Entscheidung, mit der das Vorsteuerabzugsrecht zunächst anerkannt wurde, innerhalb einer Ausschlussfrist wieder zurücknehmen und im Anschluss an eine erneute Prüfung das Recht auf Vorsteuerabzug versagen kann. Demgegenüber verbietet es jedoch im Allgemeinen der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass die Steuerbehörde nachträglich die Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung versagt, wenn diese die vom Lieferanten vorgelegten Unterlagen bereits geprüft und akzeptiert hat. Zur diesbezüglichen Einschränkung bei betrugsbehafteten Fällen siehe die nachfolgenden Ausführungen unter Punkt 3.

16 EuGH v. 21.2.2008 – C-271/06, ECLI:EU:C:2008:105 – Netto Supermarkt.

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Diese Differenzierung überrascht auf den ersten Blick insoweit, als in beiden Fällen die materiellen Voraussetzungen für das jeweilige Recht auf Steuerbefreiung bzw. Vorsteuerabzug nicht erfüllt (bzw. zumindest zweifelhaft) waren und es aufgrund der nachträglichen Prüfungshandlungen bei beiden Konstellationen zu einer Vorschreibung von Mehrwertsteuer gekommen ist. Diese unterschiedlichen Ergebnisse sind wohl im Kontext damit zu sehen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug bei den zu beurteilenden Reverse-Charge-Umsätzen bei Nichtvorliegen der materiellen Voraussetzungen jedenfalls zu versagen ist17, während nach der ständigen Rechtsprechung bei Ausfuhr- und innergemeinschaftlichen Lieferungen die Steuerbefreiung auch bei Fehlen der materiellen Voraussetzungen aus Gutglaubensschutzgründen anwendbar sein kann. Die genauen Hintergründe für die vorstehende Differenzierung bleiben jedoch insoweit unklar, als aus den Ausführungen im Urteil Fatorie nicht ersichtlich ist, was der Grund für die nachträgliche Prüfung durch die Steuerbehörde war bzw. über welche zusätzlichen Informationen die Behörde verfügte, welche eine nachträgliche Prüfung nach nationalem rumänischen Recht rechtfertigte. 2. Versagung der Steuerbefreiung bei Exportlieferungen Der Nachweis, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung für Ausfuhr- oder innergemeinschaftliche Lieferungen vorliegen, ist in der Praxis nach wie vor ein Dauerthema und führt oft zu Diskussionen im Rahmen von Betriebsprüfungen bzw. sonstigen Prüfungsmaßnahmen der Finanzverwaltung. Mit den Aussagen in der Rechtssache Santogal führt der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung fort und stellt klar, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Versagung der Steuerbefreiung entgegensteht, wenn ein Mitgliedstaat die vom Verkäufer als Nachweis für den Anspruch auf Steuerbefreiung vorgelegten Unterlagen bereits akzeptiert hat. Der Gerichtshof stellt ausdrücklich fest, dass bei der Beurteilung der Steuerbefreiung nicht nur das Verhalten des Lieferanten, sondern auch das der Behörde zu berücksichtigen ist. Die Ausführungen des Gerichtshofs zum Grundsatz der Rechtssicherheit bei grenzüberschreitenden Lieferungen bezogen sich bisher ausschließlich auf Fälle, bei denen von den Finanzbehörden nachträglich eine Steuerhinterziehung des Erwerbers festgestellt wurde. Die Aussagen des Gerichtshofs gelten vom Grundsatz her jedoch nicht nur für derartige Betrugsfälle, sondern sind u. E. bei sämtlichen nachträglichen Prüfungsmaßnahmen der Finanzbehörden zu beachten. Nur eine derartige Interpretation wird wohl den Feststellungen des EuGH zur Rechtssicherheit gerecht, wonach die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann. Den Ausführungen des EuGH kann nicht entnommen werden, dass es für die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Rechtssicherheit auf eine bestimmte Form der Prü17 Siehe allgemein zur Frage, ob einem gutgläubigen Abnehmer auch im Fall eines objektiv nicht gegebenen Anspruchs gestützt auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes der Vorsteuerabzug zu gewähren ist, Ruppe/Achatz, UStG, 5. Aufl., § 12 Rz. 97.

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fung ankommt. Aus der weiten Formulierung des EuGH kann der Schluss gezogen werden, dass nicht nur entsprechend den jeweiligen nationalen Verfahrensvorschriften durchgeführte formelle Betriebsprüfungen Rechtssicherheit begründen können, sondern vom Grundsatz her jegliche nachträgliche Prüfungsmaßnahmen der Finanzverwaltung. Insbesondere könnte vor diesem Hintergrund auch der Beantwortung von Auskunftsersuchen durch die Behörde eine entsprechende Bindungswirkung zukommen (und zwar insbesondere in jenen Fällen, in denen derartige Auskunftserteilungen nach den nationalen Verfahrensvorschriften nicht ohnehin verbindlichen Charakter aufweisen). Offen bleibt in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, welche inhaltlichen Prüfungsmaßnahmen von der Finanzverwaltung gesetzt bzw. welche Unterlagen den Finanzbehörden vom Lieferanten konkret übermittelt werden müssen, damit sich dieser auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen kann. Unseres Erachtens ist eine Berufung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit jedenfalls dann möglich, wenn der Lieferant der Behörde im Zuge einer von dieser durchgeführten Prüfungsmaßnahme Dokumente und Sachverhaltsinformationen übermittelt (oder die Behörde über derartige Unterlagen bereits aufgrund anderer Prüfungsmaßnahmen verfügt), welche die Behörde in die Lage versetzen, eine Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen der Ausfuhr- oder innergemeinschaftlichen Lieferungen vornehmen zu können. Dies wird üblicherweise dann der Fall sein, wenn der Lieferant der Finanzverwaltung neben der Rechnung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen auch die entsprechenden Transportdokumente (z. B. Transportnachweise wie CMR-Frachtbrief) bzw. bei Drittlandslieferungen die Zolldokumente vorlegt (z. B. Bescheinigung über Ausgang der Waren gemäß Art. 334 UZK-IA). Bei mehreren gleich gelagerten Lieferungen müsste es ausreichend sein, wenn der Lieferant die entsprechenden Dokumente exemplarisch für eine konkrete Lieferung übermittelt. 3. Einschränkung bei betrugsbehafteten Fällen a) Rechtsversagung bei Mehrwertsteuerbetrug und Missbrauch Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das Recht auf Vorsteuerabzug oder Inanspruchnahme einer Steuerbefreiung zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird, was insbesondere der Fall ist, wenn der Abgabepflichtige selbst eine Abgabenhinterziehung begeht. Demnach befindet sich ein Abgabepflichtiger, der eine Abgabenhinterziehung begangen hat, die insbesondere darin besteht, steuerbare Umsätze und damit zusammenhängende Einnahmen zu verheimlichen, nicht in einer Situation, die mit der Situation der Abgabepflichtigen vergleichbar ist, die ihre Verpflichtungen zu Aufzeichnungen, zur Erklärung und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer erfüllen.18 Gleiches gilt aber auch, wenn ein Abgabepflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer 18 N.N., EuGH: Schätzungsbefugnis bei Mehrwertsteuerbetrug, SWI 2017, 114.

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oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist. Denn in einer solchen Situation geht der Steuerpflichtige „den Urhebern der Hinterziehung zur Hand und macht sich ihrer mitschuldig“.19 Diesfalls ist der Abgabepflichtige als ein an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen.20 Damit sich der Wirtschaftsteilnehmer auf den Grundsatz der Rechtssicherheit überhaupt stützen kann, muss er in gutem Glauben handeln und alle Maßnahmen ergreifen, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einem Steuerbetrug führt.21 Ob dies der Fall ist, ist von den Gerichten bzw. Behörden der Mitgliedstaaten zu prüfen. Sollte das nationale Gericht zu dem Schluss gelangen, dass der betreffende Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern, müsste es ihm den Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagen. Bemerkenswert erscheinen in diesem Zusammenhang noch die Ausführungen des Generalanwalts in der Rechtssache R22, wonach auf den objektiven Charakter der Begriffe der innergemeinschaftlichen Lieferung und des innergemeinschaftlichen Erwerbs abzustellen sei, die unabhängig von Zweck und Ergebnis der betreffenden Umsätze anwendbar seien, weil jede andere Auffassung unmittelbar das Erreichen der Ziele der Übergangsregelung verhindern und die dieser zugrunde liegenden Grundsätze der Neutralität und der Territorialität sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzen würden. Demnach sei eine Verpflichtung der Finanzverwaltung, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln, unvereinbar mit den Zielen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, Rechtssicherheit zu gewährleisten und die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen dadurch zu erleichtern, dass, abgesehen von Ausnahmefällen, auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abgestellt wird. Der EuGH hat aber entschieden, dass weder die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Rechtssicherheit noch der Grundsatz des Vertrauensschutzes der Rechtsversagung entgegensteht, wenn ein Steuerpflichtiger sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt und das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet, weil er sich diesfalls nicht mit Erfolg auf diese Grundsätze berufen kann.23

19 VwGH v. 26.3.2014, 2009/13/0172 uHa EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04, ECLI:EU:C:2006:446 – Kittel und Recolta Recycling, Rz. 53 ff. 20 EuGH v. 6.7.2006 - C-439/04 und C-440/04, ECLI:EU:C:2006:446  – Kittel und Recolta Recycling, Rz. 56. 21 EuGH v. 14.6.2017 – C-26/16, ECLI:EU:C:2017:453 – Santogal M-Comércio e Reparação de Automóveis, Rz. 71. 22 Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalon vom 29.6.2010, Rs C‑285/09. 23 EuGH v. 7.12.2010 – C-285/09, ECLI:EU:C:2010:742 – R, Rz. 54.

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Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie

b) Steuerbetrug/Steuerhinterziehung/Mehrwertsteuermissbrauch Nach Definitionen für die verwendeten Begriffe sucht man im Unionsrecht vergeblich. Vielmehr kann man sich nur auf die Rechtsprechung des EuGH stützen, die zu vergleichbaren vorangegangenen Fällen ergangen ist. Die im Unionsrecht und der Rechtsprechung des EuGH verwendeten Begriffe „Steuerhinterziehung“, „Steuerbetrug“ und „Betrug“ sowie „Missbrauch“, „Steuerumgehung“, „Steuervermeidung“ und „Steuerflucht“ seien im Ergebnis als terminologische Synonyme zu verstehen.24 So liegt etwa der Rechtssache Optigen25 und Rechtssache Kittel26 in der französischen Verhandlungssprache der gleiche Begriff für die deutsche Übersetzung mit Mehrwertsteuerbetrug im Urteil Optigen und Mehrwertsteuerhinterziehung im Urteil Kittel zugrunde.27 Nach Rechtsprechung des EuGH setzt eine Steuerhinterziehung i. Z. m. Mehrwertsteuer zum einen voraus, dass der fragliche Umsatz trotz Einhaltung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis hat, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass sich aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ergibt, dass mit dem fraglichen Umsatz im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll.28 Eine verspätete Zahlung der Mehrwertsteuer kann für sich genommen aber nicht einer Steuerhinterziehung gleichgesetzt werden.29 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH stellt eine verspätete Zahlung der Mehrwertsteuer bei Fehlen eines versuchten Betrugs oder Schädigung des Haushalts des Staates nur einen formalen Verstoß dar, der das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht infrage stellen kann, sodass eine verspätete Zahlung für sich genommen nicht einer Steuerhinterziehung gleichgesetzt werden kann.30 Die Annahme einer Steuerhinterziehung i. S. d. EuGH-Rechtsprechung hat daher zur Voraussetzung, dass tatsächlich ein rechtswidriger Steuervorteil vorliegt und ein solcher im Wesentlichen bezweckt war. Wesentliche Tatbestandsvoraussetzung für die Annahme einer Steuerhinterziehung ist daher das Bewirken einer Verkürzung. Zudem darf es sich bei der Verkürzung nicht bloß um eine verspätete Zahlung handeln. Mitgliedstaaten sind aber etwa nicht daran gehindert, auch die Ausstellung unrichtiger Rechnungen als einen Versuch der Steuerhinterziehung zu behandeln.31 24 So etwa Bergmann, Steuerhinterziehungs- und Missbrauchsterminologie im europäischen Steuerrecht, SWI 2010, 447. 25 EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, ECLI:EU:C:2006:16 – Optigen u. a. 26 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04, ECLI:EU:C:2006:446  – Kittel und Recolta Recycling. 27 Vgl. Lohse, FS Reiss, 657. 28 EuGH v. 12.7.2012  – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458  – EMS-Bulgaria Transport OOD, Rz. 74. 29 EuGH v. 12.7.2012  – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458  – EMS-Bulgaria Transport OOD, Rz. 74. 30 EuGH v. 17.7.2017 – C-272/13, ECLI:EU:C:2014:2091 – Equoland, Rz. 39. 31 EuGH v. 3.3.2004 – C-395/02, ECLI:EU:C:2004:118 – Transport Service NV, Rz. 30.

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Rainer Brandl / Peter Pichler

Nach Rechtsprechung des EuGH können insbesondere die Nichtabgabe einer Mehrwertsteueranmeldung und das Nichtführen von Aufzeichnungen – ihre Abgabe bzw. ihr Führen würden die Mehrwertsteuererhebung und deren Kontrolle durch die Steuerbehörde ermöglichen – sowie die Nichtverbuchung der ausgestellten und der beglichenen Rechnungen die genaue Erhebung der Steuer verhindern und demzufolge das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems infrage stellen, sodass das Unionsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, solche Verstöße als Steuerhinterziehung anzusehen und in einem solchen Fall das Abzugsrecht zu versagen.32 Vor allem die Vorlage von Scheinrechnungen oder die Übermittlung unrichtiger Angaben sowie sonstige Manipulationen können in diesem Zusammenhang die genaue Erhebung der Steuer verhindern und demzufolge das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems infrage stellen.33 Andererseits geht nach Ansicht des EuGH die Ahndung der Nichtbefolgung der Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten durch den Steuerpflichtigen mit der Versagung des Abzugsrechts klar über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die ordnungsgemäße Befolgung dieser Verpflichtungen sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden, erforderlich ist, da das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, gegebenenfalls eine Geldbuße oder eine finanzielle Sanktion zu verhängen, die in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes steht.34 Eine solche Geldbuße oder finanzielle Sanktion muss betraglich wohl deutlich unter dem im Raum stehenden Vorsteuerbetrag liegen, um angemessen zu sein. Zusammengefasst wird man von einer Steuerhinterziehung im Sinne der EuGH-Rechtsprechung nur dann ausgehen können, wenn durch die konkrete Vorgehensweise Sinn und Zweck der Vorschrift verkannt oder verfehlt werden und eine Steuervermeidung vorliegt oder angestrebt wird. In Zusammenhang mit der Steuervermeidung wird man insbesondere fordern müssen, dass ein endgültiger rechtswidriger Steuervorteil bezweckt war, eine bloß verspätete Zahlung ist nicht ausreichend. c) Beteiligung an der Steuerhinterziehung in einer Lieferkette Während die Rechtsversagung bei demjenigen, der selber die Steuerhinterziehung begeht, noch relativ einfach festgemacht werden kann, ergeben sich zahlreiche Auslegungs- und Anwendungsschwierigkeiten in jenen Fällen, in denen ein Abgabepflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb oder seiner Lieferung an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist.

32 EuGH v. 28.7.2016 – C-332/15, ECLI:EU:C:2016:614 – Astone, Rz. 56. 33 EuGH v. 7.12.2010 – C-285/09, ECLI:EU:C:2010:742 – R, Rz. 48. 34 EuGH v. 9.7.2015 - C-183/14, ECLI:EU:C:2015:454 - Radu Florin Salomie, Rz. 63.

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Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie

Dieser weite mehrwertsteuerliche Beteiligtenbegriff35 ist wohl autonom anhand der vom EuGH aufgestellten Kriterien und nicht etwa nach österreichischen strafrechtlichen Grundsätzen (vgl. §§ 11 f. FinStrG) auszulegen. Wann tatsächlich vom Vorliegen eines betrugsbehafteten vor- oder nachgelagerten Umsatzes auszugehen ist, ist, soweit ersichtlich, nicht abschließend geklärt, insbesondere erscheinen die Anforderungen an eine Lieferkette noch völlig ungeklärt. Jedenfalls dürfte das so vom VwGH gesehen werden, der dazu folgende Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:36 „1. Ist die Steuerbefreiung nach Artikel 138 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem für ein innergemeinschaftliches Verbringen aus einem Mitgliedstaat zu versagen, wenn der dieses Verbringen in einen anderen Mitgliedstaat bewirkende Steuerpflichtige im anderen Mitgliedstaat zwar den mit dem innergemeinschaftlichen Verbringen zusammenhängenden innergemeinschaftlichen Erwerb erklärt, jedoch bei einem späteren steuerpflichtigen Umsatz mit den betroffenen Gegenständen im anderen Mitgliedstaat eine Steuerhinterziehung begeht, indem er zu Unrecht eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung aus diesem anderen Mitgliedstaat erklärt? „2. Ist für die Antwort auf die Frage 1 maßgeblich, ob der Steuerpflichtige im Zeitpunkt des innergemeinschaftlichen Verbringens bereits den Vorsatz gefasst hat, hinsichtlich eines späteren Umsatzes mit diesen Gegenständen eine Steuerhinterziehung zu begehen?“ Nach Ansicht des VwGH ist die Frage, in Bezug auf welchen Umsatz ein Steuerpflichtiger die Mehrwertsteuer selbst hinterzogen hat, und die Reichweite und die Auslegung der Begriffe, dass ein Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen oder mit einer Steuerhinterziehung verknüpft war, nicht ausreichend geklärt. Selbst das Schrifttum, das die Rechtsprechung des EuGH billigt, hält eine genauere Bestimmung für erforderlich, was unter einer „Lieferkette“ zu verstehen ist.37 Mit Spannung bleibt abzuwarten, ob vom EuGH im Rahmen der Fragebeantwortung eine weitere  – aus unserer Sicht jedenfalls erforderliche  – Präzisierung der bislang aufgestellten Kriterien erfolgt und damit insgesamt mehr an Rechtssicherheit gewonnen wird. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die Beantwortung der Fragen mit den bereits bekannten Stehsätzen erfolgt, verbunden mit dem Hinweis, dass der Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nicht befugt ist, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zu überprüfen oder zu würdigen und es daher Sache des nationalen Gerichts ist, alle Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände der Rechtssache umfassend zu beurteilen, um festzustellen, ob in gutem Glauben gehandelt und alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen wurden.

35 Dannecker in Leitner, Finanzstrafrecht 2014, 120. 36 Vgl. VwGH v. 29.6.2017, EU 2017/00041 (Ra 2016/16/0061). 37 Vgl. VwGH v. 29.6.2017, EU 2017/00041 (Ra 2016/16/0061) mwN.

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Rainer Brandl / Peter Pichler

IV. Zusammenfassung Der Grundsatz der Rechtssicherheit nimmt eine zentrale Stellung in der Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuer-Richtlinie ein. Von besonderer praktischer ­Relevanz sind die jüngsten Aussagen in der Rechtssache Santogal, wonach es der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet, dass die Steuerbehörde nachträglich die Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung versagt, wenn die Behörde die vom Lieferanten vorgelegten Unterlagen bereits zu einem früheren Zeitpunkt geprüft und akzeptiert hat. Soweit jedoch der Lieferant entweder selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen bzw. mit einer Steuerhinterziehung verknüpft war, kann sich dieser Steuerpflichtige nicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen und geht das Recht auf Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung (bzw. auch andere Rechte wie der Vorsteuerabzug) zwingend verloren. In diesem Zusammenhang ist auf das diesbezügliche Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs zu verweisen und bleibt zu hoffen, dass der EuGH im Rahmen der Fragebeantwortung die Reichweite und Auslegung seiner bisherigen Rechtsprechung präzisiert.

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Hannes Gurtner

Versandhandel von Gegenständen aus Drittländern in die EU Aufhebung der Einfuhrumsatzsteuerbefreiung bei ­gleichzeitiger ­Einführung der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA) zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und Mehrwertsteuerbetrug Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Derzeitige Rechtslage 1. Unionsrechtliche Grundlagen und ­nationale Umsetzung a) Mehrwertsteuer b) Zoll 2. Bestehende Probleme und Heraus­ forderungen in Bezug auf die aktuelle Rechtslage a) Wettbewerbsverzerrungen b) Mehrwertsteuerbetrug und Missbrauch c) Entgehende Mehrwertsteuer- und Zolleinnahmen d) Anreiz zur Verlagerung von Unternehmensstandorten III. Künftige Rechtslage 1. Grundsätzliche Überlegungen und Ziel der geänderten Rechtslage



2. Aufhebung der Einfuhrumsatzsteuerbefreiung 3. Einbindung von Internetplattformen, -portalen und elektronischen ­Marktplätzen in die Lieferkette 4. Einführung von Sonderregelungen für die Besteuerung a) Sonderregelung der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA) b) Sonderregelung der vereinfachten Modalitäten (idR für Post- und ­Kurierdienste) c) Standard (Regel)verfahren für ­Einfuhren

IV. Verbesserung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden

V. Umsetzung in nationales Recht und geplantes Inkrafttreten

VI. Resümee

I. Einleitung Aufgrund des veränderten Konsumverhaltens unter Einfluss von elektronischen Medien hat die Bedeutung des Online-Handel in den letzten Jahren erheblich zugenommen. So verzeichnete der Online-Handel zwischen Unternehmen und Verbrauchern (B2C) in den letzten fünf Jahren in Europa einen jährlichen Anstieg von 12 bis zu 22 %.1 Infolge zunehmender Automatisierung und stark ansteigendem E-Commerce 1 Vgl. Europäische Kommission, Assessment of the application and impact of the VAT exemption for importation of small consignments, Final report, Mai 2015, S.  2, 57 (59); Cross-­ border Research Association (CBRA), The import VAT and duty de-minimis in the European Union – Where should they be and what will be the impact?, Final report, 14. Oktober 2014, S. 7; Ecommerce Foundation, Global B2C E-commerce Report 2016, S. 52; Copenhagen Economics, E-Commerce imports into Europe: VAT and customs treatment, 4. Mai 2016, S. 2;

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Hannes Gurtner

fordern Wirtschaftsverbände und Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten eine Modernisierung der Mehrwertsteuer für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr im B2C Bereich. Für die Mehrwertsteuer und Importzölle bestehen in der Europäischen Union unter anderem Befreiungen zum Versandhandel von Gegenständen aus Drittländern oder Drittgebieten in die EU. Beim Kauf von Waren von Drittlands-Unternehmen bis zu einem bestimmten Warenwert profitieren diese von Einfuhrumsatzsteuer- und Zollbefreiungen. Im Gegensatz dazu sind vergleichbare europäische Waren mit bis zu 27 % Mehrwertsteuer belastet und somit im Wettbewerb benachteiligt.2 Zudem werden die Befreiungsregeln bei der Einfuhr in die EU oftmals durch niedrigere Wertangaben in illegaler Weise ausgenützt.3 Bereits 2015 hat die Europäische Kommission signalisiert, eine Strategie für den digitalen EU-Binnenmarkt zu erarbeiten, um die unionsrechtlichen Grundlagen an die geänderten Rahmenbedingungen anzupassen. Als Grundlage für eine adäquate Anpassung wurden gezielte Konsultationen von KMU und Kleinstunternehmen, eine öffentliche Konsultation zur Bewertung der ab 2015 geltenden Leistungsortregelungen bei bestimmten elektronischen Dienstleistungen und des Vereinfachungsverfahrens „Mini-One-Stop-Shop“ sowie eine Folgenabschätzung durchgeführt.4 Zudem liegt seit Mai 2015 der Abschlussbericht der Studie5 „Assessment of the application and impact of the VAT exemption for importation of small consignments“ vor. Die Studie wurde auf Anfrage der Europäischen Kommission durchgeführt, um die Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für betragsmäßig kleine Lieferungen in die EU zu bewerten. Für den vorliegenden Beitrag besonders relevant ist die Fragestellung ob und in welchem Ausmaß die MwSt-Befreiungsbestimmung mit einer Wettbewerbsverzerrung einhergeht. In der Folge veröffentlichte die Europäische Kommission Anfang Dezember 2016 eine Pressemitteilung6 samt dazugehörigem Fak­ tenblatt7, ein Arbeitspapier zur Bewertung der Auswirkungen8 und umfangreiche

Europäische Kommission, Factsheet – Aktualisierung der Mehrwertsteuer für den elektronischen Geschäftsverkehr Fragen und Antworten, 1. Dezember 2016. 2 Vgl. Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 51. 3 Vgl. Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 23. 4 Vgl. Europäische Kommission, Ein digitaler Binnenmarkt - Modernisierung der MwSt. für den grenzüberschreitenden elektronischen Handel, URL: https://ec.europa.eu/taxation_ customs/business/vat/digital-single-market-modernising-vat-cross-border-ecommerce_de, Abfrage November 2017; vgl. Europäische Kommission, Factsheet (Fn. 1). 5 Vgl. Europäische Kommission, Final report (Fn. 1). 6 Vgl. Europäische Kommission, Kommission schlägt neue Steuervorschriften zur Förderung des elektronischen Geschäftsverkehrs und vor Online-Unternehmen in der EU vor, 1. Dezember 2016. 7 Vgl. Europäische Kommission, Factsheet (Fn.1). 8 Vgl. Europäische Kommission, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen Zusammenfassung der Folgenabschätzung SWD(2016) 382 final; Europäische Kommission, Commis­ sion staff working document – Impact assessment, SWD(2016) 379 final, 1. Dezember 2016.

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Versandhandel aus Drittländern in die EU

Vorschläge9 zur Änderung von Richtlinien und Verordnungen im Hinblick auf die Abschaffung der MwSt-Befreiung. Im Arbeitspapier zur Bewertung von Auswirkungen wurden die Konsequenzen von sieben verschiedenen Optionen analysiert, wobei eine Variante bereits vor einer umfassenden Analyse verworfen wurde.10 Die Umsetzung der insgesamt als am geeignetsten ausgewählten Option soll erst nach Ablauf von 4 Jahren erfolgen, um den Beteiligten (Unternehmen aus Drittländern, Zollverwaltungen, Post- und Kurierdiensten) genügend Anpassungszeit zu ermöglichen.11 Die entsprechenden Vorschläge der EU-Kommission wurden schlussendlich vom Rat in seiner Sitzung am 5. Dezember 2017 angenommen12 und sind von den Mitgliedstaaten bis 1. Januar 2021 umzusetzen.

II. Derzeitige Rechtslage 1. Unionsrechtliche Grundlagen und nationale Umsetzung a) Mehrwertsteuer Nach Art. 143 Abs. 1 lit. b MwSt-RL ist ua die endgültige Einfuhr von Gegenständen mit geringem Wert, die in der Richtlinie 83/181/EWG des Rates geregelt ist, befreit. RL 83/181/EWG wurde inzwischen durch die Richtlinie 2009/132/EG des Rates vom 19. Oktober 2009 ersetzt. Nach Art. 23 der Richtlinie 2009/132/EG des Rates sind Einfuhren von Gegenständen, deren Gesamtwert 10 Euro nicht übersteigt, von der Steuer befreit. Die Mitgliedstaaten können jedoch Gegenstände von der Steuerbefrei 9 Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr.  904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungs­ behörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, COM(2016) 755 final; Vorschlag für eine Durchführungsverordnung des Rates zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr.  282/2011 des Rates zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuer­ system, COM(2016) 756 final; Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen, COM(2016) 757 final. 10 Vgl. Europäische Kommission, Commission staff working document (Fn. 8), S. 23 (26). 11 Vgl. Europäische Kommission (Fn. 1); Europäische Kommission (Hrsg), Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen - Zusammenfassung der Folgenabschätzung, SWD(2016) 382 final, 1. Dezember 2016, S. 3 (4). 12 Vgl. Richtlinie (EU) 2017/2455 des Rates vom 5. Dezember 2017 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen (ABl. L 348/7); Verordnung (EU) 2017/2454 des Rates vom 5. Dezember 2017 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. L 348/1); Durchführungsverordnung (EU) 2017/2459 des Rates vom 5. Dezember 2017 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 348/32).

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Hannes Gurtner

ung ausnehmen, die im Rahmen des Versandhandels eingeführt werden. Umgekehrt können Mitgliedstaaten Gegenstände deren Gesamtwert mehr als 10 Euro aber weniger als 22 Euro beträgt (und somit grundsätzlich steuerpflichtig wären) von der Steuer befreien.13 Alkoholische Erzeugnisse, Parfums und Toilettenwasser, Tabak und Tabakwaren sind jedoch gem. Art. 24 der Richtlinie 2009/132/EG des Rates zwingend von der Steuerbefreiung ausgeschlossen. Als Einfuhren gelten gem. Art. 2 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2009/132/EG des Rates Einfuhren iSd des Art. 30 der MwSt-RL14 sowie die Überführung in den freien Verkehr nach Anwendung eines der Verfahren nach Art. 157 Abs.  1 lit. a der Richtlinie 2009/132/EG oder eines Verfahrens der vorübergehenden Einfuhr oder eines Durchfuhrverfahrens. Hinsichtlich der Definition des für die MwSt-Befreiungsgrenze maßgeblichen „Gesamtwert“ diskutierte bereits im Jahr 2011 der europäische Mehrwertsteuer-Ausschuss, ob auch Nebenkosten (zB Verpackungs-, Transport- und Versicherungskosten) die gem. Art. 85 bis 87 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates in die Steuerbemessungsgrundlage dieser Waren einzubeziehen sind, von der Befreiung erfasst sind. Trotz des Diskussionsergebnisses, das mit großer Mehrheit – und zuletzt auch vom EuGH15 - bestätigt wurde, wonach derartige Nebenkosten bzw die hierfür erbrachten Nebenleistungen ebenso in die MwSt-Befreiung einbezogen werden sollen, wird dies in den Mitgliedstaaten überwiegend anders angewandt.16 Insofern Versandhandelslieferungen von geringem Wert aus Drittländern oder Drittgebieten in die EU MwSt-befreit sind, ist diese Befreiung nicht auf eine etwaige Weiterlieferung vom Einfuhrmitgliedstaat in den Bestimmungsmitgliedstaat anzuwenden, da diese gem. Art. 33 Abs.  2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates als vom Einfuhrmitgliedstaat aus versandt oder befördert gelten.17 Ebenfalls nicht unter die MwSt-Befreiung fällt eine Versandhandelslieferung vom Drittland oder Drittgebiet in die EU, wenn der Lieferant selbst Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer ist, weil sich dadurch der Ort der (an die Einfuhr folgenden) Lieferung gem. Art. 32 Abs. 2 MwStRL in die EU verlagert.18 13 Vgl. Richtlinie 2009/132/EG des Rates vom 19. Oktober 2009 zur Festlegung des Anwendungsbereichs von Artikel 143 Buchstaben b und c der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich  der Mehrwertsteuerbefreiung bestimmter endgültiger Einfuhren von Gegenständen (ABl. L 292/5), Artikel 23. 14 Vgl. Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347). 15 Vgl. EuGH v. 4.10.2017 – Rs. C-273/16 - Federal Express Europe Inc, Rz. 35. 16 Vgl. MwSt-Ausschuss, Leitlinien, die auf Sitzungen des MwSt-Ausschusses zurückgehen – Leitlinien aus der 93. Sitzung, Dokument D – taxud.c.1(2011)1212515 - 711, 1. Juli 2011, S. 153; Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 8 (9). 17 Vgl. MwSt-Ausschuss, Leitlinien, die auf Sitzungen des MwSt-Ausschusses zurückgehen – Leitlinien aus der 100. Sitzung, Dokument B – taxud.c.1(2014)1870542 – 798, 24.-25. Febru­ ar 2014, S. 176. 18 Vgl. Europäische Kommission, Final report (Fn.  1), S.  13: aA in Finnland, Lettland und Großbritannien.

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Versandhandel aus Drittländern in die EU

Die europarechtlichen Vorgaben im Zusammenhang mit der MwSt-Befreiung für die Einfuhr von Waren mit geringem Wert wurden mit § 6 Abs. 4 Z. 9 UStG in nationales Recht umgesetzt. Im österreichischen Umsatzsteuergesetz ist die Einfuhrumsatzsteuerbefreiung, wie in fast allen europäischen Ländern19, mit 22 Euro an der maximalen Obergrenze normiert, wobei keine Ausnahmeregelung für bestimmte Versandhandelslieferungen20 besteht. Das österreichische Umsatzsteuergesetz stellt darüber hinaus klar, dass die gem. Art. 23 und 24 der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates21 zollrechtlich vorgesehene Befreiung für Sendungen von Waren mit geringem Wert (dh Sendungen die EUR 150 nicht übersteigen) explizit nicht gilt (§ 6 Abs. 4 Z. 4 lit. a UStG). b) Zoll Auf europarechtlicher Ebene ist die korrespondierende zollrechtliche Befreiung für die Einfuhren von Sendungen mit geringem Wert in Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen geregelt, wobei ein Gesamtwert von 150 Euro als gering angesehen wird. Die Ausnahmebestimmung zu alkoholischen Erzeugnissen, Parfums und Toilettewasser, Tabak und Tabakwaren entspricht jener der mehrwertsteuerlichen Regelung. Abgesehen von Ausnahmen, wenden die EU-Staaten die Zollbefreiung selbst dann an, wenn Waren als Gruppen verpackt die 150 Euro-Grenze übersteigen, aber ihr Einzelwert darunter liegt.22 Die Einfuhr von Sendungen von Waren mit geringem Wert hat unmittelbar aus einem Drittland oder Drittgebiet an einen Empfänger in der Gemeinschaft zu erfolgen. Als Einfuhren gelten Einfuhren iSd des Art. 30 der Richtlinie 2006/112/EG, sowie die Überführung in den freien Verkehr nach Anwendung eines der Verfahren nach Art. 157 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2009/132/EG oder eines Verfahrens der vorübergehenden Einfuhr oder eines Durchfuhrverfahrens. Als zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet gelten gem. Art. 138 lit. f iVm Art. 141 Abs. 3 der delegierten Verordnung (EU) 2015/2466 der Kommission Waren in Postsendungen iSd Artikels 23 der Zollbefreiungsverordnung23, wenn für diese die erforderlichen Daten von den Zollbehörden angenommen werden. Im Ergebnis besteht die Zollbefreiung daher nicht automatisch, sondern setzt eine korrekte Anmeldung voraus. Als Standardverfahren zur Einfuhrabfertigung ist das Einheitspapier der Versandanmeldung („Single Administrative Document: SAD“) zu verwenden. Waren in Post­ sendungen die keinen Verboten oder Beschränkungen unterliegen und deren Wert 1000 Euro nicht übersteigt, können jedoch von einer Zollanmeldung mit reduziertem 19 Vgl. Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 8. 20 Wie zB in Frankreich oder Schweden. 21 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom 10. Dezember 2009 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 324). 22 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 (Fn. 21), Artikel 23; Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 6. 23 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 (Fn. 21), Artikel 23.

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Hannes Gurtner

Datensatz (Formular CN22 beziehungsweise CN23), wie in Anhang B der letztgenannten Verordnung beschrieben, begleitet werden.24 Die nationale Umsetzung der Zollbefreiung für Warensendungen von geringem Wert erfolgt in der Form, dass in §  1  Abs.  2 und §  86 Zollrechts-Durchführungsgesetz (ZollR-DG) schlicht auf die zollrechtlichen Vorschriften der Europäischen Union verwiesen. In Bezug auf das Zollabfertigungsverfahren ist anzumerken, dass im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten in Österreich über die unionsrechtlichen Erleichterungen hinaus keine weiteren Vereinfachungsregelungen vorgesehen werden. Zusammengefasst unterliegt die Einfuhr von Waren mit einem Wert zwischen 10 Euro (bzw bis zu 22 Euro) und 150 Euro aus dem Drittland oder Drittgebiet in die EU zwar der Einfuhrumsatzsteuer, jedoch werden keine Zölle eingehoben. 2. Bestehende Probleme und Herausforderungen in Bezug auf die aktuelle Rechtslage Durch das bestehende System, bei dem jährlich rund 150 Mio Pakete25 im Rahmen von Versandhandelslieferungen aus Drittländern oder Drittgebieten in die EU bis zu einem Wert von 22 Euro mehrwertsteuerfrei und bis zu einem Wert von 150 Euro zollfrei stattfinden, ergeben sich massive Verwerfungen und Probleme bzw Herausforderungen für EU-Unternehmen, Zoll- und Abgabenbehörden sowie die Gesellschaft selbst. a) Wettbewerbsverzerrungen Dadurch, dass Versandhandelslieferungen von Gegenständen mit geringem Wert aus Drittländern oder Drittgebieten in die EU mehrwertsteuerfrei und zollfrei stattfinden, verfügen Drittlands-Unternehmen im Vergleich zu Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten über einen Wettbewerbsvorteil, indem diese entweder um den MwSt-Betrag billiger anbieten können oder bei gleichen Endpreisen eine entsprechend höhere Spanne verzeichnen. EU-Unternehmen, die ihre Waren innerhalb der EU versenden, werden daher insoweit benachteiligt, da sie im Gegensatz zu Drittlands-Unternehmern ab dem ersten Eurocent ihres Umsatzes Mehrwertsteuer einpreisen oder entrichten müssen.26 So wurde auch nachgewiesen, dass Importe bestimmter Produkte wie Bücher, Glückwunschkarten, Schreibwaren, DVDs, Videospiele, Zeitungen und Zeitschriften die im Rahmen von Versandhandelslieferungen verkauft werden, stär-

24 Vgl. Delegierte Verordnung (EU) 2015/2466 der Kommission, Artikel 144; Bundesministerium für Finanzen, Zoll – Post & Internet, URL: https://www.bmf.gv.at/zoll/post-internet/ postsendungen.html, Abfrage November 2017; Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S.  17; Europäische Kommission, Das Einheitspapier der Versandanmeldung, URL: http:// ec.europa.eu/taxation_customs/business/customs-procedures/general-overview/single-­ administrative-document-sad_de, Abfrage November 2017. 25 Vgl. Europäische Kommission, Factsheet (Fn. 1). 26 Vgl. Europäische Kommission, Factsheet (Fn. 1).

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ker wachsen, als der jeweilige Inlandskonsum. Hinzukommt, dass EU-Unternehmen höhere Verwaltungsausgaben durch Steuererklärungsverpflichtungen aufweisen.27 b) Mehrwertsteuerbetrug und Missbrauch Wie die Europäische Kommission mehrfach festgestellt hat, wird mehr als die Hälfte28 der Lieferungen in die EU nicht oder nicht korrekt verzollt. Dies deckt sich auch mit einer Untersuchung von Copenhagen Economics, wonach rund die Hälfte aller Lieferungen in die EU durch Postdienstleister unrichtigerweise nicht verzollt wurden.29 So werden hochwertige Waren, wie etwa Mobiltelefone und Tablets trotz eindeutig höherem Wert als die Befreiungsgrenzen erlauben, bewusst mit einem geringen Wert deklariert oder falsch klassifiziert, um die Befreiungen in Anspruch nehmen zu können. Vergrößert wird dieses Problem durch die steigende Menge an Einfuhren und damit einhergehend relativ geringer werdender Kontrollen bei der Einfuhrabwicklung.30 Die bestehenden Regelungen eignen sich daher für massenhaften Mehrwertsteuerbetrug und Missbrauch. Hinzu kommt, dass Versandhändler aus dem Drittland oder Drittgebiet ihre Waren häufig über Online-Plattformen oder Marktplätze wie Amazon, Ebay, etc anbieten. Diese bieten den Versandhändlern die Möglichkeit, im Schutz der Plattformen ungehindert diese unlauteren Praktiken ohne Konsequenzen fortzusetzen. Aus diesem Grund wurden zuletzt auch immer mehr Stimmen laut, diese Plattformen im Rahmen von Haftungsregelungen mit in die Pflicht zunehmen, damit insgesamt eine korrekte Besteuerung dieser Versandhandelsumsätze sowie Wettbewerbsneutralität sichergestellt werden können.31 c) Entgehende Mehrwertsteuer- und Zolleinnahmen Durch die vorhandenen Befreiungen und zusätzlich durch die bereits erläuterten Betrugs- und Missbrauchsmöglichkeiten wird das Einnahmenpotential der EU und ihrer Mitgliedstaaten nicht umfänglich ausgenützt. Schätzungen der EU-Kommission zufolge verlieren die Mitgliedstaaten derzeit jährlich rd. 1 Mrd. Euro an Mehrwertsteuereinnahmen im Zusammenhang mit der aktuell bestehenden MwSt-Befreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen.32 Zusätzlich sind allenfalls entgehende Zolleinnahmen im Zusammenhang mit einer bewussten Angabe eines zu geringen Waren27 Vgl. Europäische Kommission, Commission staff working document (Fn. 8), S. 13. 28 So waren 65 % der Sendungen aus Drittländern im Rahmen von durchgeführten Käufen nicht mit den EU-Mehrwertsteuervorschriften konform. Vgl. Europäische Kommission, Factsheet (Fn. 1). 29 Vgl. Copenhagen Economics (Fn. 1), S. 4. 30 Vgl. Europäische Kommission (Fn. 6); Europäische Kommission, Factsheet (Fn. 1); Copenhagen Economics (Fn. 1), S. 4; Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 12, 23. 31 Vgl. FAZ vom 13. November 2017 „Amazon & Co. sollen für Steuerbetrug haften”; SPIEGEL ONLINE vom 22. Oktober 2017 „Umsatzsteuerbetrug Die Amazon-Oase“, URL: http:// www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/umsatzsteuer-wie-amazon-zur-hinterziehung-­ genutzt-wird-a-1171381.html, Abfrage: November 2017. 32 Vgl. Europäische Kommission, Ein digitaler Binnenmarkt (Fn. 4).

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wertes zu beachten, die laut der 2016 veröffentlichten Studie von Copenhagen Eco­ nomics33 mit einem potentiellen Betrag von rd. 250 Mio. Euro zu beziffern sind. d) Anreiz zur Verlagerung von Unternehmensstandorten Durch die unionsrechtlich geregelte Zoll- und MwSt-Befreiung und den – wie vorhin aufgezeigt – damit verbundenen Wettbewerbsvorteilen (Preisvorteil bzw höhere Spannen) besteht für Unternehmen ein Anreiz ihre Aktivitäten in Zusammenhang mit Versandhandelslieferungen von Waren mit geringem Wert in Länder außerhalb der Europäischen Union zu verlagern, um in Folge von diesem Vorteilen profitieren zu können. Beispielweise wird der Wettbewerb in Dänemark, Schweden und Großbritannien durch Unternehmen auf den Kanal- und Ålandinseln verzerrt, für Zentraleuropa werden Warensendungen oft auch von der Schweiz oder Gibraltar aus durchgeführt.34 Dass derartige Verlagerungen von Geschäftsaktivitäten weitere steuerpolitisch und volkswirtschaftlich unerwünschte Ergebnisse (Verlust von Arbeitsplätzen, Verlust von Ertrags- und Lohnsteuern, Verlust von Kaufkraft, etc) nach sich ziehen, ist nur logische Konsequenz.

III. Künftige Rechtslage35 1. Grundsätzliche Überlegungen und Ziel der geänderten Rechtslage Im Unterschied zur bestehenden Regelung werden künftig Versandhandelslieferungen von Drittländern oder Drittgebieten mit einem Sachwert bis zu 150 Euro zwar weiterhin zollfrei aber mehrwertsteuerpflichtig sein, wobei bis zu diesem Wert die Besteuerung der Einfuhr primär entweder (i) über die Sonderregelung der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA-System) oder (ii) über die Sonderregelung mit vereinfachten Modalitäten (idR für Post- oder Eilbotendienste) erfolgen kann. Wird keine der beiden Sonderregelungen in Anspruch genommen, kommen die allgemeinen Standardregelungen für die Einfuhr von Gegenständen zur Anwendung. Bei Warenlieferungen die den Sachwert von 150 Euro übersteigen, greift auch die entsprechende Zollbefreiung nicht mehr und ist hierfür das reguläre Verfahren zur Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer anzuwenden, sofern nicht eine Befreiung aus anderen Gründen zur Anwendung kommt. 2. Aufhebung der Einfuhrumsatzsteuerbefreiung Durch die Richtlinienänderung wird daher künftig die bisherige Befreiung für Kleinsendungen mit einem Wert bis 10 bzw 22 Euro vollständig aufgehoben. Technisch 33 Vgl. Copenhagen Economics (Fn. 1), S. 4. 34 Vgl. Europäische Kommission, Final report (Fn. 1), S. 45 (46), 60, 65 (67). 35 Vgl. Richtlinie (EU) 2017/2455 (Fn. 12); Verordnung (EU) 2017/2454 (Fn. 12); Durchführungsverordnung (EU) 2017/2459 (Fn. 12).

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erfolgt dies in der Form, dass mit Wirkung zum 1.1.2021 Abschnitt IV der Richtlinie 2009/132/EG, und somit die hier für Kleinsendungen relevanten Art. 23 und 24 dieser Richtlinie, gestrichen wird. In der Folge greift durch den Verweis auf die geänderte Richtlinie auch die Steuerbefreiung des Art. 143 Abs. 1 lit. b MwSt-RL36 insoweit ins Leere. 3. Einbindung von Internetplattformen, -portalen und elektronischen ­Marktplätzen in die Lieferkette Da ein Großteil der Versandhandelslieferungen im allgemeinen durch die Nutzung von elektronischen Schnittstellen, beispielsweise eines Marktplatzes, einer Plattform, eines Internetportals etc unterstützt und abgewickelt wird, hat der europäische Gesetzgeber mit einer interessanten Regelung aufhorchen lassen. Weil es insbesondere bei Fernverkäufen aus Drittlandsgebieten oder Drittländern zu erheblichen Mehrwertsteuerbetrug gekommen ist und sich die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer als unzureichend erwiesen hat, werden Steuerpflichtige, die Fernverkäufe von Gegenständen durch die Nutzung solcher elektronischer Plattformen oder Schnittstellen „unterstützen“, fiktiv in die Lieferkette einbezogen und so behandelt, als ob sie die Gegenstände selbst erhalten und geliefert hätten (Art. 14a Nr. 1 MwSt-RL n.F.). Eine genaue Definition was unter „unterstützen“ zu verstehen ist, ist derzeit in der Richtlinienänderung nicht geregelt. Die EU-Kommission denkt aber bereits an eine Präzisierung im Rahmen der Aufnahme von weiteren Regelungen in die Mehrwertsteuer-Durchführungsverordung (EU) 282/2011 nach.37 4. Einführung von Sonderregelungen für die Besteuerung a) Sonderregelung der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA) Nach Aufhebung der Steuerbefreiung sind Einfuhren von Kleinsendungen entsprechend dem allgemeinen Prozedere für Einfuhren dem Grunde nach mehrwertsteuerpflichtig. Um jedoch die neu geschaffene Besteuerung und deren Anwendung, trotz aufrechter Zollbefreiung, vor allem durch im Drittland oder Drittgebiet ansässige Unternehmer auch entsprechend sicherzustellen, werden Sonderregelungen für das Besteuerungsprozedere dieser konkreten Einfuhren geschaffen. In der MwSt-RL wird im Bereich der Sonderregelungen (Titel XII Kapitel 6) ein eigener Abschnitt 4 mit der Überschrift „Sonderregelung für Fernverkäufe von aus Drittländern oder Drittgebieten eingeführten Gegenständen“ eingeführt. In diesem Abschnitt werden  – abweichend vom allgemeinen Besteuerungsprozedere für Einfuhren – die Sonderregelungen für die Besteuerung im Wege der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA-System) normiert. Diese Option zielt darauf ab, und soll vor allem dann zur Anwendung kommen, wenn nach den Vereinbarungen der Parteien der Lieferant (Versandhändler) 36 Vgl. Richtlinie 2006/112/EG (Fn. 14). 37 Vgl. VAT Expert Group, 18th meeting, 5 February 2018, Working document VEG No 067.

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bzw. die elektronische Plattform als fiktiver Lieferant die Gegenstände einführt und zum Schuldner der Mehrwertsteuer wird. aa) Geltungsbereich der Sonderregelung (Umfasste Einfuhrlieferungen) In Art. 369l MwSt-RL wird einleitend in Absatz 1 ausgeführt, dass unter diese KEA-Sonderregelung künftig Fernverkäufe von aus Drittgebieten oder Drittländern eingeführte Gegenstände (nach der Definition gem. Art. 14 Abs. 2 Nr. MwSt-RL) – mit Ausnahme von Verbrauchsteuerpflichtigen Waren – in Sendungen, deren Sachwert 150 Euro38 nicht übersteigt, fallen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Gegenstände von aus Drittgebieten oder Drittländern in den Mitgliedstaat, in dem die Beförderung oder Versendung endet, direkt oder indirekt (über einen anderen Mitgliedstaat) eingeführt werden. Die Sonderregelung gilt jedoch nur bei Warenlieferungen an Privatpersonen (nichtsteuerpflichte Personen) oder Steuerpflichtige sowie nichtsteuerpflichtige juristische Personen, deren ig Erwerb nach Art. 3 Abs. 1 MwStRL nicht der Mehrwertsteuer unterliegt (idR also Schwellenerwerber sowie Diplomaten, konsularische Einrichtungen). bb) Persönliche Anwendungsvoraussetzungen Die KEA-Sonderregelung für die Besteuerung der Einfuhren darf gem. Art. 369m MwSt-RL von in der EU ansässigen Unternehmern oder Unternehmern mit Sitz39 in einem Drittland mit gegenseitigem Amtshilfeabkommen40, die Fernverkäufe von Drittgebieten oder Drittländern eingeführten Gegenständen machen, in Anspruch genommen werden. Sie kann aber auch von nicht in der EU ansässigen Unter­nehmern in Anspruch genommen werden, wenn sich diese durch einen in der Gemeinschaft ansässigen Vermittler (der zum Mehrwertsteuerschuldner und zur Erfüllung der Verpflichtungen im Namen und für Rechnung des Unternehmers benannt wird)41 vertreten lassen. Ähnlich wie bei dem bereits ab 2019 geplanten „zertifizierten Steuerpflich-

38 Lt. Ausführliche Erläuterung einzelner Bestimmungen des Vorschlages der EU Kommission ist „Der Sachwert … der Wert des Gegenstandes an sich und umfasst nicht die Versicherungs- und Frachtkosten“; Vgl. Europäische Kommission, Modernisierung der Mehrwertsteuer für den grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern (B2C), COM(2016) 757 final, 1. Dezember 2016, S.11. 39 Obwohl in Art 369m Nr 1 d) der deutschen Version der Richtlinien zur Änderung der MwSt-RL der Begriff „Sitz“ in einem Drittland verwendet wird, wird wohl wie auch in den Ausführlichen Erläuterungen einzelner Bestimmungen des Vorschlages und in der englischen Version der Richtlinienänderung ausgeführt, auf die „Ansässigkeit“ in einem Drittland abzustellen sein. 40 Mit dem die Union ein Abkommen über gegenseitige Amtshilfe geschlossen hat, dessen Anwendungsbereich der Richtlinie 2010/24/EU des Rates und der Verordnung (EU) Nr.  904/2010 ähnelt; die Kommission beabsichtigt hierzu eine entsprechende Liste der Drittländer festzulegen. Vgl. Art 369m Nr 1 Buchstabe c) und Nr 3 der MwSt-RL. 41 Vgl. Art 369l Nr 1 MwSt-RL.

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ten“42 soll für identifizierte Drittlands-Unternehmer hier als (weitere) Voraussetzung gelten, dass der Unternehmer als zuverlässiger Steuerzahler keine schwerwiegenden oder wiederholten Verstöße gegen zoll- und steuerrechtliche Vorschriften begangen hat, entsprechende interne Kontrollen und ein adäquates risk management sowie eine ausreichende Zahlungsfähigkeit nachweisen kann. Sofern der Steuerpflichtige die KEA-Sonderregelung in Anspruch nehmen möchte, muss er diese jedoch einheitlich auf alle in der EU ausgeführten Fernverkäufe anwenden (Art. 369m Nr. 1 letzter Satz MwSt-RL). cc) Steuertatbestand und Steueranspruch Der Steuertatbestand für die Besteuerung der Einfuhr nach der KEA-Sonderregelung tritt zum Zeitpunkt der Lieferung ein, wobei die Gegenstände zu dem Zeitpunkt als geliefert gelten, an dem die Zahlung angenommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt kann auch der Steueranspruch geltend gemacht werden (Art. 369n MwSt-RL). Der Zweck den Steuertatbestand und den Steueranspruch bei Anmeldung der Mehrwertsteuer im Rahmen der KEA-Sonderregelung eigens zu regeln, liegt darin, eine klare Abgrenzung zu erreichen, in welche periodische Mehrwertsteuererklärung die jeweilige Warenlieferung fällt.43 dd) Steuerbefreiung Wird die Mehrwertsteuer für die Warenlieferung nach der KEA-Sonderreglung angemeldet, sollte bei der Einfuhr selbst keine Mehrwertsteuer mehr erhoben werden um eine doppelte Besteuerung zu vermeiden. Dies erfolgt technisch durch die Einführung einer neuen Befreiungsbestimmung in Art. 143 Abs. 1 lit. ca MwSt-RL. Damit die Zollbehörden diese – unter die (zeitlich nachgelagerte) KEA-Sonderregelung fallenden – Sendungen bei der Einfuhr identifizieren können, ist aber erforderlich, dass im Zeitpunkt der zollrechtlichen Einfuhranmeldung den Zollbehörden bereits eine gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Lieferers oder des in seinem Auftrag handelnden Vermittlers für Zwecke der KEA-Sonderregelung (KEA-Identifizierung) vorliegt und bekannt gegeben wird. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die, aufgrund der Aufhebung der MwSt-Befreiung für Sendungen von geringem Wert aus Drittländern oder Drittgebieten, grundsätzlich steuerpflichtige Einfuhr erneut von der Mehrwertsteuer befreit wird, sofern für die (anschließenden) Warenlieferungen die Mehrwertsteuer über die KEA-Sonderregelung erklärt und abgeführt wird. Der Vorteil dieser Sonderreglung für die Versandhändler liegt somit darin, dass, sofern die Mehrwertsteuer für die Fernverkäufe im Rahmen dieser Regelung abgeführt wird, keine zeitaufwendigen Zollverfahren ausge-

42 Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr 904/2010 hinsichtlich des zertifizierten Steuerpflichtigen, COM(2017) 567 final, 4. Oktober 2017. 43 Vgl. Europäische Kommission, Modernisierung der Mehrwertsteuer (Fn. 38), S 12.

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löst werden (und die Waren somit ohne Zeitverlust mehr oder weniger direkt zum Kunden durchgewunken werden) und keine Einfuhrumsatzsteuer erhoben wird. ee) Administrative Verpflichtungen (1) KEA-Identifizierungen Damit der Unternehmer (Lieferant) oder ein in seinem Auftrag handelnder Vermittler die KEA-Sonderregelung in Anspruch nehmen kann, sodass die Einfuhr (erneut) steuerfrei gestellt werden kann, hat eine Identifizierung in einem EU-Mitgliedstaat zu erfolgen (Art 369l Nr 3 MwSt-RL). Ist der Unternehmer nicht in der Gemeinschaft ansässig, kann er einen Mitgliedstaat für seine Identifizierung frei auswählen. Hat der Unternehmer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit in der EU, dann ist die Identifizierung verpflichtend in diesem Mitgliedstaat durchzuführen. Hat der Unternehmer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nicht in der EU und gleichzeitig mehr als eine feste Niederlassung in der EU, kann er die Identifizierung in einem Mitgliedstaat, in dem eine feste NL besteht, auswählen. Hat der Vermittler den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit in der EU, dann ist die Identifizierung verpflichtend in diesem Mitgliedstaat durchzuführen. Hat der Vermittler den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nicht in der EU und gleichzeitig mehr als eine feste Niederlassung in der EU, kann er die Identifizierung in einem Mitgliedstaat, in dem eine feste Niederlassung besteht, auswählen. Vermittler die nicht in der EU ansässig sind und auch keine feste Niederlassung haben, können sich nicht identifizieren lassen und somit auch nicht die KEA-Sonderregelung in Anspruch nehmen. Gem. Art 369p MwSt-RL haben der Unternehmer oder ein in seinem Auftrag handelnder Vermittler den Namen, Postanschrift, E-Mail-Adresse und Websites sowie MwSt-Identifikationsnummer (oder nationale Steuernummer) dem Mitgliedstaat der Identifizierung mitzuteilen. Ein Vermittler muss zusätzlich eine Liste aller von ihm vertretenen Unternehmer, zusammen mit deren Postanschrift, E-Mail-Adresse und Websites sowie MwSt-Identifikationsnummer oder nationaler Steuernummer übermitteln. Des Weiteren besteht sowohl für den Unternehmer als auch den Vermittler die Verpflichtung, jegliche Änderung der übermittelten Angaben dem Mitgliedstaat der Identifizierung mitzuteilen. Eine explizite Frist ist hierfür in der Richtlinie zur Änderung der MwSt-RL nicht vorgesehen, sodass die Mitgliedstaaten innerhalb ihrer nationalen Verfahrensvorschriften frei sind und dies den Grundprinzipien zum Funktionieren des gemeinsamen MwSt-System nicht widerspricht. Für die Anwendung der KEA-Sonderregelung wird dem Unternehmer der sich selber identifizieren lässt oder seinem benannten Vermittler elektronisch eine eigene Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zugeteilt, die nur für Zwecke dieser Sonderregelung verwendet werden darf (KEA-Identifizierungsnummer). Wird ein Vermittler für mehrere Unternehmer tätig, so wird ihm für jeden Steuerpflichtigen, für den dieser 590

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Vermittler benannt ist, eine individuelle Nummer im Rahmen dieser KEA-Sonderregelung erteilt (Art. 369q MwSt-RL). Der Unternehmer oder sein Vermittler werden in der Folge in ein entsprechendes Register eingetragen. Der Unternehmer oder sein Vermittler werden aus dem Register gestrichen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, wiederholte Verstöße gegen die Sonderregelung vorliegen, keine entsprechenden Fernverkäufe mehr stattfinden oder in zwei aufeinanderfolgen Kalenderquartalen dieser nicht als Vermittler tätig geworden ist bzw die Streichung aus dem Register von ihnen selber beantragt wird (Art. 369r MwSt-RL). (2) Meldepflichten Der die KEA-Sonderregelung in Anspruch nehmende Unternehmer oder ein in seinem Auftrag handelnder Vermittler hat dem Mitgliedstaat der Identifizierung die Aufnahme und Beendigung seiner unter diese Regelung fallende Tätigkeit sowie diesbezügliche Änderungen die zum Wegfall der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme diese Sonderreglung führen auf elektronischem Weg zu melden (Art. 369o MwSt-RL). Wie auch bei der Meldepflicht der Daten im Zusammenhang mit der Identifizierung sehen die derzeitigen Regelungen keine Zeitspanne vor, innerhalb welche dieser Meldepflicht nachzukommen ist, sodass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer innerstaatlichen Verfahrensvorschriften Fristen vorgeben können solange diese im Einklang mit den Grundprinzipien des MwSt-System steht.44 (3) Abgabe von MwST-Erklärungen Der Unternehmer oder sein Vermittler, der diese KEA-Sonderregelung in Anspruch nimmt, hat im Mitgliedstaat in dem er identifiziert ist, für jeden Monat eine Mehrwertsteuererklärung elektronisch bis zum Ende des Monats nach Ablauf des Steuerzeitraumes (1 Monat) abzugeben. Dies unabhängig davon, ob er im entsprechenden Zeitraum Versandhandelslieferungen vom Drittland oder Drittgebiet aus getätigt hat, dh es sind auch „Nullmeldungen“ abzugeben. Mit dieser Abgabe der MwSt-Erklärung sind sämtliche Verpflichtungen für Zwecke der Mehrwertsteuer abgegolten und dürfen die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Verpflichtungen oder sonstige Formalitäten bei der Einfuhr verlangen (Art. 369s MwSt-RL). In der MwSt-Erklärung sind die individuell erteile KEA-Identifizierungsnummer sowie pro Mitgliedstaat des Verbrauches, dh Mitgliedstaat, in dem die hier relevanten Versandhandelslieferungen an Erwerber geendet haben, der Gesamtbetrag der geschuldeten Mehrwertsteuer, der Gesamtbetrag der geschuldeten Mehrwertsteuer aufgegliedert nach Steuersätzen, die anzuwendenden Mehrwertsteuersätze und die Gesamtsteuerschuld anzugeben. Sollten sich nach Abgabe einer Mehrwertsteuererklärung Änderungen ergeben, so sind diese spätestens innerhalb von drei Jahren nach Abgabe der ursprünglichen Erklärung in eine spätere Erklärung aufzunehmen. Vermittler müssen für jeden einzelnen von ihnen vertretenen Unternehmer eine eigene MwSt-Erklärung abgeben (Art. 369t MwSt-RL). 44 Vgl. zB EuGH v. 26.4.2017 – Rs. C-564/15 – Tibor Farkas, Rz. 59 und 60.

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Grundsätzlich sind in den MwSt-Erklärungen sämtliche Beträge in Euro anzugeben. Lediglich in jenen Mitgliedstaaten, die den Euro nicht eingeführt haben, kann von diesen verlangt werden, die MwSt in ihrer Landeswährung anzugeben. Bei einer allfälligen Umrechnung ist der veröffentlichte Umrechnungskurs der EZB vom letzten Tag des Steuerzeitraums (Monat) anzuwenden ist, wenn die Rechnungen vom Lieferanten nicht in Landeswährung ausgestellt wurden (Art. 369u MwSt-RL). (4) Aufzeichnungspflichten Jeder Unternehmer, der die KEA-Sonderregelung in Anspruch nimmt, ist verpflichtet entsprechende Aufzeichnungen über die maßgeblichen Umsätze in der Form und so ausführlich zu führen, dass die Steuerbehörden des Mitgliedstaates, in dem die relevanten Versandhandelslieferungen an Erwerber geendet haben, feststellen können, ob die Mehrwertsteuererklärung korrekt ist. Ein Vermittler hat die Aufzeichnungen dabei für jeden der von ihm vertretenen Unternehmer zu führen. Diese Aufzeich­ nungen sind sowohl dem Mitgliedstaat der Identifizierung als auch dem Mitgliedstaat des Verbrauches, dh Mitgliedstaat in dem die relevanten Versandhandelslieferungen an Erwerber geendet haben, auf Verlangen elektronisch zur Verfügung zu stellen und 10 Jahre aufzubewahren (Art. 369x MwSt-RL). (5) Zahlung der MwSt Der Unternehmer oder sein Vermittler haben die Mehrwertsteuer unter Hinweis auf die zugrundeliegende MwSt-Erklärung spätestens nach Ablauf der Frist, innerhalb die Erklärung abzugeben ist (dh innerhalb eines Monats nach Ablauf des Steuerzeitraumes (von einem Monat) auf ein vom Mitgliedstaat der Identifizierung bekannt gegebenes Euro-Konto zu entrichten. Soweit vom Mitgliedstaat der Identifizierung der Euro nicht eingeführt wurde, können diese vorschreiben, dass der Betrag auf ein auf ihre Landeswährung lautendes Bankkonto überwiesen wird (Art. 369v MwSt-RL). ff) Vorsteuerabzug (1) Vorsteuerabzug für Lieferer Auch wenn der liefernde Unternehmer im Mitgliedstaat des Verbrauches, dh Mitgliedstaat in dem die relevanten Versandhandelslieferungen an Erwerber geendet ­haben, zum Mehrwertsteuerschuldner wird und diese im Rahmen des KEA-System erklärt und entrichtet, hat er die mit diesen Versandhandelsumsätzen zusammenhängenden Vorsteuern im Rahmen des Vorsteuererstattungsverfahrens gem Richtlinie 2008/9/EG45 für in der EU ansässige Unternehmen bzw der Richtlinie 86/560/EWG46 45 Vgl. Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 44). 46 Vgl. Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern — Verfahren der Erstat-

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für Drittlands-Unternehmer geltend zu machen. Soweit der liefernde Unternehmer, der die KEA-Sonderregelung in Anspruch nimmt, im Mitgliedstaat der Identifizierung auch in Bezug auf andere Tätigkeiten zur Mehrwertsteuer erfasst ist, können die in diesem Mitgliedstaat angefallenen Vorsteuern für unter die KEA-Sonderregelung fallenden Tätigkeiten im Rahmen des allgemeinen Veranlagungsverfahrens geltend gemacht werden (Art. 369w MwSt-RL). b) Sonderregelung der vereinfachten Modalitäten (idR für Post- und ­Kurierdienste) Soweit nach den Vereinbarungen zwischen den Parteien zwar der Lieferant (Versandhändler) bzw. die elektronische Plattform als fiktiver Lieferant Schuldner der Mehrwertsteuer für die Einfuhren sein soll, dieser aber die Besteuerung nicht im Rahmen des KEA-Systems machen will oder mangels Voraussetzungen machen kann47, oder der Kunde (idR Privatperson) Schuldner der Mehrwertsteuer für die Einfuhren sein soll, soll ebenfalls zur Sicherstellung der Besteuerung der Einfuhr eine Vereinfachung in Form einer Sonderregelung eingeführt werden. In der MwSt-RL wird im Bereich der Sonderregelungen (Titel XII) ein eigenes Kapitel  7 mit der Überschrift „Sonderregelung für die Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer bei der Einfuhr“ eingeführt. Bei dieser Sonderregelung ist aber zu beachten, dass anders als bei der KEA-Sonderregelung nur die Besteuerung der Einfuhr geregelt wird, nicht aber auch die – allenfalls zusätzlich anfallende – Besteuerung der Warenlieferung im Fernumsatz selbst. aa) Geltungsbereich der Sonderregelung Diese Vereinfachung soll zur Anwendung kommen, wenn Gegenstände – mit Ausnahme von Verbrauchsteuerpflichtigen Waren – in Sendungen mit einem Sachwert von höchstens EUR 150 aus dem Drittland oder Drittgebiet eingeführt werden und die Mehrwertsteuer für die Warenlieferung nicht über das KEA-System abgeführt wird (Art. 369y MwSt-RL). bb) Persönliche Anwendungsvoraussetzungen Für diese Einfuhren sollten die Mitgliedstaaten es daher der Person, die die Gegenstände in der Gemeinschaft dem Zoll vorführt (in der Regel sind dies die Postbetreiber sowie Kurier- oder Eilbotendienste) erlauben, die für diese Sendungen anfallende Mehrwertsteuer für die Einfuhr elektronisch auf der Grundlage einer monatlichen

tung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 326). 47 Und somit auch die (erneute) Befreiung der Einfuhr nach Art 143 Abs.  1 Buchstabe ca MwSt-RL nicht greift.

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Erklärung im Namen der Person, für die die Gegenstände bestimmt sind, anzumelden und zu entrichten.48 Die Sonderregelung sieht somit zuerst vor, dass die Mehrwertsteuer für die Einfuhr zwar von der Person geschuldet wird, für die die Gegenstände bestimmt sind, führt aber weiters aus, dass die Person, die die Gegenstände dem Zoll vorführt, zuständig ist für die Erhebung bei der Personen, für die die Gegenstände bestimmt sind. So sollen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Person die die Gegenstände dem Zoll vorführt, auch geeignete Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Person, für die die Gegenstände bestimmt sind, den richtigen Einfuhrumsatzsteuerbetrag entrichtet. Die Sonderregelung zielt daher darauf ab, die Post- und Eilbotendienste zu Erfüllungsgehilfen bei der korrekten Erhebung der MwSt für die Einfuhr zu machen. cc) Anwendung des Normalsteuersatz Als weitere Vereinfachung ist vorgesehen, dass – sofern diese Option der MwSt-Entrichtung für die Einfuhr gewählt wird – nach Wahl des Mitgliedstaates der Normalsteuersatz des Mitgliedstaates der Einfuhr zur Anwendung kommt (Art 369za MwStRL). Wenn der Mitgliedstaat der Einfuhr nicht die systematische Anwendung der ermäßigten Steuersätze gemäß der Sonderregelung ermöglicht, sollte die Person, für die die Gegenstände bestimmt sind und somit Steuerschuldner für die Einfuhr ist, die Anwendung einer Standard-Zollanmeldung und somit die allgemeinen Regelungen für die Besteuerung von Einfuhren fordern können.49 dd) Administrative Verpflichtungen (1) Abgabe von MwSt-Erklärungen Die im Rahmen dieser Sonderregelung erhobene Mehrwertsteuer für Einfuhren soll in einer monatlichen MwSt-Erklärung elektronisch angemeldet werden, wobei aus der Erklärung der Gesamtbetrag der während des betreffenden Monats erhobenen Mehrwertsteuer hervorgeht (Art. 369zb Nr. 1 MwSt-RL). (2) Zahlung der Mehrwertsteuer Die in diesem Verfahren erhobene Mehrwertsteuer für die Einfuhren ist bis zum Ende des Monats nach der Einfuhr zu entrichten (Art. 369zb Nr. 2 MwSt-RL). (3) Aufzeichnungspflichten Ebenso hat die Person, die diese Sonderregelung in Anspruch nimmt, während eines vom Mitgliedstaat der Einfuhr zu bestimmenden Zeitraumes Aufzeichnungen über die Umsätze im Rahmen dieser Sonderregelung zu führen, die auf Verlangen elektro48 Vgl. Europäische Kommission, Modernisierung der Mehrwertsteuer (Fn. 38), S 13. 49 Vgl. 15. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2017/2455 (Fn. 12).

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nisch verfügbar gemacht werden müssen (Art. 369zb Nr. 3 MwSt-RL). Wie auch bereits im KEA-System haben in diesem System die Aufzeichnungen so ausführlich zu sein, dass die Steuerbehörden des Mitgliedstaates des Verbrauches, dh Mitgliedstaat in dem die relevanten Versandhandelslieferungen an Erwerber geendet haben, feststellen können, ob die erklärte MwSt korrekt ist. c) Standard (Regel)verfahren für Einfuhren i. die Besteuerung der Warenlieferung über die KEA-Sonderregelung bei gleichzeitiger Befreiung der Einfuhr oder ii. die Besteuerung der Einfuhr über die Sonderregelung der vereinfachten Modalitäten (idR für Post- und Kurierdienste) geltend gemacht, hat die Besteuerung der Einfuhr nach der allgemeinen Standardregelungen für die Einfuhr (vor allem gem. Art. 70 iVm Art. 85 und Art. 201 MwSt-RL) zu erfolgen, sofern nicht eine sonstige Befreiung gem. Art. 143 MwSt-RL zur Anwendung kommt.

IV. Verbesserung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden Damit die von der Kommission vorgeschlagenen und vom Rat angenommenen Änderungen zur Besteuerung der Einfuhr von Kleinsendungen, insbesondere bei der Mehrwertsteuerentrichtung über das KEA-System, funktionieren, wird auch die Verordnung des Rates Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer insoweit geändert und ergänzt. Im Wesentlichen betrifft dies den hierfür erforderlichen Austausch von Informationen, die Kontrolle von Umsätzen und den Steuerpflichtigen sowie der Übertragung von Durchführungsbefugnissen und den Zugang zu den gespeicherten Information für die Europäische Kommission. Hervorzuheben sind die Fristen, wonach der Mitgliedstaat der Identifizierung grundsätzlich innerhalb von 10 Tagen nach Ablauf eines Monats den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten die Angaben zur Identifizierung des Steuerpflichtigen sowie die diesen zugewiesene KEA-Identifikationsnummer elektronisch zu übermitteln hat (Art. 47b). Die im Rahmen des KEA-System eingegangenen Mehrwertsteuererklärungen sind spätestens 20 Tage nach Ablauf des Monats auf elektronischem Weg an die zuständigen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaates des Verbrauches weiterzuleiten (Art. 47d). Die Überweisung der eingegangenen Mehrwertsteuer hat spätestens 20 Tage nach Ablauf des Monats, in dem die Zahlung eingegangen ist, zu erfolgen (Art. 47f). Geregelt wird auch, dass die Zollbehörden bei der Einfuhr von Kleinsendungen die dem Unternehmer zugewiesene individuelle KEA-Identifikationsnummer prüfen 595

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und deren Gültigkeit Voraussetzung für die Befreiung bei der Einfuhr bzw die Anwendung der KEA-Sonderregelung ist (Art. 47h). In den Bestimmung der Art. 47i und j wird geregelt, dass zur Vermeidung unkoordinierter oder Mehrfachprüfungen die Koordinierung von behördlichen Ermittlung und Unternehmensprüfungen innerhalb des KEA-System durch den Mitgliedstaat der Identifizierung zu erfolgen hat. Dennoch wird einem Mitgliedstat des Verbrauches jedoch nicht der direkte Kontakt zu Unternehmen untersagt, wenn der Mitgliedstaat der Identifizierung eine Prüfung nicht für notwendig erachtet. Schlussendlich räumt die geplante Verordnung der Europäische Kommission einen automatischen Zugang zu (statistischen) Informationen (ausgenommen personenbezogene Daten) im Zusammenhang mit dem KEA-System ein, die in den einzelnen Systemen der Mitgliedstaaten gespeichert sind (Art. 47k) sowie die erforderlichen Durchführungsbefugnisse, damit sie festlegen kann, welche Daten in den Informationsaustausch hinsichtlich Identifizierung, Mehrwertsteuererklärungen, Mehrwertsteuerzahlungen, Ersuchen um Aufzeichnungen oder behördliche Ermittlung usw aufgenommen werden sollen (Art. 47l).

V. Umsetzung in nationales Recht und geplantes Inkrafttreten Insgesamt treten die neuen Regelungen (Abschaffung der Steuerbefreiung für die Einfuhren und Einführung von Sonderregelungen für die Besteuerung) ab dem 1. Januar 2021 europaweit in Kraft. Die Mitgliedstaaten sind daher verpflichtet, bis spätestens 31. Dezember 2020 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die erforderlich sind, um den jeweiligen Richtlinienbestimmungen nachzukommen. Die Mitgliedstaaten sind auch verpflichtet, der EU-Kommission den Wortlaut dieser nationalen Vorschriften unverzüglich mitzuteilen und müssen bei Erlass der Vorschriften entweder in den Vorschriften selbst oder bei der Veröffentlichung unmittelbar auf die Richtlinie Bezug nehmen.

VI. Resümee Die vom Rat der Europäischen Union beschlossenen Richtlinien- und Verordnungsänderungen sind zu begrüßen und helfen zweifelsohne die im Versandhandel bestehende Wettbewerbsverzerrung zu Gunsten der Anbieter von Waren aus Drittländern und Drittgebieten zu beseitigen und den damit verbundenen MwSt-Betrug teilweise einzuschränken. Dies wird sich im Ergebnis auf ein höheres Steueraufkommen für die Mitgliedstaaten auswirken, bedeutet aber auch eine Verteuerung für Konsumenten zum Schutz der Binnenwirtschaft. Im Hinblick auf die geplanten Änderungen haben die Reaktionen von Drittländern nicht lange auf sich warten lassen. So schaffte beispielsweise auch die Schweiz die analoge Befreiung für Warenlieferungen im Versandhandel mit 1.1.2018 ab. 596

Versandhandel aus Drittländern in die EU

Durch den erweiterten Anwendungsbereich des KEA-Systems versucht der europäische Gesetzgeber auch einen nächsten Schritt in Richtung definitives MwSt-System zu schaffen, wonach die Unternehmen zwar die MwSt des Bestimmungs-/Verbrauchslandes schulden, deren Abfuhr und Erklärung aber vereinfacht über die Finanzbehörde in Ihrem Ansässigkeitsland erfolgen soll. Dies soll zur Erweiterung der Akzeptanz des neuen KEA-Systems beitragen, dem im künftigen endgültigen MwSt-System die zentrale Rolle zukommen soll. Sofern die MwSt-Erklärung und Abfuhr jedoch nicht über das KEA-System gewählt wird oder möglich ist, soll vereinfachend die Abfuhr und Erklärung unter Einbindung der Post- und Kurierdienste erfolgen. Wird keine der beiden Optionen gewählt, bleibt nur die MwSt für die Einfuhr im Rahmen des allgemeinen Besteuerungsprozederes für Einfuhren durchzuführen. Interessant bleibt noch die Frage, wie sich bestehende nationale Sonderregelungen in Österreich (zB die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer gem. § 26 Abs. 3 UStG durch die Finanzämter) in Kombination mit den neuen Sonderformen auswirkt. So könnte es uU für einzelne Unternehmen vorteilhaft sein, die Einfuhr im Rahmen des bestehenden Systems nach § 26 Abs. 3 UStG abzuwickeln als eine Besteuerung nach der neuen Sonderregelung zu wählen. Zukünftig sind neben der Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben ins nationale Recht noch allfällige von der EU-Kommission bereits geplante Begleitmaßnahmen (zB durch Aufnahme weiterer Definitionen und Präzisierungen in die Mehrwertsteuer-Durchführungsverordnung (EU) 282/2011) abzuwarten.

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Nathalie Harksen

Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End? Die Umsatzbesteuerung von Reihengeschäften – ein ­Rechtsvergleich, insb. unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland und Österreich Inhaltsübersicht

I. Einführung



II. Das (europäische) Reihengeschäft III. Das Reihengeschäft im deutschen und österreichischen Recht – ein Rechtsvergleich 1. Die Definition des Reihengeschäftes a) Deutsche Sichtweise b) Österreichische Sichtweise 2. Die Zuordnung der Warenbewegung in einem Reihengeschäft a) Die Zuordnung der Warenbewegung nach deutschem Recht b) Die Zuordnung der Warenbewegung nach österreichischem Recht 3. Gesetzliche Neuregelung des Reihengeschäftes IV. Weitere ausgewählte Staaten







1. Belgien a) Definition des Reihengeschäftes b) Zuordnung der Warenbewegung c) Fazit 2. Luxemburg a) Definition des Reihengeschäftes und Zuordnung der Warenbewegung b) Fazit 3. Frankreich 4. Großbritannien, Spanien, Polen und Italien 5. Schweiz a) Definition b) Das Einfuhrreihengeschäft c) Das Ausfuhrreihengeschäft V. Ausblick

VI. Fazit

I. Einführung Ein Unternehmer DE mit Sitz in Münster/Deutschland veräußert Gegenstände an seinen Abnehmer AT in Linz/Österreich. AT veräußert dieselben Gegenstände an seinen Kunden NL in Amsterdam/Niederlande und weist DE an, die Gegenstände unmittelbar aus Münster nach Amsterdam zu transportieren. Eine solche Geschäftsabwicklung wird umsatzsteuerlich als Reihengeschäft bezeichnet; in der Praxis verbreitet ist allerdings auch die Bezeichnung als Strecken- oder Kettengeschäft. Logistisch führen Reihengeschäfte durch Verkürzung bzw. Vermeidung doppelter Warenbewegungen (vom ersten Lieferer zum Zwischenhändler und von diesem zum Endabnehmer) zu einer Vereinfachung der Geschäftsabwicklung und damit zu einer deutlichen Steigerung der Kosteneffizienz. Umsatzsteuerlich stellt die korrekte Beurteilung von Reihengeschäften aufgrund der Komplexität und der Lückenhaftigkeit der rechtlichen Bestimmungen für den am 599

Nathalie Harksen

Reihengeschäft beteiligten Unternehmer eine immense Herausforderung dar. Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL)1 enthält keine detaillierten Vorgaben zur Umsatzbesteuerung sog. Reihengeschäfte; vielmehr wird angenommen, die Besteuerung erfolge nach den allgemeinen Regelungen des Mehrwertsteuersystems.2 Mithin fehlt sowohl eine generelle Definition des Reihengeschäftes als auch eine Zuordnungsregelung zur Bestimmung der bewegten Lieferung und ruhenden Lieferung in einem Reihengeschäft; d.h., die Frage, auf der Grundlage welcher Kriterien die Zuordnung der Warenbewegung zu einer der Lieferungen in einem Reihengeschäft erfolgt, ist bislang unionsrechtlich ungeklärt. Dies ist vor dem Hintergrund der Steuerbefreiungsmöglichkeiten nur bei bewegten Lieferungen sehr unbefriedigend. Die MwStSystRL enthält lediglich allgemeine Regelungen zur Bestimmung des Leistungsortes für bewegte Lieferungen gem. Art. 32 Abs. 1 MwStSystRL und ruhende Lieferungen gem. Art. 31 MwStSystRL. Vor diesem Hintergrund enthalten die nationalen Umsatzsteuergesetze in der Regel3 keine Vorschriften zur Besteuerung von Reihengeschäften und die Mitgliedstaaten nehmen die Besteuerung von Reihengeschäften auf der Grundlage unterschiedlichster Kriterien vor, die innerhalb des Europäischen Binnenmarktes bislang nicht harmonisiert worden sind.4 Einigkeit besteht auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung lediglich bzgl. der Existenz und der grundsätzlichen Definition des Reihengeschäftes.5 Unterschiede sind hingegen bei der Zuordnung der Warenbewegung zu einer Lieferung in einem Reihengeschäft zu sehen. So gibt es Mitgliedstaaten, nach deren nationalem Recht die Transportveranlassung durch einen der am Reihengeschäft beteiligten Unternehmer einzig maßgebliches Kriterium zur Zuordnung der Warenbewegung in einem Reihengeschäft ist.6 Auf der anderen Seite sehen einige Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht überhaupt keine Regelungen zum Reihengeschäft vor und lösen derartige Fälle pragmatisch.7 Andere Mitgliedstaaten wiederum versuchen, eine Zuordnung auf der Grundlage der vom EuGH in der Rechtssache Euro Tyre aufgestellten Kriterien vorzunehmen.8 Ein Risiko stellt ein Reihengeschäft daher insb. unter dem Blickwinkel divergierender Interpretationsansätze in den Europäischen Mitgliedstaaten dar. Jeder Unternehmer ist – verständlicherweise – in der Praxis versucht, das Reihengeschäft aus dem Blickwinkel des jeweils nationalen Rechts zu beleuchten. Im Regelfall stellt sich die Frage nach der Betrachtung ausländischen Rechts so lange nicht, wie keine Komplikationen mit ausländischen Finanzbehörden bestehen. Ein Grundsatz 1 Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABlEU 2006, Nr. L 347/1. 2 EuGH, Urt. v. 16.12.2010 – Rs. C-430/09, EuroTyre Holding, Slg. 2010, I-13335. 3 Deutschland ist mit seiner Regelung in § 3 Abs. 6 Satz 5 D-UStG hier eher eine Ausnahme. 4 Vgl. dazu Bericht der EU VAT Group v. 13.1.2014; VEG No 029, Sub Groups Report – Chain Transactions. 5 Dazu unter Ziffer II. 6 Dies ist beispielsweise in Deutschland und in Belgien der Fall. 7 So beispielsweise in Frankreich und Schweden. 8 So beispielsweise in Polen und den Niederlanden.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

des europäischen Mehrwertsteuerrechts besteht allerdings darin, die Besteuerung einer Warenlieferung unbeeinflusst zu lassen von der Niederlassung der Beteiligten und diese ausschließlich von der physischen Lokalisierung der Waren abhängig zu machen.9 Im Rahmen einer europaweit einheitlichen Besteuerung von Lieferumsätzen sowohl am Abgangs- als auch am Bestimmungsort eines Gegenstandes ist es aber tatsächlich in der Praxis unerlässlich, sich nicht nur mit den bekannten nationalen umsatzsteuerrechtlichen Bestimmungen des Abgangs- (oder Bestimmungs)landes zu beschäftigen, sondern auch dem Recht des Landes Achtung zu schenken, in welchem die Gegenstände ankommen bzw. abgehen sowie bei Drittlandslieferungen des Landes, in welchem die Gegenstände ein- oder ausgeführt werden. Mithin ist sichere Kenntnis des Rechts diverser Europäischer Mitgliedstaaten unerlässlich – für den europäischen Unternehmer eine immense Herausforderung. Die von der Kommission eingerichtete VAT Expert Group führte 2014 eine Erhebung10 zur Frage der Zuordnung der Warenbewegung in einem Reihengeschäft in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch. Fall 1: Den Mitgliedstaaten wurde folgende Abwicklung zur Beurteilung vorgelegt: Es liefert Unternehmer A an Unternehmer B und dieser an Unternehmer C. Unternehmer C wiederum liefert an Unternehmer und Endabnehmer D bei ungeteilter Transportverantwortlichkeit und (zivilrechtlicher) Transportbeauftragung durch 1: Reihengeschäft nach der VAT Expert Group C. Abb. Im Ergebnis haben die europäischen Mitgliedstaaten die Warenbewegung auf der  Grundlage unterschiedlicher Kriterien unterschiedlichen Lieferungen zuge­ ordnet. Mal war die Transportveranlassung von Relevanz, mal war diese unbedeutsam.11

RE 2

RE 1

A (MS 1)

Lieferung 1

B (MS 2)

Lieferung 2

RE 3

C (MS 3)

Lieferung 3

D (MS 4)

https://circabc.europa.eu/faces/jsp/extension/wai/navigation/container.jsp

Abb. 1: Reihengeschäft nach der VAT Expert Group

Inhalt dieses Beitrags ist die rechtsvergleichende Auseinandersetzung mit der Rechtslage zum Reihengeschäft insbesondere in Deutschland und Österreich. 9 Kettisch, SWI 2015, 17 (25). 10 https://circabc.europa.eu/faces/jsp/extension/wai/navigation/container.jsp 11 Zu den Ergebnissen im Einzelnen vgl. den Bericht der EU VAT Group v. 13.1.2014; VEG No 029, Sub Groups Report – Chain Transactions.

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Nathalie Harksen

II. Das (europäische) Reihengeschäft Wie dargestellt, enthält die MwStSystRL keine Regelungen zum Reihengeschäft, da nach Auffassung des EuGH die Besteuerung nach den allgemeinen Regelungen des Mehrwertsteuersystems erfolgt12, so dass (bislang) eine ausdrückliche Regelung auf europäischer Ebene nicht für erforderlich erachtet wurde. Mithin sind weder eine gesetzlich niedergelegte europäische Definition des Reihengeschäftes noch Regelungen zur Besteuerung derselben vorhanden. Lediglich für den Sonderfall des innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäftes wurden mit der sog. Vereinfachungsrichtlinie13 erstmalig Vereinfachungsmaßnahmen vorgesehen, die durch Anpassung der Vorschriften über das Besteuerungssystem und der Bestimmung des Steuerschuldners für die betreffenden Umsätze zu einer einheitlichen Anwendung in den Mitgliedstaaten der EU führen. Diese Regelung findet sich heute in Art. 141 MwStSystRL. Hinsichtlich einer allgemeinen europäischen Definition des Reihengeschäfts lässt sich auf die Rechtsprechung des EuGH zurückgreifen. Erstmalig hatte sich der EuGH mit Urt. v. 6.4.2006 in der Rs. C-245/04 – EMAG14 zum Reihengeschäft und dessen Existenz geäußert – ohne allerdings den Begriff als solchen zu erwähnen. Ein Reihengeschäft liegt nach Auffassung des EuGH dann vor, wenn zwei aufeinanderfolgende Lieferungen, auch wenn sie nur zu einer einzigen Bewegung von Gegenständen führen, als eine Lieferung nach der anderen erfolgt anzusehen sind und diese Versendung oder Beförderung nur einer der beiden Lieferungen zugeordnet werden kann, die als einzige von der Mehrwertsteuer befreit sein kann. In der Rs. C-430/09 – Euro Tyre Holding15 hat der EuGH mit Urt. v. 16.12.2010 seine Definition des Reihengeschäftes wiederholt und sich zu der Frage geäußert, wie die Zuordnung der Warenbewegung zu einer Lieferung in der Reihe zu erfolgen hat. Er gelangte zu der Feststellung, dass die Bestimmung, welchem Umsatz die Beförderung oder Versendung zuzurechnen ist, um festzustellen, welche der beiden Lieferungen alle Voraussetzungen für eine innergemeinschaftliche Lieferung erfüllen, durch die nationalen Gerichte in Ansehung einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu erfolgen hat. Mit Urt. v. 27.9.2012, Rs. C-587/10 – VSTR16 hat er diese Auffassung bestätigt. Festhalten lässt sich damit, dass nach der Auffassung des EuGH zwei (oder mehrere) aufeinanderfolgende Lieferungen eines Gegenstandes auch dann als nacheinander erfolgt anzusehen sind, wenn eine unmittelbare Warenbewegung vom ersten Lieferan12 EuGH, Urt. v. 16.12.2010 – Rs. C-430/09, EuroTyre Holding, Slg. 2010, I-13335. 13 Richtlinie 92/11/EWG des Rates v. 14.12.1992 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG und zur Einführung von Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer, ­ABlEG 1992, Nr. L 384 v. 30.12.1992, S. 47 (52). 14 EuGH, Urt. v. 6.4.2010 – Rs. C-254/04, EMAG Handel Eder, Slg. 2006, I-3227. 15 EuGH, Urt. v. 16.12.2010 – Rs. C-430/09, EuroTyre Holding, Slg. 2010, I-13335. 16 EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-587/10, VSTR, DB 2012, 2436.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

ten zum letzten Abnehmer gegeben ist. Ferner hat er festgestellt, dass in jedem Reihengeschäft aufgrund eines Transportvorgangs lediglich eine warenbewegte Lieferung anzunehmen ist, welche als einzige von der Umsatzsteuer befreit sein kann. Um die Feststellung zu treffen, welche der Lieferungen als warenbewegte Lieferung anzusehen ist, ist eine umfassende Würdigung des Einzelfalles erforderlich – genauere Kriterien zur Zuordnung der Warenbewegung hat der EuGH bislang leider nicht aufgestellt. In seinem Urt. v. 26.7.2017, C-386/16 – Toridas17 hat er den Versuch unternommen, Kriterien für die Zuordnung der Warenbewegung herauszuarbeiten, und ist zu einem für den deutschen Rechtsanwender überraschenden Ergebnis gekommen. Zunächst hat der EuGH in seinem Urteil wiederholt klargestellt, dass zur Klärung der Frage, welcher der beiden Lieferungen die innergemeinschaftliche Beförderung zuzuordnen ist, eine umfassende Würdigung aller besonderen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen und insbesondere zu klären ist, zu welchem Zeitpunkt die zweite Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, zugunsten des Endabnehmers stattgefunden hat. Im streitgegenständlichen Fall hat der EuGH die Absichtsbekundung des mittleren Unternehmers gegenüber seinem Lieferungen dahingehend, dass die Waren unmittelbar an einen in einem dritten Mitgliedstaat niedergelassenen Steuerpflichtigen weiterverkauft werden, bevor sie aus dem ersten Mitgliedstaat ausgeführt und zum dritten Steuerpflichtigen befördert werden, als ausreichendes Kritierum dafür erachtet, die Warenbewegung der Lieferung an diesen letzten Abnehmer zuzuordnen. Er führt weiter aus, die mehrwertsteuerliche Erfassung des mittleren Unternehmers in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Ort der Erstlieferung oder des Enderwerbs befindet, sei weder ein Kriterium für die Einstufung als innergemeinschaftlicher Umsatz noch für sich genommen ein hinreichender Beweis für den innergemeinschaftlichen Charakter eines Umsatzes. Diese aktuelle Entscheidung des EuGH erinnert an die Entscheidung des fünften Senats des BFH aus dem Jahr 2011 – welche der elfte Senat des BFH im Jahre 2015 ausdrücklich für nicht anwendbar erklärt hatte.18 Insbesondere für den deutschen Rechtsanwender stellt sich daher die Frage, welche Schlüsse aus diesem Urteil des EUGH zu ziehen sind.19 Schlussendlich hat der EuGH mit Urt. v. 21.2.2018, Rs. C-628/16 – Kreuzmayr, DStR 2018, 461 entschieden, dass es keinen Vertrauensschutz in die Zuordnung einer Warenbewegung im Reihengeschäft mehr gibt.

III. Das Reihengeschäft im deutschen und österreichischen Recht – ein Rechtsvergleich Auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung lässt sich festhalten, wie man das Reihengeschäft im Grundsatz definiert und dass unionsweit Einigkeit darüber besteht, 17 EuGH, Urt. v. 26.6.2017 – Rs. C-386/16, Toridas, ECLI:EU:C:2017:599. 18 BFH, Urt. v. 3.8.2011 – V R 3/10, BFHE 235, 43. 19 Vgl. dazu Nieskens, DStR 2017, 1963.

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dass aufgrund einheitlichen Transportvorgangs und einmaligem Grenzübertritt bei grenzüberschreitenden Reihengeschäften lediglich eine Lieferung von der Umsatzsteuer befreit sein kann. In Ermangelung weiterer, eindeutig definierter, Kriterien bestehen weiterhin deutliche Unterschiede in der rechtlichen Beurteilung derartiger Geschäfte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, auf welche im Folgenden eingegangen wird. 1. Die Definition des Reihengeschäftes In Ermangelung einer unionseinheitlichen Definition des Reihengeschäftes stellt sich zunächst die Frage des Rückgriffs auf das einzelstaatliche Recht. Bereits an dieser Stelle bestehen eklatante Unterschiede in den verschiedenen Mitgliedstaaten, da Rechtsnormen zum Reihengeschäft eine Ausnahmererscheinung darstellen. a) Deutsche Sichtweise aa) Definition des Reihengeschäftes im deutschen Recht Im deutschen Umsatzsteuerrecht findet sich eine gesetzliche Regelung zum Reihengeschäft in § 3 Abs. 6 Satz 5 DE-UStG – allerdings auch hier ohne besondere Erwähnung des Begriffes selbst. Ein Reihengeschäft liegt dann vor, wenn „… mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte ab(schließen) und … dieser Gegenstand bei der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer (gelangt).“ Ein Reihengeschäft setzt nach der Legaldefinition des § 3 Abs. 6 S. 5 DE-UStG voraus, dass ȤȤ mind. drei Unternehmer untereinander ȤȤ Umsatzgeschäfte (Lieferungen, § 3 Abs. 1 DE-UStG) ȤȤ über denselben Gegenstand abschließen und dieser ȤȤ bei der Beförderung oder Versendung ȤȤ unmittelbar ȤȤ vom ersten Unternehmer zum letzten Abnehmer gelangt. bb) Die gebrochene Beförderung/Versendung In der Praxis nicht unüblich sind Gestaltungen, bei denen der Lieferer nur für eine Teilstrecke der Warenbewegung zuständig ist und (einer) der Abnehmer den Anschluss­transport ab der Übergabestelle bis zum endgültigen Bestimmungsort übernimmt. Bis Ende 2015 bestehende Zweifel an der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Steuerbefreiung in einer solchen gebrochenen Beförderung oder Ver604

Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

sendung sind durch das BMF-Schreiben v. 7.12.201520 zumindest zum Teil beseitigt worden. Die Verwaltung differenziert in diesem Zusammenhang zwischen Beförderung oder Versendung des Liefergegenstands durch beide am Liefervorgang beteiligte Unternehmer (bilaterale Umsatzgeschäfte) sowie durch mehrere beteiligte Unternehmer im Fall eines Reihengeschäfts gem. § 3 Abs. 6 Satz 5 DE-UStG. Im Fall bilateraler Lieferungen sind nach Auffassung der Verwaltung sowohl rein tatsächliche Unterbrechungen des Transports, die lediglich dem logistischen Fortgang des Transportvorgangs geschuldet sind, als auch die geteilte Transportverantwortung für die Annahme einer „Beförderung oder Versendung des Liefergegenstands bei der Lieferung“ und damit für die Entscheidung, ob eine Ausfuhrlieferung nach § 6 DE-UStG bzw. eine innergemeinschaftliche Lieferung nach § 6a DE-UStG vorliegt, unschädlich, wenn der Abnehmer zu Beginn des Transports feststeht und der liefernde Unternehmer nachweist, dass ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der Lieferung des Gegenstands und seiner Beförderung sowie ein kontinuierlicher Vorgang der Warenbewegung gegeben sind.21 Liegt ein Reihengeschäft vor, so unterscheidet die Verwaltung danach, ob es sich um eine sog. echte oder unechte gebrochene Beförderung oder Versendung handelt. Im Fall einer unechten gebrochenen Beförderung oder Versendung im Reihengeschäft (logistisch bedingte Transportunterbrechung bei einheitlicher Transportbeauftragung) sollen rein tatsächliche Unterbrechungen des Transports, die lediglich dem Transportvorgang geschuldet sind, für die Unmittelbarkeit der Warenbewegung und damit für die Annahme eines Reihengeschäfts unschädlich sein, wenn der Abnehmer zu Beginn des Transports feststeht (s. dazu Abschn. 3.12 Abs. 3 Satz 4 ff. UStAE) und der die Steuerbefreiung begehrende Unternehmer nachweist, dass ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der Lieferung des Gegenstands und seiner Beförderung sowie ein kontinuierlicher Vorgang der Warenbewegung gegeben sind. Bei einer echten gebrochenen Beförderung oder Versendung (geteilte Transportveranlassung) fehlt es hingegegen nach Auffassung der Finanzverwaltung an der für das Reihengeschäft erforderlichen Unmittelbarkeit der Warenbewegung (Abschn. 3.14 Abs. 4 Satz 1 UStAE). Unmittelbarkeit liege nur dann vor, wenn lediglich einer der am Reihengeschäft beteiligten Unternehmer den Gesamttransport beauftragt. Der Vorgang spalte sich damit in mehrere hintereinandergeschaltete und getrennt zu beurteilende Einzellieferungen auf.

20 BMF v. 7.12.2015 zur Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen und innergemeinschaftliche Lieferungen bei sog. gebrochener Beförderung oder Versendung  – III C 2 - S 7116a/13/10001, III C 3 - S 7134/13/10001, BStBl. I 2015, 1014 = UStB 2016, 13; vgl. dazu Harksen, UStB 2016, 43 ff. 21 So auch FG Sachsen v. 25.5.2011 – 6 K 2176/09, EFG 2011, 2112.

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Fall 222: Unternehmer CH aus Zürich bestellt bei dem in Österreich ansässigen Unternehmer AT Gegenstände zur Lieferung in die Schweiz. AT und CH vereinbaren als Lieferkondition „CPT Zürich Incoterms®2010“. AT hat die Gegenstände aber nicht vorrätig und bestellt sie bei dem deutschen Unternehmer Abb. Gebrochener Transport DE in2: Münster. DE und AT vereinbaren als Lieferkondition „FCA Flughafen Düsseldorf Cargo Terminal Incoterms®2010“. Ausweislich dieser Lieferkondition wird DE die Waren aus Münster zum Flughafen Düsseldorf bringen (lassen), wo sie in seinem Auftrag auf das von AT bestellte Flugzeug verladen werden. AT ist für die Luftfracht von Düsseldorf nach Zürich verantwortlich.

RE 2

RE 1

DE

Lieferung 1

AT

Lieferung 2

CH

Flughafen Düsseldorf

Abb. 2: Gebrochene Beförderung oder Versendung im Reihengeschäft

Lösung aus deutscher Sicht: Nach Auffassung der deutschen Finanzverwaltung stellt dieser Fall kein Reihengeschäft im Sinne von § 3 Abs. 6 Satz 5 DE-UStG vor. Vielmehr liegen zwei separat zu betrachtende warenbewegte Lieferungen vor. Die Lieferung des DE an den AT ist gem. § 3 Abs. 6 Satz 1 DE-UStG in Deutschland steuerbar und steuerpflichtig. Die Lieferung des AT an den CH ist ebenfalls gem. § 3 Abs. 6 Satz 1 DE-UStG im Inland steuerbar und unter den Voraussetzungen von §§ 4 Nr. 1 Buchst. a), 6 Abs. 1 DE-UStG als Ausfuhrlieferung von der Umsatzsteuer befreit. AT wird sich zu Umsatzsteuerzwecken in Deutschland registrieren lassen müssen. Zu einem anderen Ergebnis wäre man dann gelangt, wenn DE den gesamten Transport beauftragt hätte, aber aufgrund unterschiedlicher Transportmittel logistisch bedingte Transportunterbrechungen (am Flughafen in Düsseldorf) gegeben wären. In diesem Fall läge nach Auffassung der Verwaltung aufgrund lediglich unecht gebrochener Beförderung oder Versendung ein Reihengeschäft vor. AT würde sich nicht zu Umsatzsteuerzwecken in Deutschland registrieren lassen müssen. 22 In der Praxis würde man eine echte gebrochene Beförderung oder Versendung unter anderem daran erkennen, dass der erste Unternehmer an seinen Abnehmer zur Lieferkondition „FOB Hafen“ veräußert.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

b) Österreichische Sichtweise aa) Definition des Reihengeschäftes im österreichischen Recht Das österreichische Umsatzsteuergesetz (AT-UStG 1994) enthält ähnlich der MwStSystRL weder eine genaue Definition noch besondere Vorschriften zum Reihengeschäft.23 Reihengeschäfte sind daher in Österreich nach den allgemeinen Bestimmungen des Umsatzsteuergesetzes zu beurteilen.24 Zu diesen allgemeinen Bestimmungen gehören ȤȤ § 3 Abs. 7 AT-UStG 199425 zum Ort der ruhenden Lieferung ȤȤ § 3 Abs. 8 AT-UStG 199426 zum Ort der bewegten Lieferung ȤȤ § 3 Abs. 9 AT-UStG 199427 zum Ort der Einfuhrlieferung Ein Reihengeschäft liegt vor, wenn mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte abschließen, bei denen dieser Gegenstand im Rahmen der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer gelangt.28 Kennzeichnend für Reihengeschäfte ist somit, dass mehreren Umsatz- bzw. Verpflichtungsgeschäften nur eine einzige (physische) Warenbewegung gegenübersteht.29 Reihengeschäfte sind damit auch in Österreich als eine Aneinanderreihung mehrerer, zeitlich nacheinander ablaufender Lieferungen zu verstehen, auch wenn sie nur zu einer einzigen Bewegung von Gegenständen führen. Jede einzelne Lieferung in der Reihe muss hinsichtlich des Lieferortes und des Lieferzeitpunktes gedanklich nachei-

23 VwGH, Erkenntnis v. 25.6.2007, 2006/14/0107, Rz. 17. 24 VwGH, Erkenntnis v. 29.6.2016, 2013/15/0114/2013/15/0143, Rz. 17; Kettisch, SWI 2015, 17; Umsatzsteuerprotokoll 2012, Erlass des BMF v. 28.9.2012, BMF-010219/0163VI/4/2012, Frage 2; Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 230. 25 Eine Lieferung wird dort ausgeführt, wo sich der Gegenstand zur Zeit der Verschaffung der Verfügungsmacht befindet. 26 Wird der Gegenstand der Lieferung durch den Lieferer oder den Abnehmer befördert oder versendet, so gilt die Lieferung dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung an den Abnehmer oder in dessen Auftrag an einen Dritten beginnt. 27 Gelangt der Gegenstand der Lieferung bei der Beförderung oder Versendung an den Abnehmer oder in dessen Auftrag an einen Dritten aus dem Drittlandsgebiet in das Gebiet eines Mitgliedstaates, so ist diese Lieferung als im Einfuhrland ausgeführt zu behandeln, wenn der Lieferer oder sein Beauftragter Schuldner der bei der Einfuhr zu entrichtenden Umsatzsteuer ist. 28 UStR 2000, Rz.  450; Umsatzsteuerprotokoll 2014, Erlass des BMF v. 2.10.2014, BMF010219/0403-VI/4/2014, Ziffer 1.1.2; Umsatzsteuerprotokoll 2015, Erlass des BMF v. 22.10.2015, BMF-010219/0373-VI/4/2015, Ziffer 13.4; Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 226; Ruppe/Achatz, UStG4, § 3 Rz. 53; Kettisch, UR 2014, 593 ff. 29 Dupont, Reihen- und Dreiecksgeschäfte in Beispielen, 3. Aufl., Ziff. I.1; Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 226; Tumpel, UR 2004, 518 ff.

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nander betrachtet und einzeln bestimmt werden.30 Nur für einen Umsatz in der Reihe kann der Ort der Lieferung nach § 3 Abs. 8 AT-UStG bestimmt werden31; auch in Österreich wird diese Lieferung als die „bewegte Lieferung“ oder „Transportlieferung“ bezeichnet, die anderen Lieferungen als „ruhende Lieferungen.“32 Nur die sog. bewegte Lieferung kann als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei sein.33 Das AT-UStG in seiner Fassung bis zum 31.12.1996 sah in § 3 Abs. 2 allerdings folgende Regelung zum Reihengeschäft vor: Schließen mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte ab und werden diese Geschäfte dadurch erfüllt, dass der erste Unternehmer dem letzten Abnehmer in der Reihe unmittelbar die Verfügungsmacht über den Gegenstand verschafft, so gilt die Lieferung an den letzten Abnehmer gleichzeitig als Lieferung eines jeden Unternehmers in der Reihe (Reihengeschäft). Damit sollte die Lieferung an den letzten Abnehmer gleichzeitig als Lieferung eines jeden Unternehmers in der Reihe gelten. Sowohl der Lieferzeitpunkt als auch der Lieferort bestimmten sich damit im Reihengeschäft einheitlich für alle Lieferungen. Diese Sonderregelung und damit auch eine gesetzliche Begriffsdefinition des Reihengeschäfts sind ab 1997 entfallen. Definitionsgemäß sind auch nach österreichischer Auffassung an einem Reihengeschäft immer zumindest drei Personen (in der Regel Unternehmer) beteiligt, wobei die Anzahl der Beteiligten nach oben offen ist. Entscheidend ist, dass insgesamt, also über die ganze Kette der Beteiligten, die Voraussetzungen eines Reihengeschäftes erfüllt werden, also insbesondere nur eine einzige Warenbewegung unmittelbar vom ersten Lieferer zum letzten Abnehmer vonstattengeht.34 bb) Der sog. gemischte und gebrochene Transport im Reihengeschäft Ausweislich der Maßgabe des „unmittelbaren“ Transportes nach österreichischer Lesart des Reihengeschäftes ist auch in Österreich zu hinterfragen, welche Konsequenzen die Versendung der Gegenstände durch mehrere Frachtführer oder aber die Aufteilung der Transportverantwortlichkeit zwischen den Beteiligten des Reihengeschäftes hat. 30 VwGH, Erkenntnis v. 25.6.2007, 2006/14/0107 (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 6.4.2006, C-245/04, EMAG – hierzu Tumpel, UR 2004, 518 ff.); Umsatzsteuerprotokoll 2012, Erlass des BMF v. 28.9.2012, BMF-010219/0163-VI/4/2012, Frage 2; Zorn, SWK1994, A 557; Scheiner, ÖStZ 1997, 242 ff. 31 EuGH, Urt. v. 6.4.2006, C-245/04, EMAG, Rz. 47; Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 230. 32 VwGH, Erkenntnis v. 29.6.2016, 2013/15/0114, 2013/15/0143, RdW 2016, 583 mit Anm. Zorn; Ruppe/Achatz, UStG4, §  3 Rz.  65; Umsatzsteuerprotokoll 2012, Erlass des BMF v. 28.9.2012, BMF-010219/0163-VI/4/2012, Frage 2. 33 Schlussanträge der GAin Kokott v. 10.11.2005, C-245/05, EMAG, EuGHE 2006, I-3227, Rz. 31. 34 So Mayr/Weinzierl, SWK Spezial Reihen- und Dreiecksgeschäfte, Ziffer 3.1.1.1, S. 44.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

Gemäß oben genannter Definition liegt ein Reihengeschäft nur dann vor, wenn die Ware in einem einzigen Vorgang vom ersten Lieferer zum letzten Abnehmer in der Reihe transportiert wird. Das Reihengeschäft wird negiert, wenn mehrere Warenbewegungen vorgenommen werden oder die Warenbewegung nicht unmittelbar vom ersten Lieferer zum letzten Abnehmer erfolgt.35 In diesem Zusammenhang sind begrifflich der sog. gemischte und der gebrochene Transport voneinander abzugrenzen. Von einem gemischten Transport bzw. einer gemischten Güterbewegung spricht man nach österreichischer Auffassung dann, wenn die Warenbewegung in geteilter Transportverantwortung vom Lieferer und vom Abnehmer durchgeführt wird.36 In diesem Fall liegen nach bisheriger herrschender österreichischer Auffassung37 zwei getrennt zu beurteilende Vorgänge vor. 38 Fall 3:39 Ein Einzelhändler aus Bayern bestellt Gegenstände bei einem Großhändler in Wien. wird vereinbart, dass die Gegenstände vom Wiener Großhändler Abb.Es3: Gemischter Transport nur bis Salzburg (z.B. postlagernd oder zu einem vom Abnehmer beauftragten grenznahen Paketdienst) versandt werden. Von dort werden die Gegenstände einmal wöchentlich im Auftrag des bayrischen Einzelhändlers abgeholt.

RE

Händler Wien

Lieferung

Kunde Bayern

Salzburg

Abb. 3: Gemischter Transport 35 Mayr/Weinzierl, SWK Spezial Reihen- und Dreiecksgeschäfte, Ziffer 3.1.2.1, S. 54; Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 199; Gurtner/Pichler, SWK 2006, 788. 36 Mayr/Weinzierl, SWK Spezial Reihen- und Dreiecksgeschäfte, Ziffer 3.1.2.1, S. 59. 37 Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 199; Umsatzsteuerprotokoll 2010, Erlass des BMF v. 7.10.2010, BMF-010219/0247-VI/4/2010; Umsatzsteuerprotokoll 2006, Erlass des BMF v. 2.11.2006, BMF-010219/0424-VI/4/2006; zu bilateralen Transaktionen vgl. allerdings VwGH, Erkenntnis v. 27.4.2017, 2015/15/0026, Rz. 16 und 20. 38 Der VwGH bezeichnet diese Vorgänge in seinem Erkenntnis v. 27.4.2017, Ro 2015/15/0026 analog der deutschen Begrifflichkeit als „gebrochene Beförderung oder Versendung“. 39 Umsatzsteuerprotokoll 2010, Erlass des BMF v. 7.10.2010, BMF-010219/0247-VI/4/2010 zu Art. 7 Abs. 2 UStG 1994, S. 26.

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Lösung aus österreichischer Sicht: Sowohl aus § 3 Abs. 8 AT-UStG als auch aus Art. 7 AT-UStG 1994 sowie aus Art. 32 und Art. 138 MwStSystRL 2006/112/EG ergibt sich, dass entweder der Lieferer oder der Abnehmer (oder ein Beauftragter) die Ware befördert oder versendet. Demnach darf nur einer der beiden am Umsatzgeschäft Beteiligten – entweder der Lieferant oder der Abnehmer – für die mit diesem Umsatz konkret in Zusammenhang stehende Warenbewegung verantwortlich sein, andernfalls liegen zwei Warenbewegungen bzw. zwei Lieferungen vor. Insbesondere kann aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen nicht abgeleitet werden, dass auch dann eine innergemeinschaftliche Lieferung im Sinne des Art. 7 AT-UStG 1994 vorliegt, wenn der Lieferer die Ware bis zu einem bestimmten Punkt befördert und der Abnehmer sie anschließend versendet. Demzufolge liefert der Wiener Großhändler gem. § 3 Abs. 8 AT-UStG mit der Übergabe der Ware an das Beförderungsunternehmen und verschafft seinem Kunden damit die Verfügungsmacht. Diese Warenbewegung endet aber in Österreich, so dass es sich hier nicht um eine innergemeinschaftliche Lieferung im Sinne des Art. 7 Abs. 1 AT-UStG 1994 nach Deutschland, sondern um eine Inlandslieferung handelt. Diese Sichtweise ist für zweigliedrige Abwicklungen durch das Erkenntnis des VwGH v. 27.4.2017 revidiert worden. Hiernach liegen unter bestimmten Bedingungen auch bei gemischten Transporten steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen (und Ausfuhrlieferungen) vor.40 Österreichische Judikatur zu drei- oder mehrgliedrigen Transaktionen bei gemischten Transporten ist nicht existent. Von einer sog. gebrochenen Beförderung ist nach österreichischer Verwaltungsauffassung dann auszugehen, wenn einem Beförderungsunternehmer für eine Güterbeförderung über die gesamte Beförderungsstrecke ein Auftrag erteilt, bei der Durchführung der Beförderung jedoch mehrere Beförderungsunternehmer nacheinander mitwirken.41 Solange eine einzige, am Reihengeschäft beteiligte Person befördert oder versendet, ist es irrelevant, ob sie damit mehrere Frachtführer beauftragt, die jeder für sich einen Teil der Strecke zurücklegen, oder ob sie teilweise versendet und teilweise selbst befördert.42

40 VwGH, Erkenntnis v. 27.4.2017, 2015/15/0026, Rz. 16 und 20: „Sowohl bloß tatsächliche Unterbrechungen des Transports im Rahmen eines Transportvorgangs als auch eine gebrochene Beförderung oder Versendung (wenn sowohl der Lieferer als auch der Abnehmer in den Transport des Liefergegenstandes eingebunden sind, weil sie z.B. übereingekommen sind, sich – unabhängig von der Frage, wer Kosten und Gefahr trägt – den Transport des Liefergegenstandes an den Bestimmungsort zu teilen) sind für die Annahme einer Beförderung oder Versendung im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Z. 1 AT-UStG daher unschädlich, wenn der Abnehmer zu Beginn des Transports feststeht und der liefernde Unternehmer nachweist, dass ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der Lieferung des Gegenstandes und seiner Beförderung sowie ein kontinuierlicher Ablauf des Transportvorgangs gegeben sind (vgl. EuGH, Urt. v. 18.11.2010, Rs. C-84/09, X, Rz. 33 und 48).“ 41 UStR 2000, Rz. 3912d. 42 Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 199.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

Festzuhalten bleibt, dass ein sog. gemischter Transport, d.h. der Transport des Liefergegenstandes durch mehrere der am Reihengeschäft beteiligten Unternehmer, auch in Österreich zur Negierung des Reihengeschäftes und zur Annahme selbständiger Einzellieferungen führt, die ihrerseits individuell zu beurteilen sind. Gebrochene Beförderungen sind hingegen für die Annahme eines Reihengeschäftes unschädlich. Damit ist die Terminologie unterschiedlich, die rechtlichen Lösungen sind hingegen identisch. cc) Verschaffung der Verfügungsmacht Ferner ist für die Annahme eines Reihengeschäftes entscheidend, wem durch die Beförderung oder Versendung des Gegenstandes der Lieferung Verfügungsmacht an selbigem verschafft wird. Damit ein Reihengeschäft vorliegt, muss der Gegenstand im Rahmen der einmaligen Warenbewegung unmittelbar an den letzten Abnehmer in der Reihe gelangen. Fall 4:43 Ein Unternehmer in Slowenien (SLO) bestellt eine Maschine bei einem Schweizer Unternehmen (CH); CH bestellt diese Maschine beim Unternehmer in Österreich (AT), dieser wiederum beim Hersteller in Deutschland (DE). CH hat in Österreich keine Betriebsstätte, tritt jedoch mit österreichischer USt-IdNr. auf. DE versendet die Maschine an AT in dessen Lager in Österreich. Zwei Tage später veranlasst CH den Weitertransport der Maschine von diesem Lager aus an SLO.

Abb. 4: Gebrochener Transport mit vier Beteiligten

Da die Versendung der Maschine durch DE an AT in Österreich endet und CH davon unabhängig den Transport der Maschine von Österreich nach Slowenien veranlasst, steht unbestritten fest, dass keine einheitliche Warenbewegung aus Deutschland nach Slowenien vorliegt.

RE 2

RE 1

DE

Lieferung 1

AT

Lieferung 2

RE 3

CH

(USt-IdNr. AT)

Lieferung 3

SLO

Abb. 4: Gebrochener Transport mit vier Beteiligten

43 Entsprechend Umsatzsteuerprotokoll 2014, Erlass des BMF v. 2.10.2014, BMF-010219/0403VI/4/2014 zu § 3 Abs. 7 und 8 UStG 1994, S. 1.

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Lösung aus österreichischer Sicht: Mit der Versendung der Waren erbringt DE eine innergemeinschaftliche Lieferung an AT, für diesen ergibt sich daraus ein innergemeinschaftlicher Erwerb im Sinne des Art. 1 Abs. 1 AT-UStG 1994 in Österreich. Damit ein Reihengeschäft vorliegt, hätte die Maschine im Zuge dieser Warenbewegung und in Erfüllung der Liefervereinbarung zwischen AT und CH unmittelbar an den dritten Unternehmer CH gelangen müssen. Wenn dies nicht passiert, kann nicht vom Vorliegen eines Reihengeschäfts ausgegangen werden. Demgegenüber ist der zwei Tage nach ihrem Eintreffen in Österreich durch CH veranlasste Transport der Maschine an den endgültigen Abnehmer SLO im Rahmen eines Reihengeschäftes zwischen AT als erstem Lieferer, CH als erstem Abnehmer und SLO als letztem Abnehmer erfolgt. Voraussetzung hierfür ist, dass CH den Auftrag zum Warentransport anlässlich der Lieferung des AT an ihn erteilt hat und somit eine mit dieser Lieferung verbundene Beförderung oder Versendung durch CH als Abnehmer gegeben ist. Diesfalls liegt bei der Lieferung des AT an CH eine bewegte Lieferung im Sinne des § 3 Abs. 8 AT-UStG 1994 vor, die als innergemeinschaftliche Lieferung beim Vorliegen der in Art. 7 AT-UStG 1994 genannten Voraussetzungen steuerfrei ist. Dieser innergemeinschaftlichen Lieferung steht ein innergemeinschaftlicher Erwerb des CH in Slowenien gegenüber, da dort die Warenbewegung endet (Art. 40 MwStSystRL 2006/112/EG). Bei der anschließenden Lieferung des CH an SLO handelt es sich um die ruhende Lieferung im Rahmen dieses Reihengeschäfts, bei der sich der Lieferort an jenem Ort befindet, an welchem dem letzten Abnehmer SLO die Verfügungsmacht über die Maschine verschafft wird (§ 3 Abs. 7 AT-UStG 1994). Da CH bei der innergemeinschaftlichen Lieferung mit seiner österreichischen ­USt-IdNr. auftritt, bewirkt er zufolge Art. 3 Abs. 8 zweiter Satz AT-UStG 1994 einen weiteren innergemeinschaftlichen Erwerb in Österreich, der so lange besteht, bis er die Versteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs in Slowenien nachgewiesen hat, und bei dem die Erwerbsteuer nicht als Vorsteuer abgezogen werden kann. 2. Die Zuordnung der Warenbewegung in einem Reihengeschäft Wie bereits festgestellt, trifft das europäische Recht mangels legislativer Regelung keine Aussage zur Zuordnung der einmaligen physischen Warenbewegung zu einer der Lieferungen in einem Reihengeschäft. Auch der EuGH hat in seinen Entscheidungen bislang zu keiner praktisch unmittelbar in allen Mitgliedstaaten identisch umsetzbaren Lösung entschieden. Insofern ist auch in diesem Punkt ein Rückgriff auf das einzelstaatliche Recht bzw. einzelstaatliche Interpretationsansätze erforderlich. Entsprechend der durch den EuGH festgelegten Definition zum Reihengeschäft werden in einem Reihengeschäft so viele Lieferungen wie Umsatzgeschäfte ausgeführt und die einmalige physische Warenbewegung, d.h. die Beförderung oder Versendung, ist nur einer dieser Lieferungen in der Reihe zuzuordnen.44 Abhängig von der Zuord44 EuGH, Urt. v. 6.4.2010, Rs. C-254/04, EMAG Handel Eder, Slg. 2006, I-3227.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

nung der Warenbewegung zu einer Lieferung im Reihengeschäft ist die Frage der Inanspruchnahme der Steuerbefreiung  – diese ist aufgrund der Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Warenbewegung für deren Inanspruchnahme ausschließlich möglich für die warenbewegte Lieferung. a) Die Zuordnung der Warenbewegung nach deutschem Recht Gem. § 3 Abs. 6 Satz 5 DE-UStG ist bei Vorliegen eines Reihengeschäftes „… die Beförderung oder Versendung nur einer der Lieferungen zuzuordnen“. Nach derzeitiger deutscher Rechts- und Verwaltungsauffassung erfolgt die Zuordnung der Warenbewegung in einem Reihengeschäft ausschließlich auf der Grundlage der Transportveranlassung, d.h. entweder der Beförderung mit eigenem Fahrzeug oder aber der zivilrechtlichen Beauftragung der Versendung der Gegenstände.45 Es gilt nach derzeitiger deutscher Verwaltungsauffassung Folgendes: ȤȤ Befördert oder versendet der erste Unternehmer im Reihengeschäft den Liefergegenstand, so ist die Warenbewegung seiner Lieferung an den Ersterwerber zuzuordnen, Abschn. 3.14 Abs. 8 Satz 1 DE-UStAE. ȤȤ Erfolgt die Beförderung oder Versendung durch den Endabnehmer im Reihengeschäft, so ist die Warenbewegung der Lieferung an diesen letzten Unternehmer zuzuordnen. ȤȤ Wird der Gegenstand der Lieferung durch einen Abnehmer befördert oder versendet, der zugleich Lieferer ist (ein mittlerer Unternehmer im Reihengeschäft), ist die Beförderung oder Versendung gem. § 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 1 DE-UStG der Lieferung an ihn zuzuordnen, es sei denn, er weist nach, dass er den Gegenstand als Lieferer befördert oder versendet hat, § 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 DE-UStG. § 3 Abs.  6 Satz 6 Halbsatz 1 DE-UStG enthält insoweit eine gesetzliche Vermutung dahingehend, dass der Ersterwerber bei der Beförderung oder Versendung als Abnehmer der Vorlieferung und nicht als Lieferer an den letzten Abnehmer tätig wird. Diese Vermutung kann aber gem. § 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 DE-UStG bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen widerlegt werden.46 Der mittlere Unternehmer kann anhand von Belegen, z.B. durch eine Auftragsbestätigung, das Doppel der Rechnung oder andere handelsübliche Belege und Aufzeichnungen nachweisen, dass er als Lieferer aufgetreten und die Beförderung oder Versendung dementsprechend seiner eigenen Lieferung zuzuordnen ist (§ 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 DE-UStG). Hiervon kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn der Unternehmer unter der USt-IdNr. des Mitgliedstaates auftritt, in dem die Beförderung 45 Abschn. 3.14 Abs. 7–9 UStAE. 46 Nach Auffassung der Verwaltung gilt die Vermutung dann als widerlegt, wenn der Abnehmer eine inländische USt-IdNr. verwendet. Darüber hinaus wird indiziell insbesondere auf Lieferkonditionen und Lieferklauseln, sog. Incoterms®, abgestellt.

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oder Versendung des Gegenstands beginnt, und wenn er auf Grund der mit seinem Vorlieferanten und seinem Auftraggeber vereinbarten Lieferkonditionen Gefahr und Kosten der Beförderung oder Versendung übernommen hat. Den Anforderungen an die Lieferkonditionen ist genügt, wenn handelsübliche Lieferklauseln (z.B. Incoterms®) verwendet werden.47 Fall 5:48 Unternehmer ES aus Madrid bestellt eine Maschine bei dem Unternehmer DE 1 in Kassel. DE 1 bestellt die Maschine seinerseits bei dem Großhändler DE 2 in Bielefeld. DE 2 wiederum gibt die Bestellung an den Hersteller DE 3 in Dortmund weiter. DE 2 lässt die Maschine durch einen Transportunternehmer bei DE 3 abholen und sie von Dortmund unmittelbar nach Spanien transportieren. Dort übergibt sie der Transportunternehmer an ES. Alle Beteiligten treten Abb. 5: Reihengeschäft mit vierunter Beteiligtender USt-IdNr.  ihres Landes auf. Es werden folgende ­Lieferklauseln vereinbart: DE 2 vereinbart mit DE 1 „Lieferung frei Haus Madrid (Lieferklausel DDP Incoterms®2010)“ und mit DE 3 „Lieferung ab Werk Dortmund (Lieferklausel EXW Incoterms®2010)“. Die vereinbarten Lieferklauseln ergeben sich sowohl aus der Rechnungsdurchschrift als auch aus der Buchhaltung des DE 2.

RE 2

RE 1

DE 3

EXW Dortmund

DE 2

DDP Madrid

RE 3

DE 1

ES

Abb. 5: Reihengeschäft mit vier Beteiligten

Lösung aus deutscher Sicht: Bei diesem Reihengeschäft werden nacheinander drei Lieferungen (DE 3 an DE 2, DE 2 an DE 1 und DE 1 an ES) ausgeführt. Die Versendung kann in diesem Fall der zweiten Lieferung des DE 2 an DE 1 zugeordnet werden, da DE 2 als mittlerer Unternehmer in der Reihe die Maschine in seiner Eigenschaft als Lieferer versendet. Er tritt unter seiner deutschen USt-IdNr. auf und hat auf der Grundlage der Lieferklauseln DDP mit seinem Kunden und EXW mit seinem Vorlieferanten Gefahr und Kosten des Transports übernommen. Darüber hinaus kann DE 2 nachweisen, dass die Voraussetzungen für die Zuordnung der Versendung zu seiner Lieferung erfüllt sind. Der Ort der Lieferung liegt nach § 3 Abs. 6 Satz 5 i.V.m. Satz 1 DE-UStG in Deutschland (Beginn der Versendung). Die erste Lieferung DE 3 an DE 2 und die dritte Lieferung 47 Abschn. 3.8 Abs. 10 DE-UStAE. 48 Gem. Abschn. 3.8 Abs. 10 DE-UStAE.

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DE 1 an ES sind ruhende Lieferungen. Da die erste Lieferung der Versendungslieferung vorangeht, gilt sie nach § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 DE-UStG ebenfalls als in Deutschland ausgeführt (­Beginn der Versendung). Für die dritte Lieferung liegt der Lieferort nach § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 DE-UStG in Spanien (Ende der Versendung), da sie der Versendungslieferung folgt; sie ist daher nach spanischem Recht zu beurteilen. DE 1 muss sich demnach in Spanien steuerlich registrieren lassen. Die Registrierung von DE 2 in Spanien ist nicht erforderlich. Wie bereits kurz angesprochen, erfolgt die Zuordnung der Warenbewegung mangels unionseinheitlicher Regelung in den derzeit 28 Mitgliedstaaten der EU durchaus unterschiedlich. Den sich daraus ergebenden Herausforderungen umsatzsteuerlicher Natur ist die deutsche Finanzverwaltung mit einer im UStAE niedergelegten Kollisionsregelung entgegengetreten:49 Ist die Zuordnung der Beförderung oder Versendung zu einer der Lieferungen von einem an dem Reihengeschäft beteiligten Unternehmer auf Grund des Rechts eines anderen Mitgliedstaates ausnahmsweise abweichend von den Absätzen 7 bis 10 vorgenommen worden, ist es nicht zu beanstanden, wenn dieser Zuordnung gefolgt wird. Würde nun im Beispielsfall das spanische Umsatzsteuerrecht die Zuordnung der Warenbewegung nicht aufgrund der Transportverantwortung, sondern auf der Grundlage anderer Kriterien vornehmen, könnte dieser Zuordnung in Übereinstimmung mit der im UStAE niedergelegten Kollisionsregelung gefolgt werden. In der Praxis ist diese Möglichkeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung. b) Die Zuordnung der Warenbewegung nach österreichischem Recht Auch nach österreichischer Rechtsauffassung ist für die Zuordnung der Warenbewegung auf die Transportveranlassung als ausschließliches Zuordnungskriterium abzustellen.50

49 Abschn. 3.8 Abs. 19 UStAE. 50 A.A. Beiser, UR 2012, 222 ff. Nach Auffassung von Beiser ist für die Beurteilung von Reihengeschäften irrelevant, welcher der an der Transaktion beteiligten Unternehmer den Gegenstand befördert oder versendet. Vielmehr sei auf die Verwendung einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer abzustellen: Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie stellt weder beim Ort des innergemeinschaftlichen Erwerbs (Art. 40 bis 42 MwStSystRL) noch bei der Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen in Art. 138 MwStSystRL darauf ab, wer befördert oder versendet. Die Frage der Transportzurechnung ist in der systematischen Verknüpfung einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung im Abgangsmitgliedstaat mit einem innergemeinschaftlichen Erwerb im Zielmitgliedstaat nicht entscheidend: Verwendet der innergemeinschaftliche Erwerber die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer seines Zielmitgliedstaats, so darf sein Lieferant darauf vertrauen, dass der Liefergegenstand vereinbarungsgemäß in den Zielmitgliedstaat befördert oder versendet wird.

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aa) Transport durch den ersten Lieferer im Reihengeschäft Veranlasst der erste Lieferer im Reihengeschäft die Warenbewegung, ist die Lieferung dieses ersten Lieferers an seinen Abnehmer die bewegte Lieferung im Sinne des § 3 Abs. 8 AT-UStG 1994.51 Fall 6:52 Ein Unternehmer DE (Deutschland) bestellt 100 Tonnen Weizen bei AT 2, welcher den Weizen von AT 1 bezieht. AT 1 verkauft den Weizen an AT 2 und lässt diesen mittels Donauschiff von Österreich an DE nach Deutschland befördern. eine unmittelbare Warenbewegung von AT 1 an DE und somit ein ReiAbb.Liegt 6: Reihengeschäft mit drei Beteiligten hengeschäft vor?

Wenn ja, welche ist die bewegte Lieferung? Welche Rolle spielen Lieferkonditionen (Incoterms®) für den Lieferort?

RE 2

RE 1

AT 1

AT 2

DE

Abb. 6: Reihengeschäft mit drei Beteiligten

Lösung aus österreichischer Sicht: Ein Reihengeschäft liegt vor, wenn mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte abschließen, bei denen dieser Gegenstand im Rahmen der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer gelangt. Zu beachten ist, dass die Umsätze (gedanklich) zeitlich hintereinander stattfinden, der Ort der einzelnen Umsätze jeder für sich bestimmt werden muss und nur für einen Umsatz in der Reihe der Ort der Lieferung gem. § 3 Abs. 8 AT-UStG 1994 bestimmt werden kann.

51 Umsatzsteuerprotokoll 2013, Erlass des BMF v. 7.10.2013, BMF-010219/0342-VI/4/2013, Nr. 9, S. 19; Umsatzsteuerprotokoll 2015, Erlass des BMF v. 22.10.2015, BMF-010219/0373VI/4/2015, Ziffer 13, S. 36. 52 Umsatzsteuerprotokoll 2014, Erlass des BMF v. 2.10.2014, BMF-010219/0403-VI/4/2014 zu § 3 Abs. 7 und 8 UStG 1994, S. 5.

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Im gegenständlichen Fall gelangt der Weizen auf Grund der durch AT 1 veranlassten Warenbewegung unmittelbar an den letzten Abnehmer DE, so dass von einem Reihengeschäft ausgegangen werden kann. Da AT 1 als erster Lieferer die Warenbewegung veranlasst, ist die erste Lieferung, die Lieferung des AT 1 an AT 2, die bewegte Lieferung im Sinne des § 3 Abs. 8 AT-UStG 1994. Da die dabei stattfindende Warenbewegung von Österreich ausgehend in einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland) endet, liegt hier außerdem eine innergemeinschaftliche Lieferung vor, die unter den in Art. 7 AT-UStG 1994 genannten Voraussetzungen steuerfrei sein kann. Die innergemeinschaftliche Lieferung des AT 1 führt für AT 2 zu einem innergemeinschaftlichen Erwerb in Deutschland. Bei der nachfolgenden zweiten Lieferung des AT 2 an den letzten Abnehmer DE handelt es sich um die ruhende Lieferung, für die der Lieferort aus österreichischer Sicht nach § 3 Abs. 7 AT-UStG 1994 bestimmt wird, und die an jenem Ort als ausgeführt anzusehen ist, an welchem DE die Verfügungsmacht über den Weizen verschafft wird, somit am Bestimmungsort in Deutschland. Ende Falllösung Interessant und richtig sind die Ausführungen im Umsatzsteuerprotokoll 2014 zur Rolle der Incoterms® im Rahmen der Reihengeschäftsbesteuerung. So können die Incoterms® ­lediglich zur Feststellung des tatsächlich verwirklichten Sachverhaltes Berücksichtigung finden. Sie sind hingegen als zivilrechtliche Vereinbarungen zum Gefahren­übergang nicht geeignet, die Besteuerung zu beeinflussen.53 In der (deutschen) Praxis hingegen wird die Bedeutung der Incoterms® als Besteuerungsindikator maßlos überschätzt. bb) Transport durch den letzten Abnehmer im Reihengeschäft Holt der letzte Abnehmer in der Reihe den Liefergegenstand ab, ist die bewegte Lieferung der Lieferung seines unmittelbaren Vorlieferanten zuzurechnen. Diese Lieferung ist nach § 3 Abs. 8 AT-UStG an dem Ort steuerbar, an welchem die Beförderung oder Versendung beginnt. Die (ruhende) Lieferung an den Vorlieferanten bzw. etwaige weitere Vorlieferungen werden nach § 3 Abs. 7 AT-UStG dort ausgeführt, wo sich der Gegenstand zum Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht befindet; das ist am Beginn der Beförderung oder Versendung.54 cc) Transport durch den mittleren Unternehmer im Reihengeschäft In seiner Entscheidung v. 25.6.200755 bei Transport durch den mittleren Unternehmer ordnet der VwGH die Warenbewegung der Lieferung des ersten Unternehmers 53 So auch Ruppe/Achatz4, UStG, § 3 Rz. 33. 54 VwGH, Erkenntnis v. 29.6.2016, 2013/15/0114, 2013/15/0143, Rz.  19, RdW 2016, 583. Dazu auch Umsatzsteuerprotokoll 2012, Erlass des BMF v. 28.9.2012, BMF-010219/0163VI/4/2012, zu § 19 Abs. 1d und Art. 7 UStG 1994, S. 29. 55 VwGH, Erkenntnis v. 25.6.2007, 2006/14/0107.

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an den Zwischenerwerber zu (mit der Konsequenz, dass dieser bei an ihn ausgeführter innergemeinschaftlicher Lieferung einen innergemeinschaftlichen Erwerb bewirkt), wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die einer Zuordnung der innergemeinschaftlichen Warenlieferung zur Lieferung des Verkäufers an den Zwischenerwerber entgegenstehen.56 Fall 7:57 Ein belgischer Unternehmer (BE) bestellt bei einem niederländischen Unternehmer mit österreichischer USt-IdNr. (NL) Waren. NL wiederum bestellt diese Waren bei einem amerikanischen Unternehmer mit österreichischer USt-IdNr. (US). US bestellt diese Waren seinerseits bei dem österreichischen Produzenten AT. NL beauftragt und bezahlt den Spediteur, der die Waren bei AT abholt und direkt an BE versendet. NL behandelt seine Lieferung an BE als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung und fakturiert daher an BE ohne österreichische Umsatzsteuer. AT fakturiert an A2 mit 20% Umsatzsteuer; ebenso US an NL. Welchem Umsatz ist die bewegte Lieferung zuzurechnen?

GRAPHIK REIHENGESCHÄFT No. 7

RE 2

RE 1

AT

Lieferung 1

US

(USt-IdNr. AT)

Lieferung 2

RE 3

NL L

Lieferung 3

BE

Abb. 7: Reihengeschäft mit vier Beteiligten

Lösung nach österreichischem Recht: Bei Umsatzgeschäften, die von mehreren Unternehmern über denselben Gegenstand abgeschlossen werden und bei denen dieser Gegenstand im Rahmen der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer gelangt (Reihengeschäft), ist zu beachten, dass die Versendung oder Beförderung nur einer der Lieferungen zugeordnet wird. In seinen Urteilen vom 6.4.2006, Rs. C-245/04, EMAG, und vom 16.12.2010, Rs. C-430/09, Euro Tyre Holding BV, hatte der EuGH darüber zu entscheiden, welcher Lieferung bei einem Reihengeschäft, bei dem der mittlere Unternehmer für die Wa56 Vgl. dazu Umsatzsteuerprotokoll 2011, Erlass des BMF v. 28.9.2011, BMF-010219/0225VI/4/2011, S. 10. 57 Umsatzsteuerprotokoll 2011, Erlass des BMF v. 28.9.2011, BMF-010219/0225-VI/4/2011, zu § 3 Abs. 7 und Abs. 8 UStG 1994, S. 9.

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renbewegung verantwortlich zeichnet, die bewegte Lieferung zuzuordnen ist. In beiden Entscheidungen gibt der EuGH keine allgemeingültige Antwort. Insbesondere in der Entscheidung vom 16.12.2010, Rs. C-430/09, Euro Tyre Holding BV, vertritt er die Ansicht, dass eine solche Zuordnung anhand objektiver Kriterien und in Ansehung einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu erfolgen hat, wobei er im konkreten Fall die Zuordnung zur ersten Lieferung als gerechtfertigt erachtet. Der VwGH gelangt in seiner Entscheidung vom 25.6.2007, 2006/14/0107, zum Ergebnis, dass der Zwischenerwerber einen innergemeinschaftlichen Erwerb bewirkt, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die einer Zuordnung der innergemeinschaftlichen Warenbewegung zur Lieferung des Verkäufers an den Zwischenerwerber entgegenstehen. Im gegenständlichen Fall steht der konkrete Sachverhalt einer Zuordnung der bewegten Lieferung zur Lieferung des US an NL nicht entgegen. Daher ist in Anlehnung an die Judikatur des VwGH davon auszugehen, dass diesem Umsatz die bewegte Lieferung zuzurechnen ist und NL demzufolge einen innergemeinschaftlichen Erwerb in Belgien verwirklicht. Die Lieferung von AT an US ist als ruhende Lieferung gem. § 3 Abs. 7 AT-UStG in Österreich steuerbar und steuerpflichtig. Die Lieferung von US an NL ist gem. § 3 Abs. 8 UStG 1994 in Österreich steuerbar. US tätigt eine innergemeinschaftliche Lieferung, die vorerst jedoch nicht steuerfrei, sondern steuerpflichtig ist, da US ua. den Nachweis der Warenbewegung im Sinne des Art. 7 AT-UStG 1994 i.V.m. VO, BGBl. Nr. 401/1996 i.d.g.F., nicht erbringen kann. Außerdem kann er zunächst mangels belgischer USt-IdNr. des NL keine Zusammenfassende Meldung in Österreich abgeben. Ende Falllösung Somit ist nach österreichischer Auffassung die Warenbewegung bei Transport durch einen mittleren Unternehmer grundsätzlich der Lieferung an diesen Zwischenerwerber zuzuordnen; bei Vorliegen besonderer Umstände soll eine Zuordnung der Warenbewegung zur zweiten Lieferung möglich sein.58 Aus den österreichischen UStR, Rz. 450 ergibt sich die Möglichkeit zur Verlagerung der Warenbewegung in die Lieferung des transportierenden Zwischenerwerbers an seinen Abnehmer allerdings nicht. Mithin stellt sich die Frage, was die „besonderen Umstände“ sind, die der VwGH in seinem Erkenntnis aus dem Jahr 2007 angesprochen hat. Wie sich dem oben dar­ gestellten Beispiel entnehmen lässt, führt die Verwendung einer USt-IdNr. des Abgangslandes Österreich (NL war im Besitz einer solchen) nicht zur Annahme besonderer Umstände, da die Warenbewegung dennoch der Lieferung des US an den NL zugeordnet worden ist.59 58 Schwab, ÖStZ 2014, 32. 59 So auch Pernegger in Melhardt/Tumpel, UStG, § 3 Rz. 251.

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Ein generelles Wahlrecht zur Übertragung der Warenbewegung in die Lieferung eines tranportierenden mittleren Unternehmers an seinen Abnehmer ist in Österreich nicht bekannt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Erkenntnis des BFG v. 30.11.201760, in welchem das Gericht zur Frage der Besteuerung im Reihengeschäft bei Transport durch einen mittleren Unternehmer zu entscheiden hatte. Gegenstand dieses Verfahrens war ein Reihengeschäft zwischen einem österreichischen Lieferanten AT, einem kanadischen Erstabnehmer CA und diversen Endabnehmern innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Die Warenlieferung erfolgte durchweg unmittelbar vom Standort des AT an die Kunden des CA, wobei CA den Transport ausführen ließ. CA war für Umsatzsteuerzwecke in Österreich registriert und trat unter dieser Steuernummer gegenüber AT auf. AT war das Endbestimmungsland bzw. der finale Entladeort bekannt. Aufgrund der durch CA verwandten österreichischen USt-IdNr. rechnete AT gegenüber CA unter gesondertem Ausweis österreichischer Umsatzsteuer ab. Das BFG betont in seinem Erkenntnis erneut, dass sowohl nach österreichischer, aber auch deutscher Verwaltungspraxis die Transportverantwortlichkeit weiterhin als Besteuerungskriterium heranzuziehen ist. Unter Heranziehung der Entscheidung des EuGH in Sachen Toridas sei dieses allerdings nicht alleine maßgeblich. So soll die Absicht des mittleren Unternehmers, die Waren an einen weiteren Abnehmer zu veräußern, genauso mitentscheidend sein, wie das Auftreten unter entweder der USt-IdNr. des Abgangs- oder derjenigen des Bestimmungslandes. So führt im streitgegenständlichen Fall die Verwendung einer österreichischen USt-IdNr. des mittleren Unternehmers nicht zur Erwerbsbesteuerung nach Art. 41 MwStSystRL in Österreich, sondern zur Annahme, die Warenbewegung sei der Lieferung des mittleren Unternehmers an den letzten Abnehmer zuzuordnen. Angesichts der Tatsache, dass die Zuordnung der Warenbewegung nach österreichischer Auffassung auch dann der Lieferung an einen mittleren Unternehmer zuzuordnen sein sollte, wenn dieser mit einer österreichischen USt-IdNr. auftrat, bleibt abzuwarten, ob die österreichische Rechtsauffassung künftig eine § 3 Abs. 6 S. 6, 2. Halbsatz DE-UStG vergleichbare Rechtslage schafft. Dies wäre wünschenswert, denn in der Vergangenheit führte diese Abweichung zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Besteuerung in Deutschland und Österreich. 3. Gesetzliche Neuregelung des Reihengeschäftes Wie sich der unterschiedlichen Auffassung zum Reihengeschäft in der deutschen Rechtsprechung61 entnehmen lässt, besteht selbst innerhalb eines deutschen Bundesgerichts eine unterschiedliche Beurteilung desselben Sachverhaltes. Obgleich das deutsche Mehrwertsteuerrecht in § 3 Abs. 6 Satz 5 und 6 DE-UStG gesetzliche Rege60 BFG, Erkenntnis v. 30.11.2017, RV/2101122/2016, ECLI:AT:BFG:2017:RV.2101122.2016. 61 BFH, Urt. v. 11.8.2011 – V R 3/10: Die Absichtsbekundung des mittleren Unternehmers soll maßgeblich sein für die Zuordnung der Warenbewegung, und BFH, Urt. v. 25.2.2015 – XI R 15/14 und XI R 30/13: Es kommt auf die Befähigung an, wie ein Eigentümer über die Ware verfügen zu können; entscheidend ist daher, wer vor Grenzübertritt „Verfügungsmacht“ am Liefergegenstand hat; die Umstände des Einzelfalls entscheiden.

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lungen zum Reihengeschäft vorsieht und zur Besteuerung im Reihengeschäft maßgeblich auf die Transportveranlassung62 abgestellt wird, hat der 11. Senat des BFH in den beiden jüngsten Urteilen63 zum Reihengeschäft den Transportauftrag nicht (mehr) als zentrales Kriterium für die Zuordnung der Warenbewegung zu einer Lieferung gesehen. Nach Aussage des BFH in den beiden Urteilen sei die bewegte Lieferung vielmehr auf der Grundlage der Gesamtumstände des Einzelfalls zu bestimmen. Maßgebliches Kriterium sei dabei der Zeitpunkt, zu dem der letzte Abnehmer Verfügungsmacht an der Ware erhalte. Im Rahmen der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls sei darauf abzustellen, ob die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, in einem Dreiparteien-Reihengeschäft (A – B – C) durch den Ersterwerber (B) auf den Zweiterwerber (C) stattgefunden habe, bevor der Gegenstand der Lieferung das Inland verlassen hat. Interessant ist insbesondere, dass diese Grundsätze nach Auffassung des BFH auch dann zur Anwendung kommen sollen, wenn nicht der mittlere Unternehmer, sondern der letzte Abnehmer C den Transport der Ware durchführt oder beauftragt. Auch hier ist entscheidend, wann er Verfügungsmacht an der Ware erhalten hat. Der Bundesrat hatte mit Blick auf die oben genannten Urteile des BFH in seiner Stellungnahme zum Steueränderungsgesetz 201564 darum gebeten, möglichst noch für das laufende Gesetzgebungsverfahren eine Klarstellung der Regelungen für Reihengeschäfte in § 3 Abs. 6 Satz 5 und 6 UStG dergestalt vorzusehen, dass auch künftig eine rechtssichere Zuordnung der Warenbewegung im Reihengeschäft möglich ist. Dies begründete der Bundesrat wie folgt: § 3 Absatz 6 Satz 5 und 6 UStG regelt die Zuordnung der Warenbewegung in dem Fall, dass mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte abschließen und der Gegenstand unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer gelangt (sog. Reihengeschäft). Die Frage, welcher Lieferung die Warenbewegung zuzuordnen ist, spielt insbesondere beim grenzüberschreitenden Handel eine entscheidende Rolle, da nur für die bewegte Lieferung eine Steuerbefreiung als innergemeinschaftliche Lieferung oder als Ausfuhrlieferung in Betracht kommen kann. Zudem richtet sich die Ortsbestimmung und somit letztlich die Zuordnung des Besteuerungsrechts für die Lieferungen wesentlich nach der Zuordnung der Warenbewegung. Um eine praxisgerechte Umsetzung dieser Regelung zu ermöglichen, stellt die Verwaltung bisher bei der Zuordnung der Warenbewegung auf von allen Beteiligten einfach 62 Die deutsche Finanzverwaltung hat bisher als zentrales Kriterium für die Zuordnung der bewegten Lieferung die Transportbeauftragung angesehen und indiziell die zwischen den Beteiligten vereinbarten Lieferkonditionen (Incoterms®) und die Verwendung der UStIdNr. des Abgangslandes als Auslegungsmaßstab herangezogen. 63 BFH, Urt. v. 25.2.2015 – XI R 30/13, DB 2015, 842 und XI R 15/14, DB 2015, 901. Vgl. dazu ausführlich Höink/Hudasch, UStB 2015, 198–207; Nieskens, UR 2015, 419–426; von Streit, UStB 2015, 257–264; Streit, BB 2015, 1819–1823; Heinrichshofen/Matheis, UVR 2015, 175– 182. 64 Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 8.5.2015, BRDrucks. 121/15.

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und rechtsicher zu beurteilende Gesichtspunkte (insbesondere die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, Lieferkonditionen, Lieferklauseln, sog. Incoterms®) ab. Der Bundesfinanzhof hält dagegen im Wege einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem der letzte Abnehmer die Verfügungsmacht über den Liefergegenstand erhält, für erforderlich und hat dies in o.g. Urteilen bekräftigt. Da es sich bei grenzüberschreitenden Reihengeschäften um massenhaft vorkommende Fallgestaltungen im Wirtschaftsleben handelt, führt die auf die Gesamtumstände des jeweiligen Einzelfalls abstellende Rechtsprechung zu in der Praxis kaum umsetzbaren Bedingungen. Auch seitens der Wirtschaft wird daher eine praktikable Lösung gefordert. Vor dem Hintergrund der nunmehr als gefestigt anzusehenden Rechtsprechung ist eine längere Aufrechterhaltung der bisherigen praxisgerechten Verwaltungs-Auffassung nicht mehr zu rechtfertigen, ohne dass nunmehr auch auf gesetzlichem Wege entsprechende Zuordnungsgrundsätze festgeschrieben werden. Der Bundesfinanzhof selbst regt in den genannten Urteilen eine gesetzliche Klärung an. Zur praxisgerechten Umsetzung einer Neuregelung der Bestimmungen zum Reihengeschäft stehen in Deutschland derzeit zwei Vorschläge zur Diskussion. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat Ende 2015 einen Vorschlag veröffentlicht, in welchem entgegen der aktuellen Rechtsprechung des BFH weiterhin an der Transportveranlassung als zentralem Kriterium der Zuordnungsentscheidung im Reihengeschäft festgehalten wird. Auch soll die derzeit in § 3 Abs. 6 Satz 6 DE-UStG verankerte gesetzliche Vermutung zur Zuordnung der Warenbewegung zur Lieferung an den mittleren Unternehmer bestehen bleiben. Soll die Warenbewegung allerdings der Lieferung eines mittleren Unternehmers an seinen Abnehmer zugeordnet werden, sollen Art und Weise der entsprechenden Nachweisführung künftig gesetzlich geregelt sein. Dies wurde bislang auf der Ebene der Verwaltung durch den UStAE lediglich indiziell festgelegt, ohne verpflichtende Kriterien vorzusehen. Ausschlaggebend soll künftig alleine die Verwendung der dem mittleren Unternehmer vom Mitgliedstaat des Beginns der Beförderung oder Versendung erteilten USt-IdNr. gegenüber seinem Lieferer vor oder bis zum Beginn der Beförderung oder Versendung sein. Nach dem Vorschlag der BDI Unterarbeitsgruppe zu den Reihengeschäften aus Februar 2016 soll die Transportveranlassung kein primäres Zuordnungskriterium zur Zuordnung der Warenbewegung in einem Reihengeschäft mehr sein. Dieser Vorstoß wird mit der unterschiedlichen Sichtweise in den Mitgliedstaaten begründet, die nicht durchgängig auf die Transportveranlassung als Zuordnungskriterium abstellen.65 Vielmehr soll die Warenbewegung in einem Reihengeschäft generell der Lieferung an den ersten Abnehmer und damit zwingend immer der ersten Lieferung in der Reihe zugeordnet werden. Für Binnenmarktlieferungen soll abweichend von diesem Grundsatz die Warenbewegung der Lieferung an den nachfolgenden Abnehmer zuzuordnen sein, wenn der jeweilige Abnehmer einer vorhergehenden Lieferung die USt-IDNr. verwendet, die ihm vom Mitgliedstaat des Beginns der Beförderung oder Versendung erteilt worden ist. 65 So wie beispielsweise Italien, Frankreich, Spanien und Schweden.

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Da Mitte 2017 bekannt geworden ist, dass die Kommission beabsichtigte, in der zweiten Jahreshälfte 2017 einen Legislativvorschlag zum Reihengeschäft vorzustellen, hatten sowohl die Finanzverwaltung als auch der BDI eine weitere Diskussion zu einer Änderung der existierenden gesetzlichen Regelung in Deutschland zunächst auf Eis gelegt. Nach Veröffentlichung der Vorschläge der Kommission zur Änderung der MwStSystRL am 4.10.2017 ist davon auszugehen, dass die deutschen Bestrebungen zur Änderung des UStG wieder aufgenommen werden, sobald die finalen Regelungen der MwStSystRL verabschiedet worden sind. Ein Vorstoß zur Änderung der gesetzlichen Regelungen in Österreich ist nicht bekannt.

IV. Weitere ausgewählte Staaten 1. Belgien Das belgische Recht sieht keine legislative Regelung zum Reihengeschäft vor. Vielmehr werden die allgemeinen Regelungen zu den Ortsbestimmungen66 und der Steuerbefreiung67 angewandt. Lediglich für die Definition des Reihengeschäftes und die Zuordnung der Warenbewegung zu einer Lieferung im Reihengeschäft ist eine Verwaltungsanweisung aus dem Jahr 2006 verfügbar. 68 a) Definition des Reihengeschäftes Reihengeschäfte werden in Belgien als sog. „opération triangulaire“ oder „opérations ABC“ bezeichnet. Unter einem Reihengeschäft versteht man auch nach belgischer Auffassung Lieferungen zwischen drei Unternehmern, in welchem der erste Lieferer  A Waren an einen Abnehmer B veräußert, dieser wiederum an einen Abnehmer C, und

66 Art. 14 Code TVA (BE-UStG): § 1. Wird das Gut nicht versandt oder befördert, gilt als Ort der Lieferung der Ort, an dem sich das Gut zum Zeitpunkt der Lieferung befindet. §  2. Wird das Gut vom Lieferer, vom Erwerber oder von einem Dritten versandt oder befördert, gilt als Ort der Lieferung der Ort, an dem sich das Gut zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befindet. 67 Art. 39 bis Code TVA (BE-UStG): Steuerfrei sind: 1. Lieferungen von Gütern, die vom Verkäufer, der kein Steuerpflichtiger ist, der der in Artikel 56 § 2 erwähnten Regelung unterliegt, vom Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb Belgiens, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, wenn diese Lieferungen an einen anderen Steuerpflichtigen beziehungsweise an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt werden, die als solche in einem anderen Mitgliedstaat handeln und die verpflichtet sind, ihre innergemeinschaftlichen Erwerbe von Gütern dort der Steuer zu unterwerfen, wenn diese Lieferungen von Gütern nicht der in Artikel 58 § 4 festgelegten Sonderregelung über die Differenzbesteuerung unterliegen. 68 CIRC 38/2006, Circulaire AFER 38/2006 v. 28.8.2006.

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die Waren unmittelbar vom ersten Lieferanten A zum letzten Abnehmer C verbracht werden und zwischen A und C keinerlei vertragliche Beziehungen bestehen.69 Darüber hinaus ist im belgischen Recht das innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäft, „opération triangulaire intracommunautaire“ bekannt. Dieses ist in Art. 25 ter, § 1, 2, 3 und Art. 25 quinquies, § 3 BE-UStG gesetzlich geregelt. Dreiecksgeschäfte, bei denen zwei der drei Unternehmer in demselben Mitgliedstaat ansässig sind oder aber einer der Unternehmer im Drittland ansässig ist, die weiteren Voraussetzungen der Dreiecksgeschäftsvereinfachung aber vorliegen, werden als „fausse opération triangulaire intracommunautaire“ bezeichnet.70 Handelt es sich um Reihengeschäfte mit mehr als drei Beteiligten, so werden die für die Abwicklung von sog. „opération triangulaire“ aufgestellten Grundsätze entsprechend angewandt.71 b) Zuordnung der Warenbewegung Auch nach belgischer Auffassung kann in einem Reihengeschäft die Warenbewegung lediglich einer der Lieferungen zugeordnet werden, d.h. entweder der Lieferung A – B oder aber der Lieferung B – C; diese Lieferung wird an dem Ort besteuert, an welchem der Transport physisch beginnt. Nur diese Lieferung mit Warenbewegung kann als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei sein.72 Die jeweils andere (oder anderen) Lieferung(en) sind zwingend als solche ohne Transport anzusehen, steuerbar an dem Ort, an welchem diese dem Abnehmer zur Verfügung gestellt werden.73 Der belgische Circulaire stellt für die Zuordnung der Warenbewegung ebenfalls auf die Transportveranlassung ab. Wird der Transport durch den ersten Lieferer (A) durchgeführt oder veranlasst, so ist der Transport bzw. die Warenbewegung der Lieferung dieses ersten Lieferers an seinen Abnehmer (B) zuzuordnen.74 Begründet wird dies damit, dass A als Beauftragender des Transportes ausschließlich vertragliche Beziehungen zu B unterhält, so dass lediglich diese Lieferung als warenbewegte Lieferung anzusehen ist. Diese Lieferung 69 CIRC 38/2006, Rz. 95/Manuel de la TVA 2015, no 310/52: Par opération triangulaire, on entend les livraisons de biens entre trois opérateurs, dans lesquelles le premier opérateur (A) vend des biens au deuxième opérateur (B) qui revend les biens au troisième opérateur (C). Les biens sont directement transportés de A chez C, entre lesquels aucun lien contractuel direct n’existe. Cela signifie que le circuit de facturation (A-B et B-C) ne correspond pas au déplacement physique des biens. Ces transactions sont également appelées “operations ABC”. 70 CIRC 38/2006, Rz. 95. 71 CIRC 38/2006, Rz. 167. Vgl. auch die Ausführungen zur Anwendbarkeit der Regelungen zum innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäft. Nach belgischer Rechtsauffassung ist das innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäft auch in Reihengeschäften mit mehr als drei Beteiligten gegeben. 72 CIRC 38/2006, Rz. 98. 73 CIRC 38/2006, Rz. 98. 74 CIRC 38/2006, Rz. 99.

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ist steuerbar im Abgangsland und in diesem unter den Voraussetzungen des nationalen Rechts als innergemeinschaftliche Lieferung (oder Ausfuhrlieferung) von der Umsatzsteuer befreit. Die Anschlusslieferung von B an den C ist im Bestimmungsland steuerbar und in Ermangelung einer Steuerbefreiung steuerpflichtig.75 Sofern der Transport der Gegenstände durch den letzten Abnehmer (C) durchgeführt oder veranlasst wird, ist der Transport der Gegenstände der Lieferung des B an den C zuzuordnen, da C ausschließlich vertragliche Beziehungen mit B unterhält.76 Die warenbewegte Lieferung ist steuerbar im Abgangsmitgliedstaat (B wird sich  – sofern nicht gegeben – in diesem Mitgliedstaat umsatzsteuerlich registrieren lassen) und unter Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen steuerfrei; die nicht warenbewegte Lieferung von A an B ist ebenfalls im Abgangsland steuerbar und im Zweifel steuerpflichtig. Sofern nun der mittlere Unternehmer (B) den Transport durchführt oder durchführen lässt, kann die Warenbewegung nach belgischer Verwaltungsauffassung sowohl der Lieferung des A an den B als auch der Lieferung des B an den C zugeordnet werden. In diesem Fall77 hat die Zuordnung der Warenbewegung nach einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und insbesondere der vertraglichen Bedingungen (insb. Lieferkondition) zu erfolgen. Führt diese Prüfung zu keinem eindeutigen Ergebnis, so wird die Warenbewegung dann der Lieferung von A an B zugeordnet, wenn B dem A gegenüber seine ihm von einem anderen Mitgliedstaat (als dem des Abgangslandes) erteilte USt-IdNr. mitteilt. Bei dieser USt-IdNr. handelt es sich entweder um die Nummer des Mitgliedstaates, in welchem B ansässig ist, oder aber desjenigen Mitgliedstaates, in welchem der physische Warenweg endet. Teilt B dem A gegenüber hingegen seine USt-IdNr.  nicht mit oder handelt es sich bei der durch B verwandten USt-IdNr.  um eine solche, die vom Abgangsmitgliedstaat der 75 CIRC 38/2006, Rz. 99; Manuel de la TVA 2015, Rz. 310/54: Dans cette hypothèse, le transport est sans aucun doute rattaché à la relation A-B, étant donné que B est le seul avec qui A contracte. La livraison B-C est donc nécessairement une livraison sans transport. Cela signifie que A dans l‘État membre 1 (lieu de départ du transport) effectué une « livraison intracommunautaire exemptée » à B qui fait une acquisition intracommunautaire dans l‘État membre 3 (lieu d‘arrivée du transport). Pour pouvoir réaliser cette acquisition intracommu­ nautaire, B, identifié à la TVA dans l‘État membre 2, doit en principe se faire identifier à la TVA dans l‘État membre 3 (B‘). Il fournit à A le numéro qui lui a été attribué par l‘État membre 3. Après cette acquisition intracommunautaire, B effectué ensuite (via B‘), dans l‘État membre 3, une « livraison nationale » (sans transport) à C, taxable dans l‘État membre 3. 76 CIRC 38/2006, Rz. 101. 77 Vgl. Manuel de la TVA 2015, Rz. 310/57 : Dans cette hypothèse, le transport peut aussi bien être rattaché à la livraison A-B qu‘à la livraison B-C. Seul un examen approfondi des contrats et des conditions de vente permet alors de déterminer à quelle relation le transport est rattaché. Si cet examen ne donne pas de résultat, le transport est alors considéré comme rattaché à la relation A-B si B communique à A un numéro de T.V.A. attribué par l‘État membre où il est établi (État membre 2) ou par l‘État membre d‘arrivée de l‘expédition ou du transport des biens (État membre 3). Le transport est par contre considéré comme lié à la relation B-C si B ne communique pas de numéro de T.V.A. à A ou lui communique un numéro attribué par l‘État membre de départ du transport ou de l‘expédition des biens (État membre 1).

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Abb. 8: Reihengeschäft nach belgischem Recht

Warenbewegung erteilt worden ist, ist die Warenbewegung der Lieferung des mittleren Unternehmers B an seinen Abnehmer C zuzuordnen. Fall 8:78 Unternehmer BE 1 aus Brüssel veräußert Gegenstände an Abnehmer BE 2 aus Louvain, der diese wiederum an DE in Münster verkauft. BE 1 beauftragt den Spediteur S, den Liefergegenstand aus Brüssel zum Abnehmer DE nach Münster zu transportieren. Alle Beteiligten treten mit der ihnen von ihren Sitzstaaten erteilten USt-IdNr. auf.

RE 2

RE 1

BE 1

BE 2

DE

Abb. 8: Reihengeschäft nach belgischem Recht

Lösung aus belgischer Sicht: Nach belgischer Rechtsauffassung liegt ein Reihengeschäft vor. Aufgrund der Transportveranlassung durch BE 1 ist die Warenbewegung der Lieferung des BE 1 an den BE 2 zuzuordnen, die gem. Art. 14, § 2 BE-UStG an dem Ort als ausgeführt anzusehen ist, an welchem der physische Warenweg beginnt, hier in Brüssel. Der Zwischenhändler BE 2 bewirkt einen innergemeinschaftlichen Erwerb in Münster, gefolgt von einer nicht warenbewegten Lieferung, die gem. Art. 14, § 1 BE-UStG an dem Ort als ausgeführt anzusehen ist, an welchem der Abnehmer Verfügungsmacht an den Gegenständen erhält, hier in Münster. Sowohl der innergemeinschaftliche Erwerb des BE 2 als auch die anschließende Inlandslieferung unterliegen der Besteuerung in Deutschland. BE 2 ist verpflichtet, sich in Deutschland umsatzsteuerlich registrieren zu lassen. Die Lieferung des BE 1 an den BE 2 ist grundsätzlich gem. Art. 39 bis BE-UStG als innergemeinschaftliche Lieferung von der Umsatzsteuer zu befreien. Da der Abnehmer BE 2 jedoch nicht über eine ihm von einem anderen Mitgliedstaat erteilte USt-IdNr. verfügt und der Nachweis, dass es sich bei BE 2 um einen Steuerpflichtigen handelt, der in der übrigen Union für Umsatzsteuerzwecke registriert ist, gem. Art. 2 AR n° 5279 zwingende Voraussetzung für die Anwendung der Steuerbefreiung für inner78 Vgl. Manuel de la TVA 2015, Rz. 310/57. 79 Arrêté royal n° 52, du 29 décembre 1992, concernant les exemptions relatives aux livraisons intracommunautaires de biens et aux opérations y assimilées, ainsi qu‘aux acquisitions intracommunautaires de biens, en matière de taxe sur la valeur ajoutée:

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gemeinschaftliche Lieferungen ist, wird BE 1 gegenüber BE 2 unter gesondertem Ausweis belgischer Umsatzsteuer fakturieren. Diese ist für BE 2 nicht abzugsfähig. c) Fazit Die belgische Rechts- und Verwaltungsauffassung ist deckungsgleich zur Rechtslage in Deutschland. Insbesondere kennt Belgien bei Transport durch den mittleren Unternehmer die Möglichkeit, die Warenbewegung der Lieferung des transportierenden mittleren Unternehmers an seinen Abnehmer zuzuordnen. 2. Luxemburg In Luxemburg ist das Reihengeschäft (Begriff: „vente par filière“) in Art. 10 LU-UStG80 gesetzlich normiert. a) Definition des Reihengeschäftes und Zuordnung der Warenbewegung Die Definition des Reihengeschäftes lautet wie folgt: Art. 10: Lorsque plusieurs fournisseurs concluent des contrats entraînant pour chacun d'eux l'obligation de livrer le même bien et que ledit bien est remis ou envoyé directement par le premier fournisseur au dernier acquéreur, le bien est censé être livré dans la filière par chacun de ces fournisseurs. Auch nach luxemburgischer Rechtsauffassung ist die Warenbewegung nur einer der Lieferungen in der Reihe zuzuordnen. In Ermangelung gesetzlicher Regelungen zur Zuordnung wird unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auf die Umstände des Einzelfalles abgestellt. Art. 14 des LU-UStG81 enthält in Umsetzung der MwStSystRL Regelungen zum Ort bewegter und unbewegter Lieferungen. Regelungen zur Zuordnung der Warenbewegung zu einer der Lieferungen im Reihengeschäft sieht das luxemburgische Mehrwertsteuergesetz hingegen nicht vor.

Art. 2: L‘exemption de la taxe prévue par l‘article 39 bis, alinéa 1er, 1°, du Code, est en outre subordonnée à la preuve que la livraison est effectuée pour un assujetti ou une personne morale non assujettie, identifié à la taxe sur la valeur ajoutée dans un autre État membre. 80 Loi du 12 février 1979 concernant la taxe sur la valeur ajoutée. 81 Art. 14 LU-UStG: 1. Le lieu de la livraison d’un bien est réputé se situer: a. dans le cas où le bien est expédié ou transporté soit par le fournisseur, soit par l’acquéreur, soit par une tierce personne: à l’endroit où le bien se trouve au moment du départ de l’expédition ou du transport à destination de l’acquéreur. ….. c. dans le cas où le bien n’est pas expédié ou transporté: à l’endroit où le bien se trouve au moment de la livraison.

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Fall 9:82 Unternehmer LU aus Luxemburg veräußert Gegenstände an Unternehmer BE aus 9: Brüssel, der diese wiederum an Unternehmer DE aus Münster verAbb. Reihengeschäft nach luxemburgischen Recht kauft. Die Gegenstände gelangen unmittelbar vom ersten Lieferanten LU zum letzten Abnehmer DE. Alle Beteiligten treten mit der ihnen von ihren Sitzstaaten erteilten USt-IdNr. auf. a. Entweder LU oder aber BE lassen die Gegenstände aus Luxemburg nach Münster transportieren b. DE lässt die Gegenstände in Luxemburg bei LU abholen und verbringt diese nach Münster

RE 2

RE 1

LU

BE

DE

Abb. 9: Abbildung zum Reihengeschäft LUX

Lösung aus luxemburgischer Sicht: Es liegt ein Reihengeschäft mit zwei Lieferungen vor; LU liefert gegenüber BE und dieser gegenüber DE. Die luxemburgische Rechts- und Verwaltungsauffassung stellt für die Zuordnung der Warenbewegung auf die Transportveranlassung ab. a. Sofern LU als erster Lieferant oder aber BE als erster Abnehmer den Gegenstand der Lieferung aus Luxemburg unmittelbar nach Münster verbringt, ist die Warenbewegung der Lieferung von LU an BE zuzuordnen. Ein irgendwie geartetes Wahlrecht bei Transport durch den mittleren Unternehmer im Reihengeschäft sieht die luxemburgische Auffassung anders als beispielsweise die deutsche oder belgische Auffassung nicht vor. Die Lieferung des LU an den BE ist gem. Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) LU-UStG steuerbar an dem Ort, an dem der physische Warenweg beginnt, hier in Luxemburg. Diese Lieferung ist unter den Bedingungen von Art. 43 Abs. 1 Buchst. d) LU-UStG als innergemeinschaftliche Lieferung von der Umsatzsteuer in Luxemburg befreit. Die Lieferung des BE an den DE ist als nicht-warenbewegte Lieferung gem. Art. 14 Abs. 1 Buchst. c) LU-UStG / § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 DE-UStG als in Deutschland am Ende der physischen Versendung ausgeführt. Diese Lieferung unterliegt der Besteuerung in Deutschland. BE bewirkt einen innergemeinschaftlichen Erwerb in Deutschland (§ 3d Satz 1 DE-UStG) und einen weiteren innergemeinschaftlichen Erwerb in Belgien, sofern er 82 Vgl. Code fiscal – Vol. 6 – 01.01.13 (51e mise à jour).

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nicht mit einer deutschen USt-IdNr. auftritt und die Vereinfachungsregelung zum innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäft nicht zur Anwendung kommt. b. Werden die Gegenstände auf Geheiß des DE transportiert, ist nach luxemburgischer Rechtsauffassung die Warenbewegung der Lieferung des BE an den DE zuzuordnen. Die Lieferung des BE an den DE gilt gem. Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) LU-UStG als in Luxemburg ausgeführt und der Steuerbefreiung als innergemeinschaftliche Lieferung unter den in Art. 43 Abs. 1 Buchst. d) genannten Bedingungen zugänglich. BE wird sich zu Umsatzsteuerzwecken in Luxemburg registrieren lassen müssen. Die nicht-warenbewegte Lieferung von LU an BE gilt gem. Art. 14 Abs.  1 Buchst. c) LU-UStG ebenfalls als in Luxemburg ausgeführt und ist steuerpflichtig. b) Fazit Die luxemburgische Rechts- und Verwaltungsauffassung ist nicht vollständig deckungsgleich zur Rechtslage in Deutschland. Vielmehr entspricht die luxemburgische Lösung dem (bislang geltenden) österreichischen Ansatz, indem bei Transport durch den mittleren Unternehmer die Warenbewegung immer der Lieferung an den transportierenden mittleren Unternehmer zuzuordnen ist. 3. Frankreich Das französische Recht enthält überhaupt keine legislative Regelung zum Reihengeschäft. Verwaltungsregelungen zum Reihengeschäft sind lediglich in Ansätzen vorhanden. Auch im französischen Schrifttum wird die Problematik der Zuordnung der Abb. 10: Reihengeschäft FR Warenbewegung zu einer Lieferung in der Reihe nur in Ansätzen diskutiert.83 Fall 10:84 Unternehmer FR 1 aus Paris veräußert Gegenstände an Unternehmer FR 2 aus Lille, der diese wiederum an Unternehmer DE aus Münster verkauft. Die Gegenstände gelangen unmittelbar vom ersten Lieferanten FR 1 zum letzten Abnehmer DE. FR 2 lässt die Gegenstände aus Frankreich nach Deutschland verbringen. Alle Beteiligten treten mit der ihnen von ihren Sitzstaaten erteilten USt-IdNr. auf. RE 2

RE 1

FR 1

FR 2

DE

Abb. 10: Abbildung zum Reihengeschäft FR 83 Vgl. dazu Rollet, Revue de Droit Fiscal 2016, No 6, S. 1. 84 Rollet, Revue de Droit Fiscal 2016, No 6, S. 1 (2), Exemple 2.

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Lösung aus französischer Sicht: Aus französischer Sicht wird die Lieferung des FR 1 an FR 2 als französisches Inlandsgeschäft verstanden; FR 1 fakturiert unter gesondertem Ausweis französischer Mehrwertsteuer gegenüber FR 2. FR 2 rechnet gegenüber DE über eine in Frankreich steuerbare, aber als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfreie Lieferung ab. FR 2 ist allerdings verpflichtet, die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung nachzuweisen. Die Autorin weist allerdings darauf hin, dass diese Sichtweise zu umsatzsteuerlichen Schwierigkeiten in Deutschland führen könnte, da FR 2 von der deutschen Finanzverwaltung aufgefordert werden könnte, die deutsche Mehrwertsteuer aus der Lieferung gegenüber DE abzuführen, da nach deutscher Rechtsauffassung bei Transport durch den mittleren Unternehmer die Warenbewegung grundsätzlich der Lieferung des ersten an den mittleren Unternehmer zuzuordnen ist.85 Die französische Sichtweise stellt mithin für die Frage nach der steuerbefreiten Lieferung nicht auf die Transportveranlassung an sich, sondern darauf ab, ob die Lieferung zwischen zwei in Frankreich zur Mehrwertsteuer registrierten Unternehmen abgewickelt wird oder nicht. Tritt der Abnehmer mit einer ausländischen USt-IdNr. auf, so ist die Lieferung an diesen Unternehmer von der Umsatzsteuer befreit. Damit weicht die französische Rechtsauffassung vollständig von der derzeitigen deutschen Rechtsauffassung ab. 4. Großbritannien, Spanien, Polen und Italien Weder Großbritannien noch Spanien oder Polen haben das Reihengeschäft als solches gesetzlich geregelt. In den genannten Ländern erfolgt die Reihengeschäftsbesteuerung unter Anwendung der durch den EuGH aufgestellten Kriterien auf der Grundlage von Verwaltungsregelungen. Das italienische Recht enthält zwar eine Definition des Reihengeschäftes; eine gesetzlich geregelte Zuordnungsregelung existiert hingegen nicht. Nach britischer Verwaltungsauffassung ist der Transport kein generelles Kriterium, um die Warenbewegung einer Lieferung zuzuordnen. Vielmehr wird darauf abzustellen sein, wer die Gegenstände an einen in einem Drittland ansässigen Kunden veräußert.

85 “B risquerait donc de voir l’administration fiscal allemande lui réclamer la TVA allemande qu’elle aurait dû facturer à C, au motif que le transport intra-communautaire ne pouvait être effectué qu’à la vente entre A et B (ce que les Allemands appellant “bewegte Lieferung”, c’està-dire livraison avec transport), avec pour corollaire que la vente entre B et C est une vente sans transport localisée en Allemagne (“ruhende Lieferung”, c’est-à-dire livraison sans transport).”

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Fall 11:86 Unternehmer NO mit Sitz in Norwegen bestellt Gegenstände bei Unternehmer UK 2 mit Sitz in Großbritannien. UK 2 wiederum bestellt diese bei Unternehmer UK 1 in Großbritannien und weist diesen an, die Gegenstände an NO nach Norwegen zu transportieren. Lösung aus 11: britischer Sicht: Abb. Reihengeschäft UK Aus britischer Sicht liegen zwei separate Transaktionen vor, die wie folgt zu behandeln sind: Die Lieferung des UK 1 an UK 2 ist steuerbar in Großbritannien und in Ermangelung einer Steuerbefreiung steuerpflichtig. UK 1 fakturiert unter gesondertem Ausweis britischer Umsatzsteuer gegenüber UK 2. Die Lieferung des UK 2 gegenüber NO ist steuerbar in Großbritannien, allerdings als Ausfuhrlieferung von der Umsatzsteuer befreit.

RE 2

RE 1

UK 1

UK 2

NO

Abb. 11: Abbildung zum Reihengeschäft UK

Wie sich diesem Beispiel entnehmen lässt, spielt die Transportveranlassung bei der Zuordnung der Warenbewegung zu einer Lieferung bzw. der Frage nach der steuerbefreiten Lieferung keine Rolle, so dass auch das britische Recht von der deutschen Rechtsauffassung abweicht. 5. Schweiz Das Schweizer Recht kennt auch ein Reihengeschäft, verwendet die Begrifflichkeiten aber anders als die Mitgliedstaaten der Union. a) Definition Obgleich das Reihengeschäft im Schweizer Recht nicht gesetzlich niedergelegt ist, wird das Reihengeschäft durch die Verwaltung wie folgt definiert:87 86 Nach VAT Notice 703: export of goods from the UK, Ziffer 4.1. 87 EZV, Publ. 52.25 Ort der Lieferung und Importeur bei Einfuhren, Ziff. 3.2.1.; EStV, MWST-Info 06, Ziff. 4.1.

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Ein Reihengeschäft liegt vor, wenn ȤȤ mehrere Lieferanten über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte in der Folge abschließen, ȤȤ wobei der Gegenstand in einer einzigen Bewegung vom ersten Lieferanten zum letzten Abnehmer in der Reihe gelangt. Und ȤȤ diese Geschäfte dadurch erfüllt werden, dass entweder ȤȤ der erste Lieferant in der Reihe den Gegenstand der Lieferung an den letzten Abnehmer in der Reihe befördert oder versendet88 oder ȤȤ der letzte Abnehmer in der Reihe den Gegenstand der Lieferung beim ersten Lieferanten abholt oder durch einen Dritten dort abholen lässt89 oder ȤȤ der Zwischenhändler den Gegenstand der Lieferung vom ersten Lieferanten zum letzten Abnehmer befördert oder durch einen Dritten dorthin transportieren lässt.90 Dabei wird jeder Zwischenhändler in der Reihe, der im eigenen Namen auftritt, als Lieferant behandelt, obwohl er den Gegenstand der Lieferung nicht körperlich in Empfang nimmt. Bei Reihengeschäften gelten sämtliche Lieferungen innerhalb der Reihe als im gleichen Zeitpunkt und am gleichen Ort ausgeführt. Maßgeblich ist allerdings, dass der letzte Abnehmer zu Beginn der Beförderung oder Versendung feststeht. Unterschieden wird allerdings zwischen einem Beförderungs- und Versandreihengeschäft (erster Lieferer oder Zwischenhändler transportieren91 oder lassen transportie-

88 Sog. Beförderung- oder Versandlieferung. 89 Sog. Abhollieferung. 90 Die Schweizer Verwaltungspraxis, wonach bei einer Abholung durch den Zwischenhändler in der Reihe kein Reihengeschäft, sondern ein sog. Dreiecksgeschäft vorliegt, wurde aufgegeben; vgl. Schluckebier in Geiger/Schluckebier, MWStG, Art. 3 Rz 24. Zur alten Rechtsauffassung vgl. ESTV, Merkblatt Nr. 05 Ort der Lieferung von Gegenständen, Ziff. 4.1: Demgegenüber liegt kein Reihengeschäft vor, wenn nicht der letzte Abnehmer, sondern der zweite Lieferant in der Reihe den Gegenstand beim ersten Lieferanten abholt oder abholen lässt. In diesem Fall sollten keine Sonderregelungen, sondern die Grundregeln des Merkblattes Nr. 05, Ziff. 3. zur Anwendung kommen. Dazu auch Thomet, Der Schweizer Treuhänder 1-2/01, S. 125 ff. 91 EZV, Publ. 52.25 Ort der Lieferung und Importeur bei Einfuhren, Ziff. 1.2: Eine Beförderungslieferung liegt vor, wenn ein Lieferant den Gegenstand selbst zu einem Abnehmer befördert.

632

Abb. 12: Reihengeschäft CH Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

ren92) sowie einem Abholreihengeschäft (letzter Abnehmer transportiert oder lässt transportieren). Des Weiteren ist sodann zwischen Einfuhr- und Ausfuhrreihengeschäften zu differenzieren.

RE 2

RE 1

1. Lieferer

Lieferung 1

Zwischenhändler

Lieferung 2

Letzter Abnehmer

Abb. 12: Abbildung zum Schweizer Reihengeschäft

b) Das Einfuhrreihengeschäft In einem Einfuhrreihengeschäft sind drei Fälle denkbar: ȤȤ Erster Lieferant transportiert (Beförderungs- oder Versandlieferung) ȤȤ Letzter Abnehmer transportiert (Abhollieferung) ȤȤ Zwischenhändler transportiert (Beförderungs- oder Versandlieferung) aa) Grundsatz Anders als im deutschen Recht ist die Besteuerung in der Schweiz nicht davon abhängig, wer von den Beteiligten eines Reihengeschäftes den Transport des Gegenstandes durchführt bzw. durchführen lässt. Auch wird die physische Warenbewegung nicht wie im Mehrwertsteuerrecht der EU einer der Lieferungen im Reihengeschäft zugeordnet. Vielmehr ist in einem Einfuhrreihengeschäft immer der letzte Abnehmer als Importeur der Gegenstände in der Schweiz anzusehen; die vor der Einfuhr liegenden Lieferungen werden als im Ausland ausgeführt angesehen, weil die Beförderung oder Versendung der Gegenstände zum letzten Abnehmer (oder in dessen Auftrag zu einem Dritten) im Ausland beginnt.93 Das Geschäft zwischen dem (letzten) Zwischenhändler und dem letzten Abnehmer führt zur Einfuhr der Gegenstände. Dies ist unabhängig davon, ob die Unternehmer in der Schweiz ansässig sind oder nicht. Der 92 EZV, Publ. 52.25 Ort der Lieferung und Importeur bei Einfuhren, Ziff. 1.2: Eine Versandlieferung liegt vor, wenn ein Lieferant einen unabhängigen Dritten (z.B. Spediteur oder Transporteur) beauftragt, den Gegenstand zu einem Abnehmer zu transportieren. 93 Vgl. Art. 7 Satz 1 Buchst. b) MWStG CH.

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Nathalie Harksen

letzte Abnehmer ist auf der Zollanmeldung als Importeur und Empfänger der Gegen94 stände aufzuführen. Abb. 13: Abbildung zum Schweizer Einfuhrreihengeschäft Dies gilt sowohl in Beförderungs- oder Versandlieferungen als auch bei Abhollieferungen. Fall 12: Unternehmer DE veräußert Gegenstände an Unternehmer AT, die dieser wiederum an einen Abnehmer CH in der Schweiz veräußert. Die Gegenstände gelangen physisch unmittelbar von DE zum Abnehmer CH in die Schweiz; den Transport der Gegenstände gibt DE in Auftrag.

RE 2

RE 1

DE

Lieferung 1

AT

Lieferung 2

C CH

Abb. 13: Abbildung zum Schweizer Einfuhrreihengeschäft

Lösung nach Schweizer Recht: Es liegt ein Reihengeschäft vor; DE liefert an AT und dieser an CH. Im Rahmen der Einfuhrzollabwicklung in der Schweiz MUSS CH als Importeur auftreten. CH wird damit Schuldner der Zoll- und Mehrwertsteuerabgaben in der Schweiz. Die Lieferung des DE an den AT als auch die Lieferung des AT an den CH gelten gem. Art. 7 Satz 1 Buchst. b) CH-MWSTG als im Ausland ausgeführt und sind in der Schweiz nicht steuerbar. Lösung nach deutschem Recht: Es liegt ein Reihengeschäft gem. § 3 Abs. 6 Satz 5 DE-UStG vor. Aufgrund der Transportverantwortung des DE ist die Warenbewegung der Lieferung von DE an AT zuzuordnen. Die Lieferung des DE an AT ist als warenbewegte Lieferung gem. § 3 Abs. 6 Satz 1 DE-UStG als in Deutschland ausgeführt anzusehen; sie ist unter den Voraussetzungen von § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 DE-UStG als Ausfuhrlieferung von der Umsatzsteuer befreit. Die nichtwarenbewegte Lieferung des AT an den CH ist gem. § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 DE-UStG als in der Schweiz ausgeführt anzusehen und damit aus deutscher Sicht nicht steuerbar. 94 EZV, Publ. 52.25 Ort der Lieferung und Importeur bei Einfuhren, Ziff. 3.2.2.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

AT ist gem. Art. 1 Nr. 19 UZK-DelVO als Ausführer anzusehen und wird die Ausfuhrzollanmeldung im eigenen Namen und für eigene Rechnung bei der Ausfuhrzollstelle in Deutschland abgeben. Die österreichische Lösung wäre in diesem Fall identisch der deutschen Lösung. Aufgrund der gänzlich anderen Kriterien zur Reihengeschäftsbesteuerung in der Schweiz wird die Lieferung des Zwischenhändlers AT an den Schweizer Abnehmer CH nicht besteuert. bb) Ausnahme Etwas anderes gilt in Beförderungs- und Versandlieferungen dann, wenn ein Zwischenhändler freiwillig mit der Eidg. Steuerverwaltung (ESTV) abrechnet und er als Steuerpflichtiger in der Schweiz registriert ist. Dieses vereinfachte Verfahren für eingeführte Gegenstände setzt jedoch eine Bewilligung (sog. Unterstellungserklärung95) der ESTV voraus. Für diese Fälle sieht Art. 3 Abs. 1 CH-MWSTV96 eine Ortsverlagerung in die Schweiz vor.97 Danach gilt Folgendes:98 ȤȤ Für die Lieferung des Zwischenhändlers an seinen Abnehmer verlagert sich der Ort der Lieferung in die Schweiz; ȤȤ auf der Zollanmeldung ist als Importeur der Zwischenhändler und als Empfänger der Abnehmer aufzuführen, an welchen der Gegenstand eingeht; ȤȤ der Zwischenhändler kann die von der Eidg. Zollverwaltung (EZV) erhobene Einfuhrsteuer in der periodischen Abrechnung mit der ESTV als Vorsteuer geltend machen, sofern die Voraussetzungen der Art. 28 ff. MWSTG erfüllt sind; 95 Vgl. MWST Nr. 1236_01 / 07.15: Die Unterstellungserklärung Ausland ist mit dem vollständig ausgefüllten Bewilligungsantrag Formular Nr.  1236 der ESTV einzureichen. Die ESTV unterrichtet die Eidgenössische Zollverwaltung über die erteilten Bewilligungen. Die Bewilligung führt für den Antragsteller zur subjektiven Steuerpflicht, sofern dieser nicht bereits als steuerpflichtige Person registriert ist. Als Folge der Steuerpflicht muss der Bewilligungsinhaber alle im Inland erbrachten Leistungen versteuern. Grundsätzlich kann er für die Aufwendungen, die im Rahmen seiner unternehmerischen Tätigkeit anfallen, den Vorsteuerabzug vornehmen. 96 Art. 3 CH-MWSTVO. 1  Bei der Lieferung eines Gegenstands vom Ausland ins Inland gilt der Ort der Lieferung als im Inland gelegen, wenn der Leistungserbringer oder die Leistungserbringerin im Zeitpunkt der Einfuhr über eine Bewilligung der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) verfügt, die Einfuhr im eigenen Namen vorzunehmen (Unterstellungserklärung). 2  Wird die Einfuhr aufgrund der Unterstellungserklärung im eigenen Namen vorgenommen, so gelten bei Reihengeschäften die vorangehenden Lieferungen als im Ausland und die nachfolgenden als im Inland ausgeführt. 3  Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn der Leistungserbringer oder die Leistungserbringerin, der oder die über eine Unterstellungserklärung verfügt, auf die Vornahme der Einfuhr im eigenen Namen verzichtet. Auf diesen Verzicht muss er oder sie in der Rechnung an den Abnehmer oder die Abnehmerin hinweisen. 97 Vergleichbar mit § 3 Abs. 8 DE-UStG. 98 EZV, Publ. 52.25 Ort der Lieferung und Importeur bei Einfuhren, Ziff. 3.2.3.

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Nathalie Harksen

ȤȤ der Zwischenhändler und die allenfalls nachfolgenden Lieferanten in der Reihe müssen alle Lieferungen, welche sie mit dem in die Schweiz eingeführten Gegenstand tätigen, bei der ESTV versteuern, da sich der Ort der Lieferung nicht nur für die Lieferung des Zwischenhändlers ins Inland verlagert, sondern auch für allfällige Lieferungen der nachfolgenden Lieferanten in der Reihe. In mehrgliedrigen Reihengeschäften steht es jedem Zwischenhändler frei, diese Ausnahmeregelung zu nutzen und als Importeur aufzutreten. In diesen Fällen gelten die Lieferungen, die der Einfuhr vorangehen, als im Ausland ausgeführt und die Lieferungen, die der Einfuhr mit Unterstellungserklärung nachgehen, als im Inland ausgeführt, Art. 3 Abs. 2 CH-MWSTV.99 Will der Zwischenhändler bei einer Beförderungs- oder Versandlieferung seine von der ESTV bewilligte Unterstellungserklärung nicht anwenden, so muss er diesen Verzicht in der Rechnung an seinen Abnehmer vermerken. Der Verzicht hat zur Folge, dass der Ort der Lieferung im Ausland verbleibt (vgl. Art. 3 Abs. 3 CH-MWSTV). Importeur solchenzum Fällen der letzte Abnehmer. In diesem Fall gelten die gleiAbb.ist 14:in Abbildung Schweizer Einfuhrreihengeschäft chen Bestimmungen wie für Lieferanten ohne Unterstellungserklärung. Der Verzicht auf Anwendung der Unterstellungserklärung ist bei einer Beförderungs- oder Versandlieferung nur möglich, wenn der Zollstelle eine Rechnung des Zwischenhändlers an den Abnehmer vorgelegt wird, worin der Zwischenhändler darauf hinweist, dass er auf Anwendung der Unterstellungserklärung verzichtet. Fall 12: Wie Fall 8. Unternehmer AT verfügt allerdings über eine Unterstellungserklärung und tritt in der Schweiz als Importeur auf.

RE 2

RE 1

DE

Lieferung 1

AT

Lieferung 2

C CH

Abb. 14: Abbildung zum Schweizer Einfuhrreihengeschäft

Lösung nach Schweizer Recht: Es liegt ein Reihengeschäft vor; DE liefert an AT und dieser an CH. Im Rahmen der Einfuhrzollabwicklung in der Schweiz verwendet AT seine Unterstellungserklärung und tritt als Importeur auf. AT wird damit Schuldner der Zoll- und Mehrwertsteuer99 Schluckebier in Geiger/Schluckebier, MWSTG, Art. 7 Rz. 12.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

abgaben in der Schweiz. Er kann die Einfuhrsteuer grundsätzlich als Vorsteuer geltend machen. Die Lieferung des DE an den AT gilt gem. Art. 7 Satz 1 Buchst. b) CH-MWSTG als im Ausland ausgeführt und ist in der Schweiz nicht steuerbar. Die Lieferung des AT an den CH gilt gem. Art. 3 Satz 1 CH-MWSTV als in der Schweiz ausgeführt und ist in Ermangelung einer Steuerbefreiung steuerpflichtig. Lösung nach deutschem Recht: Sowohl die deutsche als auch die österreichische Lösung entspricht der Lösung zu Fall 8. Die Ortsverlagerung kommt gem. Art. 3 Abs. 3 CH-MWSTV dann nicht zur Anwendung, wenn der letzte Abnehmer den Gegenstand der Lieferung beim Lieferanten selbst abholt oder durch einen Dritten (z.B. Spediteur oder Transporteur) dort abholen lässt. In diesen Fällen verbleibt es beim Grundsatz, dass der letzte Abnehmer als Importeur in der Schweiz anzusehen ist. Sämtliche der Einfuhr vorangehende Abhollieferungen gelten in diesem Fall als nicht in der Schweiz ausgeführt, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) CH-MWSTG. c) Das Ausfuhrreihengeschäft Werden Gegenstände aus der Schweiz exportiert, können alle Lieferungen in einem Reihengeschäft gem. Art. 23 Abs. 3 CH-MWSTG als Ausfuhrlieferung steuerfrei gestellt werden.100 Die Steuerbefreiung normiert eine Ausnahme für Reihengeschäfte zum Grundsatz, dass die Ausfuhr ohne Ingebrauchnahme des Gegenstandes zu erfolgen hat. Obwohl der Verkauf durch den Zwischenhändler die stärkste Form der Ingebrauchnahme durch die Übertragung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht gem. Art. 3 Buchst. d) CH-MWSTG auf den letzten Abnehmer darstellt, kann die Steuerbefreiung von allen Beteiligten in Anspruch genommen werden, soweit der Gegenstand unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer in der Kette gelangt.101 Die Ausfuhr ist nachzuweisen, vorzugsweise anhand einer Veranlagungsverfügung der EZV. Sind mehrere Lieferanten an einer Ausfuhr von Gegenständen beteiligt, reicht es aus, wenn sie je eine Kopie der Veranlagungsverfügung der EZV besitzen. Anders als bei der Einfuhr ist auch für die Anwendung der Steuerbefreiung nicht zwischen Beförderungs- und Versandlieferungen sowie Abhollieferungen zu differenzieren.

100 Art. 23 Abs. 3 MWSTG: Direkte Ausfuhr nach Abs. 2 Ziff. 1 liegt vor, wenn der Gegenstand der Lieferung ohne Ingebrauchnahme im Inland ins Ausland ausgeführt oder in ein offenes Zolllager oder Zollfreilager ausgeführt wird. Bei Reihengeschäften erstreckt sich die direkte Ausfuhr auf alle beteiligten Lieferanten und Lieferantinnen. 101 Schluckebier in Geiger/Schluckebier, MWSTG, Art. 23 Rz. 37.

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Abb. 15: Abbildung zum Schweizer Ausfuhrreihengeschäft

Nathalie Harksen

Fall 13: Unt. CH veräußert Gegenstände an DE 1, die dieser wiederum an einen Abnehmer DE 2 in Deutschland veräußert. Die Gegenstände gelangen physisch unmittelbar von CH zum Abnehmer DE 2 nach Deutschland; den Transport der Ware gibt DE 1 in Auftrag. Er nimmt auch die Einfuhrabfertigung in Deutschland vor.

RE 2

RE 1

CH

Lieferung 1

DE 1

Lieferung 2

DE 2

Abb. 15: Abbildung zum Schweizer Ausfuhrreihengeschäft

Lösung nach Schweizer Recht: Es liegt ein Reihengeschäft vor; CH liefert an DE 1 und dieser an DE 2. Die Lieferungen gelten gem. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) CH-MWSTG als in der Schweiz ausgeführt und sind aufgrund der direkten Ausfuhr gem. Art. 23 Abs.  3 Satz 3 CH-MWSTG steuerfrei. Lösung nach deutschem Recht: Es liegt ein Reihengeschäft gem. § 3 Abs. 6 Satz 5 DE-UStG vor. Die Warenbewegung ist aufgrund der Transportveranlassung durch DE 1 grundsätzlich der Lieferung von CH an DE 1 zuzuordnen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn DE 1 als Lieferant und nicht als Abnehmer der Vorlieferung auftritt, § 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 DE-UStG. DE 1 lässt die Überlassung zum freien Verkehr in Deutschland im eigenen Namen und für eigene Rechnung durchführen; er schuldet Zoll und Einfuhrumsatzsteuer, Art. 77 Abs. 3 UZK in Verbindung mit §§ 13a Abs. 2, 21 Abs. 2 DE-UStG. Sofern DE 1 als Abnehmer der Vorlieferung auftritt, ist die Warenbewegung der Lieferung des CH an ihn zuzuordnen. Die Lieferung gilt gem. § 3 Abs. 6 Satz 1 DE-UStG als in der Schweiz ausgeführt und ist in Deutschland nicht steuerbar. Die Lieferung des DE 1 an DE 2 gilt gem. § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 DE-UStG als in Deutschland am Ende der Beförderung oder Versendung ausgeführt und ist in Ermangelung einer Steuerbefreiung steuerpflichtig.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

Sofern DE 1 als Lieferant auftritt und die gesetzliche Vermutung widerlegt, ist die Warenbewegung seiner Lieferung an den DE 2 zuzuordnen. Die Lieferung gilt gem. § 3 Abs. 8 DE-UStG als in Deutschland ausgeführt und ist in Ermangelung einer Steuerbefreiung steuerpflichtig. Die Lieferung des CH an den DE 1 gilt gem. § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr.  1 DE-UStG als in der Schweiz ausgeführt und ist in Deutschland nicht steuerbar.

V. Ausblick Der Gedanke eines einheitlichen Mehrwertsteuerraumes, welcher eine effiziente und einfache Besteuerung des Verbrauchs von Gegenständen und Dienstleistungen ermöglicht, ist nicht neu. Bereits im Jahr 1967 verpflichteten sich die damaligen Mitgliedstaaten, ein endgültiges Mehrwertsteuersystem einzurichten, das innerhalb der Europäischen Gemeinschaft genauso funktioniert, als wäre diese ein einziges Land.102 Aufgrund der Notwendigkeit, die Steuergrenzen zwischen den Mitgliedstaaten bis Ende 1992 abzuschaffen, musste die Besteuerung des Warenhandels in der Europäischen Gemeinschaft überprüft werden. Zur Erreichung eines echten Binnenmarktes sollten Gegenstände im Herkunftsland zu besteuern sein, sodass für den innergemeinschaftlichen Handel dieselben Bedingungen gelten würden wie für den inländischen Handel (sog. Ursprungslandprinzip). Aufgrund politischer und technischer Schwierigkeiten wurde zunächst zum 1.1.1992 eine Mehrwertsteuerübergangsregelung angenommen.103 Sie sieht im grenzüberschreitenden Warenverkehr zwischen Unternehmen die Aufteilung in zwei separate Umsätze vor: eine steuerbefreite Lieferung im Abgangsmitgliedstaat der Gegenstände und einen innergemeinschaftlichen Erwerb, der im Bestimmungsmitgliedstaat besteuert wird. Dieses System erhöht das Betrugsrisiko signifikant104 und führt aufgrund seiner Komplexität nicht wirklich zu einer Begünstigung des grenzüberschreitenden Handels, wird aber auch mehr als 20 Jahre nach seiner Annahme immer noch angewandt. Von den Europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten favorisiert wird ein neues (und endgültiges) Mehrwertsteuersystem, welches auf dem Grundsatz der Besteuerung im Bestimmungsland beruht. 102 Erste Richtlinie 67/227/EWG des Rates v. 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer; Zweite Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. 103 Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen (ABlEU v. 31.12.1991, L 376/1). 104 Vgl. dazu Studie und Berichte über die Mehrwertsteuerlücke in den Mitgliedstaaten der  EU-28: https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/2016-09_vat-gapreport_final.pdf.

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Nathalie Harksen

Am 7.4.2016 verkündete die Europäische Kommission mit dem sog. Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer – Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen105 (Mehrwertsteuer-Aktionsplan) ihre Absicht, ein endgültiges Mehrwertsteuersystem für den grenzüberschreitenden Handel innerhalb der Union anzunehmen, das auf dem Prinzip der Besteuerung im Bestimmungsmitgliedstaat beruht, um einen robusten, einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum zu schaffen. Ein Legislativvorschlag für ein solches einfacheres und weniger betrugsanfälliges endgültiges Mehrwertsteuersystem für den Handel innerhalb der Union wurde in das Arbeitsprogramm der Kommission für 2017106 aufgenommen. Der ECOFIN Rat hat im Rahmen seiner Tagung v. 8.11.2016 – losgelöst von den Arbeiten der Kommission zu einem endgültigen Mehrwertsteuersystem – vier Schlussfolgerungen zur (akuten) Verbesserung der Mehrwertsteuervorschriften in der EU für grenzüberschreitende Umsätze angenommen.107 So forderte der Rat erstens Änderungen zur Aufwertung der USt-IdNr.  dahingehend, dass diese eine materielle ­Bedingung für die Anwendung einer Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen darstellt. Des Weiteren ersuchte der Rat die Kommission um Rechtsvorschriften für die vereinfachte und einheitliche Behandlung von Konsignationslägern im grenz­überschreitenden Handel sowie drittens zur Sondierung von Möglichkeiten eines gemeinsamen Rahmens empfohlener Kriterien für die Belege, die für die Beantragung einer Steuerbefreiung von innergemeinschaftlichen Lieferungen erforderlich sind. Ferner ersuchte der Rat die Kommission, einheitliche Kriterien und angemessene gesetzgeberische Verbesserungen vorzuschlagen, die zu mehr Rechtssicherheit und zu einer harmonisierten Anwendung der Mehrwertsteuervorschriften führen, wenn es um die Bestimmung der mehrwertsteuerlichen Behandlung von Reihengeschäften einschließlich Dreiecksgeschäften geht. Die Legislativmaßnahmen sollten auf einheitlichen Kriterien entsprechend den bereits gelebten nationalen Vorgehensweisen beruhen. In diesem Zusammenhang weist der Rat auf die praktischen Probleme hin, die sich für die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten und die Unternehmen stellen, wenn sie Mehrwertsteuervorschriften im Zusammenhang mit Reihengeschäften einschließlich Dreiecksgeschäften anwenden, was auf mangelnde Harmonisierung und nationale Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Auslegung der Wörter „versandt oder befördert von oder im Namen von“ zurückzuführen ist. Um den Wünschen des Rats nachzukommen, hat die Kommission am 4.10.2017 Pläne108 für die  – nach ihren Angaben – größte Reform der EU-Mehrwertsteuervorschriften seit einem Vierteljahrhundert vorgelegt. Diese sieht „fünf schnelle Lösun105 COM(2016) 148 final; http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1022_de.htm. 106 Arbeitsprogramm der Kommission für 2017, COM(2016) 710 final. 107 http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14257-2016-INIT/de/pdf – Schlussfolgerungen des Rates zu Verbesserungen der derzeitigen Mehrwertsteuervorschriften der EU für grenzüberschreitende Umsätze, die der Rat auf seiner 3495. Tagung v. 8.11.2016 angenommen hat. 108 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-3443_de.htm.

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Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

gen“ (sog. „Quick Fixes“) vor, die ab dem Jahr 2019 zur Anwendung kommen sollen. Diese von den Mitgliedstaaten ausdrücklich geforderten kurzfristigen Maßnahmen sollen dazu dienen, das derzeitige Mehrwertsteuersystem bis zur Einführung der endgültigen Regelung zu verbessern. Zu diesen sog. „Quick fixes“109 gehören die folgenden Maßnahmen: ȤȤ Schaffung eines sog. zertifizierten Steuerpflichtigen;110 ȤȤ Vereinfachung und Harmonisierung von Vorschriften für Konsignationslager; ȤȤ Anerkennung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Erwerbers als materielle Voraussetzung für die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen; ȤȤ Vereinfachung der Vorschriften zur Gewährleistung der Rechtssicherheit bei Reihengeschäften ȤȤ Harmonisierung und Vereinfachung der Vorschriften betreffend den Nachweis der innergemeinschaftlichen Beförderung von Gegenständen zum Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen Art. 138a des Richtlinienänderungsvorschlags111 sieht für den Fall, dass die Beförderung durch oder auf Rechnung eines der Zwischenlieferer der Reihe erfolgt ist, die Zuordnung der Warenbewegung entweder 109 http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-17-3444_de.htm; vgl. auch COM(2017) 566 final – Simplification of VAT rules for companies in one Member State storing goods in an­ other Member State to be sold directly to customers there. This simplification is limited to Certified Taxable Persons who will no longer need to register and pay VAT in an­ other Member State when they store goods there. – Simplification for those elements of a chain transaction which do not involve the physical movement of goods, for example when goods are sold via several traders, but physically the goods move directly from the original seller to the final buyer. This simplification is limited to Certified Taxable Persons. – New harmonised and uniform rules so that traders can more easily provide proof that goods have been transported from one EU country to another. This simplification is limited to Certified Taxable Persons. – Clarification that, in addition to proof of transport, the VAT number of the commer­cial partners recorded in the electronic EU VAT-number verification system (VIES) is required for the cross-border VAT exemption to be applied under the current rules. 110 Darunter werden vertrauenswürdige Unternehmen verstanden, die von einfacheren und zeitsparenden Vorschriften profitieren werden. Im Zweifel wird dies dem Modell des Authorised Economix Operator (AEO) entsprechen, der auf Ebene des Zollrechts seit 2008 existiert. 111 Article 138a MwStSystRL-Vorschlag: (1) Zum Zweck der Anwendung der Steuerbefreiung des Artikels 138 im Zusammenhang mit Reihengeschäften wird die innergemeinschaftliche Beförderung der Lieferung durch den ersten Lieferer an den Zwischenhändler zugeschrieben, sofern die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

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Nathalie Harksen

ȤȤ der Lieferung an diesen Zwischenlieferer vor, sofern er für Mehrwertsteuerzwecke in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat der Lieferung registriert ist und den Namen des Eingangsmitgliedstaats der Gegenstände an seinen Lieferer übermittelt hat (Art. 138a Abs. 1 MwStSystRL-E); ȤȤ der Lieferung durch den Zwischenlieferer an den nächsten Wirtschaftsbeteiligten in der Reihe vor, wenn eine der beiden unter Art. 138a Abs. 1 MwStSystRL-E genannten Bedingungen nicht erfüllt ist. Die Bestimmungen und die damit verbundene Rechtssicherheit gelten nur, wenn sowohl der Zwischenlieferer als auch der Steuerpflichtige, der die Gegenstände an ihn geliefert hat, zertifizierte Steuerpflichtige sind, Art. 138a Abs.  3 Buchst. a) MwSt­ SystRL-E. Eine derartige Bestimmung ist nicht erforderlich, wenn die Beförderung auf Rechnung des ersten Lieferers in der Reihe (in diesem Fall kann die Warenbewegung nur der ersten Lieferung zugeschrieben werden) oder des letzten Steuerpflichtigen in der Reihe gemacht wird (in diesem Fall kann die Warenbewegung nur der Lieferung für diesen Steuerpflichtigen zugeschrieben werden). Bei einer Beteiligung eines nicht zertifizierten Steuerpflichtigen sollen die Rechtsvorschriften des Artikels 138a nicht gelten und der betreffende Steuerpflichtige müsste wie nach den derzeitigen Bestimmungen nachweisen, dass die Beförderung und die Steuerbefreiung mit dieser konkreten Lieferung zusammenhängen. Der Legislativvorschlag wird nun den Mitgliedstaaten im Rat zur Zustimmung und dem Europäischen Parlament zur Stellungnahme vorgelegt. Die Kommission wird anschließend im Jahr 2018 einen detaillierten Vorschlag zur Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie auf technischer Ebene vorlegen, damit die heute vorgeschlagene endgültige Mehrwertsteuerregelung reibungslos umgesetzt werden kann.



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(a) der Zwischenhändler teilt dem Verkäufer den Namen des Eingangsmitgliedstaats der Gegenstände mit; (b) der Zwischenhändler ist für Mehrwertsteuerzwecke in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat registriert, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände beginnt. (2) Wenn eine der in Absatz 1 festgelegten Bedingungen nicht erfüllt ist, wird bei Reihengeschäften die innergemeinschaftliche Beförderung der Lieferung durch den Zwischenhändler an den Erwerber zugeschrieben. (3) Für die Zwecke dieses Artikels gelten folgende Begriffsbestimmungen: (a) „Reihengeschäft“: ein Sachverhalt, bei dem aufeinanderfolgende Lieferungen derselben Gegenstände durch Steuerpflichtige zu einer einzigen innergemeinschaftlichen Beförderung dieser Gegenstände führen und bei dem sowohl der Zwischenhändler als auch der Verkäufer zertifizierte Steuerpflichtige sind; (b) „Zwischenhändler“: Lieferer innerhalb der Lieferkette (mit Ausnahme des ersten Lieferers), der die Gegenstände selbst oder durch einen Dritten auf seine Rechnung versendet oder befördert; (c) „Verkäufer“: Steuerpflichtiger innerhalb der Lieferkette, der die Gegenstände an den Zwischenhändler liefert; (d) „Erwerber“: Steuerpflichtiger innerhalb der Lieferkette, an den der Zwischenhändler die Gegenstände liefert.

Das europäische Reihengeschäft – eine unendliche ­Geschichte mit Happy End?

VI. Fazit Die Ansätze zur Besteuerung von Reihengeschäften in den verschiedenen europäischen Mitgliedstaaten sind durchaus unterschiedlich, so dass sich Doppelbesteuerungssituationen ergeben können; an dieser für den einzelnen Wirtschaftsteilnehmer unerfreulichen und wenig hilfreichen Situation112 wird sich allerdings bis zu einer unionseinheitlichen, obligatorisch durch die Mitgliedstaaten umsetzenden Regelung nichts ändern. Solange die Mitgliedstaaten unterschiedlichste Kriterien für die Zuordnung der Warenbewegung zu einer der Lieferungen in der Reihe heranziehen, wird für den Unternehmer weiterhin die Gefahr bzw. die Unsicherheit bestehen, in einem der anderen europäischen Mitgliedstaaten registrierungspflichtig zu werden. Mit den Kommissionsvorschlägen vom 4.10.2017 und den sog. „Quick Fixes“ – die auch einen Vorschlag für eine unionseinheitliche Reihengeschäftsregelung vorsehen – ist ein erster Schritt in Richtung der Schaffung im Binnenmarkt allgemein verbindlicher Regelungen getan worden, der für die Unternehmen eine rechtssichere Handhabung ermöglicht. Abzuwarten bleibt der finale Legislativvorschlag und die Umsetzung in den Mitgliedstaaten zum 1.1.2019 oder einem späteren Zeitpunkt. Nicht an Aktualität verloren haben daher derzeit die Ausführungen des Generalanwalt Jan Mazak in seinen Schlussanträgen vom 19.7.2012 in der Rechtssache C-174/11113, Ines Zimmermann: Die Mehrwertsteuer wurde ursprünglich als einfache Steuer auf die Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen konzipiert und eingeführt. Man darf aber wohl sagen, dass das Mehrwertsteuersystem und einige seiner Regelungen recht kompliziert geworden sind. Ein Richter am Court of Appeal (England & Wales – Lord Justice Sedley in der Sache Royal & Sun Alliance Insurance Group plc/Customs and Excise Commissioners [2001] STC 1476 (CA), 54.) hat dazu bemerkt: „Jenseits der alltäglichen Welt liegt die Welt der Mehrwertsteuer, eine Art steuerlicher Freizeitpark, in dem die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten aufgehoben sind oder auf dem Kopf stehen. Meines Erachtens ist aber noch hinzuzufügen, dass die Kompliziertheit der Anwendung und Auslegung nicht in der Mehrwertsteuer selbst begründet liegt, sondern auf Versuche zurückzuführen ist, damit herumzuspielen. Zu hoffen ist, dass sich derartige Ausführungen zumindest zum 1.1.2019 in Teilen erübrigt haben werden.

112 So auch schon Beiser, UR 2012, 222 (226): „Nationale Alleingänge sind für grenzüberschreitend tätige Unternehmer nicht hilfreich: grenzüberschreitende Lieferungen innerhalb der EU müssen unionsweit denselben Regeln folgen. Wer von Unternehmern Compliance sowie korrekte Rechnungen, Erklärungen und Aufzeichnungen fordert, muss für klare, verständliche und praktikable Regeln sorgen. Die EU-Kommission und die Finanzverwaltungen sollten unionsweit einheitliche Lösungen akkordieren.“ 113 EuGH, Urt. v. 15.11.2012, Rs. C-174/11 – Zimmermann, DB 2013, 854.

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Reginhard Henke

Wo Zoll und Umsatzsteuer sich berühren Eine Geschichte von Distanz und Nähe Inhaltsübersicht Prolog

I. Zoll und Umsatzsteuer im System des EU-Steuerrechts

II. Umsatzsteuer und grenzüberschreitender Warenverkehr III. Zollrechtliche Lösungen für die Umsatzsteuer 1. Unionszollkodex als Maßstab 2. Einfuhrumsatzsteuer a) Steuerbarer Umsatz, § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG



b) Sinngemäße Anwendung der ­Zollvorschriften, § 21 Abs. 2 UStG c) Steuerbefreiung, § 5 UStG d) Bemessung der EUSt, § 11 UStG e) Vorsteuerabzug der EUSt, § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG 3. Umsatzsteuer a) Steuerbefreiung, § 4 UStG b) Warenverkehr mit Drittgebieten 4. Besonderheiten in Freizonen Fazit

Prolog Das von mir gewählte Thema mag auf den ersten Blick überraschen. Was hat das in seinem Wesen höchst eigenständige und aus der Sicht der Europäischen Union extern orientierte Zollrecht mit dem Steuerrecht im Binnenmarkt respektive dem Umsatzsteuerrecht zu tun? In der Tat hat gerade der EuGH in jüngerer Zeit mehrfach festgestellt, dass selbst der grenzbezogene und deshalb zollaffine Einfuhrumsatz unabhängig vom Zollrecht und allein anhand der MwStSystRL zu beurteilen ist.1 Mehrere Finanzgerichte sind dieser Linie zwischenzeitlich gefolgt.2 Ich will versuchen, ein aktuelles Bild von der Rolle des Zollrechts als Vehikel zur Erreichung umsatzsteuerlicher Ziele im Binnenmarkt zu zeichnen. Dabei stehen der Be1 EuGH v. 2.6.2016 – C-224/14 – Eurogate II; C-226/14 – DHL/HUB Leipzig; v. 18.5.2017 – C-154/16 – LDz; v. 1.6.2017 – C-571/15, ECLI:EU:C:2017:417 – Wallenborn; vgl. bereits v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto; dazu Schrömbges, Zollrechtlich freier Verkehr und einfuhr­ umsatzsteuerrechtliche Einfuhr, ZfZ 2017, 106  ff.; Schrömbges/Lux/Hannl, Keine „Auto­ matik“ mehr zwischen Zoll- und EUSt-Schuld, AW-Prax 2016, 328  ff.; Lux/Schrömbges, Neudefinition der umsatzsteuerlichen Einfuhr, AW-Prax 2017, 3012  ff.; Bender, Keine EUSt-Entstehung bei Wiederausfuhr, AW-Prax 2017, 267 ff.; vgl. auch Achatz/Summersberger/Tumpel (Hrsg.), Umsatzsteuer und Zoll, Wien 2013, S.  33  ff., 89  ff., 103  ff.; Jatzke in Sölch/Ringleb, § 5 UStG Rz. 35. 2 FG Hessen v. 27.9.2016 – 7 K 1863/13; v. 29.9.2015 – 7 K 728/12 – Wallenborn; FG Hamburg v. 12.10.2016 – 4 K 113/15; FG München v. 21.10.2016 – 14 K 1770/13; FG Berlin-Brandenburg v. 14.6.2017 – 1 K 1065/16.

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fund, die Systematisierung und die Eignung des Instrumentariums im Mittelpunkt meiner Untersuchung.

I. Zoll und Umsatzsteuer im System des EU-Steuerrechts Zölle haben im System des europäischen Abgabenrechts eine Sonderstellung. Oder kurz gesagt: Zölle sind nicht Steuern.3 Die Zölle lassen sich in das System des europäischen Steuerrechts deshalb nicht ohne Weiteres integrieren. Obwohl sie auf Basis des Unionszollkodex erhoben und als „traditionelle“ EU-Eigenmittel vereinnahmt werden4, zählen sie wegen ihrer wirtschaftslenkenden und letztlich handels- und wirtschaftspolitischen Intention nicht zu den sog. Finanzzwecksteuern, d.h. den Steuern im klassischen Sinne der Erzielung von Einnahmen zugunsten des Fiskus. Bestätigt wird diese systematische Bewertung durch Art. 114 AEUV: Obwohl die Vorschrift nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut in Abs. 2 für Steuern nicht gilt, wird die europäische Zollgesetzgebung unter dem Aspekt der Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Binnenmarkt ganz wesentlich auf diese Ermächtigung gestützt.5 Die auf Art. 114 AEUV beruhenden zollrechtlichen Verfahrensregelungen  – und nicht etwa die auf Art. 31 AEUV basierenden Vorschriften über den Gemeinsamen Zolltarif – sind es denn auch, die für die Lösung steuerrechtlicher Probleme interessant sein könnten. Anders als auf dem Gebiet der Zölle (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a EUV) hat nach überwiegender Auffassung die Europäische Union derzeit immer noch kein Steuerfindungsrecht, also keine Gesetzgebungskompetenz i. S. einer „Kompetenz-Kompetenz“ zum Erlass materieller, den Marktbürger belastender Steuergesetze. Dazu bedürfte es zunächst eines wirklichen politischen Auffassungswandels und in der Folge neuer EU-verfassungsrechtlicher Strukturen.6 Die Union ist bisher nicht mit der Möglich-

3 Sofern – wie etwa in Art. 106 GG oder § 3 Abs. 1 AO – die Zölle als Steuern bezeichnet werden, hat dies lediglich ordnenden Charakter; damit sollen die Ansprache der Zölle im Finanzverfassungsrecht und im Abgabenverfahrensrecht erleichtert und dem Steuerrecht eigene Regelungen aus Vereinfachungsgründen auf das Zollrecht übertragen werden. 4 Die Mitgliedstaaten behalten lediglich eine 20%ige Erhebungskostenpauschale zum Ausgleich des den Zollverwaltungen entstandenen Verwaltungsaufwandes ein, vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 Beschluss des Rates v. 7. Mai 2014 über das Eigenmittelsystem der Euro­ päischen Union (2014/335/EU, Euratom). 5 Präambel zur VO (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union; vgl. bereits Henke/Huchatz, Das neue Abgabenverwaltungsrecht für Einfuhr- und Ausfuhrabgaben. Die Überlagerung der Abgabenordnung durch den Zollkodex, ZfZ 1996, 226 (227) m. w. N.; Streinz, EUV/AEUV, Kommentar, 2. Aufl. 2012; Art. 114 Rz. 14, 40 ff.; Tietje in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Kommentar, Art. 114 AEUV Rz. 80 ff.; Khan in Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Kommentar, 6. Aufl. 2017, Art. 114 Rz. 3, 10. 6 Streinz (Fn. 5), EUV/AEUV, Art. 113 Rz. 3, 11, 27; Khan in Geiger/Khan/Kotzur (Fn. 5), EUV/AEUV, Art. 113 Rz. 2, Art. 311 Rz. 1; Seiler in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 5), Art. 113 AEUV Rz. 50 ff.

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keit ausgestattet, sich aus eigener Macht Finanzmittel zu beschaffen.7 Die Kompetenz der EU beschränkt sich immer noch auf die Harmonisierung nationaler Steuergesetze, obwohl zunehmend bezweifelt wird, dass das bestehende Eigenmittelsystem ohne echte Finanzautonomie den künftigen Herausforderungen an die Union gewachsen ist.8 Von dem also noch nicht verwirklichten Institut der Unionssteuern sind Steuern der Mitgliedstaaten auf unionsrechtlicher Grundlage zu unterscheiden. Denn die nationalen Steuergesetze werden mit steigender Tendenz vom Unionsrecht beeinflusst. Harmonisierungsvorhaben gibt es sowohl auf dem Gebiet der direkten wie der indirekten Steuern. Um eine direkte Steuer handelt es sich – vereinfacht gesagt –, wenn sich Steuerschuld und Steuerlast bei einer Person kumulieren und nach dem Zweck des Gesetzes der Steuerschuldner endgültig mit der Steuer belastet bleiben soll. Das trifft etwa auf die Einkommen-, die Körperschaft- und die Gewerbesteuer zu.9 Bei den indirekten Steuern zielt das Gesetz auf eine Überwälzung der Steuer ab, sei es, dass die Verschiebung einstufig oder  – wie bei der Umsatzsteuer  – mehrphasig organisiert ist. Gemäß Art. 113 AEUV hat die Union vor dem Hintergrund der Verwirklichung des Binnenmarkts die Befugnis, wenn nicht gar die Verpflichtung zur Harmonisierung der indirekten Steuern. Das sind die Umsatzsteuer, die besonderen Verbrauchsteuern und die sonstigen indirekten Steuern, wie z. B. Beförderungs- und Versicherungssteuern. Die Vorschrift gehört allerdings zu den wenigen Kompetenznormen im EU-Verfassungsrecht, die Einstimmigkeit in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren verlangen.10 Die rechtssystematische Inkompatibilität von Zöllen und Steuern ist auf die historisch gewachsenen Unterschiede in den wirtschafts- und finanzpolitischen Zielsetzungen beider Institute zurückzuführen. Auf den Punkt gebracht, geht es bei der Zollerhebung um eine gezielte Ungleichbehandlung von Wirtschaftsgütern einer nicht zur Zollunion gehörenden Wirtschaftseinheit mit dem Ziel einer angemessenen Einglie 7 Vgl. BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2156/92 und 2159/92, BVerfGE 89, S.  155/186  f. u. 194 f. – Maastricht. 8 Vgl. bereits Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, 1995, §  10 Rz. 1 ff. m. w. N. und konkreten Vorschlägen zur Schaffung von mehr finanzieller Unabhängigkeit der EU; aktuell: Steuern für Europa, Vorschläge von Mario Monti, Handelsblatt v. 12.1.2017, online-Version. 9 Seiler in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 5), Art. 113 AEUV Rz. 50 ff. Wegen der Bedeutung der direkten Steuern für das Funktionieren des Binnenmarktes wurden z. B. die Fusionsrichtlinie, die Mutter-Tochter-Richtlinie und die Richtlinie zur Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen erlassen, vgl. Förster/Schollmeier in Birk (Fn.  8), §  30 Rz. 2 ff. 10 Seiler in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 5), Art. 113 AEUV Rz. 18 ff.; Bongartz/Schröer-Schallenberg, Verbrauchsteuerrecht, 2. Aufl. 2012, Rz. C 10 ff.; Jatzke, Europäisches Verbrauchsteuerrecht, 2016, Rz. C 14 ff.; Middendorp, Auswirkungen des UZK auf das Verbrauch­ steuerrecht, in Hoell (Hrsg.), Der Unionszollkodex, Tagungsband des 28. Europäischen Zollrechtstags 2016, S 33 ff.; Middendorp/Schröer-Schallenberg, Bedeutung und Auswirkungen des Zollrechts für das Verbrausteuerrecht unter Berücksichtigung des Unionszollkodex, ZfZ 2016, 86 ff.

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derung in den freien Verkehr. Der Zollanspruch beruht auf den volkswirtschaftlichen Folgen einer Wareneinfuhr z. B. für die Preisbildung im aufnehmenden Markt und soll vor allem der „Abschöpfung“ ungerechtfertigter Preisvorteile dienen. Diese können sich etwa aus nicht vergleichbaren Lohnkosten, Arbeitszeitregelungen, Umweltauflagen und anderen Produktionsbedingungen in den Exportländern ergeben.11 Das Unionszollrecht folgt im Wesentlichen dem mit der Integrationsidee verbundenen sogenannten Wirtschaftszollgedanken.12 Folglich bedarf es keiner Zollerhebung bei Waren, die nur durchgeführt, gelagert, veredelt oder zweckgerecht verwendet werden, ohne dass sie unmittelbar an der Preisbildung des Binnenmarktes und am Wirtschaftskreislauf teilnehmen, weil die spätere Wiederausfuhr der Erzeugnisse beabsichtigt ist. Demgegenüber wird bei den indirekten Steuern unabhängig von der Herkunft und vom zollrechtlichen Status umsatz- oder verbrauchsteuerpflichtiger Waren stets die steuerliche Gleichbehandlung der Steuergegenstände postuliert.13 Dieser zentrale Grundsatz dient primär fiskalischen Zielen und soll die Einnahmequellen sichern. Eingeführte Waren dürfen deshalb nicht bessergestellt werden als Waren in entsprechender Lage im Steuergebiet; der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet es allerdings genauso, sie steuerlich stärker zu belasten. Auch völkerrechtlich ist es im Rahmen der Welthandelsregelungen von WTO und GATT verboten, über eine normale steuerliche Be- oder Entlastung beim Grenzübertritt hinauszugehen. Denn eine übermäßige Entlastung im Zusammenhang mit dem Export käme einer Ausfuhrsubvention gleich, während eine unverhältnismäßige Belastung beim Import eine den Zöllen vorbehaltene Funktion übernehmen würde (Art. III Abs. 2 und 3, Art. XVI GATT 1994). Auch die Art. 100 ff. AEUV verbieten zur Vermeidung von Diskriminierung innerhalb der Union, verbrachte Gegenstände steuerrechtlich höher oder niedriger zu belasten als gleichartige inländische Gegenstände.

11 Friedrich, Das Zollrecht im System des deutschen Steuerrechts, StuW 1987, 133; Lux in Regul (Hrsg.), Gemeinschaftszollrecht, 1982, S. 77 ff.; Wolffgang in Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts, 8. Aufl. 2016, Rz. 3. 12 Witte, Unionszollkodex, Kommentar, 7. Aufl. 2018, Einführung Rz.  18  f. In bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraussetzungen lassen sich allerdings auch angesichts des GATT noch Schutz- und Abwehrzölle rechtfertigen. Ein aktuelles Beispiel sind die Antidumpingzölle, dazu Abma, Antidumpingpolitik der Europäischen Union, AW-Prax 1997, 11 ff.; Henke, Steuern und Wirtschaft in Europa, ZfZ 1994, 270 (272 ff.); Picket, Die Erstattung von Antidumpingzöllen nach der Antidumpinggrundverordnung, ZfZ 2014, 257 ff.; Picket, Der Anwendungsbereich von Antidumpingverordnungen, AW-Prax 2014, 110 ff.; Deimel, Teleologische Reduktion im Antidumpingzollrecht?, ZfZ 2014, 9 ff.; Schulmeister, Verzinsung von erstatteten Antidumpingzöllen, AW-Prax 2015, 399 ff.; Berrisch, Die zukünftige Behandlung Chinas in EU-Antidumpingverfahren, EuZW 2016, 881  f.; Suhrke, Antidumpingzölle, Der Zoll-Profi 3/2017, 6 ff. u. 4/2017, 6 ff. 13 Vgl. Förster, Das Verbrauchsteuerrecht, 1989, S. 119 ff.; Bongartz, Überführung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in Zollverfahren, ZfZ 1998, S.  182  ff.; Bongartz/Schröer-­ Schallenberg (Fn. 10), Rz. A 1 ff.

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II. Umsatzsteuer und grenzüberschreitender Warenverkehr Trotz aller Unterschiede in der Zielrichtung zwischen Zöllen einerseits und indirekten Steuern andererseits gibt es Berührungspunkte vor allem dann, wenn das Steuerrecht Antworten auf grenz- oder binnengrenzüberschreitende Phänomene finden muss. Bei der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft und der permanenten Entwicklung des Binnenmarktes ist dies regelmäßig der Fall. Dem Zollrecht kommt hier eine Art Vorbildwirkung oder – wie bereits Vaulont es gesagt hat – „Referenzfunktion“14 zu. Aus verwaltungsökonomischen Gründen und um Verfahrenserleichterungen für die Wirtschaftsbeteiligten zu erreichen, besteht das Bedürfnis, die erforderlichen Überwachungshandlungen und Kontrollen auf das notwendige Maß zu beschränken. Dabei bietet es sich an, das Überwachungsverfahren „federführend“ nur nach einem der betroffenen Regelungsbereiche, also nach dem Zoll- oder Steuerrecht, auszugestalten.15 Bei einer Vielzahl noch näher darzustellender Situationen (dazu III.) ist typischerweise eine solche Gemengelage von zoll- und steuerrechtlichen Interessen anzutreffen. Die Einfuhr von Gegenständen unterliegt der Mehrwertsteuer (Art. 2 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL). Eine Einfuhr liegt insbesondere vor, wenn eine Nicht-Unionsware, die noch nicht oder wegen zwischenzeitiger Ausfuhr nicht mehr in den Wirtschaftskreislauf der Europäischen Union integriert ist (vgl. Art. 29 AEUV, Art. 5 Nr. 23, 24 UZK), in die Union verbracht wird (Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL) und hier in den zollrechtlich freien Verkehr gelangt oder auf andere Weise in den Wirtschaftskreislauf eingegliedert wird (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG).16 In derartigen Einfuhrfällen einen steuerlichen Grenzausgleich nach dem Bestimmungslandprinzip zu installieren, ist dann fiskalisch notwendig, wenn die Steuersätze hoch und unterschiedlich sind, wie es heute in vielen Volkswirtschaften Realität ist. Die Anwendung des Ursprungslandprinzips würde andernfalls zu Wettbewerbsnachteilen für inländische bzw. zu Wettbewerbsvorteilen für ausländische Marktteilnehmer führen. Denn beim Ursprungslandprinzip bleibt die Ware bei ihrer Ausfuhr so belastet, wie sie es im Ausfuhrland nach der dort vorgeschriebenen Inlandsbehandlung ist; eine Entlastung von der Steuer im Zusammenhang mit der Ausfuhr ist nicht vorgesehen. Im Gegenzug wird die Ware anlässlich der Einfuhr nicht mehr (erneut) steuerlich belastet. Den indirekten Steuern kommt mit der ihnen eigenen Zielrichtung, letztlich den Konsumenten oder Nutznießer von Steuergegenständen zu belasten, der Charakter 14 Vaulont in Birk/Ehlers (Hrsg.), Rechtsfragen des europäischen Steuer-, Zoll- und Außenwirtschaftsrechts, 1995, S. 118. 15 Bongartz, ZfZ 1998, S. 182/183 ff.; vgl. auch Jatzke, Die steuerlichen Folgen bei Diebstahl von unter Steueraussetzung stehenden Waren, ZfZ 1997, 408 (413). 16 EuGH v. 2.6.2016 – C-224/14 – Eurogate II; C-226/14 – DHL/HUB Leipzig; v. 18.5.2017  – C-154/16 – LDz; v. 1.6.2017 – C-571/15, ECLI:EU:C:2017:417 – Wallenborn; vgl. bereits v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto; FG Hessen v. 27.9.2016 – 7 K 1863/13 – Wallenborn; FG Hamburg v. 12.10.2016 – 4 K 113/15; FG München v. 9.3.2017 – 4 K 2434/16; von Streit, Die Neufassung des Einfuhrtatbestandes – Problematische Auslegung der gesetzlichen Neuregelung, UStB 2004, 89; auch Bender, AW-Prax 2017, 267 ff.; Schrömbges, ZfZ 2017, 106 ff.

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von Verbrauchsabgaben zu. Auch für die Umsatzsteuer ist dieser Charakter seit der Einführung der für die gesamte Union verbindlichen Nettoumsatzsteuer in der Form der Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug durch Art. 1 Abs.  2 MwStSystRL belegt.17 Dass § 21 Abs. 1 UStG in einer gesetzlichen Fiktion die Einfuhrumsatzsteuer als Verbrauchsteuer bezeichnet, hat allerdings eher ordnende Funktion und will die Abgabenordnung als Mantelgesetz mit ihren verbrauchsteuerrechtlichen Spezialitäten auch für die Einfuhrumsatzsteuer anwendbar machen.18 Gemäß Art. 61, 71 Abs. 1 MwStSystRL werden der „Steuertatbestand und der Steueranspruch“ auf den Zeitpunkt der Erledigung des vorauslaufenden Zollregimes verschoben, und zwar auch dann, wenn sich das Zollverfahren binnengrenzüberschreitend über mehrere Mitgliedstaaten erstreckt. Dabei ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass unter der Geltung des Zollregimes, z. B. während der Lagerung von Nicht-Unionswaren in einem Zolllager, im Zuge der Durchführung einer aktiven Veredelung oder im Verlauf einer Beförderung von Gegenständen im externen Unionsversand umsatzsteuerbare Tatbestände bzw. Tatbestände, die der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs unterfallen, erfüllt werden.19 Das bedeutet ggf. die Umsatzbesteuerung schon vor Entstehen der Einfuhrumsatzsteuer (dazu unten III. 3. a) cc)). Jedenfalls können zollrechtliche Regelungen nur so lange steuerrechtliche Lösungen ersetzen, als die Sicherheit und Effizienz des Kontrollverfahrens zur ordnungsgemäßen Besteuerung gewährleistet werden und die zollrechtlichen Institute dem zentralen fiskalischen Interesse der indirekten Steuern genügen. Soweit das Unionszollrecht diesem Anspruch nicht gerecht wird, besteht bei seiner Anwendung im Bereich der indirekten Steuern die Gefahr von Eingriffen in die nationale Besteuerungshoheit.20 So kommt z. B. das zollrechtliche Ausfuhrverfahren für Unionswaren nicht als steuerliches Überwachungsinstrument in Betracht, da es nicht mit einem Abgabenentstehungsanspruch verknüpft ist, sondern primär der Exportkontrolle dient, also der Überwachung handels- und sicherheitspolitischer Maßnahmen. Dies gilt, obwohl zur Ausfuhr überlassene Waren gem. Art. 158 Abs. 3 UZK unter zollamtlicher Überwachung stehen und folglich Gegenstand von Zollkontrollen sein können. Immerhin soll das Unionszollrecht – so die Erwägungsgründe zum UZK – durch geeignete Vorschriften insgesamt wehrhaft gemacht werden gegen Betrugsfälle oder Unregelmäßigkeiten, die sich nachteilig auf den Unionshaushalt auswirken können.21 Dieses

17 Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (303) m. w. N. 18 Henke/Huchatz, ZfZ 1996, 226 (227); Henke in Küffner/Stöcker/Zugmaier, Umsatzsteuer Kommentar, Loseblattausgabe, § 21 UStG Rz. 9 ff.; Weymüller in Dorsch/Rüsken, B 1 § 21 UStG Rz. 17 ff. Ein bedeutender Unterschied zwischen der Umsatzsteuer und den besonderen Verbrauchsteuern ist jedoch darin zu sehen, dass die Verbrauchsteuern einstufig ausgelegt sind, während bei der Umsatzbesteuerung eingeführter Gegenstände die EUSt nur der (in der Regel erste) Teil der sich über alle Wirtschaftsstufen erstreckenden Besteuerung ist. 19 EuGH v. 20.10.2016 –C-24/15  – Profitube; Schröder, Zollvorschriften und Umsatzsteuer, UVR 1995, 74/79. 20 Jatzke, ZfZ 1997, 408 (413). 21 Z. B. 5., 8. und 15. Erwägungsgrund zum UZK.

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Gesetzgebungsmotiv schafft gute Voraussetzungen für zollrechtliche Lösungen im Umsatzsteuerrecht.

III. Zollrechtliche Lösungen für die Umsatzsteuer 1. Unionszollkodex als Maßstab Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ruht auf drei Säulen, nämlich der Besteuerung von Lieferungen und Dienstleistungen im Inland, der Besteuerung der Einfuhr von Gegenständen im Inland und – als Übergangsregelung bis zur Verwirklichung des Ursprungslandprinzips im Binnenmarkt22 – der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen, Art. 2 Abs. 1 MwStSystRL, § 1 Abs. 1 UStG. Zollrechtliche Lösungen finden sich mit unterschiedlichem Gewicht in jedem der drei Bereiche. Das „Grundgesetz“ für das europäische Zollrecht bildet nach Aufhebung des Zollkodex (ZK) nunmehr der Unionszollkodex (UZK)23 mit seinen Durchführungsbestimmungen (UZK-DA, UZK-IA, UZK-TDA)24. Die Verordnung zur Festlegung des Zollkodex der Union ist bereits am 30.10.2013 in Kraft getreten, aber erst am 1.5.2016 allgemein anwendbar geworden. Es sind also das „Inkrafttreten“ und der „Anwendungsbeginn“ zu unterscheiden. Entscheidend für die Rechtsanwender ist letzterer Zeitpunkt. Denn ersichtlich geht es auch dem EuGH in seiner Rechtsprechung zum Übergang von einem Rechtsregime zu einem anderen durchgängig um den Zeitpunkt, ab dem die materiellen Rechtsänderungen sich tatsächlich auswirken können.25 Der sachliche Anwendungsbereich des Unionszollkodex erstreckt sich gem. Art. 5 Nr. 20 UZK erklärtermaßen aber nur auf die Zölle. Deshalb gelten etwa die Vorschriften über die Nichterhebung von Abgaben in besonderen (Zoll-)Verfahren oder über die Entstehung und das Erlöschen einer Abgabenschuld nicht ohne Weiteres auch für die Einfuhrumsatzsteuer und die anderen für eingeführte Waren zu erhebenden Verbrauchsteuern. Hierzu bedarf es konkreter Anwendungsbefehle im Steuerrecht

22 Vgl. aber die aktuellen Vorschläge zur Änderung der MwStSystRL, COM (2017) 569 final v. 4.10.2017. 23 VO (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.10.2013 zur Festlegung des Zollkodes der Union, ABl. EU L 269 S. 1 v. 10.10.2013 (UZK); zur Aufhebung des ZK s. Art. 286 Abs. 2 UZK. 24 Delegierte Verordnung VO (EU) 2015/2446 v. 28.7.2015 (UZK-DA, UZK-DelVO); Durchführungsverordnung VO (EU) 2015/2447 v. 24.11.2015 (UZK-IA, UZK-DVO); delegierte Verordnung mit IT-Übergangsbestimmungen VO (EU) 2016/341 v. 17.12.2015 (UZKTDA, UZK-ÜDelVO). 25 EuGH v. 23.2.2006  – C-201/04  – Molenbergnatie, zur Festsetzungsverjährung von Zollschulden; BFH v. 24.7.2017 – VII B 165/16; FG Düsseldorf v. 20.6.2016 – 4 K 2955/15; FG Hamburg v. 12.10.2016 – 4 K 160/14; v. 12.4.2017 – 4V16/17; Wolffgang/Felderhoff, AWPrax 2016, 337/338; Lux in Krenzler/Herrmann/Nie­stedt, Art. 288 UZK Rz. 10 f.

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selbst.26 Allerdings erfasst der Unionszollkodex mit dem Begriff der „sonstigen Abgaben“, z. B. in Art. 226 Abs. 1 Buchst. b UZK (Suspensiveffekt beim externen Versand), Art. 237 Abs. 1 Buchst. b UZK (Suspensiveffekt bei Lagerung), auch die Einfuhrumsatzsteuer und die anderen für eingeführte Waren zu erhebenden Verbrauchsteuern. Wichtigster Ausdruck dieser gesetzgeberischen Entscheidung ist die grundsätzliche Ausweitung des Systems der Zollsicherheiten auf die Einfuhrumsatzsteuer gem. Art. 89 Abs. 2 UZK. Zumindest für den Bereich des Versandverfahrens und im Falle von Sicherheitsleistungen, die – etwa im Rahmen einziger Bewilligungen – in mehr als einem Mitgliedstaat Verwendung finden, ist die Realisierung einer Sicherheit für die EUSt obligatorisch; selbstredend sind auch die vereinfachenden Vorschriften über die Gesamtsicherheit mit verringertem Betrag bzw. über die Befreiung von der Sicherheitsleistung (Art. 95 Abs. 2 bis 4 UZK) sinngemäß auf die EUSt übertragbar.27 Diese Erweiterung des Anwendungsbereichs des Unionszollkodex auf die teilharmonisierten indirekten Steuern stellt einen erheblichen Qualitätszuwachs im Unionszollkodex gegenüber dem Zollkodex 1994 zugunsten dieser Finanzzwecksteuern dar. Hintergrund sind die auch mithilfe des Zollrechts zu fördernden zentralen wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedstaaten.28 2. Einfuhrumsatzsteuer Die Entscheidung über die drei Kernelemente der Umsatzbesteuerung und die in Art. 2 Abs. 1 MwStSystRL i. V. m. § 1 Abs. 1 UStG definierten steuerbaren Umsätze/Steuergegenstände liegt – wegen der grundsätzlichen Verpflichtung zur Inlandsbehandlung – beim Steuerrecht und kann auch hinsichtlich der Einfuhrumsatzsteuer nicht pauschal dem Zollrecht entlehnt werden. a) Steuerbarer Umsatz, § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG Die Einfuhr von Gegenständen im Inland unterliegt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG der Umsatzsteuer. Der Gegenstand muss zunächst in das Inland eingeführt, d. h., körperlich verbracht worden sein. Inland ist gem. § 1 Abs. 2 UStG das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die Einfuhr muss darüber hinaus im Inland erfolgt sein. Das ist der Fall, wenn nach dem tatsächlichen physischen Verbringen in das Inland eine Integration der Gegenstände in den Wirtschaftskreislauf der EU – im Sinne eines „Vermarktungsvorgangs zu Verbrauchszwecken“29 – stattgefunden hat. Dies kann sowohl durch die Überführung in das Zollverfahren der Überlassung zum freien Verkehr als 26 Vgl. Middendorp (Fn. 10), S 33 ff.; Middendorp/Schröer-Schallenberg, Bedeutung und Auswirkungen des Zollrechts für das Verbrausteuerrecht unter Berücksichtigung des Unionszollkodex, ZfZ 2016, 86  ff.; Korf/Peterka, Gestaltungen bei der Wareneinfuhr an der Schnittstelle von Zoll und Umsatzsteuer, UVR 2017, 51 ff. 27 Von Bernstorff, Die Sicherheitsleistung im Zollrecht, RIW 2011, 657 ff.; Lux/Scheller/Zaczek, Sicherheitsleistung im neuen Zollrecht – Herausforderungen für die Logistikbranche, ZfZ 2016, 202 ff.; Scheller/Zaczek, Das neue Zollrecht für Steuerberater, MwStR 2016, 601 ff. 28 S. Erwägungsgründe Nr. 9, 13 und 42 zum UZK. 29 Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 ff.

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auch durch faktisches Eingehen in den Unionsmarkt, etwa bei Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung, geschehen. Konsequenterweise gelten Waren gem. Art. 61 Abs. 1 UAbs. 2, Art. 71 Abs. 1 MwStSystRL so lange als nicht eingeführt, als sie sich in einem zollrechtlich überwachten „Nichterhebungsverfahren“ befinden mit der Folge, dass der (Einfuhr-)Umsatz nicht der Mehrwertsteuer unterliegt (Art. 2 Abs.  1 Buchst. d MwStSystRL).30 Gem. Art. 156 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL gehört die vorübergehende Verwahrung (Art. 144  ff. UZK) als den Zollverfahren vorgelagertes Stadium zu diesen Verfahrenssituationen. Darüber hinaus werden die Lagerung, die aktive Veredelung, die vorübergehende Verwendung und der externe Unionsversand von diesem Suspensiveffekt systematisch erfasst (vgl. Art. 210 Buchst. a–d UZK). Aber selbst dann, wenn Waren, z. B. durch Schwund oder Versickern, vernichtet werden oder unwiederbringlich verloren gehen, kann die Einfuhr mangels Eingehens in den Wirtschaftskreislauf des Steuergebiets nicht konstatiert werden. Dies gilt selbst dann, wenn das Zollrecht derartige Vorgänge gem. Art. 79 Abs. 1 Buchst. a UZK als Nichterfüllung einer sich aus zollrechtlichen Vorschriften ergebenden Verpflichtung mit einer Zollschuld belegt.31 Auf derselben Ebene liegt das Urteil des FG Hamburg32, das in Fortsetzung der aktuellen EuGH-Rechtsprechung33 eine Einfuhr im Sinne des Steuergegenstandes der EUSt verneint, wenn Waren im Stadium der vorübergehenden Verwahrung im Verwahrungslager gem. Art. 147 Abs. 2 UZK unzulässigen Behandlungen unterzogen werden und deshalb eine Zollschuld wegen Pflichtverstoßes nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a UZK entsteht, die Waren jedoch im Anschluss an diese Behandlungen nachweisbar und unmittelbar aus der Verwahrung ins Drittland wieder ausgeführt werden.34 b) Sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften, § 21 Abs. 2 UStG § 21 Abs. 2 Satz 1 UStG ist auf den ersten Blick ein umfassender Anwendungsbefehl zu entnehmen, wenn gesagt wird, dass für die Einfuhrumsatzsteuer die Vorschriften für Zölle sinngemäß gelten. Hierbei handelt es sich um eine sog. dynamische Verwei-

30 Ständige Rechtsprechung des EuGH; insb. v. 2.6.2016 – C-224/14 – Eurogate II; C-226/14 – DHL/HUB Leipzig; v. 18.5.2017 – C-154/16 – LDz; v. 1.6.2017 – C-571/15 Wallenborn; vgl. bereits v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto; dazu Schrömbges, ZfZ 2017, 106 ff.; Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 ff.; Wolffgang, Einfuhrumsatzsteuerschuld: Abhängig von der Zollschuld?, UR 2017, 845 ff. 31 So nunmehr ganz eindeutig EuGH v. 18.5.2017 – C-154/16 – LDz; dazu ausführlich Lux/ Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 ff. 32 V. 12.10.2016 – 4 K 113/15; dazu Bender, Keine EUSt-Entstehung bei Wiederausfuhr, AWPrax 2017, 267 f.; Wolffgang, UR 2017, 845 ff. 33 S. Fn.1. 34 Nicht zu entscheiden hatte das FG, wie zu urteilen gewesen wäre, wenn der Umstand der unzulässigen Behandlung vor Wiederausfuhr aufgedeckt und die Zollschuld realisiert worden wäre. Denn damit wäre aus der Nicht-Unionsware durch Statuswechsel im Zeitpunkt der Zoll-Entrichtung eine Unionsware geworden (zumindest früher so ausdrücklich noch Art. 866 ZK-DVO). Für diesen Fall wird wohl eine Integration in den Wirtschaftskreislauf auch umsatzsteuersystematisch anzunehmen sein.

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sung auf das jeweils geltende Zollrecht.35 Die Regelung will die Vorgaben der Art. 71 Abs. 1 UAbs. 2 MwStSystRL in nationales Recht umsetzen und den umsatzsteuerlichen Gebietsausgleich sicherstellen. Dabei ist es entscheidend, dass für den steuerrechtlichen Suspensiveffekt der sog. Nichterhebungsverfahren und beim Steuertatbestand lediglich von einer sinngemäßen Anwendung der Zollvorschriften gesprochen wird. Denn die MwStSystRL greift in Art. 71 Abs. 1 nur hinsichtlich des Zeitpunkts der Steuerentstehung unmittelbar auf das Zollrecht als Überwachungs- und Besteuerungsregime zurück.36 Von der sinngemäßen Anwendung der Zollvorschriften auf die EUSt gem. § 21 Abs. 2 UStG ausgeschlossen ist hingegen die passive Veredelung. Denn § 11 Abs. 2 UStG sieht einfuhrumsatzsteuerrechtliche Sonderregelungen vor, die über die Besteuerung des Veredelungsentgelts zu Vereinfachungen führen. Im Regelfall der kostenlosen Beistellung der Waren durch den Bewilligungsinhaber der passiven Veredelung im Drittland kommt es nicht zu einer steuerfreien Ausfuhr; mangels Übergangs der Verfügungsmacht liegt keine Lieferung gem. § 3 UStG vor. Es ist deshalb gerechtfertigt, bei der Einfuhr der Veredelungserzeugnisse nur auf den Veredelungslohn und den darin verkörperten „Mehrwert“ zu schauen und allein diesen zur Bemessungsgrundlage für die EUSt zu machen. Eine für Zollzwecke bewilligte passive Veredelung hat einfuhrumsatzsteuerrechtlich keine Bedeutung.37 Mit Blick auf die beschriebenen Unterschiede zwischen Zoll und EUSt ist allerdings immer wieder zu prüfen, ob nicht steuerrechtliche Regelungen aus systematischen Gründen Vorrang haben und der direkte Weg ins Zollrecht per se versperrt ist. Das ist insbesondere für den Steuergegenstand gem. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG (dazu oben a)), nach § 5 UStG bei der Thematik der Steuerbefreiung (dazu unten c)) und für die Bemessung einschließlich des Steuertarifs gem. §§ 11 und 12 UStG (dazu unten d)) der Fall. Die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften bedeutet eben nicht Identität der Lösungen.38 Immerhin führt § 21 Abs. 2 UStG in den meisten Fällen der Einfuhr von Gegenständen in das Gemeinschaftsgebiet, soweit es mit dem Zollgebiet kongruent ist39, dazu, dass das zoll- und das steuerrechtliche Ablaufprogramm zu einer verfahrensrechtlichen Einheit werden. Die Überführung in das Zollverfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr umfasst gem. Art. 30, 70 f. MwStSystRL zugleich auch den steuerrechtlichen Entstehungstatbestand  – im Sinne einer systematischen Verzahnung. Der Rückgriff auf das Zollrecht hat nicht zuletzt den Vorteil, dass Zölle und 35 Middendorp (Fn.  10), S.  33  ff.; Middendorp/Schröer-Schallenberg, ZfZ 2016, 86  ff.; Korf/­ Peterka, UVR 2017, 51 ff. 36 Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (304). 37 Vgl. auch DV VSF Z 8224 Abs. 5; Schröder, UVR 1995, 74. Nicht ausgeschlossen ist es allerdings, dass aus verwaltungsökonomischen Gründen auch bei Nicht-Unionswaren, die nur der EUSt unterliegen, dem Vorsteuerabzugsprinzip der Vorrang vor der Bewilligung von Zollverfahren eingeräumt wird; vgl. z. B. für das Zolllagerverfahren DV VSF Z 8224 Abs. 11 Buchst. a. 38 Vgl. auch Thoma, Das Zollrecht im Wandel – Auswirkungen von zollrechtlichen Änderungen auf das Umsatzsteuerrecht, UStB 2006, 46 ff.; Wolffgang, UR 2017, 845 ff. 39 Zu den Abweichungen im Falle des Warenverkehrs mit Drittgebieten unten 3. b).

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EUSt zusammen und nach deckungsgleichen Regeln erhoben werden.40 Zudem wird auf diese Weise gewährleistet, dass die verfahrensrechtlichen Grundlagen der EUSt über die Ausstrahlungswirkung des Unionszollrechts EU-weit einheitlich sind, was für die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Importen in die EU ein entscheidender Gesichtspunkt ist, auch wenn es immer noch an einer Steuersatzanpassung fehlt. Dass diese Lösung in bestimmten Punkten, z. B. bei den zur Verfügung stehenden Steuerschuldnern, bei der Berechnung der Fälligkeitsfrist oder beim Umfang der Haftung zu Ergebnisabweichungen im Verhältnis zur reinen Inlandsbesteuerung führt (vgl. aber die Gestaltungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten gem. Art. 201, 211, 260 MwStSytRL), wird als kleineres Übel hingenommen, zumal es auf den regelmäßig folgenden weiteren Besteuerungsstufen des Umsatzsteuersystems wieder zur konsequenten verfahrenstechnischen Gleichbehandlung zuvor eingeführter und gelieferter Gegenstände kommt. aa) Entstehen und Erlöschen Wie bereits im Kontext mit dem Steuergegenstand der EUSt (dazu oben a)) und dem Prinzip der „sinngemäßen“ Anwendung der Zollvorschriften (dazu oben b)) gezeigt wurde, ist das Entstehen der Zollschuld und der Mehrwertsteuerschuld unabhängig voneinander zu prüfen; beide Schicksale mögen sich berühren, determinieren aber nicht das Ergebnis. Diese grundsätzliche Loslösung der EUSt vom Zoll kann aber auch nicht anders sein, berücksichtigt man die unterschiedliche Natur dieser Abgaben.41 Was aber systematisch für die Entstehung der EUSt gilt, muss konsequenterweise auch für ihr Erlöschen gelten: Gemäß Art. 71 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 2 MwStSyst­ RL wenden die Mitgliedstaaten in Bezug auf Steuertatbestand und Steueranspruch im maßgebenden Zeitpunkt die für Zölle geltenden Vorschriften an. Auch wenn das Erlöschen der EUSt-Schuld nicht namentlich erwähnt wird, wird diese Korrekturmöglichkeit vom Anwendungsbefehl grundsätzlich systematisch erfasst. Mit Rücksicht auf die beschriebenen Strukturunterschiede zwischen Zoll und Steuer darf die Anwendung des Art. 124 UZK aber auch in dieser Situation nur sinngemäß unter Beachtung der strukturellen Besonderheiten der EUSt erfolgen.42 Z.B. dürfte das Erlöschen der EUSt-Schuld nicht auf Art. 124 Abs. 1 Buchst. h i) UZK i. V. m. Art. 103 Buchst. e UZK-DA gestützt werden können in Fällen, in denen die betreffende Person der Zollverwaltung vor dem Entdecktwerden und ohne Täuschungsversuch einen Pflicht­ verstoß avisiert, der betreffende Gegenstand jedoch schon im Unternehmen zweckentsprechend verwendet wurde. Denn in Fällen, in denen eine Integration von Gegenständen in den Wirtschaftskreislauf konstatiert werden muss, führt Art. 124 40 BFHE 153, 463; ZfZ 1988, 297; Gellert, Die Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission im Bereich der Erstattung, des Erlasses und der Nacherhebung von Einfuhrabgaben aus Billigkeitsgründen, ZfZ 1997, 2. 41 Vgl. Wolffgang, UR 2017, 845 ff.; Schrömbges, ZfZ 2017, 106 (107) m. w. N.; Schrömbges/ Lux/Hannl, AW-Prax 2016, 328 ff.; zuletzt Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (304), die §  21 Abs.  2 UStG und den korrespondierenden §  26 Abs.  1 des österreichischen UStG grundsätzlich infrage stellen. 42 So offenbar auch Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (305).

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UZK nicht zum Erlöschen der EUSt, selbst wenn die Voraussetzungen für das Erlöschen der Zollschuld gegeben sind. bb) Erstattung und Erlass Auch für Korrekturen über die Erstattung und den Erlass von EUSt gilt, dass durchaus systematisch einwandfreie Lösungen über eine sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften gefunden werden können. Wie beim Erlöschen macht die MwStSystRL insoweit keine ausdrücklichen Vorgaben, sodass teleologisch vorgegangen werden muss. Dem wird in Deutschland § 14 EUStBV43 i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG gerecht. Danach wird die EUSt erstattet oder erlassen in den in Art. 116 bis 123 UZK bezeichneten Fällen44 „in sinngemäßer Anwendung dieser Vorschriften und der Durchführungsvorschriften dazu“.45 Die Erstattung oder der Erlass hängen allerdings davon ab, dass der Antragsteller hinsichtlich der Gegenstände nicht oder nicht in vollem Umfang nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG zum Vorsteuerabzug berechtigt ist (dazu unten e)); dies gilt aus rechtsstaatlichen Gründen wiederum nicht in den Fällen einer Erstattung oder eines Erlasses von nicht gesetzlich geschuldeten Abgaben (Art. 117 UZK). Selbstredend setzt die Anwendung des Zollregimes zur Korrektur von zu viel erhobener EUSt voraus, dass überhaupt ein steuerbarer (Einfuhr-)Umsatz i. S. v. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG gegeben ist. Sind Gegenstände im Steuergebiet, z. B. im Zolllager oder im externen Unionsversand, zu keinem Zeitpunkt in den Wirtschaftskreislauf integriert und wurden sie alsdann wieder ausgeführt, sind die Art. 116 ff. UZK ggf. für Zollzwecke, aber nicht bzgl. der EUSt anwendbar.46 c) Steuerbefreiung, § 5 UStG Verbrauchsteuern sind verwendungsorientierte Steuern, die bestimmte Verwendungen belasten und für andere Steuervergünstigungen gewähren. Daher enthalten die einschlägigen Vorschriften auch eine Vielzahl von Steuerbefreiungsnormen. Sowohl für das Umsatzsteuer- wie für das Verbrauchsteuersystem wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Regelungen über Steuerbefreiungen oder Steuerbegünstigungen wegen der Verpflichtung zur gleichmäßigen Besteuerung aus dem Steuerrecht und nicht unmittelbar, aber auch nicht in sinngemäßer Anwendung aus dem Zollrecht ergeben können. Dennoch überwiegt vor allem in den Einfuhrfällen das Bedürfnis, auf dem Weg über die Einzelsteuergesetze weitgehend zu den gleichen Steuerbefreiungen zu kommen wie bei der Zollbefreiung in Zusammenhang mit der Überführung in das (Zoll-)Verfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr. Für das gemeinsame Mehrwertsteuersystem bietet Art. 143 MwStSystRL eine entspre43 V. 11.8.1992 (BGBl. I S. 1526), zuletzt geändert durch Gesetz v. 3.12.2015 (BGBl. I S. 2178). 44 § 14 EUStBV verweist derzeit noch auf die Vorgängerbestimmungen des ZK und muss im Sinne einer dynamischen Verweisung ausgelegt werden; vgl. insb. Art. 286 Abs.  3 UZK; dazu auch DV Z 8101 Abs. 141 ff. 45 BFH v. 3.5.1990 – VII R 71/88; v. 9.12.2010 – VII R 20/10; vgl. auch Summersberger, StAW 2016, 43 (53 ff.); kritisch Schrömbges/Killmann, AW-Prax 2017 119 (125) m. w. N. 46 EuGH v. 2.6.2016 – C-224/14 – Eurogate II; C-226/14 – DHL/HUB Leipzig.

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chende Ermächtigung an, die durch § 5 UStG i. V. m. der EUStBV z. B. für Übersiedlungsgut, Warenmuster, Werbemittel, Treibstoff in Kfz, Verteidigungsgut, Schiffsvorrat, Diplomaten- und Konsulargut sowie Rückwaren in deutsches Recht umgesetzt wurde. Eine vergleichbare Rolle mit Verweisungsfunktion auf die Zollbefreiungen spielt bei der Einfuhr verbrauchsteuerpflichtiger Waren die Einfuhr-Verbrauchsteuerbefreiungsverordnung47. Sowohl für die Umsatzsteuer als auch für die Einfuhrverbrauchsteuern bestimmt sich die Steuerbefreiung von Waren im persönlichen Gepäck von Reisenden und in Kleinsendungen nicht kommerzieller Art ausschließlich nach der Einreise-Freimengen-Verordnung48 und der Kleinsendungs-Einfuhrfreimengen-­ Verordnung49. aa) „Verfahren 42“ Im sog. „Verfahren 42 (VC 42)“ geht es um die Steuerbefreiung bei innergemeinschaftlichen Anschlusslieferungen. Zollrechtlich wird die Ware/der Gegenstand in das (Zoll-)Verfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr abgefertigt. Eine – hier jetzt unzweifelhaft vorliegende – Einfuhr wird von der EUSt befreit, weil die anschließende Lieferung eines Gegenstandes in einen anderen EU-Mitgliedstaat erfolgt und dieser dort der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs unterliegt – ein „typisches Binnenmarktszenario“!50 Rechtsgrundlagen dieser Steuerfreiheit sind Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2 i. V. m. Art. 20 und Art. 138 MwStSystRL und in Umsetzung dieser Vorgaben § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG in Deutschland sowie Art. 6 Abs. 3, Art. 7 UStG/BMR in Österreich.51 Entsprechendes gilt für das „Verfahren 63 (VC 63)“, d. h. bei der Einfuhr nach erfolgter passiver Veredelung in einem Drittland. Es fragt sich, was eine im Kern innergemeinschaftliche (Anschluss-)Lieferung mit dem Zoll zu tun hat.52 Aufschluss kann hier die rechtlich genaue Bezeichnung der Verfahrensvariante „42“ in den Datenanforderungen des UZK und seiner Durchführungsbestimmungen geben. Diese ist im Merkblatt zu Zollanmeldungen, summarischen Anmeldungen und Wiederausfuhrmitteilungen53 dokumentiert: Es handelt sich dabei 47 V. 8.6.1999 (BGBl. I S.  1414), zuletzt geändert durch Verordnung v. 1.7.2011 (BGBl. I S.1308). 48 V. 24.11.2008 (BGBl. I S. 2235, 2009 I S. 403). 49 V. 11.1.1979 (BGBl. I S. 73), zuletzt geändert durch Verordnung v. 22.12.2003 (BGBl. I 2004 S. 21). 50 Müller-Eiselt in Reiß/Kräusel/Langer, Umsatzsteuergesetz, § 5 UStG Rz. 7 und 175. 51 Ausführlich zum Verfahren 42 Summersberger, Ausgewählte Praxisfragen im Zusammenhang mit dem Verfahren 42, ZfZ 2011, 309 ff.; Summersberger, Verfahren 42: Eine Analyse zu einfuhrumsatzsteuerrechtlichen Vereinfachungen, StAW 2016, 43 ff.; Herzig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verfahrens 42, in Summersberger (Hrsg.), Einfuhr und innergemeinschaftliche Lieferung, 2014, S. 13; Schrömbges, Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Anschlusslieferung im Verfahrenscode 42, ZfZ 2013, 1 ff.; Schrömbges/Killmann, Innergemeinschaftliche Anschlusslieferung und Zoll, AW-Prax 2017, 119 ff.; Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (304). 52 So die im Untertitel ihrer Abhandlung von Schrömbges/Killmann, AW-Prax 2017, 119, gestellte Frage. 53 Zuletzt Ausgabe 2018 – VSF Z 3455.

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definitorisch um die „gleichzeitige Überlassung in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr mit steuerbefreiender Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat“.54 Die Steuerbefreiung ist gem. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG an teils komplexe Voraussetzungen geknüpft (innergemeinschaftliche Lieferung durch einen Schuldner der EUSt im Anschluss an Akteure, die Einfuhr, Vorhandensein und Gültigkeit der USt-ID-Nummern aller ­ ­Nachweis der unmittelbaren Beförderung oder Versendung in das übrige steuerliche Gemeinschaftsgebiet), die in der Praxis nur schwer nachweisbar und überprüfbar sind.55 Diese Lage korrespondiert mit ausgesprochen niederschwelligen Zugangsvoraussetzungen: Es gibt kein vorauslaufendes Bewilligungsverfahren, zumal das „Verfahren 42“ ja auch kein Zollverfahren, sondern lediglich eine umsatzsteuerrechtlich motivierte und dem nicht voll harmonisierten Binnenmarkt geschuldete Variante des Verfahrens der Überlassung zum freien Verkehr ist. Wird jedoch festgestellt, dass die o.  a. Voraussetzungen nicht vorliegen, ist die seitens der Zollverwaltung gewährte Steuerbefreiung „ex tunc“ unwirksam und die Freischreibung ggf. gem. Art. 27 f. UZK zurückzunehmen oder zu widerrufen.56 Es lag folglich im Zeitpunkt der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr eine steuerbare und  – mangels Befreiung  – steuerpflichtige Einfuhr im Sinne einer Integration in den Wirtschaftskreislauf vor. Es soll ja eine Einfuhr von der Umsatzsteuer befreit werden und nicht eine innergemeinschaftliche Lieferung.57 Die vollzogene Einfuhr führt folglich zur Nacherhebung der EUSt auf Grundlage sinngemäß anwendbarer Zollvorschriften (Art. 21 Abs. 2 UStG, Art. 77 Abs. 1 Buchst. a i. V. m. Art. 201 und Art. 102 Abs. 3 UZK) durch die Zollverwaltung. Denn die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung müssen – quasi prognostisch – im maßgebenden Zeitpunkt der Zollabfertigung bewertet werden und vorliegen.58

54 S. Anhang 6 – Zu Daten-Feld Nr. 37, Abschnitt A – Erstes Unterfeld, VSF Z 3455. 55 Eindringlich unter Auflistung der sich zwischen Wirtschaft, Verwaltung und Rechtsprechung ergebenden Streitpunkte Summersberger, StAW 2016, 43 ff. 56 Art. 27 f. UZK lassen sich ebenfalls über § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß auf die fälschlich gewährte EUSt-Befreiung anwenden; so offenbar auch Schrömbges/Killmann, AW-Prax 2017, 119 (121 ff.). 57 Summersberger, StAW 2016, 43 (55). 58 BFH v. 26.1.2012  – VII R 77/10; FG München v. 20.10.2016  – 14 K 1770/13; FG Berlin-Brandenburg v. 14.6.2017 – 1 K 1065/16; auch Summersberger, StAW 2016, 43 (53), der zu Recht davon spricht, dass es im Verfahren 42 grds. um ein „Einfuhrproblem“ geht; offenbar anderer Ansicht ohne überzeugende Begründung Schrömbges/Killmann, AW-Prax 2017, 119 ff., die u. a. auf die Vorschriften über die buchmäßige Erfassung, insb. Art. 105 Abs.  4, im UZK zurückgreifen und dabei übersehen, dass diese mit Anwendbarkeit des UZK vom Festsetzungsverfahren abgekoppelt wurden, weil sie lediglich der rechtsförmlichen Überweisung der traditionellen Eigenmittel an die EU dienen (vgl. Lux, Textfassung und Leitfaden UZK 2016, S. 30 f.; VO (EU, Euratom) Nr. 608/2014, ABl (EU) L 168, S. 29 v. 7.6.2014; Beschluss des Rates v. 7. Mai 2014 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union (2014/335[EU, Euratom]). Abzustellen ist für die EUSt – wie für den Zoll – auf den maßgebenden Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung, Art. 77 Abs. 2, Art. 85 Abs. 1 UZK. Vgl. auch Schrömbges, ZfZ 2016, 106 ff.; interessant insoweit auch das litauische Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH – C-108/17 – UAB Enteco Baltic.

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bb) Rückwaren Nach § 1 Abs. 2a EUStBV, der auf § 5 Abs. 2, 3 UStG basiert, sind Gegenstände, die nach Art. 203 bis 207 UZK sowie den entsprechenden Durchführungsbestimmungen als Rückwaren frei von Einfuhrabgaben i. S. d. Art. 5 Nr. 20 UZK – also zollfrei – eingeführt werden können, in sinngemäßer Anwendung dieser Vorschriften vorbehaltlich des § 12 EUStBV einfuhrumsatzsteuerfrei.59 Durch diese zum 1.1.1994 durch die Erste Verordnung zur Änderung der EUStBV 1993 eingefügte Vorschrift60 wurde die Steuerbefreiung für Rückwaren aus dem nationalen Bereich gelöst und an die Zollvorschriften des EU-Zollrechts „angehängt“.61 Dabei sind gewisse systematisch geforderte Besonderheiten bezüglich des Ausschlusses der Steuerfreiheit bestehen geblieben (vgl. § 12 EUStBV). EU-rechtliche Rechtsgrundlage ist Art. 143 Abs. 1 Buchst. e MwStSystRL. Der Sinn der Befreiung liegt im Kern darin, Personen, die hinsichtlich dieser Gegenstände nicht oder nicht in vollem Umfang zum Vorsteuerabzug berechtigt sind und die die zuvor ohne steuerbefreite Lieferung ausgeführten Gegenstände innerhalb von drei Jahren unverändert zurückerhalten, bei der umsatzsteuerrechtlichen Einfuhr (dazu oben a)) nicht nochmals mit (Einfuhr-)Umsatzsteuer zu belasten. Dabei erstreckt sich die Befreiung nicht nur auf Rückwaren, die zur Gänze unverändert wieder eingeführt werden, sondern erfasst auch Teilmengen sowie Teile und Zubehör der zuvor ausgeführten Gegenstände.62 Die Gewährung der Steuerfreiheit für Rückwaren setzt jedoch voraus, dass als Zusatzantrag zur Zollanmeldung zum (Zoll-) Verfahren der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr ein entsprechender Antrag auf Abfertigung als Rückware gestellt wird. Dies geschieht regelmäßig im Datenfeld 37 mit der Codierung 4010 und dem Zusatzcode F01.63 Die Steuerbefreiung für Rückwaren i. S. d. Art. 203 UZK ist – trotz zu gewährender Zollbefreiung – gem. § 12 EUStBV jedoch in mehrfacher Hinsicht ausgeschlossen: (1) Wurden die Gegenstände vor der Einfuhr geliefert, also im Drittland seitens eines Unternehmers einem Dritten Verfügungsmacht über die Gegenstände verschafft (§ 3 Abs. 1 UStG), beseitigt dieser Umstand die EUSt-Befreiung. Dabei ist der Begriff „geliefert“ in § 12 Satz 1 Nr. 1 EUStBV auf solche Lieferungen beschränkt, die im Inland steuerpflichtig gewesen wären.64 Hintergrund ist der Verlust des steuerlichen Sachzusammenhangs zwischen Aus- und Wiedereinfuhr. 59 §  1 EUStBV verweist derzeit noch auf die Vorgängerbestimmungen des ZK und muss im Sinne einer dynamischen Verweisung ausgelegt werden; vgl. insbesondere Art. 286 Abs. 3 UZK. 60 BGBl. 1994 I S. 302, berichtigt BGBl. 1994 I S. 523. 61 Ruschmeier in Küffner/Stöcker/Zugmaier (Fn. 18), § 5 UStG Rz. 300. 62 Ruschmeier in Küffner/Stöcker/Zugmaier (Fn. 18), § 5 UStG Rz. 302. 63 S. Merkblatt zu Zollanmeldungen, Anhang 6 – Zu Daten-Feld Nr. 37, Abschnitt B – Zweites Unterfeld, VSF Z 3455. 64 Hess. FG v. 8.6.2016 – 7 K 356/13, ECLI:DE:FGHE:2016:0608.7K356.13.0A: keine steuerfreie Ausfuhrlieferung und keine Lieferung vor Einfuhr bei Verbringen geraubter Ware nach Serbien und dortiger Beschlagnahme durch die Behörden; folglich Erhalt der EUSt-Befreiung bei Rückführung der Gegenstände durch die Versicherung. §  12 Nr.  1 EUStBV ist darüber hinaus nicht einschlägig bei Lieferungen auf Kreuzfahrtschiffen im

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(2) Wurden Gegenstände im Rahmen einer steuerfreien Lieferung (§ 4 Nr. 1 UStG) von einer Person ausgeführt, was im unternehmerischen Kontext der Regelfall ist, ist die EUSt-Befreiung des Weiteren ausgeschlossen. Verhindert werden soll quasi eine „Doppelbegünstigung“, die in der Anerkennung einer steuerfreien Ausfuhrlieferung einerseits und der Steuerbefreiung bei der (Wieder‑)­­­­Einfuhr andererseits liegen würde. Hier ist allerdings die sich aus § 12 Satz 2 EUStBV ergebende Rückausnahme zu beachten: Erhält derjenige, der die Ausfuhrlieferung bewirkt hat, den Gegenstand zurück und ist er in vollem Umfang hinsichtlich der betreffenden Waren zum Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG berechtigt, bleibt es aus Vereinfachungsgründen bei der Rechtsfolge der EUSt-Befreiung. (3) Wurden die Gegenstände gem. § 4a UStG von der Umsatzsteuer entlastet (Steuervergütung von gemeinnützigen Körperschaften und juristischen Personen des öffentlichen Rechts) und sind sie daraufhin ins Drittland gelangt, ist schließlich die EUSt-­ Freiheit derartiger Rückwaren ebenfalls ausgeschlossen. d) Bemessung der EUSt, § 11 UStG Anders als § 10 UStG, der für Lieferungen, sonstige Leistungen und bei innergemeinschaftlichem Erwerb auf das Entgelt abstellt, richtet sich die Bemessung der EUSt aufgrund des Anwendungsbefehls in § 11 Abs. 1 UStG nach den zollwertrechtlichen Regeln, die wiederum in Art. 70 bis 76 UZK und Art. 117 bis 146 UZK-IA niedergelegt sind. Damit geht die Bedeutung der Zollwertfestsetzung über deren originären Anwendungsbereich bei der Erhebung der Abgabe Zoll hinaus. Aus der Warte der EUSt bedarf es vor diesem Hintergrund einer vertiefenden Auseinandersetzung mit den Zollvorschriften; die Ausgangslage ist damit ähnlich wie bei § 21 Abs. 2 Satz 1 UStG. Aufgrund der Regelung in Art.  85 MwStSystRL ist auf der Grundlage des Unionsrechts eine Festlegung auf den durch die geltenden Regelungen bestimmten Zollwert als nunmehr alleinige Bemessungsgrundlage erfolgt, der die Vorschrift des § 11 Abs. 1 UStG entspricht.65 Nunmehr ist – mit Ausnahme der passiven Veredelung (vgl. § 11 Abs. 2 UStG) – bei der Einfuhr allein auf den „Wert des eingeführten Gegenstandes nach den jeweiligen Vorschriften über den Zollwert“ als Ausgangspunkt abzustellen. Das gilt folglich auch dann, wenn im Zolltarif kein Wertzoll, sondern – wie vor allem im Agrarbereich – ein spezifischer, gewichts- oder stückzahlabhängiger Zollsatz vorgesehen ist. Im Detail sind Abweichungen und Modifikationen zu konstatieren, die dann allerdings von Art.  86  ff. MwStSystRL vorgegeben oder den Mitgliedstaaten zur Disposition gestellt wurden. So sind die Nebenkosten – wie Provisions-, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten –, die bis zum ersten Bestimmungsort der Gegenstände im Gebiet des Einfuhrmitgliedstaats entstehen, sowie diejenigen, die sich aus der Beförderung nach einem weiteren Bestimmungsort in der Gemeinschaft ergeben, der zum Zeitpunkt, zu dem der Steuertatbestand eintritt, bekannt ist, Rahmen von Kreuzfahrten, die ohne Halt außerhalb des Gemeinschaftsgebiets im deutschen Teil des Gemeinschaftsgebiets beginnen oder enden. 65 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Bezugnahme auf das Zollwertrecht EuGH v. 3.2.2000 – C-228/98, RIW 2000, 313 ff.

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ebenfalls in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen (Art. 86 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL i. V. m. § 11 Abs. 3 Nr. 3, 4 UStG). Zu betonen bleibt, dass der Weg vom Einfuhrumsatzsteuerrecht ins Zollwertrecht anders als etwa bei der Anwendung der EUSt-Schuldentstehungstatbestände (dazu oben b) aa)) nicht über § 21 Abs. 2 UStG vorgezeichnet wird, sondern als Regelung der Steuerbemessung über eine eigenständige gesetzgeberische Entscheidung. Das entspricht der Steuersystematik, nach der sich aus Gründen der Andersartigkeit der EUSt als Verbrauchsteuer (§ 21 Abs. 1 UStG) in Abgrenzung zu den Zöllen eine pauschale Regelungsparallelität bei Steuergegenstand, Steuerbemessung und Steuerbefreiungen verbietet. e) Vorsteuerabzug der EUSt, § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG Nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG gehört zur abziehbaren Vorsteuer auch die EUSt. Die EUSt belastet die Einfuhrbezüge für das Unternehmen. Wäre sie nicht als Vorsteuer abziehbar, würde sie zu einer „systemwidrigen Kumulierung“ führen.66 Bei Berechtigung zum vollen Vorsteuerabzug wirkt sich ein zu viel oder zu wenig erhobener EUSt-Betrag infolge der systembedingten Nachholwirkung steuerlich nicht aus. Fehlt dagegen die Berechtigung zum vollen Vorsteuerabzug, so findet kein späterer Ausgleich statt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu sehen, dass § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG verlangt, dass die Gegenstände, die der EUSt unterlagen, für das Unternehmen des Berechtigten eingeführt worden sind. Diese Voraussetzung ist aber nur dann erfüllt, wenn der eingeführte Gegenstand in den im Inland belegenen Unternehmensbereich des Unternehmers direkt oder indirekt zur Ausführung eigener Umsätze eingeht. Dies trifft insbesondere auf Unternehmer zu, die im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über den Gegenstand besitzen (Absch. 15.8. Abs. 4 Satz 2 UStAE).67 Personen, die lediglich an der Einfuhr mitgewirkt haben, ohne über den Gegenstand verfügen zu können (z. B. Spediteure, Frachtführer, Handelsvertreter, Logistiker, Zolllagerbetreiber usw.), sind auch dann nicht abzugsberechtigt, wenn sie den eingeführten Gegenstand vorübergehend entsprechend den Weisungen ihres Auftraggebers auf Lager nehmen (Absch. 15.8. Abs. 5 Satz 3 UStAE).68 Der Vorsteuerabzug der EUSt kommt schließlich nach der Rechtsprechung des EuGH auch dann nicht in Betracht, 66 Grune in Küffner/Stöcker/Zugmaier (Fn. 18), § 15 UStG Rz. 315; Burghardt, Vorsteuer aus Einfuhrumsatzsteuer, MwStR 2017, 308 ff. 67 Grune in Küffner/Stöcker/Zugmaier (Fn.  18), §  15 UStG Rz.  321; vgl. auch BFH v. 24.4.1980 – V R 52/73, BStBl. II S. 615. 68 EuGH v. 25.6.2015 – C-187/14 – DSV Road; BFH v. 11.11.2015 – V R 68/14, BStBl. 2016 II S. 720; vgl. auch Summersberger, StAW 2016, 43 (49) m. w. N.; Krumenacker, Vorsteuerabzugsberechtigung aus der Sicht des Unabhängigen Finanzsenats, in Summersberger (Fn. 51), S. 167 ff.; Killmann, Die unionsrechtlichen Grundsätze einer Vorsteuerabzugsberechtigung, in Summersberger (Fn. 51), S. 135 ff.; Ritz, Konsequenzen der Lieferbedingungen „DDP“ für Zoll und Umsatzsteuer, AW-Prax 2015, 115 ff.; Kuhr/Schrömbges, Der EuGH zum Vorsteuerabzug bei der Einfuhrumsatzsteuer, MwStR 2016, 14 ff.; Looks/Menzel, Einfuhrumsatzsteuer und Vorsteuerabzug, MwStR 2016, 169; Burghardt, MwStR 2017, 308 ff.; vgl. auch DV Z 8101 Abs. 16.

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wenn der Lieferer und Abnehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich an einem Umsatz beteiligt, der – z. B. in einem sog. Karussellgeschäft – in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war.69 Nicht erforderlich ist es, dass der Unternehmer die EUSt entrichtet hat bzw. schuldet. Er kann sie als Vorsteuer auch dann abziehen, wenn sein Beauftragter (z. B. der Spediteur, der Frachtführer oder der Handelsvertreter) – insbesondere in der Konstellation der indirekten Stellvertretung (Art. 5 Nr. 15, Art. 18 Abs. 1, Art. 77 Abs. 3 UZK) – Schuldner der EUSt ist (Absch. 15.8. Abs. 7 UStAE). Zum Vorsteuerabzug berechtigt die „entstandene“ EUSt § 15 Abs. 1 Nr. 2 wurde entsprechend zum 30.6.2013 geändert. Die Novelle beruht auf der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „Véleclair“70, der damit Art. 168 Buchst. e MwStSystRL zur Durchsetzung in den Mitgliedstaaten verhalf.71 3. Umsatzsteuer Während es sich hinsichtlich der Einfuhrumsatzsteuer als „dritter Säule“ der Umsatzbesteuerung (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG) noch erschließt, dass sich aus der „Einfuhrproblematik“ beim grenzüberschreitenden Warenverkehr Berührungspunkte zum Zollrecht ergeben können, fällt es auf den ersten Blick schwer, wegen des noch größeren Systemunterschieds an zollrechtliche Lösungen zur Klärung umsatzsteuerrechtlicher Fragen im Bereich der „inneren“ Umsatzsteuer (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG) oder auf dem Sektor der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG) zu glauben. Immerhin sollen die Mitgliedstaaten zur Anwendung der ermäßigten Steuersätze im Sinne des Art. 98 Abs. 1 MwStSystRL auf die privilegierten Gegenstände der Kategorien des Anhangs III zu Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL diese anhand der Kombinierten Nomenklatur, also anhand des internationalen Warenverzeichnisses des Zollrechts, genau abgrenzen.72 In der Folge spielen verbindliche und unverbindliche Zolltarifauskünfte73 im umsatzsteuerrechtlichen Alltag eine erhebliche praktische Rolle. 69 EuGH v. 7.6.2006 – C-439/04 und C-440/04; Summersberger, StAW 2016, 43 (49) m. w. N. 70 V. 29.3.2012 – C-414/10, DStR 2012, 697. 71 Grune in Küffner/Stöcker/Zugmaier (Fn. 18), § 15 UStG Rz. 339/1. 72 Polok/Urso, Aktuelle Zolltarifverordnung und ihre Bedeutung für die Umsatzsteuer, UR 2014, 305 ff.; Weymüller, Der neue Unionszollkodex und seine Auswirkungen auf die Umsatzsteuer, MwStR 2016, 487 ff. 73 Zuletzt Nds. FG v.18.5.2017 – 5 K 250/15 m. w. N. Die im Prüfungsbericht zugrunde gelegten unverbindlichen Zolltarifauskünfte, wonach diese Waren der Regelbesteuerung unterlägen, seien nicht geeignet, eine endgültige Eingruppierung der Produkte vorzunehmen. Der BFH habe bereits entschieden, dass die Finanzgerichte eigenständig die Tarifierung vornähmen und hierbei nicht an den Inhalt der unverbindlichen Zolltarifauskünfte gebunden seien. Vgl. auch Höink/Hudasch, Reverse-Charge bei der Lieferung von Edelmetallen, unedlen Metallen und Cermets, NWB 2015, 1718 ff.; Möllenhoff/Panke, Die beidseitige Bindungswirkung der vZTAs nach neuem Recht, AW-Prax 2016, 51  ff.; Schoenfeld, Rechtsschutz gegen verbindliche Zolltarifauskünfte, AW-Prax 2017, 3 ff.

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a) Steuerbefreiung, § 4 UStG Ein Einfallstor für zollrechtliche Lösungen auf dem Sektor der Umsatzsteuer sind vor allem die in § 4 UStG geregelten Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen. aa) Ausfuhrlieferungen Eine Sonderstellung nimmt das zollrechtliche Ausfuhrverfahren gem. Art. 5 Nr. 16 Buchst. c, Art. 269 UZK ein74. Der Export von Unionswaren aus dem Zollgebiet der Union hat zwingend durch dieses „Nadelöhr“ zu erfolgen. Was auf den ersten Blick nach einer Erschwernis für die Exporttätigkeit der europäischen Wirtschaft aussieht, dient bei genauerem Hinsehen vor allem der legitimen Kontrolle der bei der Ausfuhr zu beachtenden handels- und sicherheitspolitischen Maßnahmen.75 Entsprechend gering ist der Nutzen des Ausfuhrverfahrens für die Überwachung der indirekten Steuern. Insbesondere kann das Ausfuhrverfahren nicht das Verfahren der Steueraus­ setzung im Verbrauchsteuerrecht ersetzen. Denn obwohl zum Ausfuhrverfahren überlassene Waren gem. Art. 158 Abs. 3 UZK unter zollamtlicher Überwachung stehen, ist das Verfahren selbstredend nicht mit einem Abgabenentstehungsanspruch ausgestattet. Entsprechend „leidenschaftslos“ sind die zollrechtlichen Reaktionen auf Unregelmäßigkeiten zwischen Ausfuhr- und Ausgangszollstelle76. Gleiches gilt für das Verbringen der Waren der vorübergehenden Ausfuhr (Unionswaren) aus dem Zollgebiet der Union im Rahmen einer bewilligten passiven Veredelung, das ebenfalls nach den Regeln des Ausfuhrverfahrens abgewickelt wird (Art. 269 Abs. 3 UZK). Bei der Ausfuhrzollstelle wird die Zulässigkeit der Ausfuhr geprüft. Das tatsächliche Verbringen der Waren aus dem Zollgebiet hat dann über die sog. Ausgangszollstelle an der Außengrenze der Union einschließlich der Häfen und Flughäfen zu erfolgen. Die Ausgangszollstelle überzeugt sich davon, dass die gestellten Waren den angemeldeten Waren entsprechen, und überwacht den körperlichen Ausgang der Waren aus dem Zollgebiet der Union. Als Grundlage für eine gegebenenfalls auf Grundlage einer Risikoanalyse durchzuführende Warenkontrolle durch die Ausgangszollstelle dient die ihr zuvor von der Ausfuhrzollstelle übersandte Nachricht „Vorab-Ausfuhranzeige“ (Art. 330 UZK-IA). Im elektronischen Standardverfahren tritt an die Stelle des früheren – und heute nur noch im Notfallverfahren genutzten – Einheitspapier-Exemplars Nr. 3 die elektronische Rückantwort an die Ausfuhrzollstelle in Form der „Ergebnisse beim Ausgang“ und an den Teilnehmer/Ausführer IT-gestützt in Form des sog. Ausgangsvermerks 74 Bereits Wolffgang in Bieneck (Hrsg.), Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, 1998, S. 392 ff. 75 Vgl. vor allem die Auflistung in Art. 267 Abs. 3 Buchst. e UZK; Überblick auch bei Krakowka in Bieneck (Fn. 74), S. 11 ff.; Wolffgang, Verzahnung von Exportkontroll- und Zollrecht, AW-Prax 2010, 180 ff. 76 Vgl. allerdings Art. 340 UZK-IA und § 30 Abs. 7 Nr. 30 ZollV, der das Absehen von der Ausfuhr einer bereits überlassenen Ware unter dem ZK noch zur Ordnungswidrigkeit gem. § 382 Abs. 1 Nr. 2 AO machte.

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(„AGV“ – Art. 333 f. UZK-IA).77 Hat die Ausfuhrzollstelle 90 Tage nach dem Tag der Überlassung der Waren zur Ausfuhr keine Nachricht über den Ausgang erhalten, kann sie den Ausführer bzw. Anmelder auffordern anzugeben, an welchem Datum und von welcher Zollstelle aus die Waren das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassen haben (Art. 335 UZK-IA). Der Ausführer oder Anmelder kann die Ausfuhrzollstelle von sich aus oder auf eine zollamtliche Anfrage hin entsprechend informieren und von der Ausfuhrzollstelle verlangen, dass diese den Ausgang bescheinigt. In diesem Fall fordert die Ausfuhrzollstelle die Nachricht „Ergebnisse beim Ausgang“ von der Ausgangszollstelle an. Der Ausführer oder Anmelder hat gegenüber der Ausfuhrzollstelle den (Alternativ-)Nachweis darüber zu erbringen, dass die Waren das Zollgebiet der Union verlassen haben. Der Nachweis wird durch geeignete Dokumente wie z. B. eine Kopie des vom Empfänger außerhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft unterzeichneten oder authentifizierten Lieferscheins, ein von den Zollbehörden eines Mitgliedstaats oder eines Landes außerhalb des Zollgebiets der Union beglaubigtes Dokument oder durch eine Kombination solcher oder ähnlicher Dokumente erbracht (vgl. Art. 335 Abs. 4 UZK-IA). Im Gegensatz zum Recht der besonderen Verbrauchsteuern, das dem zollrechtlichen Ausfuhrverfahren keinerlei Überwachungs- und Kontrollkompetenz zutraut, wird dem zollrechtlichen Ausfuhrverfahren für Umsatzsteuerzwecke mehr Bedeutung beigemessen, allerdings nicht wegen eines steuerlichen Suspensiveffekts, sondern wegen seiner Beweiskraft für steuerfreie Ausfuhrlieferungen (§ 4 Nr. 1 Buchst. a UStG). Der Ausfuhrnachweis ist eine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Steuerbefreiung. Bereits im Vorfeld des EU-Binnenmarkts 1993 haben Rat und Kommission in einer besonderen Protokollerklärung zu Art. 1 Nr. 13 der Binnenmarkt-Richtlinie klargestellt, dass die Steuerbefreiung von der Vorlage eines qualifizierten gemeinschaftlichen Zolldokuments abhängig gemacht werden kann.78 Die Problematik des Ausfuhrnachweises wird in §§ 8 ff. UStDV komplex geregelt; dabei müssen sich die Voraussetzungen für eine steuerfreie Ausfuhrlieferung aus den Belegen „eindeutig und leicht nachprüfbar“ ergeben (§ 8 Abs. 1 S. 2 UStDV). Da kein spezielles Überwachungsverfahren für Umsatzsteuerzwecke existiert, wird grundsätzlich das zollrechtliche Ausfuhrverfahren für diesen Zweck genutzt. Der elektronische Ausgangsvermerk gilt als Beleg i. S. d. § 9 Abs. 1 oder § 10 Abs. 1 UStDV und wird durch die Landesfinanzbehörden als Nachweis (Ausfuhrnachweis) für Umsatzsteuerzwecke anerkannt. Er wird bei elektronischer Ausfuhrabwicklung sowohl in Beförderungs- als auch in Versendungsfällen erstellt. Anstelle des „Ausgangsvermerks“ kann auch ein „Alternativ-Ausgangsvermerk“ anerkannt werden, wenn das oben beschriebene Verfahren des Art. 335 Abs. 4 UZK-IA eingehalten wurde.79 Das BMF hat in der VSF unter der Kennung A 0693-3 eine spezielle Ausfuhrnachweis-Dienstvorschrift für Umsatzsteuerzwecke mit vielen Einzelheiten geschaffen. Die77 Vgl. Verfahrensanweisung ATLAS Stand September 2017, Kap. 4.9.3 Abs. 3. 78 Vgl. Schlienkamp, UR 1992, 189 (191). 79 Insgesamt Harksen, Die neuen Nachweispflichten in der Umsatzsteuer, AW-Prax 2012, 62  ff.; Huschens, Beleg- und Buchnachweispflichten bei Ausfuhrlieferungen ab 1.1.2012, UVR 2012, 77 ff.

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se Dienstvorschrift regelt die Mitwirkung der Zolldienststellen bei der Erteilung des Ausfuhrnachweises für Umsatzsteuerzwecke. Darüber hinaus wird die Thematik der Ausfuhrnachweise für Umsatzsteuerzwecke in den Abschn. 6.5. bis 6.12. UStAE ausführlich abgehandelt, systematisiert nach Beförderungsfällen, Versendungsfällen, Beund Verarbeitungsfällen und im Reiseverkehr. bb) Beförderungsdienstleistungen Auch das auf das Inland bezogene Umsatzsteuerrecht kennt Kontaktpunkte zum Zollrecht. Diese machen dort allerdings keine Anleihen, um die steuerliche Überwachung sicherzustellen, sondern sollen vor allem abgabenrechtliche Diskriminierungen zwischen Unions- und Nicht-Unionswaren verhindern oder wurden schlicht aus Praktikabilitätsgründen gewählt. Dazu gehören die Steuerbefreiungen mit Grenzbezug.80 Die Umsatzsteuerbefreiung gilt etwa für Leistungen (insbesondere Speditionsund Logistikdienstleistungen), die im Zusammenhang mit der Beförderung von Gegenständen der Ausfuhr (Unionswaren) oder im Zusammenhang mit Gegenständen stehen, die im externen Versandverfahren (Nicht-Unionswaren) in Drittländer befördert werden (§ 4 Nr. 3 Buchst. a aa) UStG). Aber vor allem stellt § 4 Nr. 3 Buchst. a bb) UStG, der auf der Grundlage von Art. 144 i. V. m. Art. 86 Abs. 1 Buchst. b MwStSyst­ RL erlassen wurde, solche Leistungen und die entsprechenden Kosten steuerfrei, die im Kontext mit Gegenständen der Einfuhr in das Gebiet eines Mitgliedstaats der EU angefallen sind und die in der Bemessungsgrundlage für diese Einfuhr (dazu oben 2. d)) enthalten sind. Dazu gehören die Nebenkosten, die bis zum ersten Bestimmungsort der Gegenstände im Gebiet des Einfuhrmitgliedstaats entstanden sind, also ggf. Kosten für die Vermittlung der Lieferung, Beförderungskosten vom Ort des Verbringens bis zum ersten Bestimmungsort im Gemeinschaftsgebiet bzw. die Beförderungs­ infuhr kosten bis zu einem weiteren Bestimmungsort, sofern dieser im Zeitpunkt der E bekannt ist, Kosten für den Umschlag und die Lagerung eingeführter Gegenstände und handelsüblicher Nebenleistungen, die bei Güterbeförderungen vom Ausland in das Inland oder bei den vorbezeichneten Leistungen vorkommen (z. B. Wiegen, Messen, Entnahmen von Proben, Begleitschutz, Verzollung), Kosten für die Besorgung der vorbezeichneten Leistungen, für die Vermittlungsleistungen, die nicht nach § 4 Nr. 5 UStG umsatzsteuerfrei sind, usw. Im Kern bedeutet dies, dass die hier beschriebenen steuerfreien Leistungen ohne Umsatzsteuer zu fakturieren sind. Indes birgt die Lösung praktische Probleme, zumal die betroffenen Akteure (Spediteure, Logistiker, Dienstleister) häufig nicht darauf vertrauen (können), dass die Realisierung der Steuer mit der EUSt auch gegenüber dem Finanzamt nachgewiesen werden kann.81

80 Ausführlich dazu UStAE zu § 4 Nr. 3 UStG, 4.3.2. bis 4.3.6. 81 Einzelheiten zu den Anforderungen an die (zollamtlichen) Nachweise im UStAE zu §  4 Nr. 3 UStG, 4.3.3.

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cc) Lieferungen in „(Nichterhebungs-)Zollverfahren“ Bis zum UStG 2004 galt Folgendes: Wurden die Gegenstände geliefert, während sie sich z. B. im Zolllagerverfahren befanden, etwa über mehrere unverzollte Verkäufe von Zolllagergut im Inland hinweg, und befanden sich die Orte der Lieferung im Inland i. S. v. § 1 Abs. 2, § 3 UStG , so waren diese Umsätze ungeachtet der noch nicht erhobenen EUSt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG steuerbar und steuerpflichtig.82 In diesen Fällen konnte allerdings gem. § 50 i. V. m. § 41a UStDV a. F. bei Umsätzen während der Lagerung auf die Erhebung der inneren Umsatzsteuer verzichtet werden. Voraussetzung war, dass die EUSt vom Abnehmer oder dessen Beauftragten entrichtet und ein Umsatzsteuerbetrag in der Rechnung nicht gesondert ausgewiesen wurde.83 Nach § 4 Nr. 4b UStG , der Art. 156 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL national umsetzt, ist die einer Einfuhr vorangehende Lieferung (Einfuhrlieferung) heute von der Umsatzsteuer befreit, wenn der Abnehmer oder dessen Beauftragter den Gegenstand einführt. Die Lieferung ist mithin zwar steuerbar, aber nicht steuerpflichtig.84 Die Steuerbefreiung gilt darüber hinaus auch für die der Einfuhrlieferung vorangegangenen Lieferungen. Die Steuerbefreiung gilt für alle Lieferungen von Nicht-Unionswaren, die sich in einem sog. zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren befinden. Nach dem Wortlaut des § 4 Nr. 4b UStG werden aber auch solche Zeiträume erfasst, in denen sich die Gegenstände nach dem Verbringen in das Inland, aber noch vor der Überführung in ein Zollverfahren oder auch zwischen einzelnen Zollverfahren  – insbesondere in der ­vorübergehenden Verwahrung  – jedenfalls unter zollamtlicher Überwachung gem. Art. 134 UZK befinden (vgl. Art. 156 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL).85 Die Befreiung ist nicht auf den Warenkatalog der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 4a Buchst. a UStG (Umsatzsteuerlagerregelung, dazu unten dd)) beschränkt. Auch gilt keine Beschränkung hinsichtlich der Aufmachung der eingelagerten Gegenstände. Sie können auch für den Letztverbrauch bestimmt oder aufgemacht sein. Die Einfuhr der sich in einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren befindlichen Gegenstände bei Integration in den Wirtschaftskreislauf unterliegt allerdings der Besteuerung; damit wird eine umsatzsteuerliche Belastung derartiger Gegenstände sichergestellt. Die Einfuhrumsatzsteuer wird erhoben, wenn der Gegenstand in das Zollverfahren der Überlassung zum zoll- und umsatzsteuerrechtlich freien Verkehr überführt wird. Dabei bleibt es dem Unternehmer unbenommen, derartige Nicht-Unionswaren in den zoll- und umsatzsteuerrechtlich freien Verkehr zu überführen und danach in ein Steuerlager einzulagern. Werden die Gegenstände im Anschluss daran geliefert, kann die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 4a Buchst. a Satz 1 UStG bei Vorliegen der Voraussetzungen in Anspruch genommen werden. Voraussetzung für die Steuerbefreiung ist, dass der Abnehmer der Lieferung oder ein nachfolgender Abnehmer bzw. ein Beauftragter 82 Vgl. Schröder, Zollvorschriften und Umsatzsteuer, UVR 1995, 74/80. 83 Von Streit/Wrobel, UR 1999, 235; UR 2000, 270; Hundt-Eßwein in Küffner/Stöcker/Zug­ maier (Fn. 18), § 4 Nr. 4b UStG Rz. 1 ff. 84 Dazu EuGH v. 8.11.2012 – C-165/11 – Profitube; Hundt-Eßwein, aaO; vgl. Langer, Die Umsatzsteuerlagerregelung und weitere Vereinfachungen durch das StÄndG 2003, DB 2004, 17. 85 Weymüller in Dorsch/Rüsken, B1 § 4 UStG Rz. 88; a. A. Hundt-Eßwein (Fn. 83), § 4 Nr. 4b UStG Rz. 8.

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von diesen den Liefergegenstand einführt. Dem Abnehmer muss die Überführung des Gegenstandes in den zoll- und umsatzsteuerrechtlich freien Verkehr derart zuzurechnen sein, dass er Schuldner der EUSt wird. Die Anwendung der Steuerbefreiung ist unabhängig davon, ob die nachfolgende Einfuhr steuerpflichtig oder nach §  5 UStG steuerfrei ist. Die Befreiung des § 4 Nr. 4b UStG gilt zudem unabhängig davon, wo der Abnehmer ansässig ist und ob er zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Sie gilt auch, wenn der Abnehmer ein Nichtunternehmer ist.86 dd) Umsatzsteuerlager Durch die Umsatzsteuerlagerregelung gem. Art. 154 ff. MwStSystRL soll eine Gleichbehandlung von Unionswaren in Situationen der (betriebswirtschaftlichen) Lagerung mit Nicht-Unionswaren in Zolllagern erreicht werden. Nach Art. 155 MwStSyst­ RL können die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen eine Steuerbefreiung für Lieferungen bei nicht verbrauchsteuerpflichtigen Waren in ein von ihnen selbst definiertes Umsatzsteuerlager sowie für in diesen Lagern bewirkte Lieferungen und Dienstleistungen einführen. Der Umsatzsteueranspruch entsteht mit der Entnahme aus dem entsprechenden Umsatzsteuerlager. Umsatzsteuerschuldner ist derjenige, der die Entnahme veranlasst. Durch die Regelung soll insbesondere erreicht werden, dass ausländische Unternehmer, die im Inland nur Umsätze im Zusammenhang mit Gegenständen erbringen, die sich in einem Umsatzsteuerlager befinden, sich nicht in Deutschland für Zwecke der Umsatzsteuer registrieren lassen müssen. Dadurch wird die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen deutschen Unternehmer, insbesondere von Lagerhaltern, verbessert. Wesentlicher Inhalt der Umsatzsteuerlagerregelung ist eine Steuerbefreiung für Umsätze von Gegenständen, mit denen diese in ein Umsatzsteuerlager eingelagert werden (Einlagerung), sowie eine Steuerbefreiung der Lieferungen von Gegenständen, bei denen diese körperlich in einem Umsatzsteuerlager verbleiben oder in ein anderes Umsatzsteuerlager im Inland gelangen (Lagerlieferungen; § 4 Nr. 4a Satz 1 Buchst. a Satz 1 UStG ). Die Befreiung gilt bei der Einlagerung nicht nur für die Lieferung dieser Gegenstände im Inland. Befreit sind auch ein vor der Einlagerung liegender innergemeinschaftlicher Erwerb oder eine Einfuhr.87 Um eine steuerliche Belastung zu vermeiden, ist die Einfuhr von in der Anlage 1 zu § 4 Nr. 4a UStG genannten Gegenständen, die in ein Umsatzsteuerlager eingelagert werden sollen, steuerfrei (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 UStG). Dabei reicht der Wille des Einführers, die eingeführten Gegenstände in ein solches Lager einzulagern, für die Gewährung der Steuerbefreiung aus. Der Warenkreis der Gegenstände, die in ein Umsatzsteuerlager verbracht werden dürfen, ergibt sich aus Anlage 1 zum UStG. Es handelt sich insbesondere um folgende Erzeugnisse: Silber, Platin, Kupfer, Aluminium, Blei, Getreide, Ölsaaten, pflanzliche Fette, Kaffee, Tee, Zucker, Kautschuk, Wolle, Kartoffeln.88 Die Steuerbefreiung gilt nicht für Lieferungen, bei denen die gelieferten Gegenstände für die Lieferung auf der Einzelhandelsstufe aufgemacht sind. Ein Gegenstand ist für die 86 Vgl. weitere Einzelheiten bei Hundt-Eßwein (Fn. 83), § 4 Nr. 4b UStG Rz. 33 ff. 87 Möller, AW-Prax 2004, 219 ff.; Hundt-Eßwein (Fn. 83), § 4 Nr. 4a UStG Rz. 47 ff.; vgl. auch Langer, DB 2004, 17; DV des BMF VSF Z 8250-1-1 Abs. 18. 88 Überblick bei Hundt-Eßwein (Fn. 83), § 4 Nr. 4a UStG Rz.15 ff.

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Lieferung auf der Einzelhandelsstufe insbesondere dann aufgemacht, wenn er sich in einer handelsüblichen Verpackung befindet und/oder ohne weitere Be- oder Verarbeitung an einen Endverbraucher geliefert werden kann. Umsatzsteuerlager kann jeder räumlich bestimmte Ort in Deutschland sein, der zur Lagerung von in der Anlage 1 zu § 4 Nr. 4a UStG genannten Gegenständen dienen soll und geeignet ist. Das Lager kann auch aus mehreren Lagerorten bestehen. Umsatzsteuerlager können auch in den Räumen oder an jedem anderen festen Ort in Deutschland, der als Zolllager zugelassen wurde, errichtet werden (§ 4 Nr. 4a Satz 4 UStG). Eine gemeinsame Lagerung von Unionswaren und Nicht-Unionswaren im Zolllager bedarf der Zulassung des zuständigen Hauptzollamtes (Art. 237 Abs. 3 UZK). Lagerhalter kann jeder Unternehmer sein, der die in Anlage 1 zu § 4 Nr. 4a UStG genannten Gegenstände in seinem Unternehmen lagern kann. Außerdem muss der Lagerhalter die Gewähr dafür bieten, dass das Umsatzsteuerlager ordnungsgemäß verwaltet wird; der Lagerhalter muss also – praktisch analog dem AEO – zuverlässig sein.89 Die Zuverlässigkeit des Antragstellers ist insbesondere daran zu überprüfen, ob dieser seinen steuerlichen Verpflichtungen bei der Abgabe von Steuererklärungen und der Zahlung der zu entrichtenden Steuern regelmäßig und rechtzeitig nachkommt. Die Einrichtung und der Betrieb eines Umsatzsteuerlagers ist von einer Bewilligung des für den Umsatzsteuerlagerhalter zuständigen Finanzamtes abhängig. Einen entsprechenden Antrag hat der Unternehmer schriftlich zu stellen. Wurde für das Lager bereits ein Zolllagerverfahren bewilligt, ist die Referenz-Nummer der erteilten Bewilligung anzugeben. Außerdem ist das wirtschaftliche Bedürfnis für den Betrieb des Umsatzsteuerlagers darzulegen.90 Dieses Erfordernis kann z. B. regelmäßig unterstellt werden, wenn die Gegenstände, die der Antrag stellende Unternehmer zu lagern beabsichtigt, mehrfach ohne Warenbewegung umgesetzt werden sollen (z. B. an Warenterminbörsen). b) Warenverkehr mit Drittgebieten Die beim Verbringen von Waren in das Zollgebiet der Union durch Art. 134 Abs. 1 UZK ausgelöste und bildlich gesprochen als „Verstrickung“ der Waren ausgestaltete zollamtliche Überwachung ist es, die das Zollrecht für das Steuerrecht interessant macht. Die nötige Lückenlosigkeit der steuerrechtlichen Überwachung und Steueraufsicht ist jedoch von einer genauen Definition des „Übergabepunktes“ abhängig, an dem es zum Regimewechsel zwischen Zoll- und Steuerrecht kommt. Wo Gebietsabweichungen zwischen Gemeinschafts(steuer)gebiet und Zollgebiet bestehen, ist die Ausgangssituation eine andere. Am Beispiel der Einfuhr von Gegenständen – Unionswaren – mit Herkunft von den Kanarischen Inseln in das Unionsgebiet wird deutlich, dass eine Anwendung der Zollvorschriften nur noch steuerlichen Überwachungszwecken und nicht mehr originär zollrechtlichen Zielen dient. Hier 89 So etwa Jochum, Zugelassene Wirtschaftsbeteiligte bald auch im Umsatzsteuerrecht, UR 2008, 578 ff.; Jochum, Zugelassene Wirtschaftsbeteiligte (ZWB) – Eine neue Rechtsfigur der Missbrauchsbekämpfung, Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 81 ff. Mit den aktuellen Vorschlägen zur Änderung der MwStSystRL, COM(2017)569 final v. 4.10.2017, soll in Art. 13a nun auch der „zertifizierte Steuerpflichtige“ eingeführt werden. 90 Hundt-Eßwein (Fn. 83), § 4 Nr. 4a UStG Rz. 9 ff.

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kann allenfalls sinngemäße Anwendung angeordnet werden. So transportiert §  21 Abs. 2 UStG in Umsetzung von Art. 30 UAbs. 2, Art. 274 ff. MwStSystRL Teile des Zollverfahrensrechts des Unionszollkodex in das Umsatzsteuergesetz. Die Gegenstände sind nach den Vorschriften über das Verbringen in das Zollgebiet der Union – sinngemäß zu ersetzen durch Gemeinschaftsgebiet  – und ggf. nach Durchführung des gem. Art. 188 UZK-DA vorgeschriebenen internen Unionsversands T2 zu gestellen, während der vorübergehenden Verwahrung mit Standard-Zollanmeldung – etwa Verfahrenscode CO 49 – zu einem (Zoll-)Verfahren anzumelden, es ist die EUSt nach den Regeln über die Erhebung zu entrichten, und es können die Zahlungserleichterungen des Zollrechts in Anspruch genommen werden (vgl. Art. 114 Abs. 1, Art. 134 Abs. 1 UZK-DA).91 Obwohl die Einfuhr keinen Unionszöllen unterliegt, ergreift ggf. der Suspensiveffekt der einschlägigen „Nichterhebungsverfahren“ mit Suspensiveffekt die Mehrwertsteuer in der besonderen Ausprägung der EUSt.92 Rechtspolitischer Hintergrund für diese Lösung ist eine besondere Ausprägung des steuerlichen Diskriminierungsverbots: Nicht-Unionswaren, denen die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten zollrechtlicher Verfahren zu Gebote stehen, sollen nicht bessergestellt sein als Unionswaren in vergleichbarer, nämlich steuergrenzüberschreitender Lage. 4. Besonderheiten in Freizonen Es ist bekannt, dass Warenverkehre mit mehrwertsteuer- oder verbrauchsteuerpflichtigen Waren bei Berühren einer Freizone zahlreiche Probleme aufwerfen. Dabei ist aus zollrechtlicher Sicht die Lage insofern geklärt, als Nicht-Unionswaren als in einem besonderen Verfahren „Freizone“ befindlich angesehen werden (Art. 210 Buchst. b, 245 Abs. 3 UZK), während Unionswaren als nicht in das Freizonenverfahren überführt gelten (Art. 246 Abs. 1 UZK). Die indirekten Steuern treiben allerdings mit der Freizone ein Verwirrspiel: Hinsichtlich der Verbrauchsteuern gehören die Freizonen zum Steuergebiet.93 Umsatzsteuerrechtlich sind sie jedoch gem. §  1 Abs.  2 UStG Drittlandsgebiet, in dem allerdings bestimmte Umsätze wiederum wie Inlandsumsätze behandelt werden (§  1 Abs.  3 UStG).94 Historisch gewachsene Privilegien wie Freihafenlagerung und Freihafenveredelung für Unionswaren treten als Besonderheiten hinzu.95 Werden Nicht-Unionswaren nach der Überlassung zum Verfahren des (nur) zollrechtlich freien Verkehrs aus der Freizone an ein im umsatzsteuerrechtlichen Inland ansässiges Unternehmen geliefert, hat in „sinngemäßer Anwendung der Zollvorschriften“ de jure eine Überführung in das interne Unions-Versandverfahren 91 DV Z 8101 Abs. 3. 92 Schlienkamp, EG-Binnenmarktrichtlinie vom 16.12.1991: Endgültige Regelungen zur Änderung des gemeinschaftlichen Mehrwertsteuersystems (Teil II), UR 1992, 189. 93 Vgl. z. B. § 1 TabStG. 94 BT-Drucks. 12/2463, S. 23; Amman, Zum Status der deutschen Freihäfen nach dem Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz und der 6. EG-Richtlinie zur Umsatzsteuer, UR 1993, 48; Salder, Umsatzsteuerrechtliche und zollrechtliche Folgen der Auflösung des Freihafens Hamburg, DStR 2012, 2422 ff.; Reiche, Steuerrechtlich freier Verkehr im Freihafen?, ZfZ 2012, 113 ff.; Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (301 f.). 95 §§  12a und 12b EUStBV, vgl. Henke in Küffner/Stöcker/Zugmair (Fn.  18), §  21 UStG Rz. 215; dazu auch DV Z 8101 Abs. 120 ff., 130 ff.

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T2 zu erfolgen96 – wie bei der Einfuhr aus anderen nicht zum Gemeinschafts(steuer) gebiet gehörenden Teilen des Zollgebiets. Entsprechend liegt beim Verbringen von Gegenständen in die Freizone grundsätzlich eine steuerfreie Ausfuhrlieferung vor.97 Lieferungen aus Freizonen heraus in andere EU-Mitgliedstaaten unterliegen den allgemeinen Bestimmungen des innergemeinschaftlichen Besteuerungssystems. Einen vorläufigen Höhepunkt der Diskussion um die Einwirkungen des Zollrechts auf die Umsatzsteuer im Bereich des Freizonenrechts stellt das Wallenborn-Urteil des EuGH dar.98 Nicht-Unionswaren im externen Unionsversand waren weder beim Verbringen in die Freizone noch in der Freizone zur Beendigung des T1-Verfahrens gestellt und stattdessen unter Verletzung der Zollverschlüsse der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Nachgewiesenermaßen erfolgte anschließend der Export in die Russische Föderation via eines Zolllagers in Finnland. Der EuGH urteilte, dass die fraglichen Gegenstände wegen des „Tatorts Freizone“ weiterhin einer Regelung nach Art. 156 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL unterlagen, sodass die Voraussetzungen für das Entstehen einer Mehrwertsteuerschuld (in Form der Einfuhrumsatzsteuer) schon grundsätzlich nicht erfüllt waren. Zudem fehle es angesichts von Art. 71 Abs. 1 UAbs. 2 MwStSystRL und der permanent andauernden Überwachung im Fall Wallenborn an einem Ort der Einfuhr.99 Das Urteil ist letzter Beweis für einen Paradigmenwechsel im „Grenzgebiet“ zwischen Zoll und Umsatzsteuer: Einfuhr i. S. d. Art. 30 MwStSystRL wird neu definiert als physischer Schritt ins Steuergebiet zzgl. Eingang in den Wirtschaftskreislauf eines Mitgliedstaats zu Verbrauchszwecken.100 Fehlt es an einem dieser Kriterien, mag die Zollschuld gem. Art. 79 Abs. 1 Buchst. a UZK wegen der Verletzung einer sich aus zollrechtlichen Vorschriften ergebenden Verpflichtung in Bezug auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstehen, für das Entstehen einer EUSt-Schuld ist hingegen schon mangels eines steuerbaren Umsatzes kein Raum.

Fazit Nur auf den ersten Blick hat das Zollrecht im Zusammenhang mit der Errichtung des Binnenmarkts den Rückzug aus dem Bereich der indirekten Steuern angetreten.101 Das Zollrecht und das Recht der indirekten Steuern sind auf nuancenreiche Weise 96 Vgl. BMF-Erlass v. 8.6.1994 – III B 4 - Z 8224 - 2/94. 97 Salder, DStR 2012, 2422 ff.; Huschens, UVR 2012, 77 ff.; Obermayr, Reihengeschäfte i. Z. m. der Einfuhr und Ausfuhr – umsatzsteuerliche und zollrechtliche Aspekte, Reihengeschäfte bei der Umsatzsteuer 2014, 69 ff. 98 V. 1.6.2017 C-571/15; Vorlagebeschluss des Hess. FG v. 29.9.2015 – 7 K 728/12; dazu Lux/ Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (302 f.). 99 Vgl. Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (303). 100 Wolffgang, UR 2017, 845 ff.; Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (303); vgl. aktuell auch DV Z 8101 Abs. 9. 101 Vgl. Vaulont in Birk/Ehlers (Fn. 14), S. 117.

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systematisch verzahnt. Von Nutzen für das Steuerrecht sind vor allem die zollverfahrensrechtlichen Überwachungsmechanismen im Zusammenhang mit der Einfuhr und den sich ggf. anschließenden (Nichterhebungs-)Zollverfahren mit Suspensiveffekt. Andererseits sind die unterschiedlichen Wurzeln des Zollrechts und des Steuerrechts sowie die jeweiligen finanzpolitischen Zielsetzungen zu achten. Eine Übernahme zollrechtlicher Regelungen durch das Steuerrecht kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn das Ergebnis der Anwendung das steuerrechtlich vorgegebene Ziel erreichen kann oder – im Einzelfall – die Interessen von Fiskus und Wirtschaftsbeteiligten an Vereinfachung und Beschleunigung überwiegen. Auch wenn die Zukunft des Zollrechts angesichts weltweit zu beobachtender protektionistischer Tendenzen und regionaler Abschottungspolitik heute schwer einzuschätzen ist, bleiben die bewährten Überwachungsstrategien im Verfahrensrecht des Unionszollkodex für die „Mitnutzung“ durch angrenzende Rechtsgebiete interessant. Dazu gehören neben dem Antidumpingrecht, dem Außenwirtschaftsrecht und dem Recht der Verbote und Beschränkungen auch das Recht der indirekten Steuern respektive das Umsatzsteuerrecht. Gewinn ziehen aus dieser gegenseitigen Zuordnung beide Rechtsgebiete: das Umsatzsteuerrecht, indem es ihm ermöglicht wird, partiell an den Vorzügen des EU-Verordnungsrechts teilzuhaben, das Unionszollrecht, indem sein praktisches Anwendungsfeld um eine Abgabendimension erweitert wird. Dieser Befund Vaulonts auf dem Münsteraner Symposion aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des Instituts für Steuerrecht an der Universität Münster 1994, zugleich 6.  Europäischer Zollrechtstag des Europäischen Forums für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll (EFA)102, beansprucht nach wie vor Gültigkeit.

102 Vaulont in Birk/Ehlers (Fn. 14), S. 119.

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Harald Jatzke

Fett- und Zuckersteuern in Europa: Rechtliche Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten für moderne Gesundheitsabgaben Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Fett- und Zuckersteuern in der ­Europäischen Union 1. Dänemark 2. Finnland 3. Frankreich 4. Ungarn 5. Vereinigtes Königreich



3. Steuern auf Dienstleistungen im ­Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren



V. Mögliche Ausgestaltung von indirekten Steuern auf fett- und zuckerhaltige Lebensmittel 1. Steuergegenstände a) Bestimmung nach Positionen und Unterpositionen der Kombinierten Nomenklatur b) Steuergegenstände einer Fettsteuer c) Steuergegenstände einer Zuckersteuer d) Ausgestaltung der Alkopopsteuer 2. Bemessungsgrundlagen a) Erhöhung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes b) Einführung neuer wert- oder mengenabhängiger Verbrauchsteuern 3. Erhebungssystem und Aufkommensverwendung



III. Fett- und Zuckersteuern in Deutschland 1. Geschichte der Zuckersteuer 2. Geschichte der Fettsteuer IV. Unionsrechtliche Zulässigkeit nicht harmonisierter Verbrauchsteuern 1. Verbrauchsteuern auf alkoholische ­Getränke a) Strukturelle Übereinstimmung mit den Besteuerungstechniken der Verbrauchsteuern oder der Mehrwertsteuer b) Das Erfordernis einer besonderen Zielsetzung 2. Verbrauchsteuern auf Waren, die keiner harmonisierten Verbrauchsteuer unterliegen





VI. Fazit

I. Einleitung Ausweislich seines beeindruckenden Literaturverzeichnisses hat sich der Jubilar in seinem wissenschaftlichen Wirken nahezu ausschließlich mit dem Zollrecht befasst. Aber auch dem Verbrauchsteuerrecht hat er sich im Rahmen der Kommentierung zu Art. 113 AEUV gewidmet, wodurch eine Darstellung auch aus diesem Bereich seine Rechtfertigung findet. Die nachstehenden Ausführungen befassen sich mit den unionsrechtlichen Vorgaben für die Einführung nicht harmonisierter oder zusätzlicher Verbrauchsteuern. Auf der Grundlage der nach Art. 113 AEUV erlassenen Unions-

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rechtsakte hat Deutschland 2004 eine zulässige Sondersteuer auf alkoholische Getränke in Form der Alkopopsteuer eingeführt.1 In der Erkenntnis, dass sich in den wohlhabenden Industrieländern Adipositas und Diabetes Typ 2 inzwischen zu weit verbreiteten Volkskrankheiten entwickelt haben, hat sich in den letzten Jahren in den Mitgliedstaaten der EU ein Trend zur Einführung neuer Verbrauchsteuern auf ungesunde Lebensmittel und Getränke entwickelt. Mit der gesundheitspolitisch motivierten Besteuerung stark fett- und zuckerhaltiger Erzeugnisse soll das Konsumverhalten der Verbraucher beeinflusst und damit ein wichtiger Beitrag zum Erhalt der Volksgesundheit geleistet werden. Auf eine Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu ernährungspolitischen Maßnahmen gegen Übergewicht und Fehlernährung, in der ausdrücklich auf die von Dänemark und Frankreich vor einigen Jahren eingeführten Fett- bzw. Zuckersteuern hingewiesen wurde, antwortete die Bundesregierung im Mai 2012, dass die Einführung von Steuern auf bestimmte Lebensmittel u. a. deshalb nicht zielführend sei, weil die Erhebung von Verbrauchsteuern einen hohen Verwaltungs- und Kontrollaufwand verursachen würde und weil bei einer isolierten Einführung solcher Steuern die besonderen EU-rechtlichen Vorgaben im Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beachten wären.2 Nach wie vor lehnt die Bundesregierung die Einführung dieser Steuern ab, obwohl sich auch in Deutschland die Stimmen mehren, die im Kampf gegen die genannten Krankheiten steuerpolitische Maßnahmen befürworten. So fordern z. B. die Deutsche Diabetes Gesellschaft, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie die Verbraucherorganisation foodwatch in einem an die politischen Entscheidungsträger gerichteten offenen Brief eine Sonderabgabe auf gesüßte Getränke.3 Die Einnahmen der Steuer sollen als Finanzierungsquelle für Präventionsprogramme zur Förderung einer gesunden Ernährung dienen. In der nachfolgenden Darstellung wird zunächst eine Bestandsaufnahme vorgenommen, wobei der Nachweis der Lenkungswirkung der begutachteten Abgaben im Rahmen der auf das Verbrauchsteuerrecht bezogenen Abhandlung nicht geführt werden kann. Vielmehr werden die Fragen geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen sich die Einführung solcher Steuern mit dem geltenden Unionsrecht vereinbaren lässt, welche steuerrechtlichen Restriktionen zu beachten sind und welche Gestaltungsmöglichkeiten sich dem Gesetzgeber bei der Einführung solcher Steuern anbieten. Hinsichtlich der Lenkungswirkung einer Mehrwertsteuererhöhung hat Tobias Effertz von der Universität Hamburg in einer im November 2017 veröffentlichten Studie berechnet, dass sich bei Einführung eines Mehrwertsteuersatzes von 29 % auf ungesunde Lebensmittel, bei denen ein Grenzwert von 20 % Fettanteil, 5 % gesättigte Fettsäuren, 12 % Zucker oder 1,5 % Kochsalz überschritten wird, und einer gleichzeitigen Steuerbefreiung für Obst und Gemüse, eine Reduktion der Adipositasprävalenz bis zu 12 % bzw. 7 % bei Männern und Frauen sowie eine Sen1 Wolffgang/Gellert in Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 6. Aufl., Art. 113 AEUV Rz. 32. 2 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Maisch, ­Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/9654, BT-Drucks. 17/9833. 3 www.foodwatch.org/de.

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kung der direkten Krankheitskosten um bis zu 13 % (3,8 Mrd. Euro) bereits nach einem Jahr erreichen lassen.4 Unberücksichtigt blieb allerdings die Vereinbarkeit dieses Ansatzes mit Art. 97 und 98 RL 2006/112/EG.

II. Fett- und Zuckersteuern in der Europäischen Union 1. Dänemark Mit dem Gesetz zur Abgabe auf gesättigte Fette in bestimmten Lebensmitteln hatte Dänemark mit Wirkung vom 1.10.2011 zunächst eine Fettsteuer eingeführt, diese jedoch nach 15 Monaten wieder abgeschafft. Die Abschaffung wurde insbesondere mit der Gefährdung von Arbeitsplätzen und dem Ausweichverhalten der Dänen begründet, die sich im benachbarten Ausland mit Lebensmitteln eindeckten. Von der dänischen Fettsteuer profitierten insbesondere in Grenznähe liegende deutsche Einkaufszentren, die sich auf die dänische Kundschaft eingerichtet hatten. Steuergegenstand der dänischen Fettsteuer waren bestimmte Lebensmittel, wie z.  B. Fleisch, Milch­ produkte (Butter, Schlagsahne, Käse) oder Pflanzenöle, die mehr als 2,3 % gesättigtes Fett enthielten. Die Steuer betrug 16 DKK pro kg Fett, wobei die Steuereinnahmen ca. 200 Mio. Euro betragen sollten. Von der Steuer befreit waren Vollmilch und Fisch. Seit vielen Jahren erhebt Dänemark Verbrauchsteuern auf Speiseeis, zuckerhaltige Getränke und Schokolade sowie Süßwaren. Die Steuer auf Speiseeis beträgt je nach Zuckergehalt 6,61 DKK je l (bei einem Zuckergehalt von über 0,5 g je 100 ml) und 5,29 DKK je l (bei einem Zuckergehalt von unter 0,5 g je 100 ml). Auf Softdrinks wird eine Steuer in Höhe von 0,82 DKK je l erhoben, wenn der Zuckergehalt über 0,5 g je 100 ml liegt. Liegt er darunter, beträgt der ermäßigte Satz 0,3 DKK je l. Zusätzlich werden Schokolade (auch Kakao-Paste und Kakao-Butter), Lakritze, Marzipan, Süßwaren, Bonbons, Marshmallows, Kaugummi, kandierte Früchte, Marmeladen, Waffeln, Kuchen und Kekse sowie bestimmte Rohmaterialien (Nüsse, Kokosnüsse) einer besonderen Verbrauchsteuer unterworfen. Sie beträgt 25,97 DKK je kg, sofern der Zuckergehalt über 0,5 g je 100 g liegt. Der ermäßigte Satz beträgt 22,08 DKK je kg.5 2. Finnland Ebenso wie Dänemark erhob auch Finnland von 1926 bis 2000 eine Zuckersteuer, die nach ihrer Abschaffung 2011 wieder eingeführt wurde. Mit einem Regelsteuersatz von 0,95 Euro je kg werden Süßwaren (ausgenommen Backwaren), Schokolade und Eiscreme besteuert. Daneben werden alkoholische und nicht alkoholische Getränke der Besteuerung unterworfen.6 Bei der Getränkesteuer wird die Besteuerung des ­Zuckers dadurch bewirkt, dass sich der Steuersatz verdoppelt, wenn das jeweilige 4 Tobias Effertz, Die Auswirkungen der Besteuerung von Lebensmitteln auf Ernährungsverhalten, Körpergewicht und Gesundheitskosten in Deutschland, Hamburg 2017. 5 Datenbank der Europäischen Kommission, Taxes in Europe. 6 Datenbank der Europäischen Kommission, Taxes in Europe.

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­ rzeugnis zuckerhaltig ist. Besteuert werden Fruchtsäfte (einschl. Most) und GemüE sesäfte, Lebensmittelzubereitungen zur Herstellung von Softdrinks, Wasser, Mineralwasser, andere nicht alkoholische Getränke, Wein aus Trauben, Wermutwein und andere gegorene Getränke sowie Ethylalkohol mit einem Alkoholgehalt von weniger als 80 % vol. und Spirituosen. Der Regelsteuersatz beträgt 22 Cent je l. Bei zuckerfreien Getränken ermäßigt sich der Steuersatz um die Hälfte. Sämtliche alkoholischen Getränke müssen einen Mindestalkoholgehalt von 0,5 % vol. aufweisen. Unabhängige  Herstellungsbetriebe mit einer jährlichen Produktion von unter 10.000 kg oder 50.000 l sind von der Besteuerung ausgenommen. 3. Frankreich Seit 1993 erhebt Frankreich eine Steuer auf pflanzliche Öle und Fischöle, die für den menschlichen Genuss bestimmt sind.7 Der Besteuerung unterliegen flüssige oder feste Pflanzenöle, wie z. B. Oliven-, Walnuss-, Raps-, Soya-, Kokosnuss- oder Palmöl. Je nach Ölsorte kommen Steuersätze zwischen 8,4 bis 18,3 Euro je 100 kg zur Anwendung. Öle, die aus geschützten Meerestieren gewonnen werden, unterliegen einer Steuer in Höhe von 18,3 Euro je 100 kg. Sofern die genannten Öle in Lebensmitteln enthalten sind, wird eine Anteilsbesteuerung vorgenommen, bei der in bestimmten Fällen pauschalierte Steuersätze angewandt werden. Daneben wird seit Januar 2012 eine besondere Steuer auf mit Zucker oder Süßstoff gesüßte Getränke erhoben. Erfasst werden sämtliche Getränke, die in für den Einzelverkauf bestimmte Behältnisse abgefüllt sind und deren Alkoholgehalt bis zu 1,2 % vol. – bzw. bei Bier 0,5 % vol. – beträgt (Fruchtsäfte, Softdrinks, Mineralwasser). Die Steuer beträgt 7,45 Euro je 100 l. Zusätzlich hat Frankreich mit Wirkung zum 1.1.2014 eine Steuer auf sog. Energydrinks eingeführt (Getränke mit einem Koffeingehalt von mindestens 220 mg je l). Der Steuersatz beträgt 1 Euro je l. 4. Ungarn Die wohl umfassendste Verbrauchsteuer auf ungesunde Lebensmittel wurde 2011 in Ungarn eingeführt. Der sog. Chips-Steuer unterliegen neben salzhaltigem Knabbergebäck auch salzhaltige Gewürze und Geschmacksverstärker, ausgenommen solche für die Herstellung von Ketchup und Senf. Der Salzgehalt dieser Produkte muss über 1 g pro 100 g liegen. Der Steuersatz beträgt 250 HUF je kg. Daneben wird die „Volksgesundheitsabgabe“ auf zuckerhaltige Soft- und Energydrinks, Konzentrate zur Herstellung von Softdrinks, Alkopops, Süßwaren, Marmeladen und aromatisierte Biere erhoben. Von der Besteuerung ausgenommen sind bestimmte Obst- und Gemüse­ extrakte sowie Erzeugnisse, die einen Milchanteil von mindestens 50  % aufweisen. Zuckerhaltige Softdrinks unterliegen einer Steuer in Höhe von 7 HUF je l. Sirup und Konzentrate werden einem Steuersatz von 200 HUF je l unterworfen. Für Energydrinks, die Methylxanthin und Taurin enthalten, beträgt die Steuer unabhängig vom

7 Datenbank der Europäischen Kommission, Taxes in Europe.

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jeweiligen Zuckeranteil 250 HUF je l. Der Steuersatz für Süßwaren beträgt 130 HUF je kg, für gezuckertes Kakaopulver 70 HUF je kg und für Marmelade 500 HUF je kg.8 5. Vereinigtes Königreich Der frühere britische Finanzminister George Osborne hatte bereits 2016 die Einführung einer Zuckersteuer angekündigt. Sein Nachfolger Philip Hammond hat inzwischen bestätigt, dass die neue Steuer im April 2018 eingeführt werden soll. Die Steuer (Soft-Drinks Industry Levy) soll auf zuckerhaltige Getränke erhoben werden, wobei reine Fruchtsäfte und Getränke auf Milchbasis von der Abgabe verschont werden. Der Steuersatz richtet sich nach dem jeweiligen Zuckergehalt. Beträgt dieser über 5 g pro 100 ml, soll die Steuer 18 p pro l betragen. Ein Steuersatz von 24 p je l kommt auf Getränke zur Anwendung, die mehr als 8 g Zucker je 100 ml enthalten. Danach ist damit zu rechnen, dass sich eine 2l-Flasche Cola um 48 p verteuern wird.

III. Fett- und Zuckersteuern in Deutschland 1. Geschichte der Zuckersteuer Die abgabenrechtliche Belastung des Zuckers begann mit dem Aufblühen des Überseehandels bereits im 16. Jahrhundert. Gegenstand des Zuckerzolls war insbesondere der z. B. aus Afrika oder Südamerika importierte Rohrzucker. Auf den in Deutschland hergestellten Rübenzucker wurde erstmals 1841 eine besondere Verbrauchsabgabe eingeführt. Deren Erhebung oblag zunächst dem Deutschen Zollverein. Nach Gründung des Deutschen Reiches hatte die Zuckersteuer ab 1871 als Reichssteuer weiteren Bestand. Neu geregelt wurde die Besteuerung des Zuckers 1923 im Rahmen der Erzberger’schen Finanzreform, die unter Berücksichtigung der Vorgaben der Weimarer Verfassung zur Anpassung sämtlicher Verbrauchsteuergesetze an die am 23. Dezember 1919 in Kraft getretene Reichsabgabenordnung9 führte.10 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Zuckersteuer als dem Bund zustehende Verbrauchsteuer bis zu ihrer Abschaffung11 mit Wirkung zum 1.1.1993 weiterhin erhoben. Gegenstände der vorkonstitutionellen Zuckerbesteuerung waren der Rübenzucker einschließlich des Zuckers, der durch weitere Verarbeitung von Erzeugnissen aus Rüben, wie z. B. Sirup, Melasse oder Rübensäfte, gewonnen wurde, Stärkezucker (auch Malzzucker und aus zellulosehaltigen Stoffen gewonnener Zucker) und Zucker von der chemischen Zusammensetzung dieser Zuckerarten. Die Höhe der Steuer betrug 1934 für je 100 kg Rübenzucker 21 RM. Abhängig vom jeweiligen Reinheitsgrad, galten für Stärkezucker und bestimmte Rübensäfte ermäßigte Steuersätze. Von der Steuer befreit waren u. a. der im Haushalt zum Selbstverbrauch hergestellte Rübensaft und 8 WHO – good practice brief, public health product tax in Hungary. 9 RGBl. 1919, 1993; Peters, Das Verbrauchsteuerrecht, Rz. 10; Förster, Die Verbrauchsteuern, S. 14. 10 ZuckerStG v. 9.7.1923, RGBl. I 1923, 575. 11 Vgl. Art. 5 des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes v. 25.8.1992, BGBl. I 1992, 1548, 1561.

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Rübenzucker, der zur Herstellung von Pergament und Seifen verwendet wurde. Zur Ergänzung der Zuckersteuer wurde 1939 eine Steuer auf Süßstoffe eingeführt.12 Die Ausgestaltung der Zuckersteuer wurde unter Geltung des Grundgesetzes weitgehend beibehalten.13 Der Steuersatz betrug 1959 für einen Doppelzentner Rübenzucker 10 DM. Später wurde die Zuckersteuer auf andere Erzeugnisse ausgedehnt.14 Besteuert wurde neben dem Rüben- und Stärkezucker auch der Fruchtzucker, der Invertzucker (aus anderen Zuckern oder Stoffen gewonnener Zucker, deren Trockenmasse mindestens 50 Gewichtshundertteile Dextrose und Fruktose zu gleichen Teilen enthielt) sowie die Isoglukose und Zucker der Zusammensetzung der Isoglucose. Natürlicher Honig war von der Besteuerung ausgenommen. Steuerbefreiungen wurden u. a. gewährt für Zucker, der als Tierfutter oder zur Herstellung von Futtermitteln sowie zu anderen gewerblichen oder gemeinnützigen Zwecken als zur Herstellung von Lebensmitteln verwendet wurde. 1983 betrug der Steuersatz 6 DM je 100 kg Zucker. In der Form der harmonisierungsbedingten Besteuerung von Biermischgetränken, die unter den Namen Radler, Diesel oder Alsterwasser bekannt sind, hat die steuerliche Belastung des Zuckers überlebt. Diese Getränke bestehen aus einer Mischung von Bier mit Limonaden. Nach den Vorgaben des Unionsrechts erstreckt sich die Biersteuer nicht nur auf den Anteil des Bieres, sondern auch auf den Anteil an den beigemischten nicht alkoholischen Getränken. Denn nach Art. 2 RL 92/83/EWG15 gelten als Bier alle Erzeugnisse des KN-Codes 2203 mit einem vorhandenen Alkoholgehalt von mehr als 0,5 % vol. sowie Biermischgetränke mit gleichem Alkoholgehalt. Hinsichtlich der Bemessungsgrundlage können die Mitgliedstaaten zwischen einer Besteuerung nach dem Alkoholgehalt oder nach der in Grad Plato gemessenen Stammwürze wählen (Art. 6 RL 92/84/EWG16). Die Bezeichnung Grad Plato geht auf den 1858 geborenen und 1938 verstorbenen deutschen Chemiker Fritz Plato zurück, der als Geheimer Regierungsrat der „Kaiserlichen Normal-Aichungskommission“ und Direktor des Deutschen Instituts für Maße und Gewichte ein Verfahren zur Bestimmung des Stammwürzegehalts unter Berücksichtigung der Dichte des gekochten und gefilterten Malzsuds (Zuckerspindelgrade) entwickelt hat.17 Bemessungsgrundlage des Bieres bei einer Besteuerung nach Grad Plato ist der Gehalt an löslichen Substanzen in der noch unvergorenen Anstellwürze, wie z. B. Zucker (etwa Maltose und Glucose), Proteine, Vitamine sowie Mineral-, Farb- und Aromastoffe. Der Mindeststeuersatz für Bier und Biermischgetränke beträgt 0,748 ECU je Hektoliter/Grad Plato. Aufgrund der Besteuerung des Fertigprodukts unterliegt bei Biermischgetränken auch der Limonadenanteil der Biersteuer, deren Bemessungsgrundlage sich bei einer Besteuerung nach Grad Plato durch den Zuckergehalt der zugemischten nicht alko12 SüßstoffStG v. 1.12.1939, RGBl. I 1939, 111; Förster (Fn. 9), S. 14. 13 Vgl. Neufassung des ZuckerStG v. 19.8.1959, BGBl. I 1959, 645; Durchführungsbestimmungen zum ZuckerStG v. 19.8.1959, BGBl. I 1959, 647. 14 Vgl. Neufassung des ZuckerStG v. 13.10.1983, BGBl. I 1983, 1245. 15 Richtlinie 92/83/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke, ABl. EG Nr. L 316, 21. 16 Richtlinie 92/84/EWG des Rates vom 31. Oktober 1992 über die Annäherung der Verbrauchsteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke, ABl. EG Nr. L 316, 29. 17 Näheres bei Jatzke, Der Alkohol im Steuerrecht, ZfZ 2015, 90, 94.

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holischen Getränke erhöht. In seiner Wirkung kann sich dieser Effekt als versteckte Zuckerbesteuerung darstellen.18 2. Geschichte der Fettsteuer Mit der Verordnung über die Erhebung einer Ausgleichsabgabe auf Fette wurde im April 1933 erstmals eine reichsweite Fettsteuer eingeführt.19 Der Steuer unterlagen die zum Verbrauch im Inland bestimmten Fette, d. h. Fette, die im Inland hergestellt und in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt oder in das Steuergebiet eingeführt worden sind. Gegenstände der Fettbesteuerung waren Margarine, d.  h. der Milchbutter oder dem Butterschmalz ähnliche Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschließlich der Milch entstammte, Kunstspeisefette, d. h. dem Schweinefett ähnliche Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschließlich aus Schweinefett bestand, Speiseöl, Pflanzenfette und gehärteter Tran.20 Die Steuer entstand mit der Entfernung der Fette aus dem Herstellungs- oder Großhandelsbetrieb oder mit der Einfuhr. Der Steuersatz betrug 0,50 RM für ein kg Eigengewicht. Aufgrund der kriegsbedingten Lebensmittelverknappung wurde die Fettsteuer 1944 bis auf Weiteres aufgehoben. In den ersten Nachkriegsjahren galt es insbesondere, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Als die Alliierten beschlossen, ab dem 1.5.1949 Agrarprodukte zu Weltmarktpreisen nach Deutschland einzuführen, ergab sich die Notwendigkeit der Subventionierung von Importen, um diese den geringeren Lebensmittelpreisen in Deutschland anzugleichen. Hierzu wurde vom Wirtschaftsrat im August 1949 das Importausgleichsgesetz erlassen, das nach einer einmaligen Verlängerung mit Wirkung vom 1.7.1950 wieder aufgehoben wurde.21 Die Ausgleichsabgabe für Margarine betrug 25 Pf. pro kg. Zur Stabilisierung der Brotpreise bestand auch nach 1950 insbesondere hinsichtlich des importierten Getreides ein erheblicher Subventionsbedarf. In diesem Zusammenhang sprach sich der Ernährungsausschuss des Bundestages für die Einführung einer Fettsteuer aus, deren Einnahmen zur Getreidesubventionierung verwendet werden sollten. Zugleich sollte durch die erwartete Erhöhung der Margarinepreise der Abstand zum Butterpreis verringert und die Nachfrage nach Butter gestärkt werden.22 Die Pläne zur Wiedereinführung einer Fettsteuer scheiterten jedoch insbesondere am Widerstand der Verbraucherorganisationen und der Gewerkschaften.

18 Jarsombeck, Ist die Struktur der Biersteuer in der EU harmonisiert?, ZfZ 2002, 186, 187. 19 Verordnung über die Erhebung einer Ausgleichsabgabe auf Fette v. 13.4.1933, RGBl. I 1933, 159. 20 V. Bonin, Praktischer Führer durch das Zoll- und Verbrauchsteuerrecht, 2. Aufl., S. 331. 21 Gesetz über die Festsetzung und Verrechnung von Ausgleichs- und Unterschiedsbeträgen für Einfuhrgüter der Land- und Forstwirtschaft v. 22.8.1949, WiGBl. 1949, 291. 22 Bundesarchiv, Kabinettsprotokolle (B 136/2626 und B 116/6961).

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IV. Unionsrechtliche Zulässigkeit nicht harmonisierter Verbrauchsteuern 1. Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke a) Strukturelle Übereinstimmung mit den Besteuerungstechniken der ­Verbrauchsteuern oder der Mehrwertsteuer In der EU unterliegen alkoholische Getränke (Bier, Wein, Schaumwein, Zwischenerzeugnisse, d.h. aufgespritete Weine wie z. B. Sherry oder Portwein, und Spirituosen) sowie Ethylalkohol einer harmonisierten Verbrauchsteuer. Auf diese Erzeugnisse können die Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 2 RL 2008/118/EG23 nur dann andere indirekte Steuern erheben, wenn sie damit besondere Zwecke verfolgen und wenn diese Steuern hinsichtlich der Bemessungsgrundlage, der Berechnung der Steuer, der Entstehung des Steueranspruchs und der steuerlichen Überwachung mit den unionsrechtlichen Vorschriften für die Verbrauchsteuern oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es ausreichend, wenn die Steuern einer dieser Besteuerungstechniken strukturell entsprechen.24 Dies bedeutet, dass die Abgaben entweder als besondere Verbrauchsteuern oder als Mehrwertsteuer ausgestaltet sein müssen. Allerdings sind die Restriktionen zu beachten, die sich aus dem unionsrechtlichen Mehrwertsteuersystem ergeben. Nach Art. 401 RL 2006/112/EG dürfen die Mitgliedstaaten keine Abgaben mit dem Charakter von Umsatzsteuern erheben. Dieses Verbot soll verhindern, dass das Funktionieren des EU-weiten Mehrwertsteuersystems durch steuerliche Maßnahmen eines Mitgliedstaats beeinträchtigt wird, die den Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Weise belasten.25 Für Gesundheitssteuern wird daher in erster Linie eine Erhebung in Form von besonderen Verbrauchsteuern in Betracht kommen. Die Erhebung in Form einer der Mehrwertsteuer ähnlichen Abgabe wäre nur dann als zulässig zu erachten, wenn dieser Steuer zumindest eines der vier Merkmale fehlt, die nach der Rechtsprechung des EuGH die harmonisierte Mehrwertsteuer prägen.26 Unter diesen Voraussetzungen hat der EuGH den von Frankreich eingeführten Sozialbeitrag auf alkoholische Getränke mit einem Alkoholgehalt von mehr als 25 % in Höhe von 1 Franc je Deziliter als zulässig erachtet.27 Eine unzulässige Konkurrenz zur allgemeinen Mehrwertsteuer bestand deshalb nicht, weil die Steuer als mengenabhängige Steuer ohne Vorsteuerabzug ausgestaltet war und mit dem Kauf der Getränke fällig wurde. 23 Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG, ABl. EU Nr. L 9, 12. 24 EuGH v. 24.2.2000 – Rs. C-434/97 – Kommission/Französische Republik, Slg. 2000, I-1129, Rz. 27. 25 EuGH v. 26.6.1997  – Rs. C-370/95, C-371/95 und C-372/95  – Careda u.  a., Slg. 1997, I-03721. 26 Diese Merkmale sind: allgemeine Geltung der Steuer für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte, Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, Erhebung der Steuer auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe und Gewährung eines Vorsteuerabzugs; vgl. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-475/03, Slg. 2006, I-9373 und v. 11.10.2007 – Rs. C-283/06 und C-312/06, Slg. 2007, I-8463. 27 Beul, Verbrauchsteuererhebung als Verstoß gegen EU-Recht, IStR 2010, 718.

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b) Das Erfordernis einer besonderen Zielsetzung Hinsichtlich der erforderlichen Zielsetzung ist zu beachten, dass allein die Absicht der Einnahmenerzielung und damit eine rein fiskalische Zielsetzung nicht ausreichen, um die Zulässigkeit der Steuer zu begründen. Infolgedessen hat der EuGH die in Wien und Oberösterreich 1992 eingeführte kommunale Getränkesteuer, deren Ertrag insbesondere der Stärkung der finanziellen Gemeindeautonomie dienen sollte, nicht für unionsrechtskonform angesehen.28 Als weiteren Grund hat er den Umstand angeführt, dass die Steuer infolge ihrer Ausgestaltung als wertabhängige und auf der Einzelhandelsstufe erhobene Steuer strukturell nicht dem für Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke geltenden Steuerrecht entsprach. Diese Rechtsprechung hat der EuGH in weiteren Entscheidungen fortentwickelt. Als unionsrechtswidrig hat er die in Spanien mit Wirkung vom 1.1.2002 eingeführte Verbrauchsteuer auf bestimmte Mineralöle (IVMDH) erachtet, die auf der Einzelhandelsstufe erhoben wurde.29 Nach der Intention des spanischen Gesetzgebers sollte das Steueraufkommen die Gemeinden in die Lage versetzen, einen Teil der Kosten auszugleichen, die ihnen aus der Übertragung von neuen Zuständigkeiten im Gesundheits- und Umweltbereich entstanden waren. Obwohl die Abgabe zur Finanzierung von Kosten im Gesundheitswesen verwendet werden sollte, hielt sie der EuGH deshalb für unionsrechtswidrig, weil die Zweckbindung des Aufkommens nicht im Voraus festgelegt worden war und weil kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Aufkommensverwendung und der Zweckbindung bestanden hatte. Eine ausreichende Zweckbindung hätte nur dann bestanden, wenn die erwarteten Einnahmen ausschließlich dazu bestimmt worden wären, die vom schädlichen Mineralölverbrauch verursachten sozialen und umweltbezogenen Kosten zu decken. Den Entscheidungen des EuGH lässt sich entnehmen, dass im Voraus festgelegt sein muss, wie der Ertrag der Steuer zur Internalisierung externer Kosten des Gesundheitswesens verwendet werden soll. Zu fordern ist eine strenge Bindung der Aufkommensverwendung, sodass ein allgemeiner Haushaltszweck, wie z. B. die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs, nicht ausreicht.30 Etwas anderes kann dann gelten, wenn mit der prohibitiv ausgestalteten Steuer als Hauptzweck eine gesundheits- oder umweltdienliche Lenkungswirkung erzielt werden soll. In diesem Fall besteht die besondere Zielsetzung in der Einflussnahme auf das Konsumverhalten der Konsumenten, die durch Preiserhöhungen zu einem Ausweichverhalten veranlasst werden sollen.31 Stellt die Lenkungswirkung neben der Einnahmenerzielungsfunktion der Abgabe lediglich einen erwünschten Nebenzweck dar, kann dies allerdings nicht als ausreichend erachtet werden.32

28 EuGH v. 9.3.2000  – Rs. C-437/97  – Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157. 29 EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12, ECLI:EU:C:2014:108 – Transportes Jordi Besora. 30 EuGH v. 5.3.2015 – Rs. C-553/13, ECLI:EU:C:2015:149 – Statoil Fuel und Retail Eesti. 31 Jatzke, Europäisches Verbrauchsteuerrecht, Rz. C 21 m. w. N. 32 A. A. Eiling, Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben an die Einführung neuer Verbrauchsteuern, S. 168.

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2. Verbrauchsteuern auf Waren, die keiner harmonisierten Verbrauchsteuer unterliegen Nach Art. 1 Abs. 3 Satz 1 Buchst. a RL 2008/118/EG können die Mitgliedstaaten Steuern auf andere als verbrauchsteuerpflichtige Waren erheben, sofern die Erhebung solcher Steuern im grenzüberschreitenden Handel zwischen Mitgliedstaaten keine mit dem Grenzübertritt verbundenen Formalitäten nach sich zieht (Art. 1 Abs. 3 Satz 2 RL 2008/118/EG). Als verbrauchsteuerpflichtige Waren werden in Art. 1 Abs. 1 RL 2008/118/EG Energieerzeugnisse und elektrischer Strom, Alkohol und alkoholische Getränke sowie Tabakwaren genannt. Daraus ergibt sich die grundsätzliche Zulässigkeit der Erhebung von besonderen Verbrauchsteuern auf Lebensmittel, Fette und Zucker. Ein besonderer Zweck zur Legitimation für die Einführung solcher Steuern ist nicht erforderlich.33 Einzige Voraussetzung ist die Binnenmarktkonformität der Steuererhebung. Der in Art. 26 Abs.  2 AEUV garantierte freie Warenverkehr darf durch Maßnahmen der Steueraufsicht und der verbrauchsteuerrechtlichen Erfassung der Erzeugnisse nicht systematisch behindert werden. Das Verbot von Formalitäten, die an den Grenzübertritt anknüpfen, führt zur Unionsrechtswidrigkeit der Steuererhebung unmittelbar an den Grenzen. Zur Gewährleistung der Besteuerung und der Steueraufsicht ist es jedoch als zulässig zu erachten, wenn im Steuergebiet Kontrollmaßnahmen, z. B. Betriebsprüfungen, eine Nachschau nach § 210 Abs. 1 AO oder Kontrollen durch mo­bile Kontrolltrupps, durchgeführt werden. Dies gilt auch für die Einführung eines landesweiten Systems von Steuerlagern (Warenlager und Herstellungsbetriebe), in denen die verbrauchsteuerpflichtigen Erzeugnisse mit einer entsprechenden Erlaubnis unter Steueraussetzung, d.h. zunächst unversteuert, gelagert, verarbeitet oder hergestellt werden können.34 Ebenso können Importeure verpflichtet werden, den geplanten inneruniotären Erwerb im Voraus anzuzeigen, eine Sicherheit in Höhe des Steuerwerts zu leisten und nach dem Verbringen der Erzeugnisse in das Inland eine Steueranmeldung abzugeben.35 Unter Beachtung dieser Voraussetzungen wird in Deutschland nach wie vor eine Kaffeesteuer, d. h. eine Verbrauchsteuer auf Röstkaffee und löslichen Kaffee (Auszüge, Essenzen und Konzentrate aus Kaffee) erhoben. Italien und Polen besteuern Schmierstoffe. Auch bei den bereits dargestellten Steuern auf fettund zuckerhaltige Lebensmittel (außer alkoholische Getränke), die in Dänemark, Finnland, Frankreich und Ungarn erhoben werden, handelt es sich um nicht harmonisierte Verbrauchsteuern, deren Einführung nach Art. 1 Abs. 3 Satz 1 Buchst. a RL 2008/118/EG als zulässig erachtet werden kann.

33 EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-491/03 – Hermann, Slg. 2005, I-2025 und Schlussanträge des Generalanwalts Saggio v. 1.7.1999  – Rs. C-437/97  – Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rz. 51. 34 EuGH v. 12.2.2015 – Rs. C-349/13, ECLI:EU:C:2015:84 – Oil Trading Poland; a.A. Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2-Steuer, S.  210 und Moritz, Umweltabgaben in Österreich, S. 156. 35 EuGH v. 12.2.2015  – Rs. C-349/13, ECLI:EU:C:2015:84  – Oil Trading Poland und v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 – Brzezinski, Slg. 2007, I-513.

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3. Steuern auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren Sofern es sich nicht um umweltbezogene Steuern handelt, können die Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b RL 2008/118/EG Steuern auf Dienstleistungen – auch im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren – erheben. Mit dieser Öffnungsklausel sollte den Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten bleiben, insbesondere kommunale Getränke- und Schankerlaubnissteuern beizubehalten oder neu einzuführen.36 Dafür hatte sich insbesondere Deutschland bei den Verhandlungen eingesetzt. Als Beispiel kann die in Frankfurt eingeführte Steuer auf die entgeltliche Abgabe alkoholhaltiger Getränke (mit Ausnahme des Apfelweins) dienen, die 10 % des Verkaufspreises ohne Getränkesteuer betrug. Diese Steuer hat der EuGH 2005 als nach Art. 1 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b RL 2008/118/EG zulässige Steuer auf Dienstleistungen angesehen.37 Zur Begründung führte er aus, dass die Abgabe alkoholhaltiger Getränke an Kunden im Rahmen einer Bewirtungstätigkeit mit einer Reihe von Dienstleistungen wie die Zurverfügungstellung einer Infrastruktur (möblierter Speisesaal mit Nebenräumen wie Garderobe, Toiletten etc.), die Beratung und Informa­ tion der Kunden hinsichtlich der servierten Getränke, die Darbietung der Getränke in geeigneten Gefäßen, die Bedienung bei Tisch und schließlich das Abräumen der Tische und deren Reinigung einhergehe. Aufgrund dieses Bündels an Leistungen tritt der Verbrauchsteuercharakter der Abgabe in den Hintergrund, sodass die Dienstleistungen überwiegen und zur Bestimmung des Steuergegenstands herangezogen werden können. Sofern Dienstleistungen im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Erzeugnissen der Besteuerung unterworfen werden, haben die Mitgliedstaaten jedoch das in Art. 401 RL 2006/112/EG normierte Verbot der Erhebung von Steuern zu beachten, die den Charakter einer allgemeinen Umsatzsteuer aufweisen.

V. Mögliche Ausgestaltung von indirekten Steuern auf fett- und ­zuckerhaltige Lebensmittel 1. Steuergegenstände a) Bestimmung nach Positionen und Unterpositionen der Kombinierten ­Nomenklatur Zur genauen Bezeichnung der Steuergegenstände könnte wie in anderen Verbrauchsteuergesetzen38 auf die Positionen und Unterpositionen der Kombinierten Nomen36 Zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift vgl. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, S. 51 f. und Stobbe, Die Harmonisierung der besonderen Verbrauchsteuern (Teil 1), ZfZ 1993, 170, 172. 37 EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-491/03 – Hermann, Slg. 2005, I-2025 und Lang, Die Auswirkungen des EuGH-Urteils v. 10.3.2005 – Rs. C-491/03 – Hermann, auf die Erhebung von Getränkesteuern in Österreich, ÖStZ 2005, 548. 38 Vgl. § 2 EnergieStG, § 1 Abs. 2 BierStG, § 1 Abs. 2 SchaumwZwStG, § 130 Abs. 2 BranntwMonG, § 1 Abs. 1 StromStG, § 1 Abs. 2 KaffeeStG, § 1 Abs. 1 AlkopopStG, der auf § 130 Abs. 1 BranntwMonG verweist.

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klatur (KN) zurückgegriffen werden. Vor der harmonisierungsbedingten Anpassung der deutschen Verbrauchsteuergesetze an diese Vorgaben enthielten das BranntwMonG und das BierStG keine Begriffsbestimmungen für Branntwein und Bier, sodass zur Ermittlung der Steuergegenstände auf die Verkehrsanschauung und auf den Sinn und Zweck der Steuergesetze zurückgegriffen werden musste. Das Fehlen von präziseren Definitionen wurde in der Literatur insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung beanstandet.39 Um diesen Mangel zu vermeiden, sollte der Zolltarif nutzbar gemacht werden. Dies hat sich auch im Umsatzsteuerrecht bewährt, in dem zur Festlegung der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Waren in Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG ebenfalls auf die Positionen und Tarifpositionen der KN Bezug genommen wird. Die auf dem Internationalen Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren40 basierende Nomenklatur, die von der Weltzollorganisation entwickelt wurde, bildet zusammen mit den Zollsätzen sowie anderen zolltariflichen Maßnahmen den Gemeinsamen Zolltarif, der die bei Einfuhren in die EU anzuwendenden Zollsätze festlegt. Auch die Unionsrechtsakte zur Harmonisierung der Verbrauchsteuern auf Energieerzeugnisse sowie Alkohol und alkoholische Getränke nehmen in Art. 2 RL 2003/96/EG und Art. 2, 8, 12, 17 und 20 RL 92/83/EWG zur Definition der Steuergegenstände auf die Positionen und Unterpositionen der KN Bezug. b) Steuergegenstände einer Fettsteuer Hinsichtlich der Besteuerung des Fettanteils in Lebensmitteln (außer Getränke) bietet sich eine weitgehende Übernahme der in der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG genannten Warengruppen an. Aus sozialpolitischen Gründen hat sich der Gesetzgeber für die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes in Höhe von 7 % auf Lebensmittel entschieden. Steuerlich begünstigt sind die Umsätze mit den in den Nummern 2 bis 4 (Fleisch, Fische und Krebstiere, Milch und Milchnebenerzeugnisse), 10 bis 12 (Gemüse, Früchte und Nüsse, Kaffee, Tee, Mate und Gewürze), 14 bis 18 (Müllereierzeugnisse, Mehl, Grieß, Stärke, Ölsamen und ölhaltige Früchte), 21 (bestimmte Kräuter), 22 (Johannisbrot und Zuckerrüben, Steine und Kerne von Früchten), 24 (Pektinstoffe, Pektinate und Pektate), 26 (tierische und pflanzliche Fette und Öle), 28 bis 33 (Zubereitungen von Fleisch, Fischen oder Krebstieren, Zuckerwaren, Kakaopulver, Zubereitungen aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch, Backwaren, Zubereitungen von Pflanzenteilen, verschiedene Lebensmittelzubereitungen), 36 (Speiseessig), 39 bis 43 (Speisesalz, D-Glucitol, Essigsäure, Natrium und Kaliumsalz des Saccharins), 46 (Mischungen von Riechstoffen) und 47 (Gelantine) der Anlage 2 aufgeführten Nahrungsund Genussmittel, die nach den Kapiteln, Positionen und Unterpositionen der KN bestimmt werden. Soweit für eine Fettbesteuerung die von der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG erfassten Lebensmittel herangezogen werden, ist zu berücksichtigen, dass einige Lebensmittel des gehobenen Bedarfs von der Steuerbegünstigung ausdrücklich ausgeschlossen sind (z. B. Langusten, Hummer, Austern, Schnecken sowie aus ihnen 39 Peters (Fn. 9), Rz. 5a. 40 Internationales Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren v. 14.6.1983, ABl. EG 1987 Nr. L 198 S. 3.

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hergestellte Zubereitungen) und dass einige der aufgeführten Erzeugnisse keine Fette enthalten, wie z. B. Essig, Salze und Gelantine. Darüber hinaus entfalten manche Erzeugnisse eine nützliche Wirkung, wie etwa die als Ballaststoffe eingesetzten Pektine. Dementsprechend wäre die Liste der Steuergegenstände den Erfordernissen einer Fettbesteuerung anzupassen. c) Steuergegenstände einer Zuckersteuer Die Wiedereinführung der 1993 abgeschafften allgemeinen Verbrauchsteuer auf Zucker würde in Form der Anteilsbesteuerung zwar sämtliche zuckerhaltigen Erzeugnisse erfassen, doch würde sie hinsichtlich des Steuergegenstands Zucker und der gesundheitspolitischen Zielsetzung eine unspezifische Maßnahme darstellen. In der beabsichtigten Lenkungswirkung zielgenauer wäre eine steuerliche Belastung lediglich bestimmter Lebensmittel und Getränke, die einen hohen Zuckeranteil aufweisen und die keine Grundnahrungsmittel darstellen. Als Steuergegenstände bieten sich insbesondere Süßwaren (Bonbons, Fruchtgummi, Zuckerstangen etc.) und Schokolade in ihren verschiedenen Formen an (Schokoladentafeln, Bruchschokolade, Schokoriegel, Pralinen, Brotaufstriche etc.). Eine Besteuerung von Backwaren wie z. B. Kuchen, Stuten, Hefezöpfe, Lebkuchen, Biskuitgebäck, Waffeln und Kekse könnte ebenfalls erwogen werden, doch wäre sie mit Abgrenzungsproblemen verbunden. Denn bestimmte Backwaren (Brot, Brötchen, Brezeln, Stuten) ließen sich als Grundnahrungsmittel ansehen, sodass eine Besteuerung nach ihrem Zuckergehalt in der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen könnte. Zudem werden durch Zucker bestimmte Eigenschaften des Teigs und der Gärung beeinflusst, sodass in der Backwarenindustrie Zucker nicht ohne Weiteres substituiert werden kann. Eine effektive Zuckersteuer müsste auch stark zuckerhaltige alkoholische und nicht alkoholische Getränke (einschl. Energydrinks) erfassen, wobei Fruchtsäfte und Getränke auf Milchbasis ausgenommen werden könnten. Als Gegenstände einer Zuckerbesteuerung kämen die folgenden Positionen in Betracht: 1704 KN (Zuckerwaren ohne Kakaogehalt, wie z. B. Kaugummi, weiße Schokolade, Fondantmasse, Bonbons und Karamellen), 1806 KN (Schokolade und andere kakaohaltige Zubereitungen, wie z. B. Kakaopulver, Zubereitungen in Blöcken, Stangen und Riegeln, gefüllte und ungefüllte Tafeln, Pralinen, Brotaufstriche und Zubereitungen zur Herstellung von Getränken), 1905 KN (Backwaren, wie z.  B. Leb- und Honigkuchen und ähnliche Waren, Kekse und ähnliches Kleingebäck, Waffeln, Torten, Rosinenbrot, Christstollen, Hörnchen, Baisers) und 2105 KN (Speiseeis). Auch die der Besteuerung zu unterwerfenden Getränke ließen sich ohne Weiteres nach dem Zolltarif bestimmen. Alkoholhaltige Getränke werden von den Positionen 2203 KN (Bier), 2204 KN (Wein), 2205 KN (Wermutwein), 2206 KN (Apfelwein, Birnenwein und Met) und 2208 KN (Branntwein, Likör und andere alkoholhaltige Getränke) erfasst. Als nicht alkoholische zuckerhaltige Getränke wären in die Besteuerung Erzeugnisse der Position 2202 KN (Wasser mit Zusatz von Zucker und andere nicht alkoholische Getränke) einzubeziehen. Damit ließe sich der größte Anteil an stark zuckerhaltigen Waren und Getränken erfassen.

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d) Ausgestaltung der Alkopopsteuer In Deutschland werden bereits jetzt alkohol- und zuckerhaltige Mischgetränke (Alkopos) einer Sondersteuer zum Schutz junger Menschen unterworfen.41 Diese Steuer wurde 2004 als Reaktion auf den steigenden Alkoholkonsum von Jugendlichen und  diesbezügliche alarmierende Studienergebnisse eingeführt.42 Zur genauen Bestimmung der stark alkoholhaltigen Anteile der Süßgetränke wird auf § 130 Abs. 1 Branntw­MonG verwiesen, der die dort genannten Erzeugnisse nach dem Zolltarif bestimmt. Nicht näher definiert werden dagegen die Getränke mit einem Alkoholgehalt von 1,2 % vol und weniger. Als solche sollen nach dem Willen des Gesetzgebers z.  B. Limonaden und Cola, aber auch Wasser erfasst werden.43 Der Alkopopsteuer nicht unterworfen werden alkoholhaltige Süßgetränke, deren alkoholische Komponenten ausschließlich aus Bier oder Wein bestehen, denn diese dürfen nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 JGS an Jugendliche über 16 Jahren abgegeben werden, was bei Spirituosen nicht der Fall ist. Nicht der jeweilige Alkohol- oder Zuckergehalt ist für die Besteuerung maßgebend, sondern der Umstand, dass bei der Herstellung der Getränke als Grundstoff Branntwein verwendet worden ist. Dies ist der eigentliche Grund für die Erhebung der Sondersteuer, die als gesundheitspolitisch motivierte Lenkungsabgabe nach Art. 1 Abs. 2 RL 2008/118/EG unionsrechtlich als zulässig erachtet werden kann, zumal hinsichtlich der Aufkommensverwendung in § 4 AlkopopStG ausdrücklich bestimmt ist, dass das Nettomehraufkommen aus der Alkopopsteuer zur Finanzierung von Maßnahmen zur Suchtprävention zu verwenden ist. 2. Bemessungsgrundlagen a) Erhöhung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes Deutschland wendet auf Lebensmittel einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz in Höhe von 7  % an. Vor diesem Hintergrund könnte man eine Besteuerung gesundheitsschädlicher Lebensmittel zum Regelsteuersatz in Höhe von 19 % oder höher in Betracht ziehen. Vorteil einer solchen Lösung wäre die Entbehrlichkeit der Einführung neuer Steuern. Zudem ließe sich eine Anhebung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Lebensmittel ohne großen gesetzgeberischen Aufwand umsetzen. Allerdings hätte diese Vorgehensweise den Nachteil, dass eine differenzierte Besteuerung von Lebensmitteln nach dem jeweiligen Gehalt an Fetten oder Zucker nicht möglich wäre. Denn die Mitgliedstaaten können nach Art. 98 RL 2006/112/EG lediglich bis zu zwei ermäßigte Steuersätze auf Gegenstände und Dienstleistungen bestimmter Kategorien, wie z.  B. Nahrungs- und Futtermittel, anwenden. Darüber hinaus können sie nur ­einen Normalsatz anwenden, der mindestens 15 % betragen muss. Diese Vorgaben schränken die Bandbreite möglicher Bemessungsgrundlagen in einer nicht unerheblichen Weise ein. Eine zielgenauere und nahezu schrankenlose Ausgestaltung der Bemessungsgrundlagen ließe sich durch die Einführung besonderer Verbrauchsteuern erreichen. Dies mag der Grund dafür sein, warum sich die Mitgliedstaaten mit Vor41 AlkopopStG v. 23.7.2004, BGBl. I 2004, 1857. 42 BT-Drucks. 15/2587. 43 Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg, Verbrauchsteuerrecht, 2. Aufl., Rz. M 5.

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reiterfunktion für die Einführung von besonderen Fett- und Zuckersteuern und gegen eine punktuelle Erhöhung der Mehrwertsteuer entschieden haben. b) Einführung neuer wert- oder mengenabhängiger Verbrauchsteuern Im Rahmen der Steuerharmonisierung standen die Mitgliedstaaten vor der Entscheidung, ob sie wert- oder mengenabhängige Verbrauchsteuern einführen sollten. Mit Ausnahme der Tabaksteuer, die sich aus einem wertbezogenen und einem spezifischen Anteil zusammensetzt44, fiel die Entscheidung zugunsten von mengenabhängigen Steuern aus. In Ermangelung einer unionsrechtlichen Definition des Verbrauchsteuerbegriffs hat Generalanwalt Mischo als Verbrauchsteuern solche Steuern bezeichnet, mit denen bestimmte, nicht dauerhafte Verbrauchsgüter auf einer einheitlichen Stufe belegt werden und die ganz oder teilweise aus einer spezifischen, d. h. nach der Menge, dem Gewicht oder dem Alkoholgehalt einer Ware berechneten Abgabe bestehen.45 Dementsprechend könnte eine Fett- und Zuckersteuer an den jeweiligen Fett- und Zuckergehalt der besteuerten Ware und an deren Menge oder Gewicht anknüpfen. Soweit ersichtlich, haben alle Mitgliedstaaten, die solche Steuern eingeführt haben, eine mengenabhängige Ausgestaltung gewählt. Dies hat den Vorteil, dass Abgrenzungsschwierigkeiten zur Umsatzsteuer vermieden werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH die in Wien und Oberösterreich eingeführten Getränkesteuern auch deshalb als unionsrechtswidrig eingestuft hat, weil sie aufgrund ihrer Ausgestaltung als wertabhängige Steuern und der Steuerentstehung auf der Einzelhandelsstufe strukturell nicht dem für Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke geltenden Steuerrecht entsprachen.46 Zudem sind bei einer mengenabhängigen Besteuerungsgrundlage Preisbindungs- und Überwachungsmaßnahmen hinsichtlich der Kleinverkaufspreise entbehrlich. Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Überwachung von ca. 10.000 listenmäßigen Kleinverkaufspreisen hat der Gesetzgeber die ursprünglich rein wertabhängig ausgestaltete Leuchtmittelsteuer 1974 auf eine mengenabhängige Verbrauchsteuer umgestellt.47 Zur Einführung einer Fett- und Zuckersteuer bietet sich bei Lebensmitteln das Kilogramm als Bemessungsgrundlage an. Bei Getränken liegt eine Besteuerung nach ­Litern auf der Hand. Über den jeweiligen Fett- oder Zuckergehalt der erfassten Erzeugnisse ließe sich der Steuertarif nach dem Maß der anzunehmenden Gesundheitsgefährdung gestalten. Somit könnte eine Regelung der Bemessungsgrundlage für eine Zuckersteuer wie folgt lauten: Für zuckerhaltige Waren beträgt die Zuckersteuer bei einer Ware, die mehr als X Gramm je Kilogramm enthält, Y Euro je Kilogramm der Ware.

44 Vgl. im Einzelnen Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg (Fn. 43), Rz. K 20 und K 33 bis 40. 45 Schlussanträge v. 27.4.1989, ECLI:EU:C:1989:180, Rz. 44. 46 EuGH v. 9.3.2000  – Rs. C-437/97  – Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157. 47 Winkler, Die Änderung der Leuchtmittelbesteuerung, ZfZ 1974, 130.

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3. Erhebungssystem und Aufkommensverwendung Besondere Verbrauchsteuern sind Realaktsteuern.48 Dies bedeutet, dass die Steuer­ entstehung an einen tatsächlichen Vorgang oder Zustand anknüpft.49 Nach dem Unionsrecht entstehen Verbrauchsteuern durch die Entnahme der Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung (Entfernung aus einem Steuerlager oder Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr infolge einer Unregelmäßigkeit bei der Beför­ derung unter Steueraussetzung), den Besitz oder die Herstellung außerhalb eines Steueraussetzungsverfahrens und die Einfuhr (Art. 7 Abs.  2 RL 2008/118/EG). Bei der Einführung von nicht harmonisierten Verbrauchsteuern sind die Mitgliedstaaten an diese Vorgaben jedoch nicht gebunden. Auch sind sie nicht gehalten, die Lagerung von unversteuerten Erzeugnissen zuzulassen und ein Steueraussetzungsverfahren vorzusehen. Das unionsrechtlich geregelte Steueraussetzungsverfahren ist ein be­ sonderes Überwachungsverfahren, bei dem die Waren trotz eingetretener Ver­ brauchsteuerpflichtigkeit ohne eine Versteuerung an bestimmten Stätten (Steuer­ lager) gelagert und in bestimmten Verfahren (Steuerversandverfahren) befördert werden können.50 Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert, bei der Erhebung von nationalen Verbrauchsteuern dasselbe System anzuwenden, das für die in der EU harmonisierten Verbrauchsteuern vorgesehen ist.51 Von dieser Möglichkeit hat der deutsche Gesetzgeber im Rahmen der Beibehaltung der nicht harmonisierten Kaffeesteuer52 und der Einführung der Alkopopsteuer Gebrauch gemacht. Die Kaffeesteuer entsteht durch die Entnahme von Kaffee aus dem Steuerlager, die Herstellung ohne Erlaubnis, Unregelmäßigkeiten bei der Beförderung unter Steueraussetzung und durch die Überführung von Kaffee in den steuerrechtlich freien Verkehr durch die Einfuhr (§ 11 Abs. 2 und § 15 KaffeeStG). Kaffeesteuerlager sind nach § 5 Abs. 1 KaffeeStG Orte, an und von denen Kaffee unter Steueraussetzung hergestellt, be- oder verarbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden darf. Für die Beförderung von unversteuertem Kaffee sind Beförderungsverfahren unter Steueraussetzung vorgesehen, mit denen Kaffee sowohl innerhalb des Steuergebiets als auch aus dem Steuergebiet und in das Steuergebiet befördert werden kann (§ 9 KaffeeStG). Allerdings wird der Empfänger in anderen Mitgliedstaaten nicht näher konkretisiert, was der Nichtharmonisierung der Kaffeesteuer geschuldet ist.53 Dem Erfordernis in Art. 1 Abs.  3 Satz 2 RL 2008/118/EG, nach dem die Erhebung von nicht

48 F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- und Abgabenrechts, 2. Aufl., S. 91; Förster (Fn. 9), S. 67. 49 BFH v. 24.2.2016 – VII R 7/15, BFHE 252, 568 und v. 10.11.2009 – VII R 39/08, BFHE 227, 546. 50 Im Einzelnen vgl. Jatzke (Fn.  31), Rz.  58 und Schröer-Schallenberg in Bongartz/Schröer-Schallenberg (Fn. 43), Rz. D1 und D3 und Wolffgang/Gellert in Lenz/Borchardt (Fn. 1) Art. 113 AEUV Rz. 41. 51 EuGH v. 12.2.2015 – Rs. C-349/13, ECLI:EU:C:2015:84 – Oil Trading Poland. 52 Bongartz, Das Kaffeesteuerrecht im Lichte der Verbrauchsteuerharmonisierung, ZfZ 1998, 290. 53 Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg (Fn. 43), Rz. 21.

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Fett- und Zuckersteuern in Europa

harmonisierten Verbrauchsteuern nicht mit Grenzformalitäten verbunden sein darf, wird durch das System der Kaffeebesteuerung Genüge getan. Hinsichtlich einer zusätzlichen Besteuerung von alkoholhaltigen Süßgetränken ist zu beachten, dass mit der steuerlichen Belastung ein über die bloße Einnahmenerzielungsabsicht hinausgehender besonderer Zweck verfolgt werden muss, um dem Unionsrecht zu entsprechen (Art. 1 Abs.  2 RL 2008/118/EG). Erforderlich und ausreichend wäre eine gesundheitspolitisch motivierte und prohibitive Bemessung der Steuersätze, um mit der Abgabenbelastung die gewünschte Lenkungswirkung zu erzielen. Zusätzlich empfiehlt es sich, im Voraus eindeutige Festlegungen über die Verwendung der zu erwartenden Einnahmen zu treffen, die in einem engen Zusammenhang mit dem verfolgten Ziel stehen muss. Hierzu bietet sich die Förderung von Programmen zur Bekämpfung der durch den hohen Fett- und Zuckerkonsum verursachten Krankheiten, wie z. B. Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes oder Adipositas, und Programmen zur Aufklärung und Prävention in Hinblick auf eine gesunde Ernährung an. Als Steuerschuldner einer Fett- und Zuckersteuer kämen grundsätzlich Großhändler und Hersteller in Betracht, die über als Steuerlager zugelassene Warenlager oder Herstellungsbetriebe verfügen. Damit könnte der Kreis der möglichen Steuerschuldner auf die Distribution der ersten Stufe und die Herstellung begrenzt werden, sodass der Einzelhandel unberücksichtigt bliebe. Entsprechend würde sich der Kontroll- und Verwaltungsaufwand verringern. Im Falle der Einfuhr kämen als Steuerschuldner insbesondere die Anmelder der Waren in Betracht. Als Vorbild für eine mögliche Ausgestaltung des Erhebungssystems könnte die Alkopopsteuer dienen, die hinsichtlich des Steueraussetzungsverfahrens in § 3 AlkopopStG auf die Branntweinsteuervorschriften und für den innergemeinschaftlichen Verkehr mit Alkopops und für die Ausfuhr über andere Mitgliedstaaten auf die Vorschriften der Kaffeesteuer verweist. Unter Beachtung dieser Vorgaben ließe sich ein Gesetz zur Besteuerung von Fett und Zucker mit wenig Formulierungsaufwand gestalten.

VI. Fazit Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits gesundheitspolitisch motivierte und mit dem geltenden Unionsrecht in Einklang stehende besondere Verbrauchsteuern auf stark fett- und zuckerhaltige Lebensmittel oder Getränke eingeführt. Soweit es sich um bisher in der EU nicht harmonisierte Verbrauchsteuern handelt, bedarf es zur Ver­ meidung der Unionsrechtswidrigkeit eines Erhebungssystems, dass keine mit dem Grenzübertritt verbundenen Formalitäten erfordert, wobei sich ein solches System an das in der EU bereits existente und in der RL 2008/118/EG festgelegte System einschließlich des Steueraussetzungsverfahrens anlehnen könnte. In Hinblick auf diese Vorgaben könnte als Vorbild für die Einführung neuer Fett- und Zuckersteuern in Deutschland das KaffeeStG oder das AlkopopStG dienen, sodass die Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben für den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten keine unüberwindliche Hürde darstellen dürfte. Eine praktikable und klare Defini­ 689

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tion der Steuergegenstände ließe sich durch Bezugnahmen auf die Positionen und Unterpositionen der KN leicht bewerkstelligen. Aufgrund des Verbrauchsteuercharakters der Abgaben stünden diese nicht in Widerspruch zum geltenden Mehrwertsteuersystem. Zudem würde eine zielgenaue und differenzierte Ausgestaltung der Bemessungsgrundlagen unter Berücksichtigung des jeweiligen Fett- und Zuckergehalts der besteuerten Erzeugnisse ermöglicht. Schließlich ließe sich der erforderliche Verwaltungs- und Kontrollaufwand durch die Inanspruchnahme von Steuerlagerinhabern (Hersteller und Großhändler) als Steuerschuldner in überschaubaren Grenzen halten. Demnach steht nicht das geltende Unionsrecht der von mehreren Verbänden geforderten Einführung gesundheitsdienlicher Steuern entgegen, sondern der derzeitige politische Wille.

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Das Verfahrensrecht im Zoll und bei den Verbrauchsteuern im Hinblick auf Entscheidungen der Zollbehörden Inhaltsübersicht

I. Grundsätzliches

II. Das Zollrecht der Union III. Abgrenzung 1. Zollrechtliche Entscheidungen a) Zuständige Zollbehörde b) Bedingungen für die Annahme ­eines Antrags c) Nichtannahmebescheid d) Annahme eines Antrags e) Aufforderung zur Nachreichung von Unterlagen f) Annahmefiktion g) Zusätzliche Informationen nach Antragsannahme h) Fristverlängerungen i) Wirksamwerden von Entscheidungen 2. Rechtliches Gehör a) Mitteilung zur Wahrung des recht­ lichen Gehörs







b) Vereinfachtes Vorhalteverfahren c) Ausnahmen vom rechtlichen Gehör 3. Verbrauchsteuerrechtliche Anträge a) Zuständige Zollbehörde b) Wahrnehmung der Zuständigkeit c) Anbringen d) Mängelbehebungsauftrag e) Wirksamwerden von Erledigungen 4. Parteiengehör 5. Fristen a) Gesetzliche Grundlagen b) FristVO c) Auslegung der FristVO d) Europäisches Übereinkommen über die Berechnung von Fristen e) Überlegungen 6. Aufschiebende Wirkung a) Aussetzung der Vollziehung b) Aussetzung der Einhebung 7. Abschließende Würdigung

I. Grundsätzliches Mit Inkrafttreten des Zollkodex der Union1 und seiner Verordnungen2 hat sich auch das Verfahrensrecht in Österreich grundlegend geändert. Das Zollrecht regelt nun eigenständig die Antragsannahme (zollrechtliche Entscheidungen) und das Parteien1 Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.10.2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (UZK). 2 Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28.7.2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (UZK-DA), Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24.11.2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union (UZK-IA) und die bis zum 31.12.2020 geltende Delegierte Verordnung (EU) 2016/341 der Kommission vom 17.12.2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Übergangsbestimmungen für bestimmte Vorschriften des Zollkodex der Union, für den Fall, dass die entsprechenden elektronischen Systeme noch nicht be-

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gehör und damit Gebiete, die vor dem neuen UZK ausschließlich in der Bundesabgabenordnung3 zu finden waren. Es ist nun umso wichtiger, das Zollrecht von der BAO abzugrenzen. In diesem Beitrag wird dargestellt, wann die Bestimmungen des Zollrechts zur Anwendung kommen und wann jene der BAO, insbesondere in Zusammenhang mit den Verbrauchsteuern4.

II. Das Zollrecht der Union Das Zollrecht der Union ist grundsätzlich Verordnungsrecht und daher in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar und allgemein verbindlich.5 Eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Zollrechts ist auch durch den Binnenmarkt der Union erforderlich.6 Der wichtigste Auslegungs- und Anwendungsgrundsatz, der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) entwickelt wurde, ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vor dem einzelstaatlichen Recht. Das einzelstaatliche Recht wird nicht aufgehoben, aber durch das Unionsrecht verdrängt und unanwendbar gemacht. Im Kollisionsfall darf das nationale Recht nicht angewendet werden, unabhängig davon, ob es vor oder nach Inkrafttreten des europäischen Rechtsaktes erlassen worden ist. Das nationale Recht wird dadurch aber nicht ungültig, sondern wird in Fällen, in denen keine Kollision besteht, weiter angewendet.7 Die Bestimmungen der BAO gelten in Angelegenheiten der Eingangs- und Ausgangsabgaben nur insoweit, als in den zollrechtlichen Vorschriften nicht anderes bestimmt ist (§ 1 Abs. 1 BAO). Die BAO ist daher insoweit Zollrecht, als sie nicht durch das unionsrechtliche Zollrecht und die ergänzenden österreichischen Bestimmungen verdrängt wird.8

triebsbereit sind und zur Änderung der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 (UZKTDA). 3 Bundesgesetz über allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes, der Länder und Gemeinden verwalteten Abgaben (Bundesabgabenordnung – BAO), BGBl. Nr. 194/1961, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 20/2009. 4 Die Verbrauchsteuern auf Mineralöl, alkoholische Getränke und Tabakwaren sind in der Europäischen Union einheitlich geregelt. In Österreich wurden die Richtlinien mit dem Alkoholsteuergesetz, BGBl. Nr.  703/1994 (AlkStG), dem Biersteuergesetz 1995, BGBl. Nr. 701/1994 (BierStG), dem Schaumweinsteuergesetz 1995 (für Schaumwein, Zwischenerzeugnisse und Wein), BGBl. Nr.  702/1994 (SchwStG), dem Mineralölsteuergesetz 1995, BGBl. Nr. 630/1994 (MinStG) und dem Tabaksteuergesetz, BGBl. Nr. 704/1994 (TabStG), umgesetzt. 5 Siehe Art. 288 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). 6 Vgl. Reuter/Fuchs, Das neue Zollrecht der Europäischen Union, 2. Aufl. 2016, Rz. 060. 7 Vgl. EuGH v. 5.2.1963 – Rs. C-26/62 – Van Gend & Loos, EuGH v. 15.7.1964 – Rs. C-6/64 – Costa/E.N.E.L und deutlich EuGH v. 9.3.1978 – Rs. C-106/77 – Simmenthal. 8 Vgl. Fuchs, Bundesabgabenordnung und EG-Zollrecht, 2006, Rz. 000.2.

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Das Verfahrensrecht im Zoll und bei den Verbrauchsteuern

III. Abgrenzung Das Zollrecht umfasst die zollrechtlichen Vorschriften der Europäischen Union (Art. 5 Nr.  2 UZK), das Zollrechts-Durchführungsgesetz9 und die Zollrechts-Durchführungsverordnung10, soweit sie sich auf die Einfuhr oder Ausfuhr von Waren beziehen (§ 1 Abs. 2 ZollR-DG). „Das im § 1 genannte Zollrecht sowie die allgemeinen abgabenrechtlichen Vorschriften und das in Österreich anwendbare Völkerrecht, soweit sie sich auf die Einfuhr oder Ausfuhr von Waren beziehen, gelten weiters in allen nicht vom Zollkodex erfassten unionsrechtlich und innerstaatlich geregelten Angelegenheiten des Warenverkehrs über die Grenzen des Anwendungsgebiets, einschließlich der Erhebung von Abgaben (sonstige Eingangs- oder Ausgangsabgaben) und anderen Geldleistungen, soweit in diesem Bundesgesetz oder in den betreffenden Rechtsvorschriften die Vollziehung der Zollverwaltung übertragen und nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist“ (§ 2 Abs. 1 ZollR-DG). Das bedeutet, dass das Zollrecht und die BAO in allen Angelegenheiten des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, d.h. sobald die Waren die Grenzen des Anwendungsgebiets11 überschreiten, zur Anwendung gelangen. Bei den rein „nationalen“ Verbrauchsteuern (ohne Überschreitung des Anwendungsgebiets) gilt ausschließlich die BAO, mit Ausnahme der Anwendung der Fristenverordnung12 und des Rechtsbehelfsverfahrens, das in Konkretisierung des Art. 44 UZK im ZollR-DG (§§ 42 – 47) geregelt ist (vgl. § 47 ZollR-DG). 1. Zollrechtliche Entscheidungen Der Begriff der Entscheidung ist im UZK definiert. Eine Entscheidung „ist eine Handlung der Zollbehörden auf dem Gebiet des Zollrechts zur Regelung eines Einzelfalls mit Rechtswirkung für die betreffende Person oder die betreffenden Personen“ (Art. 5 Z. 39 UZK). Ob eine Erledigung eines Zollamts eine Entscheidung iS des UZK ist, ist nach den unionsrechtlichen Bestimmungen auszulegen. Soweit das Unionsrecht nicht anderes bestimmt, sind für Entscheidungen die Formvorschriften der §§ 93 ff. BAO heranzuziehen. Jeder Bescheid ist ausdrücklich als solcher zu bezeichnen, hat den Spruch zu enthalten und in diesem die Person zu nennen, an die er ergeht. Zusätzlich muss die Bezeichnung der Behörde enthalten sein wie auch das Datum und die Unterschrift der Person, die die Erledigung genehmigt hat bzw. eine Beglaubigung derselben. Ausfertigungen, die mittels automationsunterstützter Datenverarbeitung erstellt werden, benötigen weder eine Unterschrift noch 9 Bundesgesetz betreffend ergänzende Regelungen zur Durchführung des Zollrechts der Europäischen Gemeinschaften (Zollrechts-Durchführungsgesetz – ZollR-DG), BGBl. Nr. 659/­ 1994. 10 Verordnung des Bundesministers für Finanzen zur Durchführung des Zollrechts (ZollRDV), BGBl. II Nr. 184/2004. 11 Anwendungsgebiet ist das Bundesgebiet mit Ausnahme der Gebiete der Ortsgemeinden Jungholz (Tirol) und Mittelberg (Vorarlberg), siehe § 3 Abs. 1 ZollR-DG. 12 Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 des Rates vom 3.6.1971 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine (FristVO).

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eine Beglaubigung sondern gelten als durch den Leiter der auf der Ausfertigung bezeichneten Abgabenbehörde genehmigt (§§ 93 und 96 BAO). Eine den Antragsteller belastende Entscheidung muss begründet werden und eine Belehrung über das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs nach Art. 44 UZK enthalten (Art. 22 Abs. 7 UZK). Demnach hat jede Person, die unmittelbar und persönlich von einer Entscheidung der Zollbehörden in Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften betroffen ist das Recht, einen Rechtsbehelf einzulegen. Das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs kann in einem mindestens zweistufigen Verfahren ausgeübt werden (Art. 44 Abs. 1 und 2 UZK). In Österreich sind dies auf der ersten Stufe die Zollbehörden und auf der zweiten Stufe das Bundesfinanzgericht (BFG). § 47 ZollR-DG besagt, dass die Zollbehörden und das BFG die FristVO und die ergänzenden Vorschriften über das Rechtsbehelfsverfahren auch dann anzuwenden haben, wenn sie nicht im Warenverkehr über die Grenzen des Anwendungsgebiets tätig werden. Der Terminus „Rechtsbehelfsbelehrung“ ist daher in sämtlichen Erledigungen mit Bescheidcharakter, wo ein Rechtsbehelf zulässig ist, zu verwenden. Nähere Ausführungen über die Ausgestaltung der Rechtsbehelfsbelehrung und die Folgen von unrichtigen Belehrungen sind in der BAO geregelt (§  93 Abs. 3 lit. b, 4, 5 und 6). Entscheidungen des BFG (Erkenntnisse, Beschlüsse) sind keine Entscheidungen iS des Zollrechts, weil das BFG keine Zollbehörde sondern ein unabhängiges Gericht ist.13 Die gesetzlichen Grundlagen betreffend zollrechtliche Entscheidungen sind in Art. 22 – 37 UZK zu finden. Ergänzend dazu regeln die UZK-DA (Art. 8 – 22), die UZK-IA (Art. 8 – 23), die UZK-TDA (Art. 2 – 4) und das ZollR-DG (§§ 39 und 40) näheres zur Anwendung bzw. Ausgestaltung des UZK. a) Zuständige Zollbehörde „Beantragt eine Person eine Entscheidung im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften, so muss sie den zuständigen Zollbehörden alle verlangten Informationen übermitteln, die sie für diese Entscheidung benötigen“ (Art. 22 Abs. 1 UAbs. 1 UZK). „Sofern nichts anderes bestimmt ist, ist die zuständige Zollbehörde die Zollbehörde an dem Ort, an dem die Hauptbuchhaltung für Zollzwecke des Antragstellers geführt wird oder zugänglich ist und an dem wenigstens ein Teil der von der Entscheidung zu erfassenden Vorgänge durchgeführt wird“ (Art. 22 Abs. 1 UAbs. 3 UZK). Kann die zuständige Zollbehörde nicht bestimmt werden, dann ist die Zollbehörde jenen Orts, an dem der Antragsteller die Aufzeichnungen und Unterlagen (Hauptbuchhaltung für Zollzwecke), die die Zollbehörde für die Entscheidung benötigt, führt oder an dem sie zugänglich sind, zuständig (Art. 12 UZK-DA). Zusätzlich zu diesen Bestimmungen sind in Österreich das Abgabenverwaltungsorganisations­

13 Vgl. Reuter/Fuchs (Fn. 6), Rz. 110.5.9.6.

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Das Verfahrensrecht im Zoll und bei den Verbrauchsteuern

gesetz14, die Durchführungsverordnung zum Abgabenverwaltungsorganisationsgesetz15 und das ZollR-DG zu beachten. „Die örtliche Zuständigkeit der Zollämter bestimmt sich nach den zollrechtlichen Vorschriften“ (§ 28 Abs. 1 AVOG). Das ZollR-DG verweist betreffend die sachlichen und örtlichen Zuständigkeiten auf das AVOG, soweit im ZollR-DG oder in den Verbrauchsteuergesetzen nicht besondere Regelungen getroffen werden. Ergibt sich nach diesen Bestimmungen keine örtliche Zuständigkeit, so ist für die Erhebung von Eingangs- und Ausgangsabgaben das Zollamt örtlich zuständig, das auf Antrag mit der Sache befasst wird oder von Amts wegen als erstes einschreitet (§ 6 Abs. 2 und § 2b ZollR-DG). Dieser Auffangtatbestand gilt aber nicht für die „nationalen“ Verbrauchsteuern. Die Wahl des zuständigen Zollamts ist eine der vier Bedingungen, die bei einer Antragsannahme erfüllt sein müssen. Im Gegensatz zur Vorgehensweise nach der BAO ist ein Antrag, der bei einem falschen Zollamt einlangt, mittels Nichtannahmebescheid nicht anzunehmen. Gegen diesen Bescheid ist der Rechtsbehelf der Beschwerde möglich. b) Bedingungen für die Annahme eines Antrags „Die Zollbehörden überprüfen unverzüglich und spätestens innerhalb von 30 Tagen ab dem Eingang des Antrags auf eine Entscheidung, ob die Bedingungen für die Annahme des Antrags erfüllt sind“ (Art. 22 Abs. 2 UAbs. 1 UZK). Die Bedingungen, die für die Annahme eines Antrags erforderlich sind, regelt Art. 11 UZK-DA. Demnach ist ein Antrag auf eine Entscheidung anzunehmen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: „a) der Antragsteller ist nach Art. 9 des Zollkodex registriert (= EORI), sofern dies im Rahmen des Verfahrens erforderlich ist, für das der Antrag abgegeben wird   b) der Antragsteller ist im Zollgebiet der Union ansässig, sofern dies im Rahmen des Verfahrens erforderlich ist, für das der Antrag abgegeben wird   c) der Antrag wurde bei einer Zollbehörde eingereicht, die in dem Mitgliedstaat der nach Art. 22 Abs. 1 UAbs. 3 des Zollkodex zuständigen Zollbehörde für die Entgegennahme von Anträgen benannt wurde   d) der Antrag betrifft keine Entscheidung, die dem gleichen Zweck dient wie eine frühere an denselben Antragsteller gerichtete Entscheidung, die innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr vor Antragstellung zurückgenommen oder widerrufen wurde, da der Antragsteller eine ihm aus dieser Entscheidung erwachsende Pflicht nicht erfüllt hat“. Abweichend davon beträgt der Zeitraum drei Jahre, wenn die vorhe14 Bundesgesetz über den Aufbau und die Zuständigkeitsregelung der Abgabenverwaltung des Bundes (Abgabenverwaltungsorganisationsgesetz 2010 – AVOG), BGBl. I Nr. 9/2010. 15 Verordnung des Bundesministers für Finanzen zur Durchführung des Abgabenverwaltungsorganisationsgesetzes 2010 (AVOG–DV), BGBl. II Nr.  165/2010, zuletzt geändert durch BGBl. II Nr. 110/2013.

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rige Entscheidung nach Art. 27 Abs. 1 UZK zurückgenommen wurde oder wenn es sich bei dem Antrag um einen Antrag auf Bewilligung des Status des zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten nach Art. 38 UZK (= AEO) handelt. c) Nichtannahmebescheid Beim Fehlen einer dieser Annahmebedingungen ist der Antrag von der Zollbehörde nicht anzunehmen. Die Zollbehörde erlässt einen Nichtannahmebescheid, der mit Beschwerde anfechtbar ist. Vor Erlassung dieses Nichtannahmebescheids ist kein rechtliches Gehör iS des Art. 22 Abs. 6 UZK vorgesehen. d) Annahme eines Antrags Enthält der Antrag alle Informationen, die die Zollbehörden für ihre Entscheidung benötigen, so teilen sie dem Antragsteller formlos innerhalb einer Frist von 30 Tagen mit, dass sie den Antrag annehmen (Art. 22 Abs. 2 UAbs. 2 UZK). Als Tag der Annahme des Antrags und damit als Beginn der 30-Tages-Frist gilt jener Tag, an dem der Zollbehörde sämtliche benötigten Informationen vorliegen (Art. 12 Abs. 1 UZK-IA). Das Schreiben des Zollamts ergeht als verfahrensleitende Verfügung iS des § 94 BAO, wogegen gemäß § 244 BAO kein abgesonderter Rechtsbehelf möglich ist. e) Aufforderung zur Nachreichung von Unterlagen Wenn der Antrag nicht alle für die Entscheidung benötigten Informationen enthält, so ergeht innerhalb einer Frist von 30 Tagen an den Antragsteller eine Aufforderung zur Behebung dieses Mangels. Die Frist, die dem Antragsteller zur Behebung des Mangels auferlegt wird, darf 30 Tage nicht übersteigen. Werden die Unterlagen nicht vorgelegt, so ergeht ein Nichtannahmebescheid, der mit Beschwerde bekämpfbar ist (Art. 12 Abs. 2 UZK-IA). Legt der Antragsteller die erforderlichen Unterlagen innerhalb der gesetzlichen Frist vor, dann ist der Antrag von der Zollbehörde formlos anzunehmen. f) Annahmefiktion Es ist auch eine sog. Annahmefiktion vorgesehen, wenn dem Antragsteller nicht mitgeteilt wird, ob der Antrag angenommen wurde oder nicht. Der Antrag gilt daher am Tag der Einreichung als angenommen und die Fristen beginnen zu laufen. Falls über Aufforderung ergänzende Unterlagen vorgelegt wurden, gilt der Antrag an jenem Tag, an dem die letzten Informationen vorgelegt wurden, als angenommen (Art. 22 Abs. 2 UAbs. 2 UZK iVm. Art. 12 Abs. 3 UZK-IA). Nach Annahme des Antrags erlässt die Zollbehörde ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb einer Frist von 120 Tagen (Art. 22 Abs. 3 UAbs. 1 UZK).

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Das Verfahrensrecht im Zoll und bei den Verbrauchsteuern

g) Zusätzliche Informationen nach Antragsannahme Sofern die Zollbehörden, nachdem sie den Antrag gemäß Art. 22 Abs. 2 UAbs. 2 UZK angenommen haben, feststellen, dass doch weitere Informationen erforderlich sind, hat eine Aufforderung an den Antragsteller zu ergehen. Der Antragsteller hat höchstens 30 Tage Zeit, die Informationen vorzulegen. Die Entscheidungsfrist von 120 Tagen verlängert sich dadurch um 30 Tage. Diese Fristverlängerung ist dem Antragsteller mitzuteilen (Art. 13 Abs. 1 UZK-DA). Nach Antragsannahme ist eine Entscheidung in der Sache zu fällen, auch wenn der Antragsteller die Informationen nicht fristgerecht vorlegt. h) Fristverlängerungen Sind die Zollbehörden nicht in der Lage, die Frist für den Erlass einer Entscheidung einzuhalten, so unterrichten sie den Antragsteller vor Ablauf dieser Frist darüber unter Angabe der Gründe und der zusätzlichen Frist, die sie für notwendig erachten, um eine Entscheidung treffen zu können. Sofern nicht anderes bestimmt ist, beträgt diese zusätzliche Frist 30 Tage. Die Zollbehörden können auch die Frist für den Erlass verlängern, wenn der Antragsteller eine Verlängerung beantragt, um Anpassungen vorzunehmen und so die Erfüllung der Bedingungen und Voraussetzungen sicherzustellen. Diese Anpassungen und die zusätzliche Frist, die dafür notwendig ist, werden den Zollbehörden mitgeteilt, die über die Verlängerung entscheiden (Art. 22 Abs. 3 UZK). Bei Wahrung des rechtlichen Gehörs verlängert sich die Frist von 120 Tagen um 30  Tage. Der Antragsteller ist von dieser Verlängerung zu unterrichten. Wenn die Zollbehörde die Frist verlängert, um eine andere Zollbehörde zu kontaktieren, wird die Frist für den Erlass der Entscheidung um den gleichen Zeitraum verlängert wie diese Konsultationsfrist. Diese Fristverlängerung ist dem Antragsteller mitzuteilen. Besteht begründeter Verdacht auf einen Verstoß gegen die zollrechtlichen Vorschriften und führen die Zollbehörden deshalb Ermittlungen durch, so wird die Frist für den Erlass der Entscheidung um den Zeitraum verlängert, der für den Abschluss der Ermittlungen erforderlich ist. Dieser Zeitraum darf jedoch neun Monate nicht überschreiten. Sofern dies die Ermittlung nicht gefährdet, ist die Verlängerung dem Antragsteller mitzuteilen (Art. 13 Abs. 2 bis 4 UZK-DA). i) Wirksamwerden von Entscheidungen Wenn in der Entscheidung nicht anderes bestimmt ist, wird die Entscheidung an dem Tag wirksam, an dem sie dem Antragsteller zugestellt wird bzw. als ihm zugestellt gilt. Mit Ausnahme der Aussetzung der Vollziehung (§ 45 Abs. 2 UZK) sind Entscheidungen ab diesem Tag vollziehbar (Art. 22 Abs. 4 UZK). Gemäß Art. 22 Abs. 5 UZK sind Entscheidungen unbefristet gültig, sofern nicht anderes bestimmt ist (z.B. Art. 33 Abs. 3 UZK – verbindliche Zolltarifauskünfte – vZTA und verbindliche Ursprungsauskünfte – vUA sind drei Jahre gültig).

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2. Rechtliches Gehör Neu im Zollrecht geregelt ist die Vorschrift, wonach vor Erlass einer den Antragsteller belastenden Entscheidung (Bescheid, Beschwerdevorentscheidung) ein rechtliches Gehör einzuräumen ist (Art. 22 Abs. 6 UZK). Diese Vorhaltepflicht bezieht sich auf alle Bereiche des zollbehördlichen Verfahrens und ist nicht auf tatsächliche Abweichungen beschränkt. a) Mitteilung zur Wahrung des rechtlichen Gehörs Die Mitteilung hat eine Bezugnahme auf die Unterlagen und Informationen, auf die die Zollbehörden ihre Entscheidung stützen wollen, die Frist von 30 Tagen, innerhalb derer die Stellungnahme abzugeben ist und einen Hinweis auf das Recht auf Zugang zu den verfahrensgegenständlichen Unterlagen und Informationen („Akteneinsicht“), zu enthalten (Art. 8 Abs. 1 UZK-IA). Soweit es sich um österreichische Akten handelt, gelten die Vorschriften der §§  90 und 90a BAO. Der Antragsteller hat die Möglichkeit, innerhalb der Frist von 30 Tagen ab Kenntnisnahme der Mitteilung eine Stellungnahme abzugeben (Art. 8 Abs. 1 UZK-DA). Nach Ablauf der Frist ergeht die belastende Entscheidung samt Begründung und Rechtsbehelfsbelehrung. Die Zollbehörden können die Entscheidung auch vor Ablauf der 30-Tages-Frist erlassen, wenn die Person vor Ablauf der Frist Stellung nimmt, es sei denn, dass die Person in der Stellungnahme mitteilt, dass sie ihren Standpunkt innerhalb der Frist noch weiter ausführen möchte (Art. 8 Abs. 2 UZK-IA). Durch die Wahrung des rechtlichen Gehörs verlängert sich die Entscheidungsfrist des Zollamts um 30 Tage. Diese Verlängerung ist dem Antragsteller mitzuteilen (Art. 13 Abs. 2 UZK-DA). b) Vereinfachtes Vorhalteverfahren Die Zollbehörden können das rechtliche Gehör auch im Rahmen des Überprüfungsoder Kontrollprozesses vornehmen, wenn sie eine Entscheidung auf einer der folgenden Grundlagen erlassen wollen: „a) Ergebnis einer Überprüfung nach der Gestellung der Waren   b) Ergebnis einer Überprüfung der Zollanmeldung nach Art. 191 des Zollkodex   c) Ergebnis einer nachträglichen Kontrolle nach Art. 48 des Zollkodex, wenn die Waren sich noch unter zollamtlicher Überwachung befinden   d) Ergebnis einer Überprüfung des Nachweises des zollrechtlichen Status von Unionswaren bzw. das Ergebnis einer Überprüfung des Antrags auf Registrierung des Nachweises oder auf Erteilung des Sichtvermerks auf dem Nachweis   e) Ausstellung eines Ursprungsnachweises durch die Zollbehörden

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f) Ergebnis der Kontrolle von Waren, für die keine summarische Anmeldung, Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung, Wiederausfuhranmeldung oder Zollanmeldung abgegeben wurde“ (Art. 9 Abs. 1 UZK-IA). Im Fall der lit. f beträgt die Frist zur Stellungnahme nur 24 Stunden anstatt von 30 Tagen (Art. 8 Abs. 2 UZK-DA). Die betreffende Person kann entweder unter Verwendung anderer Mittel als der elektronischen Datenverarbeitung unmittelbar Stellung nehmen (z.B. mündlich) oder mit Ausnahme von Art. 9 Abs. 1 lit. f UZK-IA eine förmliche Mitteilung zur Wahrung des Parteiengehörs verlangen. Die betreffende Person ist von der Zollbehörde über diese beiden Möglichkeiten zu unterrichten. Erlassen die Zollbehörden eine die betreffende Person belastende Entscheidung, so ist aufzuzeichnen, ob die Person unmittelbar Stellung genommen hat (Art. 9 Abs. 2 und 3 UZK-IA). c) Ausnahmen vom rechtlichen Gehör Bei folgenden Angelegenheiten ist kein Parteiengehör vorgesehen: a) Entscheidung gemäß Art. 33 Abs. 1 UZK (= vZTA) b) Nichtgewährung einer Begünstigung im Rahmen eines Zollkontingents, wenn das Volumen erreicht ist c) Art und Umfang einer Gefährdung der Sicherheit und des Schutzes der Union und ihrer Bewohner, der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen, der Umwelt oder der Verbraucher machen es erforderlich d) mit der Entscheidung soll die Durchführung einer anderen Entscheidung sichergestellt werden, bei der bereits rechtliches Gehör gewahrt wurde e) Ermittlungen im Rahmen der Betrugsbekämpfung würden gefährdet und f) in anderen bestimmten Fällen (Art. 22 Abs. 6 UAbs. 2 UZK). Diese „anderen bestimmten Fälle“ sind laut Ermächtigungsnorm des Art. 24 lit. g UZK in der UZK-DA geregelt. Der Antragsteller enthält demnach keine Gelegenheit zur Stellungnahme, wenn „a) der Antrag auf eine Entscheidung nicht die in Art. 11 genannten Bedingungen erfüllt (= Bedingungen für die Annahme eines Antrags)   b) die Zollbehörden der Person, die die summarische Eingangsanmeldung abgegeben hat, im Fall einer Beförderung im Containerseeverkehr oder Luftverkehr mitteilen, dass die Waren nicht verladen werden dürfen  c) die Entscheidung die Information des Antragstellers über eine Kommissionsentscheidung nach Art. 116 Abs. 3 des Zollkodex betrifft oder   d) eine EORI-Nummer für ungültig erklärt wird“ (Art. 10 UZK-DA).

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3. Verbrauchsteuerrechtliche Anträge Anträge im Verbrauchsteuerrecht sind in der BAO16 sowie im AlkStG17, BierStG18, SchwStG19, TabStG20 und MinStG21 geregelt. Erledigungen einer Zollbehörde sind als Bescheide zu erlassen, wenn sie für einzelne Personen „Rechte oder Pflichten begründen, abändern oder aufheben oder abgabenrechtlich bedeutsame Tatsachen feststellen oder über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses absprechen“ (§ 92 Abs. 1 BAO). Die BAO ist eine allgemeine abgabenrechtliche Vorschrift iS des § 2 Abs. 1 ZollR-DG. Zollamtliche Bescheide iS der BAO sind daher auch Entscheidungen iS der zollrechtlichen Vorschriften.22 a) Zuständige Zollbehörde Das AVOG regelt, dass sich die örtliche Zuständigkeit der Zollämter nach den zollrechtlichen Vorschriften bestimmt. „Für die Erhebung der Verbrauchsteuern, soweit diese nicht anlässlich der Einfuhr zu erheben sind, ist, wenn nicht anderes bestimmt wird, das Zollamt örtlich zuständig, in dessen Bereich der Tatbestand verwirklicht wird, an den die Abgabepflicht geknüpft ist. Kann nicht festgestellt werden, wo dieser verwirklicht wurde, so ist jenes Zollamt örtlich zuständig, das zuerst vom abgabepflichtigen Sachverhalt Kenntnis erlangt (§ 28 Abs. 1 und 2 AVOG). Nähere Zuständigkeiten sind in den Verbrauchsteuergesetzen geregelt. So ist der Antrag auf Erteilung einer Bewilligung als Herstellungs- oder Lagerbetrieb bei dem Zollamt schriftlich einzubringen, in dessen Bereich sich der Betrieb befindet.23 Ein Antrag als registrierter Empfänger ist bei jenem Zollamt schriftlich einzubringen, in dessen Bereich der Antragsteller seinen Geschäfts- oder Wohnsitz hat, in Ermangelung eines solche im Steuergebiet bei dem Zollamt, in dessen Bereich sich der Betrieb des Antragstellers befindet oder der erstmalige Bezug erfolgen soll.24 b) Wahrnehmung der Zuständigkeit „Die Abgabenbehörden haben ihre sachliche und örtliche Zuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen. Langen bei ihnen Anbringen ein, zu deren Behandlung sie nicht zuständig sind, so haben sie diese ohne unnötigen Aufschub auf Gefahr des Einschreiters an die zuständige Stelle weiterzuleiten oder den Einschreiter an diese zu weisen“ (§  50 BAO). Eine allfällige Unzuständigkeit ist vom Zollamt daher in jeder Lage des Verfah16 §§ 85 ff. BAO. 17 Z.B. § 21 Abs. 1 und 2 AlkStG. 18 Z.B. § 12 Abs. 3 und 4 BierStG. 19 Z.B. § 9 Abs. 3 und 4 SchwStG. 20 Z.B. § 14 Abs. 3 und 4 TabStG. 21 Z.B. § 27 Abs. 2 und 3 MinStG. 22 Siehe auch Reuter/Fuchs (Fn. 6), Rz. 110.5.9.2. 23 Z.B. § 12 Abs. 3 BierStG. 24 Z.B. § 17 Abs. 4 BierStG.

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rens wahrzunehmen. Trotz Weiterleitungspflicht des Zollamts hat der Antragsteller die damit verbundenen Nachteile wie z.B. eine Fristversäumnis zu tragen. Dies gilt auch, wenn die Weiterleitung nicht ohne unnötigen Aufschub erfolgt. Tage des Postenlaufs sind in die Frist nicht einzurechnen, wenn die Weiterleitung mit der Post erfolgt, nicht jedoch mit der Dienstpost.25 Während im Zollrecht ein bei einer unzuständigen Behörde eingelangter Antrag mittels Bescheid nicht angenommen wird, sind unzuständige eingelangte Anträge betreffend „nationale“ Verbrauchsteuern an die zuständige Behörde weiterzuleiten. c) Anbringen Verbrauchsteuerrechtliche Anträge sind grundsätzlich schriftlich einzureichen. Die Abgabenbehörde hat mündliche Anbringen entgegenzunehmen, „wenn dies die Abgabenvorschriften vorsehen oder wenn dies für die Abwicklung des Abgabenverfahrens zweckmäßig ist oder wenn die Schriftform dem Einschreiter nach seinen persönlichen Verhältnissen nicht zugemutet werden kann“ (§ 85 Abs. 1 und 3 BAO). Sind alle Erfordernisse für ein Anbringen erfüllt, so hat das Zollamt unverzüglich über das Anbringen zu entscheiden. Die Entscheidungspflicht innerhalb von 120 Tagen gilt auch für die „nationalen“ Verbrauchsteuern, weil diese Frist an die Stelle der in §  284 Abs.  1 BAO genannten Frist von sechs Monaten tritt (§  43 Abs.  2 ZollRDG).26 Wie auch im Zollrecht werden bei den Verbrauchsteuern Verlängerungen aufgrund von Parteiengehör oder Mängelbehebung möglich sein. Durch den Verweis „oder in einer sonstigen Regelung des Zollrechts festgelegte Frist“ wird es in diesen Fällen nicht erforderlich sein, den Antragsteller von der Fristverlängerung zu unterrichten. d) Mängelbehebungsauftrag Bei Mängeln von Eingaben ist das Zollamt verpflichtet, einen Mängelbehebungsauftrag zu erlassen. Solche Mängel können aus einem Formgebrechen, einem inhaltlichen Mangel oder dem Fehlen einer Unterschrift (individueller Schriftzug) bestehen. Formgebrechen liegen z.B. vor, wenn das Anbringen in einer unzulässigen Sprache formuliert oder unleserlich ist. Auch das Nichtverwenden von amtlichen Drucksorten (z.B. VSt 18 – Antrag auf Bewilligung eines Herstellungsbetriebs) stellt einen solchen Mangel dar. Inhaltliche Mängel liegen nur beim Fehlen gesetzlich geforderter Angaben vor, z.B. wenn eine Beschwerde nicht ausreichend begründet ist. Ein Mängelbehebungsauftrag ist eine verfahrensleitende Verfügung. Ein Rechtsbehelf ist daher erst gegen den die Sache abschließenden Bescheid möglich (§ 244 BAO). Im Mängelbehebungsauftrag ist eine behördliche Frist, innerhalb derer der Mangel zu 25 Siehe Ritz, Bundesabgabenordnung – Kommentar, 6. Aufl. 2017, § 50 Rz. 3ff. 26 Beim Verweis auf Art. 22 Abs. 2 UZK dürfte es sich um ein Redaktionsversehen handeln. Gemeint ist wohl, wie auch in Erl. RV 896 BlgNR XXV GP, S. 21 angeführt, ein Verweis auf Art. 22 Abs. 3 UZK mit einer Frist von 120 Tagen.

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beheben ist, zu setzen. Diese Frist ist auf Antrag verlängerbar und eine Verlängerung liegt im Ermessen des Zollamts. Im Bescheid ist anzuführen, dass das Anbringen bei Nichtbehebung des Mangels als zurückgenommen gilt. Wird daher der Mangel nicht, nicht zeitgerecht oder unzureichend behoben, so ist mit Zurücknahmebescheid auszusprechen, dass die Eingabe als zurückgenommen gilt.27 Wurde eine Beschwerde zurückgenommen, so ist sie mit Beschwerdevorentscheidung als gegenstandslos zu erklären (§ 256 Abs. 3 BAO). Gegen diese Entscheidungen sind Rechtsbehelfe möglich. Bei rechtzeitiger Behebung des Mangels gilt die Eingabe als ursprünglich richtig eingebracht. Die Frist zur Behebung des Mangels ist in die 120-Tages-Frist nicht einzurechnen (vgl. Art. 13 Abs. 2 UZK-DA). e) Wirksamwerden von Erledigungen „Erledigungen werden dadurch wirksam, dass sie demjenigen bekannt gegeben werden, für den sie ihrem Inhalt nach bestimmt sind“. Die Bekanntgabe erfolgt bei schriftlichen Erledigungen grundsätzlich durch Zustellung, bei mündlichen Erledigungen durch deren Verkündung (§ 97 BAO). 4. Parteiengehör Der Grundsatz des Parteiengehörs gehört zu den fundamentalen Grundsätzen eines Rechtsstaats.28 Die Pflicht der Behörde zur Wahrung des Parteiengehörs ergibt sich aus der BAO. Das Parteiengehör besteht darin, den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben, z.B. sich vor Erlassung des abschließenden Sachbescheids zu behördlichen Sachverhaltsannahmen oder zu Ergebnissen von Beweisverfahren zu äußern. Das Parteiengehör ist weiters zu wahren, wenn von der Abgabenerklärung abgewichen werden soll. In solchen Fällen „sind dem Abgabepflichtigen die Punkte, in denen eine wesentliche Abweichung zu seinen Ungunsten in Frage kommt, zur vorherigen Äußerung mitzuteilen“.29 Steueranmeldungen für verbrauchsteuerpflichtige Produkte sind als Abgabenerklärungen iS der BAO anzusehen. Weicht die Behörde vom selbstberechneten Betrag des Steuerschuldners ab, so hat sie dies dem Antragsteller vor Erlassung eines Festsetzungsbescheids gemäß § 201 BAO zur Abgabe einer Stellungnahme mitzuteilen. Da sich das Parteiengehör nur auf die Ergebnisse des Verfahrens erstreckt, muss die beabsichtigte Beweiswürdigung vor Bescheiderlassung nicht vorgehalten werden.30 Nur bei Abweichungen im tatsächlichen Bereich und bei sachverhaltsbezogenen Ansichten, nicht bei Rechtsansichten ist der Partei Gelegenheit zur Äußerung zu geben.31 Das Parteiengehör ist auch im Rechtsbehelfsverfahren zu wahren. Es ist in einer 27 Vgl. Ritz (Fn. 25), § 85 BAO Rz. 16 ff. 28 Vgl. Ritz (Fn. 25), § 115 BAO Rz. 14 mwN. 29 § 115 Abs. 2, § 161 Abs. 3 und 183 Abs. 4 BAO. 30 Siehe VwGH v. 28.9.2016 – Ra 2016/16/0064. 31 Vgl. Ritz (Fn. 25), § 115 BAO Rz. 16 mwN.

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förmlichen Weise zu gewähren und kann, je nach Verfahrensschritt, mündlich (z.B. im Zuge einer amtlichen Aufsicht) oder schriftlich (z.B. in Form eines Vorhalts) erfolgen. Es gibt jedoch kein abstraktes Recht der Partei auf die Einhaltung von Verfahrensvorschriften.32 Ein nicht gewährtes Parteiengehör ist im Beschwerdeverfahren sanierbar und daher kein absoluter Verfahrensmangel.33 5. Fristen a) Gesetzliche Grundlagen Die Berechnung der Fristen erfolgt unter Anwendung der FristVO. Sowohl Art. 55 Abs. 2 UZK als auch § 2 Abs. 3 ZollR-DG verweisen auf die FristVO. Der Verweis im UZK ist grundsätzlich überflüssig, weil die FristVO für alle Bereiche des Unionsrechts gilt.34 National ist in § 47 ZollR-DG weiters geregelt, dass die Zollbehörden und das BFG (im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit der Zollämter) bei allen abgabenrechtlichen Entscheidungen die FristVO anzuwenden haben. Die FristVO gilt daher auch bei „nationalen“ Verbrauchsteuern und beim Altlastenbeitrag. Behördliche Fristen können im Ermessen verlängert werden, gesetzliche Fristen sind nur dann verlängerbar, wenn dies ausdrücklich erlaubt ist (Art. 55 Abs. 1 UZK). b) FristVO Die FristVO bestimmt, dass bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitgerechnet wird, in den das Ereignis oder die Handlung fällt, wenn für den Anfang einer nach Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren bemessenen Frist der Zeitpunkt maßgebend ist, in welchem ein Ereignis eintritt oder eine Handlung vorgenommen wird. „Eine nach Tagen bemessene Frist beginnt am Anfang der ersten Stunde des ersten Tages und endet mit Ablauf der letzten Stunde des letzten Tages der Frist. Eine nach Wochen, Monaten oder Jahren bemessene Frist beginnt am Anfang der ersten Stunde des ersten Tages der Frist und endet mit Ablauf der letzten Stunde des Tages der letzten Woche, des letzten Monats oder des letzten Jahres, der dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag des Fristbeginns trägt“ (Art. 3 Abs. 1 und 2 lit. c FristVO). c) Auslegung der FristVO Der EuGH hat in der Rs Maatschap Toeters klargestellt, dass nach Art. 3 Abs. 2 lit. c FristVO eine nach Wochen bemessene Frist mit Ablauf der letzten Stunde des Tages der letzten Woche, der dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag des Fristbeginns trägt, endet. Fällt daher ein Ereignis, das den Beginn einer Frist von einer Woche darstellt, auf einen Montag, so endet die Frist am folgenden Montag. Es ist nicht von Bedeutung, den Tag, an dem die Frist begonnen hat und die Zahl der Tage,

32 Siehe VwGH v. 24.2.2011 – Gz. 2011/16/0020. 33 Vgl. Ritz (Fn. 25), § 115 BAO Rz. 21 mwN. 34 Siehe Reuter/Fuchs (Fn. 6), Rz. 130.2.

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über die sie sich erstreckt, zu bestimmen.35 Der EuGH hat somit entschieden, dass nicht der Beginn der Frist, sondern das Fristende ausschlaggebend ist.36 Nach Kofler gilt dasselbe auch für die Berechnung der Monats- oder Jahresfrist.37 Diese Ansicht wurde jüngst vom BFG bestätigt.38 Auch der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hat hinsichtlich der Fristberechnung auf das Urteil des EuGH verwiesen.39 Der augenscheinliche Unterschied der FristVO zu §  108 BAO im Hinblick auf die Fristberechnung wurde durch den EuGH aufgelöst. Die FristVO vermisst jedoch eine Bestimmung, wonach die Tage des Postenlaufs in die Frist nicht einzurechnen sind (vgl. § 108 Abs. 4 BAO). Eine Frist kann im Gegensatz zur BAO am Karfreitag und am 24. Dezember enden, weil Art. 3 Abs. 3 FristVO dem § 108 Abs. 3 BAO vorgeht und Österreich zudem keine Liste der Feiertage an die Kommission übermittelt hat (vgl. Art. 2 Abs. 1 FristVO). d) Europäisches Übereinkommen über die Berechnung von Fristen Gemäß Art. 3 des Europäischen Übereinkommens über die Berechnung von Fristen40 laufen Fristen, die in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren ausgedrückt sind, von Mitternacht des dies a quo (= Anfangstag) bis Mitternacht des dies a quem (= Endtag). Daraus ergibt sich, dass der Anfangstag bei der Fristberechnung nicht mitzuzählen ist, der Endtag hingegen schon. Eine Frist von vier Tagen, die am 7. Oktober beginnt, endet demnach am 11. Oktober. Bei Wochenfristen ist die Benennung ausschlaggebend. Eine an einem Mittwoch beginnende Frist von zwei Wochen endet zwei Wochen später am Mittwoch. Bei Monats- und Jahresfristen entscheidet die Zahl. Eine am 20. Mai beginnende Frist von einem Monat endet daher am 20. Juni (Art. 4 Abs. 1 und 2 des Übereinkommens).41 e) Überlegungen Nach Art. 3 Abs. 2 lit. b FristVO beginnt „eine nach Tagen bemessene Frist…am Anfang der ersten Stunde des ersten Tages und endet mit Ablauf der letzten Stunde des letzten Tages der Frist“. Rechnet man folgend dem Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 FristVO den Tag nicht mit, in den das Ereignis fällt, vermeidet man, dass Bruchteile von Tagen berücksichtigt werden müssen. Im Ergebnis entspricht dies dem Art. 3 Abs.  1 des Übereinkommens und § 108 Abs. 1 BAO. Eine Frist von 30 Tagen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs, die am 8. Mai beginnt, endet daher am 7. Juni.

35 Siehe EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-171/03 – Maatschap Toeters. 36 Vgl. Summersberger, Das Bescheidbeschwerdeverfahren im Zollrecht, in Spektrum der Steuerwissenschaften und des Außenwirtschaftsrechts, 4/2016, S. 229 (237). 37 Siehe Kofler, Fristberechnung nach der Fristenverordnung, BFG-Journal, 2015, S. 34 (35). 38 Siehe BFG v. 17.1.2017 - RV/7200102/2013. 39 Siehe VwGH v. 8.6.2015 – Ro 2015/16/0020. 40 BGBl. Nr. 254/1983. 41 Siehe Erl. RV 156 BlgNR XVI GP, S. 9f.

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„Eine nach Wochen, Monaten oder Jahren bemessene Frist beginnt am Anfang der ersten Stunde des ersten Tages der Frist und endet mit Ablauf der letzten Stunde des Tages der letzten Woche, des letzten Monats oder des letzten Jahres, der dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag des Fristbeginns trägt“ (Art. 3 Abs. 2 lit. c FristVO). Folgt man dem EuGH und dem Übereinkommen, dann sind bei Wochenfristen das Fristende und die Benennung des Wochentags ausschlaggebend. Entscheidend ist die ­Bezeichnung jenes Tages, an dem das Ereignis stattfand. Ist das Ereignis an einem Freitag eingetreten, endet die Frist ebenfalls an einem Freitag. Bei Monats- und Jahresfristen ist die Zahl ausschlaggebend. Wenn die Monatsfrist am 30. September beginnt, so endet sie am 30. Oktober. Bei Tagesfristen wird der fristauslösende Tag nicht mitgezählt, während bei Wochen-, Monats- und Jahresfristen die Benennung bzw. die Zahl entscheidend ist. Verdeutlicht wird dies dadurch, dass man unter einer Woche eine Dauer von sieben Tagen versteht. Zählt man bei Tagesfristen den Tag des fristauslösenden Ereignisses nicht mit, fällt das Ende einer Sieben-Tages-Frist auch auf den gleichnamigen Wochentag. 6. Aufschiebende Wirkung Im Zollrecht ist geregelt, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat (Art. 45 Abs. 1 UZK). Eine ähnliche Regelung findet sich auch in der BAO, wonach „durch die Einbringung einer Bescheidbeschwerde…die Wirksamkeit des angefochtenen Bescheids nicht gehemmt, insbesondere die Einhebung und zwangsweise Einbringung einer Abgabe nicht aufgehalten“ wird (§  254 BAO). a) Aussetzung der Vollziehung Art. 22 Abs. 4 UZK normiert, dass Entscheidungen der Zollbehörden, außer in den Fällen des Art. 45 Abs.  2 UZK, ab dem Tag der Zustellung vollziehbar sind. Nach Art. 45 Abs. 2 UZK setzen die Zollbehörden „die Vollziehung der Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte“. Wenn mit der Entscheidung die Pflicht zur Entrichtung von Einfuhrabgaben verbunden ist, wird nur gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt, es sei denn, es wird auf Grundlage einer dokumentierten Bewertung festgestellt, dass dem Schuldner durch die Leistung einer Sicherheit ernste wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten entstehen könnten (Art. 45 Abs. 3 UZK). Das Verfahren zur Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung richtet sich nach der BAO.42 Gemäß § 2 Abs. 1 ZollR-DG ist Art. 45 Abs. 2 UZK auch im grenzüberschreitenden Verkehr mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren anzuwenden.

42 § 212a Abs. 3 ff. BAO; siehe Summersberger, StAW, S. 238 mwN.

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b) Aussetzung der Einhebung Die Einhebung einer Abgabe, deren Höhe unmittelbar oder mittelbar von der Erledigung einer Beschwerde abhängt, ist auf Antrag des Abgabepflichtigen unter bestimmten Bedingungen auszusetzen (§ 212a Abs. 1 BAO). § 42 ZollR-DG verweist nur auf das Rechtsbehelfsverfahren iS des Art. 44 UZK und nicht auf die Aussetzung der Vollziehung in Art. 45 UZK. Für die Aussetzung der Einhebung von „nationalen“ Verbrauchsteuern gelten daher ausschließlich die Vorschriften der BAO.43 7. Abschließende Würdigung Seit 1.5.2016 müssen die Zollbehörden genau unterscheiden, ob Anträge auf zollrechtliche Entscheidungen oder in verbrauchsteuerrechtlicher Hinsicht gestellt werden. Die Erhebung von „nationalen“ Verbrauchsteuern fällt zwar in die Zuständigkeit der Zollämter, scheidet aber vom Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Zollrechts aus. Es gibt nur einzelne Bestimmungen im ZollR-DG, die auch im nichtgrenz­überschreitenden Warenverkehr anwendbar sind. Bei zollrechtlichen Entscheidungen sind hingegen zahlreiche Bestimmungen der BAO, die insoweit als Zollrecht gelten, anwendbar.

43 So auch Summersberger, StAW, S. 238 mwN.

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Tax Good Governance und die externe Strategie der Union Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich und Drittstaaten: Die ­externe Strategie der Union III. Überprüfung der EU-Kriterien für ­verantwortungsvolles Handeln

IV. Förderung der Zusammenarbeit für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich durch Abkommen mit Drittstaaten

V. Gegenmaßnahmen im Hinblick auf nicht kooperierende Drittstaaten („EU Schwarze Liste“)

VI. Ausblick

I. Einleitung Die explizite Verknüpfung zwischen Good Governance und dem Steuerwesen hat sich auf Ebene der Europäischen Union erst im vergangenen Jahrzehnt herausgebildet und verdichtet.1 „Tax Good Governance“ meint verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich und umfasste ursprünglich drei Grundsätze, und zwar die Transparenz, den Informationsaustausch und den fairen Steuerwettbewerb2, wobei mittlerweile auch die Eindämmung missbräuchlicher oder „schädlicher“ Steuergestaltungen in diesem Zusammenhang genannt wird.3 So hat der Rat bereits im Mai 2008 betont, dass „es wichtig ist, die Grundsätze des verantwortungsvollen Handelns im Steuerwesen, d. h. die Grundsätze der Transparenz, des Informationsaustauschs und des fairen Steuerwettbewerbs, auf die sich die Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene verpflichtet haben, in einem möglichst breiten geografischen Gebiet umzusetzen, wobei das verantwortungsvolle Handeln im Steuerwesen nicht nur ein wesentliches Mittel zur Bekämpfung grenzübergreifender Aktivitäten bei Steuerbetrug und Steuerflucht ist, sondern auch dem Kampf gegen Geldwäsche, Korruption und Terrorismusfinanzierung förderlich sein kann“.4

Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich ist dabei nicht nur ein wesentliches Leitbild für die Steuerpolitik innerhalb der Union. Man denke nur an die rasante 1 Für einen ausführlichen Blick auf das Schrifttum und die Tätigkeiten anderer internationaler Organisationen siehe insbesondere Owens, Promoting Good Tax-Governance in Third-­ Countries: The Role of the EU, PE 569.976 (September 2015) 4 ff. 2 Siehe etwa Mitteilung der Kommission „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, KOM(2009)201 (28.4.2009) 5. 3 Siehe z. B. die Mitteilung der Kommission über Steuertransparenz als Mittel gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, KOM(2015)136 (18.2.2015) 2, und dazu sogleich unten Kapitel III. 4 Dok. 8850/08 (Presse 113) (14.5.2008) 23.

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Ausdehnung des automatischen Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten (speziell für Finanzinformationen5, „Rulings“6 und „Country-by-Country“-­ Berichte7) und die Verknüpfung von Geldwäsche- mit Steuerthemen8, sondern auch die Arbeiten gegen schädlichen Steuerwettbewerb durch die Gruppe „Verhaltens­ kodex“9 und die Bemühungen gegen Bemessungsgrundlagenaushöhlungen und ­Gewinnverschiebungen10 in den vergangenen Jahren.11 Auf Unionsebene hat die ­Kommission zudem die Expertengruppe „Plattform für die Themenbereiche verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen, aggressive Steuerplanung und Doppelbesteuerung“ eingerichtet12, die die Kommission bei der Entwicklung neuer Initiativen zur Förderung von verantwortungsvollem Handeln im Steuerwesen in Drittstaaten sowie der Bekämpfung von aggressiver Steuerplanung und Doppelbesteuerung unterstützen soll. „Tax Good Governance“ ist vielmehr auch eine Politikvorgabe für das Handeln der Union und der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten. Während sich in der Vergangenheit durchaus Ansätze einzelner Staaten fanden, das internationale Steuerrecht zur Durchsetzung sozialer oder rechtlicher Wertvorstellungen zu nutzen13, verfolgt die EU einen zweifachen und umfassenden Ansatz: Einerseits geht es um die – auch 5 Richtlinie 2014/107/EU, ABl. L 359/1 (16.12.2014). 6 Richtlinie (EU) 2015/2376, ABl. L 332/1 (18.12.2015); dazu z. B. Grotherr, Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über verbindliche Auskünfte und APAs auf EU-Ebene ab dem 1.1.2016 geplant, IStR 2015, 293 (293 ff.). 7 Richtlinie (EU) 2016/881, ABl. L 146/8 (3.6.2016). 8 Bis Mitte 2017 mussten zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung in den Mitgliedstaaten Register der wirtschaftlichen Eigentümer von Gesellschaften, anderen juristischen Personen und Trusts eingerichtet werden (Art.  30  f. der Richtlinie (EU) 2015/849, ABl.  L  141/73 [5.6.2015]); zu diesen Informationen haben auch die Finanzbehörden spätestens ab 1.1.2018 Zugang (Art 1 der Richtlinie (EU) 2016/2258, ABl. L 342/1 [16.12.2016]). 9 Siehe zum aktuellen Stand den Bericht des Rates (Wirtschaft und Finanzen) an den Europäischen Rat zu Steuerfragen, Dok. 10397/17 FISC 141 (16.6.2017) Rz. 74 ff. 10 Besonders hervor sticht hier die Verabschiedung der Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl.  L  193/1 (19.7.2016), geändert durch Richtlinie (EU) 2017/952, ABl. L 144/1 (7.6.2017). 11 Siehe grundlegend die Mitteilung der Kommission „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, KOM(2009)201 (28.4.2009) 5 ff., und nachfolgend etwa die Mitteilung der Kommission „Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“, KOM(2012)722 (6.12.2012), und die Mitteilung der Kommission über Steuertransparenz als Mittel gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, KOM(2015)136 (18.2.2015). 12 Eingesetzt durch den Beschluss der Kommission C(2013)2236 und Verlängerung des ­Mandats durch den Beschluss der Kommission C(2015)4095. Die Arbeiten der Plattform sind ersichtlich unter http://ec.europa.eu/taxation_customs/taxation/gen_info/good_gover​ nance_matters/platform/index_de.htm. 13 Vereinzelte Beispiele aus der Staatenpraxis sind etwa die Kündigung des DBA mit Südafrika durch die USA als Reaktion auf die Apartheid oder die Versagung von Steuervorteilen im Falle der Teilnahme an bestimmten Boykotten (§ 999 IRC).

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von anderen internationalen Organisationen geforderte, etwa in den Erklärungen von Monterrey14, Doha15 und Addis Abeba16 zum Ausdruck kommende – Unterstützung von Entwicklungsländern beim Aufbau effizienter, gerechter und nachhaltiger Steuersysteme und bei der Stärkung der Steuerverwaltungen, um die Mobilisierung inländischer Ressourcen zur Entwicklung zu fördern und dessen größte Hindernisse, insbesondere Kapitalflucht und illegale Finanzströme, zu überwinden.17 Andererseits stehen gerade im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise auch der Schutz der ei­ genen Steuereinnahmen und damit Gegenmaßnahmen im Hinblick auf nicht kooperierende oder kooperationsunwillige Staaten im Fokus. Beide Aspekte gehen auch insofern Hand in Hand, als es der Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Konsolidierung ihrer Steuersysteme und im Kampf gegen illegale Finanzströme bedarf, um die globale Transparenz zu erhöhen18; dementsprechend erfolgt die Ver­ teilung von zusätzlichen Fördermitteln an Entwicklungsländer, die entsprechende Zusagen einhalten und Fortschritte auch beim verantwortungsvollen Handeln im Steuerbereich erzielt haben.19

II. Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich und Drittstaaten: Die externe Strategie der Union Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen und unterstützt, um Drittstaaten zu verantwortungsvollem Handeln im Steuerbereich zu bewegen. So wurden weltweit enorme Fortschritte im Hinblick auf Transparenz (speziell im Hinblick auf Bankgeheimnisse) und den Informationsaustausch gemacht. Dies betrifft etwa den von der OECD vorangetriebenen globalen Standard zum automatischen Austausch von Finanzinformationen, der nicht nur durch eine Anpassung der AmtshilfeRL in der EU, sondern auch in der Ausdehnung der alten Zinsbesteuerungsabkommen mit verschiedenen europäischen 14 „Monterrey-Konsens“ über Entwicklungsfinanzierung (2002); siehe den Bericht der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung, Monterrey (Mexiko), 18.–22. März 2002, A/CONF.198/11. 15 Konferenz von Doha über die Entwicklungsfinanzierung (2008); siehe die Erklärung von Doha über Entwicklungsfinanzierung – Ergebnisdokument der Internationalen Folgekonferenz über Entwicklungsfinanzierung zur Überprüfung der Umsetzung des Konsenses von Monterrey, A/CONF.212/L.1/Rev.1 (9.12.2008). 16 The Addis Ababa Action Agenda of the Third International Conference on Financing for Development (2015). 17 Siehe die Mitteilung der Kommission „Steuerwesen und Entwicklung – Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern bei der Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, KOM(2010)163 (21.4.2010), samt Arbeitspapier SEC(2010)426; siehe auch „Tax and development: promoting good governance in taxation as part of development cooperation“, MEMO/10/146 (21.4.2010). Dazu auch Owens, Promoting Good Tax-Governance in Third-Countries: The Role of the EU, PE 569.976 (September 2015). 18 Siehe die Mitteilung der Kommission über Steuertransparenz als Mittel gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, KOM(2015)136 (18.2.2015) 7. 19 Dazu Mitteilung der Kommission „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, KOM(2009)201 (28.4.2009) 9 f.

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Drittstaaten auf den automatischen Austausch von Finanzinformationen (Schweiz20, Liechtenstein21, Monaco22, Andorra23 und San Marino24) seinen Niederschlag fand.25 Gleiche Standards für den Austausch von Informationen über „Rulings“ und „Country-­ by-Country“-Berichten wurden nachfolgend nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten26, sondern auch auf Ebene der OECD geschaffen.27 Weitere Beispiele sind der ­Abbau von Präferenzsteuerregimen (etwa der Konsens zum Nexus-Ansatz bei „Patentboxen“ nicht nur innerhalb der EU28, sondern auch in der OECD29) und das Bestreben, mit Liechtenstein und anderen Drittstaaten (Andorra, Monaco, San Marino und Schweiz) Betrugsbekämpfungsabkommen zu schließen.30 In einem weiteren Sinne zählt dazu auch das G20/OECD-Projekt gegen „Base Erosion and Profit Shifting“, das im Oktober 2015 in 15 Endberichten gemündet ist; in der Tat ist die Implementierungsphase des OECD-BEPS-Projekts in den verschiedenen Staaten bereits angelaufen (und erfolgt in der Union teilweise im Rahmen der Anti-BEPS-Richtlinie31), wo-

20 ABl. L 333/12 (19.12.2015). 21 ABl. L 339/3 (24.12.2015). 22 ABl. L 225/3 (19.8.2016). 23 ABl. L 268/40 (1.10.2016). 24 ABl. L 346/3 (31.12.2015). 25 Siehe auch die Mitteilung der Kommission über eine externe Strategie für effektive Besteuerung, KOM(2016)24 (28.1.2016) 4 f. 26 Durch Änderungen der AmtshilfeRL durch die Richtlinien (EU) 2015/2376. ABl. L 332/1 (18.12.2015), und (EU) 2016/881, ABl. L 146/8 (3.6.2016). 27 Siehe das „Multilateral Competent Authority Agreement on the Exchange of CbC Reports“ („CbC MCAA“), das bis Anfang Juli 2017 bereits von 65 Staaten unterzeichnet wurde (http://www.oecd.org/tax/automatic-exchange/about-automatic-exchange/CbC-MCAA-​ S­ ignatories.pdf). Im Oktober 2017 waren bereits mehr als 1.000 bilaterale Austauschver­ hältnisse zwischen 40 Jurisdiktionen aktiviert, wobei die ersten Austausche im Jahr 2018 stattfinden sollen (siehe dazu die unter http://www.oecd.org/tax/beps/country-by-country-­ exchange-relationships.htm verfügbare Datenbank). 28 Dazu OECD, Action 5: Agreement on Modified Nexus Approach for IP Regimes (2015), und z. B. Rz. 17 ff. des Berichts der Code-of-Conduct-Gruppe an den Rat, Dok. 9912/16 FISC 97 ECOFIN 558 (13.6.2016); siehe weiters auch die Mitteilung über eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union  – Fünf Aktionsschwerpunkte, KOM(2015)302 final (17.6.2015), 11 f. 29 Siehe zu Details der Einigung OECD, Action 5: Agreement on Modified Nexus Approach for IP Regimes (2015), sowie aus dem Schrifttum z. B. Thiede, Besitzen Patentboxregime eine Zukunft? – Eine beihilferechtliche Untersuchung, IStR 2016, 283 (283 ff.). 30 Siehe zum aktuellen Stand dieser Bemühungen den Bericht des Rates (Wirtschaft und Finanzen) an den Europäischen Rat zu Steuerfragen, Dok. 10397/17 FISC 141 (16.6.2017) Rz.  36  ff., sowie „BEPS: Presidency roadmap on future work“, Dok. 10998/17 (7.7.2017) Rz. 32 f., und „Tax Policy Roadmap of the Bulgarian Presidency of the Council“, Dok. 5668/18 FISC 37 (30.1.2018) Rz. 47 f. 31 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl.  L  193/1 (19.7.2016), geändert durch Richtlinie (EU) 2017/952, ABl. L 144/1 (7.6.2017).

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bei allerdings nur wenige Teile des OECD-BEPS-Projekts politisch verbindliche „Mindeststandards“ darstellen und einem Peer-Review-Prozess32 unterliegen.33 Die Position der Union und das koordinierte Handeln der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten haben sich vor diesem Hintergrund derart verdichtet, dass die Kommission – basierend auf umfangreichen Vorarbeiten34 – im Jahr 2016 eine „Mitteilung über eine externe Strategie für effektive Besteuerung“ veröffentlicht hat.35 Diese Mitteilung beschreibt zentrale Maßnahmen, „die die EU ergreifen sollte, um verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich weltweit zu fördern, die Aushöhlung der Steuerbasis von außen zu bekämpfen und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen zu gewährleisten. Die Mitteilung befasst sich auch mit der Frage, wie sich verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich besser in die Politik der EU im Bereich Außenbeziehungen einfügen lässt und wie es die Zusagen der EU auf internationaler Ebene vor allem in der Entwicklungspolitik stützen kann“.36

Einige wesentlichen Aspekte dieser externen Strategie sollen im Folgenden kurz herausgegriffen und in ihrem Kontext analysiert werden: Dies betrifft die Überprüfung der EU-Kriterien für verantwortungsvolles Handeln (Kapitel III), die Förderung der Zusammenarbeit für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich durch Abkommen mit Drittstaaten (Kapitel IV) und mögliche Gegenmaßnahmen im Hinblick auf nicht kooperierende Drittstaaten („EU Schwarze Liste“) (Kapitel V). Darüber hinaus enthält die externe Strategie auch zwei weitere große Themenblöcke, die an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden sollen: Einerseits befasst sie sich mit der Unterstützung von Entwicklungsländern bei der Erfüllung der Standards für verantwortliches Handeln im Steuerbereich (auch im Sinne des Strategiepapiers „Collect More, Spend Better“37), also insbesondere der Unterstützung dieser Länder bei der Verbesserung ihrer Steuersysteme und der Erhöhung der inländischen Ressourcen, 32 Siehe z. B. OECD, BEPS Action 14 on More Effective Dispute Resolution Mechanisms – Peer Review Documents (October 2016), OECD, BEPS Action 5 on Harmful Tax Practices: Transparency Framework – Peer Review Documents (February 2017), OECD, BEPS Action 13 on Country-by-Country Reporting  – Peer Review Documents (February 2017), und OECD, BEPS Action 6 on Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances – Peer Review Documents (May 2017). 33 Dazu unten Kapitel V. 34 Siehe etwa die Mitteilung der Kommission „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, KOM(2009)201 (28.4.2009), die Empfehlung der Kommission vom 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012)8805 final (6.12.2012) (begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD(2012)403 final (6.12.2012)), und die Mitteilung über eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union – Fünf Aktionsschwerpunkte, KOM(2015)302 (17.6.2015), 14 f. und Anhang (Kompilation einer EU-Liste auf Basis der Schwarzen Listen der Mitgliedstaaten). 35 Mitteilung der Kommission (Fn. 25). 36 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 2 f. 37 Dazu die Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen „Collect More, Spend Better“, SWD(2015)198 (15.10.2015).

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zumal dies von entscheidender Bedeutung für integratives Wachstum, Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung ist.38 Andererseits sieht sie eine Stärkung der Verbindung zwischen EU-Mitteln und verantwortungsvollem Handeln im Steuerbereich vor. Schon bisher durften gem. Art. 140 Abs. 4 der Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union39 EU-Mittel nicht in Einrichtungen in Drittländern investiert bzw. abgewickelt werden, die die internationalen Standards für Steuertransparenz nicht erfüllen. Die Kommission ist „jedoch der Auffassung, dass diese Bestimmungen erweitert werden könnten, sodass sie über die derzeitigen Transparenzanforderungen hinausgehen und auch die EU-Grundsätze für einen fairen Steuerwettbewerb umfassen“40, und hat inzwischen auch einen entsprechenden Legislativvorschlag unterbreitet.41

III. Überprüfung der EU-Kriterien für verantwortungsvolles Handeln Traditionell wurden als Kriterien für das verantwortungsvolle Handeln im Steuerbereich sowohl vom Rat42 als auch von der Kommission43 drei Grundsätze genannt: Transparenz, Informationsaustausch und fairer Steuerwettbewerb. Allerdings besteht unter den Mitgliedstaaten Unklarheit hinsichtlich der Auslegung und Anwendung dieser Kriterien. Zudem gab es in den vergangenen Jahren „eine Reihe wichtiger Entwicklungen auf dem Gebiet des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich, die eine Aktualisierung der EU-Kriterien erforderlich machen“.44 Diese neuen Entwicklungen bestehen vor allem in zwei – bereits eingangs erwähnten45 – Stoßrichtungen:46 38 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 8 ff. 39 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG, Euratom) Nr.  1605/2002 des Rates, ABl.  L 298/1 (26.10.2012) idgF. 40 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 15. 41 Siehe Pkt.  145 der Präambel und z.  B. Art.  150 des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2012/2002, der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, EU Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1305/2013, (EU) Nr. 1306/2013, (EU) Nr. 1307/2013, (EU) Nr. 1308/2013, (EU) Nr.  1309/2013, (EU) Nr.  1316/2013, (EU) Nr.  223/2014, (EU) Nr.  283/2014 und (EU) Nr.  652/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie des Beschlusses Nr. 541/2014/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, KOM(2016)605 (14.9.2016). 42 Siehe z. B. Dok. 8850/08 (Presse 113) (14.5.2008) 23. 43 Siehe etwa Mitteilung der Kommission „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, KOM(2009)201 (28.4.2009) 5, und die Empfehlung der Kommission vom 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012)8805 final (6.12.2012). 44 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 4. 45 Siehe Kapitel I und II. 46 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 4 ff.

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ȤȤ Einerseits geht es um Steuertransparenz und damit insbesondere um die Fortschritte beim automatischen Austausch von Finanzinformationen, beim Austausch von Informationen über „Rulings“ mit grenzüberschreitender Dimension und Vorabverständigungsvereinbarungen und bei der sektoral47 bereits bestehenden (und seither branchenunabhängig vorgeschlagenen48) Verpflichtung zu einer öffentlichen länderbezogenen Berichterstattung über Steuerinformationen. Nach Ansicht der Kommission sollte die EU „[i]n ihrem Bemühen um die Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich weltweit […] ihre internationalen Partner dazu anhalten, diese strengeren, im Binnenmarkt geltenden Standards ebenfalls anzunehmen“.49 ȤȤ Andererseits betont die Kommission die jüngeren Entwicklungen hinsichtlich des fairen Steuerwettbewerbs, wobei sie einerseits den Abschluss des OECD-BEPSProjekts und auf EU-Ebene die Einigung auf den modifizierten Nexus-Ansatz für Patentboxen50, die Anti-BEPS-Richtlinie51 und die Aktualisierung und Stärkung des Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung nennt. Die Kommission betont, dass sich „[d]er Einsatz der Mitgliedstaaten für diese strengeren Regeln für einen fairen Steuerwettbewerb […] auch in den Steuerstrategien der EU gegenüber Drittländern widerspiegeln [sollte]. Weitere Länder würden so ermutigt, die auf internationaler Ebene vereinbarten Standards für verantwortungsvolles Handeln einzuhalten, es würden gleiche Wettbewerbsbedingungen für EU-Unternehmen geschaffen und die Möglichkeiten für die Gewinnverlagerung aus dem Binnenmarkt heraus reduziert“.52 Vor diesem Hintergrund und im Lichte der grundlegenden Änderungen des weltweiten Steuerrahmens und des Bedarfs nach einer kohärenteren Beurteilung von Drittländern durch die Mitgliedstaaten hat die Kommission neue Kriterien für verantwortungsvolles Handeln aufgestellt. Diese sollten „als Basis für alle außenpolitischen Maßnahmen der EU in Steuerangelegenheiten und als klar definierte Grundlage für die Erörterung und Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich 47 Siehe für den Banken- und Finanzsektor die Richtlinie 2013/36/EU und für Unternehmen in der Rohstoff- und Holzwirtschaft die Richtlinie 2013/34/EU. 48 Siehe den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, KOM(2016)198 (12.4.2016). 49 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 5. 50 Dazu OECD, Action 5: Agreement on Modified Nexus Approach for IP Regimes (2015), und z. B. Rz. 17 ff. des Berichts der Code-of-Conduct-Gruppe an den Rat, Dok. 9912/16 FISC 97 ECOFIN 558 (13.6.2016); siehe weiters auch die Mitteilung über eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union  – Fünf Aktionsschwerpunkte, KOM(2015)302 (17.6.2015), 11 f. 51 Inzwischen verabschiedet als Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl.  L  193/1 (19.7.2016), geändert durch Richtlinie (EU) 2017/952, ABl. L 144/1 (7.6.2017). 52 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 6.

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mit den internationalen Partnern dienen“.53 Diese im Anhang zur Mitteilung über die externe Strategie genannten Kriterien betreffen (1) die Transparenz und den Informationsaustausch auf Ersuchen und den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten, (2) den fairen Steuerwettbewerb54, (3) eine Vielzahl von materiellen (auch über die politisch vereinbarten Mindeststandards) hinausgehenden Punkte des OECD-BEPS-Projekts55 sowie (4) die internationalen Standards der Arbeitsgruppe „Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung“ (FATF) zur Bekämpfung von Geldwäsche, Terrorismus- und Proliferationsfinanzierung.56 Dieser sehr weitgehende Kriterienkatalog hat ersichtlich die nachfolgenden Entwicklungen beeinflusst, wenngleich er nicht vollinhaltlich vom Rat übernommen wurde. Allerdings hat der Rat einige Kernelemente im Zusammenhang mit der – nachfolgend zu erörternden57 – „EU Schwarzen Liste“ aufgegriffen.

IV. Förderung der Zusammenarbeit für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich durch Abkommen mit Drittstaaten Abkommen der EU und der Mitgliedstaaten mit Drittstaaten (z. B. Wirtschaftspartnerschaftsabkommen) bieten die Möglichkeit, die jeweiligen Zusagen der Parteien in Bezug auf die Einhaltung der internationalen Standards für Transparenz, Informationsaustausch und fairen Steuerwettbewerb einvernehmlich zu formulieren, und gestatten der EU, ihre steuerpolitischen Prioritäten gegenüber Drittländern gebührend in den breiteren Kontext ihrer Außenbeziehungen zu integrieren. Bereits im Mai 2008 hatte der Rat die Notwendigkeit erkannt, insbesondere in bilateralen und regionalen Abkommen mit Drittländern eine spezielle Klausel über das verantwortungsvolle Handeln im Steuerwesen aufzunehmen58, und präzisierte dies durch folgende Formulierung: „In dem Bestreben, die Wirtschaftstätigkeiten zu fördern und auszubauen, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass hierfür ein geeigneter Rechtsrahmen geschaffen werden muss, bekennen sich die Parteien zu den Grundsätzen des verantwortungsvollen Handelns im Steuerwesen, auf die sich die Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene verpflichtet haben, und verpflichten sich 53 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 5. 54 Wobei die Schädlichkeit von Maßnahmen nach den Kriterien des vom Rat angenommenen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung sowie die von der Arbeitsgruppe „Verhaltenskodex (Unternehmensbesteuerung)“ des Rates vereinbarten Verfahren und Leitlinien berücksichtigt werden sollten. 55 Die Kommission nennt hier ausdrücklich hybride Gestaltungen (BEPS-Aktionspunkt 2), die Zinsschranke (BEPS-Aktionspunkt 4), den Informationsaustausch über Steuervorbescheide (BEPS-Aktionspunkt 5), Klauseln zur Verhinderung von Missbrauch in Steuerabkommen (BEPS-Aktionspunkt 6), die Verhinderung der künstlichen Umgehung des Status als Betriebsstätte (BEPS-Aktionspunkt 7), Verrechnungspreise (BEPS-Aktionspunkte 8–10), die standardisierte länderbezogene Berichterstattung (BEPS-Aktionspunkt 13) und die Streitbeilegung (BEPS-Aktionspunkt 14). 56 Siehe Anhang 1 zur Mitteilung der Kommission (Fn. 25). 57 Siehe unten Kapitel V. 58 Dok. 8850/08 (Presse 113) (14.5.2008), 23.

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Tax Good Governance und die externe Strategie der Union ihrerseits zur Einhaltung dieser Grundsätze. Unbeschadet der Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, werden die Parteien zu diesem Zweck die internationale Zusammenarbeit im Steuerwesen verbessern, die Einziehung legitimer Steuern erleichtern und Maßnahmen für die wirksame Umsetzung der vorgenannten Grundsätze ergreifen.“59

Derartige Klauseln wurden nachfolgend zwar in eine Reihe von Drittstaatsabkommen aufgenommen60, sie wurden allerdings von einigen Drittstaaten auch aus verschiedenen Gründen abgelehnt.61 Zudem vermag eine Standardformulierung aufgrund der Heterogenität der internationalen Partner nicht auf alle erforderlichen Umstände (etwa administrative Einschränkungen in einigen Entwicklungsländern) einzugehen, sodass in den Verhandlungen über eine Klausel über verantwortungsvolles Handeln daher die jeweilige Situation des betroffenen Drittlands berücksichtigt werden sollte. Hinzu tritt, dass die seit dieser aus dem Jahr 2008 stammenden Formulierung des Rates in internationalen Steuerfragen erzielten Fortschritte und des Engagements der EU selbst für die Umsetzung höherer globaler Standards dazu führen, dass die Union auch in solchen Klauseln ihre Haltung hinsichtlich des verant­ wortungsvollen Handelns in Steuerfragen bei Verhandlungen von Abkommen mit Drittstaaten überdenken muss. Schließlich bringt die Kommission auch vor, dass die Aufnahme von Bestimmungen über staatliche Beihilfen sinnvoll wäre: Denn „EU-Abkommen mit Drittländern könnten einen weiteren Beitrag zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen leisten. Bestimmungen über staatliche Beihilfen in bilateralen Abkommen, die die Transparenz von staatlichen Beihilfen verbessern, die schädlichsten Arten von Beihilfen verbieten und Konsultationen zu Beihilfen mit schädlicher Wirkung ermöglichen, würden für fairere Wettbewerbsbedingungen für Mitgliedstaaten und Drittländer im Bereich der Unternehmensbesteuerung sorgen.“62 In Anhang 2 zur externen Strategie wird daher Folgendes betont: „Die Kommission wird darauf hinarbeiten, dass die folgenden grundlegenden Bestandteile einer neuen Klausel für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in alle Verhandlungsvorschläge für einschlägige Abkommen mit Drittländern und -regionen aufgenommen werden: ȤȤ die wesentlichen Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich – Transparenz, Informationsaustausch und fairer Steuerwettbewerb, ȤȤ der neue globale OECD/G20-Standard für den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten, ȤȤ zusätzliche Standards auf der Grundlage des BEPS-Aktionsplans der G20/OECD sowie ȤȤ internationale Standards der Arbeitsgruppe ‚Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung‘ (FATF) zur Bekämpfung von Geldwäsche, Terrorismus- und Proliferationsfinanzierung.

59 Dok. 8850/08 (Presse 113) (14.5.2008), 24. 60 Siehe z. B. Art. 12 des Rahmenabkommens zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits, ABL L 20/2 (23.1.2013). 61 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 6 f. 62 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 8.

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Georg Kofler Angesichts der Vielfalt der internationalen Partner der EU sollte der Rat der Kommission bei den laufenden und künftigen Verhandlungen mit Drittländern auf der Grundlage der vereinbarten Klausel genügend Flexibilität einräumen.“63

In der Tat wurden diese Überlegungen auch vom Rat aufgegriffen. In seinen Schlussfolgerungen zur externen Strategie unterstützt der Rat „eine Aktualisierung der Grundsätze des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich, die als neue Standardbestimmungen in künftigen Verhandlungen mit Drittländern verwendet werden“, und fordert die Gruppe „Verhaltenskodex“ auf, „sich mit der Frage zu befassen, welche Schlüsselelemente eine Klausel enthalten sollte, die in die Abkommen zwischen der EU und diesen Ländern einzufügen wäre“.64 Eine solcherart überarbeitete Klausel sollte einige „gemeinsame Kriterien“ festlegen, „die einzuhalten wären, gleichzeitig aber auch flexibel genug sein sollten, um an alle Staaten, insbesondere Entwicklungsländer, angepasst zu werden“.65 Die bulgarische Präsidentschaft will noch im ersten Halbjahr 2018 Einigung über die wesentlichen Elemente einer solchen Klausel auf Basis der Überlegungen der Kommission erzielen.66

V. Gegenmaßnahmen im Hinblick auf nicht kooperierende Drittstaaten („EU Schwarze Liste“) Die materiell-rechtlichen Unionsmaßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung zur Bekämpfung missbräuchlicher Steuerpraktiken (etwa im Rahmen der Anti-­ BEPS-Richtlinie67) betreffen vielfach auch das Verhältnis zu Drittstaaten. Die Kommission vertritt darüber hinaus zudem die Ansicht, dass sich die Mitgliedstaaten „auch mit ihren unterschiedlichen Ansätzen zur Bekämpfung der Aushöhlung der Steuerbasis von außen befassen“ müssen.68 Eine koordinierte externe Strategie für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich sei daher unverzichtbar, „um gemeinsame Erfolge der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der Steuervermeidung zu fördern, eine wirksame Besteuerung zu gewährleisten und ein transparentes und stabiles Umfeld für Unternehmen im Binnenmarkt zu schaffen“.69 Bereits im Zuge des 2012 veröffentlichten „Aktionsplans zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“70 hat die Kommission daher 63 Siehe Anhang 2 zur Mitteilung der Kommission (Fn. 25). 64 Siehe Pkt. 13 der Schlussfolgerungen des Rates zu einer externen Strategie im Bereich Besteuerung und zu Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen, Pressemitteilung 281/16 (25.5.2016). 65 Siehe zum aktuellen Stand den Bericht des Rates (Wirtschaft und Finanzen) an den Europäischen Rat zu Steuerfragen, Dok. 10397/17 FISC 141 (16.6.2017), Rz. 94. 66 Siehe „Tax Policy Roadmap of the Bulgarian Presidency of the Council“, Dok. 5668/18 FISC 37 (30.1.2018) Rz. 10 f. 67 Richtlinie (EU) 2016/1164, ABl. L193/1 (19.7.2016) i. d. F. der Richtlinie (EU) 2017/952, ABl. L 144/1 (7.6.2017) (Änderung bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern). 68 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 2. 69 Mitteilung der Kommission (Fn. 25), 2. 70 Mitteilung der Kommission „Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“, KOM(2012)722 (6.12.2012). Für einen Überblick siehe Kof-

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eine (nicht bindende71) Empfehlung „für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen“, vorgelegt.72 Ausgangspunkt ist der potenzielle und tatsächliche Schaden für die Steuersysteme der Mitgliedstaaten, der durch Steuergebiete verursacht wird, die keine Mindeststandards für ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen einhalten, insbesondere also die gemeinhin als „Steueroasen“ geltenden Steuergebiete. Nach der Empfehlung ist dieser Mindeststandard durch zwei Kriterien definiert: Er ist erfüllt, wenn der Drittstaat erstens Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Einhaltung gewisser Standards für Transparenz und Informationsaustausch erlassen hat und diese wirksam anwendet73 und zweitens keine schädlichen steuerlichen Maßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung anwendet.74 Sodann kategorisiert die Empfehlung in dreifacher Hinsicht: ȤȤ Drittstaaten, die diese Mindeststandards nicht einhalten, könnten in eine – allenfalls neu zu schaffende  – nationale „Schwarze Liste“ aufgenommen werden und mit solchen Drittstaaten bestehende Doppelbesteuerungsabkommen neu ausgeler, Der EU-Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, IFF Forum für Steuerrecht 2015, 44 (44  ff.), und z.  B. auch Leitgeb, Zwischenbilanz zum Aktionsplan der Kommission zur Verbesserung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, SWI 2014, 264 ff. 71 Art. 288 Abs. 5 AEUV; siehe auch EuGH v. 13.12.1989 – C-322/88, Salvatore Grimaldi, Slg 1989, I-4407, Rz. 11 ff. 72 Empfehlung der Kommission vom 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012)8805 (6.12.2012), begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD(2012)403 (6.12.2012). 73 Diese Kriterien sind im Anhang zur Empfehlung angeführt und beinhalten insbesondere die Verfügbarkeit von Eigentums- und Identitätsinformationen, Rechnungslegungsinformationen und Bankinformationen, den entsprechenden Zugang der zuständigen Behörden zu diesen Informationen und die wirksame Durchführung des Informationsaustauschs mit allen EU-Mitgliedstaaten. 74 Als potenziell schädliche Maßnahmen werden jene angesehen, „die gemessen an den üblicherweise in dem betreffenden Drittland geltenden Besteuerungsniveaus eine deutlich niedrigere Effektivbesteuerung bis hin zur Nullbesteuerung bewirken“, wobei sich ein solches Besteuerungsniveau „aus dem Nominalsteuersatz, aus der Steuergrundlage oder aus anderen einschlägigen Faktoren ergeben“ kann. Bei der Beurteilung der Schädlichkeit dieser Maßnahmen ist unter anderem zu berücksichtigen, ob z. B. die Vorteile ausschließlich Gebietsfremden oder für Umsätze mit Gebietsfremden gewährt werden oder ob die Vorteile den Inlandsmarkt nicht berühren, sodass sie sich nicht auf die innerstaatliche Steuergrundlage auswirken, ob die Vorteile gewährt werden, auch ohne dass ihnen eine tatsächliche Wirtschaftstätigkeit und substanzielle wirtschaftliche Präsenz in dem diese steuerlichen Vorteile bietenden Mitgliedstaat zugrunde liegt, ob die Regeln für die Gewinnermittlung bei Aktivitäten innerhalb einer multinationalen Unternehmensgruppe von international allgemein anerkannten Grundsätzen, insbesondere von den in der OECD vereinbarten Regeln, abweichen oder ob es den steuerlichen Maßnahmen an Transparenz mangelt, einschließlich der Fälle einer laxeren und undurchsichtigen Handhabung der Rechtsvorschriften auf Verwaltungsebene. Bei Anwendung dieser Kriterien sollten die Mitgliedstaaten die Schlussfolgerungen der Gruppe Verhaltenskodex (Unternehmensbesteuerung) in Bezug auf von ihr als schädlich beurteilte steuerliche Maßnahmen berücksichtigen.

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handelt, ausgesetzt oder beendet werden, „je nachdem, was am ehesten dazu geeignet ist, die Einhaltung der Mindeststandards durch das betreffende Drittland zu verbessern“. ȤȤ Drittstaaten, die die Mindeststandards einhalten, sollen hingegen von „Schwarzen Listen“ gestrichen werden, und die Mitgliedstaaten sollen erwägen, bilaterale Verhandlungen über den Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen mit diesen Drittstaaten aufzunehmen. ȤȤ Drittstaaten, die sich zur Einhaltung des Mindeststandards verpflichten, sollte allenfalls eine engere Zusammenarbeit und Unterstützung angeboten werden, um ihnen bei der wirksamen Bekämpfung von Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung zu helfen (z.  B. durch Entsendung von Steuersachverständigen) und – in Abhängigkeit von den erzielten Fortschritten – von der Aufnahme in eine „Schwarze Liste“ absehen. Dieses Thema wurde auch nachfolgend in der Mitte 2015 veröffentlichten Mitteilung „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union“ aufgegriffen.75 In deren Anhang wurde primär zu Informationszwecken und als „Übergangslösung“ eine EU-weite „Schwarze Liste“ nicht kooperativer Drittstaaten zusammengestellt, die sich aus den bestehenden Schwarzen Listen der Mitgliedstaaten speiste, die ihrerseits aber unterschiedlichen Kriterien und politischen Wertungen folgen.76 Ein koordiniertes Vorgehen im Hinblick auf nicht kooperative Steuergebiete erfordert aber auch ein kohärenteres Konzept für die Aufnahme von Drittländern in Listen aufgrund klar definierter, objektiver und international vertretbarer Kriterien, ein belastbares Kontrollverfahren, einen offenen Dialog mit den fraglichen Drittländern und gemeinsame defensive Maßnahmen. Die Kommission hat daher – die entsprechende Forderung des Parlaments aufgreifend77 – Anfang 2016 eine externe Strategie für effektive Besteuerung veröffentlicht78, aufgrund derer eine EU-weite Liste nicht kooperativer Drittstaaten erstellt und an gemeinsamen Gegenmaßnahmen gearbeitet werden soll. Der Rat hat diesem Ansatz bereits Mitte 2016 zugestimmt79 und – ersichtlich vor dem Hintergrund der Überlegungen der Kommission zur Neudefinition des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich80  – mögliche Kriterien ge75 Mitteilung der Kommission „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union“, KOM(2015)302 (17.6.2015), 14 f. 76 Siehe aus dem Schrifttum z. B. Pagels, Schwarze Listen im internationalen Steuerwettbewerb, SWI 2016, 256 ff. 77 Siehe Rz. 74 ff. der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. November 2015 zu dem Bericht des Sonderausschusses zu Steuervorbescheiden und anderen Maßnahmen ähnlicher Art oder Wirkung, P8_TA(2015)0408. 78 Siehe die Mitteilung der Kommission (Fn. 25), sowie nachfolgend auch die Mitteilung über weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, KOM(2016)451 (5.7.2012), 8 f. 79 Siehe Pkt. 5 ff der Schlussfolgerungen des Rates zu einer externen Strategie im Bereich Besteuerung und zu Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen, Pressemitteilung 281/16 (25.5.2016). 80 Siehe oben Kapitel III.

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nannt und schließlich im November 2016 den Ablauf und die Kriterien näher definiert.81 Dieses Verfahren erfolgte in mehreren Schritten82: Die Kommission hat ein „Scoreboard“ mit Indikatoren zu Themen wie wirtschaftliche Beziehungen mit der EU, Umfang der finanziellen Tätigkeiten sowie institutionelle und rechtliche Faktoren entwickelt, mit dem sich die von den betreffenden Staaten oder Gebieten ausgehenden potenziellen Auswirkungen auf die Steuerbasis der Mitgliedstaaten ermitteln lässt. Auf Basis dieses „Scoreboards“ erfolgte sodann im November 2016 von der Gruppe „Verhaltenskodex“ eine Auswahl von zu überprüfenden Drittstaaten (dem Vernehmen nach 92 Jurisdiktionen), mit denen Ende Jänner 2017 Kontakt aufgenommen wurde und Fragebögen versandt wurden.83 Diese Gruppe soll sodann auch im Laufe des Jahres 2017 den Screening- und Kommunikationsprozess durchführen, sodass schließlich Ende des Jahres vom Rat einvernehmlich84 eine „EU Schwarze Liste“ angenommen werden kann, was auch im Dezember 2017 in Form von Schlussfolgerungen des Rates passierte.85 Nach Änderungen im Jänner 2018 finden sich allerdings lediglich 9 Jurisdiktionen auf dieser Liste, während eine Reihe von Jurisdiktionen aufgrund politischer Zusagen einstweilen auf einer „grauen Liste“ geführt wird. Überdies befassten sich die laufenden Arbeiten auch mit Fragen der Voraussetzungen für die Streichung von der Liste, des Mechanismus für die laufende Überwachung der Lage und der regelmäßigen Aktualisierungen der Liste.86 Erhebliche Bedeutung kommt natürlich den für das Screening angewandten Kriterien zu. Diese wurde im November 2016 vom Rat festgelegt und beinhalten Kriterien für die Transparenz im Steuerbereich, zur „gerechten Besteuerung“ und zur Umsetzung der Anti-BEPS-Maßnahmen.87 Sie können überblicksweise folgendermaßen zusammengefasst werden: 81 Schlussfolgerungen des Rates über die Kriterien und das Verfahren für die Erstellung einer EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. C 461/2 (10.12.2016). 82 Für rezente Übersichten siehe Rz. 58 ff. des Berichts der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok. 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 (12.6.2017), sowie Rz. 80 ff. des Berichts des Rates (Wirtschaft und Finanzen), Dok. 10397/17 FISC 141 ECOFIN 551 (16.6.2017). 83 Siehe Rz. 62 im Bericht der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok. 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 (12.6.2017). 84 Dies betonend Rz.  90 des Berichts des Rates (Wirtschaft und Finanzen), Dok.  10397/17 FISC 141 ECOFIN 551 (16.6.2017). 85 Siehe die Ratsschlussfolgerungen in ABl. C 438/5 (19.12.2017), geändert durch ABl. C 29/2 (26.1.2018). Zu Details des Zeitplans siehe Pkt. II der Schlussfolgerungen des Rates über die Kriterien und das Verfahren für die Erstellung einer EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. C 461/2 (10.12.2016), sowie z. B. Rz. 78 ff. im Bericht der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok.  10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 (12.6.2017), und Rz. 91 des Berichts des Rates (Wirtschaft und Finanzen), Dok. 10397/17 FISC 141 ECOFIN 551 (16.6.2017). 86 Siehe Rz. 88 des Berichts des Rates (Wirtschaft und Finanzen), Dok. 10397/17 FISC 141 ECOFIN 551 (16.6.2017). 87 Siehe die Schlussfolgerungen des Rates über die Kriterien und das Verfahren für die Erstellung einer EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. C 461/2 (10.12.2016).

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Georg Kofler Kriterien 1. Kriterien für Transparenz im Steuerbereich88

1.1. Automatischer Austausch von Finanzinforma­ tionen

Inhalt

Anmerkung

Verpflichtung zum Gemeinsamen Meldestandard („Common Reporting Standard“, CRC) und Einleitung des Gesetz­ gebungsverfahrens für dessen wirksame An­ wendung (Austausch spätestens 2018 bezogen auf das Jahr 2017) mit allen Mitgliedstaaten bis Ende 2017 (Ausgangs­ kriterium), Einstufung vom Globalen Forum als zumindest „Largely Compliant“ (künftiges Kriterium ab 2018).

Das auf Art. 6 des Multilateralen Übereinkommens basierende CRS Multilateral Competent Authority Agreement (CRS MCAA) zum automatischen Austausch von Finanzinformationen hatte per Ende August 2017 bereits 95 Signatarstaaten.89

1.2. Informations- Einstufung vom Globalen Von den 119 Jurisdiktionen, die bis August 2017 austausch auf Er- Forum als zumindest die Phase 2-Überprüfung „Largely Compliant“. suchen oder das beschleunigte Verfahren durchlaufen haben, wurden 22 als „Compliant“, 90 als „­Largely Compliant“ (13 davon provisorisch, darunter Panama) und lediglich 6 als „Partially Compliant“ (eine davon, nämlich die Marshall Islands, provisorisch) bzw. eine als „Non Compliant“ (Trinidad and Tobago) eingestuft.90 88 89 90

88 Bis zum 30. Juni 2019 soll es für eine positive Bewertung bei der Transparenz im Steuerbereich ausreichen, wenn zwei der Kriterien 1.1, 1.2 oder 1.3 erfüllt sind, sofern das entsprechende Land oder Gebiet nicht „in Bezug auf das Kriterium 1.2 als ‚Non Compliant‘ eingestuft wurden oder bis zum 30. Juni 2018 nicht mindestens als ‚Largely Compliant‘ in Bezug auf dieses Kriterium eingestuft wurden“. 89 Siehe http://www.oecd.org/tax/automatic-exchange/international-framework-for-the-crs/MC​ AA-Signatories.pdf. Insgesamt haben sich per August 2017 bereits 102 Jurisdiktionen zu einem solchen automatischen Informationsaustausch verpflichtet (siehe http://www.oecd. org/tax/transparency/AEOI-commitments.pdf). 90 Die entsprechende Übersicht ist abrufbar unter http://www.oecd.org/tax/transparency/ exchange-of-information-on-request/ratings/.

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Tax Good Governance und die externe Strategie der Union Kriterien

Inhalt

Anmerkung

1.3. Multilaterales Übereinkommen oder bilaterale Abkommen

Ratifizierung, Zustimmung zur Ratifizierung oder im laufenden Rati­ fizierungsverfahren für das multilaterale Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen der OECD (i. d. F. 2010)91 oder per 31.12.2018 ein Netzwerk von Informationsaus­ tauschabkommen, das sich auf alle Mitgliedstaaten erstreckt und sowohl den Informationsaustausch auf Ersuchen wie auch den automatischen Informationsaustausch wirksam gewährleistet.92

Am multilateralen Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen (das den verpflichtenden Informationsaustausch auf Anfrage und den optionalen automatischen Informationsaustausch vorsieht) nehmen per Ende Juni bereits 113 Jurisdiktionen teil (davon 15 Jurisdiktionen, die durch territoriale Ausweitung abgedeckt sind).93

1.4. Wirtschaftliches Eigentum (Nutzungsberechtigter) (künftiges Kriterium)

Im Hinblick auf die Initiative für einen künftigen weltweiten Austausch von Informationen bezüglich des wirtschaftlichen Eigentums wird der Aspekt des wirtschaftlichen Eigentums zu einem späteren Zeitpunkt als viertes Transparenzkriterium für die Evaluierung aufgenommen werden.

91 92 93

91 Am multilateralen Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen (das den verpflichtenden Informationsaustausch auf Anfrage und den optionalen automatischen Informationsaustausch vorsieht) nehmen per Ende Juni bereits 113 Jurisdiktionen teil (davon 15 Jurisdiktionen, die durch territoriale Ausweitung abgedeckt sind; die entsprechende Liste ist abrufbar unter http://www.oecd.org/tax/exchange-of-tax-information/ Status_of_convention.pdf). 92 Für nicht souveräne Länder und Gebiete gelten ähnliche Kriterien. 93 Die entsprechende Liste ist abrufbar unter http://www.oecd.org/tax/exchange-of-tax-infor​ mation/Status_of_convention.pdf).

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Georg Kofler Kriterien

Inhalt

Anmerkung

2. Gerechte Besteuerung

Keine Regelungen zu steuerlichen Sonderbehandlungen, die nach dem Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung94 als schädlich betrachtet werden könnten, und keine Begünstigung von Offshore-Strukturen oder Regelungen, die zum Ziel haben, Gewinne anzuziehen, die keine reale Wirtschaftstätigkeit in dem Land oder Gebiet abbilden.95

3. Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Base Ero­ sion and Profit Shifting, BEPS)

Verpflichtung zu den vereinbarten Mindeststandards der OECD bei der Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung und zu deren kohärenter Anwendung (bis Ende 2017)96 und positive Bewertung (wird angewendet, sobald die Überprüfungen der vereinbarten Mindeststandards durch den inklusiven Rahmen abgeschlossen sind).97

94 95 9697

94 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1. Dezember 1997 über einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, ABl. C 2/2 (6.1.1998). 95 Die Gruppe „Verhaltenskodex“ hat für dieses Kriterium zwar als möglichen, keinesfalls aber als den alleinigen Indikator das Fehlen eines Körperschaftsteuersystems oder die Anwendung eines nominellen Körperschaftsteuersatzes von oder nahe null angesehen; diese Auslegung wurde im Februar 2017 vom Rat angenommen (siehe zum Wortlaut Annex II zu Dok. 6325/17 FISC 45 ECOFIN 93 [17.2.2017] und weiter Rz. 63 im Bericht der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok. 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 [12.6.2017]). Siehe zu dieser Frage ausführlich den Anhang VII zu den Ratsschlussfolgerungen in ABl. C 438/5 (19.12.2017). 96 Am „Inclusive Framework“ zur Implementierung des BEPS-Projekts nehmen per Anfang Juli 102 Jurisdiktionen teil (die Liste der teilnehmenden Staaten ist abrufbar unter https:// www.oecd.org/tax/beps/inclusive-framework-on-beps-composition.pdf). Nur wenige Teile des OECD-BEPS-Projekts stellen allerdings politisch verbindliche „Mindeststandards“ dar und  unterliegen einem Peer-Review-Prozess. Diese Mindeststandards umfassen (1) die Ver­hinderung von Abkommensmissbrauch (Rz. 15 ff. in OECD, Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances, Action 6 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project (2015)), (2) Country-by-Country Reporting und entsprechenden automatischen Informationsaustausch, (3) den Kampf gegen schädliche ­Steuerpraktiken (im Hinblick auf Patentboxen und den spontanen Austausch von Informationen über „Rulings“) und (4) die Verbesserung von Verständigungsverfahren. Siehe allgemein Frage 4 in OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project – 2015 Final Reports – Frequently Asked Questions (2015). 97 Siehe zum Peer-Review-Prozess bereits OECD, BEPS Action 14 on More Effective Dispute Resolution Mechanisms – Peer Review Documents (October 2016), OECD, BEPS Action 5 on Harmful Tax Practices: Transparency Framework – Peer Review Documents (February 2017), OECD, BEPS Action 13 on Country-by-Country Reporting  – Peer Review Do­ cuments (February 2017), und OECD, BEPS Action 6 on Preventing the Granting of ­Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances – Peer Review Documents (May 2017). Die

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Tax Good Governance und die externe Strategie der Union

Diese „Schwarze Liste“ soll – vorbehaltlich einzelstaatlicher Defensivmaßnahmen – auch Grundlage für Abwehrmaßnahmen zur Ergänzung der Liste sein. Auf Arbeitsgruppenebene scheint zunächst Konsens zu bestehen, dass bereits die Aufnahme in eine „Schwarze Liste“ Abschreckungscharakter hat, wobei auf materiell-steuerlicher Ebene Maßnahmen wie Abzugsverbote, Hinzurechnungsbesteuerung, Befreiungsversagung, Quellensteuermaßnahmen, Offenlegungs- und Berichtspflichten und Beweislastumkehrungen diskutiert werden.98 Hinzu tritt noch eine Reihe möglicher nicht steuerlicher Gegenmaßnahmen.99 Es ist zudem nicht ausgeschlossen, dass die „Schwarze Liste“ auch als Bezugspunkt anderer Gesetzgebungsdossiers dienen könnte (etwa im Hinblick auf den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (­EFSI)100 oder das vorgeschlagene öffentliche „Country-by-Country“-Reporting101) und derartige Verknüpfungen wirksame und abschreckende Abwehrmaßnahmen auf EU-Ebene außerhalb des Steuerwesens darstellen würden.102 Diese Überlegungen wurden in den Ratsschlussfolgerungen im Wesentlichen übernommen und näher konkretisiert. Gerade im Hinblick auf steuerliche Gegenmaßnahmen bleiben natürlich auch die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten (und der Union) auf Grundlage des Welthandelsrechts zu beachten: Während aber die Entscheidung des Panels in Argentina – Measures Relating to Trade in Goods and Services verschiedene steuerliche Abwehrmaßnahmen Argentiniens gegen „nicht kooperative“ Staaten (etwa in Form von Quellensteuern) als Verstöße gegen die entsprechenden Regelungen des GATS ansah103, räumte nachfolgend der Appelate Body den Staaten wesentlich mehr Spielraum für die Gestaltung von Abwehrmaßnahmen ein.104

Umsetzung des Mindeststandards zum Abkommensmissbrauch soll unter anderem durch das Multilaterale Instrument erfolgen (69 Signatarstaaten per Anfang Juli 2017; siehe die Liste samt der entsprechenden Länderpositionen unter http://www.oecd.org/tax/treaties/ beps-­mli-signatories-and-parties.pdf). Für den Informationsaustausch im Hinblick auf Country-by-Country-Berichte wurde von der OECD das Multilateral Competent Authority Agreement on the Exchange of CbC Reports („CbC MCAA“) entwickelt (65 Signatarstaaten per 6.7.2017; siehe die Liste unter http://www.oecd.org/tax/automatic-exchange/ about-­auto​matic-exchange/CbC-MCAA-Signatories.pdf). 98 Siehe Rz. 71 f. im Bericht der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok. 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 (12.6.2017). 99 Siehe Rz. 75 ff. im Bericht der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok. 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 (12.6.2017). 100 Siehe das Verfahren 2016/0276(COD). 101 Siehe den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuer­ informationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, KOM(2016)198 (12.4.2016). 102 Siehe den Bericht des Rates (Wirtschaft und Finanzen) an den Europäischen Rat zu Steuerfragen, Dok. 10397/17 FISC 141 (16.6.2017) Rz. 88 f. 103 Panel Report, Argentina – Measures Relating to Trade in Goods and Services, WT/DS453/R (30.9.2015). 104 Appelate Body, Argentina – Measures Relating to Trade in Goods and Services, AB-2015-8 (14.4.2016).

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Georg Kofler

VI. Ausblick „Tax Good Governance“, also das verantwortungsvolle Handeln im Steuerbereich, wird auf unionaler Ebene zunehmend operationalisiert: Transparenz, Informationsaustausch, fairer Steuerwettbewerb und die Eindämmung missbräuchlicher oder „schädlicher“ Steuergestaltungen sollen nicht nur im Binnenmarkt verwirklicht werden, sondern auch als Maßstäbe für Drittstaaten gelten. Nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche setzt die Union nicht nur auf die Unterstützung von Entwicklungsländern bei der Umsetzung dieser Standards, sondern möchte diese Standards auch verbindlich festlegen und auf kooperationsunwillige Drittstaaten durch koordinierte Gegenmaßnahmen der Mitgliedstaaten reagieren. Mit der Erstellung einer einheitlichen, auf objektiven Kriterien beruhenden „EU Schwarzen Liste“ wird dieser Ansatz auch transparent gemacht.

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Sabine Schröer-Schallenberg

Die Bedeutung des Verbotes staatlicher Beihilfen für das Verbrauchsteuerrecht Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Grundlagen des Beihilferechts 1. Staatliche Beihilfe 2. Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen 3. Auswirkungen für das Verbrauch­ steuerrecht III. Beihilferecht und Besteuerung von Energieerzeugnissen und Strom 1. Grundsätze



2. Aktuelle Entwicklungen a) Transparenz- und Veröffent­ lichungspflichten b) Unternehmen in Schwierigkeiten c) Rückforderungsansprüche d) Kumulierungsvorschriften

IV. Beihilferecht und Alkoholbesteuerung 1. Grundsätze 2. Abschaffung des Branntweinmonopols 3. Alkoholsteuergesetz

V. Schlussbetrachtung, Fazit

I. Einleitung Die Grundlagen eines Europäischen Binnenmarktes sind in Art. 3 Abs. 3 EUV festgelegt. Damit der Binnenmarkt dauerhaft funktioniert, bedarf es Regelungen, die einen unverfälschten Wettbewerb gewährleisten.1 Staatliche Beihilfen, die einzelne Unternehmen oder Produktionszweige unterstützen, müssen deshalb verhindert werden. Das europäische Beihilferecht verfolgt das Ziel, einen fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen sicherzustellen. Als originäres europäisches Recht ist das Beihilferecht deshalb seit 1958 Bestandteil der europäischen Verträge.2 Nunmehr findet es seine Grundlagen in Art. 107 ff. AEUV. Staatliche Beihilfen sind danach grundsätzlich nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verboten. Zuständig für die Kontrolle und Durchsetzung des Beihilferechts gegenüber den Mitgliedstaaten ist ausschließlich die EU-Kommission, Art. 3 Abs. 1 Buchst. b) AEUV.3 Das besondere Verbrauchsteuerrecht ist seit dem 1.1.1993 harmonisiert.4 Zu diesem Zeitpunkt wurde der Binnenmarkt eingeführt, der u.a. auch den freien Warenverkehr ohne Grenzkontrollen garantiert (Art. 26 Abs.  2 AEUV). Auch verbrauchsteuer1 Eisenhut in Geiger/Khan/Kotzur, EUV, AEUV, 6. Aufl. 2017, Art. 107 AEUV Rz. 1; Ehricke in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 3, Beihilfen- und Vergaberecht, 2011, Einl. Rz. 207 ff. mwN. (abgekürzt: MK BeihVgR). 2 Säcker in MK BeihVgR (Fn. 1), Einl. Rz. 1 ff. 3 Kotzur in Geiger/Khan/Kotzur (Fn. 1), Art. 3 AEUV Rz. 3. 4 Zur Entwicklung s. Bongartz/Schröer-Schallenberg, Verbrauchsteuerrecht, 2. Aufl. 2011, S. 4 ff. mwN.; Jatzke, Europäisches Verbrauchsteuerrecht, 2016, S. 1 ff.

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Sabine Schröer-Schallenberg

pflichtige Güter können damit innerhalb des EU-Verbrauchsteuergebietes ohne Grenzformalitäten befördert und gehandelt werden. Trotz des freien Warenverkehrs bleibt aber die Erhebungskompetenz für die Verbrauchsteuern bei den einzelnen ­Mitgliedstaaten.5 Dem Mitgliedstaat steht grundsätzlich die Steuer zu, in dem die ­verbrauchsteuerpflichtige Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr tritt (Bestimmungslandprinzip). Zwar sieht das harmonisierte Verbrauchsteuerrecht Rahmenre­ gelungen für Steuersätze und steuerliche Vergünstigungen in Form von Richtlinien vor, allerdings bleibt den Mitgliedstaaten ein Spielraum für die Ausgestaltung dieser Regelungsbereiche.6 Steuerliche Vergünstigungen in Form von Steuerermäßigungen, Steuerbefreiungen sowie steuerliche Entlastungstatbestände können deshalb staatliche Beihilfen sein.7 Als solche sind sie an den Grundsätzen des Beihilferechts zu messen. Besonders im Bereich des Energie- und Stromsteuerrechts erlangt das Beihilferecht zunehmend Relevanz und Bedeutung.8 Aber auch die Änderungen bei der Alkoholbesteuerung sind Ausfluss des Beihilferechts. Gegenstand der Abhandlung sollen die Bedeutung, die Rechtsfolgen und Konsequenzen dieses Teilbereichs des Europäischen Wettbewerbsrechts auf das Verbrauchsteuerrecht sein.

II. Grundlagen des Beihilferechts Die Grundsätze des Beihilferechts der Europäischen Union sind in den Art. 107 bis Art. 109 AEUV geregelt. Um den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu beeinträchtigen, sollen staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe gleich jeglicher Art, die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, unzulässig sein. Das EU-Recht enthält aber dafür in Art. 107 Abs.  2 und 3 AEUV zahlreiche Ausnahmen.9 Durch ergänzende Verordnungen und Leitlinien wird die Entscheidungspraxis der Kommission bestimmt und geleitet. Auf diese Weise soll eine einheitliche Rechtsanwendung der Ausnahmetatbestände erzielt werden.10 Damit das Beihilferecht aber überhaupt zur Anwendung gelangt, muss eine Maßnahme eine staatliche Beihilfe darstellen.

5 Schröer-Schallenberg, Die Rechtsentwicklungen des Verbrauchsteuerrechts nach Inkrafttreten des Binnenmarktes zum 1.1.1993, in Kompetenz und Verantwortung in der Bundesverwaltung, FS 30 Jahre Fachhochschule des Bundes, 2009, S. 707, 708. 6 Zu den obligatorischen und fakultativen Steuervergünstigungen s. Jatzke in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStG, StromStG, EnergieStRL Rz. 39 ff. 7 Kreuschitz in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 107 AEUV Rz. 618. 8 Ismer/Haußner/Piotrowski, Das Energiesteuerrecht vor dem Hintergrund des Beihilferechts, ZfZ 2016, 278 ff.; s. auch Regelungen zur „staatlichen Beihilfe“ durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes v. 27.8.2017, BGBl. I 2017, 3299. 9 Jatzke (Fn. 4), S. 18 ff. mit Beispielen für das Verbrauchsteuerrecht. 10 V. Graevenitz, Mitteilungen, Leitlinien, Stellungnahmen – Soft Law der EU mit Lenkungswirkung, EuZW 2013, 169.

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Die Bedeutung des Verbotes staatlicher Beihilfen für das Verbrauchsteuerrecht

1. Staatliche Beihilfe Eine gesetzliche Definition des Begriffes der „staatlichen Beihilfe“ fehlt. Allerdings hat dieser Begriff durch die langjährige Rechtsprechung des EuGH Konturen und Inhalt erlangt.11 Bestimmte Kriterien und Merkmale sind herausgearbeitet worden, die kumulativ erfüllt sein müssen, um von einer staatlichen Beihilfe zu sprechen.12 Dabei ist der EuGH zu einer sehr weiten Begriffsbestimmung gelangt. Im Wesentlichen müssen vier Voraussetzungen vorliegen.13 Zunächst muss es sich um eine Maßnahme aus staatlichen Mitteln handeln, die eine begünstigende Wirkung hat. Diese Begünstigung kann durch Leistungsgewährung (Subventionen), aber auch durch Minderung einer Belastung (z.B. Gewährung von Steuererleichterungen) erfolgen.14 Maßgeblich wird allein auf die Wirkung der Maßnahme abgestellt. Als staatliche Beihilfe muss die Unterstützung durch den Staat selbst erfolgen oder aus staatlichen Mitteln gewährt werden.15 Diese Voraussetzung ist auch dann erfüllt, wenn die Mittel unter staatlicher Kontrolle stehen und ihre Verwendung durch den Staat gesteuert werden kann.16 Diese Begünstigung muss zweitens einen selektiven Charakter haben.17 Das heißt, die Maßnahme muss einige Unternehmen begünstigen oder die Herstellung nur bestimmter Güter betreffen. Mit dem Unternehmensbegriff ist eine wirtschaftliche Tätigkeit verbunden (in Abgrenzung zu den Tätigkeiten im hoheitlichen Bereich des Staates). In der Rechtsprechung des EuGH wird der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ als „das Anbieten von Waren oder Dienstleistungen am Markt“ definiert.18 Entscheidend für die Frage der Selektivität ist der Ausnahmecharakter einer Maßnahme. Dieser ist dann gegeben, wenn die Maßnahme nicht für alle Unternehmen oder Produktionszweige anwendbar ist, die nach der Natur und dem inneren Aufbau des Systems in den Genuss der Begünstigung kommen können. 19 Durch diesen selektiven Charakter muss der Wettbewerb verfälscht werden oder eine Wettbewerbsverfälschung drohen. Es reicht aus, wenn die Begünstigung bestimmten Unternehmen vorteilhafte Wettbewerbspositionen gegenüber den nicht begünstigten Unternehmen verschafft. Ob es tatsächlich zu einer Wettbewerbsverzerrung kommt, ist unerheblich.20 Da es um europäisches Beihilferecht geht, muss viertens die staatliche Maßnahme den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.21 Sie muss geeignet sein, den grenzüberschreitenden Handel innerhalb der EU zu erschweren. Jede Beihilfe, die einem auf dem Gemeinschaftsmarkt tätigen Unternehmen gewährt 11 EuGH v. 24.7.2003 – C-280/00, Altmark Trans, Slg. 2003 I, 7747-7748, Rz. 75. 12 Einzelheiten mit weiteren Nachw. bei Schwab in MK BeihVgR (Fn.  1), Art. 107 AEUV Rz. 107 ff.; Wienbracke, Europäisches Beihilferecht (Teil I), WRP 2016, 154 ff. 13 Ismer/Haußner/Piotrowski, ZfZ 2016, 278, 279 f. mwN. 14 EuGH v. 1.12.1998 – C-200/97, Ecotrade, Slg. 1998 I, 7907-7942, Rz. 34. 15 EuGH v. 16.5.2002 – C-482/99, Französische Republik/KOM, EuZW 2002, 468-474, Rz. 23. 16 EuGH v. 16.5.2002 – C-482/99, Französische Republik/KOM, EuZW 2002, 468, Rz. 38. 17 Eisenhut in Geiger/Khan/Kotzur (Fn. 1), Art. 107 AEUV Rz. 14; Arhold in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 107 AEUV Rz. 306 ff. 18 EuGH v. 27.11.2003 – C-237/04, Enirisorge, Slg. 2006 I, 2843, Rz. 38. 19 EuGH v. 8.9.2011 – C 78 bis C 80/08, Paint Graphos, Slg. 2011 I, 7611-7670, Rz. 49. 20 EuGH v. 15.12.2005 – C-148/04, Unicredito Italiano, Slg. 2005 I, 11137-11202, Rz. 54. 21 Arhold in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 107 AEUV Rz. 404 ff.

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wird, kann Verfälschungen des Wettbewerbs hervorrufen und damit den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. 22 Sobald es an einem dieser Merkmale fehlt, liegt keine staatliche Beihilfe vor.23 Eine Beurteilung unter dem Aspekt des Beihilferechts kommt nicht in Betracht. 2. Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen Vom grundsätzlichen Verbot staatlicher Beihilfen gibt es eine Vielzahl von Ausnahmen. So nennt Art. 107 Abs. 2 AEUV drei sozialpolitisch motivierte Legalausnahmetatbestände.24 Bei Vorliegen der Voraussetzungen steht der Kommission kein Ermessensspielraum zu. Anders ist dies in den Fällen von Art. 107 Abs.  3 AEUV. Nach dieser Vorschrift können bestimmte Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden.25 Diese Ausnahmetatbestände bilden die Grundlage für eine große Mehrheit der Entscheidungen der Kommission.26 Große praktische Relevanz haben dabei die „Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft“ (Art. 107 Abs.  3 Buchst. c) AEUV). Nach Art. 109 AEUV kann der Rat die Kommission durch Verordnung ermächtigen, einzelne Beihilfen von der Notifizierungspflicht freizustellen. Davon hat die Kommission durch Erlass der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (VO 651/2014) Gebrauch gemacht.27 So werden u.a. für den Bereich der Umweltschutzbeihilfen (Art.  36  ff. AGVO) Grundsätze normiert, die für die Auslegung und Beurteilung staatlicher Beihilfemaßnahmen Geltung erlangen. Als EU-Verordnung gilt die AGVO nach Art. 288 Abs. 2 AEUV in jedem Mitgliedstaat unmittelbar. Um eine einheitliche Praxis bei der Beurteilung staatlicher Beihilfemaßnahmen zu erreichen hat die Kommission zudem zahlreiche Leitlinien und Mitteilungen erlassen.28 Anders als eine Verordnung oder ein Beschluss kommt den Leitlinien selbst keine unmittelbare Wirkung nach außen zu, Art. 288 Abs.  5 AEUV. Die Leitlinien können aber zu einer Selbstbindung der Kommission führen, mit der Folge, gleichgelagerte Sachverhalte gleich zu behandeln.29 22 EuGH v. 11.6.2009 – T-189/03, ASM Brescia/KOM, Rz. 68. 23 Jatzke (Fn. 4), S. 21 (B 9). 24 Jatzke (Fn. 4), S. 18 (B 4). 25 Kreuschitz in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 107 AEUV Rz. 538 ff. 26 S. dazu weitere Nachweise bei Jatzke (Fn. 4), S. 18 f., 25 ff. 27 Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission v. 17.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU v. 26.6.2014, L 187, S. 1 (abgekürzt: AGVO). 28 Für das Verbrauchsteuerrecht sind vor allem die Umweltschutzleitlinien von Bedeutung, s. Mitteilung der Kommission, Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020, ABl. EU v. 28.6.2014, C 200, S. 1 (UEBLL). 29 Zu Einzelheiten s. Jatzke (Fn. 4), S. 26 ff. mwN.

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Die Bedeutung des Verbotes staatlicher Beihilfen für das Verbrauchsteuerrecht

3. Auswirkungen für das Verbrauchsteuerrecht Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH30 sowie nach der Auffassung der Kommission31 können steuerliche Vorteile in jeder Form staatliche Beihilfemaßnahme darstellen. Die Tatbestände führen zu einer Minderung der Steuerlast und begründen für die Begünstigten wirtschaftliche Vorteile, die sie unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätten.32 In den verschiedenen Verbrauchsteuerrichtlinien werden die Vergünstigungstatbestände genannt. Dabei wird den Mitgliedstaaten grundsätzlich überlassen, in welcher Form sie die Steuervergünstigungen einräumen wollen.33 In Betracht kommt neben der Gewährung von Steuerbefreiungs- und Steuerermäßigungstatbeständen, auch die steuerliche Entlastung. Aus den Art. 14–17 RL 2003/96/EG34 folgen im Wesentlichen die Vergünstigungen für den Energie- und Stromsteuerbereich. Die für die Alkoholbesteuerung relevanten Tatbestände sind in Art. 27 RL 92/83/EWG35 normiert. Im Tabakbereich findet Art. 17 RL 2011/64/EU36 Anwendung. Werden Vergünstigungsbestimmungen ausdrücklich in den EU-Richtlinien genannt, stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen überhaupt eine unzulässige Beihilfemaßnahme vorliegen kann, die zu einer Gefährdung des Wettbewerbs führt. Immerhin besteht die Zulässigkeit nach unionsrechtlichen Bestimmungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass von zwei unterschiedlichen Rechtsmaterien auszugehen ist. Während sich die besonderen Verbrauchsteuerrichtlinien mit steuerlichen Aspekten befassen, geht es im Rahmen des europäischen Beihilferechts um Wettbewerbsfragen. Die Zielrichtungen und Inhalte sind unterschiedlich. So weist ausdrücklich Art. 26 Abs. 2 RL 2003/96/EG darauf hin, dass die steuerlichen Vergünstigungen der Energiesteuerrichtlinie „staatliche Beihilfen“ darstellen können, die den Mitteilungspflichten des Vertrages unterliegen. Entsprechend hat der EuGH37 festgestellt, dass eine Richtlinienermächtigung an einen Mitgliedstaat, steuerlichen Vergünstigungen zu gewähren, 30 EuGH v. 10.12.2013 – C-272/12 P, KOM/Irland, ABl. EU 2014 C 45, S. 9-10, Rz. 27-29; s. auch Nachw. bei Frenz/Roth, Steuer- und Abgabenbefreiungen als Beihilfen, DStZ 2006, 465; Grube, Der Einfluss des EU-Beihilferechts auf das deutsche Steuerrecht, DStZ 2007, 371 ff. 31 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung, ABl. EG 1998 C 384, S. 3. 32 Jatzke (Fn. 4), S. 21. 33 S. Art. 6 RL 2003/96/EG. 34 Richtlinie (EG) 2003/96 des Rates zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom v. 27.10.2003, ABl. EU L 283, S. 51; zum Sonderfall des Art. 2 Abs. 4 RL 2003/96/EG s. Ismer/Haußner/ Piotrowski, ZfZ 2016, 278, 282 f. 35 Richtlinie 92/83/EWG des Rates zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke v. 19.10.1992, ABl. EG L 316, S. 21. 36 Richtlinie 2011/64/EU des Rates über die Struktur und die Sätze der Verbrauchsteuern auf Tabakwaren v. 21.6.2011, ABl. EU, L 176, S. 24. 37 EuGH v. 10.12.2013 – C-272/12 P – Kommission/Irland u.a., ECLI:EU:C:2013:812, Rz. 48– 50.

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nicht zur Folge haben kann, dass die Kommission daran gehindert wird, zu überprüfen, ob eine staatliche Beihilfe vorliegt. Die Ausübung dieser Befugnis, die im AEUV geregelt ist, darf nicht behindert werden. Selbst eine von allen Mitgliedstaaten getragene Entscheidung macht die Notifizierung der Maßnahme als Beihilfe und das Genehmigungsverfahren nicht entbehrlich.38 Die steuerlichen Vergünstigungen, die das EU-Recht in den Richtlinien gewähren, lassen sich grundsätzlich in zwei Bereiche unterscheiden. Einerseits sind obligato­ rische Steuerbefreiungen39 vorgesehen, die für alle Mitgliedstaaten zwingend umzusetzen sind. Andererseits sind fakultative Vergünstigungstatbestände40 normiert. In diesen Fällen haben die Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum. Sie können entscheiden, ob und ggfs. in welcher Form sie von der steuerlichen Vergünstigung Gebrauch machen. Sehen die Unionsrechtsakte obligatorische Steuerbefreiungen vor, sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Vergünstigungen in das nationale Recht umzusetzen.41 In diesen Fällen wendet der EuGH42 keine beihilferechtlichen Restriktionen an. Die Entscheidung über die Steuervergünstigung wird nicht dem jeweiligen Mitgliedstaat zugerechnet, sondern allein durch den Unionsgesetzgeber getroffen.43 Anders ist die Rechtslage bei den fakultativen Vergünstigungstatbeständen. Die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat von der Begünstigung Gebrauch machen kann und ein anderer nicht, kann zu Wettbewerbsverzerrungen im innergemeinschaftlichen Handel führen. Alle diese Begünstigungstatbestände können deshalb dem Grunde nach staatliche Beihilfen darstellen, die einer Beurteilung nach Art. 107 ff. AEUV unterliegen.

III. Beihilferecht und Besteuerung von Energieerzeugnissen und Strom Die Bedeutung des Beihilferechts wird zunehmend auf dem Gebiet der Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom relevanter. So hat der Gesetzgeber eine Vielzahl von Entlastungstatbeständen für Unternehmen des Produzierenden Gewerbes geschaffen, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Seit der am 1.4.1999 eingeführten „ökologischen Steuerreform“ begleitet deshalb das Beihilferecht zunehmend die deutsche Gesetzgebung im Energie- und Stromsteuerbereich.44

38 Jatzke (Fn. 4), S. 23 (B13). 39 Art. 14 RL 2003/96/EG (Fn. 34); Art. 27 Abs. 1 RL 92/83/EWG (Fn. 35). 40 Art. 15-17 RL 2003/96/EG (Fn. 34), Art. 27 Abs. 2 RL 92/83/EWG (Fn. 35); Art. 17 Satz 2 RL 2011/64/EU (Fn. 36). 41 Jatzke in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStRL, Rz. 41 ff. 42 EuGH v. 5.4.2006 – T-351/02 – Deutsche Bahn/Kommission, Slg. 2006 II, 1047, Rz. 102. 43 Jatzke (Fn. 4), S. 24 (B 13). 44 Nachweise dazu bei Jatzke (Fn. 4), S. 31 ff. (B 29-31).

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1. Grundsätze Als staatliche Beihilfen bedürfen alle steuerlichen Vergünstigungen, die nach der RL 2003/96/EG in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt sind, der Ausnahmeregelung. Aus Gründen der Rechtssicherheit enthält die EnSTransV45 eine gesetzliche Auflistung all der Tatbestände, die als staatliche Beihilfen gelten. Eine entsprechende Vorschrift wurde nunmehr durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Energie- und Stromsteuergesetzes eingefügt.46 Dieser aufgelistete Katalog ist aber keineswegs verbindlich. Die nationalen Bestimmungen haben nur deklaratorischen Charakter. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kommission noch weitere steuerliche Vergünstigungen als staatliche Beihilfen ansieht.47 Liegt eine staatliche Beihilfe in Form einer Steuerbefreiung, Steuerermäßigung oder Steuerentlastung vor, hat die Kommission nach Art. 107 Abs. 3 AEUV einen Ermessensspielraum. Energie- und Stromsteuer stellen eine „Umweltsteuer“ dar, deren Besteuerungsgegenstand eine negative Auswirkung auf die Umwelt hat, Art. 2 Ziffer 119 AGVO. Die steuerlichen Vergünstigungen auf diesem Gebiet sind daher in der Regel Beihilfen in Form von Umweltsteuerermäßigungen. Für diese Gruppe der Umweltschutzbeihilfen findet die AGVO Anwendung, Art. 1 Nr. 1 Buchst. c) AGVO.48 Im Fall von Beihilfen in Form von Umweltsteuerermäßigungen nach der RL 2003/96/ EG sieht Art. 44 AGVO Vereinfachungen vor.49 So sollen Beihilfen von der Anmeldepflicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV freigestellt sein, sofern die Voraussetzungen der Norm erfüllt und die allgemeinen Bedingungen in Kapitel I eingehalten sind. Zu den Voraussetzungen schreibt Art. 44 Nr.  2 AGVO vor, dass die Begünstigten anhand transparenter und objektiver Kriterien ausgewählt und die Mindeststeuerbeträge der Union eingehalten werden. Die Mindeststeuersätze sind in Anhang I der RL 2003/96/ EG genannt, Art. 2 Ziffer 120 AGVO. Diese Beihilferegelungen basieren also auf einer Senkung des anwendbaren Umweltsteuersatzes, Art. 44 Nr. 3 AGVO. Werden diese Mindeststeuerbeträge eingehalten, gelten die Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar. In Deutschland beruht eine Vielzahl von Energie- und Stromsteuervergünstigungen auf dieser Vereinfachung. Die staatlichen Beihilfen stellen keine Steuerbefreiungen dar, sondern nur Ermäßigungen des Regelsteuersatzes oder bilden Entlastungstatbestände, deren Ergebnisse von der Rechtsfolge betrachtet stets auf eine steuerliche Be45 § 2 Abs. 1 iVm Anlage Verordnung zur Umsetzung unionsrechtlicher Veröffentlichungs-, Informations- und Transparenzpflichten im Energie- und Stromsteuergesetz  – (Energieund Stromsteuer-Transparenzverordnung – EnSTransV), v. 4.5.2016, BGBl. I, S. 1158; zuletzt geändert durch VO v. 2.1.2018, BGBl. I, S. 84. 46 S. Zweites Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes, Art. 2: § 3b Abs. 3 EnergieStG (staatliche Beihilfen: §§ 3, 3a, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1, 2, §§ 47a, 53a, 54, 55, 56, 57 EnergieStG) und Art. 4: § 2a Abs. 3 StromStG (staatliche Beihilfen: §§ 9 Abs. 2, 3; §§ 9b, 9c und § 10 StromStG). 47 S. auch Jatzke, ZfZ 2017, 90. 48 Zu den Begriffsbestimmungen für Umweltschutzbeihilfen s. Art. 2 Ziffern 101-131 AGVO. 49 Rumersdorfer in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 17-25 AGVO Rz. 97 ff.

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günstigung hinauslaufen, die nicht unter die Mindeststeuersätze der RL 2003/96/EG fallen.50 Eine Anzeigepflicht im vereinfachten Verfahren reichte aus. Aus diesen Gründen wurde beispielsweise die Stromsteuerermäßigung für die landseitige Stromversorgung von Wasserfahrzeugen für die Schifffahrt gem. §  9 Abs.  3 StromStG eingeführt.51 Statt der ursprünglich vorgesehenen Steuerbefreiung stellt die Vergünstigung nur eine Ermäßigung dar. Der vorgesehene Steuersatz von 0,50 Euro für eine Megawattstunde entspricht dem Mindeststeuersatz der RL 2003/96/EG (s. Anhang I Tabelle C). Auf diese Weise wurde ein langdauerndes und vom Ergebnis ungewisses Notifizierungsverfahren vermieden. Stellt demgegenüber die Steuervergünstigung eine vollständigen Steuerbefreiung dar oder geht unter die vorgeschriebenen Mindeststeuersätze, kann das vereinfachte Verfahren nach Art. 44 AGVO nicht in Betracht kommen. Zur Förderung gewisser Wirtschaftszweige kann aber die Kommission auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c) AEUV Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar betrachten. Um die Vielzahl der Entscheidungen im Einzelfall zu vereinheitlichen, hat die Kommission zahlreiche Leitlinien und Mitteilungen erlassen. Diesen Leitlinien selbst kommt keine unmittelbare Wirkung nach außen zu, Art. 288 Abs. 5 AEUV. Allerdings bindet sich die Kommission durch die aufgestellten Leitlinien selbst. Auf diese Weise wird erreicht, dass gleichgelagerte Sachverhalte auch inhaltlich gleich behandelt werden.52 Eine maßgebliche Rolle im Energie- und Stromsteuerbereich kommt dabei speziell den Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-202053 zu. Anders als die AGVO ist der Anwendungsbereich dieser Leitlinien weit größer. Sie gelten für alle staatlichen Beihilfen, die zur Förderung von Umwelt- und Energiezielen gewährt werden und enthalten allgemeine Kriterien und Grundsätze54, die für eine beihilferechtliche Würdigung angemeldeter Beihilfemaßnahmen gelten. Ein Aspekt ist dabei u.a. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Daneben werden, abgestellt auf den jeweiligen Inhalt der Maßnahme, besondere Voraussetzungen genannt, die sich auf die konkrete Art der Begünstigung beziehen (z.B. Beihilfen zur Förderung erneuerbaren Energien, Kraft-Wärme-Kopplung). Ein besonderer Abschnitt ist hier den Beihilfen in Form von Umweltsteuerermäßigungen oder -befreiungen gewidmet.55 Ähnlich wie bei Art. 44 AGVO kann auch hier die Kommission einen vereinfachten Ansatz wählen, wenn bei der Gewährung der Steuerermäßigungen im Rahmen der RL 2003/96/EG die Mindeststeuersätze der Union 50 Dazu zählen (§ 2 Abs. 3 iVm) §§ 3, 3a; §§ 47a, 53b, 54, 55, 56, 57 EnergieStG; §§ 9 Abs. 2, 3; §§ 9b, 9c und § 10 StromStG. 51 Ergänzt wurde die Steuerermäßigung durch Einführung eines Steuerentlastungstatbestandes gem. § 14a StromStV: die Entlastungshöhe für zum Regelsteuersatz versteuerten Strom (20,50 Euro/MWh) beträgt 20 Euro, § 14a Abs. 1 StromStV. 52 Zu Einzelheiten s. Jatzke (Fn. 4), S. 26 ff. mwN. 53 Mitteilung der Kommission, Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020, ABl. v. 28.6.2014 C 200, S. 1 (UEBLL). 54 Ziffern 26-106 UEBLL. 55 3.7 (Ziffern 167-180) UEBLL.

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eingehalten werden.56 Für alle anderen Umweltsteuern bzw. Vergünstigungen, die die Mindeststeuerbeträge unterschreiten (idR bei Steuerbefreiungen), muss eine eingehende Prüfung erfolgen und das förmliche Notifizierungsverfahren eingehalten werden, Art. 108 Abs. 3 AEUV.57 Die Leitlinie nennt abstrakt Voraussetzungen und Kriterien, nach denen die Kommission beurteilt, ob eine Maßnahme als erforderlich und verhältnismäßig angesehen werden kann. So muss beispielsweise der Beihilfeempfänger anhand objektiver und transparenter Kriterien ausgewählt werden, die Umweltsteuer ohne staatliche Beihilfe muss zu einem erheblichen Anstieg der Produktionskosten führen, der nicht auf die Abnehmer abgewälzt werden kann.58 Eine Beihilfe wird von der Kommission als verhältnismäßig angesehen, wenn die begünstigten Unternehmen Vereinbarungen schließen, die zur Erreichung von Umweltschutzzielen verpflichten.59 Ähnliche Gedanken liegen dem Art. 17 RL 2003/96/EG zu Grunde. Auch hier wird für energieintensive Unternehmen die Gewährung einer steuerliche Vergünstigung als zulässig betrachtet, wenn entsprechende Umweltvereinbarungen getroffen werden. Die Zulässigkeit der steuerlichen Entlastung für Unternehmen des Produzierenden Gewerbes, der sog. Spitzenausgleich nach § 55 EnergieStG und § 10 StromStG, beruht steuerrechtlich auf Art. 17 RL 2003/96/EG. Als fakultative Begünstigung, die unterhalb des Mindeststeuersatzes liegt, bedurfte der Spitzenausgleich der beihilferechtlichen Genehmigung.60 Um eine Verlängerung bis zum 31.12.2012 zu erreichen, musste von den Unternehmen eine Gegenleistung erbracht werden. Diese beruhte zunächst auf einem Nachweis, dass die Verpflichtungen aus der Klimaschutzvereinbarung, abgeschlossen zwischen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft, eingehalten werden. Nunmehr kann durch eine Freistellungsanzeige bis zum Ende des Jahres 2022 der Spitzenausgleich gewährt werden.61 Bedingung ist nunmehr für die Unternehmen des Produzierenden Gewerbes das Betreiben von Energie- und Umweltmanagementsystemen sowie die Erreichung von Zielwerten zur Reduktion der Energieintensität. Grundlage dafür ist eine neue Vereinbarung vom 1.8.2012 zwischen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft.62 Aktuell sind für zwei Vergünstigungstatbestände nach dem EnergieStG förmliche Genehmigungen von der Kommission erteilt worden.63 Zum einen handelt es sich um die Steuerbefreiung gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 EnergieStG für gasförmige Ener56 S. Ziffer 172 UEBLL. 57 Zum Ablauf des Notifizierungsverfahrens s. Art. 108 Abs. 3 AEUV iVm der Verfahrensverordnung (VO 2015/1589 v. 13.7.2015) ABl. EU L 248, S. 9 ff. 58 S. Ziffer 177 UEBLL. 59 S. Ziffer 178 UEBLL. 60 EU-Kommission, Schreiben v. 13.7.2007, 5 ff.; s. Nachweise bei Möhlenkamp in Möhlenkamp/Milewski, EnergieStG, StromStG, § 55 EnergieStG Rz. 3 ff. 61 Bekanntmachung v. 19.12.2012, BGBl. I 2012, 2725. 62 Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Wirtschaft zur Steigerung der Energieeffizienz v. 1.8.2012. 63 Zu weiteren Beispielsfällen zu Beihilfeentscheidungen der Kommission zu Verbrauchsteuerbegünstigungen s. Jatzke (Fn. 4), S. 30 ff. (B 27B 33).

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gieerzeugnisse64 und zum anderen um den vollständigen Entlastungstatbestand für hocheffiziente KWK-Anlagen gem. § 53a EnergieStG.65 Beide Vergünstigungen laufen im Ergebnis auf eine vollständige Befreiung hinaus. 2. Aktuelle Entwicklungen Im Wesentlichen beschränkte sich bislang das Beihilferecht auf die Frage, ob die Voraussetzungen für eine berechtigte Ausnahmeregelung der konkreten staatlichen Beihilfemaßnahme vorliegen. Dabei hing es vom Einzelfall ab, ob ein förmliches Notifizierungsverfahren zu erfolgen hatte oder die Bedingungen für ein vereinfachtes Verfahren ausreichten. Das neue und geänderte Beihilferecht ist verschärft worden und verlangt weitere Anforderungen. Die Auswirkungen dieser Neuerungen auf die begünstigten Unternehmen sind gravierend. a) Transparenz- und Veröffentlichungspflichten In der Mitteilung über die Modernisierung des EU-Beihilferechts66 war die Kommission der Auffassung, Kriterien und Grundsätze festzulegen, die bei der Prüfung der Vereinbarkeit aller Beihilfemaßnahmen anzuwenden seien. Dazu gehörte das Merkmal der Transparenz der Beihilfe. Allen Beteiligen von der Kommission, über die Mitgliedstaaten, über die Wirtschaftsbeteiligten bis hin zur Öffentlichkeit sollte ein Zugang zu allen Vorschriften und Informationen über die gewährten Beihilfen verschafft werden. Die neuen Leitlinien67 und die AGVO68 sehen deshalb vor, dass die grundlegenden Informationen über die gewährten Beihilfen auf einer Beihilfe-Website veröffentlicht werden und ohne Einschränkung für die Öffentlichkeit zugänglich sein müssen. Alle Beteiligten sollen prüfen können, ob eine gewährte Beihilfe mit dem geltenden Recht im Einklang steht.69 Deshalb haben die Mitgliedstaaten die Verpflichtung, diese umfangreichen Veröffentlichungs-, Informations- und Transparenzpflichten vor dem 1. Juli 2016 bereitzustellen. Die steuerlichen Vergünstigungen auf dem Gebiet der Energie- und Strombesteuerung, die in einer großen Zahl an Unternehmen des Produzierenden Gewerbes ge­ leistet werden, stellen staatliche Beihilfen dar. Als Adressaten der Begünstigungen treffen deshalb diese Verpflichtungen daher eine Vielzahl von Unternehmen. Deutschland ist diesen EU-Vorgaben durch Erlass der Verordnung zur Umsetzung unionsrechtlicher Veröffentlichungs-, Informations- und Transparenzpflichten v. 4.5.2016 (EnSTransV)70 nachgekommen. Da es sich bei den Transparenzpflichten um Maßnahmen des Wettbewerbs handelt, bedurfte es dafür einer gesetzlichen Rechtsgrund64 Kommission, Staatliche Beihilfe SA. 34412 (2012/N). 65 Kommission, Staatliche Beihilfe SA. 33848 (2011/N). 66 KOM (2012) 209 final v. 8.5.2012. 67 Ziffern 104-106 UEBLL. 68 Art. 5, Art. 9 und Anhang III der AGVO; dazu Jestaedt in MK BeihVgR (Fn.  1), Art. 9 AGVO Rz. 1 ff. 69 So die Ziele s. Erwägungsgrund 27 AGVO. 70 BGBl. I 2016, 1158; zuletzt geändert durch VO v. 2.1.2018, BGBl. I 2018, 84.

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lage. Durch Art. 10 und 11 des Gesetzes zur Neuorganisation der Zollverwaltung v. 3.12.201571 wurden die entsprechenden Ermächtigungsgrundlagen zur Änderung des Energie- und Stromsteuergesetzes geschaffen.72 Die Verpflichtungen beziehen sich nur auf solche Vergünstigungen, die als „staatliche Beihilfen“ anzusehen sind.73 Sie gelten zum Beispiel nicht für obligatorische Steuervergünstigungen, die alle Mitgliedstaaten gewähren müssen. So beruht beispielsweise der Entlastungsanspruch des §  53 EnergieStG für die Verwendung von Energieerzeugnissen zur Stromerzeugung auf Art. 14 RL 2003/96/EG, einer zwingenden Steuerbefreiungsnorm. Die Inanspruchnahme hat keine Transparenzpflichten zur Folge. In der Anlage zur EnSTransV werden die Vorschriften genannt, die als staatliche Beihilfen gelten. Die Nennung der Vergünstigungstatbestände soll der Rechtssicherheit dienen. Die Auflistung hat keineswegs konstitutiven Charakter, da die Europäische Kommission letztlich entscheidet, ob eine Maßnahme als staatliche Beihilfe zu qualifizieren ist. Das Zweite Gesetz zur Änderung des Energie- und StromStG v. 27.8.201774 enthält einen aktuelleren Katalog der zurzeit geltenden „staatlichen Beihilfemaßnahmen“ auf dem Gebiet der Energie- und Stromsteuer. Die EnSTransV unterscheidet bei der Gewährung von Vergünstigungen zwischen Anzeige- und Erklärungspflichten.75 Anzuzeigen sind Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen bis zum 30.6. des Folgejahres, § 3 Abs. 2 Nr. 2, § 4 EnSTransV. Erklärungspflichten bestehen nach § 3 Abs. 2 Nr. 1, § 5 EnSTransV für die Geltendmachung von Steuerentlastungen. Bezugsjahr ist hier – anders als bei den Anzeigepflichten - das Auszahlungsjahr. Da die Bestimmungen der Transparenz- und Veröffentlichungspflichten erst ab dem 1.7.2016 in Kraft getreten sind, gelten für das Jahr 2016 Sonderregelungen. Meldungen sind für die verwendeten Energieerzeugnisse bzw. für den entnommenen Strom nur für das 2. Halbjahr 2016 abzugeben. b) Unternehmen in Schwierigkeiten Die Umweltschutzleitlinien schließen Unternehmen in Schwierigkeiten von ihrem Anwendungsbereich aus.76 Gleiches gilt für die AGVO.77 Für Unternehmen in Schwierigkeiten sieht das Unionsrecht besondere Bestimmungen vor. Dafür ist die spezielle Leitlinie für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten erlassen worden (RuU-LL).78 Diese Rechtsgedanken 71 BGBl. I 2015, 2178. 72 § 66 Abs. 1 Nr. 22 EnergieStG, § 11 Satz 1 Nr. 13 StromStG. 73 Milewski, Bevorstehende Novelle des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes 2017, DStZ 2017, 406, 408. 74 BGBl. I 2017, 3299. 75 Schröer-Schallenberg, Die neue Energiesteuer- und Stromsteuer-Transparenzverordnung, ZfZ 2016, 187 ff. 76 S. Ziffer 16 UEBLL. 77 S. Art. 1 Nr. 4 Buchst. b) AGVO. 78 Schütte in MK BeihVgR (Fn. 1), Rettung/Umstrukturierung, Rz. 8 ff.: zur Begriffsbestimmung „Unternehmen in Schwierigkeiten“.

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und Vorgaben des unionsrechtlichen Beihilferechts haben nunmehr unmittelbaren Einfluss in das Energie- und Stromsteuergesetz gefunden. Durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes79 wird verlangt, dass eine steuerliche Vergünstigung im Bereich der Energie- und Stromsteuer, die eine staatliche Beihilfe darstellt, nur dann gewährt werden kann, wenn sich das Unternehmen nicht in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet.80 Solange dies der Fall ist, ist eine staatliche Beihilfe, unabhängig in welcher Form (Steuerbefreiung, Steuerermäßigung, Steuerentlastung), unzulässig.81 Die zunächst angenommene absolute Sperrwirkung ist durch die Dritte Änderungsverordnung v. 2.1.2018 relativiert worden.82 Zur praktischen Umsetzung dieser Vorgaben treffen die Unternehmen weitere zusätzliche Verpflichtungen.83 Sie müssen gegenüber dem zuständigen Hauptzollamt mitteilen, wenn sie sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden bzw. versichern, dass keine solche Schwierigkeiten bestehen, sofern sie eine steuerliche Entlastung beantragen (Selbsterklärung). Entsprechende Hinweise sind in den amtlichen Vordrucken aufgenommen worden. Eine Definition oder Begriffsbestimmung, wann von einem Unternehmen in Schwierigkeiten auszugehen ist, sieht das nationale Recht nicht vor. Vielmehr wird auf die AGVO84 und auf die Leitlinien85 Bezug genommen. Der Begriff „Unternehmen in Schwierigkeiten“ ist eine Rechtsfigur des europäischen Beihilferechts.86 c) Rückforderungsansprüche Auf der Grundlage von Art. 16 VO (EU) 2015/158987 und der Rechtsprechung des EuGH88 hat die Kommission einen weiteren Grundsatz festgelegt, der bei der Prüfung 79 V. 27.8.2017, BGBl. I 2017, 3299 (ÄndG). 80 S. Art. 1 ÄndG: § 3b Abs. 2 EnergieStG (S. 3300); Art.3: § 2a Abs. 2 StromStG (S. 3310). 81 Zur kritischen Würdigung s. Schumacher, Steuerliche Vergünstigungen im Energie- und Stromsteuerbereich für Unternehmen in Schwierigkeiten und ihre nationalen und europäischen Rückforderungsmöglichkeiten, ZfZ 2017, 151, 153 f.; Möhlenkamp, EEG-, Energieund Stromsteuer-Ausnahmen (auch) für Unternehmen in Schwierigkeiten, DStR 2017, 816, 818 ff. 82 So zunächst Verfügung der GZD v. 3.7.2017, V 9950-2016.00062-DIV.A.32 (201700079068) S. 2; s. § 11c Abs. 1 iVm § 11b Abs. 2 EnergieStV; § 1c Abs. 1 S. 5 iVm. § 1d Abs. 2 StromStV (BGBl. I 2018, 84: ÄndVO). 83 Jatzke, Bevorstehende Rechtsänderungen durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Energie- und des Stromsteuergesetzes, ZfZ 2017, 90 f.; Milewski, DStZ 2016, 406, 408 f. 84 Art. 2 Nr. 18 AGVO. 85 Ziffer 20 RuU-LL. 86 Zu Auslegungsfragen und einer kritischen Würdigung s. Möhlenkamp, DStR 2017, 816, 818; zur Sichtweise des BMF s. BMF-Erlass v. 14.6.2017 – III B 3-V 9950/06/10021 – DOK 2017/0521589. 87 Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. v. 24.9.2015 L 248, S. 9 ff. (abgekürzt: VO [EU] 2015/1589). 88 EuGH v. 13.9.1995  – T-244/93, T-486/93, Slg. 1995 II, 2265-2304; EuGH v. 15.5.1997  – C-355/95 P, Slg. 1997 I, 2549-2579; EuGH v. 29.4.2004 – C-277/00, Slg. 2004 I, 3925-3996.

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von staatlichen Beihilfen zugunsten von Unternehmen zu berücksichtigen ist.89 Danach sollen staatliche Beihilfen nur bewilligt werden, wenn unzulässig gewährte zurückgezahlt worden sind.90 Dabei ist ohne rechtliche Relevanz, von welcher Stelle die staatliche Maßnahme erteilt worden ist. Nach Auffassung des EuGH91 liegt das Hauptziel der Rückerstattung einer zu Unrecht gezahlten Beihilfe darin begründet, die Wettbewerbsverzerrung zu beseitigen, die durch den mit der rechtswidrigen Beihilfe verbundenen Wettbewerbsvorteil verursacht worden ist. Die Durchsetzung der Rückzahlung erfolgt in einem zweistufigen Verfahren.92 Die Europäische Kommission richtet zunächst die Rückforderungsanordnung an den jeweiligen Mitgliedstaat. Dieser hat dann alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die unzulässig gewährte Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern.93 Auch dieser Grundsatz hat Eingang in das deutsche Energie- und Stromsteuergesetz gefunden94 und gehört zu den Tatbestandsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme einer steuerlichen Vergünstigung in Form einer staatlichen Beihilfe. Solange derjenige, der Energieerzeugnisse verwendet oder Strom entnimmt zu einer Rückzahlung von Beihilfen auf Grund eines früheren Beschlusses der Kommission verpflichtet wurde und dieser Rückzahlungsforderung nicht nachgekommen ist, ist die Gewährung einer staatlichen Beihilfe unzulässig.95 Im Falle der Rückzahlungsverpflichtung muss das Unternehmen bei der Inanspruchnahme von Steuerbefreiungen oder Steuerermäßigungen vielmehr unverzüglich eine Mitteilung an das Hauptzollamt machen.96 Werden Anträge auf Entlastung gestellt, hat der Antragsteller im Rahmen einer Selbsterklärung zu versichern, dass keine offenen Ansprüche auf Rückzahlung bestehen. Mit der Behebung des Mangels kann die Begünstigung gewährt werden, solange keine formellen oder materiellen Gründe entgegenstehen.97 d) Kumulierungsvorschriften Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung einer konkreten staatlichen Beihilfemaßnahme (Aspekt der „Angemessenheit“) sollen auch weitere kumulativ gewährte Beihilfen berücksichtigt werden.98 Erst wenn der Gesamtbetrag aller staatlichen Beihilfen für eine 89 Dazu Pache, Zur Auszahlung von Beihilfen unter der Bedingung der Rückzahlung einer früheren, gemeinschaftsrechtswidrigen Beihilfe, EuZW 1996, 256. 90 S. Ziffer 17 UEBLL. 91 EuGH v. 29.4.2004 – C-277/00, Slg. 2004 I, 3925, Rz. 76. 92 Köster in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 14 VerfVO Rz. 1, 4. 93 Zur Rückforderung von Beihilfen für Mineralölsteuerbegünstigung für den Unterglasanbau s. BFH, Beschl. v. 30.1.2009 – VII B 180/08, BFHE 224, 372. 94 Zweites Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes, BGBl. I 2017, 3299: Art. 1: § 3b Abs. 1 EnergieStG (S. 3300); Art.3: § 2a Abs. 1 StromStG (S. 3310). 95 Milewski, DStZ 2016, 406, 408; Jatzke, ZfZ 2016, 90. 96 Zweites Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes, BGBl. I 2017, 3299: Art. 1: § 3b Abs. 1 EnergieStG (S. 3300); Art. 3: § 2a Abs. 1 StromStG. 97 S. ÄndVO v. 2.1.2018: § 11b Abs. 2 S. 1 EnergieStV, § 1d Abs. 2 StromStV; § 11b Abs. 3 S. 6 EnergieStV, § 1d Abs. 3 S. 6 StromStV. 98 Art. 8 AGVO, Erwägungsgründe s. Ziffern 16, 25.

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geförderte Tätigkeit oder ein Vorhaben ermittelt ist, lässt sich beurteilen, ob eine Beihilfe mit dem geltenden Unionsrecht im Einklang steht.99 Festzusetzen sind daher für bestimmte Gruppen von Begünstigungen sogenannte Schwellenwerte. So sollen Beihilfen dann kumuliert werden können, wenn der Gesamtbetrag aller Vergünstigungen für das konkrete Vorhaben die festgesetzten Beihilfeobergrenzen nicht übersteigt.100 Es fehlt allerdings sowohl in der AGVO als auch in den Leitlinien eine genaue Definition, was unter den „festgesetzten Beihilfeobergrenzen“ zu verstehen ist. Auch wenn im Zweiten Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes101 auf ein umfassendes Kumulierungsverbot verzichtet worden ist,102 findet sich dennoch ein Aspekt eines „Kumulierungsverbotes“ im aktuell verabschiedeten Gesetz. Nach § 53a Abs. 8 EnergieStG103 erfolgt die vollständige Entlastung für hocheffiziente KWK-Anlagen nur abzüglich der erhaltenen Investitionsbeihilfen.104 Mit dieser gesetzlichen Bestimmung werden allein die Voraussetzungen umgesetzt, die sich aus dem EU-Beihilferecht und der Genehmigung der Kommission für die vollständige Entlastung von hocheffizienten KWK-Anlagen ergeben.105 Kommt eine vollständige Entlastung der KWK-Anlage nicht in Betracht, da die Anlage nicht hocheffizient oder bereits abgeschrieben ist bzw. die Anrechenbarkeit einer erhaltene Investitionsbeihilfe zu arbeitsaufwendig oder für den Antragsteller zu bürokratisch erscheint, kann dieser die (teilweise) Entlastung bis auf den Mindeststeuersatz in Anspruch nehmen. Darauf weist die Gesetzesbegründung106 ausdrücklich hin. Eine Ausprägung eines Kumulierungsverbotes mit Auswirkungen auf das Verbrauchsteuerrecht folgt auch aus den Wechselwirkungen der Stromsteuerbefreiungen (§ 9 Abs. 1 Nr. 1, 3 StromStG) auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz.107 So soll die Inanspruchnahme einer Steuerbefreiung mit einer gleichzeitigen Förderung durch das EEG ausgeschlossen sein. Liegt parallel zu einer EEG –Förderung auch eine Strom-

99 Knoblich in MK BeihVgR (Fn. 1), Art. 13, 14 AGVO Rz. 551, 559 ff. mwN. 100 Ziffer 81 UEBLL. 101 BGBl. I 2017, 3299. 102 Anders noch der Referentenentwurf der Bundesregierung, Stand 23.6.2016. 103 § 53a Abs. 6 EnergieStG idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes v. 27.8.2017, BGBl. I 2017, 3299, 3305: „Die vollständige Steuer­ entlastung nach Absatz 6 erfolgt abzüglich der erhaltenen Investitionsbeihilfen. Solange die Investitionsbeihilfen den Steuerentlastungsbetrag nach §  53a erreichen oder übersteigen, wird die Steuerentlastung nicht gewährt….“. 104 Jatzke, ZfZ 2016, 90, 91. 105 Genehmigung der Kommission v. 22.2.2013 zur staatlichen Beihilfe SA. 33848 (2011/N). 106 V. 15.2.2017, BR-Drs. 157/17, S. 69. 107 Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz [EEG 2017]); Änderung durch Art. 1 G v. 17.7.2017, BGBl. I 2017, 2532: §§ 53c, 104 Abs. 5 EEG. Für bestimmte KWK-Anlagen enthält das ab dem 1.1.2017 gültige KWKG vergleichbare Regelungen (Gesetz für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung [Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz – KWKG] v. 21.12.2015, Änderung durch Art. 3 G v. 17.7.2017, BGBl. I 2017, 2532: § 8a Abs. 5 bzw. § 8b Abs. 3 iVm § 8a Abs. 5 KWKG.

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Die Bedeutung des Verbotes staatlicher Beihilfen für das Verbrauchsteuerrecht

steuerbefreiung vor, so ist diese bei der Zahlung der EEG-Förderung in Abzug zu bringen.108

IV. Beihilferecht und Alkoholbesteuerung Das Beihilferecht hat letztlich aktuell auch die Entwicklung der Alkoholbesteuerung in Deutschland beeinflusst und zu grundlegenden Veränderungen geführt. Im Ergebnis ist das Verbot staatlicher Beihilfen der Grund für die endgültige Abschaffung des „Branntweinmonopols“. Damit endet eine lange bestehende historisch gewachsene Struktur auf dem Alkoholsektor in Deutschland.109 Mit dem Inkrafttreten des Alkoholsteuergesetzes zum 1.1.2018110 findet eine lange Tradition ihren Abschluss. 1. Grundsätze Für die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse sowie den Handel mit diesen sieht der AEUV nach Art. 42 AEUV unter Berücksichtigung der agrarpolitischen Ziele des Art. 39 Abs. 1 AEUV Sonderbestimmungen vor. Insbesondere die Regeln über den Wettbewerb in der EU finden nur eingeschränkt für den Agrarsektor Anwendung. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass die Vorschriften über staatliche Beihilfen (Art. 107-109 AEUV) nur insoweit gelten, als der Rat dies unter Berücksichtigung der agrarpolitischen Ziele des Art. 39 AEUV und dem nach Art. 42 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Rahmen bestimmt.111 Landwirtschaftliche Erzeugnisse sind die Erzeugnisse des Bodens, der Viehzucht und der Fischerei sowie die Erzeugnisse ihrer ersten Verarbeitungsstufe, Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 2 AEUV. Damit gelten die besonderen agrarpolitischen Regelungen des AEUV grundsätzlich auch für landwirtschaftlichen Ethylalkohol.112 Erstmalig wurde durch Verordnung (EG) 1234/2007 eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte (Einheitliche GMO  – EGMO)113 erlassen.114 Im Dezember 2013 108 BMF-Erlass v. 6.1.2017 – III B 3-V4201/16/10001. 109 Zur Entwicklung s. Schröer-Schallenberg, Das Branntweinmonopol in Deutschland, ZLR 2013, 159. 110 Art. 2 des Gesetzes zur Abschaffung des Branntweinmonopols (Branntweinmonopolabschaffungsgesetz) v. 21.6.2013 (BGBl. 2013 I, 1650 ff.). 111 Von Wallenberg/Schütte in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. 2, 2016, Art. 107 AEUV Rz.  126; von Rintelen in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 42 AEUV Rz. 50 ff.; EuGH, C-280/93, ECLI:EU:C: 1994: 367 112 S. Anhang I zum AEUV; dazu Brück in MK BeihVgR (Fn. 1), Sektoren Rz. 1062, 1086. 113 Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates v. 22.10.2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO), ABl. EU 2007 L 299, S.  1 (zitiert: Verordnung [EG] Nr. 1234/2007). 114 Zu den Hintergründen s. Busse, Die Verordnung über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte, ZfZ 2014, 113  ff.; Martinez, Landwirtschaft und Wettbewerbsrecht  – Bestandsaufnahme und Perspektiven, EuZW, 2010, 368 ff.; Schubert, Beihilfen im Agrarsek-

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wurde diese durch die Verordnung (EU) 1308/2013115 abgelöst. Die neue EGMO von 2013 ist am 1.1.2014 in Kraft getreten.116 2. Abschaffung des Branntweinmonopols Das in Deutschland seit April 1922 bestehende Branntweinmonopol117, zunächst ­geschaffen zur Erzielung von Einnahmen, war seit Beginn auch dadurch geprägt, agrarpolitische Ziele zu verfolgen. Die Unterstützung der Landwirtschaft bestimmte maßgeblich die Entwicklung und prägte entscheidend die Struktur der deutschen Brennereiwirtschaft.118 Nachdem sich das Branntweinmonopol zu einer nationalen Marktordnung für Agraralkohol entwickelt hatte, das allein durch staatliche Subventionierung aufrechterhalten werden konnte, waren allein agrarpolitische Gründe ausschlaggebend für die Beibehaltung dieser Struktur. Nur durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt konnte im Ergebnis erreicht werden, dass die Brennereien ihre Existenz erhalten konnten. Ein wirtschaftliches Überleben auf dem Alkoholmarkt ohne finanzielle staatliche Unterstützung wäre für eine Vielzahl von kleinen und mittelständischen Brennereibetrieben nicht möglich gewesen. Auch wenn das staatliche Subventionsvolumen durch Reformen zur Konsolidierung des Bundeshaushalts reduziert worden ist119, handelte es sich tatbestandsmäßig um staatliche Beihilfen. Im April 2003 wurde die EU-Agrarmarktordnung für Agraralkohol120 verabschiedet, mit dem Ziel, den Alkoholmarkt transparenter zu gestalten. Die VO (EG) Nr. 670/2003 trat am 1.1.2004 in Kraft. In dieser Verordnung wurde in Art. 10 Abs. 1 grundsätzlich darauf verwiesen, dass die Vorschriften über das Verbot staatlicher Beihilfen (ex Art. 87–89 EGV) Art. 107–109 AEUV auch für Agraralkohol gelten. Damit wäre eine staatliche Subventionierung in Form einer wie in Deutschland praktizierten „nationalen Alkoholmarktordnung“ nicht vereinbar. Wegen der besonderen Situation wurtor, EuZW 2010, 92  ff.; Sydow, Das Branntweinmonopol als Problem des europäischen Beihilferechts, AUR 2011, 297 ff. 115 Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.12.2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007, ABl. v. 20.12.2013, L 347, S. 671–854 (zitiert: Verordnung [EU] Nr. 1308/2013). 116 Zur Entwicklung und den Hintergründen s. Busse, ZfZ 2014, 113 ff. 117 RGBl. I 1922, 335, 405 in der im BGBl. III/FNA 612-7 veröffentlichten bereinigten Fassung; zuletzt geändert durch Gesetz v. 16.6.2011, BGBl. I, 1090; abgekürzt „BranntwMonG“. 118 Nähere Einzelheiten zur Geschichte s. Horn, Das Deutsche Branntweinmonopol unter EWG-Vertrag und Grundgesetz 1987, S. 14 ff.; Schroeder, Das deutsche Branntweinmonopol und der Binnenmark, EWS 1993, 96; Schröer-Schallenberg, Das Branntweinmonopol in Deutschland, ZLR 2013, 159 ff. 119 S. Art. 12 des Gesetzes zur Sanierung des Bundeshaushalts v. 22.12.1999, BGBl. I 1999, 2534. 120 Verordnung (EG) Nr. 670/2003 des Rates v. 8.4.2003 mit besonderen Maßnahmen für den Markt für Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs, ABl. v. 15.4.2003, L 97 (zitiert: VO [EG] Nr. 670/2003).

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de allerdings für Deutschland eine befristete Ausnahmeregelung vorgesehen. Danach konnten bis zum 31.12.2010 bestimmte Beihilfen mit einem jährlich festgeschriebenen Volumen von 110 Mio. Euro an Brennereien weitergewährt werden. Die Ausnahme durfte nach Art. 10 Abs. 2 VO (EG) 670/2003 nur für Rohalkohol gewährt werden, den die Monopolverwaltung nach der Weiterverarbeitung als Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs vermarktet. Sie war beschränkt auf Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs iSd Anhang I des Vertrages und galt deshalb nicht für den Kornbranntwein. Nach Auffassung der Kommission121 stellte der Kornbranntwein wegen des Geschmacks und des Aromas bereits ein industrielles Produkt dar, mit der Folge, dass der Kornalkohol nicht als Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs zu qualifizieren war. Durch Erlass der Gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte (GMO) VO (EG) Nr. 1234/2007 wurde die Alkoholmarktverordnung (VO (EG) 670/2003 aufgehoben, deren Inhalte aber in der neuen GMO übernommen.122 Die besonderen Bestimmungen für das deutsche Branntweinmonopol galten also danach bis zum Ablauf des ­Jahres 2010 fort. Vor Ablauf dieses Datums wurde durch die sog. „EU-Verlängerungsverordnung“ VO (EU) Nr. 1234/2010123 die Berechtigung zur Gewährung produktionsbezogener Beihilfen im Rahmen des Branntweinmonopols letztmalig bis zum Ablauf des 31.12.2017 verlängert.124 Begründet wurde die Maßnahme mit den besonderen Strukturbedingungen auf dem Sektor der Alkoholherstellung in Deutschland. Um den Anpassungsprozess zu erleichtern und den kleinen und mittelständischen landwirtschaftlichen Betrieben das Überleben auf dem freien Markt zu ermöglichen, wurde eine letztmalige Zeitverlängerung gewährt. Diese soll dazu dienen, den Prozess der Abschaffung des Branntweinmonopols zu vollenden. Art. 1 Abs.  4 VO (EG) 1234/2010 knüpft aber die Verlängerung an einige Bedingungen. So muss u.a. die Gesamtmenge des monopolbegünstigten Ethylalkohols sukzessive in der Übergangszeit abgebaut werden.125 Die landwirtschaftlichen Verschlussbrennereien müssen bis zum 31.12.2013 aus dem Monopol ausgeschieden sein, können aber bestimmte Ausgleichsbeihilfe in Raten erhalten, von denen die letzte spätestens zum 31.12.2017 ausgezahlt sein muss. Ein Gesamtbetrag an gezahlten Beihilfen darf nicht überschritten werden126 und Deutschland ist verpflichtet worden, jährlich der Kommission einen Bericht über die Abwicklung und den Stand abzustatten. Für Abfindungsbrennereien, Stoffbesitzer und Obstgemeinschaftsbrennereien können die gewährten Beihilfen bis zum 31.12.2017 erhalten bleiben, sofern die Erzeugung, für die die Beihilfe gewährt wird, 60.000 hl im Jahr nicht überschreitet. 121 V. 16.11.2004 über eine Beihilferegelung Deutschlands zugunsten von Kornbranntweinbrennereien, ABl. v. 25.3.2006, L 88, S. 50. 122 S. Art. 180, 182 Abs. 4 iVm Anhang II Teil I VO (EG) Nr. 1234/2007. 123 Verordnung (EG) Nr.  1234/2010 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr.  1234/2007 v. 15.12.2010, ABl. EU Nr. L 346, S. 11. 124 S. Art. 1 VO (EG) Nr. 1234/2010 (Fn. 123). 125 In der Zeit v. 1.1.2014 – 31.12.2017 höchstens 60000 hl/Jahr, Art. 1 Abs. 4 Buchst. a) VO (EG) 1234/2010 (Fn. 123). 126 Der Gesamtbetrag in der Zeit v. 1.1.2014 – 31.12.2017 darf den Betrag von 268 Mio. Euro nicht überschreiten, Art. 1 Abs. 4 Buchst. d) VO (EG) 1234/2010 (Fn. 123).

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Diese Vorgaben sind in Deutschland durch das Gesetz zur Abschaffung des Branntweinmonopols v. 21.6.2013127 umgesetzt worden. Während in Art. 1 des Abschaffungsgesetzes die unionsrechtlich notwendigen Änderungen für die Übergangszeit bis zum 31.12.2017 normiert sind, regelt Art. 2 des Änderungsgesetzes die Inhalte des neuen Alkoholsteuergesetzes, das zum 1.1.2018 in Kraft getreten ist. Die von der Union letztmalig eingeräumte Verlängerungsfrist von 7 Jahren für den Prozess der endgültigen Abschaffung des Branntweinmonopols erforderte eine Vielzahl von Übergangs- und Auslaufbestimmungen. Wegen der Komplexität hat der Gesetzgeber aus Gründen der Rechtssicherheit deshalb in Art. 3 des Abschaffungsgesetzes Detailregelungen aufgenommen, die die genauen Zeitpunkte des Inkrafttretens der Einzelnormen regeln. Durch die Auflösung des Branntweinmonopols ist eine große Anzahl von Gesetzen betroffen, die alle Bezug nehmen auf das Branntweinmonopolgesetz. Zur Rechtsbereinigung und Anpassung an die neue Rechtslage ist deshalb zusätzlich das Branntweinmonopolverwaltung-Auflösungsgesetz verabschiedet worden.128 Unter anderem wird in diesem Gesetz geregelt, dass mit Ablauf des 31.12.2018 die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein aufgelöst wird.129 3. Alkoholsteuergesetz Bei dem neuen Alkoholsteuergesetz handelt es sich um ein reines Steuergesetz.130 Es wurde im Hinblick auf den Aufbau und die Systematik an die anderen Verbrauchsteuergesetze angepasst. Entsprechendes gilt für die Alkoholsteuerverordnung.131 Die Steuerbefreiungstatbestände sind nunmehr in § 27 AlkStG normiert und entsprechen inhaltlich dem §  152 BranntwMonG. Insoweit haben sich keine Änderungen ergeben. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Steuerbefreiungen staatliche Beihilfen iSd Art. 107 Abs.  1 AEUV darstellen, ist bisher weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur thematisiert worden. Rechtsgrundlagen für die Steuerbefreiungen sind die Tatbestände in Art. 27 RL 92/83/EWG132. Auch hier sind in Abs. 1 zwingende (obligatorische) Steuerbefreiungen vorgesehen, die nach den Grundsätzen des Beihilferechts keine staatlichen Beihilfen darstellen. Allerdings normiert Art. 27 Abs.  2 RL 92/83/EWG einen Katalog von Steuerbefreiungen, die in das Ermessen 127 Branntweinmonopolabschaffungsgesetz, BGBl. I 2013, 1650 (zitiert: Änderungsgesetz). 128 Gesetz zur Auflösung der Bundesmonopolverwaltung und zur Änderung weiterer Gesetze (Branntweinmonopolverwaltung-Auflösungsgesetz  – BfBAG) v. 10.3.2017, BGBl. I, 420. 129 Art. 1: § 6 BfBAG. 130 Zu näheren Einzelheiten und Hintergründen s. Esser, Das Alkoholsteuergesetz mit der verbrauchsteuerrechtlichen Anschlussregelung zum Ende des deutschen Branntweinmonopols, ZfZ 2013, 225; Biehl, Das Alkoholsteuergesetz – Abfindungsbrennen nach neuem Recht?, ZfZ 2014, 57. 131 Verordnung zur Durchführung des Alkoholsteuergesetzes (Alkoholsteuerverordnung  – AlkStV) v. 15.3.2017, BGBl. I, 431. 132 RL 92/83/EWG (Fn. 35).

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der  Mitgliedstaaten gestellt sind. Bei den sogenannten fakultativen Befreiungstat­ beständen müsste, wenn die Grundsätze wie im Energie- und Stromsteuerrecht gelten, auch der Prüfungsmaßstab angelegt werden, ob im Einzelfall bei den konkreten Steuerbefreiungen die Voraussetzungen für die Annahme einer „staatliche Beihilfemaßnahme“ erfüllt sind. Möglicherweise ist dies eine Frage der Zeit. Auch vor der Energie- und Strombesteuerung, zu Zeiten des Mineralölsteuerrechts133, spielte das Beihilferecht eine sehr untergeordnete Rolle.

V. Schlussbetrachtung, Fazit Zu den wesentlichen Grundlagen eines funktionierenden Binnenmarktes gehört ein fairer Wettbewerb. Um das Ziel zu erreichen, bedarf es Vorgaben sowie wirksamer Überprüfungsmechanismen und Sanktionierungen. Dem unionsrechtlichen Beihilferecht kommt diese Funktion zu. Im Verbrauchsteuerrecht ist die Bedeutung dieses Rechtsbereichs zunehmend im Energie- und Stromsteuerbereich zu spüren. Auch wenn die Notwendigkeit einer wirksamen Kontrolle zur Einhaltung der Wettbewerbsbedingungen ohne Zweifel dem Grunde nach besteht, muss die tatsächliche praktische Entwicklung, die das Beihilferecht verstärkt in der Gegenwart einnimmt, auch kritisch gewertet werden.134 Die Souveränität der nationalen Parlamente wird immer mehr eingeschränkt. Durch die „unter dem Vorbehalt der beihilferechtlichen Genehmigung“ verabschiedeten Gesetze, entsteht ein nicht unerheblich langer Schwebezustand, der zu Verunsicherungen und zu fehlender Planungsperspektive für die Unternehmen führt. Die erweiterten verschärften Bedingungen des neuen Beihilferechts untermauern diese Entwicklung. Nur dann, wenn unter Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit ein maßvoller Umgang unter Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter die Anwendung der beihilferechtlichen Praxis der Zukunft prägen wird, wird es zu sachgerechten Ergebnissen führen, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt.

133 S. Art. 30 RL 2003/96/EG (Fn. 34): mit der Energiesteuerrichtlinie wurden die RL 92/81/ EWG (StrukturRL Mineralöl) und RL 92/82/EWG (SatzRL Mineralöl) aufgehoben. National wurde durch das EnergieStG v. 15.7.2006 die Energiesteuerrichtlinie umgesetzt und das bis dahin geltende Mineraölsteuergesetz (MinStG) außer Kraft gesetzt. 134 Kirchhof, Verbrauchsteuern im Lichte des Verfassungsrechts, BB 2015, 278, 282; Jatzke, ZfZ 2017, 90, 97.

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„What teachers do matters“ – Auf das Lehrerhandeln kommt es an Inhaltsübersicht

b) Handeln der Lehrpersonen, „What (some) teachers do matters“

I. Einführung

II. Die Hattie-Studie 1. Hintergründe und methodisches ­Vorgehen 2. „Visible Learning“ a) Qualität von Lehrenden

III. Konkrete Schlussfolgerungen für gute (rechtswissenschaftliche) Hochschullehre

I. Einführung Spätestens seit Hattie1 2009 den Versuch einer Gesamtschau aller Studien, die die ­Einflussfaktoren für den Lernerfolg zum Gegenstand haben, vorgelegt hat, gilt die zentrale Bedeutung der Lehrperson für den Lernerfolg als nachgewiesen. Es wird behauptet, Hattie habe „die pädagogische Welt elektrifiziert“2. Hattie schuf mit der Verarbeitung von über 50.000 (!) Studien die wohl größte Datenbasis, die jemals zur Verfügung stand.3 Er benennt ein breites Spektrum von insgesamt 138 Einflussfaktoren, aufgrund derer die im Alltag überwiegend vorherrschenden zentralen Einflussgrößen identifiziert werden konnten, für ihn stehen dabei die Lehrperson und das Lehrerhandeln im Mittelpunkt der Wirksamkeit von Unterricht.4 Was liegt also näher, als sich in einer Festschrift für einen hoch geschätzten und international tätigen Hochschullehrer, Seminar- und Workshopleiter, ehemaligen Repetitor und Übungsleiter mit den Grundlagen erfolgreicher Lehre und dem Handeln und Wirken der Lehrperson näher auseinanderzusetzen?

II. Die Hattie-Studie 1. Hintergründe und methodisches Vorgehen Ziel des neuseeländischen Erziehungswissenschaftlers war es, den gesamten englischsprachigen Wissensstand zum Lernerfolg in Schulen zu bündeln. Dies war nur möglich, 1 Hattie, Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement, 2009. 2 Spiewak, Ich bin superwichtig!, DIE ZEIT, 3.1.2013, S. 55–56. 3 Steffens/Höfer, Die Hattie-Studie, Bundesministerium für Bildung und Frauen, Sektion 1, 2014, S. 3. 4 Hattie in der Übersetzung von Beywl/Zierer, Lernen sichtbar machen, 2013, S.  129  ff., S. 192 ff.

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indem er auf die inhaltsanalytische Auswertung jeder einzelnen Studie verzichtete und mittels sog. Metaanalysen5, ca. 800 an der Zahl, die bereits vorliegenden Forschungsergebnisse zusammenfasste und miteinander verglich. So kam er zur Identifikation der 138 zentralen Einflussgrößen und damit der Identifikation der lernerfolgsrelevanten Aspekte, die im Alltag vorherrschen. Diese hat Hattie anhand ihrer Effektstärke, d. h. ihrer Wirksamkeit, sortiert und zu zentralen Untersuchungsbereichen (Hauptkategorien, Domänen) geordnet dargestellt. Die Domänen sind: Elternhaus (19 Faktoren, 139 Metaanalysen), Lernende (7 Faktoren, 35 Metaanalysen), Schule (28 Faktoren, 101 Metaanalysen), Curriculum (25 Faktoren, 144 Metaanalysen), Lehrende (10 Faktoren, 31 Metaanalysen), Unterricht (49 Faktoren, 365 Metaanalysen)6. In der Forschungsbilanz von Hattie stehen vorrangig fachliche Leistungen der Lernenden im Mittelpunkt, wie sie in klassischen Wissenstests erfasst wurden.7 Weitere Anforderungen an das, was Schule über die Vermittlung von Wissen hinaus leisten soll8, werden von Hattie nicht untersucht.9 Dies mag Ursache dafür sein, dass die Hattie-Studie auch in Publikationen, die sich nicht mit „Schule“, sondern mit „Hochschule“ befassen, Erwähnung und Eingang findet. Bezüglich einiger Ergebnisse, insbesondere derjenigen, die die Lehrenden und den Unterricht betreffen, scheint eine vorsichtige Übertragung auf die Hochschule unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Unterschiede möglich, zumindest werden in den Ergebnissen der Schulforschung zu gutem Unterricht Anregungen auch für die Lehre an Hochschulen gesehen.10 Es liegt auf der Hand, dass ein Werk wie Hatties „Visible Learning“ nicht ausschließlich auf Zustimmung trifft, sondern auch kritische Stimmen laut werden.11 Diese be 5 Metaanalyse beschreibt ein statistisches Verfahren, in dem Primär-Untersuchungen betreffend spezielle Themen zu Metadaten quantitativ bzw. statistisch zusammengefasst und sichtbar gemacht werden. Dabei werden die früheren Forschungsdaten und -publikationen aber nicht kritisch gewürdigt, sondern nur statistisch aufgearbeitet, auch Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge lassen sich nicht darstellen, vgl. Schnell/Hill/Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, 5. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage 1995. 6 Hattie (Fn. 4), S. 50 ff. 7 Steffens/Höfer, Was ist das Wichtigste beim Lernen?, Folgerungen aus der Hattie-Studie, Teil 1: Die Lehrperson im Zentrum der Betrachtungen, SchulVerwaltung, Ausgabe Hessen/ Rheinland-Pfalz, 17 (2012), Heft 11, 290 (291). 8 S. z. B. § 2 Schulgesetz NRW v. 15.2.2005, Stand 6.10.2017, Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, GV NRW S. 102. Kritisch zur Auswahl der Kriterien und dem Fehlen wichtiger Kriterien für Pädagogik und Bildungspolitik Lind, 2013, Meta-Analysen als Wegweiser? Zur Rezeption der Studie von Hattie in der Politik. http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/ pdf/Lind-2013_meta-analyse-als-wegweiser.pdf, S. 2. 9 So auch Künzel, Der Lehrer als Regisseur, Psychologie Heute 2013 (34), 35. 10 Ulrich, Professionalisierung der Hochschuldidaktik. Modelle guter Hochschullehre als gemeinsames Fundament, in Heiner/Baumert/Dany/Haertel/Qellmelz/Terkowsky (Hrsg.), Was ist „Gute Lehre“, Perspektiven der Hochschuldidaktik, 2016, S. 31 (32 f.); Walberg, Improving the Productivity of America’s Schools, in Educational Leaderschip, 1984, 41 (8), S. 24. 11 Beywl/Zierer, Lernen sichtbar machen, Zur deutschsprachigen Ausgabe von „Visible Learn­ ing“ Hattie (Fn.  4), S.  XI  ff.; Terhart, Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der

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„What teachers do matters“ – Auf das Lehrerhandeln kommt es an

ziehen sich auf das methodische Vorgehen auf der einen und auf die aus den Daten gezogenen Schlussfolgerungen auf der anderen Seite. Methodisch wird eingewandt, dass bei Metaanalysen nur das Eingang finden kann, was bereits empirisch belegt sei, sich aber nicht alle Facetten von Unterricht wirklich messen ließen12, Metaanalysen ausschließlich quantitative Ansätze verfolgten, qualitative Aspekte dagegen unberücksichtigt blieben13, die berücksichtigten Studien teilweise bis in die 80er-Jahre zurückreichten und nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung entsprächen14 und sich methodenbedingt Aussagen über das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren nicht treffen ließen.15 Auch die Einwände gegen die Schlussfolgerungen, die aus der Studie gezogen werden, liegen im Wesentlichen in der Methode begründet. Metaanalysen führten zwar jede Menge Einzelbefunde auf, legten aber das Beziehungsgeflecht nicht offen16, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge würden nicht dargestellt17, und Effekte ließen sich nicht unabhängig von Kosten und Ertrag verabsolutieren18. Ausdrücklich gewarnt wird vor Fehldeutungen ohne Einordnung einzelner Befunde in den jeweiligen Erkenntniszusammenhang19 oder vor einer Art „Fast-Food-Hattie“20, bei dem nur auf das fokussiert werde, was schnell und einfach ohne eine genauere Kenntnis der Ausführungen Hatties zugänglich sei. Teilweise wird auch diskutiert, ob sich die Ergebnisse der Hattie-Studie ohne Weiteres auf europäische bzw. deutsche Bildungssysteme übertragen lassen21, das mag z. B. im Hinblick auf höchst unterschiedliche Regelungen betreffend die Ferien (im amerikanischen Schulsystem bis zu drei Monaten im Sommer) oder die Unterschiede bei der Lehrerausbildung22 zweifelhaft sein, soll hier bei den nachfolgend thematisierten Ergebnissen der Studie aber keine Rolle spielen.23 Den kritischen Stimmen mag insoweit zuzustimmen sein, als sie die Methode betreffen und vor zu schnellen Rückschlüssen und Empfehlungen für die Veränderung bilSchul- und Unterrichtsforschung gefunden?, in Keiner (Hrsg.), Metamorphosen der Bildung. Historie – Empirie – Theorie, 2011, S. 277–292. 12 So z. B. das Erfahrungswissen und die situationsgebundenen Kompetenzen professionell handelnder Lehrpersonen, „die Bildungslandschaft entziehe sich dem Versuch der vollkommenen Vermessung“, vgl. Zierer, Kritik an der Vermessung der Bildungslandschaft in Pädagogische Rundschau 2011, 65, 19 ff. 13 Beywl/Zierer (Fn. 11), XII. 14 Beywl/Zierer (Fn. 11), XIV. 15 S. dazu im Einzelnen: Steffens/Höfer (Fn. 3), S. 4; Lind (Fn. 8), der die Methode generell und die Anlage und Analyse der empirischen Einzelstudien kritisiert. 16 Ulrich (Fn. 10), S. 35. 17 Steffens/Höfer (Fn. 7), 290. 18 Lind (Fn. 8), S. 1. 19 Steffens/Höfer (Fn. 7), 290; Beywl/Zierer (Fn. 11), VIII f. mit eindrucksvollen Beispielen für Fehler bei der Interpretation einzelner Ergebnisse. 20 Beywl/Zierer (Fn. 11), X, im Einzelnen XV/XVI. 21 Die Problematik sieht Hattie selbst, vgl. Hattie (Fn. 4), 16. 22 Meyer, Auf den Unterricht kommt es an! – Hatties Daten deuten lernen!, www.cornelsen. de/fm/1272/Auf_die_Lehrenden_kommt_es_an_Aufsatz.pdf. 23 Zur Kulturspezifik von Bildungsfragen vgl. Hofstede/Hofstede, Lokales Denken, globales Handeln, Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management, 3. Aufl. 2006.

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dungspolitischer Konzepte aufgrund einzelner Faktoren warnen. Auch ist die Aus­ einandersetzung darüber, ob eine eindeutige Zuordnung der einzelnen extrahierten Faktoren zu den sechs Domänen tatsächlich möglich und von Hattie zutreffend vorgenommen wurde24, durchaus nachvollziehbar, all dies soll aber weiteren Publikationen, die sich mit der Struktur von Schulsystemen und Bildungspolitik allgemein befassen, vorbehalten bleiben.25 Hier soll es nachfolgend nicht um bildungspolitisch relevante Faktoren gehen, sondern konkret um zwei von Hattie benannte Domänen, die mit gutem Lehrerhandeln in Verbindung stehen. Diese Ergebnisse stießen in der Literatur auf breite Zustimmung sowohl den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen als auch die Lehre an der Hochschule betreffend26, nämlich die Bedeutung des/r Lehrenden (weil es sich um einen Beitrag in einer Festschrift für einen Hochschullehrer handelt) und die Ergebnisse dazu, was guten Unterricht ausmacht (weil sich hierauf die quantitativ meisten Metaanalysen bei Hattie beziehen). 2. „Visible Learning“ Der von Hattie geprägte Begriff „Visible Learning“ ist für ihn Programm, sein Ziel war es, die Einflussfaktoren auf Lernen sichtbar zu machen, sichtbar im Sinne von „erkennbar, belegbar, einsehbar, aber auch erfahr- und somit thematisier- und verhandelbar“.27 Erkennbares Unterrichten und Lernen, „Visible Teaching and Learning“, findet statt28: ȤȤ wenn das aktive Lernen jedes einzelnen Lernenden das ausdrückliche Ziel ist, ȤȤ wenn das Ziel angemessen und trotzdem herausfordernd ist, ȤȤ wenn sowohl der Lehrer als auch der Schüler auf den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden unterschiedlichen Wegen überprüfen, ob und auf welchem Niveau die Ziele auch wirklich erreicht werden, ȤȤ wenn es eine bewusste Praxis gibt, die auf eine gute Qualität der Zielerreichung gerichtet ist, 24 Für nachvollziehbar, in Teilbereichen aber diskutierbar, die Übersetzer Beywl/Zierer (Fn. 11), XIII. 25 Hartmann, Die Hattie-Studie auf dem Prüfstand. Resonanzen, Ergebnisse, kritische Per­ spektiven in Journal für Schulentwicklung 16 (3), 7–14; Pant, Aufbereitung von Evidenz für bildungspolitische und pädagogische Entscheidungen: Metaanalysen in der Bildungsforschung in Bromme/Prenzel (Hrsg.), Forschung zur evidenzbasierten Entscheidung, Sonderheft Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2014, Vol. 17, Beiheft 4, S. 79–99. 26 Ulrich (Fn. 10), S. 35; Meyer/Wendt, Was wissen wir über gute Lehrer Merkmale professioneller Kompetenz in Kliebisch/Ballier (Hrsg.), LehrerHandeln kompetent, effizient, kongruent, 2012, S. 55 ff.; Terhart (Fn. 11), S. 277 ff. 27 Steffens/Höfer (Fn. 7), 290. 28 Hattie (Fn. 4), S. 27 ff., „Das Argument“; Zusammenfassung nach Steffens/Höfer, Was ist das Wichtigste beim Lernen? Die pädagogisch-konzeptionellen Grundlinien der Hattie­ schen Forschungsbilanz aus über 50.000 Studien, SchulVerwaltung, Ausgabe Hessen/ Rheinland-Pfalz, 2011, 294 (295).

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ȤȤ wenn Feedback gegeben und nachgefragt wird und ȤȤ wenn aktive, leidenschaftliche und engagierte Menschen am Akt des Lernens teilnehmen. Ausgehend hiervon, ergibt sich das Bild eines erfolgreichen, i. S. v. nachweislich wirksamen, Lehrers und der Faktoren, die wirksames Lehrerhandeln ausmachen. Im Zentrum stehen also die Lehrperson und ihr Handeln. a) Qualität von Lehrenden Bei denjenigen, die Rechtswissenschaft unterrichten, sei es als Professor an einer Universität oder Fachhochschule oder in anderer Funktion, wird davon ausgegangen, dass sie aufgrund ihrer Ausbildung über die erforderliche Fachkompetenz verfügen. Auch zeigt die Einstellungs- und Berufungspraxis, dass nur denjenigen mit besonders hochwertigen, qualifizierten Abschlüssen die Chance, als Dozent zu arbeiten, gegeben wird.29 Trotzdem bleibt die Qualität von Lehrenden unterschiedlich, neben die rechtswissenschaftliche muss auch die didaktische Kompetenz treten. Wenn früher didaktische Kompetenz im Rechtsunterricht überwiegend außerhalb der Universitäten in privatwirtschaftlich tätigen Repetitorien gesucht wurde30, ist Didaktik heute ein Thema auch in Hochschulen31 – Stichwort „Qualitätspakt Lehre“–, und es gibt zunehmend rechtsdidaktische und rechtspädagogische Forschung im Kontext juristischer Hochschulstudiengänge an Universitäten und Fachhochschulen32 sowie begleitende Literatur33. Die Lehrkompetenz an Hochschulen allgemein rückt in den Fokus zahlreicher Forschungs- und Entwicklungsprojekte und scheint sich vom „Schattendasein zur Referenz von Exzellenz“ zu wandeln34, auch wenn es der Hattie-Studie vergleichbare Studien über die Bedeutung der Lehrperson im universitären Bereich nicht gibt.35 29 Albrecht/ Gropengießer, Fachdidaktische Überlegungen zur Vermittlung rechtswissenschaftlicher Kompetenzen, in Bönders (Hrsg.), Kompetenz und Verantwortung in der Bundesverwaltung – 30 Jahre Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung 2009, 49 (49). 30 Nicht nur gesucht, auch gefunden wurde, s. dazu Böckenförde, Juristenausbildung  – auf dem Weg ins Abseits?, JZ 1997, 317 ff., Dankesworte an seinen Repetitor Hefermehl. 31 Vgl. nur Pfäffli, Lehren an Hochschulen, Eine Hochschuldidaktik für den Aufbau von Wissen und Kompetenzen, 2. Auflage 2015; Merkt/Wetzel/Schaper (Hrsg.), Professionalisierung der Hochschuldidaktik, Tagungsband der 42. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik 2015. 32 Bergmans (Hrsg.), Rechtslehre, Jahrbuch der Rechtsdidaktik 2013/2014, jährlich aktualisiert, Download unter https://www.w-hs.de/fileadmin/public/dokumente/erkunden/fach​ bereiche/FB7-Wirtschaftsrecht/Forschung/IRDiP/RD_Bibliogrphie_1949_-_2016.pdf. 33 Dabei schlägt die Zeitschrift für Didaktik in der Rechtswissenschaft (ZDRW) seit 2013 Brücken zwischen der allgemeinen Hochschuldidaktik, der rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik und der Rechtswissenschaft. 34 Heiner/Wildt, Professionalisierung von Lehrkompetenz an Universitäten  – vom Schattendasein zur Referenz für Exzellenz?, in Journal Hochschuldidaktik 2009, 17 (17). 35 Zur Komplexität der Faktoren für die Ausbildung akademischer Lehrkompetenz s. Heiner, Referenzpunkte für die Modellierung der Kompetenzentwicklung in der Lehre – Impulse

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Hatties Lehrerbild wird geprägt durch eine starke Betonung anderer als fachlicher Qualitäten, Lehrpersonen müssten sich nicht nur für das Lehren und das Lernen aktiv engagieren, sondern sogar eine Leidenschaft dafür entwickeln36, sie müssten selbstreflexiv und sich ihrer Auffassungen und Erwartungen gegenüber Lernenden bewusst sein.37 Eine große Rolle für den Lernerfolg der Lernenden spielten personale Merkmale der Lehrperson im Hinblick auf ihre Einstellungen und Haltungen.38 Ausgehend davon, dass Lernende höchst unterschiedlich seien39, solle es der Lehrperson wichtig sein, allen Lernenden zu zeigen, dass sie versuche, sich in ihre Perspektive hineinzuversetzen, sie zu verstehen und dies auch an die Lernenden zu kommunizieren. Kognitive Veränderungen bei den Lernenden seien nach Hattie nur möglich, wenn Lehrende und Lernende die Lehrziele kennen, die Lehrperson merke, wenn die Lernenden auf einem guten Weg seien, sie Kenntnisse und Verständnis für die Vorerfahrungen der Lernenden habe und natürlich auch über ausreichende Fachkenntnisse verfüge, um sinnvolle und anspruchsvolle Erfahrungen in einem ansteigenden Anspruchsniveau anbieten zu können.40 Darüber hinaus solle eine Lehrperson in der Lage sein, „zur Seite zu treten“41, je mehr die Lernenden könnten und wüssten. Neben Fachwissen, gekonnter Unterrichtsgestaltung und Engagement bedarf es für Hattie „der Liebe zum Stoff, einer ethischen, zugewandten Haltung, die mit dem Wunsch verbunden ist, anderen diesen Gefallen am Fach oder gar diese Liebe für das Fach, das man unterrichtet, nahe zu bringen“42. Zu den Beiträgen der Lehrperson zum Lernen gehören nach Hattie43: ȤȤ ihre Wahrnehmung der Qualität ihres Lehrens44, ȤȤ ihre Erwartungen. ȤȤ ihre Auffassung in Bezug auf Lehren, Lernen, Bewerten und die Lernenden.45 Hier ist besonders wichtig, ob die Lehrperson allen Lernenden gute Leistungen und Fortfür die hochschuldidaktische Weiterbildung, in Egger/Merkt (Hrsg.), Lernwelt Universität. Entwicklung von Lehrkompetenz in der Hochschullehre, 2012, S. 167 ff. 36 Hattie (Fn. 4), S. 44. 37 Steffens/Höfer (Fn. 28), S. 296. 38 Hattie (Fn. 4), S. 29. 39 Hattie (Fn. 4), S. 28 spricht davon, dass Lernende stets auf „einer sehr persönlichen Reise“ sind. 40 Hattie (Fn. 4), S. 28; In diesem Sinne zur „Herausforderung der Studierenden durch anspruchsvolle Aufgaben“ für die Hochschullehre auch Spinath/Seifried/Eckert, Forschendes Lehren: Ein Ansatz zur kontinuierlichen Verbesserung von Hochschullehre, in Heiner u. a. (Fn. 10), S. 59 (66). 41 Hattie (Fn. 4), S. 28. 42 Hattie (Fn. 4), S. 29. 43 Hattie (Fn. 4), S. 41 f. 44 Wichtig auch in der Hochschullehre, so Heufers/Knoch/Müller, Chamäleon Hochschuldidaktik  – Kompetenzen, Rollen und Haltungen von Hochschuldidaktiker/inne/n spielen eine Rolle, in Heiner u. a. (Fn. 10), S. 111 (114). 45 Auch die eigenen Erfahrungen spielen hier eine große Rolle, die Lehrenden waren selbst einmal Studierende, die in einer bestimmten Form sozialisiert wurden. S. dazu Dammann,

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schritte zutraut und ob die Lehrperson Lernfortschritte überhaupt wahrnimmt und auch ausspricht, ȤȤ ihre Bereitschaft, auch Überraschungen zu erleben und damit Offenheit, z.  B. für neue Methoden, zu zeigen46, ȤȤ ihre Fähigkeit, ein warmes sozio-emotionales Klima zu erzeugen, in dem Fehler nicht nur toleriert, sondern begrüßt werden47, ȤȤ ihre Schwerpunktbildung im Hinblick auf eine klare Artikulierung von Erfolgskriterien und Leistungserwartungen48, ȤȤ ihre Förderung von Anstrengungen durch die Lernenden, ȤȤ ihre Einbindung aller Lernenden. Diese Ergebnisse werden auch durch die von Hattie nach 2009 durchgeführten Untersuchungen unterstützt.49 Diese nach Hattie notwendige umfassende Selbstreflexion für erfolgreiches Lehren an allgemeinbildenden Schulen gilt auch als eine wichtige Voraussetzung für das Erkennen von eigenen Kompetenzen sowie für die Entwicklung umfassender Handlungsfähigkeit in der Hochschullehre, auch hier muss eine Lehrperson bereit sein, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.50 b) Handeln der Lehrpersonen, „What (some)51 teachers do matters“ Bereits bei den oben beschriebenen Anforderungen an die Lehrperson wird deutlich, dass es Hattie nicht um den „geborenen Lehrer“ geht, der als Ausnahmetalent aufgrund seiner Persönlichkeit Lernerfolge bei den Lernenden erzielt.52 Der Mensch hat im Hinblick auf seine Einstellungen und Haltungen zwar eine grundlegende BedeuSozialisation auf Konformität durch Prüfungsangst und Leistungsdruck: Wirkung und Funktion des ersten juristischen Staatsexamens in Forum Recht 2006, 60 (64). 46 Sehr eindrucksvoll die Beschreibung bei Dauner-Lieb, „Gute juristische Lehre“  – Ist das überhaupt ein Thema?, in der sie vom „Mut und dem gesunden Selbstbewusstsein eines Hochschullehrers schreibt, in der Vorlesung die höchst effiziente Methode ‚Murmelgruppe‘ einzusetzen“, ZDRW 2014, 1. 47 Diesen Aspekt benennt, wenn auch in leicht variierter Form aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Ulrich (Fn. 10), S. 35 als bedeutsam für gute Hochschullehre. 48 Hier spielt in der juristischen Ausbildung die Methode der Fallbearbeitung eine besondere Rolle, s. dazu Kuhn, „Roter Faden“ und Präzision im Detail – ein Spagat in der Didaktik des fallorientierten Unterrichts, ZDRW 243 (252). 49 Auch die weiteren Untersuchungen von Hattie (mehr als 100 weitere Metaanalysen führten zu 150 Einflussfaktoren) unterstützen das Ergebnis, s. Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von Visible Learning für Teachers, 3. Auflage 2017, S. 24 ff. 50 Heufers/Knoch/Müller (Fn. 44), S. 119. 51 Hattie (Fn. 4), S. 28, „… was einige Lehrpersonen tun ... die auf besonders überlegte und sichtbare Weise lehren.“ 52 Steffens/Höfer (Fn. 28), S. 294 (295).

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tung für den Lernerfolg, Ausschlag gebend sind aber seine konkreten Verhaltensweisen und sein Handeln im Unterricht.53 Die Lernforschung befasste sich auch „vor Hattie“ mit unterrichtsbezogenen Einflussgrößen und definiert als Ergebnis verschiedene wesentliche Basisdimensionen erfolgreichen Lehrerhandelns54: ȤȤ klare, strukturierte und störungspräventive Unterrichtsführung, ȤȤ unterstützendes, lernorientiertes Sozialklima und positive Fehlerkultur sowie ȤȤ kognitive Aktivierung z. B. durch aktivierende Lernstrategien. Diese Dimensionen werden durch die Ergebnisse der Hattie-Studien gestützt und empirisch abgesichert, Hattie hat aber eine weitere Dimension herausgefiltert, die man evaluationsorientiertes Handeln55 nennen könnte.56 Zum einen fasst er hierunter alles, was dazu dient, fortwährend Rückmeldungen zum Lehrerverhalten zu erhalten, um diese Informationen für die Weiterentwicklung besonders förderlichen Verhaltens nutzen zu können. Im Einzelnen handelt es sich um Rückmeldungen zur Wirksamkeit der eingesetzten Methoden vor allem im Hinblick auf die Lernerträge der Lernenden, zu den verwendeten Hilfsmitteln und ihre unterstützende Wirkung, zur Erreichung der Lehrziele durch die Lernenden oder auch zu ihren Fortschritten im Lernprozess. Zum anderen geht es aber auch darum, dass Lehrpersonen permanentes Feedback an die Lernenden geben, damit diese selbst erkennen können, ob sie auf dem richtigen Weg zur Erreichung der zuvor bekannt und transparent gemachten Lernziele sind bzw. wo noch Defizite bestehen.57 Ziel evaluationsorientierten Handelns ist die systematische Nutzung aller zugänglichen Informationen, um Lernen für die Beteiligten – und zwar alle Beteiligten, Lehrperson und Lernende – „sichtbar zu machen“. Feedback an die Lernenden soll Informationen geben, es soll die Lücke zwischen dem, wo der Lerner ist, und dem, wo er sein sollte, aufzeigen und dabei klar die Erfolgskriterien benennen.58 So kann Feedback konkrete Hinweise bieten und dadurch die Möglichkeit schaffen, gezielt die Aufmerksamkeit auf falsch verstandene Inhalte oder andere Defizite zu richten, und Ansatzpunkte für Verbesserungen liefern. Aus diesem Grunde sind auch Fehler willkommen, Hattie versteht Fehler als „die eigentlichen Treiber allen Lernens“59, das gilt sowohl für das Handeln der Lehrpersonen als auch der Lernenden.60 Fehler eröffnen Chancen, sich in Richtung erfolgreichen Han53 Hattie (Fn. 4), S. 28. 54 Klieme/Lipowsky/Rakoczy/Patzka, Qualitätsdimensionen und Wirksamkeit von Mathematikunterricht in Prenzel/Allolio-Näcke (Hrsg.), Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schulen, 2006, 127 (131); Lipowsky, Unterricht, in Wild/Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie, 2. Auflage 2015, S. 95. 55 Begriff nach Steffens/Höfer (Fn. 28), S. 294; Hattie (Fn. 4), S. 44. 56 Hattie (Fn. 49), S. 17. 57 Hattie (Fn. 4), S. 206 ff. 58 Hattie (Fn. 49), S. 131 ff., Hattie unterscheidet vier Ebenen des Feedbacks. 59 Spiewak (Fn. 2), S. 56. 60 Hattie (Fn. 49), S. 131.

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delns zu bewegen, wenn der Handelnde durch Rückmeldung von ihnen erfährt, wobei es wichtig ist, Feedback61 „richtig“ i. S. v. nicht verletzend zu geben.62 Lob und Tadel dagegen werden als überwiegend wirkungslos und damit wenig hilfreich beschrieben63, denn das Lob verwässert die Feedbackbotschaft auf der Sacheb­ ene der Mitteilung, Tadel hilft dem Feedbacknehmer nicht weiter, da er ihn in der Regel nur demotiviert und ihm keine konkreten Ansätze für weiteres, Erfolg versprechenderes Verhalten gibt. Hatties Ergebnisse stützen aber auch die drei anderen, zuvor genannten Basisdimensionen erfolgreichen Lehrerhandelns, insbesondere die Forderung nach klarer und strukturierter Unterrichtsführung64 und der Bedeutung des Beziehungsaspektes als zentralem Unterrichtsfaktor.65 Hatties Primat der „direkten Intervention“ ist eines seiner Ergebnisse, das große Aufmerksamkeit erregte66, dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass direkte Intervention als im Gegensatz zu teilweise als wirkungsvoller bezeichneten „offenen Lernmethoden“67 stehend empfunden wird.68 Hattie unterscheidet Lehrpersonen in „Activator“ i. S. v. Regisseur bei allen Interventionen, der Lernprozesse initiiert, aktiv gestaltet und steuert, und „Facilitator“ i. S. v. Architekt von Lernumgebungen oder Moderator, der eher Lernbegleiter und Lernunterstützer ist und nur indirekt in die Prozesse eingreift, er beurteilt das Handeln von Lehrpersonen, die als Activator agieren, zu denen, die lediglich als Moderierende im Hintergrund bleiben, als deutlich überlegen.69 „Direkte Instruktion“ darf nicht verwechselt werden mit „Frontalunterricht“. Direkte Intervention nach Hattie besteht aus folgenden Schritten70: ȤȤ klare Zielsetzung und Erfolgskriterien, beide müssen für den Lerner transparent sein, 61 Zur grundsätzlichen Funktion von Feedback s. Halla-Heißen in Halla-Heißen/Saremba (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Grundlagen beruflichen Handelns 2017, S. 55 ff. 62 Halla-Heißen (Fn. 61), S. 63 f. 63 Hattie (Fn. 49), S. 138. 64 „Direkte Instruktion“, Hattie (Fn. 4), S. 242 ff. 65 Hattie (Fn. 4), S. 242 ff.; Beywl/Zierer, Vorwort Fn. 49, S. VI. 66 Die Fachöffentlichkeit reagierte je nach Sichtweise überrascht, zustimmend oder enttäuscht, s. Steffens/Höfer, Was ist das Wichtigste beim Lernen? – Eine Forschungsbilanz, Pädagogik 2012, 40 (40). 67 Wie z. B. entdeckendem oder experimentierendem Lernen. 68 S. grundsätzlich dazu Helmke, Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität, 4. Aufl. 2012, S. 45 ff. 69 Hattie (Fn. 4), S. 286; in der Bezeichnung anders, betreffend die Forderung nach der Aktivierung der Studierenden aber übereinstimmend für die Hochschule Bachmann, Hochschullehre neu definiert – shift from teaching to learning, in Bachmann (Hrsg.), Kompetenzorientierte Hochschullehre, 2. Aufl. 2014, S. 14 (17). 70 Hattie (Fn. 4), S. 243 f.; auf diesen Schritten basiert auch sein Modell des Aufbaus einer Unterrichtsstunde, s. Hattie (Fn. 49), Teil II, Die Unterrichtsstunde, S. 9 ff.

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ȤȤ aktive Einbeziehung der Lernenden in den Lernprozess, ȤȤ Wissen der Lehrperson darüber, wie die Lerninhalte zu vermitteln und zu erklären sind, ȤȤ permanente Rückversicherung der Lehrperson, dass die Lernenden die Inhalte tatsächlich verstanden haben, bevor im Lernprozess weiter vorangegangen wird ȤȤ angeleitete Übungen unter Aufsicht der Lehrperson ȤȤ Durchgängige Einordnung der Inhalte in Gesamtzusammenhänge, Sicherstellung, dass wesentliche Inhalte klar wurden und der Lerner damit arbeiten kann, ȤȤ vertiefendes Üben im Sinne einer praktischen Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten. Auch wenn die Zuordnung einzelner, von Hattie als „wirkungsmächtig“ bezeichneter Faktoren zur von ihm präferierten Form des Lehrertypus methodisch als nicht wirklich klar und nachvollziehbar bezeichnet wird71, zeigt das vorgeschlagene Vorgehen ein Konzept, das durch Strukturierung, kognitive Aktivierung und evaluationsorientiertes Handeln im oben beschriebenen Sinne überzeugt.72 So wichtig direkte Intervention ist, Lernen hat auch eine emotionale Seite.73 Besonders lernförderlich ist ein Unterricht, in dem ein gutes Klima herrscht, das geprägt ist durch gegenseitigen Respekt, Wertschätzung und Empathie. Hatties Studie belegt74, dass der Aufbau und die Pflege einer guten persönlichen Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden entscheidenden Einfluss auf den Lernerfolg hat.75 Dies gilt nicht nur für Unterricht an allgemeinbildenden Schulen, Beziehungsgestaltung ist auch als wichtiger Bestandteil guter Hochschullehre zu sehen.76

III. Konkrete Schlussfolgerungen für gute (rechtswissenschaftliche) Hochschullehre Wie bereits dargestellt, lassen sich aus den Ergebnissen der Hattie-Studie betreffend die hier thematisierten Aspekte Anregungen auch für die Gestaltung guter Lehre an Hochschulen entnehmen. Noch offen ist allerdings die Frage, ob es grundsätzliche signifikante Unterschiede in den Anforderungen an rechtswissenschaftliche Didaktik in methodischer Hinsicht abhängig von der Hochschulform gibt, mit anderen Worten, ob rechtswissenschaftliche Didaktik nur für das klassische Studium an der juristischen Fakultät einer Hoch71 Steffens/Höfer (Fn. 7), 291. 72 Zur Wirksamkeit der direkten Instruktion, die zu Unrecht einen schlechten Ruf habe, auch Wellenreuther, Lehren und Lernen – aber wie?, 2010, S. 331 ff. 73 Mietzel, Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, 9. Aufl. 2017, S. 75 m. w. N. 74 Hattie (Fn. 4), S. 141, 151. 75 „Rehabilitierung der ‚Kuschelpädagogik‘“, Begriff nach Steffens/Höfer (Fn. 66), S. 41. 76 Ulrich (Fn. 10), S. 35.

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schule Bedeutung hat oder auch für andere, überwiegend Fachhochschulstudiengänge, in denen allgemeine und spezielle, je nach Fachbereich unterschiedliche, rechtliche Inhalte vermittelt werden. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass es immer um „die Vermittlung von Recht“ geht, wenn auch das Ziel ein anderes ist. Studierende an juristischen Fakultäten der Universität streben als berufliche Qualifikation das zweite juristische Staatsexamen an, es gibt jedoch eine große Bandbreite von Studiengängen, die allgemeine rechtliche Grundlagen lediglich im Grundstudium vermitteln (wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge oder auch Studiengänge für soziale Berufe), oder verwaltungsinterne Fachhochschulen wie den Fachbereich Finanzen der Hochschule des Bundes77, in dem die Qualifikation für die Übernahme in den gehobenen Dienst in der Zollverwaltung erworben werden kann. In Letzterem rückt damit das Studium in Richtung einer berufsbezogenen akademischen Ausbildung, in der ausgewählte Rechtsbereiche der konkreten späteren beruflichen Tätigkeit gelehrt und gelernt werden. Eine formale Differenzierung der Anforderungen an Didaktik nach dem jeweiligen Hochschultyp würde als Maßstab für die Bestimmung der Anforderungen an „Rechtsunterricht“ aber zu kurz greifen, es bedarf eines anderen Maßstabs für die Art der Rechtsvermittlung.78 Entscheidend soll sein, ob in der späteren beruflichen Tätigkeit die Fähigkeit zur rechtlichen Entscheidung gefordert ist, in diesen Fällen geht es um den Erwerb von Kompetenzen für die Lösung komplexer Problemstellungen.79 Ist das der Fall, muss die Lehre an juristischen Fakultäten und Fachhochschulen den gleichen Anforderungen genügen80, mithin „wissenschaftliche Rechtslehre“ sein. Soll es sich um „gute, sichtbare Rechtslehre“ handeln, muss sie sowohl der Rechtswissenschaftsdogmatik als auch der Rechtswissenschaftsdidaktik genügen.81 Nachfolgend geht es um ausgewählte Aspekte für die Lehre an Hochschulen, um Lernen „sichtbar“ im zuvor beschriebenen Sinne zu machen. Wer das Ziel nicht kennt, kann den Weg nicht finden, „sichtbares Lernen“ kann nur stattfinden, wenn die Lehrziele angemessen gesetzt sind und der Lerner klar erkennen kann, mit welchem erwarteten Verhalten er die Erreichung des Ziels dokumentieren kann. Kognitive Lernziele werden in der Regel auf der Grundlage der Taxonomie von Bloom formuliert, der sechs Anforderungsniveaus unterscheidet: erinnern, verstehen, anwenden, analysieren, gestalten (Synthese) und evaluieren.82 Jedes dieser Anforderungsniveaus hat eine inhaltliche Dimension, in der es darum geht, wie komplex die behandelten Inhalte sind, und eine Verhaltensdimension, in der es darum geht, 77 So z. B. auch am Fachbereich Finanzen der Hochschule des Bundes, die eine Station im Wirken des Jubilars war. 78 Heimann, Rechtswissenschaftlicher Unterricht an Fachhochschulen: Verschulte Rechtskunde oder wissenschaftliche Rechtslehre?, ZDRW 2014, 93 (94). 79 Heimann (Fn. 78), a.a.O. 80 Heimann (Fn. 78), S. 101. 81 Gerson, „Inhalt“ ist das eine, „Vermarktung“ das andere in Rechtswissenschaftsdogmatik und Rechtswissenschaftsdidaktik als dialogische Gegenspieler?  – Gespräche „zwischen“ den Welten, in ZDRW 2017, 1 (1). 82 Bloom (Hrsg.), Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich, 3. Aufl. 1973.

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wie anspruchsvoll die angestrebten kognitiven Prozesse sind. Derjenige, der Lernziele formuliert, muss beide Dimensionen berücksichtigen und mit der gebotenen Klarheit benennen. Hieran kann sich der Lerner dann orientieren, und er weiß, was er zeigen können muss. Aus diesem Grunde geht es darum, das erwartete Verhalten des Lerners mit „sichtbaren Verben“83 zu bezeichnen; nur was sichtbar ist, ist auch mess- und damit überprüfbar. So kann das Anforderungsniveau durchaus als „der Lernende muss verstehen, welche Konsequenzen die Minderjährigkeit für die Geschäftsfähigkeit von Personen hat“ formuliert werden, die konkrete Lernzielformulierung muss aber präzises Verhalten beschreiben im Sinne von „der Lernende muss darstellen/erklären/erläutern können, welche Konsequenzen …“. Die Verantwortung für die Gestaltung und Kommunikation der Lernziele liegt in den Händen der Lehrenden, dessen müssen sie sich bewusst sein. „Sichtbare Lehre und sichtbares Lernen“ erfordert evaluationsorientiertes Handeln der Lehrperson über die standardisierte Evaluation von Lehrveranstaltungen hinaus. Sie sollte sich gezielt Rückmeldung zu ihrem Lehrverhalten einholen, und zwar im Hinblick auf zwei Aspekte: ȤȤ Wie wirksam sind die eingesetzten Lehrmethoden in Bezug zu den konkreten Lern­erträgen bei den Lernenden? ȤȤ Wie wirksam sind die verwendeten Hilfsmittel (z. B. Medien) im Hinblick auf die Unterstützung der Lernenden? Die Beantwortung dieser Fragen kann konkrete Auswirkungen auf die weitere Gestaltung der Lehrveranstaltung haben. Stellt die Lehrperson z. B. fest, dass sehr zeitintensive und aufwendige Methoden wenig Effekt zeigen, oder umgekehrt, dass sich nach Einsatz einer bestimmten Methode oder eines Mediums große Fortschritte im Verständnis komplexer Zusammenhänge bei den Lernern feststellen lassen, wird das Auswirkungen auf die Gestaltung der Lehrtätigkeit haben. Durch die Beantwortung der Fragen bekommt die Lehrperson konkrete Rückmeldung nicht nur zur Wirksamkeit ihres eigenen Lehrverhaltens, sondern auch zur Erreichung der Lehrziele durch die Lernenden und ihre Fortschritte im Lernprozess. Daneben bedingt sichtbares Lernen gezielte Rückmeldung an die Lernenden, ob sie auf dem richtigen Weg sind und wo noch Defizite im Hinblick auf die Erreichung der Lehrziele bestehen. Hier lassen sich Brücken schlagen zu Hatties Forderung zur „direkten Instruktion“. Ein Element dabei stellen angeleitete und vertiefende Übungen dar. Diese bieten Gelegenheit zur Feststellung, inwieweit die Lernenden den zu lernenden Stoff beherrschen und damit auch arbeiten können.84

83 S. konkrete Vorschläge zu Verbenlisten bei Bachmann, Formulieren von Lernergebnissen – learning outcomes in Bachmann (Fn. 69), S. 35 (42, 43). 84 Weiterführend hier Pfäffli (Fn. 31), S. 269 ff. mit der Darstellung verschiedenster Formen von Lernnachweisen (S. 276) und einer Checkliste für die Gestaltung von Lernnachweisen (S. 274).

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Neben die Evaluation tritt die eigene Reflexion von Kompetenzen, Rollen und Haltungen, auch oder gerade bei Hochschullehrern.85 Hier sollen exemplarisch nur zwei Kompetenzen besonders beleuchtet werden. Zum einen setzt gute Lehre das voraus, was unter Methodenkompetenz zu fassen ist, nämlich die Kenntnis verschiedenster Methoden insbesondere zur Aktivierung der Lernenden, die Fähigkeit, die richtige, wirksamste Methode zu identifizieren, sie ziel­ orientiert anwenden und durchführen zu können. Wenn an Universitäten früher überwiegend im Format der „Vorlesung“86 gelehrt wurde, finden sich heue vielfältigste Methoden.87 Allen gemein ist, dass sie keinen Selbstzweck haben, sondern sorgfältig ausgewählt werden müssen.88 Professionelle89 Methodenauswahl muss sich an den Lernzielen orientieren90, Methoden verfolgen unterschiedliche Ziele, und nicht jede Methode ist geeignet, das konkret angestrebte Lernziel zu erreichen. Die ausgewählte Methode muss erkennbar, „sichtbar im Sinne von Hattie“, der Bereicherung der Lehrveranstaltung dienen, sie muss einen konstruktiven Beitrag zur Förderung des Lernprozesses leisten. Dazu muss die Lehrperson selbst aber über umfassende Methodenkenntnis verfügen, hier kommt der didaktischen Fortbildung eine hohe Bedeutung zu.91 Die Lehrperson muss davon überzeugt sein, dass die Anwendung der Methode nicht nur Zeit und Ressourcen kostet, sondern auch zielführend ist.92 Auch für den Lernenden muss sichtbar sein, warum die Lehrperson diese Me85 Heufers/Knoch/Müller (Fn. 50), S. 114 (115). 86 Zu Grundlagenvorlesungen s. Ziegeler, Die Grundlagenvorlesung: Qual oder Höhepunkt in Rummler (Hrsg.), Vorlesungen innovativ gestalten, 2014, 159 ff. 87 Hier nur einige Beispiele aus der neueren Literatur betreffend juristische Veranstaltungen: Schneider, Kreuzworträtsel, ZDRW 2014, 172  ff.; Gerholz, Gruppenpuzzle  – Didaktische Gestaltung und Illustration aus der Lehrerbildung, ZDRW 2014, 261 ff.; Sauerwald, Den Gedanken Wege weisen, Komplexität beherrschen: Mindmapping im Lehr- und Lernalltag, ZDRW 2015, 74  ff.; Gerholz, Förderung von Lernkompetenz über Texte  – Illustriert am Beispiel der Learning News, ZDRW 2015, 215 ff.; daneben treten die „klassischen“ Formate wie Lehrvorträge und -gespräche usw. Eine umfassende Darstellung der Methoden für die Konstruktion von Wissen findet sich bei Pfäffli (Fn. 31), S. 174 ff. 88 Böss-Ostendorf/Senft, Einführung in die Hochschul-Lehre, 2. Aufl. 2014, S. 215 ff. mit einer Checkliste zur Auswahl der richtigen Lehrform, S. 234. 89 Professionell verstanden als die problem- und fallbezogene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, s. dazu Gieseke, Professionalisierung in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung, in Tippelt/Rudolf/von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung 2010, S. 385 (386). 90 Dauner-Lieb (Fn. 46), S. 5. 91 Ausgewählte Beispiele: Fachbereich Finanzen der Hochschule des Bundes, Albrecht, Didaktische Qualifizierung der Lehrenden des Fachbereichs Finanzen der FH Bund (Münster), ZDRW 2014, 104 ff.; Heilmann/Meyweg-Paus/Jucks, Innovationen in der Hochschullehre mitgestalten – Hochschuldidaktische Weiterbildung an der Universität in Münster, in Heiner u. a., (Fn. 10), S. 131 ff. 92 Viele Lehrende haben eine regelrechte „Gruppenarbeitsallergie“, weil sie selbst als Lerner schlechte Erfahrungen mit dieser Methode gemacht haben. „Gruppenunterricht“ richtig, s. Meyer, Unterrichtsmethoden II, 15. Aufl. 2015, S. 238 ff.; Pfäffli (Fn. 31), S. 156.

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thode einsetzt, das Ziel muss kommunizierbar sein und auch kommuniziert werden. Der Einsatz von für die Zielgruppe ungewohnten Methoden wird in der Wahrnehmung der Lernenden, aber auch vom Umfeld manchmal als didaktisches Experiment angesehen und sieht sich dem Vorwurf der Trivialisierung wissenschaftlicher Inhalte bzw. Methoden ausgesetzt.93 Hierfür gibt es keinen Ansatz mehr, wenn sowohl der Lehrende als auch die Lernenden davon überzeugt sind, dass die Methode den Unterrichtsprozess sinnvoll unterstützt. Zum anderen geht es nachfolgend um die Medienkompetenz i. S. v. Auswahl, Gestaltung und Umgang mit verschiedenen Medien in der Lehre. Auch die Medienauswahl unterliegt speziellen Anforderungen, Mediendidaktik stellt die Frage nach Funktion und Leistungsfähigkeit des Einsatzes konventioneller und digitaler Medien in rechtswissenschaftlichen Lehr- und Lernsituationen.94 Ein reflektierter, mehr als „ausschmückender“ Einsatz von Medien setzt ebenso wie die Wahl der Methode voraus, dass er die Erreichung der Lehr- und Lernziele unterstützt. Die Lehrperson muss sich fragen, in welcher Weise, mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken juristisches Wissen und juristische Methoden aufbereitet und präsentiert werden, und sein Vorgehen für die Lernenden „sichtbar“ machen, den Einsatz also kommunizieren. Gelingt dies, so kann Visualisierung zu einem gelungenen Dialog zwischen Dogmatik und Didaktik in der Rechtslehre beitragen.95 Auch die Erkenntnisse aus der Neurobiologie unterstützen die These, dass Visualisierung und professioneller Einsatz von Medien den Lernprozess nachhaltig unterstützen.96 Der Einsatz von ungewöhnlichen Medien erfordert nicht nur das eben beschriebene hohe Maß an Professionalität in Auswahl und Durchführung, sondern auch einen gewissen Mut97, was damit begründet wird, dass oft Ergebnis der eigenen akademischen Entwicklung eine gewisse Konformität sei.98 Umso wichtiger erscheinen professionelles Vorgehen und begründbarer Einsatz bei dem Beschreiten neuer Wege. In diesem Beitrag wird immer wieder die Bedeutung von Kommunikation99 betont, Sprache ist dabei eines der „Arbeitsinstrumente“.100 Sprache, auch die Rechtssprache 93 Dauner-Lieb (Fn. 46), S. 1. 94 Krüper, Juristische Mediendidaktik, Skizze eines Forschungsfeldes juristischer Fachdidaktik, ZDRW 2017, 22 ff. mit einer Bestandsaufnahme typischer, im Jurastudium verwendeten Lehr- und Lernmedien. 95 Khalil, Quo vadis Visuelle Jurisprudenz? Postulat für eine Rechtsvisualisierung im Lehrund Lernprozess, ZDRW 2014, 122 ff.; Gerson (Fn. 81), S. 10 f. mit eindrucksvollen Beispielen für das Lernen mit Bildern und „Landschaftsmalerei“. 96 Jäncke, Die Neurobiologie des menschlichen Lernens, in Bachmann (Fn. 69), S. 124 ff. 97 Haertel/Terkowsky/Ossenberg, Kreativität in der Hochschullehre: „Tue etwas Ungewöhnliches“, in Heiner u.a., (Fn. 10), S. 73 ff. 98 Haertel u. a. (Fn. 96), S. 76 für die juristische Lehre unter Hinweis auf Dammann (Fn. 45), auf S. 80. 99 Grundlegend dazu Halla-Heißen (Fn. 61), S. 3 ff. 100 Zu den Elementen nonverbaler Kommunikation (auch der „Lehrkörper“ spricht), insbesondere paraverbalen Elementen vgl. Halla-Heißen (Fn. 61), S. 70 ff., 81; Mietzel (Fn. 73), S. 73 mit Beispielen, die Begeisterung körpersprachlich transportieren.

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„What teachers do matters“ – Auf das Lehrerhandeln kommt es an

mit ihren besonderen Begrifflichkeiten, ist ein Ausdruck des Arbeits- und Denkstils einer Fachgemeinschaft, in Sprache manifestiert sich der Denk- und Arbeitsstil, den erfolgreiche Lernende bei der Rechtsanwendung beherrschen müssen. Lernende müssen in die „Fachkultur“ erst hineinwachsen, deren Sprache und Denken verstehen und sich zu eigen machen. Die Sprache ist Grundlage von Wissensstrukturen und Voraussetzung von Verstehensprozessen.101 Fachbegriffe haben die Eigenschaft, dass sie meist stellvertretend für komplexe Konzepte stehen, die durch sie verschlüsselt werden. Diese Konzepte müssen erst von den Lernenden durchdrungen werden, um die Fachbegriffe entsprechend einordnen zu können.102 Hochschuldidaktiker haben die Verantwortung, die für Lerner relevanten Aspekte von Fachsprache aufzudecken und zu systematisieren103, die Herausforderung besteht darin, sowohl verständlich als auch inhaltlich korrekt zu kommunizieren, und das jeweils auf dem Lernzielniveau, auf dem die Lernenden konkret sind. Eine klare und verständliche Ausdrucksweise ist ein herausragendes Merkmal eines effektiven Unterrichts104, Hilfe bietet hier das Modell der sog. 4 Verständlichmacher.105 Verständlichkeit wird gefördert durch Einfachheit der Sprache, Gliederung und Ordnung im Hinblick auf Aufbau und innere Logik, Kürze und Prägnanz i. S. v. angemessenem Verhältnis von Menge der Worte/Länge des Textes zum Informationsgehalt und eine gewisse zusätzlichen Stimulanz, die Interesse und Aufmerksamkeit des Lernenden fördert.106 Auch hier ist es, im Sinne „direkter Instruktion“, wieder erforderlich, Übungen zum Verständnis der Fachsprache durchzuführen107 und Rückmeldungen seitens der Lernenden einzuholen. Neben die Anforderungen an Klarheit in der Darstellung tritt die bereits oben beschriebene Forderung nach einer klaren Struktur, „man kann nichts lernen, was keine Struktur hat“.108 Neben der Erstellung von Gutachten zu bestimmten Sachverhalten109 werden in der juristischen Ausbildung häufig Fälle bearbeitet, anhand deren dann bestimmte Problematiken dargestellt werden. Die Arbeit an Fällen könnte die Gefahr in sich bergen, dass zwar Einzelfallproblematiken gelöst werden können, Zusammenhänge und Strukturen von Rechtssystemen aber nicht erkannt werden. Hier ist beson101 Centeno Garcis, Wider die Angst vor der didaktischen Verwässerung des Fachs  – Mit sprachwissenschaftlichen Instrumenten fachbezogene Hochschuldidaktik gestalten in Merkt/Wetzel/Schaper (Hrsg.), Professionalisierung der Hochschuldidaktik, 2016, S. 228 (230). 102 Wer jemals Rechtsanfängern versucht hat, die Begriffe „Eigentum“ und „Besitz“ nahezubringen, kennt das Problem. 103 Jucks, Was ist „Gute Lehre“? Fragen, Anmerkungen und Befunde aus instruktionspsychologischer Sicht, in Heiner u. a. (Fn. 10), S. 47 (49, 53 f.). 104 Mietzel (Fn. 73), S. 27; Knauf, Tutorenhandbuch, 8. Auflage 2005, S. 9 prägt den Begriff „Verständigungsrhetorik“. 105 S. Langer/Schulz v. Thun/Pausch, Sich verständlich ausdrücken, 9. Aufl. 2011. 106 Halla-Heißen (Fn. 61), 42 ff. mit Beispielen. 107 Jucks (Fn. 102), S. 54 schlägt als wirksame Methode ein Gruppenpuzzle vor, was wieder die hohen Anforderungen an die Methodenkompetenz von Hochschullehrern deutlich macht. 108 Böss-Ostendorf/Senft (Fn. 88), S. 52 ff. 109 Ein Kompetenzstrukturmodell für die Erstellung von Rechtsgutachten haben Schmidt/ Musumeci entwickelt in ZDRW 2015, 183 ff.

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ders wichtig, Gesamtzusammenhänge fallübergreifend darzustellen und damit transparent zu machen.110 Dass die Gestaltung einer positiven, auf Achtung und Wertschätzung gründenden Beziehung zwischen Lehrendem und Lernenden ein wichtiger Bestandteil guter Hochschullehre ist, wird nicht bestritten111, die Möglichkeiten dazu sind vielfältig112 und gehen von der Einhaltung gemeinsamer Regeln wie z. B. pünktlichem Erscheinen und Handynutzung bis zur gemeinsamen Klärung bei Störungen. Darüber hinaus muss sich der Hochschullehrer auch bewusst sein, dass er es in den verschiedenen Lehrformaten aber auch immer mit „Gruppen“ von Menschen zu tun hat113, auch hier ist die Kenntnis gruppendynamischer Prozesse und Professionalität im Umgang damit gefragt. Gruppenleitung sei „…ein blinder Fleck der Hochschul-Lehre …“114, der Lehrende müsse sich seiner verschiedenen Leitungsaufgaben, je nach Phase im Prozess, bewusst sein.115 Nach alldem zum Schluss: Hochschullehrer müssen verschiedenste Kompetenzen aufweisen, um „gute Lehre“ machen zu können, Ausnahmetalente, die in der Lage sind, aufgrund ihrer Persönlichkeit Lernerfolge bei den Teilnehmern ihrer Veranstaltung herbeizuführen, gibt es nach Hattie116 wenige. Die Verfasserin arbeitet seit 1989 mit dem Jubilar zusammen, es gibt sie! Wenn sie es dann noch verstehen, professionell, im Sinne Hatties „sichtbar“, zu lehren, handelt es sich um wirklich gute Lehre. Die Verfasserin hat den Jubilar in vielen Veranstaltungen beobachten und begleiten dürfen und einen geborenen, professionell handelnden Hochschullehrer erlebt. Herzlichen Glückwunsch, Prof. Dr. Hans-Michael Wolffgang.

110 Böss-Ostendorf/Senft (Fn. 88), S. 54. Konkrete Ansatzpunkte anhand von Beispielen für eine klare Linie bei der Fallbearbeitung s. Kuhn, „Roter Faden“ und Präzision im Detail – ein Spagat in der Didaktik des fallorientierten Unterrichts, ZDRW 2015, 243 ff. 111 Statt vieler Ulrich (Fn. 10), S. 35 und Pfäffli (Fn. 31), S. 151 f. 112 Pfäffli (Fn. 31) mit zahlreichen Vorschlägen, S. 153. 113 Zu Gruppenprozessen grundsätzlich s. Saremba in Halla-Heißen/Saremba (Fn.  62), S. 137 ff. 114 Böss-Ostendorf/Senft (Fn. 88), S. 141. 115 Zu den konkreten Leitungsaufgaben s. Böss-Ostendorf/Senft (Fn. 88), S. 176 ff. 116 Hattie (Fn. 4), S. 29.

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Schriftenverzeichnis Buch (Monographie) Wolffgang, Hans-Michael; Hendricks, Michael; Merz, Matthias, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen: Studienbuch mit Fällen (2011) Wolffgang, Hans-Michael; Makowicz, Bartosz, Übungen zum öffentlichen Recht und Europarecht: Staats- und Verfassungsrecht, Primärrecht der Europäischen Union, allgemeines Verwaltungsrecht (Training; Online-Version inklusive) (2010) Wolffgang, Hans-Michael; Hendricks, Michael; Merz, Matthias, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen: Studienbuch mit Fällen (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Hendricks, Michael; Merz, Matthias, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen: Studienbuch mit Fällen (1998) Wolffgang, Hans-Michael; Hendricks, Michael; Merz, Matthias, Polizeirecht und allgemeines Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen (1997) Wolffgang, Hans-Michael; Birk, Dieter, Zur Vereinbarkeit des nordrhein-westfälischen Haushalts 1984 mit Art. 83 Satz 2 Landesverfassung: Gutachten, erstattet für den Bund der Steuerzahler (1984) Birk, Dieter; Wolffgang, Hans-Michael, Zur Verfassungsmäßigkeit der Inanspruchnahme der nach § 18 Abs. 3, Satz 1 LHO NW fortgeltenden Kreditermächtigungen: Gutachten erstattet für den Bund der Steuerzahler (1984)

Buch (Sammel-, Herausgeberband) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des Zollrechts der Europäischen Union (2016) Wolffgang, Hans-Michael; Ehlers, Dirk, Recht der Exportkontrolle: Bestandsaufnahme und Perspektiven; Handbuch zum Exportkontrollrecht; zugleich Festgabe für Dr. Arnold Wallraff zum 65. Geburtstag (2015) Ehlers, Dirk; Pitschas, Christian; Wolffgang, Hans-Michael, Die WTO nach Bali – Chancen und Risiken (2015) Wolffgang, Hans-Michael; Makowicz, Bartosz, Rechtsmanagement im Unternehmen: Praxishandbuch Compliance – Aufbau, Organisation und Steuerung von Integrität und regelkonformer Unternehmensführung (2014) Wolffgang, Hans-Michael; Ehlers, Dirk; Terhechte, Jörg Philipp; Schröder, Ulrich Jan, Aktuelle Entwicklungen des Rechtsschutzes und der Streitbeilegung im Außen­ wirtschaftsrecht: Tagungsband zum 17. Münsteraner Außenwirtschaftsrechtstag 2012 (2013) 763

Schriftenverzeichnis

Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des europäischen Zollrechts (2012) Ehlers, Dirk; Herrmann, Christoph; Wolffgang, Hans-Michael; Schröder, Ulrich, Rechtsfragen des internationalen Rohstoffhandels (2012) Wolffgang, Hans-Michael; Ehlers, Dirk; Schröder, Ulrich Jan, Rechtsfragen der Eurasischen Zollunion: Tagungsband zum 15. Münsteraner Außenwirtschaftsrechtstag 2010 (2011) Wolffgang, Hans-Michael, Öffentliches Recht und Europarecht: Staats- und Verfassungsrecht; Primärrecht der Europäischen Union; allgemeines Verwaltungsrecht (2010) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Schröder, Ulrich, Energie und Klimawandel (2010) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des europäischen Zollrechts (2009) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Schröder, Ulrich, Rechtsfragen internationaler Investitionen (2009) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des europäischen Zollrechts (2007) Wolffgang Hans-Michael, Öffentliches Recht und Europarecht: Staats- und Verfassungsrecht; Primärrecht der Europäischen Union; allgemeines Verwaltungsrecht (2007) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Schröder, Ulrich, Subventionen im WTOund EG-Recht (2007) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Lechleitner, Marc, Rechtsfragen des internationalen Dienstleistungsverkehrs (2006) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Lechleitner, Marc, Rechtsfragen des Zolls in globalen Märkten (2005) Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.); Kock, Kai-Uwe (Bearb.); Stüwe; Zimmermann, Öffentliches Recht und Europarecht: Staats- und Verfassungsrecht; Primärrecht der Europäischen Union; allgemeines Verwaltungsrecht (2004) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Lechleitner, Marc, Risikomanagement im Exportkontrollrecht (2004) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des europäischen Zollrechts (2003) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Pünder, Hermann, Rechtsfragen der Ausfuhrförderung (2003) Wolffgang, Hans-Michael; Simonsen, Olaf, AWR-Kommentar: Kommentar für das gesamte Außenwirtschaftsrecht (2001) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Pünder, Hermann, Rechtsfragen des Electron­ ic Commerce (2001) 764

Schriftenverzeichnis

Wolffgang, Hans-Michael, Öffentliches Recht und Europarecht: Staats- und Verfassungsrecht; Primärrecht der Europäischen Union; allgemeines Verwaltungsrecht (2000) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael; Pünder, Hermann, Rechtsfragen des Handelsschutzes im globalen Wettbewerb (2000) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael, Rechtsfragen der Exportkontrolle (1999) Wolffgang, Hans-Michael, Management mit Zollpräferenzen: richtige Bestimmung des Präferenzursprungs; Gestaltung mit der paneuropäischen Kumulierung (1998) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael, Rechtsfragen der europäischen Marktordnungen (1998) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des europäischen Zollrechts (1998) Wolffgang, Hans-Michael, Öffentliches Recht und Europarecht: Staats- und Verfassungsrecht; Primärrecht der Europäischen Union; allgemeines Verwaltungsrecht (1998) Ehlers, Dirk; Wolffgang, Hans-Michael, Rechtsfragen der Ausfuhrkontrolle und Ausfuhrförderung (1997) Wolffgang, Hans-Michael, Jahressteuergesetz 1996: JStG 1996 (1995) Wolffgang, Hans-Michael, Jahressteuer-Ergänzungsgesetz 1996: JStErgG 1996 (1995) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des europäischen Zollrechts (1995) Witte, Peter; Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg.), Lehrbuch des Zollrechts: öffentliches Recht des grenzüberschreitenden Warenverkehrs (1991)

Buchbeitrag (Sammel-, Herausgeberband) Wolffgang, Hans-Michael; Dallimore, Christopher, The WCO’s framework of standards and the internationalization of supply chain security (2014) Wolffgang, Hans-Michael; Dallimore, Christopher, The valuation of goods for customs purposes (2013) Wolffgang, Hans-Michael; Dallimore, Christopher, The World Customs Organization and its role in the system of world trade: an overview (2012) Wolffgang, Hans-Michael, Agreement on implementation of article VII of the GATT 1994 (Agreement on customs valuation): Article 2-7 CVA (2011) Wolffgang, Hans-Michael, Agreement on implementation of article VII of the GATT 1994 (Agreement on customs valuation): Article 19-24 CVA (2011) Wolffgang, Hans-Michael, Steuern (2008) Wolffgang, Hans-Michael, Zollunion (2008) 765

Schriftenverzeichnis

Wolffgang, Hans-Michael, Anhang zu Art. 6: Grundrechte der Union (EUV; Kommentierung) (2006) Wolffgang, Hans-Michael; Hendricks, Michael, Vor §§ 111-117 AO, §§ 111-115 AO: (Kommentierung Abgabenordnung) (2006) Wolffgang, Hans-Michael, Steuerliche Vorschriften: Vorbemerkungen zu Art. 90-93, Art. 90-93 EGV (2006) Wolffgang, Hans-Michael, § 1, Geschichtliche Entwicklung (2005) Wolffgang, Hans-Michael, § 3, Schrifttum (2005) Wolffgang, Hans-Michael, § 4, Ziele des Außenwirtschaftsrechts (2005) Wolffgang, Hans-Michael, § 13, Ausfuhr und Verbringung (2005) Wolffgang, Hans-Michael, Außenwirtschaftsrecht (2002) Wolffgang, Hans-Michael; Baumann, Leopold, Zollrecht (2001) Wolffgang, Hans-Michael, Die europäische Agrarpolitik zwischen Markt und Plan (2000) Wolffgang, Hans-Michael; Feuerhake Wolfram, Kann – oder soll – das internationale Handelsrecht eine internationale Sozialordnung ersetzen? (1999) Wolffgang, Hans-Michael, Betrugsbekämpfung im Marktordnungsrecht (1998) Wolffgang,Hans-Michael, Immaterielle Wirtschaftsgüter: § 5 Rdnr. C 1-C 200 (Kommentierung des § 5 Abs. 2 EStG) (1998) Wolffgang, Hans-Michael, § 1, Geschichtliche Entwicklung (1998) Wolffgang, Hans-Michael, § 6, Außenwirtschaftsrecht (1998) Wolffgang, Hans-Michael, § 8, Ziele des Außenwirtschaftsrechts (1998) Wolffgang, Hans-Michael, § 18, Ausfuhr und Verbringung (1998) Wolffgang, Hans-Michael; Halla-Heißen, Isabell, Ausfuhrverfahren und Wiederausfuhr (1996) Wolffgang, Hans-Michael, § 32, Steuerliche Amtshilfe in der EG (1995)

Artikel (Konferenz) Wolffgang Hans-Michael, Customs union in Europe: Quo vadis? (2008) Wolffgang, Hans-Michael, Die Außenhandelsregelungen der EU (2006) Wolffgang, Hans-Michael; Ehrlich, Wolfgang, Exportkontrolle unter dem Einfluss des Europäischen und des Deutschen Verwaltungsrechts (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Stüwe, Richard, Formal- und Nachweispflichten im Zollrecht (2000) 766

Schriftenverzeichnis

Artikel (Zeitschrift) Wolffgang, Hans-Michael; Harden, Kerstin, Das neue europäische Zollrecht (2016) Wolffgang, Hans-Michael; Harden, Kerstin, Der zugelassene Wirtschaftsbeteiligte nach dem Unionszollkodex, Spektrum der Steuerwissenschaften und des Außenwirtschaftsrechts (2016) Wolffgang, Hans-Michael; Felderhoff, Kai Henning, Zum nachträglichen Erlöschen der Zollschuld, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (2016) Wolffgang, Hans-Michael; Witte, Robert, Compliance in der Exportkontrolle, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2015) Wolffgang, Hans-Michael; Felderhoff, Kai Henning, EU-Freihandelsabkommen, Compliance-Berater (2014) Wolffgang, Hans-Michael; Kafeero, Edward, Old wine in new skins: analysis of the Trade Facilitation Agreement vis-à-vis the Revised Kyoto Convention, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2014) Wolffgang, Hans-Michael; Kafeero, Edward, Legal thoughts on how to merge trade facilitation and safety & security, World customs journal (2014) Wolffgang, Hans-Michael, Harmonisierung der Sanktionen in der Zollunion, World customs journal (2014) Wolffgang, Hans-Michael; Brovka, Gennadiy; Belozerov, Igor, The Eurasian Customs Union in transition, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2013) Wolffgang, Hans-Michael, Offenlegungsprivileg im Außenwirtschaftsrecht belohnt Complianceprogramme, World customs journal (2013) Wolffgang, Hans-Michael, Handels- und Sicherheitspolitik unter einem Dach, Der Betrieb (2013) Wolffgang, Hans-Michael, Gegenseitige Anerkennung AEO – C-TPAT, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2012) Wolffgang, Hans-Michael, Ursprungswirrwarr ohne Ende?, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2012) Wolffgang, Hans-Michael; Felderhoff, Kai Henning, Neue Entwicklungen in den EU-Präferenzmaßnahmen, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2011) Wolffgang, Hans-Michael, US-Exportkontrolle in der Reform, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2011) Wolffgang, Hans-Michael, Die Verzahnung von Exportkontroll- und Zollrecht, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2010) Wolffgang, Hans-Michael; Natzel, Julia, Fortentwicklung des Zollrechts durch Sicherheitsänderung und Modernisierten Zollkodex, Außenwirtschaftliche Praxis: AWPrax (2008) 767

Schriftenverzeichnis

Wolffgang, Hans-Michael; Natzel, Julia, Fortentwicklung des Zollrechts durch Sicherheitsänderung und Modernisierten Zollkodex, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (2008) Wolffgang, Hans-Michael, Emerging issues in European customs law, Journal of the Japanese Institute of International Business Law = Kokusai-shōji-hōmu (2007) Wolffgang, Hans-Michael; Natzel, Julia, The Authorized Economic Operator in the European Union, World customs journal (2007) Wolffgang, Hans-Michael, Zoll- und Verbrauchsteuerberatung durch Steuerberater: der „Fachberater für Zölle und Verbrauchsteuern“ verbessert die Beratungsqualität, Global trade and customs journal (2007) Wolffgang, Hans-Michael; Makowicz, Bartosz, Authorized economic operator status – part two: solutions in third countries and the WCO program, Deutsches Steuerrecht: DStR (2006) Wolffgang, Hans-Michael; Makowicz, Bartosz, Authorized economic operator status – part three: analysis in comparision to other countries and future perspectives, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2006) Wolffgang, Hans-Michael, Der zugelassene Wirtschaftsbeteiligte, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2006) Wolffgang, Hans-Michael, Grundregeln globalen Zolls in Kraft, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (2006) Wolffgang, Hans-Michael; Makowicz, Bartosz, Authorized economic operator status – part one: from granting to revocating the status, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2005) Wolffgang, Hans-Michael; Tervooren, Michael, Der enteignungsgleiche Eingriff im Außenwirtschaftsrecht, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Ovie, Talke, European customs law 1, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Lee, Ji-Young, Öffentlich-rechtliche Klausur: „Apotheken-Drive-In“, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Ovie, Talke, European customs law 2, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter: NWVBL (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Ovie, Talke, European customs law 3, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Ovie, Talke, European customs law 4, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2004) Wolffgang, Hans-Michael; Ovie, Talke, European customs law 5, Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2004) 768

Schriftenverzeichnis

Wolffgang, Hans-Michael; Fischer-Zach, Ota, Die revidierte Kyoto-Konvention von 1999 (Teil 1), Monitor Prawa Celnego i Podatkowego = Taxation and customs law monitor (2003) Wolffgang, Hans-Michael; Daroussis, Kristina, Klausur: „Künstler im Eis“, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (2003) Wolffgang, Hans-Michael; Fischer-Zach, Ota, Die revidierte Kyoto-Konvention von 1999 (Teil 2), Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter: NWVBL (2003) Wolffgang, Hans-Michael, Laudatio: Dr. Albert Beermann zum 70. Geburtstag, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (2003) Wolffgang, Hans-Michael; Weerth, Carsten, Die Ausfuhranmeldung. Teil 1: Das Normalverfahren, Deutsche Steuer-Zeitung: DStZ (2003) Wolffgang, Hans-Michael; Weerth, Carsten, Die Ausfuhranmeldung. Teil 2: Vereinfachungen, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2003) Wolffgang, Hans-Michael; Weerth, Carsten, Die Ausfuhranmeldung. Teil 3: Vereinfachungen und Befreiungen, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2003) Wolffgang Hans-Michael; Feuerhake, Wolfram, Core labour standards in world trade law: the necessity for incorporation of core labour standards in the world trade organization, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2002) Wolffgang, Hans-Michael; Kirchhoff, Thomas, Türkische Farbfernsehgeräte: Urteil des EuG zu ablehnenden Entscheidungen der Kommission über einen Erlass aus Billigkeitsgründen bei der Vorlage fehlerhafter Präferenznachweise, Journal of world trade (2002) Hoelscher, Christoph; Wolffgang, Hans-Michael, The Wassenaar-Arrangement between international trade, non-proliferation, and export controls, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1998) Wolffgang, Hans-Michael, Informantenschutz im Steuerrecht, Journal of world trade (1998) Wolffgang, Hans-Michael; Ulrich Stephan, Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Deutsche Steuer-Zeitung: DStZ (1998) Wolffgang, Hans-Michael; Renneber, Gerd, Das Ausfuhrverfahren, Europarecht: EuR (1998) Wolffgang, Hans-Michael; Renneberg, Gert, Ausfuhrbeschränkungen im Handelsverkehr mit Drittländern. Teil 1, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1997) Wolffgang, Hans-Michael; Renneberg, Gert, Ausfuhrbeschränkungen im Handelsverkehr mit Drittländern. Teil 2, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1997) Wolffgang, Hans-Michael, Das Ausfuhrverfahren nach dem Zollkodex, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1996)

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Schriftenverzeichnis

Wolffgang, Hans-Michael, Europäisches Exportkontrollrecht, Internationale Wirtschaftsbriefe: IWB (1996) Wolffgang, Hans-Michael; Hölscher, Christoph, The new European law of export controls in an international perspective, Deutsches Verwaltungsblatt: DVBL (1996) Wolffgang, Hans-Michael, Die EG-Bananenmarktordnung im Spannungsverhältnis von Völkerrecht, Europarecht und Verfassungsrecht, World competition: law and economics review (1996) Wolffgang, Hans-Michael, Zoll- und Außenwirtschaftsberatung durch Steuerberater?, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (1996) Wolffgang, Hans-Michael, Folgen der Unterlassungen von Behörden des Ausfuhrstaates, Die Steuerberatung (1996) Wolffgang, Hans-Michael; Witte, Robert, Der EG-Zollkodex im Überblick, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1995) Wolffgang, Hans-Michael, Zollpräferenzen bei Import und Export, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1995) Wolffgang, Hans-Michael, Auswirkungen des EG-Zollkodex auf den Rechtsweg im Außenwirtschaftsrecht, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (1994) Wolffgang, Hans-Michael, Rückforderung von Ausfuhrerstattungen bei Verletzung von Erklärungspflichten, Deutsche Steuer-Zeitung: DStZ (1994) Wolffgang, Hans-Michael, Der Rechtsweg bei Ausfuhrbeschränkungen, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern: ZfZ (1994) Wolffgang, Hans-Michael, Reform und Perspektive der außenwirtschaftlichen Exportkontrollen, Der deutsche Zollbeamte: DDZ (1992) Wolffgang, Hans-Michael; Birk, Dieter, Neue Formen der Parteiarbeit: zur staatsrechtlichen Einordnung der sog. Öko-Fonds, Internationale Wirtschaftsbriefe: IWB (1991) Wolffgang, Hans-Michael, Präferenzrecht (Abkommen, EG-EFTA, Ursprungsbegründung, Verfahrenserleichterungen, Prüfungsschema), Die öffentliche Verwaltung: DÖV (1991) Wolffgang, Hans-Michael; Schmidt-Jortzig, Edzard, Strukturen einer Einbeziehung kreisangehöriger Gemeinden in den Vollzug von Kreiszuständigkeiten, Der deutsche Zollbeamte: DDZ (1984) Wolffgang, Hans-Michael, Die Fortgeltung von Kreditermächtigungen nach § 13 Abs. 2 Satz 1 HGrG – Grundlage für eine neue „Schattenkreditwirtschaft“?, DVBl. (1984)

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Rezension Wolffgang, Hans-Michael, Sicherer Umgang mit Zollpräferenzen: Warenursprung und Präferenzen; Handbuch und systematische Darstellung, Außenwirtschaftliche Praxis: AW-Prax (2001) Wolffgang, Hans-Michael, Würdigung eines bedeutenden Steuerrechtlers: Kirchhof/ Jakob/Beermann (Hrsg.); Steuerrechtsprechung, Steuergesetz, Steuerreform; Festschrift für Klaus Offerhaus zum 65. Geburtstag, Außenwirtschaftliche Praxis: AWPrax (2000)

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